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in 2015
https://archive.org/details/sozialpolitische01brau
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
HERAUSGEGEBEN
VON
Dr. HEINRICH BRAUN.
ERSTER BAND
(JANUAR— OKTOBER 1892).
BERLIN 1892.
J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG.
Inhalt des ersten Bandes,
(Januar — Oktober 1892.)
Seite
Leitende Aufsätze.
Unser Programm 1
Die sozialpolitische Bedeutung der neuen
Handelsverträge. Von Prof. Dr. C. J.
Fuchs in Greifswald 2
0 Die sozialpolitische Auffassung des Ver-
0^ brechens. Von Prof. Dr. F. v. Liszt in
t Halle a. S 4
o- Die Arbeiterschutzgesetzgebung beim deut-
L sehen Bergbau. Von Dr.Leo Verkauf in
- Wien 17
p-
Die politische Presse der deutschen Sozial-
f demokratie 31
T Amtliche Untersuchungen sozialer Zustände
in Deutschland. Von Dr. Heinrich
** Braun in Berlin 45
j
f Die gesellschaftlichen Ursachen des Ver-
brechens. Von Prof. Dr. Franz v. Liszt
in Halle a. S 59
1 Die Neu-Organisation der Gewerbegerichte
r* in Deutschland und das Berliner Orts-
o
:•/)» Statut. Von Dr. Max Quarck in Fränk-
in furt a. M 73
Zur Heimstättenfrage. Von Dr. Carl Grün-
berg in Wien 87
Der parlamentarische Kampf gegen die
Börse 101
Die Reichskommission für Arbeiterstatistik.
Von Dr. Heinrich Braun in Berlin . 113
Gesetzgeberische Massnahmen gegen Pro-
stitution und Zuhälterthum. Von Privat-
dozent Dr. Theodor Löwenfeld in
München 115
Arbeitslosigkeit. Von Prof. Dr. Heinrich
Herkner in Freiburg i, Br 127
Die Kohlenarbeiterfrage in Grossbritannien.
Von Dr. Stefan Bauer in Wien . . 139
Die Organisationsbestrebungen der Gewerk-
schaften auf dem Halberstädter Kon-
gress. Von Dr. Adolf Braun in
Berlin 151
Zur Lage der schlesischen Hausweber. Von
Prof. Dr. Werner Sombart in Breslau 175
Die neueste sächsische Fabrikarbeiterauf-
nahme und ihre sozialstatistischen Er-
gebnisse. Von Dr. Max Quarck in
Frankfurt a. M 187
Die freien Hilfskassen und ihre Aufgabe
gegenüber dem Krankenversicherungs-
gesetz. Von Dr. Adolf Braun in
Berlin 199
Eine moderne Arbeiter- Produktivgenossen-
schaft. Von Prof. Dr. Heinrich
Herkner in Freiburg i. Br. . .... 21 1
Seite
Die Umgestaltung der Gewerbeinspektion
in Preussen. Von Dr. Heinrich Braun
in Berlin 223
Zur Steuerreform in Preussen. Von Prof.
Dr. E. v. Philipp ovich in Frei-
burg i. Br 235
Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. Von Prof.
Dr. Heinrich Herkner in Freiburg i. Br. 247
Gewerbeinspektor und Kesselrevisor. Von
Privatdozent Dr. J. Jastrow in Berlin 259
Die Novelle zum preussischen Berggesetze.
Von Dr. Leo Verkauf in Wien 163. 271
Die soziale Bedeutung der Währungsfrage.
Von Dr. J. Landesberger in Wien . 283
Ein Schutzgesetz für die Gewerkschaften
in Frankreich. Von Leo Frankel in
Paris 295
Der Gesetzentwurf über die direkten Per-
sonalsteuern in Oesterreich. Von Prof.
Dr. E. M i s c h 1 e r in Prag 307
Das Korporationsrecht und die Gewerk-
vereine in Deutschland. Von Dr. Arthur
Cohen in Augsburg 319
Die Anfänge einer deutschen Arbeiter-
statistik. Von Dr. Heinrich Braun
in Berlin 331
Zur Auswanderungsfrage in Russland. Von
P. v. Struve 343
Die Arbeiterstatistik der preussischen Ge-
werbeinspektoren-Berichte für 1891. Von
Dr. Max Quarck in Frankfurt a. M. . 357
XVIII. italienischer Arbeiterkongress. Von
Prof. Dr. Werner Sombart in Breslau 367
Die Durchführung der kaufmännischen
Sonntagsruhe im Deutschen Reiche. Von
Dr. Max Quarck in Frankfurt a. M. . 379
Statistik der Hausweberei im schlesischen
Eulengebirge. Von Prof. Dr. Werner
Sombart in Breslau 391
Die Rechtskraft der Rentenfestsetzungsbe-
scheide des Reichsversicherungsamts . 403
Die wirthschaftliche Entwickelung Russlands
und die Erhaltung des Bauernstandes.
Von P. v. Struve 415
Zum Verfahren in Unfall-Entschädigungs-
sachen 427
Soziale Wanderungen in Oesterreich . . . 439
Die deutschen Gewerbekammern. Von Dr.
Rudolf Grätzer in Marburg .... 451
Die Zukunft der Rechtsstrafe. Von Prof.
Dr. Fr. v. Liszt in Halle a. S. . . . 463
Cholera und Sozialpolitik. Von Dr. Victor
Adler in Wien 464
Seite
Der gegenwärtige Stand der italienischen
Arbeiterbewegung. Von Prof. Dr.
Werner Sombart in Breslau. . . . 479
Soziale Wirtschaftspolitik und
Wirthschaftsstatistik.
Die sozialpolitische Bedeutung der neuen
Handelsverträge. Von Prof. Dr. C. J.
Fuchs in Greifswald 2
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Das Zündholzmonopol in der Schweiz. Von
Fabrikinspektor Dr. F. Schüler in
Mollis 5
Die Hypothekenbewegung im preussischen
Staate während der Rechnungsjahre
1886/87 bis 1889/90 Von Dr. Carl
Grünberg in Wien 34
Agrarische Bewegungen in der Schweiz.
Von Kantonsstatistiker E. N a e f in Aarau 34
Reform der Gewerbeordnung in der Schweiz.
Von Kantonsstatistiker E. N ae f in Aarau 47
Agrarische Verhältnisse in Rumänien. Von
Dr. Carl Grünberg in Wien ... 60
Ein neuer Lohnberechnungsplan. Von
H. Schlüter in New-York 75
Zur Heimstättenfrage. Von Dr. Carl
Grünberg in Wien 87
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Zu den agrarischen Zuständen in Mexiko.
Von Kantonsstatistiker E. Naef in Aarau 90
Der parlamentarische Kampf gegen die
Börse 101
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Ein deutsches Auswanderungsgesetz. Von
Dr. Max Quarck in Frankfurt a. M. 116
Zu den agrarischen Reformplänen in Ru-
mänien. Von Dr. Carl Grünberg in
Wien 129
Die Wiener Verkehrsanlagen und die Ar-
beiter. Von Dr. Heinrich Fried-
jung in Wien 14 t
Das Schweizerische Auswanderungsgesetz.
Von Kantonsstatistiker E. Naef in
Aarau 154
Die Abzahlungsgeschäfte in Ratenlosen in
der Schweiz. Von Kantonsstatistiker
E. Naef, Aarau 165
Zur Frage des Wasserrechts. Von Privat-
docent Dr.Leo Arons in Berlin . . 201
Eine moderne Arbeiter-Produktivgenossen-
schaft. Von Prof. Dr. Heinrich Herk-
ner in Freiburg i. B. . 214
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
IV
INHALT DES ERSTEN BANDES.
Seite
Seite
Zur Steuerreform in Preussen. Von Pro-
fessor Dr. E. v. Ph ili pp o v i ch in Frei-
burg i. B ‘
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Der Fall Dankwardt und die preussische
Agrarpolitik. Von Professor Dr. C. J.
Fuchs in Greifswald
Untersuchung der Bodenverschuldung in
der Schweiz. Von Kantonsstatistiker
E. Naef in Aarau
Die soziale Bedeutung der Währungsfrage.
Von Dr. J. Landesberger in Wien .
(Vergl. Leitende Aufsätze).
Der Gesetzentwurf über die direkten Per-
sonalsteuern in Oesterreich. Von Prof.
Dr. E. Mischler in Prag
(Vergl. Leitende Aufsätze).
Die sozialpolitischen Aufgaben der deut-
schen Gemeindeverwaltungen. Von Dr.
Max Quarck in Frankfurt a. M. . .
Ein Wort über soziale Freiheit. V on
Privatdocent Dr. Georg Simmel in
Berlin
(Vergl. Leitende Aufsätze).
Zur Auswanderungsfrage in Russland. Von
P. v. Struve
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Die Gutszertrümmerungen in Bayern. Von
Dr. Arthur Cohen in Augsburg . .
Die sozialstatistischen Ergebnisse der schwei-
zer Rekrutirung im Herbste 1890. Von
Dr. Adolf Braun in Berlin ....
Noch ein Wort zum Koalitionsrecht der
Arbeiter in Frankreich. Von Professor
Dr. v. Schubert-Sol dern ....
Zur Frage der Einführung der obligatori-
schen Berufsgenossenschaften in der
Schweiz. Von Kantonsstatistiker E. N ae f
in Aarau
Die Auswanderung aus Oesterreich-
Ungarn. Von Prof. Dr. E. Mi sch ler in
frag
Staatlicher Arbeitsnachweis in Neu-Seeland.
Von Staatssekretär Edward Tregear
in Wellington, Neu-Seeland ....
Die wirthschaftliche Entwickelung Russ-
lands und die Erhaltung des Bauern-
standes. Von P. v. Struve ....
(Vergl. Leitende Aufsätze).
Die deutschen Erwerbs- und Wirthschafts-
genossenschaften im Jahre 1891. Von
Assessor Dr. Hans Crliger in Berlin .
Die Landwirthschaftskammern in Preussen.
Von Dr. Rudolf Grätzer in Mar-
burg i. H
Zur sozialpolitischen Geschichte des rhei-
nisch-westfälischen Bergbaues. Von Dr.
Max Quarck in Frankfurt a. M. . .
Zur Frage der Volksernährung. Von Pro-
fessor Dr. W. Lotz in München . . .
Der Kampf zwischen Arbeit und Kapital
im fernen Westen. Von Kantonsstatis-
tiker E. Naef in Aarau ......
Cholera und Sozialpolitik. Von Dr. Victor
Adler in Wien
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Die Bestrebungen und Aussichten der deut-
schen Bodenreformer. Von Dr. B. Bor-
chardt in Berlin
Grossbetrieb im Kohlengewerbe ....
Neuer sozialpolitischer Gesetzentwurf in
Preussen .
Zur Frage der Börsenreform
Auswanderungsgesetz für Deutschland .
Zahl der industriellen Arbeiter in Russ-
land
235
237
250
283
307
321
333
Berufsgenossenschaften in der Schweiz . .
Agitation der Bodenreformer in England .
Englisches Genossenschaftswesen ....
Die russische Wirthschaftspolitik und die
Hungersnoth
Ueberseeische Auswanderung aus dem deut-
schen Reiche
Die russische Regierung und die Hungers-
noth
Ermittelungen über die landwirtschaftliche
Bodenverschuldung in der Schweiz .
Sparkassen im Dienst des Arbeiterwohls .
Agrarzustände auf Haiti
Zum deutschen Auswanderungsgesetz . .
Arbeitergenossenschaften in Italien . . .
Städtische Sozialpolitik in England . . .
Reform des Gesetzes betr. den Unter-
stützungswohnsitz
Der Entwurf eines Heimstättengesetzes für
das Deutsche Reich
Das Höferecht in Tirol
Die überseeische Auswanderung aus Oester-
343
346
357
369
370
381
384
415
429
442
443
444
452
464
reich •
Die Postsparkassen in Ungarn ....
Aargauische Verordnung, betr. Verkauf von
Loosen in Raten
Bestrebungen für reichsgesetzliche Regelung
des Gesinderechtes
Arbeitsnachweis in Stuttgart
Statistik der in deutschen Fabriken be-
schäftigten Arbeiterinnen
Maschinelle Vervollkommnung in Folge
von Lohnbewegungen
Kommunale Arbeitsnachweisbureaus . . .
Die überseeische Auswanderung aus der
Schweiz im Jahre 1891
Der dritte Evangelisch-Soziale Kongress .
Die Errichtung von Rentengütern in Ost-,
Westpreussen und Posen . . . 239.
Zur Frage des Wasserrechts
Der Berliner Centralverein für Arbeits-
nachweis
Arbeitsnachweis in Freiburg i. B
Vergebung von Staatsarbeiten in der
Schweiz
Die Krisis in der schweizerischen Uhren-
industrie
Italienisches Zündholzmonopol
Die deutsche Kommission für Arbeiter-
statistik ... 30. 178. 191. 214. 261.
Zur Lohnpolitik des österreichischen Gross-
grundbesitzes
Abstellung der Zuchthausarbeit in der Korb-
macherei
Arbeitsnachweis in Breslau
Handel von Prämien- und Anlehenloosen
im Kanton Zürich
Teppichweberei in Kleinasien
Zur Charakteristik des Nothstandes in Russ-
land
Einkommenverhältnisse im Königreich
Sachsen
Das Wasserrecht in der Schweiz . . . .
Verbot der Swcating- Arbeit bei Staatsauf-
trägen in England
466
33
35
47
Gross- und Kleinbetriebe in der schwei-
zerischen Fabrikindustrie . . . .
Einfluss der Lohnhöhe auf die Geschäfts-
lage
Wanderung ostpreussischer Landarbeiter
nach Bayern
61
76
76
76
89
103
104
104
104
118
131
131 !
143
144 j
155
155
166
177
178
178
178
189
189
202
202
212
274
240
240
240
240
250
251
324
261
261
262
262
262
272
274
275
275
286
287
287
Massregeln gegen den Kontraktbruch länd-
lichen Gesindes
Bezahlung städtischer Arbeiter in London
Güterzertrümmerung in Bayern ....
Ueberseeische Auswanderung aus dem
deutschen Reiche
Zur Ueberfüllung des Kleinhandels in
Deutschland
Obligatorische Naturalverpflegung wandern-
der Arbeiter im Kanton Aargau . . .
Bergarbeiter - Produktivgenossenschaft in
Belgien
Ergebnisse einer land wirtschaftlichen Be-
rufsstatistik in Belgien
Regelung der Lohnfristen
Kommunale Besteuerung des Reichsfiskus
Arbeiterwanderungen im Innern Deutsch-
lands
Das französische Unternehmerthum und das
Gesetz Bovier-Lapierre
Die Auswanderung der deutschen Kolo-
nisten aus Russland nach Nordamerika
Arbeiterausschüsse in Oesterreich ....
Minimallöhne für städtische Angestellte in
Zürich
Arbeitsnachweisanstalt in Karlsruhe .
Minimallohn und Arbeitsvermittelung in
Gross-Zürich
Obligatorische Fortbildungsschulen für
Kellnerlehrlinge und Laufburschen in
Stuttgart
Grossbetrieb im französischen Detailhandel
Schweizerischer Arbeiterbund und schwei-
zerisches Arbeitersekretariat ....
Die Reichspostverwaltung und die Vereins-
freiheit
Hausindustrie und Fabrikindustrie . . .
Berufsgenossenschaften und Berufssekretäre
in der Schweiz
Enquete über Anstalten für Arbeitsvermit-
telung in Deutschland
Vorschriften für Kellnerinnen- Wirthschaften
in Berlin
Ziehkinderwesen in Leipzig
Gesetzliche Regelung der Ausverkäufe in
Oesterreich
Nothlage in der schweizerischen Land-
wirthschaft
Arbeitsnachweis in Oesterreich . . . .
Entwurf eines badischen Anerbenrechts-
gesetzes . .
Ortsstatut über Lohnzahlung in Augsburg
Reform der Gesindeordnung in Wien . .
Der Montag und die Fabrikunfälle . . .
Nothlage in der schweizerischen U hren-
industrie
Amtliche Arbeiterstatistik im deutschen
Bäcker-, Conditoren- und Handels-
gewerbe
Sozialpolitischer Unterricht
Schulkantinen in Frankreich
Der Kongress der sozialistischen Gemeinde-
räthe Frankreichs
Staatsmonopole
Unentgeltliche Beerdigung in der Schweiz
Die Schweiz als Versuchsfeld für Volks-
wirthschaft und Sozialpolitik . . . .
Soziale Wanderungen in Oesterreich . .
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Die überseeische Auswanderung aus
Deutschland im ersten Halbjahre 1892
Speisung armer Schulkinder in Kopen-
hagen ............
I Zum Handel mit Ratenloosen
Seite
287
287
297
298
298
298
298
323
335
335
335
336
336
347
347
359
359
371
371
371
385
385
385
393
393
393
393
393
405
407
407
407
407
408
417
417
417
418
431
431
431
439
446
446
446
t
1
INHALT DES ERSTEN BANDES.
V
Seite
Die Kommission für die Umarbeitung des
Reichszivilgesetzentwurfes 453
Staatliche Lohnpolitik in Preussen . . . 454
Eine Enquete über das Gemeindeeigenthum
im Deutschen Reiche 454
Das englische Kleinstättengesetz .... 454
Verlegung des Lohntages in Rheinland-
Westfalen ... 467
Soziale Wanderungen in Deutschland . . 467
Arbeiterzustände.
Die Lage der deutschen Mühlenarbeiter.
Von Dr. Heinrich Braun in Berlin . 7
Ueber die Abnahme der Arbeitskraft. Von
Prof. Dr. Heinrich Herkner in Frei-
burg i. B 19
Amtliche Untersuchungen sozialer Zustände
in Deutschland. Von Dr. Heinrich
Braun in Berlin 45
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Ueber die Abnahme der Arbeitskraft. Von
Dr. N. Brückner in Frankfurt a. M. . 47
Erwiderung. Von Prof. Dr. Heinrich
Herkner in Freiburg i. B 48
Die königliche Kommission über die Ar-
beiterfrage in England. Von Dr. Ste-
phan Bauer in Wien 62
Die Kinderarbeit in Frankreich. Von Prof.
Dr. Wilhelm Stieda in Rostock . . 63
Das Trucksystem in England. Von Prof.
Dr. Wilhelm Stieda in Rostock . . 77
Eine „Aufnahme“ der ländlichen 4rbeiter-
verhältnisse. Von Dr. Max Quarck
in Frankfurt a. M 78
Eine Aufnahme der ländlichen Arbeiter-
verhältnisse. Von Prof. Dr. Gustav
Schmoller in Berlin 105
Die Reichskommission für Arbeiterstatistik.
Von Dr. Heinrich Braun in Berlin . 113
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Betriebsunfälle in der Industrie Nürnbergs.
Von Martin Segitz in Nürnberg . . 118
Arbeitslosigkeit. Von Prof. Dr. Heinrich
Herkner in Freiburg i. Br 127
(Vergl. Leitende Aufsätze.!
Zur Lage der schlesischen Hausweber. Von
Prof. Dr. Werner Sombart in Breslau 175
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Die neueste sächsische Fabrikarbeiterauf-
nahme und ihre sozialstatistischen Ergeb-
nisse. Von Dr. Max Quarck in Frank-
furt a. M 187
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Die Kinderarbeit in der russischen Fabrik-
industrie. Von Dr. Sophie Daszynska
in Warschau 190
Arbeitslöhne in der oberschlesischen Montan-
industrie. Von Prof. Werner Sombart
in Breslau 225
Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Maurer
Deutschlands. Von Dr. Adolf Braun
in Berlin 311
Die Grubenkatastrophe in Przibram. Von
Dr. Leo Verkauf in Wien .... 323
Die Anfänge einer deutschen Arbeiter-
statistik. Von Dr. Heinrich Braun
in Berlin 331
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Zur Entwickelung der Hausindustrie in
Preussen. Von Dr. Max Quarck in
Frankfurt a. M 347
Seite
Die Arbeiterstatistik der preussischen Ge-
werbeinspektoren-Berichte für 1891. Von
Dr. Max Quarck in Frankfurt a. M. . 357
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Statistik der Hausweberei im schlesischen
Eulengebirge. Von Prof. Dr. Werner
Sombart in Breslau 391
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Die niedrigsten und die höchsten orts-
üblichen Tagelöhne in Deutschland. Von
Dr. E. Lange in Friedenau .... 431
Die Lage der Arbeiter in den russischen
Bergwerken. Von E. Scholkow in
München 454
Die Reichsenquete über die Arbeitsverhält-
nisse im Ladengeschäft. Von Dr. Max
Quarck in Frankfurt a. M 467
Zur Lage der Leipziger Buchbindereiarbeiter 8
Eine „Musterarbeitsordnung“ für Bergwerke 20
Das Tabakmonopol und die Lage der
ungarischen Tabakarbeiter 21
Ueber die Ausnützung der Arbeiter in den
Nahrungsmittelgewerben 21
Die Arbeitsdauer in den Mainzer Cigarren-
und Tabakgeschäften 21
Arbeiterverhältnisse im bayerischen Bergbau 35
Lohnfristen der Bergleute 36
Zur Beurtheilung der Statistik der deutschen
Gewerkschaften 36
Peonagesystem und Arbeitslöhne in Mexico 36
Ernährungsverhältnisse der Arbeiterbevöl-
kerung 37
Die Zunahme des Pferdefleischkonsums. . 37
Löhne im Wiener Schmiedegewerbe ... 49
Zustände im polygraphischen Gewerbe in
Frankfurt a. M 49
Ueber Hamburger Arbeiterkinder .... 49
Arbeiterverhältnisse in den preussischen
Staatsgruben 49
Statistik der Arbeiter und Beamten der
preussischen Staatsbahnen 64
Arbeitsverhältnisse bei den preussischen
Staatsbahnen 64
Mangelhafte Ernährung von Arbeiterkindern 65
Arbeitslosigkeit 65. 49
Ländliche Arbeiterverhältnisse 65
Ländliche Arbeiterverhältnisse in Süd-
deutschland 79
Zur Arbeitsstatistik deutscher Gewerbe-
inspektoren 80
Ein österreichisches Amt für Arbeitsstatistik 80
Ruhezeiten für das Betriebspersonal der
preussischen Staatsbahnen 91
Der Nothstand in der ostschweizerischen
Stickerei -91
Klagen über Lehrlingszüchterei .... 92
Die Nothlage in der schweizerischen Sticke-
reiindustrie 107
Zur Lage der Arbeiter in Italien .... 107
Arbeitszeitreduktion in der schweizerischen
Spinnerei und Weberei 107
Lohnverhältnisse der Baseler Posamenter . 107
Ueber die Abnahme der Arbeitskraft . . 118
Schweizerisches Arbeitersekretariat . . . 131
Untergang einer Hausindustrie 132
Tagelöhne im Grossherzogthum Hessen . 132
Zur Lage der Wiener Schuhmacher . . . 132
Das Schwitzsystem in der Schneiderei der
Vereinigtem Staaten 132
Statistik der Bergarbeiterentlassungen . . 144
Ländliche Arbeiter Verhältnisse 144
Schneiderwerkstätten in der Stadt New-York 144
Löhne und Lebenshaltung der ungelernten
Bauarbeiter Harburgs 156
Seite
Statistik der Arbeitslosigkeit in England . 156
Lohnfristen und Lohnzahlungstage . . . 178
Eine Statistik des Pariser Elends .... 178
Arbeitslöhne in der preussischen Staats-
eisenbahnverwaltung 191
Zur Lage der Eisenbahnbediensteten in
den Vereinigten Staaten 191
Statistische Erhebungen aus dem .Steinmetz-
gewerbe von Dresden und Umgebung . 191
Arbeiterzustände in Ziegeleien 192
Der Nothstand unter den ostschweizerischen
Stickern 192
Lohnverhältnisse in der ostindischen Eisen-
und Stahlindustrie 192
Frauenarbeit in der Maschinenindustrie . 203
Statistische Erhebungen aus dem Steinmetz-
gewerbe von Dresden und Umgebung . 203
Statistik der Lohn- und Arbeitsverhältnisse
der Maurer von Lauenburg a. E. im
Jahre 1891 227
Haushalt einer Arbeiterfamilie in Bayern
203. 251. 288
Arbeiterwanderungen innerhalb Deutsch-
lands 251
Die Lage der Bäcker in Bremen .... 262
Lohnverhältnisse der österreichischenBinnen-
schiffer 263
Hygienische Verhältnisse in den Leipziger
Buchdruckereien und Schriftgiessereien 275
Weibliche Bahnwärter 275
Enquete über die Ruhetage auf den fran-
zösischen Eisenbahnen 275
Beseitigung der Kinderarbeit durch die
Technik 288
Die Lage der in den Gärtnereien Erfurts
beschäftigten Arbeiter 288
Arbeitszeit in der thüringischen Haus-
industrie 288
Die Arbeitsdauer in den Wiener Fabriken 288
Erhebungen über Frauenarbeit im Kanton
St. Gallen 288
Ländliche Arbeiterverhältnisse im deutschen
Osten 298
Arbeiterzustände in hessischen Ziegeleien . 298
Wiedereinführung der Kanakaarbeit in
Queensland 298
Arbeitszeit der englischen Eisenbahn-
bediensteten 313
Amtliche Erhebungen über Arbeitslosigkeit 324
Arbeiterverhältnisse der hessischen Cigarren-
industrie 324
Verhandlungen der Kommission für Arbeiter-
statistik 336
Wirkungen der Frauenarbeit in Fabriken . 337
Wirkungen verkürzter Arbeitszeit in der
westdeutschen Textilindustrie .... 338
Gcsundheitli.cheNachtheile der Beschäftigung
jugendlicher Arbeiter 338
Arbeitslosigkeit in Chemnitz 349
Eine englische Denkschrift über die Arbeits-
losigkeit 349
Zur Kritik der Arbeitsstatistik der deutschen
Gewerkvereine für das Jahr 1891 . . 359
Die Lage der Arbeiter im Wupperthale . 360
Fabrikarbeiterlöhne in Sachsen- Altenburg . 361
Statistik der Leipziger Buchdruckerlehr-
linge 361
Forderung der Arbeitsstatistik für Paris . 361
Beschäftigung jugendlicher Arbeiter beim
preussischen Bergbau 372
Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Böttcher
Deutschlands 386
Ergebnisse der Fabrikaufsicht auf dem
Thüringer Wald 386
VI
INHALT DES ERSTEN BANDES.
Seite
Lohnverhältnisse und Arbeitszeit der Fabrik-
arbeiter auf dem Thüringer Wald . . 408
Arbeiterstatistik des Fabrikinspektors für
das Grossherzogthum Altenburg . . . 408
Löhne in Stuttgart - . . 432
Statistik der Arbeitslosigkeit in Frankreich 432
Zur Lage der englischen Arbeiter . . . 433
Zur Lage der Vollmatrosen und Schiffs-
jungen bei der deutschen Handels-
marine 447
Ortsübliche Tagelöhne für den Stadtkreis
Berlin 447
Die Arbeitslosigkeit im Hamburger Zimmer-
gewerbe im Winter 1891/92 .... 447
Lohnmissbräuche in der schweizerischen
Posamentindustrie 447
Zur Statistik der Arbeitslosigkeit .... 456
Die ortsüblichen Tagelöhne in der Stadt
Hannover 457
Arbeiterverhältnisse in Lübeck 457
Arbeiterverhältnisse in Bremen 457
Achtstündige Arbeitszeit 469
Arbeitszeit der österreichischen Südbahn-
arbeiter 469
Die Ausgabenrechnung eines Leipziger
Zimmermanns im Jahre 1891 . • 469
Ausdehnung der jugendlichen Arbeit in
der reichsländischen Industrie .... 483
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung.
Der Ruchdruckerstrike, Von Dr. Adolf
Braun in Berlin 8
Der Stand der deutschen Gewerkschafts-
bewegung. Von J. Scherm in Nürn-
berg 10
Ein Strike der Bierbrauergehilfen in Bayern.
Von Martin Segitz in Nürnberg . . 21
Der steirische Bergarbeiterstrike. Von Dr.
Leo Verkauf in Wien 49
Das Ende des Buchdruckerstrikes. Von
Dr. Adolf Braun in Berlin .... 51
Das Programm des deutschen Gewerk-
schaftskongresses. Von C. Legien in
Hamburg 65
Der steirische Bergarbeiterstrike. Von Dr.
Leo Verkauf in Wien 67
Zum Programm des deutschen Gewerk-
schaftskongresses. Von Martin Segitz
in Nürnberg 92
Die französischen Arbeitsbörsen. Von Leo
Frankel in Paris 108
Die Kohlenarbeiterfrage in Grossbritannien.
Von Dr. Stephan Bauer in Wien. . 139
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Die Lage der deutschen Gewerkschaften.
Von Dr. Adolf Braun in Berlin . . 144
Die Organisationsbestrebungen der Gewerk-
schaften auf dem Halberstädter Kongress.
Von Dr. Adolf Braun in Berlin . . 151
(Vergl. Leitende Aufsätze).
Die französischen Arbeitergewerkschaften.
Von Leo Frankel in Paris .... 156
Der Ausstand der Kohlenarbeiter in Eng-
land. Von Dr, Stephan Bauer in
Wien 166
DieErgebnisse des deutschen Gewerkschafts-
kongresses. Von Dr. Adolf Braun in
Berlin 168
Die letzten englischen Strikes. Von
Eleanor Marx-Aveling in London . 251
Frauengewerkvereine in England. Von Dr.
Eliza Ichenhäuser in Berlin . . . 300
Seite
Die deutschen Gewerkschaftsorganisationen.
Von C. Legien in Hamburg .... 338
Strikes und Aussperrungen in Deutschland
während der Jahre 1890 und 1891. Von
Dr. Adolf Braun in Berlin .... 418
Die Situation im deutschen Buchdruckerge-
werbe. Von Dr. Adolf Braun in Berlin 458
Die Stellung der deutschen Gewerk-
schaften zu den Beschlüssen des Halber-
städter Kongresses. Von C. Legien in
Hamburg 469
Der englische Gewerkvereinskongress 1892.
Von Prof. Dr. Lujo Brentano in
München 471
Der Gewerkverein der englischen Dock-
arbeiter 11
Die fiskalischen Grubenarbeiterausschüsse
im Saarkohlenrevier 11
Eine Organisation der an Pferdebahn-Be-
trieben beschäftigten Arbeiter .... 11
Der deutsche Buchdruckcrausstand ... 22
Bergarbeiterausstand in Steiermark und Krain 22
Der schweizerische Grütliverein .... 22
Die französischen Tabakarbeiter und Tabak-
arbeiterinnen 22
Eine Gewerkschaft der Kleider- und Wäsche-
näherinnen 22
Ueber das französische Arbeitersekretariat . 22
Arbeitsbörsen 22
Gegen die privaten Stellenvermittlungs-
bureaux 22
Die Neunstundenbewegung der schweize-
rischen Buchdruckergehilfen .... 23
Der deutsche Buchdruckerausstand ... 37
Die Achtstundenbewegung in den V ereinigten
Staaten von Amerika 37
Der Kampf um die Sonntagsruhe im Bäcker-
gewerbe 38
Ueber Arbeiterausstände und ihre recht-
lichen Folgen 38
Arbeiterschutz im Bäckergewerbe .... 68
Holzhauerstrike in Frankreich 80
Ruchdruckerstrike in Bukarest 81
Wiener Buchdruckerei- und Schriftgiesserei-
arbeiter-Strike im Jahre 1891 .... 81
Strike der Bierbrauergehilfen in Nürnberg 81
Zur Organisation der deutschen Metall-
arbeiter 81
Organisation der Eisenbahnarbeiter ... 92
Kongress der französischen Arbeitsbörsen . 93
Strikes und Lockouts in England .... 109
Der Strike der Pariser Droschkenkutscher . 1 10
Ein Tramwaystrike in Lille 110
Hirsch-Duncker’sche Gewerkvereine ... 119
Die Chausseearbeiter der Stadt Paris . . 119
Krisis im englischen Kohlenbergbau . . . 132
Die gleitende Skala in den Kohlenwerken
von Süd-Wales 132
Die Kontrollmarke 133
Reorganisation der katholischen Arbeiter-
vereine 133
Leistungen der dänischen Böttcher-Organi-
sation 133
Die amerikanischen Gewerkschaften ... 134
Die gewerkschaftliche Bewegung in Oester-
reich-Schlesien 134
Ein Urtheil über Strikes 134
Kontrollmarken für Textilarbeiter .... 146
Ein Kellnerstrike .147
Der Strike der Pariser Droschkenkutscher. 147
Rechenschaftsbericht der Generalkommission
der deutschen Gewerkschaften .... 157
Der Gewerkschaftskongress zu Halberstadt
11. 158
Seite
Die Kommis der Gemischtwaarenhändler
von Paris 158
Evangelische Arbeitervereine inWiirttemberg 169
Organisation der deutschen Tabakarbeiter . 170
Französischer Schneiderkongress .... 170
Ein Kellnerstrike 170
Ein neuer Kutscherstrike in Paris . . . . 178
Schweizerischer Gewerkschaftskongress . . 179
Ausstands-Versicherungsvereine inPreussen 192
Folgen des Durhamer Kohlenarbeiteraus-
standes 204
Französisches Arbeitersekretariat .... 204
Die ungarische Regierung und die gewerk-
schaftliche Organisation der Arbeiter . 204
Die Einführung der Arbeiterschutzmarke
für die Cigarrenindustrie 204
Schweizerischer Gewerkschaftskongress . 214
Die schweizerische Reservekasse . . . . 214
Zahl der Lohnkämpfe in der Schweiz . . 214
Der Pariser Gemeinderath und die neue
Arbeitsbörse 214
Die Pariser Omnibusgesellschaft .... 215
Die Tarifgemeinschaft im Buchdrucker-
gewerbe 227
Verband der deutschen Textilarbeiter . . 228
Hirsch - Duncker’sche Gewerkvereine in
Bayern 228
Eine Gewerkschaft der Mühlenarbeiter
Niederösterreichs 228
Die Forderungen der schweizerischen
Arbeiter 228
Der Stickereiverband der Ostschweiz . . 241
Kongress der französischen Eisenbahn-
arbeiter 241
Zwei neue französische Arbeitsbörsen . . 252
In der Schweiz für Strikezwecke gesam-
melte und ausgegebene Gelder . . . 252
Die Strickebewegung in Lodz 263
Folgen des Durhamer Strikes 264
Die Unterstützung bei Arbeitslosigkeit . . 265
Die Pariser Kellner gegen das Trinkgelder-
unwesen .... 265
Verband deutscher Bergarbeiter .... 276
Kontrolleure zur Ueberwachung desWagen-
nullens 276
Tarifkommission im deutschen Buchdrucker-
gewerbe 276
Rechnungsabschluss der Hirsch-Duncker-
schen Verbandskassen 276
Zum Ausstand der Kohlenarbeiter in Dur-
ham 276
Der Erfurter Schuhmacherstrike vom Jahre
1890 289
Strike in der nordböhmischen Hausindustrie 289
Organisation der deutsch-schweizerischen
Buchdrucker 289
Ende des Bergarbeiterausstandes in Durham 289
Eröffnung der Pariser Central-Arbeitsbörse 289
Internationaler Bergarbeiterkongress in
London 301
Die Bewegung im Münchener Dienstmänner-
Gewerbe 301
Kongress der Bergarbeiter des Departements
Pas de Calais 302
Beiträge zu den Kosten des letzten deutschen
Buchdruckerstrikes 302
Die Tarifkommission der deutschen Buch-
drucker 302
Internationaler Bergarbeiter - Kongress in
London 313
Der XI. ordentliche Verbandstag der deut-
schen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker) 313
Gewerkverein schwedischer Dienstmädchen
in Chicago 314
INHALT DES ERSTEN BANDES.
VII
Seite
Arbeitsordnungen als Strikeanlässe . , . 349
Bergarbeiterbewegung in Rheinland-West-
falen und im Saarrevier 372
Statistik des schweizerischen Gewerkschafts-
bundes 373
Internationaler Typographenkongress . . 394
Verband deutscher Bergleute 394
Die Kosten des letzten Buchdruckerstrikes
in Leipzig 394
Der Aufruhr in Homestead 420
Aussperrung von 1200 Brauern, Brauerge-
hilfen und Küfern in Hamburg . . . 423
Der 32. Jahresbericht des London Trades'
Council über das Jahr 1891 . . . • 423
Tagesordnung des nächsten Trades Unions
Kongresses 423
Die Versammlung der englischen Miners
Federation 423
Strikende Feldarbeiter in Slavonien . . . 424
Ende der Hamburger Braueraussperrung . 433
Kontrollmarke der Friseure 433
Zum Aufruhr in Homestead 433
Internationaler Buchdruckerkongress . . . 448
Die englischen Bergarbeiter und der acht-
stündige Arbeitstag 448
Die sliding scale als Regulator der Arbeits-
löhne 458
Deutscher Buchdruckertarif 474
Politische Arbeiterbewegung.
Die politische Tresse der deutschen Sozial-
demokratie 31
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
XVIII. italienischer Arbeiterkongress. Von
Prof. Dr. Werner Sombart in Breslau 367
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Der gegenwärtige Stand der italienischen
Arbeiterbewegung. Von Professor Dr.
Werner Sombart in Breslau . . . 479
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Der Strike von Carmaux. Von Leo Frankel
in Paris 4g4
Die deutsche Sozialdemokratie im Jahre 1891 12
Die Aufhebung des Koalitionsverbotes für
die ländlichen Arbeiter 12
Die sozialdemokratische Partei der Schweiz 12
Die galizisch-jtidischen Arbeiter und der
Sozialismus 13
Die Sozialdemokratie und die Strikes . . 52
Die Stellung der Sozialdemokratie zum
Boykott gg
Sozialistische Bauernbewegung in Oester-
reich
Die Maifeier 240
Ein schweizerisches Arbeiterprogramm . . 276
Der Kongress der österreichischen Sozial-
demokratie 299
Der Arbeiterschutz und die englischen Par-
lamentswahlen 299
Die evangelischen Arbeitervereine . 68. 310
Kommunales Programm der französischen
Arbeiterpartei 3ß-|
Katholische Arbeitervereine in Deutschland 373
Kongress zur Organisirung der italienischen
Arbeiterschaft 3gß
Sozialistische Bauernbewegung in Oester-
reich 395
Schweizerischer Grütliverein 395
Handhabung des Vereinsgesetzes in Schwarz-
Rudolstadt 409
Parteitag der deutschen Sozialdemokratie . 409
Seite
Das kommunale Wahlprogramm der Arbeiter
Zürichs 409
Ein englisches Arbeiterprogramm .... 409
Französische Arbeiterkongresse 424
Sozialistische Kongresse 433
Ein Vertreter der Arbeiter in der Regierung
Zürichs 434
Der deutsche sozialdemokratische Parteitag 448
Arbeiterkongress der französischen Schweiz 448
Unternehmerverbände.
Neues Kartell der russischen Zuckerfabri-
kanten. Von E. Scholkow in München 228
Der Ausstand - Versicherungsverband des
Oberbergamtsbezirkes Dortmund ... 13
Feinblech-Grossgewerbe 13
Krisis im rheinisch-westfälischen Walzwerk-
verband 23
Der Stickereiverband der Ostschweiz . . 23
Vereinigungen in der Kohlenindustrie . . 81
Gegen die Kohlenringe 110
Amerikanischer Whiskeytrust 110
Verband zur Besserung der ländlichen
Arbeiterverhältnisse 120
Ein Syndikat französischer Spinnereibesitzer 120
Verein deutscher Juteindustrieller .... 159
Kartell der bayerischen Spiegelglasfabriken 159
Westfälisches Koks-Syndikat 159
Vereinigung niederrheinischer Stoffdrucke-
reien 159
Einschränkung in der schottischen Jute-
industrie 159
Ein Kokssyndikat im Jahre 1890/91 . . . 170
Die Spiegelglasfabrikanten Böhmens und
Bayerns 171
Ein neuer Kupferring 180
Verein anhaitischer Arbeitgeber .... 180
Der deutsche Schienenverband .... 193
Die Gesetzgebung gegen die Trusts und
der Standard Oil Trust 193
Organisation der ländlichen Unternehmer in
Braunschweig und Thüringen .... 204
Kohlenkartelle und Eisenwerke .... 204
Kartell der bayerischen Spiegelglasschleif-
und Polirwerke 204
Westphälisches Kokessyndikat 215
Produktionskartell der Brüxer Kohlenwerke 215
Ländlicher Unternehmerverband in Schlesien 230
Centralverband der österreichischen Gross-
industrieller 230
Die Oelsnitz-Gersdorf-Lugauer Steinkohlen-
Bergwerke 290
Arbeitszeitbeschränkung in der sächsischen
Stickereiindustrie 29C
Landwirthschaftliche Genossenschaften . . 29C
Der Centralverband der Industriellen Oester-
reichs 35(
Internationales Kartell der Papierfabrikanten 350
Deutscher Tabakverein 373
Das gescheiterte Projekt eines rheinisch-
westfälischen Kohlensyndikats .... 395
Die Aussperrung von Schuhmachergesellen
in Barmstedt 396
Verkaufsverein der rheinisch-westfälischen
Kohlenzechen 486
Planmässige Aussperrung sozialistischer Ar-
beiter in Ungarn 486
Haiidwerkerfragen.
Die Bauhandwerker und die Hypotheken-
ordnung. Von Privatdocent Dr. Leo
Arons in Berlin 23
Seite
Die Forderungen der Handwerkerpartei. Von
Dr. Adolf Braun in Berlin .... 122
Die deutschen Gewerbekammern. Von Dr.
Rudolf Grätzcr in Marburg i. H. . . 451
Zur Frage der Gewerbekammern. Von Dr.
Rudolf Grätzer in Marburg i. FI. . . 485
Lehrlinge und Arbeiterorganisationen . . 24
Für den Befähigungsnachweis 24
Die Bauhandwerker und die Hypotheken-
ordnung 40
Gewerbekammern in Baden 69
Arbeiterschutz im Kleingewerbe .... 70
Auflösung der fakultativen Innungen . . 70
Gewerbekammern in Baden 82
Der deutsche Handwerkertag . . .111. 276
Gewerberäthe in Oesterreich 126
Zur Einführung der obligatorischen Innung
und des Befähigungsnachweises . . . 137
Untergang des Kleingewerbes in der Müh-
lenindustrie 137
Eine Statistik wandernder Handwerksge-
hilfen 158
Verpflegung und Wohnung der Lehrlinge
im Hause der Meister 159
Die Genossenschaften in Oestörreich . . 171
Innungsbewegung in Westfalen . . . . 171
Untergang des Kleingewerbes in Württem-
berg 230
Handwerkerorganisationen für die Gewerbe-
freiheit 230
Schweizerisches Gewerbegesetz 277
Erweiterung der Innungsprivilegien . . . 302
Einigung zwischen einem Gewerk- und
Meisterverein 302
Innungsbewegung im Fleischergewerbe . . 350
Regelung der Lehrzeit im österreichischen
Kleingewerbe 374
Kaufmännische Bewegung.
Die sozialpolitische Reformbewegung im
deutschen Handelsgewerbe. Von Dr.
Max Quarck in Frankfurt a. M. . . 39
Zur Organisation der weiblichen Angestellten
in kaufmännischen und Fabrikgeschäften.
Von J. Silbermann in Berlin . . . 179
Eine Minimalkündigungsfrist für Handlungs-
gehilfen 40. 69
Die Arbeitszeit kaufmännischer Lehrlinge . 40
Die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit
für Handlungsgehilfen 69
Handlungsgehilfen als Gefängnissarbeiter . 69
Die Syndikatskammer der kaufmännisch
Angestellten von Paris 81
Zur Verdrängung des Zwischenhandels. . 82
Minimalkündigungsfristen für Handlungs-
gehilfen in Oesterreich 82
Gehälter der Handlungsgehilfen .... 82
Kaufmännische Zeugnisse und Schiedsge-
gerichte 314
Gehaltsverhältnisse der Handlungsgehilfen. 314
Ein Kongress von Delegirten aller im
Handelsgewerbe arbeitenden Berufe . . 314
fahresversammlung des deutschen Verbandes
kaufmännischer Vereine in Köln . . . 325
Gewerbliche Fortbildungsschulen für Kauf-
leute 325
Organisation der Angestellten im Handels-
gewerbe 362
Verbandstag der kaufmännischen Vereine
Württembergs 374
Kaufmännische Sonntagsruhe in der Schweiz 409
Kaufmännisches Berufssekretariat in der
Schweiz ... 409
VIIT
INHALT DES ERSTEN RANDES.
Seite
Seite
Seite
Arbeitersctiutzgesetzgetmng.
Die Arbeiterschutzgesetzgebung beim deut-
schen Bergbau. Von Dr. Leo Verkauf
in Wien 17
(Yergl. Leitende Aufsätze.)
Der französische Gesetzentwurf, betr. die
Kinderarbeit. Von Prof. Raoul J ay in
Grenoble 24
Der Entwurf eines Arbeiterschutzgesetzes
für den Kanton Glarus. Von Kantons-
statistiker E. Naef in Aarau .... 70
Die neuesten Fortschritte der Fabrikgesetz-
gebung in Russland. Von Dr. Sophie
Daszynska in Warschau 83
Eine Enquete betr. die Organisation der
österr. Fabrikindustrie. Von Dr. Leo
Verkauf in Wien 134
Die Novelle zum preussischen Berggesetze.
Von Dr. Le o Verkauf in Wien 163. 271. 205
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Ein Schutzgesetz für die Gewerkschaften in
Frankreich. Von Leo Frankel in Paris 295
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Das Korporationsrecht und die Gewerkver-
eine in Deutschland. Von Dr. Arthur
Cohen in Augsburg 319
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Die Durchführung der kaufmännischen
Sonntagsruhe im Deutschen Reiche. Von
Dr. Max Quarck in Frankfurt a. M. . 379
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Der französische Senat und die Beschrän-
kung der Arbeitszeit. Von Leo F rankel
in Paris 215
Das Arbeiterschutzgesetz in Glarus. Von
Fabrikinspektor F. Schüler in Mollis , 265
Die Sonntagsruhe im Handelsgewerbe. Von
J. Silber mann in Berlin 277
Die schweizerische Bundesgesetzgebung über
die Arbeitszeit beim Betriebe der Eisen-
bahnen und anderer Transportanstalten.
Von Kantonsstatistiker E. Nae f in Aarau 396
Die Stellung der schweizerischen Hand-
werker- und Gewerbevereine zur Er-
weiterung des Fabrikgesetzes. Von
Kantonsstatistiker E. Naef in Aarau . 409
Arbeiterschutz in der Hausindustrie ... 13
Fabrikgesetzgebung in Ostindien .... 13
Ein neues Fabrikgesetz in Neuseeland . . 13
Ein städtisches Arbeitersekretariat ... 13
Der Entwurf einer revidirten Gesinde-
ordnung 25
Normalarbeitstag und Minimallohn bei
öffentlichen Arbeiten in Holland ... 25
Sonntagsruhe im Handelsgewerbe 25. 41. 53
Schutz der Arbeiterinnen 41
Schweizerisches Fabrikgesetz 41
Arbeiterschutz bei dem schweizerischen
Verkchrsgewerbe 71
Städtischer Arbeitsnachweis und städtische
Arbeitersekretariate 71
Arbeiterschutz in der Mühlenindustrie . . 84
Frankfurter Ortsstatut über die Sonntags-
ruhe im Handelsgewerbe 93
Sonntagsruhe im Berliner Handelsgewerbe 93
Arbeiterschutz in Drahtziehereien ... 93
Zum deutschen Koalitionsrecht ..... 93
Eintragungen in Arbeitsbücher nach deut-
schem Gewerberecht 93
Schutzvorschriften für Arbeiter in Briquette-
~ fabriken 94
Beschäftigung von Arbeiterinnen und
jugendlichen Arbeitern in Walz- und
Hammerwerken
Beschäftigung von Arbeiterinnen und
jugendlichen Arbeitern in Cichorien-
fabriken und Glashütten
Entwurf eines Achtstundengesetzes für
England
Schutzvorschriften für englische Seeleute
Beschäftigung von Arbeiterinnen in Stein-
kohlenbergwerken
Kinderschutz ausserhalb der Fabriken . .
Nothwendigkeit der Ausdehnung der Schutz-
vorschriften für jugendliche Arbeiter .
Minimallöhne in Frankreich
Ein staatliches Arbeitsvermittelungsamt in
Neu-Seeland
Schutz von Arbeiterinnen und jugendlichen
Arbeitern in Zuckerfabriken ....
Schutz der jugendlichen Arbeiter auf Stein-
kohlenbergwerken
Schutz Vorschriften für Bergleute ....
Internationale Regelung der deutschen,
österreichischen und schweizerischen
Stickerei
Gesetzlicher Schutz der Handlungsbedien-
steten in England
Anweisung zur Ausführung der Gewerbeord-
nung in Preussen
Die Ausführung der deutschen Gewerbe-
ordnung
Die achtstündige Schicht für Bergarbeiter
im englischen Parlament
Ueber die Beschäftigung jugendlicher Ar-
beiter in Hechelräumen
Sonntagsruhe im Cigarrenhandel ....
Zur Beseitigung der Nachtarbeit in den
Kammgarnspinnereien
Die Bergarbeiter und die preussische Berg-
gesetznovelle
Kinderschutz in Baden
Festtage im Sinne des Arbeiterschutzge-
setzes
Sonntagsruhe der Automaten
Trucksystem in Belgien
Möglichkeit des Maximalarbeitstages für die
deutsche Industrie
Preussische Polizeiverordnung Uber die
äussere Heilighaltung der Sonn- und
Festtage
Sonntagsruhe für deutsche Bahnarbeiter
Arbeiterschutz für die Hausindustrie .
Zur preussischen Berggesetznovelle .
Regelung der Sonntagsruhe in der Industrie
Berlins : .
Ruhezeiten für österreichische Staatsbeamte
Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Oester-
reich
Arbeiterschutz in Schweden
Ausführung der neuen Gewerbeordnung für
das Deutsche Reich
Enquete über die Sonntagsruhe ....
Zweite Berathung der Berggesetznovelle im
preussischen Abgeordnetenhause . . .
Der Maximalarbeitstag für Bergarbeiter in
der Berggesetzkommission des preussi-
t sehen Abgeordnetenhauses
Missbrauch mit Strafgeldern im preussi-
schen Bergbau
Zechenverbände und Berggesetznovelle in
Preussen
Die dritte Lesung der preussischen Berg-
gesetznovelle ..........
111
111
111
1 12
120
120
135
136
136
147
148
148
148
148
171
180
182
193
194
194
206
207
207
207
207
217
Arbeiterschutz beim Bau der Wiener Ver-
kehrsanlagen 253
Ein schweizerisches Bundesgesetz über die
Kündigungsfristen 253
Ruhetage für das schweizerische Grenzauf-
sichtspersonal 253
Arbeiterschutzgesetz für den Kanton Glarus 253
St. Gallischer Arbeiterschutzgesetzentwurf , 253
Der Arbeitstag auf den französischen Eisen-
bahnen 254
Minimallohn für städtische Angestellte in
Zürich 266
Ein internationaler Kongress für Sonntags-
feier 279
j Sonntagsruhe der preussischen Staatsbahn-
arbeiter 279
Zur Ausführung der neuen Gewerbeordnung
für das Deutsche Reich 290
Bergarbeiter-Gesetzgebung in Baden . . . 290
Zur Berggesetznovelle 291
Sonntagsruhe für das Berliner Bäckerge-
werbe 291
Schutzvorschriften für ländliche Arbeiter . 291
Sonntagsruhe der Eisenbahnbedientesten . 291
Folgen des Ruhetagsgesetzes für die schwei-
zerischen Eisenbahnen 291
Sonntagsruhe im Handelsgewerbe . 302. 316
Zur Ausführung der neuen deutschen Ge-
werbeordnung 303
Festsetzung der Arbeitszeit der Eisenbahn-
beamten bei Personenzügen .... 303
Ausdehnung des Arbeiterschutzes in der
Schweiz
Die Frauenarbeit bei den schweizerischen
Eisenbahnen
Verordnung über die Sonntagsruhe im Han-
delsgewerbe für Preussen ..... 314 '
Der Achtstundentag in Australien . . . 326
Zum Koalitionsrecht der Arbeiter in Deutsch-
land 326
Neue Gesindeordnung für das Königreich
Sachsen 327 ■
Sonntagsruhe für das Handelsgewerbe im
Grossherzogthum Hessen 327 ;
Sonntagsruhe für das Ilandelsge werbe in
Berlin 327 I
Ortsstatut über die Sonntagsruhe im Han-
delsgewerbe für Frankfurt a. M. . . . 328
Arbeiterschutzvorschriften für Fellzurichte-
217
218
218
230
231
231
231
231
242
242
243
244 I
245
245
253
reien 320
Arbeiterschutzmassregeln für die Wiener
Verkehrs-Anlagen 350
Arbeitszeit der englischen Eisenbahnbe-
diensteten 350
Möglichkeit der Arbeitszeitverkürzung . . 362
Sonntagsruhe für die Landarbeiter der
königl. preussischen Domänen .... 362
Beschränkung der Sonntagsarbeit auf Schiffen 362
Entscheidung des schweizerischen Bundes-
rathes über den Inhalt von Arbeitsord-
nungen 363
Ausführungsverordnung zur neuen Gewerbe-
ordnung, betr. die Regelung der Frauen-
arbeit in Preussen • 398
Die Sonntagsruhe im Eisenbahngüterverkehr 398
Zur Sonntagsruhe in den Berliner Vororten 398
Arbeiterschutzgesetz in New-Jersey . . . 398
Durchführung der neuen Schutzvorschriften
für Arbeiterinnen in Baden 410
Die englische Shop Hours Act 424
Die Berliner Polizei und die Sonntagsruhe 424
Sonntagsruheverordnung für das Handels-
gewerbe im Hamburgischen Staate . . 435
Die Sonntagsruhe in München 435
INHALT DES ERSTEN BANDES.
TX
Seite
Die französischen Arbeitsräthe 435
Zur Frage des Achtstundentages in Eng-
land 435
Das Achtstundengesetz in den Vereinigten
Staaten . . . ' 436
Die Wirkung der Sonntagsruhe im Han-
delsgewerbe 448
Sonntagsruhe im sächsischen Eisenbahn-
dienste 458
Enquete über die kaufmännische Sonntags-
ruhe in Unter-Elsass 459
Schutzvorschriften für kaufmännische An-
gestellte in der Schweiz 459
Fakultativer Achtstundentag in England . 459
Schutzvorschriften für Arbeiter an Eisen-
steinröstöfen 474
Dienstbotengesetz in Rumänien .... 474
Gewerbeinspektion.
Die neuesten deutschen Inspcktoratsberichte.
Von Dr. M. Quarck in Frankfurt a. M. 14
Fabrikaufsicht und Arbeiterbewegung in
Baden. Von Prof. Dr. Heinrich
Herkner in Freiburg i. Br 149
Die Umgestaltung der Gewerbeinspektion in
Preussen. Von Dr. Heinrich Braun
in Berlin 223
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Aus den Jahresberichten der bayrischen
Fabrikinspektoren für 1891. Von Dr.
Max Quarck in Frankfurt a. M. . . 254
Gewerbeinspektor und Kesselrevisor. Von
Privatdozent Dr. j. Jastrow in Berlin. 259
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Die Berichte der schweizerischen Fabrik-
inspektoren für 1890 und 1891. Von
Kantonsstatistiker E. Naef in Aarau . 363
Unfallverhütung und Gewerbeinspektion in
Ungarn. Von Dr. Adolf Br aun in Berlin 279
Eisenbahn-Inspektoren 25
Gewerbeinspektion in Plolland 94
Ueberblirdung der Fabrikinspektoren . . 136
Jugendliche Arbeiter in der badischen Fa-
brikindustrie 136
Die Berichte der ungarischen Fabrik-
inspektoren 182
Der Ausbau der preussischen Gewerbe-
inspektion 207
Vermehrung der Fabrikinspektoren im
Königreich Sachsen 231
Fabrikinspektion in den Reichslanden . . 231
Die preussischen Fabrikinspektoren und die
Arbeiter 303
Mangelhaftigkeit der Fabrikaufsicht durch
Polizeibehörden 340
Die Ausgaben für die eidgenössischen
Fabrikinspektoren 340
Bergbauinspektoren in Oesterreich . . . 387
Reorganisation der Fabrikinspektion in
Preussen 410
Die Fabrikinspektion in Russisch- Polen . . 424
Arbeiterversicherung.
Eine Enquete betreffend die Krankenver-
sicherung. Von Dr. Leo Verkauf in
Wien 84
Die Fürsorge für erkrankte Dienstboten. Von
J. Silbermann in Berlin 94
Amtliche Berichte über., die deutsche Un-
fallversicherung in den Jahren 1890,
1891. Von Dr. Max Quarck in Frank-
furt a. M 159
Seite
Die Abänderung des deutschen Kranken-
versiclierungsgesetzes. Von Dr. Max
Quarck in Frankfurt a. M 172
Geschäftsbericht des Reichs-Versicherungs-
amtes für das Jahr 1891. Von Dr.
R. v. d. Borght in Köln a. Rh. . . . 183
Die freien Hilfskassen und ihre Aufgabe
gegenüber dem Krankenversicherungs-
gesetz. Von Dr. Adolf Braun in
Berlin 199
(Vgl. Leitende Aufsätze.)
Die statistischen Ergebnisse der Arbeiter-
Unfallversicherung in Oesterreich. Von
Dr. E. Hirschberg in Berlin ... 194
Die Ergebnisse der österreichischen
Krankenversicherung im Jahre 1890.
Von Dr. Adolf Braun in Berlin . . 351
Die Reform der österreichischen Bruder-
laden. Von Dr. Leo Verkauf in Wien 374
Zwei Vorschläge zur Revision des deut-
schen Unfallversicherungsgesetzes. Von
H. Horn in Berlin 398
Die Rechtskraft der Rentenfestsetzungs-
bescheide des Reichsversicherungsamts 403
(Vgl. Leitende Aufsätze.)
Die Krankenversicherung in den deutschen
Grossstädten. Von Dr. Max Quarck
in Frankfurt a. M 411
Zum Verfahren in Unfall-Entschädigungs-
sachen 427
(Vgl. Leitende Aufsätze.)
Der Grundfehler des Verfahrens zur Fest-
stellung von Unfallentschädigungen. Von
Dr. E. Lange in Friedenau .... 474
Eine Statistik der Unfälle für den Kreis der
landwirthschaftlichen Berufsgenossen-
schaften , 15
Hausgewerbe und Versicherungspflicht . . 25
Staatliche Unfallversicherung in Russland . 26
Die Erweiterung der Unfallversicherung in
Oesterreich 41
Beschäftigung ausländischer Arbeiter und
deutsche Versicherung ..... 42
Verstaatlichung der Aerzte 42
Der Entwurf eines österreichischen Hilfs-
kassengesetzes 54
Zur Statistik der Invaliditäts- und Alters-
versicherung 54
Zum deutschen Unfallversicherungsgesetz . 54
Die Unfall- und Krankenversicherung in
der Schweiz 54
Zur deutschen Krankenkassennovelle . . 55
Unterstützungskasse der westfälischen Berg-
leute 55
Die österreichische Krankenversicherung im
Jahre 1889 55
Zur Krankheitsstatistik 72
Zur Reform der deutschen Arbeiter verMche-
rungsgesetze 96
Der Begriff „Unternehmergewinn“ in der
Auffassung des Reichs- Versicherungs-
amts 97
Die Altersversicherung in England. ... 97
Haftpflicht und Unfallversicherung der Ar-
beiter in Russland 120
Die Krankenversicherung der Arbeiter im
Jahre 1890 161
Zur Wirksamkeit der deutschen Unfallver-
sicherung 185
Strengere Handhabung des Unfallversiche-
rungsgesetzes in Deutschland .... 185
Die Einberufung eines Kongresses der freien
Hilfskassen 185
Knappschaftsvereine deutscher Bergleute . 195
Seite
Krankenkassennovelle und Hirsch- Duncker-
sche Hilfskassen 208
Konferenz der Vorstände der eingeschrie-
benen Hilfskassen 208
Aus der Praxis der deutschen Unfallver-
sicherung 208
Die Konferenz der eingeschriebenen Hilfs-
kassen 218
Infektiöse Krankheiten und die öster-
reichische Krankenversicherung . . . 219
Zur organisatorischen Reform der deutschen
Arbeiterversicherung 220
Krankenversicherung der Dienstboten in
Baden 220
Bestrebungen zur Abschaffung des Invali-
ditäts- und Altersversicherungsgesetzes 220
Organisation der staatlichen Krankenver-
sicherung in Oesterreich 232
Die Berufsgenossenschaften als Organe der
Unfallverhütung 255
Ueber die Wirksamkeit der Invaliditäts-
und Altersversicherung 256
Unfallversicherung der Handwerker im
Deutschen Reich 256
Unfall- und Krankenversicherung in der
Schweiz 256
Grundsätze des Reichsversicherungsamts in
Betreff der Ansprüche auf Invaliden-
rente 267
Abänderung des deutschen Unfallversiche-
rungsgesetzes 267
Ausdehnung der Invalidität- und Alters-
versicherung auf die Beamten der evan-
gelischen Landeskirche 267
Statut des Verbandes freier Plilfskassen . 267
Revision der ortsüblichen Tagelöhne nach
dem neuen Krankenversicherungsgesetz 292
Die Photographie im Dienst der Unfallver-
sicherung 292
Höhere Entschädigung von Unfällen bei
weiblichen Arbeitern 292
Krankenversicherung der Dienstboten in
Baden 292
Zur Invaliditäts- und Altersversicherung
der Seeleute 292
Vereins- und Fabrikkassen in Ungarn . . 293
Konferenz der Vertreter der deutschen In-
validitäts- und Altersversicherungs-
anst alten 316
Der sechste ordentliche deutsche Berufs-
genossenschaftstag 316
Ausdehnung der Krankenversicherung durch
Ortsstatut 328
Rechnungsergebnisse der staatlichen Unfall-
versicherung in Niederösterreich . . . 328
Zur Frage der Arbeiterversicherung in
England 328
Altersversicherung der Hausindustriellen . 340
Unfallversicherung des Handwerks . . . 341
Reform der deutschen Unfallversicherung . 352
Normalstatut für Ortskrankenkassen im
Deutschen Reich 353
Die eingeschriebenen Hilfskassen und die
Krankenkassennovelle 364, 388, 413, 437, 449
Krankenstatistik des oberschlesischen
Knappschaftsvereines 365
Jahresversammlungen deutscher Zwangs-
kassenverbände 376
Zur Reform der deutschen Unfallversiche-
rung 376
Zur Statistik der deutschen Invaliditäts-
und Altersversicherung 376
Arbeiterversicherung der Seeleute . . . 377
Unfallversicherung im Tiefbaugewerbe . . 377
X
INHALT DES ERSTEN RANDES.
Seite
Reorganisation der deutschen Unfallver-
sicherung 388
Anweisung zur Ausführung des Kranken-
versicherungsgesetzes vom 10. April 1892 399
Die Invaliditäts- und Altersversicherung
im Stadtbezirke Rerlin im Jahre 1891 . 400
Haftpflichtschutzverband deutscher In-
dustrieller 400
Jahresversammlung des württembergischen
Krankenkassenverbandes 400
Besitzvertheilung und Unfallstatistik in der
thüringischen Landwirthschaft .... 401
Die Kaufleute und die Kranken- und Unfall-
versicherung in der Schweiz .... 401
Die Selbstverwaltung der Berufsgenossen-
schaften 412
Krankenkassengesetzgebung in Dänemark . 413
Die Entwickelung der Krankenversicherung
im Deutschen Reiche 424
Zur Spruchpraxis des Reichsversicherungs-
amts 424
Die Kranken- und Sterbekasse des schwei-
zerischen Grütli Vereins im Jahre 1891 . 425
Zur Ausdehnung der deutschen Unfallver-
sicherung auf das Handwerk, die See-
fischerei etc 436
Zur Reform der deutschen Unfallver-
sicherung 436
Die Berufsgenossenschaften und die Infall-
versicherung 436
Die Ausdehnung des deutschen Unfallver-
sicherungsgesetzes auf das Handwerk . 449
Der Reichszuschuss für die Invaliditäts-
und Altersversicherung 449
Zur Frage der Doppelversicherung . . . 459
Krankenversicherung der Dienstboten in
Deutschland 475
Vertheilung der Krankenkassenarten im
Deutschen Reich 476
Normalunfallverhütungsvorschriften der
deutschen Berufsgenossenschaften . . 486
Erhöhte Unfallgefahr bei der Verwendung
jugendlicher Arbeiter 486
Leistungen staatlich organisirter und freier
Hilfskassen in Deutschland 486
Seite |
Städtisches Versöhnungsamt für Arbeiter .
Ein neues Prud’hommesgesetz in Frankreich
Der Gesetzentwurf, betr. die Prud’hommes-
Gerichte in Frankreich
Arbeiter - Prud’hommes und Imperativ-
Mandate
Die deutschen Gewerbegerichtswahlen . .
Der belgische Conseil superieur du travail
Londoner Versöhnungsrath
Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Ge-
werbegerichte
Arbeits- und Industriekammern in den
Niederlanden
Das Wahlrecht der Frauen in den italieni-
schen Gewerbeschiedsgerichten . . .
Arbeiterausschüsse in Oesterreich ....
Die österreichische parlamentajische Enquete
über Arbeiterausschüsse etc
Die Gewerbeschiedsgerichte in Belgien . .
Gewerbegerichte und Aufsichtsbehörden in
Württemberg und Baden
Statistik der Gewerbegerichte in Baden
Errichtung eines Gewerbegerichts in Augs-
burg
Die Gewerbegerichtswahlen in Berlin
Errichtung von Gewerbegerichten durch
Ortsstatut
122
161
186
186
208
208
208
I
220
257
293
388 l
388
401
401
413
460
476
Wolmungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung.
Seite
Die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter in
Brüssel 269
Wohnungsgesetzgebung im Grossherzogthum
Hessen 293
Wohnungsverhältnisse im Regierungsbe-
zirke Königsberg i. Pr 293
Wohnungsstatistik des Deutschen Reiches . 317
Der Berliner Frauenverein Octavia Hill . 317
Wohnungsstatistik in Worms 329
Wohnungszustände in Frankfurt am Main 329
Missstände in Fabrikwohnungen .... 377
Wohnungszustände in Frankfurt a. M. . . 377
Bau von Arbeiterwohnungen aus den Ueber-
schüssen der deutschen Invaliditäts- und
Altersversicherung 388
Wohnungsuntersuchung in Braunschweig . 389
389
425
425
437
460
476
476
rung in Elsass-Lothringen 487
Die Zahl der Wohnungen und Haushal-
tungen in Belgien
Entwurf eines Wohngesetzes für das Gross-
herzogthum Hessen
Die preussische Regierung und die Woh-
nungsfrage in der Staatseisenbahn-Ver-
waltung
Regelung des Schlafstellenwesens in Frank-
furt a. M
M assregeln zur Erzielung gesunderen Woh-
nens in Glasgow
Bau von Arbeiterwohnungen aus Mitteln der
deutschen Invaliditäts- und Altersver-
sicherung
Massregeln zur Erzielung gesunden Wohnens
in Mühlhausen i. E
Wohnungs Verhältnisse der Arbeiterbevölke-
Wohnungszustände auf dem Lande. Von
Prof. Dr. Heinrich Herkner in Frei-
burg i. Br
Arbeiterwohnungsverhältnisse im oberschle-
sischen Industriebezirk. Von Prof. Dr
Werner Sombart in Breslau
Behördliche Massnahmen zur Wohnungs
frage
Statistisches über Wohnungsverhältnisse
Schlafstellenwcsen in Berlin
Ueber Versuche zur Hebung der Wohnungs
i
16
Armenwesen.
Die Individual-Armenstatistik des Wiener
Vereins gegen Verarmung und Bettelei.
Von Prof. Dr. Ernst Mischler in Prag 85
^ Versicherungsgesetze und Armenwesen . . 27
| Das Armenwesen der Stadt Berlin im
Etatsjahr 1890/91 281
Die Elberfelder Armenpflege in Oesterreich 341
Grewerbegerichte, Einigungsämter
und Arbeiterausschüsse.
Die Neu-Organisation der Gewerbegerichte
in Deutschland und das Berliner Orts-
statut. Von Dr. Max Quarck in Frank-
furt a. M 73
(Vgl. Leitende Aufsätze.)
Arbeiterausschüsse bei den preussischen
Staatsbahnen. Von Dr. Max Quarck
in Frankfurt a M
Die Errichtung gewerblicher Schiedsgerichte
in Deutschland
Kaufmännische Schiedsgerichte
Arbeiterausschüsse bei den preussischen
Staatsbahnen
Gewerbliche Schiedsgerichte in der Schweiz
Gewerbegerichte für Bergleute
Die Bediensteten der Pariser Omnibus-
gesellschaft und das Handelsgericht als
Schiedsgericht
Geschäftsthätigkeit des Stuttgarter Gewerbe-
gerichts
Schiedsgerichte im sächsischen Bergbau
Arbeiter Prud'hommes und Imperativ-
Mandate
noth der Arbeiter
Zur Reform der Berliner Bauordnung .
Wohnungszustände in Mannheim ....
Amtliche Untersuchung von Arbeiter-
wohnungen
Wohnverhältnisse der Bergarbeiter . . .
StaatlicherBau ländlicher Arbeiterwohnungen
Wohnungszustände in Bamberg . . . .
Wohnungszustände in Warschau . . . .
Regelung des Kost- und Quartiergänger-
wesens im Regierungsbezirk Münster .
Nürnberger Wohnungszustände
Wohnungsverhältnisse der oberschlesischen
26 Industriearbeiter
26 Geschlechtsvermischung in Arbeiterwohn-
ungen
26 Arbeiterwohnungen in Russland ....
56 Wohnungs- und Haushaltungsverhältnisse
56 der Stadt Halle a. S. bei der Volkszäh-
lung des Jahres 1890
Wohnungszustände in Worms
99 1 Wohnungsverhältnisse der Kranken in der
Schweiz
99 ; Rau von Arbeiterwohnungen als geschäft-
121 liclres Unternehmen
Wohnungszustände in München . . . .
121 Miethzinssparkassen im Rheinland
85
85
85
Kriminalität.
121 Die sozialpolitische Auffassung des Ver-
)21 brechens. Von Prof. Dr. F. v. Liszt
150 in Halle a. S
150' (Vergl. Leitende Aufsätze).
150 Die gesellschaftlichen Ursachen des Ver-
brechens. Von Prof. Dr. Franz v.
100; Liszt in Halle a. S
135 , (Vergl. Leitende Aufsätze.)
196 Psychologische Glossen zur Strafgesetz-
novelle. Von Privatdozent Dr. Georg
196 Simmel in Berlin
Die Zukunft der Rechtsstrafe. Von Prof.
196 Dr. Franz v. Liszt in Halle a. S. . .
195 (Vergl. Leitende Aufsätze.)
Arbeitsverdienst der Gefangenen in Preussen
Armuth und Verbrechen
4
59
173
463
197
449
220
221
Prostitution.
257
Eine Randglosse zur Prostitutionsfrage. Von
257 Dr. Bruno Schoenlank in Berlin . .
268 Die Prostitution im russischen Reiche. Von
268 Dr. Stephan Bauer in Wien . . .
28
42
i
I
i
INHALT DES ERSTEN BANDES,
XI
Seite
Gesetzgeberische Massnahmen gegen Prosti-
tution und Zuhälterthum. Von Privat-
dozent Dr. Theodor Löwenfeld in
München 115
Soziale Hygiene.
Die amerikanische Trichine und die obli-
gatorische Trichinenschau in Deutsch-
land. Von Dr. F. B. Simon in
St. Gallen ... ... 29
Der Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung
der Trunksucht in Deutschland. Von
Dr. Max Quarck in Frankfurt a. M. . 57
Zum schwedischen Trunksuchtsgesetz. Von
Axel Ramm in Gothenburg .... 138
Cholera und Sozialpolitik. Von Dr. Victor
Adler in Wien 464
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Sanitätsstatistik der Arbeiter im Wiener Klein-
gewerbe. Von Dr. Adolf Braun in Berlin 487
Aeusserungen zumTrunksuchtsgesetzentwurf 58
Zur Sittlichkeitsgesetzgebung 58
Ortsgesundheitsräthe im Grossherzogthum
Blessen 58
Zum deutschen Trunksuchtsgesetz ... 72
Zum schwedischen Trunksuchtsgesetz . . 72
Gewerbe-hygienisches Museum in Wien . 112
Lungenschwindsucht und Erwerbsverhält-
nisse 137
Die Trunksucht als Todesursache in den
15 grösseren städtischen Gemeinden der
Schweiz 196
Eine neue Gewerbekrankheit 317
Steigerung des Alkoholkonsums in der
Schweiz 317
Hygienische Untersuchungen der Buch-
druckereien in Preussen 353
Statistik der Schankstätten in Berlin . . 389
Sanitätspolizeiliche Revisionen in Wien . . 437
Die Cholera und die Wohnungsverhältnisse
von St. Petersburg
Das Stehen der Pferdebahnkutscher und
Schaffner
Erkrankungen und Berufsverhältnisse in Prag
Arbeiterkrankenkassen im Dienste der so-
zialen Hygiene
Lebensmittelkontrolle in Wien ...
Krankenkassen und soziale Hygiene . . .
Wohlfahrtseinrichtungen.
Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. Von Pro-
fessor Dr. Heinrich Herkner in
Freiburg i. Br. .
(Vergl. Leitende Aufsätze.)
Zur Frage der Gewinnbetheiligung der Ar-
beiter. Von Professor Raoul Jay in
Grenoble
Naturalverpflegung bedürftiger Durch-
reisender
Die Berliner Konferenz der Centralstelle
für Wohlfahrtseinrichtungen . . . .
Missbräuche und Vortheile bei Fabrik-
kantinen
Litteratur.
Wörishoffer, Die soziale Lage der Fabrik-
arbeiter in Mannheim und dessen nächster
Umgebung. Besprochen von Prof. Dr.
Heinrich Herkner in Freiburg i. B. .
Nordböhmische Arbeiterstatistik. Besprochen
von Prof. Dr. Heinr. Herkner in Frei-
burg i. B
Kamm, Die Steuerdeklaration der Aerzte
auf Grund des neuen preussischen Ein-
kommensteuergesetzes Besprochen von
Privatdozent Dr. J. Jastrow in Berlin
Seite
437
437
460
461
461
476
247
267
112
232
268
30
Swjatlowsky, Die Fabrikhygiene. Be-
sprochen von E. Scholkow in München
Das Mülhauser Arbeiterviertel, seine Bade-
anstalten und Waschküchen. Besprochen
von Prof. Dr. Heinrich Herkner
in Freiburg i. B
Taschen-Kalender zum Gebrauche bei Hand-
habung der Arbeiterversicherungsgesetze
Th. Hampke, Der Befähigungsnachweis
im Handwerk . .
Lautenschlager, Erhebungen für die Sonntags-
ruhe in Stuttgart
Somogyi, Die Lage der Arbeiter in Un-
garn vom hygienischen Standpunkte
Bürkli, Der Ursprung der Eidgenossen-
schaft aus der Markgenossenschaft und
die Schlacht aus Morgarten
H. Lux, Die Prostitution, ihre Ursachen,
ihre Folgen und ihre Bekämpfung . .
Allgemeiner Schweizer Gewerkschafts -
bund
Feling, Die Bestimmung der Frau, ihre
Stellung zu Familie und Beruf . . .
Protokoll der Verhandlungen des ersten
Kongresses der Gewerkschaften Deutsch-
lands
Hirsch, Leitfaden mit Muster-Statuten für
freie Hilfskassen
Görres, Handbuch der gesammten Arbeiter-
gesetzgebung des Deutschen Reiches
te Bart, Die Versicherungspflicht nach
dem Invaliditäts- und Altersversiche-
rungsgesetz vom 22. Juni 1889 . . .
44
Vermischtes.
Klassische Konzerte für Arbeiter ....
44 I Oeffnung der Londoner Museen am Sonntag
Seite
100
209
44
150
197
197
197
209
221
269
329
329
365
365
126
341
Inhalt des ersten Vierteljahresbandes
Seite
Seite
Seite
Leitende Aufsätze.
Unser Programm 1
Die sozialpolitische Bedeutung der neuen
Handelsverträge. Von Prof. Dr. C. J.
Fuchs in Greifswald 2
Die sozialpolitische Auffassung des Ver-
brechens. Von Prof. Dr. F. v. Liszt in
Halle a. S 4
Die Arbeiterschutzgesetzgebung beim deut-
schen Bergbau. Von Dr. L. Verkauf in
Wien 17
Die politische Presse der deutschen Sozial-
demokratie 32
Amtliche Untersuchungen sozialer Zustände
in Deutschland. Von Dr. Heinrich
Braun in Berlin 45
Die gesellschaftlichen Ursachen des Ver-
brechens. Von Prof. Dr. Franz v. Liszt
in Halle a. S 59
Die Neu-Organisation der Gewerbegerichte
in Deutschland und das Berliner Orts-
statut. Von Dr. Max Quarck in Frank-
furt a. M 73
Zur Heimstättenfrage. Von Dr. Carl Grün-
berg in Wien 88
Der parlamentarische Kampf gegen die
Börse 101
Di.e Reichskommission für Arbeiterstatistik.
Von Dr. Heinrich Braun in Berlin . 113
Gesetzgeberische Massnahmen gegen Pro-
stitution und Zuhälterthum. Von Privat-
dozent Dr. Theodor Löwenfeld in
München 115
Arbeitslosigkeit. Von Prof. Dr. Heinrich
Herkner in Freiburg i. B 127
Die Kohlenarbeiterfrage in Grossbritannien.
Von Dr. Stefan Bauer in Wien . . 139
Die Organisationsbestrebungen der Gewerk-
schaften auf dem Halberstädter Kon-
gress. Von Dr. Adolf Braun in
Berlin 151
Die Novelle zum Preussischen Berggesetze.
Von Dr. Leo Verkauf in Wien . . 163
Soziale Wirthschattspolitik und
Wirthschaftsstatistik.
Das Zündholzmonopol in der Schweiz. Von
Fabrikinspektor Dr. F. Schüler in
Mollis 5
Die Hypothekenbewegung im preussischen
Staate während der Rechnungsjahre
1886/87 bis 1889/90. Von Dr. Carl
Grünberg in Wien
Agrarische Bewegungen in der Schweiz.
Von Kantonsstatistiker E. Na e f in Aarau
Reform der Gewerbeordnung in der Schweiz.
Von Kantonsstatistiker E. Nae f in Aarau
Agrarische Verhältnisse in Rumänien. Von
Dr. Carl Grünberg in Wien . . .
Ein neuer Lohnberechnungsplan Von
H. Schlüter in New-York
Zu den agrarischen Zuständen in Mexiko.
Von Kantonsstatistiker E. Naef in Aarau
Ein deutsches Auswanderungsgesetz. Von
Dr. Max Quarck in Frankfurt a. M.
Zu den agrarischen Reformplänen in Ru-
mänien. Von Dr. Carl Grünberg in
Wien
Die Wiener Verkehrsanlagen und die Ar-
beiter. Von Dr. Heinrich Fried-
jung in Wien
Das Schweizerische Auswanderungsgesetz.
Von Kantonsstatistiker E. Naef in
Aarau
Die Abzahlungsgeschäfte in Ratenlosen in
der Schweiz. Von Kantonsstatistiker
E. Naef, Aarau
Grossbetrieb im Kohlengewerbe ....
Neuer sozialpolitischer Gesetzentwurf in
Preussen
Zur Frage der Börsenreform
Auswanderungsgesetz für Deutschland . .
Zahl der industriellen Arbeiter in Russ-
land • . . .
Berufsgenossenschaften in der Schweiz .
Agitation der Bodenreformer in England .
Englisches Genossenschaftswesen ....
Die russische Wirthschaftspolitik und die
Hungersnoth
Ueberseeische Auswanderung aus dem deut-
schen Reiche
Die russische Regierung und die Hungers-
noth
Ermittelungen über die landwirthschaftliche
Bodenverschuldung in der Schweiz . .
Sparkassen im Dienst des Arbeiterwohls .
Agrarzustände auf Haiti '
Zum deutschen Auswanderungsgesetz
Arbeitergenossenschaften in Italien . . .
Städtische Sozialpolitik in England .
Reform des Gesetzes betr. den Unter-
stützungswohnsitz 144
Der Entwurf eines Heimstättengesetzes für
34 das Deutsche Reich 155
Das Höferecht in Tirol 155
34 Die überseeische Auswanderung aus Oester-
reich .166
47
60
75
90
116
129
141
154
165
6
33
35
47
61
76
76
89
103
104
104
104
118
131
131
143
Arbeiterzustände.
Die Lage der deutschen Mühlenarbeiter.
Von Dr. Heinrich Braun in Berlin .
Ueber die Abnahme der Arbeitskraft. Von
Prof. Dr. Heinrich Herkner in Frei-
burg i. B
Ueber die Abnahme der Arbeitskraft. Von
Dr. N. Brückner in Frankfurt a. M. .
Erwiderung. Von Prof. Dr. Heinrich
Herkner in Freiburg i. B . . . .
Die königliche Kommission über die Ar-
beiterfrage in England. Von Dr. Ste-
phan Bauer in Wien
Die Kinderarbeit in Frankreich. Von Prof.
Dr. Wilhelm Stieda in Rostock . .
Das Trucksystem in England. Von Prof.
Dr. Wilhelm Stieda in Rostock . .
Eine „Aufnahme“ der ländlichen Vrbeiter-
verhältnisse. Von Dr. Max Quarck
in Frankfurt a. M
Eine Aufnahme der ländlichen Arbeiter-
verhältnisse. Von Prof. Dr. Gustav
Schm oller in Berlin
Betriebsunfälle in der Industrie Nürnbergs.
Von Martin Segitz in Nürnberg .
Zur Lage der Leipziger Buchbindereiarbeiter
Eine „Musterarbeitsordnung“ für Bergwerke
Das Tabakmonopol und die Lage der
ungarischen Tabakarbeiter
Ueber die Ausnützung der Arbeiter in den
Nahrungsmittelgewerben
Die Arbeitsdauer in den Mainzer Cigarren-
und Tabakgeschäften
Arbeiterverhältnisse im bayerischen Bergbau
Lohnfristen der Bergleute
Kommission für Arbeitsstatistik ....
Zur Beurtheilung der Statistik der deutschen
Gewerkschaften
Peonagesystem und Arbeitslöhne in Mexico
Ernährungsverhältnisse der Arbeiterbevöl-
kerung
7
19
47
48
62
63
77
78
105
118
8
20
21
21
21
35
36
36
36
36
37
II
INHALT DES ERSTEN MERTELJAHRESBANDES.
S
Die Zunahme des Pferdefleischkonsums
Löhne im Wiener Schmiedegewerbe . .
Zustände im polygraphischen Gewerbe ii
Frankfurt a. M
Ueber Hamburger Arbeiterkinder .
Arbeiterverhältnisse in den preussischei
Staatsgruben
Arbeitslosigkeit
Statistik der Arbeiter und Beamten de
preussischen Staatsbahnen . .
Arbeitsverhältnisse bei den preussischei
Staatsbahnen
Mangelhafte Ernährung von Arbeiterkinder!
Arbeitslosigkeit
Ländliche Arbeiterverhältnisse ....
Ländliche Arbeiterverhältnisse in Süd
deutschland
Zur Arbeitsstatistik deutscher Gewerbe
inspektoren
Ein österreichisches Amt für Arbeitsstatistik
Ruhezeiten für das Betriebspersonal der
preussischen Staatsbahnen
Der Nothstand in der ostschweizerischen
Stickerei
Klagen über Lehrlingszüchterei . . .
Die Nothlage in der schweizerischen Sticke
reiindustrie
Zur Lage der Arbeiter in Italien . . .
Arbeitszeitreduktion in der schweizerische!
Spinnerei und Weberei
Lohnverhältnisse der Baseler Posamenter
Ueber die Abnahme der Arbeitskraft
Schweizerisches Arbeitersekretariat . .
Untergang einer Hausindustrie ....
Tagelöhne im Grossherzogthum Hessen
Zur Lage der Wiener Schuhmacher . .
Das Schwitzsystem in der Schneiderei de
Vereinigten Staaten
Statistik der Bergarbeiterentlassungen .
Ländliche Arbeiterverhältnisse ....
Schneiderwerkstätten in der Stadt New-York
Löhne und Lebenshaltung der ungelernten
Bauarbeiter Harburgs
Statistik der Arbeitslosigkeit in England .
Politische Arbeiterbewegung.
Die deutsche Sozialdemokratie im Jahre 1891
Die Aufhebung des Koalitionsverbotes für
die ländlichen Arbeiter ... • •
Die sozialdemokratische Partei der Schweiz
Die galizisch-jtidischen Arbeiter und der
Sozialismus
Die Sozialdemokratie und die Strikes . .
Die Stellung der Sozialdemokratie zum
Boykott
eite
37
49
49
49
49
49
64
64
65
65 |
65 i
79
80
80
91
91
92
107
107
107
107
118
131
132
132
132
132
Seite
Das Programm des deutschen Gewerk-
schaftskongresses. Von C. Legien in
Hamburg 65
Der steirische Bergarbeiterstrike. Von Dr.
Leo Verkauf in Wien 67
Zum Programm des deutschen Gewerk-
schaftskongresses. Von Martin Segitz
in Nürnberg 92
Die französischen Arbeitsbörsen. Von Leo
Frankel in Paris 108
Die französischen Arbeitergewerkschaften.
Von Leo Frankel in Paris .... 156
Der Ausstand der Kohlenarbeiter in Eng-
land. Von Dr. Stephan Bauer in
Wien 166
Der deutsche Gewerkschaftskongress . . 11
I )er Gewerkverein der englischen Dock-
arbeiter 11
Die fiskalischen Grubenarbeiterausschüsse
im Saarkohlenrevier 1 1 j
Eine Organisation der an Pferdebahn-Be-
trieben beschäftigten Arbeiter .... 1 1 i
Der deutsche Buchdruckcrausstand ... 22
Bergarbeiterausstand in Steiermark und Krain 22
Der schweizerische Grütldverein .... 22
Die französischen Tabakarbeiter und Tabak-
arbeiterinnen 22
Eine Gewerkschaft der Kleider- und Wäsche-
näherinnen 22
Ueber das französische Arbeitersekretariat . 22
Arbeitsbörsen 22
Gegen die privaten Stellenvermittlungs-
bureaux 22
Die Neunstundenbewegung der schweize-
rischen Buchdruckergehilfen .... 23
Der deutsche Buchdruckcrausstand ... 37
Die Achtstundenbewegung in den Vereinigten
Staaten von Amerika 37
Seite
147
Der Strike der Pariser Droschkenkutscher .
Rechenschaftsbericht der Generalkommission
der deutschen Gewerkschaften .... 157
Der Gewerkschaftskongress zu Halberstadt 158
Die Kommis der Gemischtwaarenhändler
von Paris 158
Die Ergebnisse des deutschen Gewerkschafts-
kongresses 168
Evangelische Arbeitervereine inWürttemberg 169
Organisation der deutschen Tabakarbeiter. 170
Französischer Schneiderkongress .... 170
Ein Kellnerstrike 170
Unterueliraerverbände.
Der Ausstand - Versicherungsverband de
Oberbergamtsbezirkes Dortmund . .
Feinblech-Grossgewerbe
Krisis im rheinisch-westfälischen Walzwerl-
verband
Der Stickereiverband der Ostschweiz .
Vereinigungen in der Kohlenindustrie .
Gegen die Kohlenringe
Amerikanischer Whiskeytrust ....
Verband zur Besserung der ländlichen
Arbeiterverhältnisse
Ein Syndikat französischer Spinnereibesitzer
Verein deutscher Juteindustrieller . . . .
Kartell der bayerischen Spiegelglasfabriken
Westfälisches Koks-Syndikat
Vereinigung niederrheinischer Stoffdrucke-
reien
Einschränkung in der schottischen Jute-
industrie
Ein Kokssyndikat im Jahre 1890/91 . • •
Die Spiegelglasfabrikanten Böhmens und
Bayerns
13
13
23
23
81
110
110
120
120
159
159
159
159
159
170
171
156
156
12
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung.
Der Buchdruckerstrike. Von Dr. Adolf
Braun in Berlin
Der Stand der deutschen Gewerkschafts-
bewegung. Von J. Scherm in Nürn-
berg
Ein Strike der Bierbrauergehilfen in Bayern.
Von Martin Segitz in Nürnberg . .
Der steirische Bergarbeiterstrike. \ on Dr.
Leo Verkauf in Wien
Das Ende des Buclidruckerstrikes. \ on
Dr. Adolf Braun in Berlin ....
144 Der Kampf um die Sonntagsruhe im Räcker-
144 ge werbe 38
144 Ueber Arbeiterausstände und ihre recht-
lichen Folgen 38
Arbeiterschutz im Bäckergewerbe .... 68
Evangelische Arbeitervereine in Deutschland 68
Holzhauerstrike in Frankreich 80
Buchdruckerstrike in Bukarest 81
Wiener Buchdruckerei- und Schriftgiesserei-
arbeiter-Strike im Jahre 1891 . . ■ . 81
Strike der Bierbrauergehilfen in Nürnberg 81
Zur Organisation der deutschen Metall-
arbeiter .., 81
Organisation der Eisenbahnarbeiter ... 92
Kongress der französischen Arbeitsbörsen . 93
Strikes und Lockouts in England .... 109
Der Strike der Pariser Droschkenkutscher. 110
Ein Tramwaystrike in Lille 110
Ilirsch-Duncker’sche Gewerkvereine ... 119
Die Chausseearbeiter der Stadt Paris . . 119
Krisis im englischen Kohlenbergbau . . . 132
Die gleitende Skala in den Kohlenwerken
von Süd-Wales 132
Die Kontrollmarke 133
Reorganisation der katholischen Arbeiter-
8 vereine 133
Leistungen der dänischen Böttcher-Organi-
sation 133
10 1 Die amerikanischen Gewerkschaften . . . 134
Die gewerkschaftliche Bewegung in Oester-
21 reich-Schlesien 134
Ein Urtheil über Strikes 134
49 Die Lage der deutschen Gewerkschaften . 144
Kontrollmarken für Textilarbeiter .... 146
51 Ein Kellnerstrike 147
Handwerkerf ragen.
die Hypotheken-
Leo Arons in
Die Bauhandwerker und
Ordnung. Von Dr.
Berlin 23
Die Forderungen der Handwerkerpartei . 122
Lehrlinge und Arbeiterorganisationen . . 24
Für den Befähigungsnachweis 24
Die Bauhandwerker und die Hypotheken-
ordnung +0
Gewerbekammern in Baden 69
Arbeiterschutz im Kleingewerbe .... 70
Auflösung der fakultativen Innungen . . 70
Gewerbekammern in Baden 82
Der deutsche Handwerkertag 111
Gewerberäthe in Oesterreich 126
Zur Einführung der obligatorischen Innung
und des Befähigungsnachweises . . . 137
Untergang des Kleingewerbes in der Müh-
lenindustrie 137
Eine Statistik wandernder Handwerksge-
hilfen 158
Verpflegung und Wohnung der Lehrlinge
im Hause der Meister 159
Die Genossenschaften in Oesterreich . . 171
Innungsbewegung in Westfalen .... 171
Kaufmännische Bewegung
Die sozialpolitische Reformbewegung im
deutschen Handelsgewerbe. Von Dr.
Max Quarck in Frankfurt a. M. . . 39
Eine Minimalkündigungsfrist für Handlungs-
gehilfen 40
INHALT DES ERSTEN VIERTELJAHRISBANDE.S.
III
Seite
Die Arbeitszeit kaufmännischer Lehrlinge . 40
Minimalkündigungsfristen für Handlungs-
gehilfen 69
Die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit
für Handlungsgehilfen 69
Handlungsgehilfen als Gefängnissarbeiter . 69
Die Syndikatskammer der kaufmännisch
Angestellten von Paris 81
Zur Verdrängung des Zwischenhandels. . 82
Minimalkündigungsfristen für Handlungs-
gehilfen in Oesterreich ...... 82
Gehälter der Handlungsgehilfen .... 82
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Der französische Gesetzentwurf, betr. die
Kinderarbeit. Von Prof. Raoul Jay in
Grenoble ... 24
Der Entwurf eines Arbeiterschutzgesetzes
für den Kanton Glarus. Von Kantons-
statistiker E. Naef in Aarau .... 70
Die neuesten Fortschritte der Fabrikgesetz-
gebung in Russland. Von Dr. Sophie
Daszynska in Warschau 83
Eine Enquete betr. die Organisation der
österr. Fabrikindustrie. Von Dr. Leo
Verkauf in Wien 134
Arbeiterschutz in der Hausindustrie ... 13
Fabrikgesetzgebung in Ostindien .... 13
Ein neues Fabrikgesetz in Neuseeland . . 13
Ein städtisches Arbeitersekretariat ... 13
Der Entwurf einer revidirten Gesinde-
ordnung 25
Normalarbeitstag und Minimallohn bei
öffentlichen Arbeiten in Holland ... 25
Sonntagsruhe im Handelsgewerbe .... 25
Schutz der Arbeiterinnen 41
Die Sonntagsruhe .im deutschen Handels-
gewerbe 41
Schweizerisches Fabrikgesetz 41
Sonntagsruhe im Handelsgewerbe ... 53
Arbeiterschutz bei dem schweizerischen
Verkehrsgewerbe 71
Städtischer Arbeitsnachweis und städtische
Arbeitersekretariate 71
Arbeiterschutz in der Mühlenindustrie . . 84
Frankfurter Ortsstatut über die Sonntags-
ruhe im Handelsgewerbe 93
Sonntagsruhe im Berliner Handelsgewerbe 93
Arbeiterschutz in Drahtziehereien ... 93
Zum deutschen Koalitionsrecht 93
Eintragungen in Arbeitsbücher nach deut-
schem Gewerberecht 93
Schutzvorschriften für Arbeiter in Briquette-
fabriken 94
Beschäftigung von Arbeiterinnen und
jugendlichen Arbeitern in Walz- und
Hammerwerken Dl
Beschäftigung von Arbeiterinnen und
jugendlichen Arbeitern in Cichorien-
fabriken und Glashütten 111
Entwurf eines Achtstundengesetzes für
England 111
Schutzvorschriften für englische Seeleute 112
Beschäftigung von Arbeiterinnen in Stein-
kohlenbergwerken 120
Kinderschutz ausserhalb der Fabriken . . 120
Nothwendigkeit der Ausdehnung der Schutz-
vorschriften für jugendliche Arbeiter . 135
Minimallöhne in Frankreich 136
Ein staatliches Arbeitsvermittelungsamt in
Neu-Seeland 136
Seite
Schutz von Arbeiterinnen und jugendlichen
Arbeitern in Zuckerfabriken .... 147
Schutz der jugendlichen Arbeiter auf Stein-
kohlenbergwerken 148
Schutzvorschriften für Bergleute .... 148
Internationale Regelung der deutschen,
österreichischen und schweizerischen
Stickerei 148
Gesetzlicher Schutz der Handlungsbedien-
steten in England 148
Anweisung zur Ausführung der Gewerbeord-
nung in Preussen 171
Gewerbeinspektion.
Die neuesten deutschen Inspektoratsberichte.
Von Dr. M. Quarck in Frankfurt a. M. 14
Fabrikaufsicht und Arbeiterbewegung in
Baden. Von Prof. Dr. Heinrich
Herkner in Freiburg i. B 149
Eisenbahn-Inspektoren 25
Gewerbeinspektion in Holland 94
Ueberbürdung der Fabrikinspektoren . . 136
Jugendliche Arbeiter in der badischen Fa-
brikindustrie 136
Arbeiterversicherung.
Eine Enquete betreffend die Krankenver-
sicherung. Von Dr. Leo Verkauf in
Wien 84
Die Fürsorge für erkrankte Dienstboten. Von
J. Silbermann in Berlin 94
Amtliche Berichte über die deutsche Un-
fallversicherung in den Jahren 1890,
1891. Von Dr. Max Quarck in Frank-
furt a. M 159
Die Abänderung des deutschen Kranken-
versicherungsgesetzes. Von Dr. Max
Quarck in Frankfurt a. M 172
Eine Statistik der Unfälle für den Kreis der
landwirthschaftlichen Berufsgenossen-
schaften . 15
Hausgewerbe und Versicherungspflicht . . 25
Staatliche Unfallversicherung in Russland . 26
Die Erweiterung der Unfallversicherung in
Oesterreich 41
Beschäftigung ausländischer Arbeiter und
deutsche Versicherung 42
Verstaatlichung der Aerzte 42
Der Entwurf eines österreichischen Hilfs-
kassengesetzes 54
Zur Statistik der Invaliditäts- und Alters-
versicherung 54
Zum deutschen Unfallversicherungsgesetz . 54
Die Unfall- und Krankenversicherung in
der Schweiz 54
Zur deutschen Krankenkassennovelle . . 55
Unterstützungskasse der westfälischen Berg-
leute 55
Die österreichische Krankenversicherung im
Jahre 1889 55
Zur Krankheitsstatistik 72
Zur Reform der deutschen Arbeiterversiche-
rungsgesetze 96
Der Begriff „Unternehmergewinn“ in der
Auffassung des Reichs-Versicherungs-
amts 97
Die Altersversicherung in England. ... 97
Haftpflicht und Unfallversicherung der Ar-
beiter in Russland 120
Die Krankenversicherung der Arbeiter im
Jahre 1890 161
Seite
Gewerbegerichte, Einigungsämter
und Arbeiterausschiisse.
Arbeiterausschüsse bei den preussischen
Staatsbahnen. Von Dr. Max Quarck
in Frankfurt a M 98
Die Errichtung gewerblicher Schiedsgerichte
in Deutschland 26
Kaufmännische Schiedsgerichte 26
Arbeiterausschüsse bei den preussischen
Staatsbahnen 26
Gewerbliche Schiedsgerichte in der Schweiz 56
Gewerbegerichte für Bergleute 56
Die Bediensteten der Pariser Omnibus-
gesellschaft und das Handelsgericht als
Schiedsgericht 99
Geschäftsthätigkeit des Stuttgarter Gewerbe-
gerichts 99
Schiedsgerichte im sächsischen Bergbau . 121
Arbeiter Prud’hommes und Imperativ-
Mandate 121
Städtisches Versöhnungsamt für Arbeiter . 122
Ein neues Prud’hommesgesetz in Frankreich 161
Wohnungszustände und Wolinungs-
gesetzgebung.
Wohnungszustände auf dem Lande. Von
Prof. Dr. Heinrich Herkner in Frei-
burg i. B 16
Behördliche Massnahmen zur Wohnungs-
frage 27
Statistisches über Wohnungsverhältnisse . 27
Schlafstellenwesen in Berlin 56
Ueber Versuche zur Hebung der Wohnungs-
noth der Arbeiter 85
Zur Reform der berliner Bauordnung . . 85
Wohnungszustände in Mannheim .... 85
Amtliche Untersuchung von Arbeiter-
wohnungen 121
Wohnverhältnisse der Bergarbeiter . . . 121
StaatlicherBau ländlicher Arbeiter Wohnungen 150
Wohnungszustände in Bamberg .... 150
Wohnungszustände in Warschau .... 150
Regelung des Kost- und Quartiergänger-
wesens im Regierungsbezirk Münster . 100
Armen wesen.
Die Individual-Armenstatistik des Wiener
Vereins gegen Verarmung und Bettelei.
Von Prof. Dr. Ernst Mi schier in Prag 85
Versicherungsgesetze und Armenwesen . . 27
Kriminalität.
Psychologische Glossen zur Strafgesetz-
novelle. Von Privatdozent Dr. Georg
Simmel in Berlin 173
Gefängnissarbeit in Preussen 174
Prostitution.
Eine Randglosse zur Prostitutionsfrage. Von
Dr. Bruno Schönlank in Berlin . . 28
Die Prostitution im russischen Reiche. Von
Dr. Stephan Rauer in Wien ... 42
Soziale Hygiene.
Die amerikanische Trichine und die obli-
gatorische Trichinenschau in Deutsch-
land. Von Dr. F. B. Simon in
St. Gallen . 29
IV
INHALT DES ERSTEN VIERTELJAHRESBANDES.
Seite
Der Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung
der Trunksucht in Deutschland. Von
Dr. Max Quarck in Frankfurt a. M. . 57
Zum schwedischen Trunksuchtsgesetz. Von
Axel Ramm in Gothenburg ... 138
Aeusserungen zumTrunksuchtsgesetzentwurf 58
Zur Sittlichkeitsgesetzgebung 58
Ortsgesundheitsräthe im Grossherzogthum
Hessen 58
Zum deutschen Trunksuchtsgesetz ... 72
Zum schwedischen Trunksuchtsgesetz . . 72
Gewerbe-hygienisches Museum in Wien . 112
Lungenschwindsucht und Erwerbsverhält-
nisse 138
Seite
Wohlfahrtseinrichtungen.
Naturalverpflegung bedürftiger Durch-
reisender 112
Vermischtes.
Klassische Konzerte für Arbeiter . . .126
Litteratur.
L. Wörishoffer, Die soziale Lage der Fabrik-
arbeiter in Mannheim und dessen nächster
Umgebung. Von Prof. Dr. Heinrich
Herkner in Freiburg i. B 30
Seite
Nordböhmische Arbeiterstatistik. Von Prof.
Dr. Heinr. Herkner in Freiburg i. B. 44
Die Steuerdeklaration der Aerzte auf Grund
des neuen preussischen Einkommen-
steuergesetzes. Von Privatdozent Dr.
J. Jastrow in Berlin 44
W. Swjatlowsky, Die Fabrikhygiene. Von
E. Scholkow 100
Taschen-Kalender zum Gebrauche bei Hand-
habung der Arbeiterversicherungsgesetze 44
Dr. Th. Hampke, Der Befähigungsnachweis
im Handwerk . . 150
I. Jahrgang.
Berlin, den 4. Januar 1892.
Nummer 1.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Berlin.
Preis vierte], jälirlieli 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHAL T.
Unser Programm.
Die sozialpolitische Bedeutung der
neuen Handelsverträge. Von Prof.
Dr. C. J. Fuchs.
Die sozialpolitische Auffassung des
Verbrechens. Von Prof. Dr. Franz
v. Liszt.
Soziale Wirthschaftspolitik :
1 >as Zündholzmonopol in derSchweiz.
Von Fabrikinspektor I)r. F.
S ch u 1er.
Grossbetrieb im Kohlengewerbe.
Arbeiterzustände :
Die Lage der deutschen Mühlen-
arbeiter. Von Dr. Heinr. Braun.
Zur Lage der Leipziger Buch-
bindereiarbeiter.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
1 'er Buchdruckerstrike. Von Dr.
Adolf Braun.
Der Stand der deutschen Ge-
werkschaftsbewegung. Von f.
Seherin.
I >er deutsche Gewerkschaftskon-
gress.
I >er Gewerkverein der englischen
Dockarbeiter.
Die fiskalischen Grubenarbeiter-
ausschüsse im Saarkohlenrevier.
Eine Organisation der an Pferde-
bahnbetrieben beschäftigten Ar-
beiter.
Politische Arbeiterbewegung.
Die deutsche Sozialdemokratie im
Jahre 1891.
Die Aufhebung des Koalitionsver-
botes für die ländlichen Arbeiter.
Die sozialdemokratische Partei der
Schweiz.
Die galizisch -jüdischen Arbeiter
und der Sozialismus.
Unternehmerverbände:
Der Ausstands - Versicherungsver-
band des Oberbergamtsbezirkes
Dortmund.
Feinblech-Grossge werbe.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Arbeiterschutz in der Hausindustrie.
Fabrikgesetzgebung in Ostindien.
Ein neues Fabrikgesetz in Neu-
seeland.
Ein städtisches Arbeitersekretariat.
Gewerbeinspektion :
Die neuesten deutschen Inspek-
toratsberichte. Von Dr. Max
Quarck.
Arbeiterversicherung :
Eine Statistik der Unfälle der
landwirthschaftl.Berufsgenossen-
schaften.VonDr.B. Schoenl an k.
Wohnungszustände und Woh-
nungsgesetzgebung :
Wohnungszustände auf dem Lande.
Von Prof. I)r. Heinr. H e rk n e r.
Eingesendete Schriften.
Abdiuck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Unser Programm.
Die Theilnahme an den sozialpolitischen Kämpfen
unserer Zeit zieht immer weitere Kreise, und mit der Er-
kenntnis ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung wächst auch
das Bewusstsein, dass hier das Wohl der gesammten Gesell-
schaft mit dem jedes Einzelnen auf’s innigste sich verknüpft.
Naturgemäss entspringt daraus ein lebhaftes Bedürfnis nach
Orientirung auf diesem schwierigen und verwickelten Gebiet.
Die wissenschaftliche wie die populäre Litteratur scheint
neuerdings diesem Verlangen durch die rege Behandlung
sozialpolitischer Probleme Rechnung zu tragen. Allein die
erstere wendet sich ihrer Natur nach an den kleinen Kreis von
Fachmännern und setzt eindringende und umfängliche I
Studien voraus. Die populäre Litteratur, insbesondere die
1 ages- und die ihr verwandte periodische Presse aber
kennzeichnet sich dadurch, dass sie der Erörterung sozial-
politischer Fragen von vornherein den Massstab einer be-
stimmten politischen Parteianschauung zu Grunde legt.
Nun liegt gerade uns. nichts ferner als die blutleere
Gesinnung, nach der eine parteilose Politik oder eine partei-
lose Sozialpolitik möglich oder gar geboten sein soll. Im
Gegentheil glauben wir, dass die Bildung sozialer und poli-
tischer Parteien ein noth wendiges Ergebniss der geschicht-
lichen Natur unserer Gesellschaft ist, und dass Jedermann,
der einer lebendigen Theilnahme an den grossen Interessen der
Zeit nicht unfähig ist, die Pflicht hat, offen und rückhaltlos
Partei zu ergreifen.
Allein je ernster wir diese Pflicht autfassen, desto
wichtiger erscheinen uns auch die Voraussetzungen ihrer
Erfüllung. Diese Voraussetzungen bestehen aber für Jeden,
auf welchem Standpunkt er immer stehe, oder zu welcher
Partei seine gesammte Weltanschauung und prinzipielle
Auffassung in Verbindung mit der gewonnenen speziellen
Einsicht ihn auch führe, unweigerlich darin, sich über alle
Thatsachen des sozialen Lebens und seiner Entwicklung
ein unbefangenes, von jeder Voreingenommenheit unge-
trübtes Urtheil zu verschaffen. Ohne das letztere kann man
in sozialpolitischen kragen wohl zu einer fanatischen Partei-
meinung, niemals aber zu einer sicher begründeten allen
Einwendungen Stich haltenden Parteiüberzeugung gelangen.
Und wir sind in dem Mass davon durchdrungen, dass eine
vorurtheilslos gewonnene Kenntniss der sozialen Thatsachen
ein nothwendiges Element jedes parteipolitischen Stand-
punkts ist, dass wir die ehrlichen Vertreter aller Par-
teien, wissenschaftliche Kenntniss und Begabung voraus-
gesetzt, für befähigt halten, eine solche Orientirung über
die thatsächlichen sozialen Zustände darzubieten. Schlechter-
dings ein Zeichen für die verderblichen Auswüchse unseres
politischen Lebens ist es, dass diese Ansicht nicht ohne
Weiteres und nicht allgemein Anerkennung findet. Zum
Theil mag es mit diesem Umstand Zusammenhängen, dass
ein Organ, mit dem Ziel, über die Gesammtheit der sozial-
politischen Vorgänge und Erscheinungen Klarheit zu ver-
schaffen, bisher nirgendwo geschaffen worden ist.
Der tiefere Grund dieses Mangels liegt indess darin,
dass die sozialpolitische Betrachtung der Volkswirt-
schaft einen mühsam erkämpften und noch keineswegs
überall zur Geltung gelangten Fortschritt der politischen
Oekonomie darstellt. Diese Auffassungsweise — in der
Hauptsache hervorgegangen aus der sozialistischen Kritik
— entwickelte sich naturgemäss parallel mit den Klassen-
gegensätzen unserer Gesellschaft, die als eine Wirkung der
modernen Produktionsweise immer deutlicher hervortreten
und alle politischen und sozialen Verhältnisse auf das Ent-
scheidendste bestimmen. Nothgedrungen ergab sich damit
jeder volkswirtschaftlichen Erscheinung und gesetzgebe-
rischen Massnahme gegenüber die Frage, welchen Einfluss
2
SOZIALPOLITISCHES CKNTRALBLATT.
No. 1.
sie auf die Lage der verschiedenen Klassen ausüben
werden: diese Klassen selbst traten lebhaft und thatkräftig
mit selbständigen Forderungen an die Volkswirthschaft und
Gesetzgebung auf die Bühne des öffentlichen Lebens.
Bei all diesen in mannigfacher Wechselwirkung
stehenden Erscheinungen handelt es sich um soziale I rieb-
kräfte von ausserordentlicher Stärke, die in rastlosem W irken
unsere Gesellschaft umgestalten. Aber Alles ist hier im
Fluss, instinktives Gefühl überwiegt nur zu oft zielbe-
wusstes Wollen. Aus diesen Verhältnissen entspringt für
das Sozialpolitische Centralblatt eine seiner Hauptaufgaben.
Vollständiger und gründlicher als dies bisher geschah, soll
es bei jeder wirtschaftlichen Frage den sozialpolitischen
Gesichtspunkt hervorheben. Da es sich hier um ein die
gesammte Volkswirthschaft beherrschendes Prinzip handelt,
wird das Sozialpolitische Centralblatt nicht nur was im
engeren Sinn unter Sozialpolitik verstanden wird, sondern
alle aktuellen, ökonomischen Fragen vom sozialpolitischen
Standpunkt behandeln. Bei jedem neu auftauchenden
Problem soll für diesen Zweck das gesammte Material, das
in der Gesetzgebung aller Länder, in der Statistik und
Litteratur vorhanden ist, vorgeführt und an der Hand des-
selben dem Leser die Möglichkeit geboten werden, zu
einem selbständigen Urtheil zu gelangen. Die Dis-
kussion der gesetzgebenden Körperschaften wie der Presse
leidet gleichmässig daran, dass die grosse, in vielen Fällen
auch werthvolle Arbeit, die in jenem Material enthalten ist,
zu einem bedeutenden Theil ungenutzt bleibt, und die
öffentliche Meinung wie die Akte der Gesetzgebung jene
Förderung entbehren, die ihnen daraus erwachsen könnte.
Nach dieser Richtung glauben wir durch das Sozialpolitische
Centralblatt den allgemeinen Interessen einen wichtigen
Dienst leisten zu können.
Die andere Aufgabe der Wochenschrift soll darin be-
stehen, dass sie ein möglichst vollständiges Repertorium
der Ereignisse und Thatsachen auf dem Gebiet der Sozial-
politik werden soll. Die sozialen Vorgänge gestalten sich
immer reicher und mannigfaltiger und bilden gleichzeitig
einen Gegenstand des höchsten Interesses. Die Darstellung
und Schilderung der sozialen Bewegung in ihrer inter-
nationalen Ausbreitung, des politischen und gewerkschaft-
lichen Emancipationskampfes der arbeitenden Klasse, der
Organisationen der Unternehmer, die wiederum politische
sowohl wie ökonomische Formen annehmen, der sozialen
Gesetzgebung in ihren mannigfachen, mehr und mehr sich
specialisirenden Zweigen und ihren allmählich alle Gebiete
des Rechtslebens beeinflussenden Tendenzen gestalten sich
zu einer Aufgabe von höchstem Reiz und zugleich von
grösster Fruchtbarkeit für die sozialpolitische Erkenntniss.
Das Sozialpolitische Centralblatt wird sich bemühen, ein
scharf und treu gezeichnetes Bild jener grossartigen Er-
scheinungen darzubieten. Auf diese Weise werden die
vielgestaltigen, vom höchsten dramatischen Leben erfüllten
Phänomene, mit denen an Wichtigkeit und weittragender
Bedeutung keine anderen zu wetteifern vermögen, in einem
vollständigen Ueberblick erfasst werden. Alle anderen
hierher gehörigen Probleme, wie beispielsweise die Fragen
der Kriminalität, der Prostitution, der sozialen Hygiene,
der gesellschaftlichen Krankheiten, des Bevölkerung.s-,
Unterrichts-, Armen-, Sparkassenwesens u. s. w. sollen
ebenso nach ihrer sozialpolitischen Seite erörtert werden.
Wie das unter derselben Leitung stehende und in
odeichem Verlao- erscheinende Archiv für soziale Gesetz-
gebung und Statistik, soll auch das ein viel umfassenderes
Gebiet pflegende und, der Natur einer Wochenschrift
entsprechend, an weitere Kreise sich wendende Sozial-
politische Centralblatt nur nach jenem Erfolge ringen,
welcher durch strenge Objectivität und eine nach allen
Seiten bethätigte Unabhängigkeit zu erzielen ist.
Die dem Sozialpolitischen Centralblatt vorgezeichnete
Aufgabe ist eine bedeutsame. Die hingebende Arbeit einer
grossen Zahl ausgezeichneter Fachschriftsteller, der Redak-
tion und des Verlags ist ihm gewiss. Möge auch die zur
Erreichung des Zieles unerlässliche Theilnahme aller an
einer glücklichen sozialen Entwicklung interessirten Kreise
des Volkes nicht fehlen !
Die sozialpolitische Bedeutung: der neuen
Handelsverträge.
Die neuen Handelsverträge sind in doppelter Weise
von hervorragender sozialpolitischer Bedeutung. Zunächst
hat jeder prinzipielle Umschwung in der Handelspolitik einen
sozialpolitischen Charakter, weil und insoweit er das Ver-
hältniss des Staates zu den verschiedenen wirtschaftlichen
Klassen verändert und damit überhaupt die Frage autrollt,
nach welchen Gesichtspunkten dies Verhältniss zu gestalten
ist. Die Antwort auf diese Frage war auf einer früheren
Stufe der staatlichen und politischen Entwickelung sehr
einfach, die Handelspolitik war damals entweder der Aus-
fluss des Herrscherwillens oder die Interessenpolitik der
herrschenden Klasse. Im modernen Staat ist die Antwort
schwieriger. Mancher macht sich freilich auch da die
Antwort leicht: die Handelspolitik — so heisst es wohl — '
muss durch das Interesse der Gesammtheit bestimmt werden,'
dem sich das Einzelinteresse unterzuordnen hat. Sehr gut! .
Aber was heisst „Interesse der Gesammtheit“ und worin j
besteht es? Darauf wird die Antwort wohl lauten müssen:
die Gesammtinteressen einer Volkswirthschaft liegen nur
auf politischem und kulturellem Gebiet, in der Existenz und
Fortentwickelung des Staates und seiner Aufgaben aut i
wirthschaftlichem Gebiet aber giebt es überhaupt kein j
direktes Gesammtinteresse, sondern nur Einzel- und Klassen- •
interessen, die theilweise sich widersprechen, und ein ;
Gesammtinteresse besteht hier nur indirekt in der gerechten ■
Ausgleichung und Abwägung dieser verschiedenen Klassen- '
interessen, ein anderes wirthschaftliches Gesammtinteresse ?
giebt es nicht. Die richtige Handelspolitik vom Standpunkt
des modernen Staats muss daher, soweit wirthschaft-
liche Momente in Frage kommen, die Resultante der ver-
schiedenen hier wirksamen Kräfte sein. Damit ist schon
gesagt, dass auf ihre Richtung noch immer die jeweils
stärkste Kraft, die herrschende Klasse also, von grösstem
Einfluss ist, aber ihre Forderungen müssen beschränkt
worden durch die Rücksicht aut die anderen Klassen,
an Stelle der brutalen Majorisirung muss weise und gerechte
Berücksichtigung der Minorität treten.
Diese Ausgleichung der widerstrebenden Interessen hat
auch der Tarifreform von 1879 als Ziel vorgeschwebt, und
diesmal hat Capri vi ausdrücklich gesagt: Das ist es, worauf
es ankommt: auszugleichen mit Vaterlandsliebe ! Aber
gleichwohl stellt die neueste Entwickelung der deutschen
Handelspolitik einen prinzipiellen Umschwung gegenüber
jener dar.
Der Unterschied gegenüber der Tarifreform von 1879
liegt weniger in der Höhe der einzelnen Zollsätze, welche
z. T. noch über der damaligen steht, als vielmehr in der
Aufgabe der autonomen Tarilpolitik und der Rückkehr zu
vertragsmässig gebundenen Tarifen, zu Tarifverträgen an
Stelle der bisherigen blossen Meistbegünstigungsverträgen, ;
No. 1.
s< >/, i ai ,i’( >! i riscMKs ( :kntralhi . vri1.
3
cl. h. also in dem Ausschluss neuer Erhöhungen für die 1
nächsten 12 Jahre. Da aber diese Tarifverträge zugleich
eine Erniedrigung fremder Schutzzölle oder eine Abwehr
geplanter Erhöhungen bezweckten, so bedeuten sie natur-
gemäss Opfer für gewisse Zweige der einheimischen
Produktion: jeder solche Tarifvertrag ist ein Handels- und
Tauschgeschäft, bei dem Konzessionen auf der anderen Seite
nur eingetauscht werden durch entsprechende Konzessionen
auf der einen Seite. Die Ermässigung fremder Schutzzölle,
welche einen 'I heil der einheimischen volkswirtschaftlichen
Produktion schädigten, konnte nur erreicht werden durch
Minderung eigener Tarifsätze, d. h. durch momentane Opfer
der an diese gewöhnten Zweige der einheimischen Produktion.
Diejenigen Zweige aber, für welche so fremde Erleichterungen
durch Opfer anderer einheimischer Zweige erreicht werden,
werden damit aber implicite als die wichtigeren anerkannt,
und so führt diese handelspolitische Transaktion notwendig
zu einer Verschiebung des wirtschaftlichen und sozial-
politischen Schwerpunkts.
Der weitere Vergleich der neuen Handelsverträge mit
der Zollpolitik der 80er Jahre aber zeigt, welche Zweige
der einheimischen Produktion die Regierung in diesem
Augenblicke für geeignet und verpflichtet hielt, diese not-
wendigen Opfer aut sich zu nehmen, nämlich in erster
Linie die Landwirtschaft. Diese Abkehr von der in den
Zollerhöhungen der 80er Jahre enthaltenen unverhältniss-
mässigen Berücksichtigung der landwirtschaftlichen Inter,
essen, die Entschiedenheit, mit welcher die Denkschrift
und noch mehr Caprivi in seiner Rede vom 10. Dezember
Deutschland als Handels- und Industriestaat ersten Ranges
anerkennt und die Wichtigkeit des Exporthandels und
blühender Exportindustrien auch für die Landwirtschaft
betont — darin liegt der prinzipielle, sozialpolitisch wichtige
Umschwung der neuen Handelspolitik. Aber es entspricht
nur dem vorhin entwickelten Grundsätze, dass dieser Um-
schwung im Einzelnen so langsam und vorsichtig angebahnt
ist. Seine Konsequenzen sind gleichwohl auch in anderer
Beziehung bereits gezogen.
Die neue deutsche Handelspolitik ist nämlich zweitens
auch im engeren Sinne sozialpolitisch wichtig — nämlich
durch die Folgen, welche sie für die arbeitenden Klassen
haben wird, und die Rücksichtnahme auf diese hat als
wichtiges Moment dabei mitgewirkt Dies ist in geringerem
Maasse bekanntlich auch schon bei der Einführung der
autonomen Schutzzollpolitik 1879 der Fall gewesen: viele
Unternehmer verlangten damals optima flde im Interesse
ihrer Arbeiter Schutzzölle1), und jedenfalls ist bei der An-
nahme dieser Schutzzollpolitik der sozialpolitische Gedanke,
damit die in den Zeiten der Ueberproduktion von der In-
dustrie angezogenen Arbeitermassen beschäftigt zu erhalten
und Lohnreduktionen zu vermeiden, auch in Deutschland
ähnlich wie in den englischen Kolonien nicht ohne
Einfluss gewesen. Auch bei den späteren Erhöhungen,
namentlich der landwirthschaftlichen Schutzzölle, spielt die
Rücksichtnahme auf die Arbeiter, d. h. liier die Landarbeiter,
eine gewisse Rolle — aber eben diese Erhöhungen haben
durch die allgemeine Steigerung des Lebensunterhaltes viel
dazu beigetragen, jene sozialpolitische Wirkung der neuen
Schutzzollpolitik in der Hauptsache illusorisch zu machen.
Bei der neuen nunmehr eingeleiteten Handelspolitik
hat nun von Anfang an die Regierung selbst auf dieses
sozialpolitische Moment grosses Gewicht gelegt, aber ent-
sprechend dem vorher geschilderten Umschwung unter
Beschränkung auf die Arbeiter der Industrie. Und mit Recht,
denn die Verhältnisse liegen in dieser Beziehung keineswegs
gleich bei den industriellen und den landwirthschaftlichen
Arbeitern, vielmehr besteht ein grosser Unterschied zwischen
beiden zunächst infolge des Zuströmens von Arbeitskräften
aus der Landwirtschaft zur Industrie, das hier Ueberfluss,
dort Mangel verursacht, und daher dort die Löhne minder
abhängig macht von der jeweiligen Konjunktur, während
anderseits auch wohl gesagt werden darf, dass Verteuerung
der noth wendigsten Lebensmittel den Arbeiter der Industrie
schwerer trifft als den Landarbeiter. Die Lage des letzteren
ist nicht absolut besser, aber gesicherter; die Hilfe, die ihm
noth thut, liegt auf einem anderen als dem handelspoliti-
schen Gebiete.
Die industriellen Arbeiter also sind es, auf welche
die neue deutsche Handelspolitik ausdrücklich gemünzt ist.
Dies kommt weniger in der überhaupt so viel farbloseren
Denkschrift zum Ausdruck, als in der grossen Rede Caprivi’s
vom 10. Dezember. Dort wird nur gelegentlich betont, „wie
sehr die arbeitenden Klassen an dem Export interessirt
sind“ und von den „berechtigten Ansprüchen der Kon-
sumenten auf thunlichste Verbilligung der nothwendigsten
Lebensmittel“ gesprochen. In Caprivi’s Rede aber heisst
es gleich am Anfang ausdrücklich: „Der Rückgang des
Absatzes ins Ausland schädigt nicht blos die Unternehmer,
sondern auch die Arbeiter“, und an einer späteren Stelle
handelt er ex professo von der Bedeutung der Handels-
verträge für die Arbeiter und bezeichnet e$ als einen der
Zwecke dieser Verträge, unseren Arbeiterstand leistungs-
fähig zu erhalten und dem Arbeiter überhaupt entgegen-
zukommen. Die neuen Verträge sollen dies in doppelter
Weise thun: einmal durch Verbilligung der Lebensmittel,
soweit diese mit Rücksicht auf die höheren „staatlichen
Interessen“ möglich ist und dann durch Schaffung und Er-
haltung lohnender Arbeit durch die Erleichterung und Er-
weiterung des Exports und der Exportindustrien. Caprivi
betont aber ausdrücklich das Letztere als das viel wesent-
lichere hier trennt ihn also eine tiefe Kluft von dem
freihändlerischen Standpunkt, seine Argumentation ist in
diesem Punkt vollständig die gleiche, wie bei seinem Vor-
gänger.1) Das Eigenthümliche der neuen Handelsverträge
und ohne Zweifel ihr grösster Vorzug liegt nun aber darin,
dass sie, um es populär auszudrücken, beide Fliegen mit
einer Klappe schlagen: entsprechend den volkswirtschaft-
lichen Verhältnissen der Vertragsstaaten, namentlich von
Oesterreich-Ungarn, mussten die Konzessionen, mit welchen
Vortheile für die deutschen Exportindustrien erlangt werden
sollten, hauptsächlich in der Ermässigung unserer landwirth-
schattlichen Schutzzölle bestehen, diese Ermässigung aber
wird gleichzeitig zu einer Verbilligung der Lebensmittel
tiihren Es ist müssig, die Frage aufzuwerfen, ob dies
auch der Fall sein würde, wenn die Ermässigung auf die
Vertragsstaaten und die meistbegünstigten Staaten be-
schränkt bliebe, da dies von Anfang an nicht beabsichtigt
war und die wichtigste Massregel, die Herabsetzung der
Getreidezölle, ja bereits auf die Vereinigten Staaten aus-
gedehnt worden ist. Nunmehr ist eine wenigstens theil-
weise Verbilligung der nothwendigsten Lebensmittel be-
stimmt zu erwarten. Ob dieselbe freilich auf die Dauer
genügen werde, und ob daher der Getreidezoll von 3 Mk.
50 Pfg. die nächsten 12 Jahre hindurch wird aufrecht zu
erhalten sein, das erscheint gegenüber den jetzigen Ver-
hältnissen aut dem Weltgetreidemarkt als sehr zweifelhaft.
Aber mit Verbilligung des Lebensunterhaltes und Be-
lebung des Exports ist es nicht gethan, damit ist nur die
materielle Möglichkeit zur Verbesserung der Lage der Ar-
beiter geschaffen; damit diese wirklich erfolgt, ist noch ein
*) Vergl. Lotz, Die Ideen der deutschen
von 1860-1891. Leipzig 1892, p. 134 ff.
Handelspolitik
l) Vgl. die Rede Bismarck’s in der Reichstagssitzung vom
21. Mai 1879. *
*
4
SOZI ALPOI .1TISCHES CENTRAT .BI .ATT.
No. 1.
Weiteres nothwendig. Was dies ist, zeigt die Geschichte
der Aufhebung der Kornzölle in England, so wenig diese
sonst mit der gegenwärtigen Neugestaltung der deutschen
Handelspolitik verglichen werden kann. Die englischen
Arbeiter — nicht nur die Chartisten unter ihnen — standen
bekanntlich anfänglich der Agitation der Anti-Cornlaw-
League sehr misstrauisch gegenüber, da nach der Lehre
des geistigen Vaters des Manchesterthums, Ricardo's, Ver-
billigung des Lebensunterhalts nur zu einer Herabsetzung
der Löhne führen konnte, und die Führer jener Agitation
Cobden und John Bright gleichzeitig ausgesprochene Geg-
ner der angestrebten Fabrikgesetze waren. Erst die Noth
der 40er Jahre trieb die Arbeiter in das Lager der Liga.
Aber die grosse Besserung, welche in der Lage der oberen
Schichten der englischen Arbeiterklasse seit der Durch-
führung des Freihandels eingetreten ist, verdanken sie nur
zum Theil der dadurch herbeigeführten Verbilligung der
Lebensmittel, zum andern und nicht geringeren Theil aber
ihrer in derselben Zeit zu Stande gekommenen Organisation,
welche sie in den Stand setzte, eine Herabdrückung der
Löhne entsprechend der Verbilligung des Lebensunterhaltes
zu verhindern und an dem Aufschwung der Industrie stei-
genden Antheil zu gewinnen.
Ganz ebenso ergeben sich nun auch für Deutschland
heute aus seiner neuen Handelspolitik und ihrer sozial-
politischen Motivirung eine Reihe wichtiger Konsequenzen
auf dem Gebiet der Arbeiterfrage, auf welche Lotz im
Schlussartikel seines erwähnten Werkes über die „Ideen ,
der deutschen Handelspolitik“ schon vor dem Erscheinen
der Handelsverträge hingewiesen hat: vollständige Ausbil-
dung und Ausnützung der Ivoalitions- und Vereinsfreiheit
und Schaffung einer Arbeitsverfassung, welche sich den
Wechselfällen der Konjunktur anzupassen vermag. Erst
dann, wenn die Regierung, die Unternehmer und die Arbeiter
diese sozialpolitischen Konsequenzen der neuen Handels-
politik ungesäumt ziehen, wird die Verbilligung der Lebens-
mittel und die Hebung des Exports wirklich auch dem Ar-
beiter nützen und andererseits durch seine. gesteigerte Kauf-
kraft der Industrie gleichzeitig die ebenso nothwendige Ver-
mehrung des inländischen Absatzes erwachsen — erst dann
wird das von Caprivi gesteckte Ziel erreicht werden: dass
„die neuen Verträge, soweit es möglich ist, beides: das
Wohl der Arbeitgeber und das Wohl der Arbeiter fördern“.
Greifswald. C. |. Fuchs.
Die sozialpolitische Auffassung des
Verbrechens.
Sie haben, hochgeehrter Herr, den Gedanken angeregt,
ob es sich nicht empfehlen würde, in ähnlicher Weise, wie
das von berufenster Seite bezüglich des Entwurfes eines
bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich geschehen
ist, auch unser heute geltendes Strafgesetzbuch „vom sozial-
politischen Standpunkte aus“ zu beleuchten, ln der That,
der Gedanke ist vortrefflich und verdient, trotz aller
Schwierigkeiten der Ausführung, näher ins Auge gefasst
zu werden. Was ich mit meinen Gesinnungsgenossen an-
strebe? das ist ja gerade die Umgestaltung , der Strafgesetz-
gebung mit allem was drum und dran hängt „vom sozial-
politischen Standpunkte aus“. Die Ausführung Ihres
Gedankens bedeutet also nicht mehr und nicht weniger
als die Entwicklung unseres Programms. Das an dieser
Stelle thun zu dürfen, ist für uns um so werthvoller, als
wir ohne Zustimmung und Mitarbeit der ausser-juristischen
Kreise auf raschen Sieg nicht hoffen dürfen.
Aber was wir meinen und was wir wollen, das lässt
sich in wenigen Sätzen nicht sagen. Und „Fortsetzungen
sind fatal“, wie Sie richtig bemerken. .So bleibt kein
andrer Ausweg, als die in sich abgeschlossene Behandlung-
einzelner Fragen.
Fangen wir mit dem Anfang an! Was bedeutet der
„sozialpolitische Standpunkt“ für die Betrachtung der
Strafgesetzgebung?
In dem Worte Sozialpolitik liegt ein Doppeltes: ein
theoretisches und ein praktisches Moment. Der Sozial-
politiker untersucht die gesellschaftlichen Verhältnisse und
die Gesetze ihrer Entwicklung; aber er begnügt sich nicht
bei der Erkenntniss, er legt die Hände nicht in den Schooss,
sondern er will thätig eingreifen, beeinflussen, gestalten.
Der Kriminalist, der auf dem „sozialpolitischen Stand-
punkte“ steht, verlangt, wenn wir uns mit der allgemeinsten
Fassung begnügen wollen, die Bekämpfung des Ver-
brechens als einer Erscheinung des gesellschaft-
lichen Lebens. Die „Bekämpfung“, ihr Ziel und ihre
Mittel, wollen wir für heute bei Seite lassen. Meine Auf-
gabe sei darauf beschränkt, unsre Auffassung des Ver-
brechens in helleres Licht zu setzen.
Im Gegensätze zu Montesquieu, zu Quetelet und gar
manchem neueren Schriftsteller glauben wir nicht mehr an
eine durch Klima und Bodenbeschaffenheit bestimmte
fauna oder flora criminalis; wir glauben nicht, dass durch
die Zahl der Breitengrade die Zahl und die Art der Ver-
brechen unmittelbar bestimmt werde. Ob im Lande die
Weinrebe gedeiht oder Kartoff'elschnaps gebrannt wird;
ob schiffbare Ströme und sichere Häfen den Austausch der ;
Menschen, Güter, Gedanken und Laster befördern, oder
unwirthhche Gebirgszüge, ausgedehnte Wüsten oder
Wälder ein ansteckungsfreies Gebiet schaffen, wird freilich
auch für die Kriminalität nicht ohne Bedeutung bleiben.
Aber dass der Einfluss des Klimas und der Bodenbeschaffen-
heit ein mittelbarer ist, vermittelt durch die gesellschatt- :
liehen Verhältnisse, unterliegt uns keinem Zweifel. V ill ;
man uns lehren, dass die Temperatur an sich den „Hang j
zum Verbrechen“ bestimme, so lehnen wir diese Belehrung :
dankend ab. Es ist richtig, dass in kalten Wintern mehr
Holz gestohlen wird, als im Sommer; aber es bedarf keines 1
Nachweises, dass die Kälte nur mittelbar wirkt, und nicht
die tiefste Temperatur des Jahres, sondern die gleich-
mässige Kälte mehrerer Wochen und Monate den Ausschlag
giebt. Dass im wunderschönen Monat Mai alle Knospen
springen, das haben wir gewusst, lang’ ehe es eine
Kriminalstatistik gab; und dass der Höhepunkt der Sittlich-
keitsdelikte im Sommer und nicht im Winter zu suchen
sei, konnte uns nicht überraschen. Aber darum glauben
wir doch nicht, dass, wie gar manche Kriminalisten der
Gegenwart annehmen, die Hitze, die sonst erschlaffend
wirkt, den sexuellen Trieb zum Siedepunkt erhitze; sonst
wäre es ja auch nicht zu erklären, dass gerade im Juni
und nicht im Juli oder August hüben und drüben vom
Rhein die meisten Unzuchtsdelikte begangen werden.
Räumen wir so mit den so beliebten „kosmischen“
Faktoren des Verbrechens auf, so vermag auch die rein
„anthropologische“ Auffassung der Kriminalität uns nicht
zu imponiren. Mag immerhin — hier sei es dahingestellt —
die Vererbung uns ein gutes I heil unserer Verbrecher
schaffen: dass Vater und Mutter verkommen waren, ehe
sie das Kind ins Leben setzten, lag an den gesellschaft-
lichen Verhältnissen; und wer weiss, ob rechtzeitiges Ein- i
schreiten, ob Nahrung, Pflege, Erziehung den verkümmerten
Sprössling nicht zu leidlichem Leben entwickelt hätten.
No. I.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
5
Aber auch im eigenen Lager müssen wir den Geg-
nern wehren. Wer von uns hat nicht den Satz gehört,
dass, wenn die Getreidepreise um einen Groschen anziehen,
die Zahl der Diebstähle um Einen auf 100 000 Einwohner
steigt? Audi an dieses Dogma glauben wir nicht mehr.
Lasst gleichzeitig mit dem Steigen der Getreidepreise die
Löhne um das Doppelte steigen, und die Zahl der Dieb-
stähle wird sinken. Und wer etwa meinen wollte, dass der
Reichtlmm die sicherste Schutzwehr gegen verbrecherische
Neigungen wäre, der würde durch unsere „gute Gesell-
schaft“ gar leicht und gründlich eines Besseren belehrt
werden können.
So einfach also liegt die Sache nicht. Und darauf
hinzuweisen, ist der Zweck meiner heutigen Zeilen. Die
Kriminalstatistik hat uns bisher ebensoviel geschadet als
genützt, ebensoviel verschleiert als enthüllt. Auf die
Frage: „Woher stammt das Verbrechen?“ giebt sie uns
keine Antwort. Sie kann es auch nicht. Soll das Experi-
ment gelingen, so muss ich wissen, was dabei heraus-
kommen soll. „Wer sucht, der findet“: das heisst, dass
man wissen muss, was man finden will, ehe man darauf
ausgeht, es zu suchen. Die Statistik antwortet nur, wenn
man sie fragt. Sonst stellt sie höchstens Probleme, die
Andre beantworten müssen. Wir Kriminalisten haben noch
gar nicht einmal ordentlich angefangen, die Statistik zu
befragen. Wir wissen heute weniger von dem Probleme
der Kriminalität, als Quetelet und Alexander von Oettingen.
Wir sind kritischer geworden, als sie es waren. Das ist
die erste Voraussetzung, um mehr zu wissen. Aber Mehr-
Wissen ist es noch lange nicht.
Darum meinte ich oben, dass es der gemeinsamen
Arbeit der Kriminalisten und der Nicht-Kriminalisten be-
dürfe, um vom Flecke zu kommen. Mit der Betonung des
„sozialpolitischen Standpunktes“ ist wenig mehr gewonnen,
als die Ablehnung weit verbreiteter Irrthümer. Welches
sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus welchen das
Verbrechen sich entwickelt, wie der Parasit im lebenden
Körper? Das ist die Frage. Ich werde später versuchen,
die Antwort zu geben, die sich mir aufgedrängt hat. Dass
ihr die streng-wissenschaftliche Grundlage fehlt, wird mich
nicht abhalten, meine Ansicht zu sagen. Wer dem
„Dilettanten“ aut diesem Gebiete das Mitreden versagen
will, hat keine Ahnung vom Stande der Wissenschaft. In
manchen Dingen giebt es keinen schlagenderen Beweis
eigener Unwissenheit, als ein wissenschaftliches Glaubens-
bekenntniss.
Halle a. S. Franz v. Liszt.
Soziale Wirtschaftspolitik .
Das Zündholzmonopol in der Schweiz.
In diesen Tagen hat die Bundesversammlung der
jSchweiz einen Antrag des Bundesrathes zu behandeln,
[welcher die Aufnahme des folgenden Satzes in die Bundes-
verfassung vorschlägt:
„Fabrikation, Einfuhr und Verkauf der Zünd-
hölzchen im Umfange der Eidgenossenschaft stehen
„ausschliesslich dem Bunde zu.“
Der Antrag kommt nicht unerwartet. Schon im Jahre
1876, zur Zeit der Vorberathung des schweizerischen Fabrik-
gesetzes, gelangte aus dem Kanton Bern, dem Hauptsitze
Jer Zündholzindustrie, eine Eingabe der „medizinisch-
chirurgischen Gesellschaft“ an die Bundesbehörden, welche
Schutz der Arbeiter vor den Verheerungen der Phosphor-
nekrose und zu diesem Zwecke das Verbot der Verwen-
dung gelben Phosphors verlangte. Die Anregung hatte
nur insoweit Erfolg, als man zuerst eine spezielle Unter-
suchung der Verhältnisse durch die zu schaffenden Fabrik-
inspektoren zu verlangen und die Wirksamkeit derjenigen
Mittel zu erproben beschloss, welche das neue Bundesgesetz
über die Fabriken zur Beseitigung der Missstände an die
Hand gebe.
Die Ergebnisse der im Spätjahr 1878 vorgenommenen
Untersuchung lauteten so trostlos, dass die Bundesversamm-
lung beschloss, „es sei die Fabrikation, die Einfuhr und der
Verkauf von Zündhölzchen, bei denen gelber Phosphor zur
Verwendung kommt, vom 1. Januar 1881 an verboten“. Es
wurden im Verein mit einer Kommission der kompetentesten
Fachmänner die nöthigen Verordnungen erlassen. Ver-
schiedene speziell zum Zweck der Fabrikation der sogen,
schwedischen Zündhölzchen ganz vortrefflich eingerichtete
Etablissements entstanden; die bisher bestehenden richteten
sich unter Beirath und strenger Aufsicht der Inspektoren
ebenfalls bestmöglich dafür ein. Doch waren ihre Hülfs-
mittel zur Fabrikation zum Theil sehr unvollkommen, ihr
Verständniss für die neue Fabrikation gering; der Absatz
des neuen Produktes ermuthigte sie zu keinen Anstrengungen.
Ein bedeutender Theil der Konsumenten war schon deshalb
gegen die Sicherheitshölzchen eingenommen, weil sie sich
nicht überall entzünden Hessen. All’ dies wirkte zusammen,
um ein Fabrikat von schlechter Qualität und zugleich
schlechter Verpackung, überhaupt von üblem äussern An-
sehen zu Stande zu bringen. Am verderblichsten aber war
der Eifer allzu geschäftiger Chemiker, welche als Erfinder
sogenannter „überall entzündbarer giftfreier Zündhölzchen“
auftraten. Diese höchst explosibeln, funkensprühenden
Zündhölzchen fanden bald eine grosse Verbreitung, die
durch keine schon vorhandene gesetzliche Bestimmung-
gehemmt werden konnte und wurden unter dem Spitz-
namen der Allumettes föderales, den ihnen die Gegner des
Gelbphosphorverbots gaben, überall berüchtigt. Dazu kam
allmälig der Schmuggel und die geheime Fabrikation, in
deren Unterdrückung mehrere Behörden sich sehr lax er-
wiesen. Unter diesen Umständen verlangte der Bundesrath
die Vollmacht, „vermittelst Reglements alle diejenigen
Massregeln zu treffen, welche er für die Fabrikation der
Zündhölzchen, sowohl in Fabriken, als in Privathäusern,
für die Verpackung, den Transport und den Verkauf der-
selben für nöthig erachtet und für LTebertretung der Vor-
schriften dieser Reglements Strafbestimmungen, welche bis
zur Gefängnissstrafe gehen können, aufzustellen.“ Aber
statt dessen hob die Bundesversammlung im Juni 1882 das
Verbot der Verwendung des gelben Phosphors wieder auf,
nachdem es nur 1 V2 Jahre bestanden hatte.
Die unheilvollen Folgen dieses Beschlusses Hessen
nicht lange auf sich warten. Obwohl Bundesrath und
Fabrikinspektoren alles Mögliche thaten, was der Phosphor-
nekrose entgegenwirken konnte, tauchten bald wieder zahl-
reiche schwere Fälle derselben auf, so sehr, dass dieselbe
Bundesversammlung schon 1886 wieder einen Bericht ver-
langte, „wie der Phosphornekrose wirksam vorgebeugt wer-
den könne“. Wiederum waren es die Inspektoren, die Be-
richt zu erstatten hatten. Sie thaten es, indem sie die
traurige Lage der Zündholzindustrie schilderten, bei der
so viele Fabrikanten ökonomisch zu Grunde gehen, die
Arbeiter zum Theil Löhne verdienen, die zu wenig zum
Leben, zu viel zum Sterben seien und dabei ihre Gesund-
heit, sogar ihr Leben, recht oft einbüssen. Sie zeigten, wie
auch die Ausdehnung der Haftpflicht auf diese Industrie
den Arbeitern sehr wenig helfe, da so manche Arbeitgeber
selbst wenig oder nichts besitzen. Sie wiesen nach, wie es
selbst in vortrefflich eingerichteten und betriebenen Fabriken
von Gelbphosphorhölzchen erfahrungsgemäss nicht absolut
ausgeschlossen sei, dass die Arbeiter an Phosphornekrose
erkranken. Nur eine Verminderung derselben sei bei fort-
dauernder Verwendung des gelben Phosphors zu erreichen,
aber auch diese habe zur. Voraussetzung; : die Erhöhung der
Arbeitslöhne; die strenge Auswahl und ärztliche Ueber-
wachung des Personals, unentgeltliche Verpflegung der
S< )ZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 1.
Erkrankten; den Anforderungen der Hygiene entsprechend
eingerichtete, unterhaltene und benutzte Lokale und Appa-
rate; eine rationell von gebildeten Fachleuten geleiteter
Betrieb. Sämmtlichen Anforderungen, betonten sie, könne
nur in grossen Betrieben entsprochen werden; die erste Be-
dingung, wenn ein Fortschritt erzielt werden solle, sei die
Beseitigung der kleinen, eines rationellen Betriebes gar nicht
fähigen Etablissements, welche ja die grosse Mehrzahl aus-
rnachen (zwei Drittel haben nicht über 10 Arbeiter). Dazu
könne man aber kaum auf andere Weise gelangen, als in-
dem der Bund die Fabrikation der Zündhölzer jeder Art
monopolisire.
In der Voraussicht, dass die Gegner der Monopole an
und für sich im Verein mit den Fi eunden der Gelbphos-
phorhölzchen jeden weiter gehenden Antrag zu Falle brin-
gen würden, hatten die Inspektoren das Monopol nur unter
der Voraussetzung beantragt, dass die bisherigen Zünd-
hölzchen mit gelbem Phosphor hergestellt würden. Sie
behandelten aber diesen Antrag nur als einen eventuellen,
indem sie darauf hinwiesen, dass das wichtigste Ziel, die
vollständige Ausrottung der Phosphorkrankheiten, durchaus
nicht vollständig erreicht wurde und beantragten in erster
Linie erneutes Verbot der Fabrikation, Einfuhr und des
Verkaufs von Zündhölzchen mit gelbem Phosphor unter
Ansetzung strenger Bussen und unter Beschränkung der
giftfreien Hölzchen auf diejenigen Arten, welche der Bun-
desrath ausdrücklich bewilligt habe.
Man zauderte lange, an die so arg verfahrene Frage
heranzutreten, aber die Verhältnisse gestalteten sich immer
günstiger für diejenigen, welche eine radikale Beseitigung
des gelben Phosphors anstrebten. In Brochuren und Zei-
tungsblättern wurden aufs Neue die Opfer der Phosphor-
nekrose aufgezählt, die Beschlüsse der Bundesversammlung
für all dies Unheil verantwortlich gemacht.
Das Publikum hatte sich immer allgemeiner an die
schwedischen Zündhölzchen gewöhnt, nicht zum mindesten
in Folge der beständigen Warnungen der Hygieniker vor
dem giftigen gelben Phosphor. Der vermehrte Konsum
hatte die Entstehung oder Wiederbelebung von Geschäften
zur Herstellung giftfreier Hölzchen gefördert, welche den
besten ausländischen nicht nachstehen. Die Fabrikanten
der Gelbphosphorhölzchen sahen ihre Industrie trotz allen
vorübergehenden Erfolgen immer Avieder in den alten
fammer zurücksinken und erblickten schliesslich selbst im
Monopol einen Rettungsanker. So kam es, dass die Ange-
legenheit nicht länger ruhte. Die Fabrikinspektoren bekamen
einen abermaligen Auftrag zur Abgabe eines „Gutachtens
über das Zündholzmonopol“.
Was früher unerreichbar erschienen war, wurde nun-
mehr entschieden angestrebt, das Monopol mit Verbannung
des gelben Phosphors. Genaue Nachforschungen stellten
auch diesmal heraus, welche ungeheuere Wohlthat damit
den Arbeitern in der Zündholzindustrie erwiesen würde.
Ganz abgesehen vom gesundheitlichen Schutz ist nur so
ihre ökonomische Lage zu heben, welche sonst durch eine
erbitterte Schmutzkonkurrenz immer aufs neue auf eine
fast unerträglich niedrige Stufe heruntergedrückt wurde.
Allerdings mag die Zahl der Beschäftigten etwas sinken,
wenn der Grossbetrieb in einigen wenigen, vielleicht 3 bis
4 Etablissements, an die Stelle der bisherigen zahlreichen
Zwergbetriebe tritt; aber für die Gesammtheit der Arbeiter-
schaft wird der Erwerb steigen. Der Bundesrath adoptirte
den im Schooss der Bundesversammlung gemachten Antrag
auf Monopolisirung. Er motivirte seinen Vorschlag, das
Monopol mit Staatsbetrieb, namentlich damit, dass
beim Ueberlassen an die Privatindustrie der beabsichtigte
humanitäre Zweck entschieden nicht so sicher erreicht
würde. Die Existenzbedingungen der Arbeiter würden auf
einer niederen Stufe bleiben, die Versuchung zur Fabri-
kation verbotener Waare würde fortdauern; sie würde
vielleicht zu einem theilweisen Zurückziehen der Fabri-
kation aus den Fabrikgebäuden in die Wohnhäuser führen,
die Kontrole könnte keine so konzentrirte und wirksame
sein. Ferner wäre Schmuggel leichter möglich; die gute
Qualität der Waare wäre nicht gesichert, obwohl es auf
sie bei der Verwendung explosionsfähiger Substanzen so sehr
ankommt.
Nach dem, was bisher in der Publizistik und gesprächs-
weise verlautete, ist anzunehmen, dass der bundesräthliche
Antrag auf keinen gar zu grossen Widerstand stossen werde.
Er würde es wohl, wenn es sich um einen ersten Anfang
der Verstaatlichung von Industrien aus rein sozialpolitischen
Gründen handeln würde, wie er von einzelnen Seiten an-
gestrebt wird. Er würde auch lebhafte Angriffe erfahren,
wenn der Monopolbetrieb finanziellen Zwecken zu dienen
hätte, analog dem Salzmonopol der Kantone. Die Neigung
ist eben nicht überall gross, dem Bunde allzureiche Ein-
nahmequellen zu verschaffen, während die Kantone sich
kümmerlich durchschlagen. Ja nicht einmal das Motiv
würde mit Erfolg geltend gemacht werden, dass die Zünd-
holz-Industrie zu denjenigen Betrieben gehöre, die sich,
wenn sie auch wirthschaftlicher Natur sind, sich mehr für
den staatlichen Betrieb eignen, als für den privaten, wie
dies aus den verschiedenartigsten Gründen, z. B. bei dem
Münzregal, der Post, den Telegraphen der Fall ist.
Von alledem spricht aber der Bundesrath in seinem
Antrag durchaus nicht; die Verfolgung eines fiskalischen
Zweckes weist er mit aller Entschiedenheit von der Hand.
Er setzt allerdings voraus, dass das Erträgniss des Staats-
betriebes die Kosten der Einführung des Monopols allmälig
decken solle. Er findet nichts Bedenkliches in der Bemer-
kung der Fabrikinspektoren, dass die Kosten der Expro-
priation fahre lang die Betriebsgewinnste verschlingen
werden, ja er stellt in Aussicht, dass der Preis der Zünd-
hölzchen, eines Artikels des allgemeinsten und nothwen-
digsten Verbrauem allmälig so billig als irgend möglich
gestellt werde; dass auch der Verkauf möglichst zu er-
leichtern sei und dass nicht nur besonders konzessionirte
Personen hierzu berechtigt sein sollen. Sein einziger End-
zAveck ist ein humanitärer, die Arbeiter der Zündholz-
Industrie von der Phosphorkrankheit zu befreien.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Schweiz in der
Absicht, die sanitären Zustände ihrer Bevölkerung zu ver-
bessern, zur Annahme eines Monopols sich entschliesst.
Allerdings handelte es sich früher bei Annahme des Alkohol-
monopols nicht ausschliesslich um derartige Endzwecke.
Das finanzielle Erträgniss, welches den Kantonen ganz oder
theilweise die dahin fallenden Konsumsteuern auf Getränke
ersetzen sollte, spielte eine bedeutende, bei Tausenden die
einzig maassgebende Rolle. Aber auch die Zahl derjenigen
war eine sehr grosse, die lediglich um des idealen Zweckes,
um der Fürsorge für Kraft und Gesundheit der Bevölkerung
willen, zur Annahme stimmten. Es erscheint deshalb höchst
unwahrscheinlich, dass das heute vorgeschlagene Zündholz-
monopol verworfen werden und das Schweizervolk die mit
solcher Macht sich aufdrängenden Gründe sozialhygienischer
Natur unbeachtet lassen sollte.
Mollis. F. Schüler.
Grossbetrieb im Koblengewerbe. Anziehend sind die von
Reismann nach der „Zeitschrift für Berg-, Hütten- und Salinen-
Avesen“ zusammengestellten Zahlen über die EntAvickelung der
Kohlengruben des Oberbergamts Dortmund während des Zeit-
raums 1852 bis 1890. Im Jahre 1857 förderten 299 Werke mit
einer Belegschaft von 30 600 Köpfen 4 004 000 Tonnen zu 1000 kg;
auf ein Werk trafen 103 Arbeiter, auf den Kopf eine Förder-
menge von 131 t. Im Jahre 1890 dagegen förderten 175 Zechen
mit 127 800 Arbeitern 35 469 200 t, auf das Werk entfielen 730 Ar-
beiter, auf den Kopf 277 t Der Fortschritt zum Grossbetrieb,
der mit allen Mitteln einer vervollkommneten Technik Avirth-
schaftet, der über bedeutende Kapitalien verfügt und bis zur
kartellirten Produktion sich entwickelt hat, tritt klipp und klar
hervor. Die kapitalschAvachen Unternehmungen sind zu Grunde
gegangen oder von den grösseren Anlagen aufgesogen worden.
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No. 1.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
7
Arbeiterzustiimle.
Die Lage der deutschen Mühlenarbeiter.
Eine der erfreulichsten Erscheinungen der modernen
Arbeiterbewegung ist der Eifer, mit welchem von den Ar-
beitern die soziale Statistik gepflegt wird. Das Interesse
und die Beteiligung an derartigen Untersuchungen sind
allgemein und äussern sich bei männlichen und weiblichen
Arbeitern der Grossindustrie nicht minder wie in den klein-
gewerblichen Berufsgruppen. Wir glauben, dass für die
Psychologie der arbeitenden Klasse nicht leicht etwas be-
zeichnender ist als diese Thatsache. In einem erschreckenden
Maasse ist an die Stelle kraftvoll selbstbewusster Existenz,
frei sich äussernder Gefühle und Ueberzeugungen ein
schwächlich schattenhaftes, sich vor sich selbst verbergendes
konventionelles Dasein zum typischen Charakterzug weiter
Kreise unserer Gesellschaft geworden. Dagegen zeigt sich
die arbeitende Klasse von dieser gesellschaftlichen Erschei-
nung fast gar nicht beeinflusst. Mitten im Kampfe um die
Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen und zugleich
um die prinzipielle Umgestaltung der sozialen Ordnung
werden diese unermüdlich aufgemachten Statistiken für die
arbeitende Klasse zu einem Mittel, sich zu zählen, das
Bewusstsein der Solidarität zu stärken und zugleich durch
die Darlegung der tatsächlichen Verhältnisse zu einer in
vielen Fällen wuchtigen Anklage gegen die herrschende
Klasse und zu dem wirksamsten Argument für die Forderung
reformatorischer Maassnahmen.
Nach dieser Seite erwerben sich die deutschen Ge-
werkschaften sehr bedeutende Verdienste und zeigen sich
bemüht, die dürftigen amtlichen Untersuchungen der
Arbeiterzustände, soweit es in ihren Kräften liegt, zu er-
gänzen.
Als das neueste Ergebniss dieser Anstrengungen ist
kürzlich eine Statistik der Arbeitsverhältnisse der Müller
Deutschlands mit Hilfe des Verbandes deutscher Müller und
verwandter Berufsgenossen von H. Käppler ausgeführt und
veröffentlicht worden').
Die Untersuchung Käppler’s ist ein Seitenstück zu der
verdienstvollen Enquete Bebel's über die Lage der Arbeiter
in den Bäckereien (Stuttgart, Dietz, 1890) und, wie es
scheint, durch sie direkt angeregt worden.
Die Darstellung beruht auf einer vermittelst Frage-
bogen veranstalteten Erhebung. Anfangs 1890 hatte der
Verfasser 1000 Fragebogen an seine Fachgenossen versandt
und davon 668 ausgefüllt zurückerhalten. Nach der Stel-
lung des Verfassers als Redakteur des Fachblatts der
Müller ist anzunehmen, dass seine Statistik sich im Wesent-
lichen auf die in Fachvereinen organisierten Arbeiter be-
schränkt haben dürfte. Ueberdies erstreckte sich die
Untersuchung in der Hauptsache nur auf diejenigen Theile
Deutschlands, welche die verhältnissmässig günstigsten Ar-
beitsbedingungen darbieten. Damit ist gegeben, dass wir hier
! eine Darstellung der bessergestellten Arbeiter dieses
Berufszweiges erhalten haben, und die Schilderung die am
| schlechtesten situirte Kategorie gar nicht berührt, ein
Moment, das tür die richtige Auffassung der dargelegten
AVrhältnisse von Wichtigkeit ist.
Die von dem Verfasser angewendete Methode der
Erhebung, wie die Verarbeitung des Materials ist sehr
primitiver Art und lässt manchen Einwendungen Raum.
Von einer übertriebenen Aengstlichkeit zeugt es, dass er,
‘einzelne Ausnahmefälle abgerechnet, bemüht ist, den
Standort der in die Statistik einbezogenen Unternehmungen
im Dunkel zu lassen, und statt wenigstens nach Regie-
rungsbezirken und Kreisen, blos nach Provinzen oder
ganzen Staaten gruppirt. Erwünscht wäre die Veröffent-
lichung des Fragen-Schemas und eine kritische Mittheilung
l) Käppler, H., Arbeitsverhältnisse der Müller Deutsch-
lands. Nach statistischen Quellen bearbeitet. Oldenburg. 1891.
lim Selbstverläge des Verfassers Kl 8". 70 S. Preis 60 Pf.
'
über die Art der Beantwortung gewesen. Die Darstellung
macht im übrigen den Eindruck vollkommener Ehrlichkeit
und trägt das Gepräge der Zuverlässigkeit an sich, durch
welche nach der übereinstimmenden Erfahrung der Statistiker
in den verschiedensten Ländern die von Arbeitern gelie-
ferten Statistiken sich regelmässig auszeichnen. Mit auf-
i ichtiger Befriedigung werden in den Fällen, in denen
relativ günstige Verhältnisse angetroffen wurden, dieselben
konstatirt und auszeichnend erwähnt. Es liegt allein an
der entsetzlichen Lage der Dinge , dass die düstern
Bilder fortwährend wiederkehren.
Nach der Gewerbezählung vom 5. Juni 1882 beziffert sich
die Zahl der Getreide-, Mahl- und Schälmühlen auf 58 079 Ge-
werbebetriebe. Von diesen waren 52 492 Hauptbetriebe, in
denen I 18 513 Personen beschäftigt waren; nur 1227 derselben
zählten mehr als 5 Gehilfen mit im Ganzen 18 813 Personen.
Es ist klar, dass die Käppler’sche Untersuchung auf Grund
von 668 beantworteten Fragebogen keine erschöpfende
Darlegung der Zustände des ganzen Berufszweiges geben
kann, allein der mit grosser Gleichförmigkeit sich wieder-
holende Zustand lässt es durchaus glaubhaft erscheinen,
dass es sich dabei um typische Züge handelt, und der schon
erwähnte Umstand der Beschränkung auf die höher ent-
lohnten Schichten der Mühlenarbeiter macht es nur allzu
wahrscheinlich, dass die entsetzenerregenden Thatsachen,
die wir erfahren, nicht ein Extrem darstellen, sondern das
unsägliche Elend, unter dem die Müller leiden, keineswegs mit
voller Deutlichkeit bezeichnen.
Kurz zusammengefasst ergeben sich in den wichtigsten
Beziehungen folgende Resultate aus der Käppler’schen
Untersuchung. Was die Arbeitszeit anlangt, so haben von
668 Betrieben nur 82 Betriebe (12%) mit 515 Gesellen und
425 Hilfsarbeitern eine Arbeitszeit von täglich 12 Stunden,
ungerechnet die Ueberstunden, welche zur Erlangung eines
halbwegs ausreichenden Lohnes unvermeidlich sind; in
98 Betrieben (14"/,,) mit 609 Gesellen, 319 Hilfsarbeitern und 19
Lehrlingen herrscht eine tägliche Arbeitszeit von 14 Stunden
und auch hier sind Ueberstunden die Regel, in 79 Betrieben
( 1 1 72%) mit 252 Gesellen, 65 Hilfsarbeitern und 16 Lehrlingen
beträgt die Arbeitszeit 15 — 16 Stunden; 17—18 Stunden
in 304 Betrieben (über 45 %) mit 793 Gesellen, 154 Hülfs-
arbeitern und 85 Lehrlingen; 1 9— 20 Stunden in 52 Betrieben
(fast 8 %) mit 89 Gesellen, II Arbeitern und 10 Lehrlingen ;
36 und mehr Stunden hintereinander in 47 Betrieben (7%)
mit 133 Gesellen, 9 Arbeitern und 3 Lehrlingen! Nur 75
von den 668 Betrieben haben vollständige Sonntagsruhe.
In 40 Betrieben müssen Sonntags 6 Stunden, in 103 Be-
trieben 7 12, in 53 Betrieben 13 — 17, in 351 Betrieben 18
bis 24 und in 46 Betrieben noch über die 24 Stunden des
Sonntags hinaus bis zu 30, 36 und mehr Stunden ununter-
brochen gearbeitet werden.
Der Durchschnittslohn der Müllergesellen Deutsch-
lands betrug nach Angabe der Müllereiberufsgenossenschaft
im Jahre 1889 609 und im Jahre 1890 596 Mark ! In der
dritten Sektion dieser Berufsgenossenschaft betrug er im
Jahre 1889 397, im Jahre 1890 361 Mark. Als höchste Löhne
verzeichnet die siebente Sektion 754 Mark für 1 889 und 784
tür 1890. ln fünf von den 17 Sektionen dieser Berufsge-
nossenschaft stieg der Lohn von 1889 auf 1890 im Minimum
um 2, im Maximum um 30 Mark, während er in 12 der-
selben um mindestens 5 und höchstens 49 Mark fiel. In
einzelnen Mühlen haben die Gesellen keinen fixen Lohn,
sondern sind ausschliesslich auf das Trinkgeld der Kunden
angewiesen.
Dem kleingew er blichen, überwiegend zwerghaften und
zurückgebliebenen Charakter der Müllerei entspricht es,
dass Naturallöhnung in der Form von Wohnung und Kost
eine grosse Rolle spielt. Dass beides sehr häufig von der
denkbar erbärmlichsten Beschaffenheit ist, bedarf nach dem
Bisherigen keiner Versicherung. Insbesondere erwecken die
Angaben über die Enge und Ueberfüllung der Wohnräume,
den Schmutz und die Verwahrlosung das tiefste Mitleid für
das Loos jener unglücklichen Proletarier. Mit dieser
beispiellosen Arbeitsüberbürdung und Ausnutzung, den
Hungerlöhnen, der elenden Kost und der aller Beschreibung
8
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 1.
spottenden Wohnungsmisere verbindet sich häufig auch
noch eine brutale Behandlung, unter der neben den Ge-
sellen insbesondere die Lehrlinge, diese Aermsten der
Armen, furchtbar zu leiden haben.
Die moderne Arbeiterbewegung, in ihren allgemeinen
Zügen betrachtet, enthält neben allem Anderen ein Element
in sich, das ich zu ihren werthvollsten Bestandtheilen
rechne: sie wirkt durch die ungeheure sittliche Energie,
von der sie getragen ist, einem aus den Verhältnissen
unserer Zeit leicht entspringenden, verzweifelnden Pessimis-
mus entgegen. Sie lässt sicheres Vertrauen fassen zu dem
Fortschritte der geschichtlichen Entwicklung. Aber
nirgends kommt wohl ihr erhebender Charakter zu deut-
licherem Bewusstsein, als wenn man beobachtet, wie selbst
die niedrigststehenden Arbeiter, beispielsweise die
Arbeiter in den Mühlen, von dem Schwung dieser
Bewegung ergriffen werden und mehr und mehr in den
Kampf um eine glücklichere Gestaltung der gesell-
schaftlichen Verhältnisse eintreten. Die Müller besitzen
bereits eine gewerkschaftliche Organisation, sie haben
eine Zeitschrift, die ihren Interessen gewidmet ist, und
sie erheben bestimmte Forderungen zur Verbesserung
ihrer Lage. Was sie verlangen, ist von einer wahrhaft
rührenden Bescheidenheit, rührend besonders darum, weil
diese Wünsche zusammengehalten mit ihrer entsetzlichen
Lage einen erheblichen Fortschritt bedeuteten.
In der Hauptsache verlangen sie 12stündige Arbeits-
zeit, Sonntagsruhe, Abschaffung der Naturallöhnung oder
doch, wo das nicht angeht, eine reinliche Schlafstelle und
eine das Hungerniveau etwas übersteigende Kost, lnspek-
tion der Mühlen, Ausschluss der Nachtarbeit für die Lehr-
linge und V erbot einer die Zahl der Gesellen übersteigenden
Zahl von Lehrlingen.
Sollte man es für möglich halten, dass es Behörden
giebt, die solchen Bestrebungen hindernd in den Weg
treten? Und doch ist es geschehen!
So hat die Regierung des Königreichs Sachsen den
Mühlenarbeitern das Korporationsrecht verweigert. Wir
wollen hoffen, dass, nachdem die Käppler’sche Unter-
suchung Licht über die Zustände verbreitet hat, den
Mühlenarbeitern gegenüber fortan keine derartige Politik ein-
geschlagen werden wird. Es könnte auch kaum etwas das
öffentliche Vertrauen gefährlicher erschüttern, als wenn
angesichts der Konstatirung von Nothständen, wie die ge-
schilderten es sind, die herrschenden Gewalten unthätig
blieben. Eine amtliche Untersuchung der Lage der Mühlen-
arbeiter ist eine dringende Pflicht, und wenn nur ein
kleiner Theil der enthüllten Nothstände sich bewahrheiten
sollte — wir zweifeln nicht, dass eine öffentliche unparteiisch
geführte Enquete noch schlimmere Thatsachen als die
Käppler’sche Untersuchung ans Licht stellen würde, -
dann darf der Bundesrath auch nicht einen Moment zögern,
von der im § 120e der neuen Gewerbeordnung ihm ein-
geräumten Befugniss hinsichtlich der Festsetzung der Arbeits-
zeit in den Mühlen einen entsprechenden Gebrauch zu
machen.
Berlin. Heinrich Braun.
Zur Lage der Leipziger Buclibimlereiarbeiter. Der Fach-
verein der in Buchbindereien und verwandten Berufszweigen
beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen zu Leipzig hat im
Mai 1891 eine Erhebung veranstaltet, welche sich auf 55 Ge-
schäfte mit insgesanunt 1200 Arbeitern (darunter 1095 gelernte,
1075 dauernd beschäftigte) erstreckte: die Daten sind kürzlich
bekannt gegeben worden. Der durchschnittliche Stunden-
(Wochen-) Lohn betrug 19,82 Mk. ; auf Zeitlohn arbeiteten 453.
Die Zahl der in Stücklohn beschäftigten Arbeiter betrug 747,
ihr Wochenverdienst bezifferte sich im Durchschnitt auf 20,75 Mk.
Der Durchschnittslohn der (43) Arbeitsburschen war 6,75 Mk.,
der (61) Markthelfer 16,50 Mk. Von den 1087 Arbeiterinnen —
diese bilden aber den Hauptan theil der Hände — waren 358 in
Stundenlohn, der im Durchschnitt 8,75 Mk. die Woche aus-
machte und 729 mit einem Durchschnittwochenverdienst von
8,40 Mk. in Akkord beschättigt. Der Arbeitstag war im Durch-
schnitt ein 972 ständiger: Pausen Vormittags Mittags 1lA>,
Nachmittags '/4 Stunde. Ueberzeitarbeit gab es nur in 6 Ge-
schäften und zwar 6—15 Stunden in der Woche, Sonntagsarbeit
in 4 Geschäften. Extraentschädigung wird noch in 1 1 Geschäften
lernen und erhalten wöchentlich Kostgeld.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung*.
Der Buchdruckerstrike.
Mehr als irgend ein anderer Kampf um bessere Arbeits-
bedingungen hat der Buchdruckerstrike die öffentliche Mei-
nung aufgeregt. Nach dieser Richtung lässt sich der Aus-
stand der Buchdrucker nur mit der letzten grossen Arbeits-
einstellung im rheinisch - westfälischen Kohlenrevier ver-
gleichen. Eine ausgedehnte Arbeitseinstellung im Buch-
druckgewerbe, sowie in der Kohlenproduktion wird heute
von Jedermann verspürt, weil in einem Kulturstaate jeder
direkt oder indirekt Konsument der Erzeugnisse des Buch-
druckgewerbes und der Grubenwerke ist.
Das Interesse des Publikums erklärt sich auch daraus, dass
die Buchdrucker als die sozial höchste Schicht der Arbeiter-
klasse in gewisser Beziehung den gesellschaftlichen Ueber-
gang von der Arbeiterklasse zur Mittelklasse bilden. All-
gemeines Aufsehen erregte es, dass der Buchdruckeraus-
stand fast zur gleichen Stunde in ganz Deutschland aus-
brach und so einen grossen Kreis von Personen aktiv und
passiv in Mitleidenschaft zog. Die Arbeiterklasse sah —
und dies erklärt ihr durchgreifendes Interesse für die Buch-
druckerbewegung — in dieser nicht den Lohnkampf, sondern -
vor Allem einen Kampf um die Verkürzung der Arbeits-
zeit, eine erste wichtige Etappe in dem Kampfe um den
Achtstundentag.
Die Unternehmer auch in anderen Gewerben erblicken 1
in dem Ausbruche des Kampfes um den Neunstundentag
den Anfang allgemeiner planmässig begonnener, sämmtliche
Gewerbe berührender Kämpfe um kürzere Arbeitszeit über- ;
haupt, um den Achtstundentag insbesondere.
Dazu kommt, dass wir in einer sozialpolitisch hoch-
gradig erregten Zeit leben, dass Allen, auch den nicht direkt
Interessirten, noch die Reichstags- und Zeitungsdebatten
über Arbeiterschutz, Normalarbeitstag, Kontraktbruch in
frischer Erinnerung waren.
Zum Verständniss der Ursachen des Strikes ist es j
nöthig zu erinnern, dass die „Tarifgemeinschaft“ zwischen \
den Unternehmern und Arbeitern des Buchdruckgewerbes »
am 1. Januar 1892 ihr Ende erreicht hätte. Da aber die
ersten zwei Monate des Jahres eine „stille Saison“ bilden, '
so wären die Gehilfen, falls sie den Strike bis zum Ablaufe
der Tarifgemeinschaft vertagt hätten, unzweifelhaft in
schweren Nachtheil gekommen.
Das Ziel der jetzigen Bewegung war in erster Linie
die Herabsetzung der seit dem Jahre 1848 bestehenden zehn-
stündigen (in letzter Zeit 9:!/4 stündigen effektiven) Arbeits-
zeit auf 9 Stunden, in zweiter Linie die Erhöhung der Lohne
um 10%) wobei zu bemerken ist, dass diese Erhöhung wohl
für die Arbeitsstunde, aber nicht für den Wochenverdienst
bei Voraussetzung des Gleichbleibens der Produktivität der
Arbeit gilt, so dass von einer geforderten Lohnerhöhung in
gewissem Sinne nicht die Rede sein kann.
In der Tarif kommission für Deutschlands Buchdrucker,
welche am 6. — 8. Oktober 1891 in Leipzig tagte, um an
Stelle des am 1. Januar 1892 ablaufenden Tarifs einen neuen
zu schaffen, stellten die Gehilfenvertreter die oben ange-
führten Forderungen auf, konnten aber keine Einigung er-
zielen, obgleich beide Parteien sich zu einem gewissen Ent-
gegenkommen bereit zeigten. Die Prinzipalvertreter er-
klärten sich bereit, eine Lohnerhöhung bis zu 7y2n n auf die
Grundpositionen und das tarifmässige Lohnminimum zu be-
willigen, dasselbe aber nicht auf die das Minimum über-
schreitenden Löhne auszudehnen, und hinsichtlich der
Arbeitszeit und der Lokalzuschläge auf den Lohn es bei
den bisherigen Bestimmungen zu belassen. Die in der
Tarif kommission vertretenen Delegirten der Gehilfen er-
klärten sich bereit, die Forderung der neunstündigen Arbeits-
zeit auf 9l/2 Stunden zu reduziren, sich mit einer Erhöhung
der Grundpositionen um 5n/0 und mit der Erhöhung der
No. 1.
S O Z I ALP O L T TT S C H K S CENTRAT .BLATT.
9
Lokalzuschläge für die grösseren Städte zu begnügen. Ein
weiteres Entgegenkommen war nicht zu erzielen, der alte
Tarif wurde fernerhin als bindend bezeichnet und die Ver-
handlungen, ohne dass ein Resultat erzielt werden konnte,
geschlossen.
Der Strike brach aber trotzdem nicht sofort aus, die
Taktik der Gehülfen zielte dahin, die Prinzipale zu veran-
lassen, die aus Furcht vor der drohenden Arbeitseinstellung
zurückgestellten Arbeiten in Angriff zu nehmen, auch die
Eröffnung der parlamentarischen Körperschaften abzu-
warten, deren Vorlagen und Protokolle die Nachfrage nach
Arbeitskräften sowohl in der Werk- als in der Zeitungs-
druckerei steigert, die Pause aber zur Organisation und
Agitation vollauf auszunützen.
Zwei Wochen nach Abbruch der Leipziger Verhand-
lungen beschlossen in ganz Deutschland am gleichen Tage
(22. Oktober) abgehaltene Buchdruckerversammlungen, am
24. Oktober zu kündigen. Allerorts wurde die Kündigungs-
frist streng eingehalten. Die Stinkenden waren eifrig bemüht,
durch ihr Organ, den „Correspondent für Deutschlands Buch-
drucker und Schriftgiesser“, durch Flugblätter und Versamm-
lungen und durch die Arbeiterpresse die öffentliche Meinung
für sich zu gewinnen. Hauptsächlich betonten sie ihre For-
derung der Verkürzung der Arbeitszeit. Sie begründeten ihr
Verlangen mit den Berufskrankheiten der Arbeiter ihres Ge-
werbes und mit der grossen Zahl von Arbeitslosen, für
welche ihr Verband jährlich 150 000 Mark ausgiebt und
welchen sie durch die Verkürzung der Arbeitszeit Arbeits-
gelegenheit zu verschaffen hofften. Was den letzteren Grund
betrifft, so erscheint bei dem vorherrschenden Akkordarbeits-
systeme im Zeitungssatze und in vielen Werkdruckereien, bei
der Leichtigkeit der Kontrolle der Arbeitsleistung bei Zeit-
löhnung die Annahme gerechtfertigt, dass eine Verkürzung
der Arbeitszeit eine erhöhte Produktivität der Arbeit
herbeiführen wird, so dass eine erhöhte Nachfrage nach
Arbeitskräften auf die Dauer in grösserem Umfange nicht
zu gewärtigen ist, falls auch der Neunstundentag zur nor-
malen Arbeitszeit im Buchdruckergewerbe werden sollte.
Trotzdem ist die Reduktion der Arbeitszeit ein ge-
rechtfertigtes Begehren. Die Zahl der Arbeitslosen wäre
jedoch besser zu benützen gewesen, um eine andere wichtige
Forderung, die einer strengeren und eingreifenderen Rege-
lung des Lehrlingswesens, zu erheben.
Ebenso wie die Gehülfen suchten die Prinzipale die
öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, ihnen stand zu
diesem Zwecke die Presse aller Parteien, mit Ausnahme der
sozialdemokratischen, fast vollkommen zur Verfügung. Sie
rechneten eine gewaltige Erhöhung der Herstellungskosten
dem Publikum vor und behaupteten, dass es unmöglich
sei, den Betrieb fortzusetzen, falls die Strikenden siegen
sollten. Dabei vergassen sie ganz, dass die ihre Interessen
vertretende „Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker“ am
14. September 1889 geschrieben hatte: „Die Buchdrucker
brauchen nur zu wollen und sie können sich über die all-
gemeine wirthschaftliche Lage höher erheben, als dies
anderen Gewerben und Industrien möglich. Sie können
durch Zusammenhalt die Druckpreise günstiger gestalten
u. s. w.“
Die Prinzipale erklärten ferner, dass sie bei der Ver-
kürzung der Arbeitszeit ihre Maschinen nicht mehr gut
ausnutzen könnten. Sie unterdessen dabei in Berechnung
zu ziehen, dass die Verkürzung der Arbeitszeit grosse
effektive Ersparnisse an allgemeinen Geschäftsunkosten,
z. B. Licht und Heizung, mit sich bringt. Sie suchten die
Ausstandsbewegung mit der sozialdemokratischen Partei zu
verquicken, was dem Sachverhalte indessen durchaus
widerspricht.
Sie wiesen endlich auf die hohen Löhne in ihrem Ge-
werbe hin, indem sie unausgesetzt mit exzeptionell hohen
Löhnen Einzelner in grossen Zeitungsdruckereien operirten,
sie unterdessen es aber, auf die keineswegs hohen Durch-
schnittslöhne in diesem Gewerbe aufmerksam zu machen,
sie hatten nichts den in Zahn’s Abhandlung (Sehr. d. V. f.
Sozialpol. XLV, S. 468 ff.) veröffentlichten Budgets entgegen-
zusetzen, aus denen klar hervorgeht, dass selbst ein be-
scheidenes Arbeiterleben ohne Defizite nur durch Er-
öffnung anderer Einnahmequellen, wie z. B. Verdienst der
Frauen für die verheiratheten Buchdrucker in Deutschland
sich ermöglichen lässt. Endlich veranlasste die Prinzipale
die Grösse des Strikefonds (angeblich 1‘/4 Millionen Mark)
es jetzt, wo der Geschäftsgang unter dem normalen Stande
verblieben ist, auf die Arbeitseinstellung ankommen zu
lassen, da sie annahmen, dass eine Bewilligung der Ge-
hilfenforderungen ohne Strike nach kurzer Zeit neue
Forderungen, so die des Achtstundentages, gewärtigen
lässt, die nach weiterem Anwachsen der Tarifkassen noch
schwerer erfolgreich abgewiesen werden könnten. Gegen
15 000 Gehilfen hatten gekündigt, über 5000 wurden die
Forderungen nach Ablauf der Kündigung bewilligt, ca.
10 000 stehen jetzt über 7 Wochen im Ausstande. Genaue
Zahlen fehlen, weil keine der streitenden Parteien die-
selben veröffentlicht hat.
Wägen wir nun die dem Kampfe der Gehilfen gün-
stigen und ungünstigen Momente gegenseitig ab!
Das ungünstigste Moment ist die allgemeine Geschäfts-
lage, der jetzt nur geringe Verbrauch an Accidenzarbeiten,
die verhältnissmässig geringe Zahl der Zeitungsinserate,
die sehr grossen Lagervorräthe des Handels, welche durch
Novitäten nicht vergrössert, zur Weihnachtszeit gelichtet
werden konnten. Die Gehilfen hatten ferner die Zahl der
arbeitslosen Buchdrucker im deutschen Sprachgebiete unter-
schätzt.
Die Vortheile der Bewegung waren fast ausschliess-
lich solche, wie sie jedem Ausstande im Buchdrucker-
gewerbe zu Gute kommen. In der Accidenz- und Zeitungs-
druckerei, bei der Herstellung parlamentarischer Berichte
und Drucksachen, amtlicher Verlautbarungen, Plakate und
dergl. ist ein Arbeiten auf Vorrath, meist auch ein Auf-
schieben und Einschränken der Arbeiten ausgeschlossen.
Die Konkurrenz fremder Arbeiter ist geringer als in an-
deren Gewerben, da sie sich auf das Sprachgebiet be-
schränkt, hierzu kommt die finanzielle Stärke, Disziplin und
die treffliche gewerkschaftliche Schulung in dem ausge-
zeichnet organisirten LTnterstützungsverein deutscher Buch-
drucker und endlich die Popularität der Forderung des
Neunstundentages bei den industriellen Arbeitern Deutsch-
lands und des Auslandes.
Die Art des Kampfes lässt sich noch nicht ganz ob-
jektiv kritisiren. Die Prinzipale suchten die Staatsgewalt
gegen die Gehilfen zu beeinflussen, indem sie andeuteten,
dass die Gehilfen ihr Vereinsvermögen, das von dem
Strikefonds aufs strengste geschieden ist, in statuten-
widriger Weise für die Zwecke des Ausstandes verwenden
könnten, dass die nichtstrikenden Mitglieder des Llnter-
stützungsvereins zu befürchten hätten, wegen Nichtbetheili-
gung an dem Ausstande aus der Organisation ausge-
schlossen zu werden und so erworbener Rechte verlustig
zu gehen.
Es gelang den Prinzipalen, verhältnissmässig viele
Gehilfen aus der Schweiz und insbesondere aus Oesterreich
zu werben und Personen aus anderen Berufen, die früher
das Setzerhandwerk getrieben hatten, ihrem alten Berufe
wieder zuzuführen. Auf die wankelmüthigen Prinzipale
wurde ein Druck ausgeübt, der sie veranlasste, sich zu
hohen Konventionalstrafen durch Sichtwechsel zu verpflich-
ten. Die von Geheimrath Böhmert-Dresden und Magistrats-
assessor Freund-Berlin in die Hand genommenen Einigungs-
versuche wurden nicht nur zurückgewiesen, sondern ohne
Grund den an ihnen ganz unbethedigten Gehilten als Ein-
geständniss, dass ihre Sache verloren sei, ausgelegt. Die
Prinzipale sowie die Gehilfen vertraten während des ganzen
Ausstandes den Standpunkt, dass eine Einigung nicht in
einzelnen Orten oder Bezirken, sondern nur für ganz
Deutschland erzielt, dass sie in der Tarif kommission zu
Leipzig beschlossen werden müsse.
Die Strikenden hielten sich von jedem Kontraktbruche
fern, sie waren bemüht, auf gesetzlichem Boden zu ver-
bleiben, sodass Bestrafungen wegen Verrufserklärungen
verhältnissmässig wenig vorkamen. Durch ausgiebige Unter-
stützung (14 Mark pro Woche seitens der Centraltarifkasse
und Zuschüsse seitens der Gau- und örtlichen Tarif kassen)
sowie durch genaue Kontrolle der Strikenden (tägliche
Appelle) hielten sie die Ausständigen zusammen, die aus
dem Auslande eingetroffenen Strikebrecher suchte man zum
Theil mit Erfolg unter Aufwand nicht geringer Kosten zur
Abreise zu veranlassen, für Ergänzung der Geldmittel wurde
durch Berufung an die Solidarität der deutschen und aus-
ländischen Arbeiter gesorgt.
Was die Stellung der öffentlichen Gewalten anlangt,
so wurden in Dresden und München einzelne Prinzipale
materiell, ihre Sache überhaupt moralisch gefördert, indem
aktive Soldaten zum Ersätze strikender Buchdrucker kom-
mandirt wurden. Dass es sich hierbei um amtliche Arbeiten
handelte, kann deshalb nicht in Betracht kommen, weil in
Berlin die Druckereien, welche die^entsprechenden Arbeiten
für das Reich ausführen, die Forderungen der Gehilfen be-
10
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBI .ATT.
Xo. 1.
willigten, und weil es z. B. in München nachgewiesener-
maassen ausserordentlich leicht gewesen wäre, die amtlichen
Drucksachen für den Landtag, um die es sich handelte, von
anderen Druckereien im Orte ausführen zu lassen. Anzutühren
sind des Weiteren die Sequestration der Invalidenkasse in
Stuttgart und die neue Maassregel der preussischen Regierung
gegen den Unterstützungsverband, ein Beweis, dass die
Nachgibigkeit des Verbandes gegen die im Jahre 1887 von
der Regierung ihm aufgedrängte behördliche Aufsicht ohne
allen Nutzen für ihn geblieben ist. Durch seine Unterstellung
unter das Berh'ner Polizeipräsidium gab er zu, dass er
eventuell nicht als Gewerkschaft im Sinne des § 152 der
G.-O., sondern als eine der behördlichen Kontrolle unter-
stehende Versicherungskasse behandelt werde. \ ielleicht
lenkt die jetzt gewonnene Erfahrung die Gewerkvereins-
politik in andere Bahnen.
Trotz der starken Beeinflussung durch die gesummte
Presse, natürlich abgesehen von der sozialdemokratischen,
.scheint die öffentliche Meinung dem Kampfe gegenüber
Neutralität beobachtet zu haben.
Was die Arbeiter anlangt, so haben sie sich für that-
kräftige finanzielle Unterstützung der Ausständigen ent-
schieden, aber nicht unterlassen, öffentlich ihr Bedauern
darüber auszudrücken, dass die Buchdrucker sich von der
politischen Arbeiterbewegung fast ganz fernhalten und sich
lediglich dem Ausbau ihrer Gewerkschaft widmen.
Wir würden es für verfehlt halten, über die Aussichten
dieser grossen Arbeitseinstellung uns im gegenwärtigen
Moment ein Urtheil zu erlauben, dagegen kann man über
die Folgen derselben sich schon jetzt eine Ansicht bilden.
Gehen die Gehilfen als »Sieger aus dem Kampfe hervor, so
wird es der ganzen Autorität und Disziplin der Gewerk-
schaften bedürfen, um andere Arbeiterkategorien vom Ein-
treten in Lohnkämpfe in der jetzt hiezu überaus ungünstigen
Zeit zurückzuhalten.
Haben die Gehilfen eine Niederlage zu verzeichnen,
so wird der Stolz auf ihre gewerkschaftliche Organisation
gebrochen werden, und die Lieberzeugung, dass die Ver-
kürzung der Arbeitszeit auf gesetzgeberischem Gebiete
durchzusetzen ist, immer mehr Boden gewinnen; die Buch-
drucker werden der Sozialdemokratie sich anschliessen.
Das Fortbestehen der Tarifgemeinschaft, in der die
Gehilfen jetzt fast nur einen Vortheil für die Prinzipale
und eine Fessel für die Aktionsfreiheit im Kampfe um
bessere Arbeitsbedingungen sehen, ist, wie auch der Kampf
ausgehen mag, in Frage gestellt.
Wird der Strike nachhaltig auf die Aenderung des
Produktionsprozesses wirken? Man muss sich hier vor
einer Ueberschätzung hüten. Die Erzeugung der Druck-
maschinen ist allem Anscheine nach zu einem vorläufigen
Abschlüsse gelangt. Die allgemeine Anwendbarkeit der
Setzmaschinen ist vorerst noch ein technisches Problem.
Die vermehrte Anwendung der Frauenarbeit in der Setzerei
ist wegen des allzustarken Widerstandes der Gehilfen bis
auf Weiteres auf die Dauer kaum zu befürchten.
Wichtiger als all dies erscheint uns aber der Umstand,
dass der lange Strike viele kleine Druckereien schwer
schädigen und die Aufsaugung des Kleinbetriebes durch
den Grossbetrieb stark fördern wird. So leicht sich derartige
allgemeine Schlüsse ziehen lassen , so schwer ist es, den
Ausgang des Kampfes abzusehen.
München, 30. Dezember 1891. Adolf Braun.
Der Stand der deutschen Gewerkschaftsbewegung.
Durch das im Jahre 1878 erlassene Sozialistengesetz
wurde die deutsche Gewerkschaftsbewegung in ihrer Ent-
wickelung jäh unterbrochen; die meisten der damals
existirenden Gewerkschaften verfielen der polizeilichen Auf-
lösung, die anderen lösten sich, um diesem Schicksale zu
entgehen, selbst auf. Nur wenige Gewerkschaften die
Hirsch-Dunker’schen Gewerkvereine scheiden wir aus un-
serer heutigen Betrachtung aus — retteten sich in die
Periode des Sozialistengesetzes herüber und überdauerten
dasselbe. Es sind dies unseres Wissens die Zentralver-
bände der Buchdrucker, Tabakarbeiter, Hutmacher und
Handschuhmacher.
Die deutsche Gewerkschaftsbewegung, so wie sie
gegenwärtig^besteht, ist also zum grössten Theile unter der
Herrschaft des Sozialistengesetzes allmählich wieder, oder
nach Ablauf desselben neu entstanden. Sie befindet sich
daher noch im Stadium des Werdens und der Fortent-
wickelung, stets abhängig von den wirthschaftlichen
Verhältnissen. In dieser Beziehung ist auf Grund der ge-
machten Erfahrungen der Schluss gerechtfertigt, dass die
Gewerkschaften in ihrer Mitgliederzahl unter ungünstigen
ökonomischen Verhältnissen zum mindesten stagniren,
während sie sich bei günstiger Wirthschaftslage ausbreiten,
an Mitgliederzahl mitunter sogar rapid zu nehmen.
Wir wollen nun in Kürze betrachten, welcher Art die
deutsche Gewerkschaftsbewegung ist. Ueber die Organi-
sationsform haben in den letzten Jahren heftige Meinungs-
Streitigkeiten stattgefunden. Die Frage, ob Lokal- oder
Zentralorganisation wurde leidenschaftlich erörtert. Gegen-
wärtig ist die Frage nun fast allgemein zu Gunsten der
letzteren entschieden; nur wenige Gewerkschaften oder
Theile solcher sind es, welche die lokale Organisation noch
vertheidigen.
Eine weitere Streitfrage über die Organisationsform
besteht darin, ob es zweckmässiger sei, für einzelne Berufe
oder für grössere Industriegruppen, welche mehrere Berufe
umfassen, Zentralverbände zu schaffen. Von den Verfechtern
der ersteren wird als Hauptargument angeführt, dass sich
die indifferenten Arbeiter leichter einer Organisation ihres
Berufes anschliessen als einer solchen, in welcher mehrere Be-
rufe Platz finden. Die Verfechter der anderen Richtung
wenden dagegen ein, die Arbeiter müssten sich gleich den
Lhiternehmern, für welche es keine Berufsunterschiede gebe,
wenn es sich um ein Vorgehen gegen die Arbeiter handle,
organisiren. Man kann zugeben, dass beide Formen der
Zentralverbände ihre Berechtigung haben, wenn auch aus
anderen Gründen als den angeführten. Eine Organisations-
form, welche sich für die Arbeiter der Grossindustrie als
vortheilhaft erweist, kann sehr wohl für die Arbeiter der
handwerksmässigen Betriebe von Nachtheil sein.
Zur Zeit bestehen in Deutschland 61 zentralisirte Ge-
werkschaften, darunter 2 für Arbeiterinnen, die in örtliche
Verwaltungsstellen (Filialen) gegliedert sind. Der Geltungs-
bereich dieser Verbände erstreckt sich mit wenigen Aus- :
nahmen auf das ganze Reich. Ueber ihre gegenwärtige
Stärke kann Bestimmtes nicht gesagt werden; es müssen J
deshalb ältere Ziffern herangezogen werden, um ein unge- ,
fähres Bild geben zu können. Nach einer Ende 1890 durch
die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands <
aufgenommenen .Statistik bestanden damals 53 Zentralver-
bände mit 3150 örtlichen Verwaltungsstellen und 227 733
Mitgliedern. Die einzelnen Organisationen zählten Mit-
glieder: Bäcker 983, Barbiere (Gehilfen)?, Barbiere (selbst-
ständig) 240, Bergleute (Westf.) 58 000, Bergleute (Sachsen) .
7040, Bergleute (Schlesien)?, Bildhauer 3169, Böttcher 4600, j
Buchbinder 3000, Buchdrucker 17 500, Bürstenmacher 1000, '
Dachdecker 571, Drechsler 2700, Fabrik- und Hilfsarbeiter
3000, Fabrikarbeiterinnen 300, Formstecher 464, Gärtner 700,
Lohgerber 1500, Weissgerber 1700, Glaser 1440, Glasarbeiter
945, Glacehandschuhmacher 2100, Goldarbeiter 1840, Hafen-
arbeiter 6000, Holzarbeiter 800, Hutmacher 3000, Korb- ;
macher 1360, Kürschner 1100, Kupferschmiede 2345, Maler
8126, Maler (Bayern) 500, Mechaniker 670, Müller 2980,
Plätterinnen?, Sattler 1791, Schiffszimmerer 1022, Schlosser
1200, Schmiede 3000, Schneider 9500, Schuhmacher 13 000,
Seiler 281, Steinmetzen 4000, Steinsetzer 2095, Stellmacher
601, Tabakarbeiter 16000, Tapezierer 1900, Tischler 17 600,
Vergolder 1 1 70, Werftarbeiter 1 800, Ziegler 900, Zigarren-
sortirer 700, Zimmerer 11000, Zimmerer (Süddeutsch-
land) 500. — Neben diesen Zentralverbänden existirten
damals noch 712 lokale Vereine, und zwar der Bauarbeiter
mit 2000, Metallarbeiter mit 33 214, der Maurer mit 33 447,
der Töpfer mit 4806, der Stuckateure mit einer mir
augenblicklich unbekannten Zahl von Mitgliedern. Im
Laufe des Jahres 1890 haben sich noch zentralisirt die Bau-
arbeiter, Konditoren, Lithographen, Maurer, Metallarbeiter,
Porzellanmaler, Posamentiere und Textilarbeiter. — Dass
seit Aufstellung der obigen Statistik ziemliche Verände-
rungen in den Mitgliederzahlen der einzelnen Gewerk-
schaften stattgefunden haben, ist gewiss, und wird dies die
nächste Aufstellung, welche seitens der genannten General-
kommission bis Mitte März d. J. veröffentlicht werden wird,
ausser Zweifel stellen.
Alles in Allem genommen sind die deutschen Gewerk-
schaften trotz ihres verhältnissmässig noch jugendlichen
Alters, und wenn wir auch von ihren bereits durchge-
fochtenen Kämpfen mit den Unternehmern absehen, schon
No. 1.
S< )/IAl ,l>( )i,ITIS( ;i IKS ( ’liNTRAI .Hl .ATT.
11
ihrer Mitgliederzahl nach ein bedeutender Faktor im öffent-
lichen Leben.
Allen diesen ( Gewerkschaften ist gemeinsam das Streben
nach günstigeren Lohn- und Arbeitsbedingungen; dieser
Programmsatz ist bei ihnen kein dekoratives Beiwerk, wie
bei den Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereinen, sondern
F u n d a m e n t a 1 p r i n z i i ).
Als weitere Zwecke sind zu nennen: Gewährung von
Reisegeld an die auf der Wanderschaft sich befindenden
Mitglieder, Unterstützung in besonderen Nothfällen, Pflege
der Berulsstatistik, Gewährung von Rechtsschutz, Einrich-
tung zweckentsprechender Herbergen und Arbeitsnach-
weise, Pflege der Bildung der Mitglieder. Mehrere Ge-
werkschaften gewähren auch Unterstützung an arbeitslose
Mitglieder in der Höhe von I Mk. per Tag.
Nur wenige Gewerkschaften sind es, welche auch
Einrichtungen für den Fall der Krankheit besitzen. In
dieser Beziehung hat zunächst das Sozialistengesetz be-
stimmend für die Verfassung der Gewerkschaften gewirkt.
Tor 1878 waren mit den Gewerkschaften auch Kranken-
kassen verbunden, und der Beitritt in diese in den meisten
Gewerkschaften abhängig von der Mitgliedschaft in letzteren.
Als die Auflösung der Gewerkschaften erfolgt war, organi-
sirte man alsbald die Krankenkassen auf Grund des Hilfs-
kassengesetzes als Körperschaften für sich.
Schliesslich sei noch darauf hingewiesen, dass die
deutschen Gewerkschaften als ein vorzügliches Mittel zur
Erreichung und Förderung ihrer Zwecke die Pflege der
Gewerkschaftspresse betrachten, was in den vorhandenen
55 Organen dieser Art, wovon die Mehrzahl von sämmt-
lichen Mitgliedern der betr. Gewerkschaft gelesen wird,
den beredtesten Ausdruck findet.
Nürnberg. J. Seherin.
Der deutsche Gewerkschaftskongress. Die General-
kommission der Gewerkschaften hat für den 14. März 1892
nach Halberstadt einen allgemeinen deutschen Gewerk-
schaftskongress einberufen. Als Tagesordnung ist vorge-
sehen: 1. Erled'gung der geschäftlichen Angelegenheiten
: (Wahl der Kommissionen, Prüfung der Mandate etc.), 2. Be-
richt über die Thätigkeit der Generalkommission, 3. die
Organisationsfrage (Organisationsentwurf). Der Kongress
dürfte 4- 5 Tage in Anspruch nehmen. Der 16. März ist
zur Abhaltung der Spezialkongresse der Vertreter der ein-
zelnen Industriegruppen vorgesehen. Das eigentliche Pro-
gramm dieses Kongresses besteht in der Zusammenfassung
der bisher selbstständig operirenden einzelnen Organi-
sationen zu einem einheitlichen solidarischen Ganzen. Es
kann keinem Zweifel unterliegen, dass auf diesem Weg eine
| ausserordentliche Stärkung der gewerkschaftlichen Organi-
sationen sich ergeben und eine unvergleichlich grössere
Beeinflussung der Verhältnisse des Arbeitsmarktes als bis-
her daraus entspringen würde.
| \\ ir begleiten diese Bestrebungen mit unseren warmen
Sympathien und wünschen ihnen vollen Erfolg.
Der Gewerkverein (1er englischen Dockarbeiter. Vor
wenigen Monaten hat die Dock, Wharf, Riverside and
| General Labourers’ Union of Great Britain and Ireland ihren
[ ersten Jahresbericht an ihre Mitglieder vertheilt. Das inter-
essante Dokument legt ein klares Zeugniss ab für die rast-
lose Thätigkeit dieses Gewerkvereins der Ungelernten.
Nach dem Dockstrike von 1 889 begann die zweite kritische
Periode seines Bestandes; er war zuerst im Jahre 1872 auf-
getaucht, aber nach acht Monaten von der 'Bildfläche ver-
schwunden. Die folgenden Angaben illustriren die Schwie-
rigkeiten, mit welchen die Organisation des Residuums der
städtischen ungelernten Arbeiterschaft zu kämpfen hat.
Der Report enthält I. den Bericht des Generalsekretärs
Ben 1 fllet , II. die Rechnungsabschlüsse der Distrikte,
III. eine Statistik der seit August 1889 errungenen Vortheile
m jedem Distrikte, mit besonderer Angabe: 1. jeder Firma,
der Gattung der Arbeit. 3, der Zahl der betroffenen Ar-
beiter, 4. der Entlohnung vor der Bildung des Gewerkver-
emes, 5. der derzeitigen Lohnhöhe, 6. der Länge der
Arbeitszeit vor, und 7. nach der Entstehung des Gewerk-
\ erems, 8. des Vorhandenseins des Middleman vor- und
nachher, 9. anderer errungener Vortheile, 10. der zu diesem
Zwecke gewählten Mittel, 11. der Ursachen des Strikes,
12. der Dauer der Ausstände, 13. des Lohn Verlustes und
14. des Lohngewinnes. Die Lage der Dockarbeiter in London
gelangt zur gesonderten Darstellung, mit genauer Angabe
des Arbeitslohnes und der Arbeitszeit in jedem Dock. Die
bei dem Kongress im September 1890 gehaltene Ansprache
des Präsidenten, ferner die Beschlüsse des vorletzten Ge-
werkvereinskongresses und eine Reihe statistischer Tabellen
über den Fortschritt der britischen Schifffahrt, Pauperismus,
Bevölkerungszuwachs etc. bildet den Beschluss dieses
159 Seiten starken Bandes. Wir heben vorläufig im Nach-
stehenden nur folgende wichtige Daten hervor:
im Jahre 1890 betrug die Höhe der Strikegelder im
ganzen Lstr. 14 549 7 s. 8 d. ; ein Defizit von Lstr. 4695
8 s. 6 d. ist die Folge gewesen. Die Ausgaben für andere
Zwecke betrugen 38 % der Gesammtausgaben. Damit ist
das Jahr als ein Jahr des Kampfes charakterisirt, so sehr
die Friedensliebe des Gewerkvereins und seine Anerken-
nung für höfliches Entgegenkommen seitens der Dock-
beamten hervorgehoben werden muss. Dem Unterstützungs-
tonds wurden Lstr. 1334 7 s. 8 d. entnommen. Schliesst
man die Strikegelder aus, so betrugen die Ausgaben 55 7„
der Einnahmen im ersten Halbjahre (bis 30. Juni) und
65'/:!% im zweiten Halbjahre, also beiläufig 60n/„ ‘im ganzen
Jahre.
Die U ebersicht der seit August 1889 errungenen Vor-
theile zeigt folgende Gesammtergebnis.se: 34 236 Personen
haben diese Vortheile errungen durch Strike; 21 190 Per-
sonen ohne Strike; der Gesammtverlust an Löhnen betrug
Lstr. 104 918 15 s. 7 d.; per Kopf: Lstr. 3 1 s. 3'/., d.; der
gesammte wöchentliche durch Strikes herbeigeführte Ge-
winn betrug Lstr. 8704 9 d. oder 5 s. I d. per Kopf; der
wöchentliche Gewinn, der ohne Strike gesichert wurde, be-
trug Lstr. 5284 13 s. 1 '/? d. oder 4 s. 11% d. per Kopf. Es
muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass manche
Distriktsbeamten es verabsäumten, vollständige Angaben zu
dieser Statistik zu liefern In London selbst hat der Strike
in Hays Wharf den Zweigverein des betreffenden Distrikts
in Schulden gestürzt; im Ganzen hat daselbst jedes derbei-
läufig 24 500 Mitglieder eine Lohnaufbesserung von 5 s. für
30 bis 35 Jahreswochen errungen, der Lohnbetrag für London
ist also um etwa Lstr. 6125 per Woche gesteigert worden.
Die Kosten betrugen allerdings einen Lohnverlust, der auf
Lstr. 90 000 veranschlagt wird.
Andere Vortheile bestanden in: der Abschaffung der
Knabenarbeit, Verbilligung der Eisenbahnfahrpreise, Affi-
liation mit Gewerkyeremsräthen, Wahl von Mitgliedern der-
selben in den Stadtrath, Gründung von Konsumvereinen,
1 heilnahme an Einigungsämtern ( Hüll), und Beseitigung
von gegen 1700 Sweaters. Man kann nach diesen Angaben
nicht nur dem nächsten Berichte mit grossem Interesse
entgegensehen, sondern auch den Wunsch nicht unter-
drücken, dass anderwärts die „gelernten“ Arbeiter über
ihre Lage so trefflich Buch führen mögen, wie es von Seite
des „Ungelernten“ in England geschehen ist.
Die fiskalischen Grubenarbeiterausschüsse im Saar-
kohlenrevier haben eine erneute Eingabe an den preussischen
Handelsminister beschlossen, welche auf den sogenannten Völk-
linger Beschlüssen vom 4. Mai 1890 beruhen Damals forderten
die Bergleute: achtstündige Schicht einschliesslich Ei n- und
Ausfahrt, 4,50 Mk Mindestlohn im Akkord und 3,50 Mindest-
Taglohn, Lohnaufbesserung des Maschinenpersonals, Wieder-
anlegen der Abgelegten. Neugestaltung des Knappschaftswesens.
Eine Organisation der an Pferdebahn-Betrieben beschäf-
tigten Arbeiter wird von Hamburg aus angeregt. Dort besteht
seit dem 3. November 1891 ein Verein aller in Pferdebahn-Be-
trieben beschäftigten Arbeiter. In dem Aufruf heisst es: „Auf
dem internationalen Kongress der Pferdebahn-Gesellschaften,
welcher am 19 Juli 1891 in Hamburg tagte, wurde die Frage
aufgestellt: „Wie schützen wir uns vor der Ausbeutung seitens
unserer Untergebenen ?“ Nachdem man auf diesem Kongress
eine internationale Ruthe für uns gebunden, ist es unsere
heiligste Pflicht, für unsere Interessen einzutreten, und das
kann nur im Wege der Organisation geschehen“. Von welcher
Bedeutung die gewerkschaftliche Vereinigung für diese „weissen
Sklaven“, wie ein katholischer Sozialpolitiker sie genannt hat,
lehrt die Geschichte des grossen Wiener Tramway-Strikes 1889.
Ein C harakteristikum der im Verkehrsgewerbe beschäftigten
Arbeiter ist die überlange Arbeitszeit. Hiergegen Front zu
machen ist die nächstliegende Aufgabe.
12
SOZIALPOLITISCHES CENTR ALRL ATT.
No. 1.
Politische Arbeiterbewegung.
Die deutsche Sozialdemokratie im Jahre 1891.
War für die deutsche Sozialdemokratie das Jahr 1890
eine Epoche bedeutungsvoller äusserer Erfolge, wir re-
innern nur an die allgemeinen Wahlen zum deutschen
Reichstage und an die Aufhebung des Sozialistengesetzes,
so scheint für diese Partei das abgelaufene Jahr eine Zeit
innerer Festigung gewesen zu sein.
Zu Beginn des Jahres war die vom Halleschen Ivon-
o-resse den Parteimitgliedern gestellte Aufgabe, auf Grund
des dort beschlossenen Organisationsstatuts V ertrauens-
männer zu wählen, für die meisten Wahlkreise ausgeführt.
Von den wichtigen Anregungen des Halleschen Partei-
tages sind noch zu erwähnen die Wünsche nach Gründung
von Blättern zur Verbreitung der sozialdemokratischen
Prinzipien unter den polnisch sprechenden, elsass-lothringi-
schen und den ländlichen Arbeitern, das Eintreten für die
Abschaffung der Gesindeordnungen und der Verwendung
von Parteimitteln für ein arbeitsstatistisches Bureau.
Ein täglich in Mühlhausen i. E. erscheinendes Blatt
für Elsass-Lothringen, ein in polnischer Sprache in Berlin
erscheinendes Wochenblatt wurden mit Unterstützung der
Parteikasse gegründet, ein Blatt für die ländlichen Arbeiter
existirt zwar noch nicht, doch wird die Lage der ländlichen
Arbeiter jetzt weit mehr als früher von fast sämmtlichen
sozialdemokratischen Organen behandelt. Einzelne Organe
dienen sogar in der Hauptsache dieser Aufgabe, so z. B. der
„Proletarier aus dem Eulengebirge“ und der eben gegründete
’’ Bayerische Bürger- und Bauernfreund“, ferner erscheinen
eine Reihe von Brochuren und Flugblättern, welche sich
mit der Lage der ländlichen Arbeiter und der Bekehrung
derselben zur Sozialdemokratie befassen; die Herausgabe
einer Reihe anderer von langer Hand geplanter Brochuren
soll bevorstehen. Mit einem Anträge, der die Abschaffung
aller Gesindeordnungen fordert, hat sich die sozialdemo-
kratische Fraktion des deutschen Reichstages befasst. Der
Anregung, ein arbeilsstatistisches Bureau zu gründen, wurde
bis jetzt 'nicht Rechnung getragen. Dieselbe wurde in einen
sehr beifällig aufgenommenen Anträge auf dem Parteitage
zu Erfurt wiederholt.
Die Parteikasse wurde auch im verflossenen Jahre von
den deutschen Sozialdemokraten sehr reichlich bedacht.
Der Kassenbericht weist für die Zeit vom I. Oktober 1890
bis 30. September 1891 eine Einnahme von 223 866,60 Mk.
nach, wovon 168 845 Mk. durch freiwillige Parteibeiträge
aufgebracht wurden. Die Ausgaben betrugen 134 949,85 Mk.,
von denen auf Auslagen für die Agitation im weiteren
Sinne 55 633,15 Mk., auf Unterstützungen, Prozesskosten
und Aehnliches 16 726,75 Mk., auf Zuschüsse für die Gründung
des polnischen und elsass-lothr ingischen Blattes 19 379,05 Mk.
kamen, für Kapitalsanlage wurden 94 080,95 Mk. verwandt.
An Strafen wurden gegen Sozialdemokraten in der
Zeit vom 1. November 1890 bis Ende September 1891 ver-
hängt 87 Jahre 6 Monate 28 Tage und 18 262,30 Mk. Geld-
bussen.
Die Zahl der täglich erscheinenden Blätter der Partei
stieg in dieser Zeitspanne von 19 auf 27, die der politischen
Organe überhaupt von 60 auf 69, die der gewerkschaftlichen
Organe von 42 auf 55, seit I. Oktober ist noch ein halbes
Dutzend neuer Blätter gegründet worden. Bei der Gering-
fügigkeit der zur Verfügung stehenden Mittel konnte das
Niveau der sozialdemokratischen Presse sich nicht so
rasch heben, wie es von den fortgeschrittenen Elementen
gewünscht wird.
Neue Brochuren erschienen nicht viele, die Haupt-
verbreitung finden die Neuauflagen der alten Agitations-
schriften. Ueber die Brochurenlitteratur fehlen fast alle
Anhaltspunkte, sicher ist nur, dass die Schriften in sonst für
deutsche Verhältnisse nicht üblichen hohen Auflagen herge-
stellt werden.
Die Maifeier wurde am 3. Mai in den meisten Städten
Deutschlands in grossartigem Umfange begangen, die Ver-
suche partei-oppositioneller Elemente, mit einer Feier am
ersten Mai zu demonstriren, waren bedeutungslos.
In zahlreich besuchten, in fast allen Städten und
industriellen Bezirken Deutschlands abgehaltenen Versamm-
lungen wurde die Abschaffung bezw. Suspendirung der
Kornzölle gefordert.
An den Wahlen zu den parlamentarischen Vertretungs-
körpern betheiligten sich auch im verflossenen Jahre die
Sozialdemokraten auf's eitrigste. Ueberraschende Erfolge
erzielten sie bei vielen Gemeinderathswahlen und insbesondere
bei den Landtagswahlen im Grossherzogthum Baden, wo
zum ersten Male 2 Sozialdemokraten gewählt wurden, und
im Königreich Sachsen, wo die Zahl der sozialistischen
Stimmen sich weit mehr als verdoppelt hat. bei den
Nachwahlen zum Reichstage zeigt sich zwar ein kleiner
Rückgang gegen die Hauptwahlen vom Jahre 1890, er ist
aber geringer (8,3 (,/0), wie der der anderen grossen Parteien
(N.-L. 13,4, W'elfen 14,4, Centr. 15,3, D-Freis. 15,3, Polen 17,3,
Kons, und Reichsp. 18,8, Dem. 24,7 u/n*)-
Die internationalen Beziehungen wurden von der
Partei in der üblichen W eise gepflegt, der Kongress zu
Brüssel wurde stark beschickt, auf demselben spielte die
deutsche Sozialdemokratie die einflussreichste Rolle. Der
dort gegebenen Anregung, ein Arbeitersekretariat zu
crründen,& scheint die Parteileitung nicht nachkommen zu
wollen, sie lässt wohl vom Parteivorstande die nothwendigen
Arbeiten des Arbeitersekretariats ausführen.
Von zwei Seiten schien der deutschen sozialdemokra-
tischen Partei die Gefahr einer Spaltung zu drohen, von
Seiten Vollmar’s, der die Nothwendigkeit einer mehr possi-
bilistischen Taktik, von Seiten der sogenannten „Jungen“
rlip pinp im Wortsinne revolutionäre laktik
forderten.
Der Erfurter recht stark besuchte Kongress der 1 artei
hat die Anerkennung der bisher geübten Taktik seitens
Vollmar’s und das Ausscheiden der „Jungen“, welche sich als
Partei der „unabhängigen Sozialisten“ konstituirten, zur folge.
Diese Fraktion dürfte, soweit sich dies bis jetzt übersehen
lässt, der Partei, ihrer Stärke, Disziplin und Einigkeit kaum
irgendwie gefährlich werden. _
Ausser den Berathungen über die 1 aktik ist die Schat-
fung des neuen Parteiprogrammes die wichtigste That des
Erfurter Parteitages. Dasselbe wurde nach vielfacher und
eingehender, oft tiefer Diskussion in der Parteipresse, nach
vielfacher Besprechung in hunderten von Versammlungen
und nach Vorberathung in einer Kommission vom Parteitage
zu Erfurt ohne Debatte angenommen. Es bedeutet nach
prinzipieller und wissenschaftlicher Hinsicht einen grossen
Fortschritt gegenüber dem seit 1875 in Kraft gewesenen
Gothaer Programme.
Die Parteibeiträge, der Besuch der Versammlungen,
die Betheiligung an den Wahlen können wegen der sich
immer ungünstiger gestaltenden Geschäftslage schwächer
werden als in den letzten zwei Jahren. Die Gegner der
Sozialdemokratie thäten Unrecht, aus solchen Aeusserlich-
keiten Schlüsse auf den Rückgang der Sozialdemokratie zu
ziehen, denn das Wachsthum dieser Partei wird trotz diesei
äusserlichen Rückgänge gerade durch den schlechten Oe-
schäftsgang nur befördert werden.
i
\
1
!
Die Aufhebung des Koalitionsverbotes für die ländlichen
Arbeiter, sowie all der Bestimmungen ^ in Landesgesetzen,
Provinzialgesetzen, Statuten u. s. w. (Gesinde- Ordnungen),
welche die ländlichen Arbeiter dem Züchtigungsrecht der
Herrschaften unterwerfen und sie des Rechtes, wegen Ehr-
verletzung zu klagen, berauben, wird von der sozialdemokrati-
schen Reichstagsfraktion demnächst beantragt werden. Die
Gleichstellung des Gesindes und der ländlichen Tagelöhner mit
den crewerblichen Arbeitern muss in absehbarer Zeit sich voll-
ziehen. Es wäre ein verdienstliches Unternehmen, die gegen-
wärtig bestehenden Rechtsverhältnisse der deutschen Lanct-
arbeifer und Dienstboten übersichtlich und mit geschichtlicher
Einleitung darzustellen.
Die sozialdemokratische Partei der Schweiz hat durch
Beschluss ihres letzten in Olten abgehaltenen Kongresses Basel
als Sitz der Centralleitung bestimmt. Vorsitzender derselben
ist der Basler Grossrath und Redakteur des „Arbeitertreund
E. Wullschleger. Auf den 10. Januar hat das Parteikomitee
in Gemeinschaft mit dem Bundeskomitee des schweizerischen
Gewerkschaftsbundes und dem Centralkomitee des schweize-
rischen Griitlivereins eine Konferenz nach Zürich einberulen,
welche die für die Ausführung der Beschlüsse des internatio-
nalen Sozialistenkongresses von 1890 nöthigen Massnahmen,
namentlich betr. die" Anordnung des nächsten internationalen
Arbeiterkong-resses, beschliessen soll.
*) Die Zahlen beziehen sich auf die in der Zeit vom
20. Februar 1890 bis Mitte August 1891 vorgenommenen Nach-
wahlen.
No. 1.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
13
Die galizisch-jiidischen Arbeiter mul der Sozialismus.
Die sozialistische Bewegung in den galizischen Städten hat in
den letzten Jahren einen unvermutheten Aufschwung genommen :
in Lemberg macht der sozialistische Arbeiterverein Sila (Die
Kraft), der über 1000 Mitglieder zählt, den katholischen und
jüdischen Arbeitervereinen so erfolgreich Konkurrenz, dass
diese bald nur noch ein Scheindasein fristen dürften. Auffallend
ist, dass der Sozialismus im jüdischen, jeder revolutionären
Neigung und Tradition baaren Proletariate rasche Fortschritte
macht. Der Verein Sila zählt über 200 jüdische Mitglieder, für
welche eigene Diskussionsabende eingeführt sind. Aehnlich
wie in London und New- York wird demnächst auch in Lemberg
ein speziell für die national-jüdischen Proletarier bestimmtes
Organ in deutscher Sprache, aber hebräischen Lettern unter
dem Titel „Hoemeth“ (die Wahrheit), herausgegeben werden.
Unteriielmierverbäiule.
Der Ausstands-Versicherungsverband des Oberberg-
anitsbezirkes Dortmund, welcher nach dem jüngsten
Berichte des Vereins für die bergbaulichen Interessen
105 Zechen mit der Förderung von 30 975 847 Tonnen
Kohlen umfasst, zeigt, wie die Unternehmer gegen die
Arbeiterbewegung Deckungs- und Angriffswaffen bereit
halten. Das Gesammtvermögen des Verbandes, welcher
die Mehrzahl der Werke und über 4/s der gesammten
Förderung in sich begreift, betrug 1 454 924 Mk. Im Jahre 1891
sind an Entschädigungen 230 000 Mk. gezahlt worden.
Weil die Zeche „Blankenburg“, obwohl sie durch den
Verband gestützt war, die Forderungen der Bergleute er-
füllte, ist in das Verbandsstatut folgende Bestimmung auf-
genommen worden: „Der Anspruch auf Schadenersatz der
von einem Ausstand betroffenen Zeche wird hinfällig, wenn
die Beendigung des Ausstandes dadurch herbeigeführt
wurde, dass die von demselben betroffene Zeche die von
der Belegschaft erhoben gewesenen Forderungen, deren
Ablehnung den Ausstand veranlasste, nachträglich voll-
ständig oder im Wesentlichen anerkannt hat, oder wenn
die Beendigung des Ausstandes durch Massnahmen der
Zechenverwaltung herbeigeführt wurde, welche im regel-
mässigen, durch den Ausstand nicht unterbrochenen Betrieb
nicht stattgefunden haben würden.“ So wenig den Unter-
nehmern das Recht auf solche Schutz- und Trutz vereine
bestritten werden kann, so einleuchtend ist es auch, dass
als Gegengewicht und natürliche Gegenwirkung die
Berufsverbände der Arbeiter auf hoher Stufenleiter ins
Dasein treten müssen Ausgleiche oder Auseinandersetzung
zwischen zwei Mächten, nicht der Kampf einer starken
Einung gegen Zersplitterung und Ohnmacht, darauf tendirt
die gegenwärtige Entwickelung.
Feinblech-Grossgewerbe. Wie die „Köln. Volksztg.“ mit-
theüt, ist der Versuch, einen westdeutschen Feinblech-
Verband zu begründen, endgültig gescheitert, da eine Anzahl
grosserer Werke nicht beigetreten sind. Dieser Misserfolg wird
den Zusammenschluss zu einem Kartell auf die Dauer nicht ver-
hindern können, da gerade in dieser Industrie die Zustände auf
eine Zusammenfassung der Kräfte hindrängen. Angesichts der
wilden Preisschleuderei, welche unstreitig die Stillsetzung oder
Betriebs-Einschränkung einer Reihe von Unternehmungen her-
beiführen wird, ist es eine Frage der Zeit, wann eine Verein-
barung zu Stande kommen wird.
Arbeitersclnitzgesetzgelmiig.
Arbeitsschutz in der Hausindustrie. Aus den Haupt-
sitzen der schweizerischen Strohflechterei kommen in jüng-
ster Zeit Berichte über den flotten Geschäftsgang. Em
bezeichnendes Pendant hierzu liefert dann aber der Nach-
satz dass man bis tief in die Nacht hinein Frauen und
Kinder an der Arbeit sehe. In der That findet wohl nir-
; genas eine so übermässige Ausbeutung der Frauen- und
Kinderarbeit statt, als gerade in dieser Hausindustrie. Die
Folgen bleiben nicht aus. Bereits in den 60 er fahren fand
sich ein Bezirksarzt im aargauischen Freiamt,' einem der
i ^auptsitze der Strohindustrie, veranlasst, die Regierungs-
direktion des Innern auf die abnorme Sterblichkeit der
Kinder des ersten Jahres in jener Landesgegend aufmerk-
sam zu machen. Es wurde damals konstatirt, dass die
Sterblichkeit der Kinder dort, mit Ausnahme von Bayern und
Sachsen, höher als irgendwo in der Welt stehe. Merkwür-
digerweise kam aber Niemand auf den Gedanken, dass
diese Sterblichkeit im Zusammenhang stehen könne mit der
Hauptbeschäftigung des weiblichen Theiles der Bevölkerung,
sondern man suchte die Ursache im Mangel an gehöriger
ärztlicher Pflege und an tüchtigen Hebammen. Und heute
noch bestehen leider die gleichen Missverhältnisse. Die
Strohindustrie hat mittlerweile sich auch im aargauischen
Frietsthale festgesetzt und kaum besteht sie dort, so wird
auch hier „gerühmt“, dass Frauen und Kinder bis tief in
die Nacht arbeiten. So schwierig es ist, so wird doch der
Staat hier interveniren müssen, denn es kann ihm nicht
gleichgültig sein, ob die Mütter infolge übergrosser Arbeits-
anstrengung keine hinreichende Zeit zur gehörigen Wartung
und Pflege der Kinder finden, zum Mutterberuf überhaupt
unfähig werden. Zudem ist es gewiss Pflicht der Behörden,
über das Loos der kommenden Generation zu wachen, das
körperliche und sittliche Gedeihen der Jugend zu schützen,
zu verhüten, dass die Kinder überanstrengt und in ihrer Er-
ziehung schwer vernachlässigt werden. Die Kinder haben
vollen Anspruch an den Schutz der Behörden, damit sie
über die ihnen unentbehrliche Gesundheit, Stärke und
Willenskraft verfügen können.
Fabrikgesetzgebung in Ostindien. Am 1. Januar 1892
tritt ein neues Arbeiterschutzgesetz in Ostindien (East India
Factory Act No. XI) in Wirksamkeit, welches trotz seiner
grossen Lücken doch zum ersten Male den Forderungen
jener schwer bedrückten indischen Arbeiter gerecht wird,
welche die junge Textilindustrie in Bombay, Ahmedabad
und Calcutta sich dienstbar gemacht hat. Eine halbstündige
Ruhepause, Verbot der Sonntagsarbeit (ausser für Maschinen-
reparatur oder nothwendigerweise ununterbrochenen Be-
trieb); 11 stündiger Maximalarbeitstag und anderthalbstün-
dige Ruhepause für Frauen; Verbot der Verwendung von
Kindern, welche das Alter von 9 Jahren noch nicht erreicht
haben, der Nachtarbeit (8 Uhr Abends bis 5 Uhr Morgens) und
der Verwendung durch mehr als 7 Stunden täglich für unter
14jährige, — diese neuen Hauptbestimmungen sind in Ost-
indien auf den heftigsten Widerstand der Unternehmer
gestossen, und eine in der objektivsten Weise vorgehende
Untersuchungskommission ist von der indischen Presse fast
verunglimpft worden. Die Fabrikanten entsendeten sogar
auf eigene Kosten einen indischen Arzt zum letzten im
August zu London tagenden Kongresse für Demographie
und Hygiene, um dort zu erklären: es ginge nicht an, von
der bisherigen Tagesordnung des indischen Arbeiters abzu-
weichen und feste Stunden zu fixiren — bis dahin hatte im
Bezirke Bombay der Arbeitstag von Sonnenaufgang bis
Sonnenuntergang gedauert, wo elektrisches Licht eingeführt
ist, auch länger, d. h. bis achtzehn Stunden! — denn der
indische Arbeiter kenne nicht die Uhr. Ferner: der ostin-
dische Arbeiter sei langsamer als der europäische, erlaube
sich häufige Unterbrechungen, er absentire sich häufig und
setze dann einen Ersatzmann an seine Arbeit. Mit Recht
weist diesen Behauptungen gegenüber Mr. John Rae im
Dezemberhelt des Economic Journal, p. 805 darauf hin, dass
die von den Partisanen der indischen Antischutzbewegung
vorgebrachten Argumente ihre Spitze gegen dieselben
kehren: denn die Eigenschaften, welche sie an dem indischen
Arbeiter rügen, treten bei jeder Industrie zu Tage, welche
die Arbeitszeit ins Maaslose verlängert, und sina noch von
jeder die Arbeitszeit normirenden Gesetzgebung gemildert
worden. Das Mittel, dessen sich die Fabrikanten von Bombay
bedienten, um die Gesetzgebung zu hintertreiben, bestand
darin, dass sie die Entlassung von 1000 weiblichen Arbeits-
kräften den englischen Arbeiterfreunden in bedrohliche
Aussicht stellten. Indessen ist es wahrscheinlich, dass durch
Einführung zwei- und dreifacher Schichten die ostindische
Textilindustrie denjenigen Gewinn wird ziehen können, der
ihr nur durch einen in vielen Fällen skandalösen Missbrauch
menschlicher Arbeitskraft bisher beschieden war.
Ein neues Fabrikgesetz in Neuseeland wird am 1. Januar
1892 in Krait treten. Es ist dem der Kolonie Victoria nach-
gebildet (vgl. Stefan Bauer, Jahrbücher für National-Oekonomie,
3. F., 2. Bd„ S. 659 ff.), enthält aber noch fortgeschrittenere Be-
stimmungen über Kinderarbeit und gesundheitliche Massregeln.
Ein städtisches Arbeitersekretariat fordert die organisirte
Arbeiterschaft Nürnbergs, der grössten Industriestadt Bayerns.
14
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 1.
Die Aufgaben dieser Einrichtung werden folgendennassen be-
zeichnet: „Rechtsschutz und Beistand in allen gewerblichen
Streitigkeiten, in Krankenkassen-, Unfallversicherung;- und
Altersversorgungs-Angelegenheiten; Beaufsichtigung der Aus-
iührung der in der Gewerbeordnung vorgeschriebenen Arbeiter-
schutzvorschriften in den Fabriken und Werkstätten; statistische
Aufnahmen über Betriebsunfälle und Krankheiten, Lohn-, Er-
nährungs- und Wohnungsverhältnisse. Zugleich könnte, wie
vorgeschlagen wird, mit einer solchen Centralstelle der Arbeits-
nachweis und die Ausbezahlung der Reiseunterstützung ver-
bunden werden.“ Der Gedanke ist ein gesunder: es ist nur die
Frage, ob es nicht rathsamer ist, an Stelle städtischer Sekretariate
grössere Gebiete einem Sekretariat zu unterstellen oder die
städtischen Bureaux als Zweiganstalten einer Zentralstelle ein-
zurichten. Die Gewerbepolizei und die soziale Statistik werden
durch derartige Institute erheblich gefördert Liegt die letztere
in Deutschland, soweit amtliche Thätigkeit in Frage kommt,
überhaupt fast völlig brach, so leidet die Kontrolle der Durch-
führung des Arbeiterschutzes seitens der Ortspolizeibehörden an
den bekannten Jahr für Jahr in den Fabrikinspektionsberichten
gerügten Mängeln.
Gewerbeinspektion.
Die neuesten deutschen Inspektoratsberichte.
Als neueste Stoffsammlung vom Gebiete der deutschen
Fabrikinspektion liegen die „Amtlichen Mittheilungen aus
den Jahresberichten der mit Beaufsichtigung der Fabriken
betrauten Beamten. XV. Jahrgang 1890. Mit Tabellen und
Abbildungen. Behufs Vorlage an den Bundesrath und den
Reichstag zusammenges teilt im Reichsamt des Innern“
(Berlin, \V. T. Bruer, 1891, XX u. 367 Seiten, 6,75 Mk.)
vor. Diese wegen ihres äusserlichen Umfanges so viel
versprechende amtliche Veröffentlichung giebt gleichzeitig
Anlass, Alles dasjenige zu erwähnen, was zu einer pro-
grammatischen Einleitung dieser Rubrik dienen kann.
Im Gegensatz zu der englischen bringen die deutschen
Regierungen die Fabrikinspektorenberichte noch immer
nicht als amtliche Gratisdrucksache oder wenigstens als
ganz billiges Buch, das in eigener Regie gedruckt wird,
zur Veröffentlichung, sondern sie unterlassen die separate
Veröffentlichung entweder ganz und begraben das jährliche
Originalreferat in ihren Akten (so u. W. Hamburg, Lübeck,
Bremen, die Reichslande); oder sie drucken den Jahres-
bericht in Amtszeitungen mit unhandlichem Format ab, die
über den eigenen Kreis ihres Territoriums überhaupt nicht
verbreitet sind (so z. B. das Königreich Württemberg im
Stuttgarter „Gewerbeblatte“, das Grossherzogthum Hessen
in der „Darmstädter Zeitung“ und das Fürstenthum Schwarz-
burg-Rudolstadt mit seinen interessanten Walltndustrien in
der „Landeszeitung“) ; oder endlich sie lassen die Referate
ihrer Aufsichtsbeamten wohl in Buchform erscheinen,
aber bei privaten Verlegern und zu theuren Preisen,
welche eine zweckdienliche Popularisirung von vorn-
herein verhindern (so z. B. Preussen von 1874 bis 1875 bei
Decker, 1876 bis 1878 bei Kortkampf, 1879 bis 1887 gar nicht
und von 1888 an wieder bei W. T. Bruer, sämmtlieh in
Berlin, Sachsen bei F. Lommatzsch-Dresden, Bayern bei
Th. Ackermann-München). Und diesen letzteren Weg schlägt
man auch, wie oben aus der Titelangabe ersichtlich, beim
Reichsamt des Innern mit der Zusammenstellung sämmtlicher
deutscher Inspektorenberichte ein, die jedes Jahr viel zu
spät, gewöhnlich erst im November oder Dezember, viel zu
theuer und viel zu unübersichtlich und kritiklos über das
längst abgelaufene vorhergehende Jahr erscheint. Soweit
die grossen Mängel dieser Veröffentlichung, welche ausführ-
lich im „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“, Bd. 3,
S. 347 ff. besprochen wurden, auf Mängeln der einzelstaat-
lichen Berichte beruhen (z. B. auf dem Fehlen jeder vollstän-
digen Arbeiterstatistik ausserhalb Sachsens), werden sie bei
der fortlaufenden und regelmässigen Anzeige der letztge-
nannten Referate an dieser Stelle zu besprechen sein. Hier
müssen jedoch noch eine Reihe vonSchwächen der „Amtlichen
Mittheilungen“ erwähnt werden, die zu vermeiden wären,
trotzdem die zu verarbeitenden Einzelberichte vielfach
selbst mangelhaft sind.
Nach § 139 b Abs. 3 der Gewerbeordnung brauchte
man sich überhaupt nicht auf „Mittheilungen“ aus den Be-
richten zu beschränken, sondern könnte die etwa sämmtlieh
für Rechnung jedes einzelnen Staates in der Reichsdruckerei
billig hergestellten Originalreferate dem Bundesrath und
Reichstag vorlegen; die so entstehende Gesammtausgabe
könnte dann nach Einzelstaaten bezw. Provinzen so zerleg-
bar gemacht werden, wie der praktischere Staatssekretär
im Reichspostamt sein Kursbuch nach Eisenbahnbezirken
zerlegbar hersteilen lässt, wonach dann freilich jedes einzelne
Heftchen um ein ganz Geringes zu kaufen sein müsste. Wenn
man aber gegenwärtig jeden Bundesstaat eine besondere
oder auch gar keine Druckerei in Bewegung setzen lässt,
sodass Bücher der verschiedensten Form für hohe Preise ’
herauskommen, und wenn man dann durchaus einen noch-
maligen „Auszug“ veröffentlichen will, statt den einheitlich
gedruckten Einzeioriginalen einfach eine zusammenfassende
Einleitung vorauszuschicken, so sollte wenigstens jetzt schon
für eine bessere Disposition in diesem Auszuge und für eine
mehr in die Sache eindringende Redaktion gesorgt werden.
Die neuesten „Amtlichen Mittheilungen“ für 1890
geben wieder Belege für die mangelhafte Disposition und
die mangelhafte Redaktion. Sie verschwenden z. B. noch
zehn Seiten auf höchst oberflächliche Bemerkungen der
Beamten über den „Stand der Industrie und des Arbeits-
marktes“, die schon sozialpolitisch werthlos, durch die
späte Veröffentlichung aber auch praktisch belanglos
werden; und sie werfen z. B. in ihrem V. Hauptabschnitte -
Notizen über die wirtschaftliche Lage der Arbeiter ausser-
halb des Arbeitsverhältnisses mit Angaben über Wohltahrts-
einrichtungen, deren Zusammenhang mit dem Arbeits-
verhältniss meist sehr augenfällig ist, so systematisch durch-
einander, dass die Lektüre der betreffenden fünfzig Seiten
zu einem völlig sinnverwirrenden Eindruck führt. Und
vollends die sachgemässe Redaktion! Sie weiss niemals,
wenn in einem Jahre etwa Bemerkungen über einen be-
stimmten sozialen Gegenstand besonders häufig in den
Originalberichten auftreten, einen neuen Abschnitt z. B.
mit dem Titel: „Wohnungszustände“ zu schaffen; Alles, was
ihr unter die Hände kommt, muss jedes Jahr unter die
bureaukratisch vorgezeichneten Titel gezwängt werden.
Und selbst die Vertheilung des immer wiederkehrenden
Stoffes unter die zutreffenden Rubriken wird schlecht be- ,
sorgt. Die zweite Unterabtheilung des I. Abschnittes han-
delt z. B. wie immer so auch im neusten Bande wieder
von der „Thätigkeit der Aufsichtsbeamten“, ihrem Zu- i
sammenarbeiten mit den Ortsbehörden u. s. w. Es ist dem :
Bearbeiter der „Amtlichen Mittheilungen“ nun noch niemals ;
und so auch im neuesten Bande nicht gelungen, an dieser
Stelle alle Berichtsstellen über den Werth, die I ragweite
und die Mängel der ortspolizeilichen Aufsicht, sowie über ;
das Verhältnis der eigentlichen Fabrikinspektion zu ihr ;
auch nur mechanisch zu sammeln. Er speist den Leser an ,
jener Stelle mit zwei apologetischen Angaben ab und lässt I
das übrige Material dann gelegentlich der Abschnitte über ;
Kinderarbeit u. s. w. auftauchen. Ob wir überhaupt alles
Material „amtlich mitgetheilt“ erhalten, wenn auch an un- I
richtiger Stelle, das ist ja überdies nicht genau kontrolirbar.
Man ermesse an diesen Belegen die Brauchbarbeit der
„Amtlichen Mittheilungen“ für gewissenhafte Sozialpolitiker.
Nach alledem reduzirt sich der brauchbare Inhalt der
„Amtlichen Mittheilungen“, auch ihres neuesten Bandes,
auf verhältnissmässig wenige Angaben. Nicht einmal das
gesammte Personal der im Jahre 1890 fungirenden Aufsicht
kann man mit Einem Blicke feststellen. Man hat sich viel-
mehr erst auszuzählen, dass das Deutsche Reich in 51 Aul-
sichtsbezirke zerfällt, von denen aber zwei in Thüringen
durch einen einzigen Beamten, und der von Waldeck und
Pyrmont von einem preussischen Inspektor mitbesorgt
werden, sodass also nur 49 Hauptbeamte (in Preussen
„Gewerberäthe“) und daneben (wenn unsere eigene Addition
stimmt, der amtliche Bearbeiter erspart sich dieselbe !) un-
gefähr 35 Hilfsbeamte vorhanden waren; „ungefähr“ muss
deshalb gesagt werden, weil Hamburg die Zahl seiner
Hilfsbeamten nicht einmal zahlenmässig angiebt, sondern
nur von „mehreren“ spricht. Die meisten der genannten
Beamten fielen im Berichtsjahr noch auf Sachsen, welches
7 Inspektoren und 1 8 Assistenten beschäftigte und daneben
, noch 7 chemische Sachverständige amtiren Iiess. Neuestens
soll sich ja bekanntlich das Zahlenverhältniss zu Gunsten
Preussens ve~schieben. Nach der im „Archiv für soziale Ge-
setzgebung und Statistik“, Band IV, S. 207 ff., näher be-
sprochenen Denkschrift über die Reorganisation der Gewerbe-
aufsicht in Preussen sollten im Etatsjahre 1891/92 statt der bis-
herigen 1 7 Gewerberäthe und 1 1 Assistenten bereits 1 7 Ge-
werberäthe, 24 Inspektoren und 23 Assistenten fungiren, diese
Zahl aber im Verlaufe von 4 Jahren so gesteigert werden,
No. 1.
SOZI Al l’< )U TISCHES CENyRALBLATT.
15
dass nach vollständiger Durchführung der Reorganisation
26 Gewerberäthe, 97 Inspektoren und 40 Assistenten vor-
handen seien. Es ist noch nicht genau genug bekannt, ob
man diese Zahlen eingehalten hat; darüber sind Mitthei-
lungen im „Sozialpolitischen Centralblatt“ vorzubehalten. Da-
gegen wurde bekannt, dass man in der Auswahl der neuen
Beamten nach altem bureaukratischen Muster vorging,
namentlich Bergassessoren und Aelmliche bevorzugte, Aerzte
und Sozialpolitiker ganz beiseite Hess und z. B. dem Berliner
Gewerberath, der bereits „Major a. D.“ ist, einen „Premier-
lieutenant a. D.“ zur Unterstützung beigab. Nach Preussen
hat sodann Bayern in den Etat für 1892/93 zu seinen vier
alten Inspektoren 4 neue Stellen eingestellt und genehmigt
erhalten. Näheres hierüber ist nicht bekannt geworden.
Die Zahl der im einzelnen Inspektionsbezirk während des
Berichtsjahres vorgenommenen Fabrikrevisionen variirt
ausserordentlich; das Maximum wurde im Bezirk Hamburg
mit 2886 Revisionen, das Minimum im Bezirk Lübeck mit
93 Revisionen, wenn man von den Zwergbezirken Sig-
maringen, sowie Waldeck und Pyrmont absieht, erreicht.
Aber nur in Sachsen ist an der Hand dieser Zahlen die
Intensität der Inspektion kontrolirbar, weil von dort allein
regelmässige Angaben über die Ziffern der revisionsbedürf-
tigen Anlagen vorliegen, nicht aber aus den anderen Be-
zirken, eine Thatsache, über welche jedoch die „Amtlichen
Mittheilungen“ stillschweigend hinweggehen. Zahlenmässige
Angaben über die ortspolizeilichen Revisionen werden nur
aus ganz vereinzelten Bezirken gemacht und lassen lediglich
erkennen, dass auch diese Inspektionsthätigkeit sehr un-
gleichmässig ausgeübt wird. Während z. B. der Beamte
für den Bezirk Dresden „eine besondere Thätigkeit der
Ortspolizeibehörden nur in einigen Städten bemerkte“, und
in Meissen ganze 22 solcher Fälle festgestellt wurden,
absolvirte die Berliner Ortspolizei nicht weniger als
61 440 Revisionen in 3948 Fabriken.
Nach der nur alle 2 Jahre, immer in der geraden
Jahreszahl, also auch wieder' 1890 vorgenommenen Zählung
der kindlichen und jugendlichen Arbeiter waren im Berichts-
jahre in deutschen Fabriken 27 485 Kinder im Alter von
12 — 14 Jahren und 214 252 jugendliche Arbeiter im Alter
von 14 — 16 Jahren beschäftigt, was gegen 1884, wo die erste
zuverlässige Zählung stattfand, eine Zunahme von 47 bezw.
60 "/0 bedeutet. Den Vergleich mit 1884 hüten sich aber
die „Amtlichen Mittheilungen“ sorgfältig zu ziehen. Bei
einzelnen Industriegruppen ist das prozentuale Anwachsen
der jugendlichen Arbeit noch viel stärker, vor Allem in der
Industrie der Steine und Erden, Papier und Leder, Holz-
und Schnitzstoffe. Darüber, ob diese auffälligen Thatsachen
etwa mit der Einführung neuer Maschinen oder Aehnlichem
in den betreffenden Gewerben Zusammenhängen, vermisst
man jegliche Auskunft im amtlichen Bericht. Und das
Wichtigste, Angaben über das variirende Verhältniss der
jugendlichen Arbeiter zu den erwachsenen, ist ebenfalls
nur ganz lückenhaft vorhanden. Danach ist das Missver-
hältnis besonders krass gewesen in den ländlichen In-
dustriebezirken Thüringens, wo von je 100 Arbeitern über-
haupt bereits 10 kindliche oder jugendliche waren. Aber
„kindlich“ und „jugendlich“ ist hier wieder nicht getrennt,
und welchen Antheil die weibliche Arbeit an der Zunahme
der „Arbeiter überhaupt“ hat, lässt sich auch nur stellen-
weise übersehen, nämlich in den sächsischen Bezirken,
sowie in ^ Hamburg, Lübeck, Schleswig und Merseburg-
Erfurt. Von diesen Distrikten zeichneten sich zwei, Dres-
den (-J- 12,3%) und Lübeck durch unverhältnissmässige
Zunahme der F rauenarbeit aus, und in ihnen wuchs auch
die Zahl der kindlichen, sowie der jugendlichen Arbeiter
von 8,1 bezw. 4,7 auf 8,4 bezw. 5 % der Arbeiter überhaupt;
die anderen der genannten Bezirke wiesen wenigstens keine
unverhältnissmässige Vermehrung der Frauenarbeit auf, über
die 40 übrigen Bezirke des Deutschen Reichs aber erfahren
wir nichts Genaues nach dieser Richtung. Im Uebrigen
befolgte die Redaktion der „Amtlichen Mittheilungen“ auch
ttir das Jahr 1890 das alte Rezept: zu jedem Gegenstände
zunächst und vor Allem „festzustellen“, dass sich nach den
Beobachtungen „zahlreicher“, oder „vieler“, oder „sehr
vieler“ Beamten die oder jene Beschäftigung in den „ange-
messenen“ Grenzen bewegte; diese laudatio temporis prae-
•sentis fehlt fast nirgends; und erst als kleiner, unvermeid-
licher, aber doch höchst nebensächlicher Anhang zu jener
Feststellung kommt dann die Anführung einzelner Fälle,
in denen es nicht „angemessen“, nicht „gesetzlich“ zuging!
Dadurch erhalten die „Amtlichen Mittheilungen“ durchweg
das Ansehen eines Musterberichts über Musterzustände mit
einigen kleinen Flecken, die aber die Pracht, die Ordnung
und Sitte im Ganzen nur erhöhen, ähnlich wie Schönheits-
pflästerchen ein hübsches Gesicht. Zusammen fassend kann
der objektive Beurtheiler nur dringend davor warnen, auf
den Zusammenhang, in welchem die „Amtlichen Mitthei-
lungen“ eine soziale Thatsache bringen, auch nur das Ge-
ringste zu geben. In den meisten Fällen muss? erstens
aut den Zusammenhang im einzelstaatlichen Originalbericht
| und dann diesem gegenüber, der oft ebenfalls keineswegs
unbefangen ist, auf eine Nachprüfung an der Hand anderer
Hilfsmittel zurückgegangen werden. Und wenn dies für
die Angaben aus der Fabrikarbeit einfach gilt, so gilt es
doppelt für alle im amtlichen Bande enthaltenen Nach-
richten über das häusliche Leben, die Strikes, Vereine u. s. w.
i der Arbeiter.
Reines Quellenmaterial sind schliesslich nur die dem
amtlichen Bande im Anhang beigegebenen Statuten ver-
schiedener Arbeiterausschüsse, die Spezialverordnungen
einzelner Behörden für besonders gefährliche Arbeiten, für
das Schlafstellenwesen u. s. w. Wenn mit der Wiedergabe
solcher Dokumente bei späteren Bänden noch freigebiger
verfahren wird, was ausserordentlich zu wünschen wäre,
so kann es mit der Zeit gelingen, aus dem Anhang des
amtlichen Auszuges ein treffenderes Bild der deutschen
Arbeiterzustände zu konstruiren, als aus dem Texte des-
selben.
Frankfurt a. M. Max Ouarck.
Arbeiterversicherung.
Eine Statistik der Unfälle für den Kreis der landwirt-
schaftlichen Berufsgenossenschaften soll, wie der „Reichs-
anzeiger“ (No. 298, Jahrg. 1891) meldet, ins Werk gesetzt
werden. Den Anstoss hierzu hat die für das fahr 1887 auf
Grund besonderer von den Vorständen der gewerblichen
Berufsgenossenschaften ausgefüllten Zählkarten im Reichs-
versicherungsamt bearbeitete Statistik der entschädigungs-
pflichtigen Unfälle gegeben. Nach dem amtlichen Blatte hat
diese Statistik einen so günstigen. Funfluss auf die Förderung
der Unfallversicherung gehabt, dass das Reichsversicherungs-
amt zu der Aufnahme einer landwirtschaftlichen Unfall-
statistik aufgefordert hat. „ . . . . Es lässt sich,“ heisst es,
„mit Sicherheit annehmen, dass eine Zusammenstellung,
welche sich auf die während eines bestimmten Jahres fest-
gestellten entschädigungspflichtigen Unfälle der gesammten
Land- und Forstwirtschaft erstreckt, . . . berufen wäre, ein
wertvolles Material ttir die Mittel zur Verhütung von Un-
fällen aut diesem Gebiet zu sammeln, auf dem es an ver-
wertbaren Erfahrungen noch allzusehr mangelt.“ Die vom
Reichsversicherungsamt unmittelbar abhängenden land-
wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und fast alle
Landesversicherungsämter haben sich für den Plan ausge-
sprochen; bis zum 15. Februar d.J. werden die ausgefüllten
Zählkarten zum ersten Male eingesendet werden.
In der I hat ist es von grossem Nutzen, eine genaue
zahlenmässige Uebersicht auch über diese Gruppe von Un-
fällen zu erhalten. Gerade in den landwirtschaftlichen
Betrieben ist die Ziffer der schweren Unfälle eine ausser-
ordentlich hohe, wie u. a. ein Blick in die letzten preussi-
schen Fabrikinspektorenberichte zur Genüge beweist. Aus
den Provinzen Ost- und Westpreussen z. B. wird gemeldet,
dass „in der Zahl der Todesfälle und der von einer mehr
als 13 wöchentlichen Erwerbsunfähigkeit begleiteten Ver-
letzungen die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft
. . . allen anderen Berufsgenossenschaften voransteht“; das
Gleiche wird aus Posen gemeldet. „Die Arbeitgeber,“
heisst es im Königsberger Bericht , „zeigen im Allge-
meinen freundliches Entgegenkommen und Bereitwillig-
keit gegenüber den zum Wohle und Schutze der Ar-
beiter getroffenen Anordnungen Nur in den mit der Land-
wirtschaft im Zusammenhänge stehenden Betrieben, und
besonders in der I .and Wirtschaft selbst, begegnet man
noch zu häufig einer Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit,
sodass man sich über die Zahl und die Bedeutsamkeit der an
landwirtschaftlichen Maschinen eingetretenen Unfälle kaum
verwundern kann.“ Mit der verantwortungsreichen Be-
wertung der Dampfkessel werden Leute betraut, „die sich
nicht einmal bei den gewöhnlichen Arbeiten der Land-
16
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 1.
wirthschaft tauglich erwiesen haben“ (Jahresberichte der
kgl. preussischen Gewerberäthe, 1890, S. 4, 10, 13, 14, 66).
Im Aufsichtsbezirk Pommern entfielen von 2365 zur Kennt-
niss der Fabrikinspektion gelangten Unfällen mindestens
700 auf die land- und forstwirthschaftliche Berufsgenossen-
schaft (a. a. O. S. 56).
Neben altfränkischen Einrichtungen gröbliche Fahr-
lässigkeit, Mangel an einfachsten Schutzmassregeln, Indolenz
und Gleichgültigkeit gegen die Sicherung der Arbeiter: das
sind Erscheinungen, welche aut das Entschiedenste bekämpft
werden müssen. Es ist deshalb die beabsichtigte Aufnahme
als Mittel zu einer umfassenderen Erkenntniss des Sach-
verhaltes willkommen zu heissen. Aber die Erhebung krankt
daran, dass sie nicht von Amtswegen für das ganze Reich
erhoben wird, dass keine Vorschrift die scharfe, erschöpfende
Durchführung solch eines Unternehmens gewährleistet. Es
fehlt der gesetzliche Zwang, es fehlt vor allem die Centra-
lisation des Versicherungswesens, das pärtikularistisch zer-
splittert ist, anstatt von Reichswegen von einem Mittelpunkte
aus geleitet und geordnet zu sein. Um die Ergebnisse der
Statistik für die Unfallverhütung nutzbar zu machen, muss
in erster Reihe die Aufsicht über die Betriebe eine weit pein-
lichere, ausgedehntere, häufigere sein, müssen die besten
und praktischsten, d. h. für die Arbeiter brauchbarsten
Schutzmittel und alle Maassregeln zu Gunsten der grössten
Betriebssicherheit obligatorisch vorgeschrieben und einge-
führt werden. Strenge Strafen, welche den Unternehmer,
der gegen die Vorschriften sich verfehlt, ernstlich treffen,
dürfen gleichfalls nicht fehlen. Und es ist ein unseres Er-
achtens Glücklicher Vorschlag des Stettiner Gewerberathes
Ecker, dass die Maschinenfabrikanten bei Strafe gesetzlich
zu verpflichten seien, alle erforderlichen Schutzvorrichtungen
an den von ihnen gelieferten Maschinen anzubringen.
Berlin. Bruno Schoenlank.
Wolmungszustände und Wolinuugs-
gesetzgebiuig.
Wo’nnungszusiände auf dem Lande.
In der grossen Rede, mit welcher der Reichskanzler
von Caprivi die Debatte über die Handelsverträge ein-
leitete, wurde von ihm sehr mit Recht ein gesundes Fami-
lienleben als „die Quelle der Kraft und des Gedeihens des
Staates in körperlicher und sittlicher Beziehung“ gepriesen.
Für eine entsprechende Entwicklung des Familienlebens
sei aber auf dem Lande weit mehr die Möglichkeit als in
der Stadt gegeben. Und auch insofern rechtfertige sich
also der Schutz der Landwirthschaft im Interesse des
Staates u. s. w. Wenn man die Auffassung vertritt, das
Land biete einen besseren Boden für das Gedeihen des
Familienlebens als die Stadt, so stützt man diese Meinung
sicher auch darauf, dass auf dem Lande die Wohnungs-
verhältnisse vorteilhaftere seien, und daher das Familien-
leben weniger bedroht würde. Diese Annahme dürfte im
grossen Publikum allgemein gemacht werden. Dennoch
ist sie mit den Thatsachen schwer in Einklang zu setzen.
Sie findet selbst in einem Lande keine Bestätigung, in dem
der kleinere und mittlere bäuerliche Besitz weitaus über-
wiegt, und der eigentliche ländliche Proletarier als eine
vergleichsweise seltene Erscheinung dasteht, geschweige
denn in den mit Rittergütern bedeckten Gebieten des
östlichen Deutschlands. Im Grossherzogthum Baden wer-
den bei den Volkszählungen allgemein auch die Wohnungs-
zustände ermittelt, so dass man sich über die auf dem
Lande herrschenden Wohnungsverhältnisse zahlenmässig
bestimmte Vorstellungen bilden kann. Die Ergebnisse der
Aufnahme von 1885 lassen nun die Wohnungszustände auf
dem Lande in gewissem Sinne sogar noch dunkler er-
scheinen als die städtischen.
Fassen wir Haushaltungen in’s Auge, welche nur über j
Einen Wohnraum verfügen, so wird man wohl von einer
ungenügenden, das Familienleben unterbindenden Befrie-
digung des Wohnungsbedürfnisses sprechen können, wenn
in diesem einen Wohnraume 4 — 5, 6 — 10, oder gar 11 und
mehr Personen wohnen. Ferner werden als nachteilige
Wohnungsverhältnisse diejenigen gelten müssen, welche für
6 — 10 oder II und mehr Personen nur zwei, oder für 11
und mehr Personen nur drei Wohnräume gewähren. Ueber
die Verbreitung dieser Zustände gibt folgende Tabelle
Auskunft:
1 1 1 d i
Stadt-
g meinde
In der
Land-
gemeinde
Im Gross-
herzog-
thum
Haushaltungen mit 1 Wohnraum und
4 — 5 Personen . . . 3 797
8 297
12 094
6—10 „ ... 1 682
4 757
6 439
1 1 und mehr Personen 34
53
87
Haushaltungen mit 2 Wohnräümen und
6 — 10 Personen . . . 7 526
22 374
29 900
11 und mehr Personen 129
449
578
Haushaltungen mit 3 Wohnräümen und
1 1 und mehr Personen 278
676
954
13446
36 606
50 052
Da in Baden insgesammt 331 083 Haushaltungen ge-
zählt wurden, wovon 109 497 auf die Stadt-, 221 586 auf die
Landgemeinden entfielen, so kann man sagen, dass 15%
der Haushaltungen überhaupt unbefriedigende Wohnungs-
zustände aufweisen. Während aber in den Stadtgemeinden
nur 12 % der Haushaltungen über eine zu geringe Zahl
von Räumen verfügten, war dies auf dem Land bei 16,5%
der Haushaltungen der Fall. Leider gestatten die statisti-
schen Nachweise nicht, die Zahl der Personen genau zu
ermitteln, welche in diesen Haushaltungen sich befanden.
Nun kann man allerdings geltend machen, dass die
Zahl der Personen, welche auf einen Wohnraum entfallen,
nicht allein massgebend ist für die Beurteilung der Woh-
nungszustände. Es kommt auch die Zahl der Haushaltungen
in Betracht, die in einem Hause zusammen leben. Nach
dieser Hinsicht aber liegen die Verhältnisse auf dem Lande
unzweifelhaft günstiger als in der Stadt. Ein Wohngebäude
der Stadtgemeinde enthält im Durchschnitte 2,29 Haushal-
tungen, eines der Landgemeinden nur 1,32.
Trägt man indess auch diesem Einwande Rechnung,
so wird man doch zögern müssen, die Zustände auf dem
Lande für wesentlich bessere zu erklären. Auf dem Lande
nicht minder wie in der Stadt bedroht die Wohnungsnoth
den Bestand der Familie, und daran werden Getreidezölle
nichts ändern. Was hier wie dort noth thut, das ist eine
gründliche Wohnungsreform. Nur dann wird das Familien-
leben im guten Sinne des Wortes erhalten oder wieder her-
gestellt werden können. Es ist schwer zu fassen, dass diese
im besten Sinne des Wortes konservative und staatserhaltende
Reform — denn sie ist nichts anderes als ein Gebot der
Selbsterhaltung — noch immer nicht ernstlich in Angriff ge-
nommen wird. Wie wäre es, wenn man weniger auf die
Vergrösserung industrieller Anlagen bedacht wäre, für deren
Produkte doch alle staatsmännische, Handelsverträge
schliessende Weisheit kaum noch lohnende Märkte erringen
kann; und wenn man einmal mehr um den Bau von
Wohnungen für die minder bemittelten Schichten unseres
Volkes sich kümmern wollte?
Freiburg i. B. Heinrich Herkner.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
Adler. Dr. Victor, Der Paragraph 23 des österreichischen
Pressgesetzes (Wiener Politische Volksbibliothek, 2. Heft).
Wien 1891, Bretschneider. 8°. 40 S. Preis 10 Kreuzer.
Bauer, Friedrich, Kaiser und Arbeiter. Aufruf zur Bildung
einer kaiserlich-sozialistischen Partei. Bonn 1891 F. Hansteins
Verlag. 8U. 158 S.
Cathrein, Victor S. J., Der Sozialismus. Eine Untersuchung
seiner Grundlagen und seiner Durchführbarkeit. Fünfte,
mit Berücksichtigung des Erfurter Programms bedeutend
vermehrte Auflage. Freiburg i. B. 1892. Herder’sche Ver-
lagshandlung. XVI und 196 S.
Die ötfentliclie Fürsorge für die unverschuldet Arbeitslosen.
Grundlinien eines Gesetzentwurfes mit Anmerkungen.
München 1890. Eduard Pohl’s Verlag. 811. 53 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
Berlin, den 4. Januar 1892.
Kür den Anzeigentheil sind die Redaction und die Verlagsbuchhandlung nicht verantwortlich. Alleinige Anzeigen-Annahmestellc bei
I)r. < > 1 1 o Eysler, Berlin SW., Charlottenstrasse 11. Anzeigenpreis für die 3 spaltige Colonelzeile 40 l'f.
Slmtlicf) empfohlen! £)aä eittme &Ber t, wdcfyeö He gef amten
^rkiternerfidjerung^gcfetje in fid) bereinigt.
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S)ie Jpeeaitdgabe biefer erftmald in ben „Stimmen and' ©fariaVaad)" oeröffentlid)teu
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3U <Soblc«3 Wattn empfohlen uturbe, erfolgt Ijauptfädjlid) mit 3{ncffid)t auf bie päpftltd)e
ISncljUifa über bte 'ilrbeiterfragc, bereu ruidjtigfte Öetjren in jenen Stbljanblnngen betendjtet
roerben. ®te iHnffätse untrben überarbeitet, ergänzt, gruppettrueife georbnet unb
fallen in ber neuen Sammelaudgabe einem ermeiterten üeferfreife jug.äugltd) gemad)t roerben.
Sie ,s>vftc finb etnjcln fäufüdj. — Soeben ift erfd)ieuen:
1. 4>eft: ^)ie ’5Uvbcttetfra<je unb bie d)rtftlidj=ctf)tfctiett «octalprincipien ©on
Sb* 9ttct)cr S. J. 8°. (IV u. 125 ©.) ©t. 1.
2. -Ipeft: ^Iibeitbüntraa unb Strife. ©ou 91. £d)mfui)l s J. 8°. (IV u.
56 S.) 50 ©f. — 3" ©orbereitung befiuben fid):
Sic focialc ftrage mtb btc Äird)e. ©ou 2t. Sdjtnfuljl S. J. — Sie ®oci als
bcmoiratic unb bic moberne @taatßtbce. ©ott © ©adjtlcr S. J. — Sic focialc
g-ragc unb bic (Staatsgewalt, ©on 21. 8el)tnful)l S. J. — SaS f^rioatgruxtbeigeu:
tl)um. ©ou ©. ßatljvein S. J. — internationale iKegclung ber foeiälen g-ragc.
©ou 2t. Seljmfuljl S. J.
Im Verlage von Robert Oppenheim
(Gust. Schmidt) in Berlin S.W. 46 sind
erschienen:
■*ost, •■.. Prof. Dr., Musterstätten
persönlicher Fürsorge von Arbeit-
gebern für ihre Greschäftsange-
hörige». Bd. I. Die Kinder und
jugendlichen Arbeiter, gr. 8Ü. XII
u. 380 S. mit 44 Abbildungen. 1889.
geh. M. 10.—, geb. M. 11.50.
Patriarchalische Beziehungen in
der Grossindustrie. Fünf Briefe an
einen Arbeitgeber. (Sonderabdruck
aus „Musterstätten“ Bd. I.) gr. 8". IV
u. 86 S. 1889. geh. M. 1.50.
May, M.. Zehn Arbeiter-Budgets,
deren sieben nur mit Zuschüssen des
Arbeitgebers balancieren. Ein Bei-
trag zur Frage der Arbeiterwohl-
fahrtseinrichtungen. 36 S. in gr. 8Ü.
geh. M. — .60.
Scliaefer, W., Prof. Dr., Die Un-
vereinbarkeit des sozialistischen
Zukunftst.aates mit der mensch-
lichen Natur. 6. Aufl. 80 S. in gr. 8°.
geh. M 1.— .
$• ©ttttentag, ©erlag3bud)()anblung in ©erlitt.
©efei) betreffend bie
Unfallueifidjenittg ber Bet bauten
Befdjäftigteit ^erffliteit.
©om 11. Sult 1887.
(EejDTlusgabe mit TlnmerFungett
8eo aitugban,
9)tagifivat§4tffeffor 3x1 Serltit.
Safdjenforntat; cart. 1 ©I. 25 ©f.
LiranlunnterftdjeritugögerHji
(Oom 15. 2>uni 1883.
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fortschreitenden Productionstechnik. 1886. 352 S. gr. 8a. 7 Mark 60 Pf.
Derselbe. Der moderne Socialismus in den Vereinigten Staaten v. Amerika. 1890. 422 S. gr. 8°. 8 Mark.
Ursachen der amerikauisclien Ooncurreuz. Ergebnisse einer Studienreise der Herren Grafen Geza
Andrassy, Geza und [mre Szechenyi, Ernst Hoyos, Baron G. Gudenus und Dr. Rudolf Meyer
durch die Vereinigten Staaten. Mit einer Karte. 1883. 825 S. gr. 8°. 13 Mark 50 Pf.
Rodbertns-Jagetssow. Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen Creditnoth des Grundbesitzes.
2 Thle. 1868. 544 S. kl. 8°. 6 Mark.
Zeller, J. Zur Erkenntniss unserer staats wirtschaftlichen Zustände. 2. Aufl. mit Anhg. : Itodbertus-
Jagetzow. Die soziale Bedeutung der Staatswirthschaft. Erster sozialer Brief an von Kirchmann. Der
Normalarbeitstag. 1885. 305 S. gr. 81J. 6 Mark.
ivnies, <J. CI. Ad. Die Statistik als selbstständige Wissenschaft. 1850. 175 S. kl. 8°. 2 Mark 25 Pf.
(Parthieartikel. Vorräthe nur noch gering.)
<g»crbet’fd)e ©criaget^anMung, g-rtiburg tut ©vetögau.
Soeben ift erfdjietten mtb btird) alte ©itd)f)anbtuiigeu 31: begietjeu :
CÜatl)EEtn, B., S. J., P>ee ^ucialtsmus.
fönte Unterfudjung feiner ©runblagett mtb feiner Snrd)fü()rbarfeit.
JiiitllE, mit BEEitdtltdliigung Des (grfuEtEE j3EDgEainma ItEhEufEuh i'EEinEl)EtE Flujlafle.
(©eituted mtb jetjuted Saufettb.) 8IJ. (XVI tt. 198 ©•) ©l. 1.60.
Zum Abschluss von Todesfall-, Aussteuer-
Renten- und Sterbekassen- Versiche-
rungen bei vortheil haften Be-
dingungen und billigen
Prämien
sich die
Lebens
Versicliernngs-
(S esel Iscliaft zu Berlin,
S.O., Kaiser Franz Grenadierplatz 8
bestens empfohlen.
Prospecte und Auskünfte postfrei bei der Direction und den Vertretern.
Verlag nun 3. QI. B. Mnljr in Irciburg i. B.
Soeben erfcffien:
v v t e v b u d)
beä
Sjeutfdjcn Uenualtmtgsrcdjte.
5 ii SSerbiitbutig mit nieten Sßraftifern mib ©elefjrteit
f) e r a u § fl e fl e b e u
1)011
Di-. Ä. bon ©tengel.
3to)eitee SBanb
8-3
«DJ. p.— , sieb. 9.U. 24,40.
cialgesetzgebung en t -
Artikel :
Reichsversicherungsamt.
Unfallversicherung.
grfter SBanb
21-St
9Jt. 19.—, scb. SW. 21.40.
Aus dem Gebiete der S o
halt das Wörterbuch folgende
Arbeiter (gewerbliche),
Bergarbeiter.
Fabrikaufsichtsbeamte.
Fabrikgesetzgebung.
Gesindepolizei.
I nvaliditäts- und Altersver- I
Sicherung.
Knappschafts vereine.
Krankenversicherung.
Landesversicherungsämter.
©rftcr ßrgiinjmtgSlmnb erfdjeitit int Sanitär 1892.
Armenrecht.
Armen Verwaltung.
Notstandsgesetzgebung.
Sparkassen.
Teuei ungspolizei.
Unterstützungs Wohnsitz.
Soeben erfduenen:
l|anMmd| her Ju^ialen
hes bcuffifen Beiifs.
g-iir jeberntamt jurn prattifdjen ©e»
braudf) Ijeiaitägegebeit oon SSüitnecfe,
(jßerjaffcv non: „3>ev fBeidjä = mib ©tnatäbieiiü".)
GjnttjiUt a 1 1 e ‘3 für beit p r a f t i f cf) e n © e *
b r a tt cf) fftotljrcenbige and beu ©efeljeu
betr. bie it r a n f c n = , U H f a 1 1 = , S tt o a l i =
b i t ä t ß -- nub A 1 1 e r ö * SB e r f i ct> e r u n g
fomie © d) lt fc g e f e fc g e b tt tt g ber Arbeiter
u. bafjer unentbehrlich für ©etuerbetreibenbe,
8anbwirtt)c ffrnbrifen mib inbuftrielle Anlagen
aller Art
Preis gelj. 3 B3., geh. 4 B3.
Ausführliche fßrofpefte mit genauer Sutjattö»
angabe gratis nnb ftanfo.
33e,3iel)bar burd) jebe 33ucf)t)an btiing.
SSerlag boit Söilljelm SSiolet in Seidig.
®ie öffeutlidje ^ürforge
für bie
imtmfdjitlfreten ^dmtolofcm
©runblinten eined ©efetientmnrfö.
HJrefb 1 SWf.
2>ie Setibeit3 biefed Gmtnmrfeä ift uornetpm
lid) baf)iit gerichtet, bie Streitigfeiten junfdjen
Arbeitgebern nnb Arbeitnehmern 3U üerljüteu,
bie Ai’beitöperf)ättniffe fotiber nnb bauerpafter
311 geftatten nnb tjterburd) 3ur fpetfteünng be§
f Opiaten griebenä bei3ittragen.
©buarb Verlag in fPlüncbeit.
Soeben erschien :
Antiquarischer Biicherkatalog.
No. 69: Nationalökonomie.
Socialwissensch.-, Finanzwiss. Statistik,
ca. 3200 Nummern.
Paul Lehmann,
Buchhandlung und Antiquarist.
3. (Sutlenfag, 9Serfagöbiid)hanblung in S3erfin.
'Saö Dieicfisgefefc
betreffenb
Me deUu'vliegeiirfjte.
SS 0 nt 29. Sttli 1890.
SejPAuSgabe mit Aitmerfiuigen unb ©adjregifter
DO»
Steo 9)hißban,
Söl ag iftrc} tSaffeff or unb SRedjtäaiimalt 311 Söcrlin.
dtucitc Ufnnctivtc 21 11 öq alio.
Safdjenformat; cart. 1 93t. 25 Sßf.
Itnt'aUXu'iftdicntnpBflcfc^
tiom 6. Snti 1884
unb
©ejefc über bie 3lu§bel)nung ber Unfall»
unb itr a n f c n 0 e r f i d) e r u n g
uom 28. 93tni 1885.
Sejt» Aufgabe mit Anmeldungen
DOII
i£. oon ©oebttte,
Maiicrl. Cber=9tcgtcrung3ratl), Dortrng. 9int() im iKcidjS*
amt &ed 3mtcrn.
iBtci tc 'linftage.
Safdjenformat; cart. 2 93t.
MdjeiDiiipt u® Itripffl
hev
©e)uerbe=ü'evutation be§ SKagiftratS
jtt Berlin
nun Ketdj»gefeij befreffenb bie üranften-
uerfuherung ber Arbeiter
00m 15 Snni 1883.
tt e b ft einem Abbruefe biefeä ©efe^et?.
.perauögegeben uon
8c 0 Ahigbau Dr. jnr. fttidiarb ftrcunb,
O.U ag iftvatö = 31 ff eff oren 311 ©evlin.
Jp e f t I unb II.
gr. 8°. 3 93t. 75 $f.
Im Verlage von Rud. Petrenz, Neu-Ruppin erschien:
Jäger, A., Pastor in Werder, F M* Cy • 2 Bde. M. 6. — .
I. Ein Schlüssel zur Prophetie des Neuen und Alten Testaments.
II. Die sociale Frage im Licht der Offenbarung, in der Geschichte der Völker und im
Irrlicht der Zeit.
Socialpolitische Rundschau: DemJHerrn Verfasser kann das grosse Verdienst nicht abgesproclien werden, dass er
eine Seite der socialen Probleme aufzog, die bisher noch wenig berührt wurde. Er hat einer socialpolitischen Anschauung Bahn
gebröchen, die vielleicht noch weitere Kreise zieht.
Märkische Zeitung: Er zieht die Geschichte wie die Bibel in ihrem ganzen Umfange zu Rat, indem er die Beziehung
zur Gegenwart stets in lebendigem Fluss hält. Auf diese Weise ist es ihm gelungen, eine ebenso belehrende wie Vertrauen er-
weckende Wirtschaftsgeschichte zu schreiben und sich ein kritisches Urteil zu bilden.
Westfälisches Sonntagsblatt: Die theologische christlich-sociale Litteratur hat in der Gegenwart kein Werk, welches
an Tiefe der Auffassung des socialen Inhalts der heiligen Schrift und an umfassender Kenntnis der socialen Verhältnisse der in
der Geschichte bekannten Völker diesem Werke gleichkommt.
3m Vertage non ©corg «Reimer in Söcrlin erfdjeineit:
füxufttfiije SlaÖfbüdjcr.
■fperaudgegeben
Don
faitö TW'Un'iulu
(lÄnafeldirtfl für Politik, ©eJtfjtrfjfe, Kunft unk Jifrratur.)
IPT ä)!on«tltd) ein \icft. "Wü
5Han abonnirt (jalbjäljvUd) für 9 SDforf bei affen Snd)banbluugen tmb fßoftämtern.
3m 2. Sabrgange erfcfjentt, oon auBergemöbnlidjem Erfolge begleitet
bie geil» unb ©treitfcfjrtft
X'ns ghMngigfte 3«l>rlmnderl.
©entfdjnationale 3DI onatöt)efte für fopated 'geben, «politif, äßiffenfdjaft unb
gitteratur. .öeraudgegeben ooit Grumt Sönuer, oerlegt oon .^atti £i'tften=
ö&er in Sierlin W 35. 33 i ert eXfä b rli cf) 3 je 8 Sogen ftarfe .Oefte für 911.2,50.
£n begieben burd) affe Sudgumblnngeu nnb ißöftanftalten
3$erlag oon Siemenroti) & äöorntd in Sjcrlitt, «BBitCjelrnftr. 129.
2Str empfehlen 311m Slhonnement:
®te SlrluMteroBerforgnug.
©Ertlral-Prpan für bas grfammfr Kranken-, Unfall-, Itnnalibtfäfs- unb
JRlfrrs-Bßrftrljrrungsrorfrn int ©rntfrljrn Brtdir.
.peraudgegebeu oon Dr. jur. Bonipntann.
IX. 3aU'9an3- 93touatlid) 3 «Rummern 1— P/2 Sogen ftarl. fßreil 'balbiä^rXid) 6 93t arf.
Sitte tpoftümtcv mtb itud) liauMuuacu «eljutcit SBcftetlutficn an.
3nbatt: Slbbanbtnngen nnb Sefprecbungen iotrf)tiger fragen au^ allen Gebieten ber ge*
fammten 9lrbeiter=Serfid)ernng, Entfärbungen nnb Serfügnngen ber oberen nnb unteren Ser*
roaliimgsbebörben, ber Geridge bed 3teid)d=' nnb ber ganbedüerfidjerungdämter n. f. 10., Seant*
mortnng oon Anfragen int Srieftaften.
^ ro b ert n tttm cm portofrei* "3PII
3m Sertage oon f^nlm & Gnfc in ©rlnngcn ift erfebieneu:
"ä ü m m v n t a r *»
jnnt ©rfrü turnt' 22. Hunt 1889,
bie
Unimlttntäfs- uttfr Blfn^trcvltdinitn u
betreffenb,
ooit
Dr. Xndürig 3fuld,
iRedjtäanmalt in SDtatnj.
gr. 8Ü (VI n. 561 ©eiten.) geheftet 10 50t f. 40 fßf.
Hrtbeit ber Sertiner ©eridjtdgeituug 1890 9fr. 55:
t,: ; • • Sefottberd benebtenetoertb erfdjetnt, baff bie genaueften, bnrd) Setfptele erläuterten
Stuffd)iüffe über bie Skrecbnungcit gegeben merben. ©ie Stnmerfnngen finb nid)t jjerftücfelte
Studeiuanberfetmugen ju einzelnen Sßorten, fonbern geben ftetd eine bad Ganse überblicfenbe
©arlegnug. 2Bir empfehlen ben Kommentar ber befonberett Seaditiutg."
Sertag oon JUtnrkrr & Bnmblot in geipgig.
©oorrg 3frirdrirf{ Rttapp, ©ie ganbarbeiter
tu g'ned)tfd)aft unb Freiheit Sier Sorträqe
1891. Sßreid ca. 2 93 t.
Ifrinrttg BrrUnrv, ©ie fociate «Reform ald
Gebot beo ioirtt)'d)aftIid)en gortfdirittd. 1891
Sßreiö 2 93t. 40 ißf.
Begriffen des Bereitts für Gnctalpolifilt.
49. Sanb: ©ie .öanbcldpolitif ber ioid)tigereit
Ü'nttnrftaaten in ben lebten 3 .djrgebnten i
Sanb. 9t, n. b. ©.: ©ie jöanbeldpolitif
9torbamerifad, Statiend, ©efterretdjä, Seb
giend, ber Dftebertanbe, ©änemarfd, Sdpne*
bend nnb 9formegend, afnfffanbd nnb ber
tedpuets, foiote bie bentfdje ^anbetdftatiftif
oon 1880 bid 1890. «ßreid 13 931.
— ©affetbe. 50. Sanb: ©ie .öanbetdpotitif :c.
2. Sanb, 9t. n. b. ©. : ©ie 3bee" ber beut*
fajett .öanbeldpotitif oon 1860—1891 Som
Srof. Dr IDalthov Xof? in 93iüncben. Sretd
4 93t. 60 «Pf.
Bn-ntann Xofrfj, Nationale
nationale Sernfdgtiebernna.
6 93?. 9
fßrobnftton unb
1891. ißretd
X|rtnvtdi mtriut, ©ie äßirfungen ber @t.
Gottbarbbabn. t©.=9(. and ©dimoüer’d 3abr=
bud). 1891 «Preis 2 9)f. 40 Sf-
Verlag üoit G, S. ^trft^felb in Seidig.
&imeiU 3fraiu'it
Ittn- üuEtifimiferl Jal|ven
(an Essajr on Projects)
oon
Daniel Defoe
869 J.
Ueberfeiit oon 0 u g o 3 i f d) e r.
f3vcts M. 2.40.
J. (Bxtftontag, Sertagdbpfibanbluug in Serlin.
Exirif0-(®|texi&E-Xh‘ünnniB
u e b ft 91 it ä f ii b r n tt g § b c ft i ut nt u li gen.
= Brurfte Xalftutg kos ©Efrifrs.
©ej;h9tudgabe mit 9tnmerfungen nnb ©ad)regifter
DO II
©. ^51). Söergcr,
SReflicvmtnSvatt).
C*' t f t C j( 1t T 1 g g t‘.
©afd)enformat; cart. 1 93f. 25 Sf-
tuvxnUcmtcvrtd|i'vunaBai'fe^
(ootit 15. Smk 1883)
und dir dajfrlbr rrgänjtrndrtt rricfis-
gcftfjlitftrn Brjfimntungrn.
93dt Einleitung nnb Erläuterungen
BOlt
t£. »on U)nrtiflte,
Kaifevl. ©et). Sbcr^SRegierLitgärättj, oortvag. 'Jiattj mfSRetd;«o
amt bt'ä Ämtern.
dritte »cruteljrtc Stufltage.
gr. 8°. 9 93t., getmnben io 93f.
’mmumuuuuuuumumuuuuuuummuummmbkmuHmm
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung in Berlin SW. 48.
ARCHIV
für
SOZIALE GESETZGEBUNG UND STATISTIK.
Vierteljahresschrift
zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder.
In Verbindung
mit einer Reihe namhafter Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben
3. (riultetttag, SßevXaqöbiict)t)anbIung in Söertin.
Tas 9icd)t
ber
Hvltettnamluticntna.
9ür Sljeorie 1111b ißrajriö fi)ftematifd) bargeftettt
HO II
Dr. 9tofin,
orb. spvof. für Stoatävcdit 1111b beutfdies SKedji a. b.
Uninerfität jyrdbuvii i. 33.
Gaffer 23anb:
®te reicfysredjtlidjeit ©nutblagen ber
iHrbeiteruerjtdjerimg.
ßvfte liub äioeite Slbtfjeilnng. 8°. 9 3)t. 50 5ßf.
Sai> gefammte SBerl ruirb in äinei 33änbe
jerfafleni non benen ber erfte „bie reid)3red)t=
lictjen ©rnnblagen ber Slrbeitemerfidjerung''
betjmibeln, ber geeite aber in brei Steilen bie
iiranfem, ttnfalh, fonrie bie 3noaIibitätö= unb
Sllteronerfidjernng jur Giinetbarftetlnng bringen
fall.
Dr. Heinrich Braun.
Das Archiv erscheint in Bänden von ca. 40 Druckbogen
Lex. 8°. in 4 Heften.
Band IV im Erscheinen.
Abonnementspreis pro Band M. 12. — . Einzelne Hefte AL 4.— .
Abonnements nehmen alle Buchhandlungen Deutschlands und des
Auslandes sowie die Verlagshandlung und die Postanstalten entgegen.
Auch ist jede Buchhandlung in der Lage, die bisher erschienenen Bände
resp. Hefte zur Ansicht vorzulegen.
Probehefte stehen auf Wunsch gratis und franco zu Diensten.
3. löuttrntag, S5evlagc'bud)t)anblimg in SBerltn.
SDaS 9tocf)!j(]efe£
betveffenb bie
iMliiiitnte- tiuö |lto-
raftdjtning.
93om 22. 3U11< 18S9.
SejbSIudgabe mit Stninerfiuigen unb ©adjregifter
UOlt
6-. tum SEBocbtfe,
Knifevl. OSct). £6cr*9legierunqöratfj unb rovtrag. Statt) im
Sicicfjäanit bcS 3nr.evn.
Vierte ‘ituftaae.
2afd)eufonnat; cart. 2 9Ä.
üuuimuum htuamumui
Verlag von Leonhard Simion in Berlin,
SW., Wilhelmstrasse 121.
ErGschiGhtc der Neuesten Zeit
1815—1885
von
Prof. Constantin Bulle. |
t Bände. 1&87. Preis brosch. [20 .1/., <jeb. 24 31.
„Bulle’s G-escliiclite der Neuesten Zeit ist
durchaus vom Standpunkte der Wissenschaft-
aus geschrieben, soweit bei Beschaffenheit
des Quellenmaterials eine wissenschaftliche .
Behandlung möglich ist. Ein besonderes
Geschick bekundet der Verfasser in der
kurzen aber scharfen Characterisirung der
handelnden Personen.“
Jenaer Literaturzeitung.
„Wenn von den zahlreichen Darstellungen
der neuesten Geschichte irgend eine em-
pfohlen zu werden verdient, so ist es die-
jenige Bulle’s. Besonders der Jugend, die
oft mit einer erschreckenden Unwissenheit
hinsichtlich der neueren und neuesten Zeit-
ereignisse ins handelnde Leben tritt, kann
kaum eine nützlichere Gabe mit auf den
Weg gegeben werden.“
Prof. Dr. A. Stern (Bern) £
„(Nation“, 1887 No. 44). fc
Soeben ift im «Berlage öon $«lm & @nfe in frlnugeu erfd)ienen unb burd) jebe 23ud)=
Ijanblnng 311 begieljen:
Sie
3)eittid)e ©euterkorbiutitg
in brr JHTumi
ÖOltt
1. ^uli 1883 unb 1. Smri 1891
ncldf ben djttiff eit brs Hetdjesu
(Erläutert oon
Dr. jui\ ^uliu§ Ghtgelmamt.
3»»citc SCuflage.
gr. 8° (IX, 355 nnb CVIII ©eiten) get). 6 9)ff.
JUT* Sa3 „ßentralblatt für SSerroattnngäprajiä" urteilte f. 3. über bie (Srfte Sluftage;
„Ser oorliegenbe Kommentar ift unftveitig bie befte Searbeitmtg, meiere
bie Sentfd)e ©emerbeorbnnng bi<3f)er gefnttben t)nt."
ferner:
Mt Kaljtstmliälfmftß
ber
'llrbeitgcbcr nnb Ülrbritncbmer
mid) bent ^tetcfjSgefek
öont
1. 1891
(Eitrl VII brr JHntlltljrn ©rnirrbrnrbnung).
(Erläutert non
Di*. Jul*. Julius Cüngelntamt.
gr. 8 (IV nnb 74 ©eiten.) tpreiä: 80 fßf.
Verantwortlich für den Anzeigenteil : Dr. Otto Eysler in Berlin. — Druck von II. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 11. Januar 1892.
Nummer 2.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber : Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Die A r b e i t e r s c h u t /. g e s e t /. g e -
bungbeim deutschen Berg-
bau. Von Dr. Leo Verkauf.
Arbeitevzustände :
Ueber die Abnahme der Arbeits-
kraft. Von Prof. Dr. Heinrich
Herkner.
Eine „Musterarbeitsordnung“ für
Bergwerke.
Das Tabakmonopol und die Lage
der ungarischen Tabakarbeiter.
Ueber die Ausnützung der Ar-
beiter in den Nahrungsmittel-
gewerben.
Die Arbeitsdauer in den Mainzer <
Zigarren- und Tabakgeschäften.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Ein Strike der Bierbrauergehilfen
in Bayern. Von Martin Segitz.
Der deutsche Buchdruckerausstand.
Bergarbeiterausstand in Steiermark.
Der schweizerische Grütliverein.
Die französischen Tabakarbeiter
und Tabakarbeiterinnen.
Gewerkschaft der Kleider- und
Wäschenäherinnen.
Das französische Arbeitersekretariat.
Arbeitsbörsen.
Die privaten Stellenvermittlungs-
Bureaux in München.
Die Neunstundenbewegung der
Buchdrucker in der Schweiz.
Unternehmerverbände :
Krisis im rheinisch-westfälischen
Walzwerkverband.
Der Stickereiverband der Ost-
schweiz.
Handwerker fra gen :
Die Bauhandwerker und die Hy-
pothekenordnung. Von Dr. Leo
Arons.
Lehrlinge und Arbeiterorganisa-
tionen.
Befähigungsnachweis.
Arbeiterschlitzgesetzgebung:
Der französische Gesetzentwurf
betr. die Kinderarbeit. Von
Prof. Raoul fay.
Der Entwurf einer Gesindeordnung
in Sachsen.
Normalarbeitstag und Minimallohn
bei öffentlichen Arbeiten in
Holland.
Sonntagsruhe im Handelsgewerbe.
Gewerbeinspektion :
Eisenbahn-Inspektoren.
Arbeite rversicherung :
Hausgewerbe und Versicherungs-
pflicht.
Staatliche Unfallversicherung in
Russland.
Gewerbegerichte , Einigungs-
ämter u. Arbeiterausscniisse:
Die Errichtung gewerblicher
Schiedsgerichte in Deutschland.
Kaufmännische Schiedsgerichte.
Arbeiterausschüsse bei den preussi-
schen Staatsbahnen.
Wohnungszustände und AVoh-
nungsgesetzgebung :
Behördliche Massnahmen zur
Wohnungsfrage.
Statistisches über Wohnungsver-
hältnisse.
Armenwesen:
Versicherungsgesetze und Armen-
wesen.
Prostitution :
Eine Randglosse zur Prostitutions-
frage. Von Dr. B. Schoenl ank.
Soziale Hygiene:
Die amerikanische Trichine und die
Trichinenschau. Von Dr. F. L.
S i nt o n.
Litt er atu®
WörishofFer, Die soziale Lage der
Fabrikarbeiter etc. (H. Herkner.)
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Arbeiterschutzgesetzgebung beim
deutschen Bergbau.
Schon in den nächsten Tagen dürfte dem preussischen
Landtage eine Regierungsvorlage zugehen, welche Reform-
vorschläge zu Gunsten der Bergarbeiter enthalten soll.
Im gegenwärtigen Momente kann auf den Inhalt dieser
Vorlage von der Publizistik ein Einfluss wohl kaum geübt
werden; es verlohnt sich aber trotzdem festzustellen, nicht
nur, welches der gegenwärtige Zustand der Gesetzgebung
ist, sondern auch, welche Forderungen im Interesse der
Bergarbeiter erhoben werden müssen. Dies wird die Hand-
habe für eine prinzipielle Kritik der erwarteten Vorlage
ergeben, während eine ins Detail eingehende Erörterung-
später folgen wird.
Vorerst müssen wir uns dagegen aussprechen, dass
die Arbeiterschutzgebung beim Bergbau den Einzelstaaten
überlassen bleibe. Pflicht des Reiches ist es, hier bahn-
brechend voranzugehen und bei Regelung des Verhältnisses
zwischen Werkbesitzern und Arbeitern jene Gleichheit der
Produktionsbedingungen herzustellen, die ein Lebens-
bedürfniss für die Industrie ist. In einer Zeit, in welcher all-
gemein nach internationaler Regelung des Arbeiterschutzes
gerufen wird, kann innerhalb der Grenzen des deutschen
Reiches dem Bergbau eine bunte Mannigfaltigkeit von
Vorschriften nicht zugemuthet werden.
Bei der Darstellung des gegenwärtigen Zustandes der
Gesetzgebung wird deshalb neben Preussen auch das
Königreich Sachsen berücksichtigt werden. Diese beiden
Länder beschäftigten im Jahre 1890 über 92% der gesammten
Belegschaft des deutschen Bergbaues; die Förderung er-
streckte sich auf 94% des Produktionswerthes. Daraus er-
gibt sich die geringe Bedeutung aller andern deutschen
Staaten auf dem Gebiete des Bergbaues.
Heute ist bereits ein Theil des Arbeiterschutzes durch
Reichsgesetz, die Gewerbeordnung, geregelt, während ein
anderer Theil durch das allgemeine Berggesetz für die
preussischen Staaten vom 24. Juni 1865 und das kgl. säch-
sische Berggesetz vom 16 Juni 1868, sowie durch vielfache
Polizeiverordnungen der Bergbehörden seine Regelung ge-
funden hat. Betrachten wir die Bestimmungen im Ein-
zelnen !
Während das preussische Berggesetz keinerlei Vor-
schrift zum Schutze der Frauen enthält, normirt die säch-
sische Ausführungsverordnung zum Berggesetze in § 79,
dass weibliche Personen weder zu Arbeiten in der Grube,
noch bei der Maschinenförderung oder bei der Wartung
von Maschinen verwendet werden dürfen. Im Verordnungs-
wege wurde auch für Preussen die Beschäftigung von
Frauen unter Tage verboten und dieses Verbot im
Jahre 1878 in die Gewerbeordnung aufgenommen. Erst
das Gesetz vom 1. Juni 1891 brachte nach überlanger
Stagnation einen erfreulichen Fortschritt: Die Nachtarbeit
wird untersagt, der elfstündige Normalarbeitstag eingeführt,
für Vorabende von Sonn- und Feiertagen zehnstündige
Arbeitszeit vorgeschrieben, die Beschäftigung von Wöchne-
rinnen durchs sechs Wochen nach ihrer Niederkunft ver-
boten und die Mittagspause für Frauen, die ein Hauswesen
zu besorgen haben, auf ihren Wunsch um 1 7s Stunden
SOZIALPOLITISCHES CENTRALRLATT.
No. 2
verlängert. Freilich legen die zahlreichen Ausnahmen die
Befürchtung nahe, dass der Fortschritt nur ein scheinbarer
sei, dass die Regel von den Abweichungen gerade beim
Bergbau überwuchert werden wird. Aber selbst bei
strikter Durchführung der gesetzlichen Bestimmungen
bleibt noch Mancherlei zu wünschen übrig; eine Reihe
von Arbeiten müsste als für den Frauenorganismus un-
geeignet ausdrücklich untersagt, die zehnstündige Schicht-
dauer normirt und für den Sonnabend eine nur 5- bis
östündige Arbeitszeit angeordnet werden. Es sind dies
Vorschriften, die der Coal Miners Regulation Act für Eng-
land schon lange verwirklicht hat, ohne die Entwicklung
des Bergbaues im Mindesten zu hemmen.
Die „Jahresberichte der kgl. preussischen Gewerbe-
räthe und Bergbehörden für 1890“ haben am unangenehm-
sten durch ihre Mittheilungen über das Anwachsen der Zahl
von jugendlichen Arbeitern überrascht. Während noch bei
der Gewerbezählung vom 1. Juni 1875 in ganz Deutschland
14 089 jugendliche Personen unter 16Jahren, demnach 3,2%
der gesammten Belegschaft, beim Bergbau beschäftigt
waren, steigerte sich die Zahl dieser Arbeiter im Jahre
1890 fürPreussen allein auf 20 845, das ist 5,7% der Beleg-
schaft. Welches war dem gegenüber das bisherige Ver-
halten der Gesetzgebung? Während das preussische Berg-
gesetz überhaupt keinerlei Vorschrift enthält, untersagte
das sächsische die Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren
gänzlich, verbot den 12— 14 jährigen die Arbeit unter Tage und
gestattete die Beschäftigung der letzteren über Tage nur durch
zehn Stunden und zwar in der Zeit zwischen 5 Uhr früh und
8 Uhr Abends. Erst die Gewerbeordnung brachte auch
hier einen Fortschritt, indem sie für jugendliche Personen
von 14_16 Jahren Sonn- und Feiertags-, sowie Nachtarbeit
untersagte, den zehnstündigen Maximalarbeitstag vorschrieb
und die Einhaltung von Pausen forderte, endlich für Kinder
die Arbeitsdauer mit sechs Stunden normirte. Im Wege
von Polizeiverordnungen wurde überdies die Kinderarbeit
unter Tage verboten, für männliche Arbeiter unter 16 und
weibliche unter 18 Jahren gewisse Verrichtungen, wie
Haspelziehen, Karrenlaufen und dergl. als unzulässig er-
klärt. Die jüngste Novelle zur Gewerbeordnung hat das
Verbot der Beschäftigung von schulpflichtigen Kindern unter
14 Jahren auch über Tage ausgesprochen.
Auch hier bleibt sonach noch viel zu thun übrig.
Die grosse Schädlichkeit der Bergbauindustrie für den jugend-
lichen Organismus, die Thatsache, dass die jugendlichen
Personen unter 20 Jahren die ohnehin grossen Gefahren in
den Gruben für die andern Arbeiter wesentlich erhöhen,
lassen den Ausschluss wenigstens von 18jährigen Personen
von allen Arbeiten unter Tage als nothwendig erscheinen.
Aber auch über Tage muss eine Reihe von besonders an-
strengenden und gefährlichen Hantierungen verboten, und
der Zehnstundentag auf alle Arbeiter unter 18 Jahren aus-
gedehnt werden.
Bisher war die Sonntagsruhe beim Bergbau nur auf
Grund von Polizeiverordnungen geregelt, erst die Novelle
vom 1. Juni 1891 brachte das gesetzliche Verbot der Sonn-
und. Feiertagsarbeit. Auf diesem Gebiete erübrigt heute
nur der Wunsch, dass von den zahlreichen Ausnahme-
bestimmungen spärlicher Gebrauch gemacht werde. Daran
reiht sich der weitere, dass die Zahl der Menschenopfer,
die der frühe Beginn der Sonntagsarbeit fordert, durch
Verlängerung der Sonntagsruhe auf 36 Stunden gemindert
werde.
Während die alten Bergordnungen die Schichtdauer
genau regelten, überlassen die modernen Berggesetze die
Festsetzung der Arbeitszeit der Vereinbarung zwischen
Werkbesitzern und Knappen. Die Folgen waren, wie die
amtliche „Denkschrift über die Untersuchung der Arbeiter-
und Arbeitsverhältnisse in den Steinkohlenbezirken“ ergibt,
die denkbar betrübendsten: weitgehende Verlängerung der
Schichtendauer, unter abwechselnder Einlegung von Ueber-
schichten und Feierschichten. Diesem anarchischen Zu-
stande, der die Gesundheitsverhältnisse grosser Bevölke-
rungskreise gefährdet, darf der Staat nicht länger unthätig
zusehen. Bisher hat man sich damit begnügt, in Gruben,
in welchen eine Temperatur von mindestens 29 5 oder 30° C.
herrscht, die Arbeitsdauer auf sechs Stunden zu bestimmen,
für Personen, von deren Thätigkeit Leben oder Gesundheit
anderer Werkarbeiter abhängig ist (Anschläger, Abnehmer,
Maschinen- und Kesselwärter u. s. w.) eine längere Arbeits-
zeit, als die normale Schichtdauer zu untersagen. Wie
völlig unzureichend solche Bestimmungen sind, braucht
nicht erst gesagt zu werden. Die gesetzliche Einführung
der Achtstundenschicht ist ein Gebot staatlicher Nothwen-
digkeit. Dass dadurch die Konkurrenzfähigkeit auf dem
Weltmärkte nicht beeinträchtigt würde, ist kaum zu be-
zweifeln. Als ernsthafter Gegner kann überhaupt nur Eng-
land in Betracht kommen, wo aber die Arbeitszeit sich
zwischen 7 Stunden in Northumberland und Durham und
10 und 1 01/« Stunden im Glasgow- und Bristolbezirke sowie
in Südwales bewegt ohne dass die zuerst erwähnten Re-
viere in ihrer grossartigen Entwickelung auch nur den ge-
ringsten Schaden genommen und an Exportfähigkeit etwas
eingebüsst hätten Schon die bisherigen Ergebnisse der
Unfallstatistik würden eine exzeptionelle Behandlung der
Frage der Schichtdauer beim Bergbau rechtfertigen. Hat
sich ja gezeigt, dass in den Monaten der stärksten Förde-
rung — September bis Januar — in welcher die meisten
Ueberschichten verfahren werden, die Zahl der Unfälle die
grösste ist.
Der Umstand, dass für die Arbeiten unter Tage das
Gedingesystem (Akkordlohn) vorherrscht, hat zu einer ;
Reihe krasser Uebelstände geführt, welchen die Gesetz-
gebung bisher unthätig gegenüberstand. Schon die Fest-L
Stellung des Gedingesystems ist eine sehr schwierige, da
sie von vielfachen Umständen, der Mächtigkeit und Reinheit
der Flötze, der Härte der Kohle und des Nebengesteins, der
Temperatur und Nässe, der Länge der Förderbahn u. s. w. ;
abhängt. Dazu gesellt sich nun noch, dass das Gedinge •
nach der Zahl der geförderten Wagen, also nach Raum-
inhalt, bestimmt wird, und dass die Wagen, welche unreine
Kohle enthalten oder nicht ganz gefüllt sind, der Kamerad-
schaft nicht bezahlt, vielmehr genullt werden und zu Gunsten
des Werkes verfallen. Ueberdies werden aber auch noch
zuweilen strafweise gut gefüllte Wagen gestrichen und
Geldbussen verhängt. Das „Nullen“ wird so zu einem Mittel,
das Gedinge einseitig herunterzudrücken. Wurde ja amtlich
konstatirt, dass auf manchen Zechen selbst bei günstiger
Konjunktur bis zu 25°/0 der geförderten Wagen dem „Nullen“
verfielen.
Diese schwere Benachtheiligung der Bergleute Hesse
sich wie in England durch zwei Massnahmen beseitigen.
Es müsste einerseits an Stelle des Gedinges nach Raum-
inhalt ein solches nach Gewicht gesetzlich vorgeschrieben
werden, ein System, das sich als leicht durchführbar
erwiesen und selbst für die grössten Gruben keinerlei Nach-
theile im Gefolge gehabthat. Andererseitsmüsste den Arbeitern
das Recht eingeräumt werden, Wiegekontrolleure auf ihre
Kosten einzusetzen, welche den Vorgang beim Abwägen
der Kohle wie der Verunreinigung zu überwachen hätten.
Eine andere Eigentümlichkeit der deutschen Kohlen-
industrie, welche die Unsicherheit des Verdienstes wie das
Misstrauen der Arbeiter in gleicher Weise steigert, besteht
darin, dass die Förderwagen nicht geaicht werden und
überdies von verschiedener Grösse sind. Dass dadurch Miss-
bräuche ermöglicht werden, und dass solche thatsächlich auch
No. 2.
S( y/A AI TOLITI S( '.I ( ES CENTRAI .Bl .ATT.
19
vorgekommen sind, steht fest. Das allein sollte wohl genügen,
um die amtliche Aichung als nothwendig erscheinen zu lassen.
In Verbindungmit der Einführung des Gedinges nach Gewicht
müsste auf jedem Kasten das Gewicht desselben ersichtlich
gemacht werden.
Zu den bisher erwähnten Uebelständen tritt im Ruhr-
kohlenrevier ein weiterer, der sog. Füllkohlenabzug. Ergibt
sich zwischen Gesammtförderung und verkaufter Kohle eine
Differenz — und die Lagerung, die Verladung, der Trans-
port, die nasse Aufarbeitung sorgen dafür, dass sie sich
ergiebt — so muss das Manko von den Bergleuten getragen
werden, es wird ihnen verhältnissmässig vom Lohne in
Abzug gebracht. Man braucht wohl kein Wort darüber
zu verlieren, dass dieser Vorgang ein rechtswidriger ist.
Selbst die „Denkschrift“ muss zugeben, dass dadurch „eine
unnöthige Verdunkelung in die Lohnwirthschaft hinein-
getragen wird“. Die Untersagung dieses merkwürdigen Vor-
ganges scheint ein Gebot der Billigkeit zu sein.
Während für die erwachsenen gewerblichen Arbeiter
das obligatorische Arbeitsbuch lange schon beseitigt ist,
darf der Bergmann auch heute noch ohne Abkehrschein,
in Sachsen ohne Arbeitsbuch, nicht zur Bergarbeit angelegt
werden. Der ursprüngliche Zweck dieser Bestimmung, die
Anlegung von gelernten und erfahrenen Knappen zu den
gefährlichen Grubenarbeiten zu erzwingen, ist heute weg-
gefallen. Dem Werkbesitzer steht jetzt das unbestrittene
Recht zu, nach seinem Belieben und ohne Rücksicht auf
das Maass vorhandener Erfahrung Arbeiter anzulegen, ein
Recht, von dem bei jeder aufsteigenden Konjunktur reich-
licher Gebrauch gemacht wird. Damit haben aber Abkehr-
schein und Arbeitsbuch lediglich einen disziplinären
Charakter angenommen, den Werkbesitzern ist eine Waffe
in die Hand gegeben, die zur missbräuchlichen Benutzung
geradezu auffordert. In der That sind die Klagen über
Missbräuche sehr zahlreich, und schon deshalb fordern die
Bergleute mit Recht die völlige Beseitigung des Abkehr-
scheines wie des Arbeitsbuches, die Gleichstellung mit allen
anderen gewerblichen Arbeitern. Es darf Privatpersonen
nicht die Macht eingeräumt werden, die Existenz miss-
liebiger Arbeitern zu vernichten, sie — wie es vorgekommen
ist — selbst aus der Heimath zu vertreiben.
Während das sächsische Berggesetz für Bergwerke
mit einer Belegschaft von mehr als zehn Personen eine
Arbeitsordnung vorschreibt, welche der behördlichen Ge-
nehmigung bedarf und eine Reihe von Fragen behandeln
muss, insbesondere aber auch jedes Uebermaass in den
Strafbestimmungen vermeiden soll, überlässt es das preussi-
sche Berggesetz auch hier dem Belieben der Werkbesitzer,
eine Arbeitsordnung einzuführen oder nicht und deren In-
halt nach eigenem Ermessen zu gestalten. Es genügt,
wenn die Arbeitsordnung der Bergbehörde zur Kenntniss
gebracht wird. Solch ein Zustand, bei dem das Ermessen
der Werkbesitzer den Inhalt des Arbeitsvertrages bestimmt,
kann unmöglich fortbestehen. In erster Reihe muss die
■ Arbeitsordnung zu einer obligatorischen Einrichtung wer-
den; aber auch auf ihren Inhalt muss die Gesetzgebung
wie die Verwaltung Einfluss gewinnen. Dazu genügen die
mangelhaften Bestimmungen der Gewerbeordnung nicht.
Besserung ist unter den heutigen V erhältnissenjnur zu erwarten,
wenn einerseits gesetzliche Grenzen für die einzelnen An-
ordnungen der Arbeitsordnung gezogen, andererseits aber
den Behörden das Recht gewahrt wird, die Prüfung der
Bestimmungen nicht nur vom Standpunkte des Gesetzes,
sondern auch von dem der Zweckmässigkeit vorzunehmen.1)
I, .') Wie unumgänglich die Erfüllung dieser Forderung ist,
J.ewejst die im Folgenden unter der Rubrik: Arbeiterzustände
iabgedruckte „Musterarbeitsordnung11 des Vereins für die berg-
baulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund.
Als eine der wichtigsten Forderungen an die gesetz-
gebenden Faktoren erscheint uns die nach Einführung
einer gut organisirten und entsprechend besetzten Berg-
werksinspektion. Die Bergbeamten, welchen heute die
Aufgabe obliegt, die Sicherheit der Gruben sowie die Ein-
haltung der Arbeiterschutzgesetze zu überwachen, sind mit
vielfachen Agenden so sehr überlastet, dass ihnen für die
Inspektionsthätigkeit die erforderliche Zeit nicht erübrigt.
Ohne eine tüchtige Inspektion ist aber die beste Arbeiter-
schutzgesetzgebung werthlos.
Unsere Ausführungen haben gezeigt, in welchem
Maasse reichs- und landesgesetzliche Vorschriften durch-
einander laufen, aber auch wie mangelhaft beide heute
noch sind. Für die deutschen Bergleute, deren Zahl im
Jahre 1890 391153 betrug und die den allergrössten Ge-
fahren bei ihrem Berufe ausgesetzt sind, ist bis heute weit
weniger geschehen, als für jede andere Kategorie gewerb-
licher Arbeiter. Es ist an der Zeit, dass man nicht nur der
Produktion, sondern auch den Produzenten einige Aufmerk-
samkeit zuwendet. Dem Reiche würde es geziemen, hier
energisch vorzugehen und jahrelange .Sünden endlich gut
zu machen.
Leo Verkauf.
Arbeiterzustände.
Ueber die Abnahme der Arbeitskraft.
Während in den Berechnungen der Unternehmer die
Abnützungsquote der Maschinen ein entscheidendes Item
bildet, denkt kaum jemand daran, die Abnutzung, welcher
die Arbeitskraft unserer Arbeiterbevölkerung heute ausge-
setzt ist, in Anschlag zu bringen. Mit der Arbeitskraft der
Bevölkerung kann Raubbau getrieben, sie kann in tollem
Konkurrenzkämpfe durch Hungerlöhne und übermässige
Arbeitszeit verschleudert und verschwendet werden.
Solange man über die Abnutzung der Arbeitskraft
keine genauen statistischen Daten Vorbringen kann, ist es
ja gewiss misslich, an dieser Frage zu rühren. Nun haben
aber zwei sozialstatistische Untersuchungen, die vor Kurzem
erschienen sind, eine Reihe von Ziffern geliefert, welche die
rasche Abnutzung der Kraft unserer Arbeiter in ein helles
Licht rücken.
Die eine Untersuchung ist vom badischen Fabrik-
inspektorate unternommen worden und erstreckt sich auf
8375 männliche Fabrikarbeiter der Mannheimer Gross-
industrie. Einen Schluss in betreff der Abnahme der
Leistungsfähigkeit kann man in der Weise ziehen, dass
man den Altersaufbau dieser Arbeiter vergleicht mit dem-
jenigen der übrigen Bevölkerung. Nimmt man auf beiden
Seiten die Altersklasse von 20 — 40 Jahren zum Ausgangs-
punkte, so ergeben sich folgende Verhältniszahlen:
nur
Grossherzogthum
%
20 — 40 Jahre alt 100
40—50 „ ,, 42,1
50—60 „ „ 29,6
über 60 ,, „ 30,8
Mannheimer
Fabrikarbeiter
%
100
19,7
8,9
2,4
Es erhellt demnach, dass im Alter von 40 — 50 Jahren
noch etwa die Hälfte der Arbeiter sich in der Fabrik
befindet; mit dem 50. Lebensjahre und darüber ist sogar
die ganz überwiegende Mehrheit der Arbeiter aus der
Fabrik ausgeschieden. Das Ausscheiden aus der Fabrik
kann verschiedene Ursachen haben. Die Arbeiter können
ausgewandert oder zu anderen nicht in das Beobachtungs-
gebiet fallenden Beschäftigungen übergegangen sein. Nach
Ansicht des Berichterstatters dürfte aber das Ausscheiden
aus diesen Gründen in beträchtlichem Umfange nicht anzu-
nehmen sein. Man muss vielmehr daraus schliessen, dass
20
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 2.
entweder die Sterblichkeit der Fabrikarbeiter weit höher
ist als diejenige der übrigen Bevölkerung, oder aber, dass
ein grosser Theil der Arbeiter bereits in frühen Jahren
wegen zu weitgehender Abnutzung der Arbeitskraft durch
jüngere, leistungsfähigere Elemente ersetzt wird. In jedem
Falle aber liegt die rasche Abnahme der Arbeitskraft klar
zu Tage.
Noch werthvoller sind die Berechnungen, welche sich
auf Grund der „Nordböhmischen Arbeiterstatistik“, einer
von der Reichenberger Handels- und Gewerbekammer ver-
anstalteten Erhebung, aufstellen lassen. Die folgenden
Reihen stellen den Altersaufbau der männlichen Bevölkerung
Oesterreichs einerseits und denjenigen der 57 867 Individuen
zählenden männlichen Fabrikarbeiterbevölkerung des
Reichenberger Kammerbezirks andererseits dar. Zum
Ausgangspunkte sind die Angehörigen der Altersklasse
16 — 20 Jahre gewählt worden. In der fünften Kolonne
findet sich noch der durchschnittliche Wochenverdienst der
Stücklohnarbeiter der nebenstehenden Altersklassen. Auch
diese bringt ja die abnehmende Leistungsfähigkeit der
Arbeiter genau zum Ausdrucke:
Mannl.
in %o
Die neben-
stehenden Alters-
Durchsch nittl.
Männl.
klassen der Fabrik-
verdienst
P abrikarbeiter
mehr (-t-J oder
weniger (— ) Ange-
der mannl.
Nordbohmens
Stücklohn-
>n %o
hörige, als die-
jenigen der übrigen
Bevölkerung
arbeiter
fl.
16 — 20 fahre alt
1000,0
1000,0
- 50,2
21 -25 „
1
931,1
880,9
26—30 „
784,3
968,0
-f 184,0
31—35 „
726,4
724,9
— 1,5
36—40 „
684,1
638,1
— 46.0
41—45 „
628,5
472,6
— 1 15,9
46—50 „
526,9
395.2
- 131,7
51—55 „
455,5
274,5
- 181,0
56—60 „
’’ j
391,1
184.1
— 207,0
— 216,2
61—65 „
334,6
118,4
66—70 „
H !
V '
223,2
57,3
— 165,8
über 70 „
236,8
28,7
— 208,1
4,62
6,00
6,87
7,25
7,10
7,07
6,61
6.39
6,18
6,02
5,31
3,64
Sieht man von den für den vorliegenden Zweck be-
langlosen jüngeren Altersklassen ab, so zeigt nur die
Altersklasse 31—35 Jahre der Arbeiterbevölkerung eine mit
der übrigen Bevölkerung übereinstimmende Besetzung. In
dieser Altersklasse vermag der Arbeiter auch am meisten
zu leisten. Die Stücklohnverdienste, welche die Leistungen
ja getreu abspiegeln, stellen sich hier am höchsten. Mit
dem 35. Jahre aber nimmt die Besetzung der Altersklassen
bei den ' Arbeitern ebenso wie deren Verdienst rasch ab.
Nehmen wir an, dass die Sterblichkeit der Arbeiter mit
derjenigen der übrigen Bevölkerung übereinstimme — eine
Annahme, die freilich zu günstig ist — so würden auch in
Nordböhmen, da Auswanderung oder Uebergang zu anderen
Beschäftigungen wenig in Betracht kommt, von den Arbeitern
im Alter von 41—50 Jahren bereits ein Viertel, von den-
jenigen im Alter von 51—60 Jahren nahezu die Hälfte ihre
Stellung in der Fabrik bereits verloren haben. Auch hier
trifft der Ausspruch der badischen Aufsichtsbeamten zu:
„Die Arbeiter werden im Allgemeinen rasch alt“.
Von den Bevölkerungsstatistikern wird bekanntlich
grosser Werth darauf gelegt, dass innerhalb einer Nation
die Besetzung der „produktiven“ Altersklassen eine ver-
gleichsweise starke sei. Das Verhältnis zwischen den pro-
duktiven und nicht produktiven Angehörigen eines Volkes
muss aber alles Uebrige gleichgesetzt um so ungünstiger
werden, je rascher die Abnutzung der Arbeitskraft in den
jüngeren Altersklassen vor sich geht. So dürfte es denn
auch schon vom rein wirtschaftlichen Standpunkte aus ge-
rechtfertigt erscheinen, dass durch Einschränkung der
Arbeitszeit und Erhöhung des Lohnes der jetzt erschreckend
schnelle Verfall der Arbeitskräfte aufgehalten oder ver-
langsamt würde.
Freiburg i. B. Heinrich Herkner.
Eine „Mnsterarbeitsordnung“ für Bergwerke. Der
Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamts-
bezirk Dortmund hat in seiner Hauptversammlung vom 30. De-
zember 1891 gutgeheissen und den Zechen seines Bezirks
zur baldigen Annahme empfohlen, weil die Zechen nach
dem Inkrafttreten der revidirten Gewerbeordnung vom
1. Juni 1891 und der im preussischen Landtag zu beraten-
den Berngesetznovelle ohnedies Arbeitsordnungen einführen,
und dieselben ausserdem mit den Arbeitern vereinbaren
müssten. „ „ . . r ,
Da die Bergarbeiterenquete von 1889 (S. 34) u. A. fest-
stellte, dass auf den westfälischen Steinkohlengruben sogar
Geldstrafen von den Bergleuten eingezogen wurden, ohne
dass überhaupt eine schriftliche Arbeitsordnung vorhanden
war, so bedeutet das nun empfohlene „Muster“ immerhin
einen Fortschritt. Aber andererseits berührt es schon
eigentümlich, dass sich die Zechenbesitzer davor scheuen,
die Arbeitsordnung mit ihren Arbeitern festzusetzen.
Das jetzt einseitig von den Unternehmern beschlossene
„Muster“, welches in No. 99 des Vereinsorgans „Glückaul“
(12. Dezember 1891) veröffentlicht wurde, regelt I. den Ar-
beitsvertrag (Betriebsführer, 14 tägige Kündigung, 6 Ent-
lassungsgründe gegen den Arbeiter, 4 Gründe zum sotorti-
tio-en Verlassen der Arbeit gegen den Unternehmer). Hier
fällt u. A. auf, dass „Schmähungen“ nur dem Unternehmer
o-egen Arbeiter, nicht aber dem' Arbeiter gegen den Unter-
nehmer ein Recht zur sofortigen Auflösung des Arbeits-
verhältnisses geben, dass im Falle grundloser Entlassung
des Arbeiters der Unternehmer nur für die halbe Kündi-
guno-sfrist den Lohn auszuzahlen verpflichtet sein soll.
* & Abschnitt II regelt die Schichtzeit 8 stiindig (aus-
schliesslich Ein- und Ausfahrt) für Arbeiter unter Tage,
1 0 stündige für solche über Tage. Länger als die regel-
mässige Zeit haben die Bergleute zu arbeiten „bei vor-
handener Gefahr für das Leben von Arbeitern oder für die
Sicherheit und die ungestörte Unterhaltung des Be-
triebes, sobald sie von ihren Vorgesetzten dazu aufge-
fordert werden“. Unter III. Lohnberechnung ist wenigstens
bestimmt, dass eine Lohnherabsetzung den Arbeitern so früh-
zeitig»- mitgetheilt werden muss, dass sie von ihrem
Kündigungsrecht Gebrauch machen können. Bei theil-
weiser" Unterbrechung der Arbeit haben die Bergleute
keinen Anspruch auf Lohn. Veränderungen im Ausmass
der Förderwagen sind ihnen bekannt zu geben. Die
Lohnfrist wird auf volle anderthalb Wochen(!)
festgesetzt. Airschlagszahlungen soll es nur monatlich
weben. Abgezogen werden sollen „die Pf ennige, welche
bei Ermittelung des auszuzahlenden Restlohnes über die
Zehner hinausgehen“, und zwar der „einfacheren Aus-
lohnunghalber; man würde diese Bestimmung kaum glauben,
wenn man sie nicht im Zechenorgan schwarz aut weiss läse.
Sonst sind noch 8 Rubriken für Abzüge offen gelassen, u. A. ,
für Sprengmaterialien, „fahrlässig verdorbene“ Werkzeuge
und Lampen u. s. w. Im Entwurf des Veremsvorstandes
war wenigstens das üelgeld weggelassen. Der Vorstand
stand nach der „Köln. Ztg.“ auf dem Standpunkte, dass in
Zukunft kein Oelgeld abgehalten werden solle, da es ein
alter Zopf sei, solches zu berechnen. Es wurde betont,
dass der Bergmann der einzige Arbeiter sei, der seine Ar-
beitsstätte auf eigene Kosten erleuchten müsse. Aus der
Hauptversammlung vom 30. Dezember erhob sich jedoch
hierwegen starker Widerspruch, sodass beschlossen
wurde, die Kosten für das Geleuchte mit in die
Arbeitsordnung aufzunehmen. Denjenigen Zechen,
welche hiervon absehen wollen oder bereits das Oelgeld
abgeschafft haben, sei es überlassen, nach Belieben zu
handeln. Beschwerden wegen unrichtiger Lohnermittelung
werden unter eine Präklusivfrist von acht Tagen gestellt.
Strafgelder und Lohnabzüge werden für 12 Fälle ganz be-
sonders angedroht, u. A. wegen Zuspätkommens (ohne Zeit-
begrenzung), wegen „nicht sorgfältiger Arbeit“, wegen
Benützung anderer als für den Einzelnen bestimmten Ma-
terialien '"und Werkzeuge (!!), w»egen „Neckens“ oder
„Schimpfens“ der Mitarbeiter oder Grubenpierde (!!), end-
lich wegen „Belügens der Vorgesetzten“. Das „Nullen un-
reiner Wagen“ wird beibehalten, nur der einbehaltene Lohn
in eine Unterstützungskasse abgeführt, über deren Kontrolle
durch die Arbeiter Nichts gesagt ist. Die Kontrolle über
das Nullen können sie durch Delegirte „auf ihre Kosten1
und „ohne dass der Betrieb darunter leidet“ vornehmen
lassen. Gemeinschaftliche Beschwerden und Wünsche
„dürfen höchstens durch 3 Betheiligte“ bei dem Betriebs-
führer voro-ebracht werden. Dieser Auszug genügt wohl,
No. 2.
■SOZ I ALPOI , I TI SC) IKS CENTRALBLATT.
21
uni erkennen zu lassen, dass hier wieder Keime zu unver-
meidlichen Konflikten mit grossem Geschick gelegt sind.
Der Referent in der oben erwähnten Zechen Versammlung
sagte freilich (nach der „Köln. Ztg.“): „In Bezug auf die
Verträge sei der Arbeiter dem Arbeitgeber in der neuen
Arbeitsordnung gleichgestellt. Beim Nullen von Wagen
sei der Grundsatz der Gleichberechtigung sogar zu Gunsten
des Arbeiters verlassen, da die Gelder für die genullten
Wagen (eingehaltener Lohn) in die Unterstützungskasse
der Bergleute fliessen, die Grube also gar keine Entschä-
digung für die Reinigung der genullten Kohlen erhalte.
Wenn gegen das Nullen, wie es vor dem Ausstand geübt
worden, gearbeitet worden sei, so wäre solches zu Unrecht
geschehen, denn der bisher eingehaltene Lohn habe nicht
ausgereicht, um die Zeche zu entschädigen.“ Aber der
Text der „Musterordnung“ straft diese Aeusserung leider
Lügen.
Das Tabakmonopol und die Lage der ungarischen Tabak-
arbeiter. In den elf staatlichen Fabriken wurden, wie ein
Budapester Arbeiterblatt meldet, nahezu 16 000 Arbeiter be-
schäftigt, die jährlich etwa 150 000 Meterzentner Rohtabak zu
Zigarren, Zigarretten und Rauchtabak verarbeiten Der Staat er-
zielte aus dem Tabakmonopol im Jahre 1890 einen Reingewinn von
28'A Millionen Gulden. Die Arbeiter in den Tabakanpflanzungen
übernehmen die Felder von den Grosspächtern gegen den
halben Ertrag in Bearbeitung. Ausserdem erhalten sie Wohnung,
ferner während des Sommers Futter resp. Weide für eine Kuh
per Familie. In einem Hause mit 1 Zimmer, 1 Kammer, 1 Küche
und I Stall wohnen 2 4 Familien. Die Arbeiten beginnen Mitte
März und dauern bis Anfangs Dezember. Während dieser Zeit
wird nicht blos die Arbeit der aus 5-6 Köpfen bestehenden
Familie voll in Anspruch genommen, sondern während des
Sortirens muss jede Familie noch 7 — 8 Hilfsarbeiter in Lohn
nehmen. Wie hoch ist nun das Einkommen einer Familie?
Die Familie von 5 Köpfen verarbeitet etwa 58—60 Meterzentner.
Dafür werden 600 - 620 Gulden bezahlt, die Arbeiterfamilie be-
kommt aber nur die Hälfte, 300 — 310 Gulden Nach Abzug des
Antheils der Hilfsarbeiter verbleiben ihr 258 Gulden als Arbeits-
lohn für 260 Tage mal die Zahl der arbeitenden Personen 1 5),
also für 1300 Arbeitstage. Der während der „Saison“ erreichte
Durchschnittslohn beträgt somit 1 9 ll/m Kreuzer und der Tages-
lohn im Jahresdurchschnitt 14*/s Kreuzer.
lieber die Ausnützung der Arbeiter in den Nahrungs-
mittelgewerben gibt eine am 30. Dezember v. J. vor dem Stutt-
garter Gewerbeschiedsgericht stattgehabte Verhandlung Aus-
kunft. Der klagende Bäckergeselle gab an, dass er vom 23. De-
zember Nachts gegen 12 LThr bis zum 25. Dezember Morgens
5 Uhr ohne zu schlafen gearbeitet habe. Das ist eine durch
Schlaf und Erholung nicht unterbrochene 53 ständige Arbeitszeit.
Die Arbeitsdauer in den Mainzer Zigarren- und Tabak-
geschäften. Die Mainzer Tabakgeschäfte werden vom 6. Januar
i dieses Jahres allabendlich um 9 LThr geschlossen werden. Die
von den Mainzer Metzgern seit einem Jahre durchgeführte
Schliessung der Verkaufsstellen von 1 — S'/a'Uhr Nachmittag hat
! sich, wie der „Frankfurter Zeitung“ geschrieben wird, gut be-
währt. Die Verbraucher wissen sich damit abzufinden.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Ein Strike der Bierbrauergehilfen in Bayern.
Die Bierbrauer in Bayern, insbesondere in Nürnberg,
haben sich bis in die jüngste Zeit den gewerkschaftlichen
Vereinigungen der Arbeiter vollständig fern gehalten, die
Sozialdemokratie hatte nirgends Einfluss auf diese Arbeiter,
und nun befinden sich die Nürnberger Brauer in einem Strike,
welcher an Hartnäckigkeit keinem anderen Lohnkampfe nach-
I steht. Die Bewegung geht zurück auMas vergangene Frühjahr.
Gegen Ende März vorigen Jahres fanden verschiedene
Brauerversammlungen statt, in welchen die Verhältnisse im
Brauergewerbe eine grelle Beleuchtung erfuhren, und die
I Zustände im Allgemeinen als unerträglich bezeichnet wurden,
hi einer dieser Versammlungen wurde beschlossen, die
! Forderungen der Arbeiter zu formuliren und sie den Unter-
nehmern zu unterbreiten. Dies geschah gegen Mitte April.
Die Arbeiter beanspruchten: Eine Arbeitszeit an Wochen-
tagen von 1 1 Stunden, an Sonntagen von 4 — 6 Stunden,
eine der Verkürzung der Arbeitszeit entsprechende Lohn-
erhöhung oder eine Erhöhung des Minimallohnes und Ver-
besserung der Schlafstätten. Bis dahin lagen die Dinge
folgendermassen. In der Tucher’schen Brauerei erhielten
die Arbeiter einen Minimallohn von monatlich 72 Mk„ ausser-
dem täglich 7 1 Bier und Freiquartier. Die Arbeitszeit war
keine geregelte, sie betrug im Sudhaus täglich bis zu
18 Stunden. Die Kellerburschen mussten th eil weise schon
Morgens um 2 Uhr ihr Lager verlassen; die Arbeit im
Keller begann um 3 Uhr früh. Für warmes Frühstück war
keine Sorge getragen; da zu dieser frühen Stunde Cafes
noch nicht geöffnet sind, mussten die Leute bis 9 Uhr Vor-
mittags, wo Frühstückszeit ist, mit nüchternem Magen
arbeiten, in einer Temperatur, welche selten 2 Grad Reau-
mur übersteigt. Die Schlafräume befanden sich unter dem
Dach, waren nicht heizbar und genügten auch sonst nicht
den bescheidensten Ansprüchen.
In der Brauerei Lederer betrug der Minimallohn 70 Mk.
monatlich. Die Arbeitsverhältnisse sind die gleichen wie
bei Tücher, jedoch sind die Schlafräume gesünder, und
ausserdem ist ein Zimmer zu gemeinsamer Einnahme der
Mahlzeiten vorhanden. Die Reif’sche Brauerei lieferte die
meisten Arbeiter in’s Krankenhaus, was auf die ausser-
ordentlich sanitätswidrigen Schlafräume und darauf zurück-
geführt wird, dass der Dampf, welcher durch Bier- und
Maischsud erzeugt, wird, keinen genügenden Abzug hat,
weshalb die im Sudhaus beschäftigten Leute nie trocken
werden. In der Zeltner’schen Brauerei sind die Lohnver-
hältnisse besser als in den vorgenannten Geschäften, der
Minimallohn beträgt bei Zeltner seit Jahresfrist 80 Mk.
monatlich, dagegen ist von einer geregelten Arbeitszeit in
diesem Geschäft erst recht keine Rede. Drei, vier Mal in
der Nacht werden die Arbeiter von ihrem Lager aufge-
scheucht, so dass von einer eigentlichen Nachtruhe kaum
gesprochen werden kann. Die Betten der Arbeiter sind
von einer Beschaffenheit, wie sie kläglicher kaum gedacht
werden kann. Im Brauhaus Nürnberg war die Arbeits-
zeit einigermassen erträglich, es wurde daselbst 12 bis
15 Stunden gearbeitet. Der Minimallohn bezifferte sich auf
75 Mk., die Schlafräume und Gehilfenstuben sind die rein-
lichsten in Nürnberg, die Betten sind gut. Soviel über die
Grossbrauereien. In den kleinen Brauereien weichen die
Verhältnisse insofern von den vorbeschriebenen ab, als die
Arbeitszeit täglich um ein bis eineinhalb Stunden kürzer
ist; dafür sinkt aber auch das Lohnminimum auf 50 Mk.
herab. Die Schlafstellen in diesen Kleinbetrieben sind mit-
unter abscheulich. Dass die Gesundheitsverhältnisse der
Brauer keine günstigen sind, versteht sich. Kellerburschen,
Schläucher, Bierführer und Mälzer stellen ein bedeutendes
Kontingent zu den Schwindsüchtigen und Magenleidenden.
Neben dem anstrengenden Beruf, dem Wechsel der Tempe-
ratur, der kurzen Nachtruhe, ist es besonders der Zwang
zum Trinken, welcher die Leute an ihrer Gesundheit
schädigt. Sie erhalten täglich 7 1 Bier; das ist ein Theil
ihrer Verdienstes und wird natürlich unter allen Umständen
getrunken, zum grossen Nachtheil namentlich für junge
Leute und solche, die nicht' im Brauereigewerbe aufge-
wachsen sind.
Mit den vielgerühmten patriarchalischen Verhältnissen
ist es somit nicht weit her. Die Brauereibesitzer haben
auf die Forderungen ihrer Arbeiter von Mitte April
bis in die zweite Hälfte des Dezembers nicht reagirt
und sie in der Hauptsache abgelehnt. Die Arbeiter
verlangen Verkürzung der Arbeitszeit; die Grossbrauer
setzen insbesondere diesem Wunsche den hartnäckig-
sten Widerstand entgegen. Kräftigen Rückhalt fanden
die Braugehilfen an den Arbeitern aller Berufe, welche
in zahlreichen Versammlungen sich mit den Brauern soli-
darisch erklären und entschlossen zu sein scheinen, den
Boykott über die Brauereien so lange aufrecht zu erhalten,
bis die Forderungen der Braugehilfen bewilligt sind, und
die ausständigen Arbeiter Unterkunft gefunden haben.
Nürnberg. Martin Segitz.
22
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 2.
Der deutsche Buchdrnekerausstand. DerStrike ist in ein
neues Stadium getreten, die Maassnahmen der preussischen
Regierung haben zu einer Krisis geführt. In einzelnen Orten,
wie Stettin und Breslau, haben die Gehilfen sich be-
dingungslos unterworfen, in der Mehrzahl der Druckorte
jedoch ist der Beschluss, auch mit geringer Unterstützung
den Ausstand fortzuführen, mit Begeisterung angenommen
worden, so in Berlin, Hamburg, München, Halle a. S.,
Mainz, Nördlingen, Oldenburg, Erfurt u. s. w. Wie die
Dinge liegen, steht ein baldiger Entscheid des Kampfes be-
vor. Das konsumirende Publikum, dessen Aufträge ent-
weder nicht oder nur mangelhaft ausgeführt wurden, wird
nach und nach ungeduldig und drängt die Druckfirmen zur
Erfüllung ihrer Verträge, Adressbücher und ähnliche zum
Jahreswechsel nöthige Erzeugnisse konnten nicht tertig-
o-estellt werden. Unter den Prinzipalen selbst, welche
äurch jeden Tag der Fortdauer dieses langwierigen
Streites ausserordentlich geschädigt werden, herrschen
Differenzen; der natürliche Gegensatz der Klein- und .Mittel-
betriebe zu den kapitalstarken Grossunternehmungen tritt
hierbei zu Tage. Finanzielle Verluste sind aber für die
Unternehmer überhaupt nicht zu vermeiden; dass sie stetig
wachsen, ergibt sich aus der Sachlage. . ..
Glückt es den Gehilfen, durch freiwillige Beitrage den
Strike noch etliche Wochen zu halten und eine Fahnen-
flucht der Ausständigen zu verhüten, so ist der Sieg, zum
mindestens die allgemeine Durchsetzung eines 1 heils der
Forderungen nicht unwahrscheinlich. ln der deutschen
Arbeiterschaft ist nach der neuesten Wendung, welche der
bedeutsame Neunstundenkampf der Buchdrucker genommen
hat, die Theilnahme eine noch viel regere und thatkräftigere
geworden. Allerorten finden Versammlungen statt, welche
für die energische Unterstützung der Strikenden sich aus-
sprechen. So betrübend auch die allgemeine wirthschaft-
liche Lage ist, so ist doch zu erwarten, dass die Hilfsmittel
reichlicher fliessen werden. Nachdem die Strikeunterstützung
herabgesetzt ist, eine nicht blos wegen des Zwanges der
Umstände, sondern auch aus taktischen Rücksichten noth-
wendige Maassregel — man denke an die Durchschnitts-
lohnsätze der meisten gewerblichen Arbeiter Deutsch-
lands — ist der Widerstand ein leichterer, der Erfolg ge-
sicherter. Immer vorausgesetzt, dass die Buchdrucker in
altbewährter Mannszucht für ihre Aufgabe opferwillig ein-
stehen. ,r
Die Arbeiterschaft des Auslandes, vor allem des V er-
einigten Königreichs und der nordamerikanischen Union,
unterstützen die deutsche Bewegung mit erheblichen
Summen. Entsprechen die bisher gesendeten Gelder — etwa
70 000 Mk. aus England, 8000 Mk. aus den Vereinigten
Staaten — nicht den hochgespannten Erwartungen, so ver-
gesse man nicht, dass das ausländische Publikum durch
falsche Darstellungen, Tendenznachrichten u. s. w. mehr-
fach getäuscht worden ist und durch die Urabstimmung, wie
sie für Unterstützungsfragen in den englischen 1 rades
Unions zum Theil vorgeschrieben ist, der Gang der ( ge-
schähe etwas verlangsamt wird. Bedeutsam ist jedenfalls
das warmherzige Kingreifen der fremden Gewerkschatten
für die deutschen Buchdrucker: die Internationalität der
Arbeiterbewegung, die Gemeinsamkeit der Arbeiterintet -
essen in allen Kulturländern tritt klar zu Tage.
Ein letzter Versuch, durch den preussischen Handels-
minister eine Vermittelung herbeizuführen, ist, wie man
hört, daran gescheitert, dass die Prinzipale sich weigerten,
zur Ermöglichung von Verhandlungen alle Vorbedingungen
fallen zu lassen.
Bergarbeiterausstand in Steiermark und Kram. In Steier-
mark und Krain sind die Bergarbeiterverhältnisse äusserst un-
günstige,und mit elementarer Gewalt von Zeit znZeit ausbrechende
Strikes zeigen die tiefgehende Verstimmung der Grubenleute und
den Mangel einer straffen Organisation. Dass dem so ist, ver-
schuldet nicht allein der tiefe Stand des Lebensfusses der Arbeiter,
sondern auch die gerade in diesen Bezirken mit erstaunhchei
Rücksichtslosigkeit ~ auftretende Willkür einer zu mächtigem
Kartell vereinigten Unternehmerschaft, welche an den öffent-
lichen Gewalten einen Rückhalt findet. Denn ein steierischer
Bergarbeiterausstand und zugleich das Eingreifen der militäri-
schen Macht ist etwas Regelmässiges. „In Tnfail trat Militär
ein, da Ausschreitungen stattfanden“, meldet denn auch die
„Voss. Zeitung“. Im Köflacher Revier striken alle Bergarbeiter
bis auf die Knappen der Gewerkschaft Zangthal, denen Lohn-
erhöhung zugestanden wurde. Die Ausständigen verlangen
strengere Einhaltung der Achtstundenschicht, 1 G. 50 Kr.
Häuerlohn, 1 G. 20 Kr. für Förderung. Seitens der Köflacher
Gesellschaft wurde der Häuerlohn mit 1 G. 20 Kr., hörderlohn
mit 90 Kr. festgesetzt. Die Gewerken lehnen jede Unterhand-
lung. ab. In den Städten wird Kohlenmangel eintreten, die
Südbahn hat nach der „N. Fr. Pr.“ in Voraussicht des Aus-
standes den Bedarf für längere Zeit gedeckt.
Der schweizerische Grütliverein, die stärkste gemässigte .
sozialdemokratische Arbeiterorganisation der Schweiz, hatte
bisher nur ein Organ in deutscher Sprache, den dreimal
wöchentlich in einer Auflage von 14 000 Exemplaren erschei-
nenden „Grütlianer“. Vom 1. Januar ab besitzt der Verein auch
ein französisches Organ, „Le Grütli“. Ausserdem erscheint seit
Kurzem für den französisch - schweizerischen Jura ein neues
Arbeiterblatt, „Le Socialiste“.
Die französischen Tabakarbeiter und Tabakarbeiterinnen
— die Tabakfabrikation und der Handel mit den Produkten
derselben sind in Frankreich bekanntlich Staatsmonopol —
hielten während der letzten Weihnachtsfeiertage in der Pariser
Arbeiterbörse einen Kongress ab. Von den 20 Staatsfabriken
waren 15 durch ca. 50 Delegirte vertreten. Die Diskussionen
haben sich beschäftigt mit Mer offiziellen Anerkennung der
o-ewerkschaftlichen Organisation der Tabakarbeiter, mit der
Anwendung der Fabrikordnungen, der Schaffung von Krippen
in den Fabriken und der Revision der Löhne entsprechend den
lokalen Bedürfnissen. Ferner wurde der Wunsch ausgesprochen,
dass die Verwaltung die Staatspensionen auf 720 Francs für
die Männer und auf 540 Francs für die Frauen, welche 25 Jahre
im Dienste der Staatsfabriken standen, festsetze. Eine Depu-
tation von sieben Mitgliedern hat dem Generaldirektor der
Tabakverwaltung die Wünsche des Kongresses übermittelt
Dieselben wurden zur Kenntniss genommen. Eine Deputation
des Kongresses wurde auch von dem Minister Rouvier empfangen,
welcher ihren Beschwerden grösste Aufmerksamkeit zusicherte,.,
aber ein Eingehen auf dieselben im kommenden Jahre, flu
welches das Budget schon fast ganz bewilligt sei, für unmöglich
erklärte.
Eine Gewerkschaft (1er Kleider- und V äsclienäherinnen
wurde in den letzten Tagen des verflossenen Jahres in Paris
gegründet.
Ueber das französische Arbeitersekretariat, das am
9 Januar in Thätigkeit treten wird, hat sich Jules Guesde <
einem Interviewer gegenüber folgendermassen geäussert. Das-
selbe ist infolge der Anregung des internationalen Kon- ,
o-resses zu Brüssel gegründet worden, es soll den Arbeitern
ermö°-lichen, sich gegenseitig zu unterstützen, Arbeitsgelegenheit
in allen Ländern zu suchen. Jeder Konflikt zwischen Kapital
und Arbeit soll den Arbeitern Frankreichs und des Auslandes
sofort mitgetheilt werden zum Zwecke der Einschränkung des
Zuzuo-es und der Konkurrenz. Das Arbeitersekretariat ist zu-
sammengesetzt aus Delegirten folgender Organisationen: Arbeits-
börse Föderation der Gewerkvereine (Federation des chambres
svndicales) Nationale Föderation der gelernten Arbeiter
(Federation nationale des metiers) und aus den verschiedenen 3) ,
Gruppen der sozialistischen Partei. Um den gewerkschaftlichen
Interessen den politischen gegenüber eine stärkere \ ertretung ;
zu sichern, hat man den Arbeitsbörsen zwei, den übrigen Orga- 1
nisationen je einen \rertreter garantirt, so dass vier Vertretern^
der o-ewerkschaftlichen Arbeiterinteressen drei der politischen
o-egenüberstehen werden. Die Korrespondenz des Arbeiter-.
Sekretariats mit den verschiedenen Arbeiterorganisationen wird
durch die Sekretaire der verschiedenen Organisationen ver-
mittelt werden. Nur eine Schwierigkeit, die das nöthige Geld
zu verschaffen, hat sich ergeben. Jules Guesde hofft aber auf
die Subventionen der sozialistischen Munizipalverwaltungen,
deren es, wie er hofft, nach den nächsten Wahlen recht viele
geben wird.
Arbeitsbörsen giebt es gegenwärtig in Frankreich
zwei zu Bordeaux, von denen eine in munizipaler, die
andere in der Selbstverwaltung der Arbeiter steht, je eine
zu Paris, Lyon, St. Etienne, Roanne, Marseille, Beziers,
Montpellier/ Nimes, Toulouse, Toulon und Cholet. In der
Bildung sind Arbeitsbörsen begriffen zu St. Quentin, Cette,
Nantes und Troyes. Die dreizehn französischen Arbeits-
börsen sind eben im Begriffe eine Föderation der Arbeits-
börsen zu gründen. Zu diesem Zwecke soll am 7. Februar
in der central gelegenen Stadt St. Etienne ein Kongress
der Arbeitsbörsen stattimden. Veranlassung hierzu scheint
der Streit der in der Pariser Arbeitsbörse domizilirenden
Gewerkschaften mit dem Pariser Gemeinderath zu sein,
welcher auf Grund seiner starken finanziellen Unterstützung
der Arbeitsbörse ein Recht der Mitverwaltung derselben
beansprucht.
Gegen die privaten Stellen vermittlungsbureaux haben
die Münchener Arbeiter Stellung genommen. Im Dezem-
v. J. wurde diese Frage in ihrer politischen Organisation,
dem „Vereine für volksthümliche Wahlen“ diskutirt, worauf
eine Kommission bestellt wurde, welche Material sammeln
und Vorschläge der Beschlussfassung des Vereines unter-
breiten sollte. Die Ermittelungen zeigten, dass stellungs-
No. 2.
SOZI AT .POLITISCHES CENTRALBLATT.
23
suchende Personen in München in unerhörter Weise von
den privaten Stellenvermittlungsbureaux ausgewuchert
werden. Es wurde bekannt, dass die Polizei beschwerde-
führende Personen angewiesen hat, auf zivilrechtlichem
Wege Schadenersatzklagen zu erheben, wozu natürlich die
Ausgewucherten sich nicht veranlasst sahen. Das Komitee
schlug vor, die Gemeindekollegien aufzufordern, eine Arbeits-
börse nach dem Muster, wenn auch nicht im Massstabe der
Pariser Arbeitsbörse zu errichten. Bis dies geschieht, soll
ein strenges Regulativ für die Arbeitsvermittlungsbureaux
errichtet werden, ähnlich wie solche für die Pfandleihanstalten
existiren, nur polizeilich festgesetzte Taxen sollen erhoben
werden dürfen, welche in prozentualem Verhältnisse zu den
bezahlten Löhnen stehen. Die Bücher der Vermittlungs-
bureaux sollen den Charakter öffentlicher Urkunden haben
und Jedermann zur Einsicht offen liegen. Demnächst wird
eine öffentliche Arbeiter- und Arbeiterinnenversammlung
sich mit dieser Frage beschäftigen; die Beschlüsse derselben
werden an die Polizei und die Gemeindekollegien geleitet
werden.
Die Neunstundenbewegung der schweizerischen Bucli-
druckergehiilfen. Die grosse Bewegung der Buchdruckergehülfen
in Deutschland hat ihre Wellen auch in die Schweiz geworfen.
Allerdings merkt man an der Oberfläche nicht viel. Es gab dort
keine Arbeitsausstände, sondern es begnügten sich die Geholfen
in den grösseren Städten, auf dem Wege der höflichenPetition, ihre
Prinzipale um Reduktion der gegenwärtig 10 oder IOV2 Stunden
betragenden Arbeitszeit auf 9 Stunden zu ersuchen. Bis jetzt
sind indessen diese Petitionen meistens erfolglos geblieben.
Vor drei Jahren ging die Typographia Bern in ihrer Petition an
den Bundesrath viel weiter, sie verlangte Reduktion der Arbeits-
zeit auf 8 Stunden und Ausschluss der Frauen vom Setzkasten.
Der Bundesrath erklärte damals in seiner Antwort, dass beim
Buchdruckereigewerbe keine so gesundheitsschädlichen Ein-
flüsse Vorkommen, dass von den Bestimmungen über den Nor-
malarbeitstag abgewichen werden könne. Besseren Erfolg hatte
die schweizerische Typographia mit der Einführung des mit den
Prinzipalen vereinbarten Lehrlingsregulativs. In demselben ist
genau bestimmt, wie viele Lehrlinge auf die Zahl der in einem
Geschäfte angestellten Gehülfen gehalten werden dürfen. Der
früher vielfach geübten Lehrlingsausbeutung ist damit gründlich
der Riegel vorgeschoben.
Für die heutige Forderung der Reduktion der Arbeitszeit
machen die Gehülfen geltend die gesundheitsschädlichen Ein-
flüsse ihres Gewerbes, ungenügenden Schutz durch das Fabrik-
gesetz und die grosse Zahl der Stellenlosen. Die Prinzipale
ihrerseits begründen ihre ablehnende Haltung mit den heutigen
ungünstigen Geschäftsverhältnissen und der drückenden in- und
ausländischen Konkurrenz. Dasselbe Lied singen die Hand-
werker- und Gewerbevereine. Sie finden, dass solche gesetz-
lichen Bestimmungen heute nicht am Platze und für einen Theil
der schweizerischen Bevölkerung ungerecht wären, und dass auf
jeden Fall solche Vorschriften von den Behörden erst erlassen
werden dürfen, wenn die wirthschaftliche Lage des Landes eine
Arbeitsverminderung erheische und der Nachweis geleistet sei,
dass sämmtliche uns umgebenden Konkurrenzstaaten solche
Massregeln bereits ergriffen haben. Das würde aber doch ein
wenig zu lange dauern, unterdessen wäre es wohl klüger, man
würde sich beiderseitig so verständigen, wie dies in Bern ge-
schehen ist, wo die Offizinen der sieben Klubbuchdrucker vom
4. Januar ab die neunstündige Arbeitszeit eingeführt haben.
Unternehmerverbände.
Krisis im rheinisch - westfälischen Walzwerkverband.
Der rheinisch -westfälische Walzwerkverband, ein Zweig des
grossen über das Reich sich erstreckenden Walzwerk -Kartells,
leidet, wie der „Frkf. Ztg.“ (No. 8 vom 8. d. M., 1. Morgenblatt)
geschrieben wird, an dem Mangel ausreichender Aufträge. Ein
Werk, der Aachener Hütten-Äktien-Verein in Rothe-Erde bei
Aachen, ist aus der Vereinigung ausgetreten Ob diese in der
That ernstlich gefährdet erscheint, wie der Berichterstatter der
„Frkf. Ztg.“ meint, ist bei der Festigkeit des Syndikats denn
doch sehr zu bezweifeln. Preisherabsetzungen, wie sie bereits
zugestanden worden sind, werden gegebenen Falls noch weiter
gemacht werden; die Händler können ihren Bedarf bei den
nicht-syndizirten Werken keinesfalls decken. So wird die Krisis
eine taktische Schwenkung in der Preispolitik, nicht aber eine
Zersetzung des Verbandes herbeifuhren.
Der Stickereiverband der Ostschweiz hat durch die
Abtrennung der Vorarlberger Sticker schweren Schaden
erlitten. Die Vorarlberger Sticker haben sich eine beson-
dere Organisation geschaffen, welche gegen die schweize-
rische einen erbitterten Konkurrenzkampf führt. Der Be-
stand der schweizerischen Organisation ist durch zahlreiche
Austritte gefährdet. Die Arbeiter scheinen sich nun ohne
die Kaufleute organisiren zu wollen.
Handwerkerfragen.
Die Bauhandwerker und die Hypothekenordnung.
In Berlin beginnt sich eine lebhafte Agitation bemerk-
bar zu machen, welche die alte Forderung der Bauhand-
werker auf ein Vorzugsrecht für ihre Lieferungen bei ein-
tretender Subhastation zum Gegenstände hat. Veranlassung
zu dieser Agitation bietet der zur Berathung stehende Ent-
wurf eines bürgerlichen Gesetzbuches.
Das preussische Landrecht gewährt den Bauhand-
werkern ein Recht auf Vormerkung ihrer Forderungen im
Grundbuch; diese Vormerkungen stehen aber hinter sämmt-
lichen bereits eingetragenen Hypotheken zurück — und die
Eintragung beliebig vieler Hypotheken auf den Namen
irgend welcher Verwandten des Unternehmers lange vor
Beginn des Baues kann nicht verhindert werden. Ein zu-
verlässiger Fachmann giebt an, dass ihm Fälle bekannt seien,
in welchen im Herbst schon alle Hypothekendokumente für
eine ganze Häuserreihe fertig bei den Unternehmern im
Kasten lagen, während die Bauten im Frühjahr erst be-
gonnen werden sollten. Es geschieht dies, um die drei-
monatliche Einspruchszeit der übrigen Gläubiger, also
namentlich der Lieferanten und Arbeiter illusorisch zu
machen. In der That hat sich denn auch die Lage des
Bauhandwerks in Folge der schwindelhaften hohen Grund-
stückspreise und des dadurch bedingten Vorschiebens
zahlungsunfähiger Strohmänner als Bauunternehmer sehr
traurig gestaltet.
Die Subhastationen sind an der Tagesordnung — von
535 Neubauten, die vom 1 . Oktober 1889 bis zum 1. Oktober
1890 in Berlin aufgeführt wurden, sind 133 zur Subhastation
gekommen und zwar mit bedeutendem Ausfall gegenüber den
Eintragungen. Im Jahre 1891 waren die Verhältnisse nicht
besser. Aus den ersten sieben Nummern des „Bauhand-
werksschutzes“, Organ des kürzlich begründeten „Bauhand-
werkervereins zu Berlin“ mache ich folgende Zusammen-
stellung von Subhastationen für die Zeit von sechs Wochen :
Datum
Lage
Ein-
tragungen
Erlös
Ausfall
16. Juli
Triftstr. 1 a
1 1 1 680
80 000
31 680
Liegnitzerstr. 41
188 150
160 750
27 400
j|
Lindenerstr. 42
240 250
165 000
75 250
Birkenstr. 22
248 080
230 000
18 080
21. August
Schulstr. 39
Kastanienallee 39
89 000
65 200
24 775
und Oderbergerstr.7
256 500
183 000
73 500
26. August
Franseckistr. 17
185 900
131 000
54 900
Buttmannst. 14
230 580
190 700
39 880
28. August
Swinemünderst. 50
261 140
118 000
143140
Wie sehr unter diesen Ausfällen die Bauhandwerker
leiden, mögen folgende näheren Angaben über die Ver-
theilung der Eintragungen etc. in dem zweiten der oben
angeführten Fälle (Liegnitzerstr. 41) darthun.
Hypotheken- Gläubiger
Belastung
133515
Mk.
Adam, Baugelder
16 835
Werck & Glierücke
6000
Holzhandlung George u. Nicolas
10 000
Ww. Nordgauer
6 000
Töpfermeister
4 000
Tischlermeister
2 000
Staakermeister
4 000
Malermeister
2 000
Schlossermeister
2 000
Gas- und Wasseranlagen-Fabrikant
300
Steinmetzmeister
1 500
55
Zimmerpolier
188 150 Mk.
24
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT
No. 2.
W\v. Nordgauer erwarb bei der Versteigerung das j
Grundstück für 160 750 Mk. ; der Ausfall betrug mithin
27 400 Mk., sodass kein Pfennig für die in Summa 21 800 Mk.
betragenden Forderungen der Handwerker vom I öpfer-
meister bis zum Zimmerpolier herauskam.
Da bei weitem nicht alle Handwerkerforderungen ein-
getragen werden, beziffern sich die Verluste dieser Kreise
weit höher, als aus den Subhastationsergebnissen geschlossen
werden kann. Von der Höhe derselben mag man sich aus
folgender Bemerkung des optimistischen „Berliner Tage-
blattes“ einen Begriff machen:
„Die Behauptung, dass in einem Jahre von Handwerks-
meistern und Lieferanten allein in Berlin 30 Millionen Mark
verloren worden seien, erscheint zwar etwas hoch gegriffen,
dürfte aber im Allgemeinen den Verhältnissen entsprechen.“
Zeigt es sich so, dass die Schutzbestimmung des
preussischen Landrechts für den Bauhandwerker völlig
unzureichend ist, so muss es billig verwundern, dass der
„Entwurf eines Gesetzes betr. die Zwangsvollstreckungen“,
welcher neben dem Entwurf einer Grundbuchordnung etc.
im Anschluss an den Entwurf des bürgerlichen Gesetzbuches
im Jahre 1889 erschien, überhaupt von jeder Schutzbe-
stimmung absieht. In den Motiven findet sich folgender
Satz, dessen Schluss nach den oben angeführten Thatsachen
geradezu wie Hohn klingt:
„In unserer Zeit sind freilich Bestrebungen hervorgetreten,
welche ein Vorzugsrecht für gewisse Verwendungsansprüche
fordern, namentlich für die Ansprüche von Bauhandwerkern,
welche Arbeiten und Materialien in einem Neubau verwendet
haben, wegen dieser Verwendungen. Allein es wäre ein höchst
bedenkliches Wagnis, diesen Bestrebungen nachzugeben. Das
Reich mag immerhin (sic!) die Aufgabe haben, den wirth-
schaftlich Schwachen gegen den wirthschaftlich Starken zu
schützen. Ein solcher Schutz würde hier in wirksamer Weise
nur dadurch ertheilt werden können, dass den fraglichen An-
sprüchen ein Vorzugsrecht nicht allein vor andern persönlichen
Ansprüchen, sondern auch vor den Ansprüchen aus Hypotheken
und Grundschulden zugestanden wurde. Auf diesem Wege
käme die Gesetzgebung, " wenn auch nicht in der Form, aber
doch der Sache nach zu Hypotheken, welche, ohne selbst dem
Eintragungsprinzipe unterworfen zu sein, eingetragenen Hypo-
theken und Grundschulden vorgingen. Ein solcher Bruch in
das Eintragungsprinzip aber würde, wie bereits früher dargelegt
worden ist, die Grundlage des Realkredites erschüttern. Die
Aufnahme von Hypotheken und Grundschulden auf Baustellen
würde kaum zu ermöglichen sein. Der Nachtheil hiervon träfe
aber nicht allein die Grundbesitzer, welche das zur Bebauung
des Grundstückes erforderliche Kapital nur im Wege des Real-
kredites beschaffen können, sondern auch die Bauhandwerker,
für welche die Gelegenheit zu lohnender Beschäftigung erheb-
lich sich vermindern würde.“
Gegen diesen Entwurf und seine Motive wandte sich
zunächst Professor Dernburg in einer Artikelreihe im
„Pionier“; ihm gilt das Vorrecht der Handwerkerforderungen
für geliefertes Material und gelieferte Arbeit gegenüber den
Hypothekengläubigern als nothwendig und nützlich. Den
ersten Schritt zu einer thatkräftigen Agitation unternahm
der „Deutsche Bund für Bodenbesitzreform“. Seiner Ge-
neralversammlung im Herbst 1891 lag folgender Antrag vor :
„Unbeschadet der Verfolgung seiner viel durchgreifen-
deren Forderungen beschliesst der Bund, um einem allgemein
anerkannten einzelnen Uebelstand schleunigst abzuhelfen, fin-
den Erlass einer Gesetzesbestimmung in folgendem Sinne ein-
zutreten: „Bei dem Besitzwechsel eines jeden irgendwie be-
bauten städtischen Grundstückes sind sämmtliche am Bau be-
theiligt gewesenen Lieferanten, Handwerker und Arbeiter für
das bis zur Zeit des Besitzwechsels gelieferte Material und die
bis zu derselben Zeit geleistete Arbeit von dem Käufer in Baar
zu bezahlen. Diese Schuld gegenüber den Lieferanten, Hand-
werkern und Arbeitern geniesst ein Vorzugsrecht auch vor
einer ersten Hypothek.“
Nach einstimmiger Annahme des Antrages wurde eine
Kommission aus Bauhandwerkern und Juristen gewählt,
welche dem Antrag folgende abgeschwächte Fassung gaben:
„Sämmtliche am Bau eines Grundstückes betheiligt ge-
wesenen Lieferanten, Handwerker und Arbeiter haben innerhalb
der Zeit von sechs Monaten nach erfolgter Gebrauchsabnahme
für ihre durch Lieferungen von Materialien bezw. Leistungen
von Arbeiten entstandenen Forderungen ein Recht auf Ein-
tragung. Die so entstehen den Hypotheken gemessen ein Vor-
zugsrecht vor allen anderen Hypotheken.“
In dieser Fassung ist der Antrag bereits von einer
grossen Bauhandwerkerversammlung angenommen und dem
Reichstag als Petition überreicht worden, während die
Kommission des Bundes für Bodenbesitzreform noch immer
an einer endgültigen Fassung arbeitet, welche sodann nebst
einer ausführlichen Motivirung dem Staatssekretär des
Reichsjustizamtes Bosse überreicht werden soll.
Es wäre wünschenswerth, dass die Regierung die Ge-
legenheit ergreift, den Handwerkern bei dieser gerechten
Forderung entgegenzukommen, nachdem sie durch die Ab-
sage in der Innungsfrage den unberechtigten Wünschen
endlich einen Damm gesetzt hat.
Berlin. Leo Arons.
Lehrlinge und Arbeiterorganisationen. Die Arbeiter-
union Bern hat dem Gesuche von 36 Lehrlingen entsprochen,
welches dahin ging, dass sie die Vereinsvorstände veranlassen
solle, dass die Lehrlinge weder von den Meistern, noch von den
Arbeitern zu nicht zur Lehre gehörenden oder gesundheit-
schädlichen Arbeiten verwendet werden; ferner, dass man
ihnen Aufnahme in die Fachvereine mit ermässigten Beiträgen
gewähre.
Für den Befähigungsnachweis findet zur Zeit infolge der
letzten Handwerksdebatten im Reichstage eine lebhafte Agitation
seitens der Innungen statt. Der allgemeine deutsche Hand-
werkertag, auf welchem diese Frage einen Hauptgegenstand der
Verhandlungen bilden wird, findet demnächst statt. Den Ent-
scheid der Reichsregierung dürfte diese Bewegung freilich
kaum beeinflussen.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
*
Der französische Gesetzentwurf, betr. die Kinderarbeit.
Der Entwurf eines Gesetzes betr. die Arbeit der
Kinder und minderjährigen Mädchen in gewerblichen Unter-
nehmungen ist mit den vom Senat angenommenen Aende-
rungen zum dritten Male an die Abgeordnetenkammer in
der Sitzung vom 19. Dezember 1891 zur Verhandlung ge-
langt. Indessen hat der Senat nunmehr die Mehrzahl der
Beschlüsse der Kammer genehmigt, so namentlich das <*
Verbot der Nachtarbeit für Frauen jeden Alters. Ein Zwie-
spalt zwischen den beiden Versammlungen besteht nur
noch hinsichtlich der Dauer des Arbeitstages der Frauen
über 21 Jahren. In der Sitzung vom 27. Oktober 1891
lehnte es der Senat mit 109 gegen 99 Stimmen ab, die Be-
schränkung des Arbeitstages auf zehn Stunden, wie sie für
jugendliche Arbeiter unter 18 Jahren und minderjährige
Mädchen beschlossen wurde, auf grossjährige Frauen aus-
zudehnen.
Die Kommission der Abgeordnetenkammer glaubte in
diesem Punkte nicht nachgeben zu dürfen. Und die Kammer
selbst ist ihrer Ansicht beigetreten, indem sie von Neuem I
mit 362 gegen 168 Stimmen entschied, dass der Arbeitstag j
für Frauen jeden Alters zehn Stunden nicht überschreiten
soll. Zu gleicher Zeit verwarf sie einen Zusatzantrag
Loreau’s, der die Arbeit grossjähriger Frauen nur in den
Unternehmungen beschränkt wissen will, welche durch Ver- j
fügung der Staatsregierung besonders bezeichnet werden.
Der Artikel 4 des Gesetzentwurfes verbietet die Nacht-
arbeit für jugendliche Arbeiter unter 18 Jahren, für minder-
jährige Mädchen und für Frauen. Als Nachtarbeit gilt
grundsätzlich jede Arbeit zwischen 9 Uhr Abends und
5 Uhr Morgens. Indessen wird die Arbeit für die Zeit von
4 Uhr Morgens bis 10 Uhr Abends gestattet, wenn sie derart
zwischen zwei Arbeiterschichten vertheilt ist, dass jede nicht
länger als neun Stunden arbeitet.
Diese letztere Bestimmung, welche dem Gesetzentwurf
auf den Vorschlag Waddington’s vom Senat eingefügt
wurde, erfuhr von Seiten Drou's eine äusserst abfällige
Beurtheilung, die indessen ihr Ziel nicht erreichte. Er er-
No. 2.
Sozialpolitisches centralblatt.
25
klärte, unseres Erachtens mit Recht, dass das Zweischichten-
system einige der schwersten Missstände der Nachtarbeit
fortbestehen lassen würde.
Artikel 5 des Entwurfs lautet: „Jugendliche Arbeiter
unter 18 Jahren und Frauen jeden Alters dürfen in den
unter Art. 1 genannten Unternehmungen nicht mehr als
sechs Tage wöchentlich beschäftigt werden, ferner nicht an
den gesetzlichen Feiertagen, sei es auch nur zum Reinigen
und Aufräumen der Arbeitsstätte.
Ein in den Arbeitsstätten angebrachter Anschlag wird
den geeigneten wöchentlichen Ruhetag bezeichnen.“
Leon Say schlug vor, die Worte „mehr als sechs Tage
wöchentlich“ durch „Sonntags“ zu ersetzen. Der Antrag
hatte den Vorzug, dem Arbeiter die Freiheit der Religions-
übung zu sichern. Zudem wird, wie sein Urheber unter
Anführung von Aeusserungen mehrerer Arbeits-Inspektoren
bemerkte, die Ueberwachung ungemein erschwert, wenn
das Gesetz nicht selbst den Ruhetag bestimmt. Der Antrag
wurde indessen von der Kammer mit 316 gegen 216 Stirn-
men verworfen.
Der Gesetzentwurf geht von Neuem an den Senat
zurück. Es steht zu hoffen, dass diese Versammlung ihre
Entscheidung vom 27. Oktober, die mit schwacher Mehrheit
und bei einer grossen Anzahl von der Abstimmung sich
Enthaltenden erzielt wurde, ändern wird. Der Entwurf ge-
nügt bei weitem nicht allen Anforderungen. Er erweist
sich aber der bestehenden Gesetzgebung gegenüber als
grosser Fortschritt, und es ist zu wünschen, dass die
schliessliche Uebereinstimmung beider Kammern gestatten
wird, ihn sobald als möglich endgültig zum Gesetz zu
erheben.
Nach der Fassung, in welcher das Gesetz aus der
Abstimmung der Kammer hervorging, findet es erst ein Jahr
nach seiner Veröffentlichung Anwendung.
Grenoble. Raoul Jay.
Der Entwurf einer revidirten Gesindeordming ist
dem sächsischen Landtage in der ersten Januarwoche zu-
gegangen. Die heute in Sachsen geltende Ordnung stammt
aus dem Jahre 1835. Die meisten Aenderungen sind
redaktioneller Art, einige Strafen, über deren Höhe bisher
das Belieben von Polizei oder Richter entschied, sind fest
normirt, die bereits fest normirten Strafen aber entsprechend
dem seit 1835 erheblich gesunkenen Geldwerthe erhöht
worden. Der § 95 des Entwurfes bestimmt, dass die Dienst-
herrschaft, welche einen Dienstboten in Stellung nimmt,
der noch einer anderen dienstpflichtig ist, oder die einen
Dienstboten zum Verlassen seines bisherigen Dienstes ver-
anlasst, der geschädigten Herrschaft für den erwachsenen
Schaden haftet. Während früher das Gesinde wegen un-
berechtigtem Verlassen des Dienstes nur dann in Strafe
verfiel, wenn es sich nach der auf Antrag der Dienstherr-
schaft zwangsweise erfolgten Zurückführung in den Dienst
beharrlich weigerte, seine Pflichten zu erfüllen, soll
der Dienstbote von nun an wegen blossen Entlaufens aus
dem Dienste auf Antrag der Dienstherrschaft entweder
zurückgeführt oder mit 8 Tagen Haft bestraft weiden.
Die beschlossene Zurückführung wird durch ein dagegen
erhobenes Rechtsmittel nicht aufgehoben. Eine sofortige
Entlassung des Dienstboten in den 19 dafür vorgesehenen
Fällen darf nicht mehr eintreten, wenn diese Thatsachen
dem Dienstgeber länger als eine Woche bekannt sind.
Fortgefallen sind ferner die §§ 17 und 52, welche be-
stimmen, dass geringe Thätlichkeiten und leichte Schimpf-
worte gegen Dienstboten erlaubt seien. In den Motiven
wird freilich, wie die „Sächs. Arbeiterzeitung“ bemerkt,
darauf hingewiesen, „dass man derselben gar nicht bedürfe,
da im Hinblick auf die dem Richter zustehende Beweis-
würdigung auch ohne diese Bestimmungen die Möglichkeit
vorhanden sei, die Herrschaften vor Strafverfolgung zu
schützen, wenn sie durch ungebührliches Verhalten der
Dienstboten sich zu strafbaren Handlungen diesen gegen-
über hinreissen lassen“. Seit zwei Jahrzehnten sind Er-
hebungen u. s. w. im Gange gewesen, um die revidirte
Gesindeordnung in’s Leben zu rufen. Sind auc'ft einige
Härten gemildert worden, dem Entwurf ist der Stempel des
feudalen Herrschaftsverhältnisses, das im schroffen Wider-
spruche zu unserer ganzen sozialen Entwicklung steht, so
scharf aufgeprägt, wie das nur bei einem Ausnahme-
gesetze gegen bestimmte Arbeiterschichten der Fall sein
kann. Es geht nicht länger, landwirthschaftliche Arbeiter
und Dienstboten in einem Zustande der Vertragsunfreiheit
zu belassen, welcher sie zu Hörigen verurtheilt mit allen
Nachtheilen, aber keinem Vortheil der mittelalterlichen
Arbeitsverfassung.
Norinalarbeitstag und Minimallohn bei öffentlichen
Arbeiten in Holland. In der Sitzung der niederländischen
zweiten Kammer vom 25. November 1891 wurde seitens eines
Abgeordneten der Vorschlag gemacht, bei staatlichen Arbeiten
einen Minimallohn und einen Norinalarbeitstag festzusetzen.
Vom Regierungstische erfolgte keine bestimmte Antwort.
Inzwischen hat sich, wie das „Sociaal Weekblad“ mittheilt,
herausgestellt, dass derartige Bestimmungen bei Vergebung
öffentlicher Arbeiten in Holland bereits üblich sind. So
heisst es in den Bedingungen für den Bau des Gerichts-
gebäudes und Gefängnisses in Alkmaar: „Bei dem Bau
darf innerhalb 24 Stunden nicht länger als 1 1 Stunden ge-
arbeitet werden, die Pausen werden nicht als Arbeitszeit
gezählt. Unter ganz besonderen Umständen kann durch
die Direktion im Interesse der Arbeit während höchstens
14 Tagen längere Arbeitszeit bewilligt werden.“
Sonntagsruhe im Handelsgewerbe. Die sozialdemo-
kratischen Stadtverordneten in Berlin haben den Erlass
eines Ortsstatuts beantragt, welches die Beschäftigung von
Gehilfen im Handelsgewerbe an Sonn- und Festtagen in
Bank- und Engrosgeschäften überhaupt untersagt, die Sonn-
tagsarbeit in Detailgeschäften und sonstigen Verkaufsstellen
auf 3 Stunden einschränkt mit der Maassgabe, dass dieselbe
um 10 Uhr beendet sein muss. Es bedarf einer sehr energi-
schen Agitation der Handelsgehilfen, um diesen wohl-
begründeten Antrag durchzusetzen, da die Gewerbedepu-
tation des Magistrats beschlossen hat, über die bezüglichen
Bestimmungen der Gewerbeordnung nicht hinauszugehen.
Gewerbeinspektion.
Eisenbahn-Inspektoren. Das schweizerische Bundesgesetz
zu Gunsten der Eisenbahnbediensteten sieht einen höchstens
12 ständigen Arbeitstag und 52 freie Tage im Jahr für jeden
Angestellten und Arbeiter vor. In schweizerischen Blättern
wird nun gerügt, dass die Centralbahn am Weihnachtstage
Güterzüge ausgeführt habe. Der Baseler „Arbeiterfreund“ fordert,
dass zur Ueberwachung der Schutzvorschriften besondere Eisen-
bahn-Inspektoren eingesetzt werden sollen; tüchtige GeldBussen
und schliesslich Gefängnissstrafen gegen Direktoren wider-
spenstiger Bahngesellschaften würden gewiss helfen. Die
„Züricher Post“ meint: „Wir haben ja ein administratives
Eisenbahninspektorat und neben demselben soll der Bund ein-
fach, wie auf andern Gebieten — gerade auch beim Fabrik-
gesetz — die Mitwirkung der betreffenden kantonalen Organe
in Anspruch nehmen. Den Polizisten der Centralbahnkantone
werden die Weihnachtsgüterzüge wohl nicht unsichtbar ge-
blieben sein, und was sie danach zu thun haben, werden sie
auch wissen!“ Die scharfe Kontrolle über den Vollzug der ge-
setzlichen Bestimmungen im Verkehrswesen dürfte u. E. am
besten durch eigene Aufsichtsbeamte geübt werden.
Arbeiterversicherung.
Hausgewerbe und Versicherungspflicht. Die Ver-
sicherung der Hausindustriellen führt in der Praxis zu den
peinlichsten Verwickelungen und Schwierigkeiten. Die
Fälle, in welchen Streitigkeiten über das Recht auf Ver-
sicherung entstehen, mehren sich. So wird der »Frankf.
Ztg.« aus Elberfeld berichtet, dass eine grosse Anzahl
dortiger Hausweber, welche das siebenzigste Lebensjahr
überschritten hatten, Anfang 1891 Anspruch auf Gewährung
der Altersrente erhoben hatten, zumeist jedoch damit abge-
wiesen worden waren. Auf die hiergegen eingelegte Berufung
verwies das Reichsversicherungsamt die Klage an das
Elberfelder Schiedsgericht. Diese Entscheidung wurde mit
dem Hinweis begründet, dass der Bundesrat von der ihm
in § 2 des Gesetzes betr. die Invaliditäts- und Alters-
versicherung eingeräumten Befugnis, die Versicherungs-
pflicht auch auf das Hausgewerbe auszudehnen, bisher
26
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 2.
I
keinen Gebrauch gemacht habe. Tn der Sitzung des j
Schiedsgerichts begründeten die Weber sowie deren
Vertreter die w'rthschaftliche Unselbständigkeit ihres
Handwerks und beantragten die Rentengewährung. Das
Schiedsgericht wies die Kläger ab. Diese Handweber sind
ihrer ganzen Lage und I hätigkeit nach nichts als Lohn-
arbeiter im Dienste kaufmännischer Verleger oder grosser
Unternehmer, welche neben ihrem Fabrikbetrieb auch der
Heimarbeit sich bedienen. Es ist nur eine F rage der Zeit, j
wann die schlec.htestbezahlten und tiefststehenden Lohn-
arbeiter, die Hausindustriellen, in den Bei eich der \ er-
sicherang einbezogen werden. Man wird sich einer neuen
gesetzgeberischen Regelung der Frage aut die Dauer nicht
entziehen können. Die dem Bundesrath zugebilligte Be-
fugnis reicht nicht aus, weil sie nichts Bindendes ist, und
der § 2 setzt an Stelle eines zwingenden Gebotes eine ,
diskretionäre Vollmacht. Dass jüngst laut Bekanntmachung
vom 16. Dezember 1891 (Reichsgesetzblatt 30, Jahrgang 1891
unter Nr. 19791 die Versicherungspflicht auf die Haus-
crewerbetreibenden der Tabakfabrikation ausgedehnt worden
ist, ändert an diesem Sachverhalt nichts. Versicherung
und Arbeiterschutz sollen gerade die wirthschaftlich
Schwächsten — und das sind unzweifelhaft die Haus-
industriellen — am ehesten und gründlichsten erfassen.
Dass bei der anerkannt grossen Notlage und dem niedrigen
Lebensmassstab der Hausindustriellen von dem Rechte der
freiwilligen Selbstversicherung nur sehr wenig Gebrauch
gemacht werden wird, ist zweitellos. Von dem Recht einer
Selbstversicherung, welches nur für die Lohnklasse II, blos
für Leute unter 40 Jahren und nur dann, wenn sie noch
nicht invalide sind, in Kraft tritt.
Staatliche Unfallversicherung in Russland. Dem Reichs-
rathe ging vom Finanzministerium ein vollständig ausgearbeitetes
Projekt einer staatlichen Unfallversicherungs- Kasse zur ent-
mutigen Beschlussfassung zu. In russischen Zeitungen finden
wir hierüber vorerst folgende Angaben: Die Versicherung soll
für alle Fabriken, Hüttenwerke und handwerksmässigen Be-
triebe, sofern diese alle nicht unter 10 Arbeiter beschäftigen,
obligatorisch sein. Die Kosten der Versicherung werden den
Unternehmern auferlegt. Anspruch auf lebenslängliche Rente
haben diejenigen Arbeiter, welcne durch einen Unglücksfall ,
arbeitsunfähig geworden sind. Die Wittwen der verunglückten
Arbeiter sollen 50°/,) des Verdienstes der verstorbenen Ehe-
männer erhalten, die Waisen bis zur Mündigkeit bezw. bis zur I
Eheschliessung 20 bezw. 15% des Verdienstes des verunglückten |
Vaters.
Gewerberichte, Einigungsämter und
Arbeiterausschüsse.
Die Errichtung gewerblicher Schiedsgerichte in
Deutschland ist auch nach dem neuen .Spezialgesetz vom
29. Juli 1890, das gegen die früheren lakonischen Bestim-
mungen der Gewerbeordnung den Vorzug hat, der ganzen
Materie eine sichere organisatorische Grundlage zu geben,
nicht obligatorisch gemacht, wie es im Reichstag beantragt
wurde, sondern die Entschliessung der Gemeindeverwaltung
überlassen. In zweiter Linie „kann“ die Errichtung aut
Antrag Betheiligter durch die Landescentralbehörde er-
folgen. Die letztere hat denn auch, in Preussen wenigstens,
in ganz anerkennenswerther Weise zur Errichtung gewerb-
licher Schiedsgerichte auf dem Wege der Verordnung an-
zuregen gesucht. Ein Ueberblick über dasjenige, was auf
Grund des neuen Gesetzes bis jetzt geschehen ist, mag
den Erfolg desselben beleuchten. Dabei sei vorausgeschiekt,
dass die Einrichtung einer Art Centralauskunicsstelle, an
welches alle Daten über Gewerbegerichte zusammenlaufen,
leider versäumt wurde. Der Beobachter ist einstweilen aut
private Sammlung der Notizen angewiesen. Danach brachen
in einer ganzen Reihe von deutschen Städten seit dem
1. April 1891, an welchem das neue Gesetz ganz in Kraft
trat, zunächst Differenzen zwischen Behörden, Arbeitern
und Unternehmern wegen Errichtung von Schiedsgerichten
aus. So in Augsburg, Neuss, Aschaffenburg, Oberhessen
(Giessen) und Siegen, in einzelnen dieser Orte, wie in
Aschaffenburg kam es zur Errichtung, in anderen nicht.
Bei einer durch den Vorstand des 1 hüringepStädteverbandes
gehaltenen Umfrage erklärten nicht weniger als 35 Ge-
meindebehörden, dass sie an die Einführung' nicht dächten.
In den Rheinlanden verursachte die Ausnützung einiger
Latituden des Gesetzes bezw. der Kosten, des Wahlmodus
etc. durch die Behörden und Unternehmer Vorstellungen
der Arbeiter (Ronsdorf, Oktober 1891, Crefeld, September
1891). Dagegen wurde sogar eine ländliche Gemeinde,
Mombach bei Mainz, bekannt, welche mit der Errichtung
vorging. Die letzten Nachrichten über die Einführung
kamen aus Ludwigshafen, Eberswalde und Berlin, wo das
Zustandekommen des Gerichts eine seit 1885 im Gange
befindliche und durch die Aufsichtsbehörde öfters gehemmte
Bewegung zum Abschluss bringen würde. Diese Daten
scheiifen uns nicht zu Gunsten des Fakultativums zu
sprechen; die Bewegung geht sehr langsam, wenn man be-
denkt, dass Stieda schon vor dem neuen Gesetz beinahe
ein halbes Hundert Schiedsgerichte verzeichnete.
Kaufmännische Schiedsgerichte. Während für die
Streitigkeiten gewerblicher Unternehmer mit ihren Arbeitern
Fachgerichte, die „Gewerbegerichte“, vorgesehen sind, ent-
behrt der Kaufmannsstand eines nach gleichen Grundsätzen
gebildeten Organs vollständig und ist bei etwaigen Streitig-
keiten auf die Benutzung der ordentlichen Gerichte bezw.
der Kammern für Handelssachen angewiesen. Man hat
deshalb wohl daran gedacht, die Zuständigkeit der Gewerbe-
gerichte, für welche das Reichsgesetz vom 29. Juli 1890
eine neue Grundlage geschaffen hat, auch auf das kauf-
männische Personal auszudehnen.
Ein bezüglicher sozialdemokratischer Antrag wurde vom
deutschen Reichstage abgelehnt mit Rücksicht auf den be-
sonderen Charakter des Handelsrechtes und in der Er-
wägung, dass bei Annahme des Antrages unter den Bei-
sitzern stets ein kaufmännischer Unternehmer und Arbeiter
vorhanden sein, also die Zahl der für die Besetzung des Ge-
richts erforderlichen Personen zu sehr vergrössert werden
müsste. , *
Ausserdem wurde betont, dass m den Kammern für
Handelssachen bereits kaufmännische Sondergerichte vor-
handen seien. Bei der jetzigen Zusammensetzung der Ge-
werbegerichte würde die Ausdehnung ihrer Zuständigkeit ,
auf die Streitigkeiten zwischen kaufmännischen Unterneh-
mern und Angestellten nicht zweckmässig sein, da die Be- ,
theiligung der kaufmännischen Sachverständigen fehlen <
würde. Aber auch die Kammern für Handelssachen ge- :
niigen dem Bediirfniss nicht.
Zunächst erstreckt sich ihre Zuständigkeit nur auf
Rechtsstreitigkeiten über Sachen von mehr als 300 Mk.
Werth, und ausserdem sind die kaufmännischen Angestellten
unter den Beisitzern nicht vertreten, haben auch keinerlei
Einfluss auf die Wahl derselben.
Noch weniger kann die Anrufung der ordentlichen ,
Gerichte dem Bediirfniss gerecht werden. Das sachver- ;
ständige Element fehlt hier ganz, und eine schnelle, mög-
lichst ' wenig Kosten verursachende Entscheidung, wie sie ;
im Interesse aller Betheiligten liegt, ist in der Regel nicht
möglich, ln den betheiligten Kreisen gewinnt deshalb die
Ueberzeugung mehr und mehr an Boden, dass es zweck-
mässig sei, besondere kaufmännische Schiedsgerichte nach
Art der Gewerbegerichte zu bilden. Einen praktischen
Versuch in dieser Richtung hat unlängst der Verein „Ger-
mania“ junger Kaufleute der Kolonialwaarenbranche in
Berlin gemacht. Er hat ein Schiedsgericht gebildet, das
mit je 3 Prinzipalen und Angestellten besetzt ist. Es darf
indess gezweifelt werden, ob auf diesem Wege viel zu er-
reichen sein wird. Ein Zwang zur Benutzung des privaten
Schiedsgerichtes besteht nicht, und seine Anrufung wird
nur dann in grösserem Umfange möglich sein, wenn Unter-
nehmer wie Angestellte die Gemeinsamkeit ihrer Interessen in
diesem Punkt vollständig begriffen haben. Diese Voraus-
! Setzung fehlt noch. Richtiger ist es daher, entsprechende
Organe gesetzlich einzuführen. Eine solche Massregel
würde unzweifelhaft versöhnend wirken, und dazu liegt
Anlass genug vor, da die soziale Frage auch im Kauf-
mannsstande immer schärfer in die Erscheinung tritt.
Ai’beiteransschiisse bei (len preussisclien Staatsbahnen
sollen geplant sein. Die Erfahrungen, welche im Saarbrücki-
' sehen Grubenrevier mit den fiskalischen Arbeiterausschüssen
gemacht worden sind, ermuthigen gerade nicht zum Fortschreiten
uuf dieser Bahn. Um so weniger, da bis heute die Mittheilung
der Arbeiterblätter betr. das geheime Rundschreiben vom
21. November 1891 noch nicht dementirt worden ist. In diesem
Zirkulär .heisst es u. a.: „Wegen der ungünstigen finanziellen
Ergebnisse der Staatseisenbahnverwaltung ist uns die ausserste
Sparsamkeit bei Unterhaltung der Bahnanlagen zur Pflicht
I gemacht worden. Wir bestimmen daher, dass alle zur Erhal-
No. 2.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALULAT'l .
27
tung der Betriebssicherheit oder zur notwendigsten Instand-
haltung der Bahnanlagen nicht unbedingt erforderlichen Aus-
gaben vorläufig zu unterbleiben haben. Es wird hierdurch
sowohl eine Einschränkung der Ausgaben bei den Handwerker-
rechnungen, wie insbesondere bei den Ausgaben für Arbeiter-
löhne durch Herabsetzung der Lohnsätze sowohl wie Ver-
minderung der Arbeiterzahl möglich sein. Die Arbeiterzahl ist
auf dasjenige Mass herabzusetzen, welches für die unbe-
dingt notwendigen Arbeiten erforderlich ist. Allen hiernach
entbehrlichen Arbeitern ist unter Einhaltung der vorgeschriebenen
Frist sofort zu kündigen. Innerhalb 3 Tagen ist zu berichten,
wie vielen Arbeitern gekündigt ist. Die Anzahl der weiterzu-
beschäftigenden Arbeiter ist eingehend zu begründen. Die
durch Herabsetzung der Lohnsätze wie durch Verminderung
der Kopfzahl zu erzielende Ersparniss ist überschläglich zu be-
rechnen und anzugeben.“ Lohnreduktionen und Entlassungen,
wie sie aus vielen Direktionsbezirken gemeldet werden, sind
keine Empfehlung für die „Staatsbetriebe als Musteranstalten“.
Die Ueberbürdung der Eisenbahnangestellten, ihre lange Arbeits-
zeit und Unterbezahlung sind eine feststehende Thatsache. Lind
die Sanitätsstatistik im Verkehrswesen so gut wie die Ge-
schichte der LTnfälle und Prozesse gegen Verkehrsbeamte
zeigen mit grösster Deutlichkeit, dass im Interesse der Ge-
sammtheit und der öffentlichen Sicherheit die soziale Lage der
Bahnarbeiter und subalternen Bahnbeamten noch wird gründlich
verbessert werden müssen.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung.
Behördliche Massnahmen zur Wohnungsfrage sind
aus der letzten Zeit wie folgt bekannt geworden. Für den
Kreis Jerichow I hat der Landrath nach den Amtlichen Mit-
theilungen aus den Jahresberichten der Fabrikinspektoren
für 1890 (Berlin, W. T. Bruer, 1891, S. 328 ff.) eine Polizei-
verordnung vom 8. März 1890 dahin erlassen, dass Schlaf-
stellen von der Wohnung des Vermiethers völlig getrennt,
gedielt, verschliessbar, mit einem Fenster versehen sein,
10 cbm Luftraum enthalten, Bettstellen und Waschgeschirr
haben müssen. Das Stroh in den Betten soll alle 2 Monate
erneuert, die Ueberzüge und Schlafdecken sollen ebenfalls
„alle 2 Monate“ ( ! ) gereinigt werden. Die Behörde kann
das Halten von Schlafleuten verbieten und wegen Nichtbe-
folgung obiger Vorschriften Strafen einziehen. — Für den
Ort Möckern bei Leipzig hat der dortige Gemeindevorctand
Ende des Jahres 1891 eine Bekanntmachung erlassen, nach
welcher das Vermiethen blosser Stuben als Familienwoh-
nungen verboten ist. Nur für Wohnungen, die mehr als
einen Raum enthalten, sind Schlaf leute zugelassen. Ver-
miethete Schlafräume sind mindestens alle drei Jahre mit
neuem Wandanstrich zu versehen. Im Uebrigen ähnelt die
Verordnung derjenigen für den Kreis Jerichow. — In Frank-
furt a. Main (für die äusseren Stadttheile) sowohl als im
Kreise Teltow (südlich von Berlin) haben die Gemeinde-
behörde bezw. der Landrath im Laufe des Jahres 1891 Vor-
schriften erlassen, nach welchen zur Verhütung des über-
mässigen Baues von Miethskasernen nur ein Bruchtheil jedes
Baugrundstückes bebaut werden darf (Vorgartensystem) und
eine m ästige Höhe der Häuser (16 Meter Fronthöhe im
Kreise Teltow) eingehalten werden muss. An beiden Stellen
hat die Bauspekulation eine lebhafte Agitation gegen die
behördlichen Anordnungen eröffnet, in Teltow mit Erfolg,
sodass die Verordnung des Landraths Stubenrauch von der
Regierung aufgehoben wurde.
Statistisches über Wohnungsverhälfnisse liefert in
neuerer Zeit besonders das Grossherzogthum Baden,
offenbar in Folge einer Anregung des Ministeriums des In-
nern bezw. des verdienstvollen Chefs der Fabrikinspektion
Wörishoffer, welche an einige Bezirksämter in grösseren
Städten erging. Im Anschluss an Herkner’s Mittheilung über
das flache Land in Nr. 1 dieser Zeitschrift sei hier zunächst
der Ergebnisse einer städtischen Erhebung in Freiburg i. Br.,
dem Einfallthor zu den schönsten Theilen des badischen
Schwarzwaldes, gedacht. Die in das Jahr 1891 fallende
Untersuchung Freiburger Miethswohnungen erstreckte sich
auf 2700 (in 1078 Häusern und 44 Strassen). Davon wurden
182 gleich 6,7% „beanstandet“. Darunter waren 22 „überfüllt“.
60 waren feucht oder litten unter üblen Ausdünstungen.
14 Wohnungen und 20 einzelne Räume wurden polizeilich
geschlossen. Näheres ist aus der Mittheilung des Ergebnisses
m der „Breisg. Ztg.“ nicht ersichtlich. Aber auch diese
Daten sind schon charakteristisch für einen Ort, der immer
als idyllischer Aufenthalt galt.
Die Berichte des badischen Fabrikinspektors selber
machen einige Angaben über Preise (Jahrg. 1888, S. 59) und
über das Ergebniss der Mannheimer Erhebung (Jahrg.
1889, S. 71 ff.), bei der in 53 Gebäuden 100 Miethswohnungen
beanstandet wurden, sowie über die schlimmen Verhältnisse
in kleineren Fabrikorten Badens. Die beiden im Verlage
von Thiergarten und Raupp (Karlsruhe) 1890 und 1891 er-
schienenen Monographien des badischen Fabrikinspektors
über „Die soziale Lage der Zigarrenarbeiter im Grossherzog-
thum Baden“ und „Die soziale Lage der Fabrikarbeiter in
Mannheim“ behandeln die Wohnungszustände der beobach-
teten Arbeiterklassen noch ausführlicher. Namentlich aus
der letztgenannten Schrift sei die S. 212 ff. stehende genaue
Beschreibung von acht Mannheimer Häusern hervorgehoben,
die der Beamte theilweise als „Miethskasernen der schlimm-
sten Art“ bezeichnet, welche kopfreiche Arbeiterfamilien meist
in zwei enge Räume zusammengepfercht zeigen und die
fürchterlichsten Zustände in materieller und sittlicher Be-
ziehung aufweisen.
Armenwesen.
Versicherungsgesetze und Armenwesen. In dem kürzlich
erschienenen Verwaltungsberichte über das Armen wesen der Stadt
Köln für das Rechnungjahr 1890/91 findet sich folgende Aus-
führung: Die Frage der Einwirkung der sozialen Gesetzgebung
auf die Armenpflege zieht .... mehr und mehr die Auf-
merksamkeit der Armenbehörden auf sich. Die unter der Auf-
sicht des Oberbürgermeisteramts stehenden Orts- und Betriebs-
krankenkassen des Stadtgebiets haben im Rechnungsjahr 1890
an Krankengeldern, Krankenpflege- und Beerdigungskosten rund
1050 000 Mk. verausgabt. Es treten hinzu die Ausgaben der
unter Aufsicht der Staatsbehörden stehenden Eisenbahn- und
Werkstättenkrankenkassen, die der zahlreichen freien Hlilfs-
krankenkassen, ferner die Ausgaben der Unfallberufsgenossen-
schaften, über welche für das hiesige Stadtgebiet wegen deren
anderweitiger Verwaltungseinrichtung Uebersichtsziffern nicht
vorliegen, ebenso die schon jetzt erfolgenden Ausgaben der
Altersversicherung. Es erscheint auffällig, dass trotz jener
überaus hohen, einem grossen Theile der Klasse der Bedürftigen
zufliessenden Summen die Armenausgaben gegen die Zeit vor
dem Inkrafttreten der fraglichen neuern gesetzlichen Bestim-
mungen keineswegs in irgend einer entsprechenden Weise ab-
genommen haben. Es bedarf jedoch einer eingehenden Prüfung
dieser Erscheinung, ehe ein abschliessendes Urteil über die
Gründe derselben aufgestellt werden kann. Der Umfang der
Geschäfte der Armenverwaltung hat sich durch die soziale
Gesetzgebung nicht unbedeutend vermehrt. Es ist dies eine
notwendige Folge der bei jedem Unterstützungsfalle erforder-
lichen Prüfung und Feststellung des Bestehens, der Höhe und
der Dauer etwaiger Ansprüche an die Kranken-, Unfall- und
Altersrersicherung. Gerade die Verschiedenartigkeit und die
theilweise Zersplitterung der Verwaltung dieser Versicherungs-
einrichtungen erschwert diese Feststellung und erzeugt eine
Vermehrung des Schreibwerks. Der letztere Umstand macht
sich sogar in der zunehmenden Höhe der Verwaltungskosten
der Armenverwaltung in erheblichem Masse geltend. Wenn
die an das Armenwesen gestellten Ansprüche sich nicht ent-
sprechend verminderten, trotzdem die Versicherungsgesetze die
Aufgabe haben, jenes zu entlasten, so kommt hierfür Folgen-
des in Betracht. Entweder sind die Leistungen der Sozial-
gesetzgebung keine ausreichenden, der Kreis, auf welchen sie
sich erstrecken, ist nicht gross genug, was sie bieten, genügt
den heutigen Anforderungen nicht. Öder die Verarmung hat
Fortschritte gemacht, die Armenpflege wird für immer breitere
Schichten der Bevölkerung ein notwendiges Bedürfnis, sei es
auf kürzere Zeit, als Hilfsmittel in Perioden der Arbeitslosigy
keit, sei es dauernd, für Arbeitsunfähige. Oder aber, diese zwei
Momente wirken zusammen, um die oben gekennzeichnete Er-
scheinung hervorzurufen. Von den erhöhten Verwaltungskosten
ganz zu schweigen! Ist ja jüngst auf einer in Dresden stattge-
habten Tagung von 66 sächsischen Ortskrankenkassen der Be-
schluss gefasst worden, beim Ministerium wegen Erhöhung des
jetzigen Satzes von 3 Prozent für die Einziehung der Bei-
träge zur Alters- und Invaliditätsversicherung vorstellig zu
werden, da z. B. den Leipziger Ortskrankenkassen ein Mehr-
aufwand der Verwaltungskosten von 5 Prozent der eingezogenen
Beiträge erwachsen ist. Es ist zu wünschen, dass über den
Einfluss der Sozialgesetze auf das Armenwesen ein reichhaltiger,
gesicherter Zahlenstoff zusammengebracht wird, da das vor-
liegende Material zur endgiltigen Beurtheilung in der That nicht
ausreicht.
28
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 2.
Prostitution.
Eine Randglosse zur Prostitutionsfrage.
So mannigfach die Ansichten über die Prostitution
auch sein mögen, dass sie heute eine gesellschaftliche
Massenerscheinung ist, wird von Niemand mehr bestritten.
Nur als solche ist sie Gegenstand von Erörterungen in
diesen Blättern, und wir setzen uns mit den verschiedenen
Grundanschauungen blos soweit auseinander, als sie, histo-
risch bedingt, der Ausdruck und das Erzeugniss bestimmter
sozialer Vorstellungskreise sind. Hier begegnet uns die
theologisch-ethische Auffassung, welche die Gefallenen, an
deren Loos die Gesellschaft eine Kollektivschuld trage, zur
Bussfertigkeit führen will. Nüchtern betrachtet die polizeiärzt-
liche Richtung die Prostitution als eine unabwendbare, natur-
gesetzliche Einrichtung, deren Nothwendigkeit unbestreitbar,
deren Regelung eine dem Gemeinwesen erspriessliche Auf-
gabe sei. Als dritte Betrachtungsweise erscheint die sozial-
politische, welche sich bemüht, das W esen der Prostitution
als eines wirthschaftsgeschichtlichen Phänomens zu begreifen
und am Ende den Schlüssel für jene anderen Ansichten zu
liefern, deren krauses Durcheinander das U rtheil verwirrt.
Wer kurzer Hand die Prostitution in den Bannkreis
des Lumpenproletariats verweiset, der versieht einen hervor-
stechenden, grellfarbigen Theil für das Ganze. In der Iliat
besitzt jene ihre Ueberlieferung und fügt sich in einen be-
stimmten, seit Langem bestehenden Rahmen. Hier ist nicht
zu untersuchen, wie der Abhub aller gesellschaftlichen
Klassen, eben das Lumpenproletariat geschichtlich entstand,
wie es mit dem Anfänge der bürgerlichen Wirthschaftsweise
eine neue Epoche erlebte; dass es zum Sammelbecken auch
des Dirnenthums wird, ist unleugbar. Jedennoch zwischen
zwei grossen Gruppen ist zu scheiden, zwischen der stän-
digen, ich möchte sagen ansässigen, und der flottanten
Prostitution. Die erstere, zum grossen Theil aus dem
Lumpenproletariat entsprossen, ist der Grundstock der
lumpenproletarischen Schicht, während in den unruhigen
Wirbel der zweiten alle die untertauchen, welche der arbei-
tenden Klasse zuzurechnen sind. So ist diese letztere die
Vorstufe, der Uebergang und Durchgangspunkt zur stän-
digen Prostitution, sobald die Proletarierin aufhört, Arbei-
terin zu sein, sobald sie deklassirt wird. Wie sie zum
Niederschlage in dem Reservoir der „gefährlichen Klassen“
wird, ist an dieser Stelle nicht zu erörtern. Es genügt, den
grundsätzlich vorhandenen Unterschied hervorzuheben ; die
Grenzlinien freilich verschwimmen und gehen in einan-
der über.
Besonderes Kennzeichen der flottanten Prosti-
tution, welche mehrfache Schattirungen aufweist, ist die
Periodizität ihres Betriebes. In dem Augenblicke, da die
weibliche Arbeitskraft zur marktgängigen Waare wurde,
trat die moderne Prostitution ins Dasein: sie ist ein so
naturwüchsiges Geschöpf der heutigen Produktionsweise,
wie die Erwerbsarbeit der Frau. Und das gleiche Gesetz,
welches die gewerbliche Thätigkeit des Weibes zu einem
Gebote des ökonomischen Fortschrittes macht, erzwingt
mit unwiderstehlicher Gewalt auch die Preisgabe des Weibes.
Neben dem Verkaufe der Waare Arbeitskraft der Verschleiss [
der Persönlichkeit, des ganzen Menschen. Diese zwei Thä-
tigkeiten gehen nicht allein nach, sie gehen neben einander
vor sich. Denn die Prostitution ist nicht nur Abschluss,
Ablösung, Ersatz des Arbeitsprozesses, sie ergänzt ihn auch,
je rascher, vielseitiger, umfassender die Weiberarbeit angre-
wendet, ausgedehnt, angespannt wird, um so klarer bildet
sich die Prostitution zu dem aus, was sich in Kürze als kom-
plementäres Gewerbe, als das komplementäre Gewerbe der
Arbeiterin bezeichnen lässt. Sind Ueberarbeit und Unter-
bezahlung, niedriger Lebensmaassstab und trotzdem stete
Schwierigkeit, ihn aufrecht zu erhalten, für die Arbeiterin
die Regel, so bedingt der Eintritt der Noth, des nackten
Mangels die Preisgabe, wenn keine andere Hilfsquelle fliesst.
Dieser Nothstand ist unweigerlich an das Aut und Ab, an
die Wechselfälle des industriellen Lebens geknüpft. Jede
Geschäftsstockung, das Stillsetzen der Werke, die Reduktion
der Löhne, die Krisis sind von entscheidender Bedeutung.
Mit jedem Groschen, um welchen der Brotpreis steigt, ohne
dass der Lohn sich erhöht, vermehrt sich auch die Prosti-
tutionswahrscheinlichkeit für die schlecht bezahlten Arbei-
terinnenkategorien. So Kärgliches auch gerade hier die
Statistik bietet, diese Bewegung ist direkt und mittelbar er-
wiesen. Huppe1) hat für Berlin, Stern2 *) für Breslau, um nur
diese zwei Gewährsmänner anzuführen, den schlüssigen
Nachweis erbracht, dass die Ziffer der Prostituirten und
der geschlechtlichen Erkrankungen mit dem Nothstande
steigt und fällt.
Neben den heftigeren oder schwächeren Schlägen,
welche in bestimmten Zwischenräumen den Wirthschafts-
körper erschüttern, wirkt der regelmässige Stillstand in den
zahlreichen Saisongewerben verhängnisvoll, welche vorzugs-
weise gerade weibliche Hände beschäftigen. Die einzige
von Reichswegen veranstaltete sozialwirthschaftliche Er-
hellung, welche brauchbare Daten geliefert hat, die Unter-
suchung der in der Wäschefabrikation und Konfektions-
branche Deutschlands herrschenden Arbeiterinnenzustände,2)
gibt über diesen Punkt genügenden Aufschluss. Man hat
nicht nöthig, die allerdings packenden Pariser Angaben
Parent-Duchatelet’s und seiner Fortsetzer wieder und wieder
anzuführen, nachdem das amtliche Quellenwerk über
deutsche Zustände etwelchen Aufschluss gibt. Um so
mehr, da bereits Huppe in seiner sorgfältigen und fein-
sinnigen Arbeit urkundliche Belege für Berlin beigebracht
hat, welche heute noch und zwar Dank dem Aufschwung
des Berliner Gewerbewesens in verstärktem Maasse Gültig-
keit haben. Nach ihm waren von den in Berlin im Jahre
1855 neu unter sittenpolizeiliche Kontrolle tretenden 296
Dirnen 73 Fabrikarbeiterinnen, 62 Nähterinnen, 16 Wäsche-
rinnen und Plätterinnen, 23 Handarbeiterinnen, 32 Haus-
arbeiterinnen, 22 Dienstmädchen. Im Jahre 1874 stellte
H. Schwabe4) fest, dass bei den 2224 eingeschriebenen Ber-
liner Dirnen der vorherige Erwerb gewesen war: 6,3/.,
Aufwartung in Verkaufslokalen, 16,6 % Fabrikarbeit, 35,7 /„
Gesindedienst, 42,0% Hausindustrie und Ladengeschäft. In
welcher misslichen Lage sich die für persönliche Dienst-
leistungen und Hausarbeit verwendeten Arbeitskräfte be-
finden, welche stellenlos sind, erhellt gleichfalls aus den
mitgetheilten Ziffern. Für die tiefststehenden Schichten
der^Arbeiterinnen nun verringert sich der Abstand zwischen
der Zeit der Erwerbsarbeit und derjenigen der Prostitution
mehr und mehr; das Uebermaass an Entbehrungen nöthigt
die am schlimmsten gestellten und zum härtesten W erk ge-
zwungenen Weiber neben der unzureichenden Erwerbs-
thätigkeit gleichzeitig zur Prostitution. So paart sich mit
tiefstem Elend und ärgster Arbeitspein die schmählichste
Erniedrigung. In den „Ergebnissen“ wird aus Posen ge-
meldet: „Die Wohnungsverhältnisse der Arbeiterinnen sind
je nach den Nebeneinkünften aus der Prostitution besser
oder ‘schlechter. Bei Arbeiterinnen bildet, so lange sie sich
der Prostitution nicht ergeben haben, die Kartoffel das
hauptsächlichste Mittel der Ernährung; auf das Mittagmahl
kann nicht mehr als ein Betrag von 20 Pfennig verwendet
werden 5).“
Wollte man den Stand der Prostitution nach der
Ziffer der registrirten Dirnen bemessen, schlüge man hier-
zu ferner die Zahl der Sistirten, der Prostitutionsver-
dächtigen, bediente man sich eines indirekten Verfahrens
(Bewegung der Syphilisziffer), ein auch nur annähernd
richtiges Bild wäre trotzdem nicht zu erlangen. Entzieht
sich schon ein nicht unbeträchtlicher Bruchtheil der
ständigen Prostitution der Kontrolle, unfassbar, schwankend,
ein ewiges Ebben und Fluthen, das ist die andere form
der Prostitution. Wer der Ansicht ist, dass die Massen m
immer tieferes Elend versinken, dass der Industrialismus
immer grössere Mengen weiblicher Arbeitskräfte aufbraucht,
sie heute zur Ueberarbeit zwingt, um sie morgen ausser
Brod zu werfen, der wird auch auf das fortgesetzte Wachs-
1) Der Hauptbestandtheil im sozialen Defizit von Berlin,
in: Berlin und seine Entwickelung, Städtisches Jahrbuch für
Volkswirthschaft und Statistik. 4. Jahrg. Berlin 1870, S. 28 125,
besonders 109 ff.
2) Ueber die Ausbreitung der venerischen Erkrankungen
in Breslau, in Eulenburg’s Vierteljahrsschrift für gerichtliche
Medizin und öffentliches Sanitätswesen. N. E. XL. 1.
3) Die Ergebnisse der von den Bundesregierungen ange-
stellten Ermittelungen über die Lohnverhältnisse der Ar-
beiterinnen in der Wäschefabrikation und der Kontektions-
branche etc. Stenogr. Berichte über die V erhandl. des Reichs-
tags. 7. Legislaturper. — 1. Session 1887. Dritter Band. Erster
Anlageband No. 1—87 der amtlichen Drucksachen enthaltend.
Aktenstück No. 83, S. 698 — 749. Berlin 1887. . .
4) Einblick in das innere Leben der Berliner Prostitution,
im Berliner Städtischen Jahrbuch für Volkswirthschaft u. Stat.,
I. Jahrg., Berlin 1874, S. 65 ff.
' 5} A. a. O. S. 704.
No. 2.
.SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
29
thum der flottanten Prostitution als auf eine nothwendige
Folge dieses Vorgangs sch Hessen.
Ein gesetzgeberischer Eingriff, welcher ohne eindrin-
gendere Kenntmss der Thatsachen vorgenommen wird, ist
gefährlicher als die Fortdauer des früheren Zustandes.
Das Zahlenmaterial, das zur Prostitutionsfrage vorhanden
ist, genügt ernsthaften Ansprüchen nicht. Es ist lücken-
haft, oft unmethodisch gewonnen, tendenziös zurechtge-
stutzt und kritiklos bearbeitet. Die trefflichen Anläufe,
welche die Berliner städtische Statistik in den siebenziger
Jahren auf diesem Felde genommen hat, sind ohne Folgen
geblieben. Und gerade das in Berlin seit dem I. August
1872 eingeführte Zählblattsystem böte Handhaben zu
brauchbaren Erhebungen. Bei der Berathung der §§ 180
und 361 des deutschen Strafgesetzbuches von 1876 wurde
im Reichstage der Wunsch geäussert, der Reichskanzler
möge dafür sorgen, dass vom polizeilichen und medizini-
schen Standpunkte aus statistisches Material über die Aus-
breitung der Prostitution gesammelt werde. Es ist dieser
Wunsch nicht erfüllt worden. Während in England, in
Frankreich, im Reiche des Czaren diese Dinge mit Unbe-
fangenheit erforscht und dargestellt werden, ist man in
Deutschland von einer empfindsamen Scheu erfüllt, die
Thatsachen rückhaltslos aufzudecken. Will man auf
festem Grunde Vorgehen, so thut vor allem eine
nach sozialpolitischen Gesichtspunkten veranstaltete
deutsche Prostitutions-Enquete noth. Aus welchen
Bevölkerungsschichten rekrutiren sich die Dirnen? Alter,
Zivilstand, Heimath? Welchen Berufen gehörten sie
ursprünglich an? Was für Lohn- und Arbeitsverhältnisse,
was für soziale Zustände überhaupt herrschen in diesen
Berufen? Wie verhält sich die ständige zur flottanten Pro-
stitution? Der Dirnen Antheil am Verbrechen? Bordelle und
„freie“ Prostitution? Welche Rolle das Zuhälterthum, über
dessen Ausdehnung wir im Dunkeln tappen, spielt, wäre
darzulegen: die „Louis“ werden zum ersten Male erwähnt
im Berliner Sittenpolizeibericht von 1860 als „arbeitsscheue,
meist bestrafte junge Männer, welche als Liebhaber prosti-
tuirter Frauenspersonen auftreten und einen psychologisch
bedeutsamen Einfluss auf sie ausüben.“1) Das wären einige
Gesichtspunkte, welche in Betracht kämen.2)
Scheut man sich, den Schleier zu lüften, so hüte man
sich auch, in’s Blaue hinein zu experimentiren. Zum Schlüsse
ist das Eine zu bedenken: ein Kampf gegen Symptome ist ohne_
dauernden Erfolg. Soll mit dem Manchesterthum auch auf
diesem Gebiete gebrochen werden, so heisst es die sozialen
Zustände der Arbeiterinnen verbessern. Einzig der Sozial-
politiker erblickt in der Massenerscheinung, welche wie ein Alp
auf uns drückt, das Produkt bestimmter gesellschaftlicher
Zustände, daseinsfähig nur unter gewissen wirtschaftlichen
Bedingungen. So sucht er die Zusammenhänge zu ergrün-
den, die Ursachen aufzuspüren, die Folgen aufzudecken und
den Weg zu zeigen, auf welchem eine Abhilfe möglich ist,
den Weg der sozialen Gesetzgebung, der durchgreifenden
Reform.
Berlin. Bruno Schoenlank.
Soziale Hygiene.
Die amerikanische Trichine und die obligatorische
Trichinenschau in Deutschland.
Durch die Begründung des deutschen Einfuhrverbots
für amerikanisches Schweinefleisch wurde die amerikanische
Trichine zu einem Thier von sozialpolitischer Bedeutung.
Denn welche Rolle gerade die billigen amerikanischen
Fleischsorten in der Ernährung der unbemittelten Klassen
spielen, ist ja bekannt und soll hier nicht weiter erörtert
werden.
Im letzten Jahrgang der Deutschen medizinischen
Wochenschrift sind nun zwei Arbeiten aus der Feder von
Fachmännern erschienen, welche nicht nur die absolute
wissenschaftliche Haltlosigkeit jener hygienischen Moti-
virung des Einfuhrverbots klarlegen, sondern auch die bis-
b Huppe a. a O. S. 116.
ä) Die Ergebnisse einer russischen Erhebung sind ver-
öffentlicht in der Statistique de l’Empire de Russie XIII. La
Prostitution d’apres l’enquete du 1/13 aoüt 1889.
herigen sozial -hygienischen Massnahmen gegen die Ver-
breitung der Trichinose durch inländisches Schweinefleisch,
also die obligatorische Trichinenschau, einer zutreffenden
Kritik unterziehen. Es ist das die Arbeit Dr. Wasserfuhr’s
in No. 22 vom 28. Mai 1891: „Die französische Hygiene
gegenüber dem amerikanischen Schweinefleisch“ und die
noch ausführlichere Prof. C. FränkePs (Marburg) in No. 51
vom 17. Dezember 1891: „Die angebliche Gesundheits-
Schädlichkeit des amerikanischen Schweinefleisches“. Es
soll hier über diese beiden Artikel im Zusammenhänge
referirt werden.
Sehr bezeichnend ist die Thatsache, dass von sämmt-
lichen Fällen von Trichinose, welche in Deutschland durch
den Genuss amerikanischen Schweinefleisches erzeugt
worden sein sollten, bei der genaueren Prüfung durch
R. Virchow sich alle bis auf zwei als unhaltbar entpuppten.
Aber auch von diesen beiden ist noch einer deshalb höchst
unsicherer Natur, weil das trichinöse Fleisch nur auf Grund
einer ziemlich willkürlichen Vermuthung als amerikanisches
bezeichnet worden war, so dass C. Fränkel meint, man
wäre hier bei näherem Zusehen wohl zu einem ähnlichen
Ergebniss gelangt wie bei einem Falle in Frankreich, „wo
eine im Jahre 1878 in Crepy en Valois ausgebrochene
kleine Trichinenepidemie den französischen Schutzzöllnern
die Handhabe zum Verbot der Einfuhr amerikanischen
Schweinefleisches gab, es sich aber schliesslich herausstellte,
dass das schuldige Schwein nicht, wie behauptet worden,
ein amerikanisches, sondern ein normannisches gewesen
war“. Und er fügt hinzu: „Das also sind die beiden Ftisse,
auf denen sich später der Koloss des Einfuhrverbotes er-
hob, — es ist nicht ganz leicht, keine Satire zu schreiben.“
Lim die Tragfähigkeit dieser beiden Ftisse genügend be-
wundern zu können, darf man nicht vergessen, dass jährlich
im Durchschnitt immer noch mehr als hundert Erkrankungen
an Trichinose durch den Genuss von einheimischem
Schweinefleisch verursacht werden, welches die Trichinen-
schau passirt hat! Nach der amtlichen Statistik Eulenburg’s
gab es allein in Preussen von 1876 — 81 jährlich durch-
schnittlich 340 Trichinenerkrankungen!
Ueberhaupt stellt die amtliche Trichinenschau eine
Maschinerie dar, deren Unterhaltungskosten in gar keinem
Verhältniss zu ihrer Leistungsfähigkeit stehen. So hat
Günther in Dresden gezeigt, dass nach Einführung der
Zwangsuntersuchung die Zahl der Erkrankungen an
Trichinose in Sachsen keineswegs eine erkennbar geringere
geworden sei, als vor derselben. Und im Regierungsbezirk
Münster ist während 6 Jahren von 250 Untersuchern unter
118 000 Schweinen glücklich ein trichinöses gefunden
worden. Es ist auch ~ kein Wunder, dass in einer grossen
Anzahl der Fälle die Trichinenkrankheit des Schweines der
Beobachtung entgeht, da das Personal der Beschauer zum
grössten Theil fachmännisch durchaus ungebildet ist.
Den wissenschaftlich einzig korrekten Standpunkt in
der Beurtheilung der Frage, ob das amerikanische Schweine-
fleisch gesundheitsgefährlicher als anderes sei oder nicht,
hat schon im Jahre 1879 der oberste Gesundheitsrath
Frankreichs eingenommen. Auch dort wurde bekanntlich
von den Schutzzöllnern ein Verbot für die Einfuhr von
gesalzenem Schweinefleisch aus den Vereinigten Staaten
durchgesetzt, das im Februar 1881 in Kraft trat, im
November 1883 wieder aufgehoben, aber schon im Dezember
wiederhergestellt wurde, hinter dem Druck der parlamen-
tarischen Majorität suchte der französische Handelsminister
wiederholt den obersten Gesundheitsrath zu einem, dem
amerikanischen Schweinefleisch hygienisch ungünstigen
Gutachten zu bewegen, — aber vergeblich. Nicht weniger
als fünf Mal wurde diese wissenschaftliche Korporation um
ihre Meinung in der Sache befragt, und jedes Mal stützte
sie ihre frühere Ansicht von der relativen Unschädlichkeit
dieses Fleisches mit neuen Argumenten. Dabei wurde be-
sonders betont, dass die in Frankreich herrschende Sitte,
das Schweinefleisch stets gekocht oder gebraten, niemals
aber roh oder halbroh zu gemessen, weit sicherer vor
Trichinose schütze, als die Deutschland vorgeschriebene
Trichinenschau. Zum Beweise dessen führte der oberste
Gesundheitsrath die Thatsache an, dass vor Erlass des
Einfuhrverbots kein Fall von Trichinose in Frankreich be-
kannt geworden sei, obwohl das amerikanische Schweine-
fleisch ohne Kontrolle namentlich in grossen Fabrikorten
und innerhalb des Heeres genossen worden sei, wo die
Trichinose im Fall ihres Auftretens sicher erkannt worden
wäre. F'erner weist er darauf hin, dass auch in England
und Belgien, wo ebenfalls kein rohes Schweinefleisch ge-
30
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 2.
o-essen wird, die Trichinose sehr selten sei, obgleich das
amerikanische Fleisch dorthin ungehindert Zugang habe.
Dass aber selbst in Deutschland die durch amerika-
nisches Schweinefleisch verursachten Trichinenerkrankungen
so vereinzelt geblieben sind, trotzdem in demselben Zeit-
raum tausende von Infektionen durch deutsches Schweine-
fleisch sich ereigneten bei einer Armee von mehr als
18 000 Trichinenschauern allein in Preussen — das erklärt
der oberste Gesundheitsrath Frankreichs dahin, dass das
Einsalzen des Fleisches — in der Gründlichkeit, wie es für
den Export geschieht — die Trichine fast ganz unschädlich
mache.
Und in der That haben die Experimente deutscher ;
Forscher diese Theorie von der Wirkung des Einsalzens
vollauf bestätigt. Man hat Hunde, Katzen, Meerschweinchen
und namentlich das für die Infektion sehr empfängliche
Kaninchen wiederholt und längere Zeit hindurch mit ein-
o-esalzenem amerikanischen Schweinefleisch , welches
Trichinen enthielt, gefüttert, aber niemals ist es gelungen,
die Thiere zu infiziren, während sie infolge einer Fütterung
mit frischem trichinenhaltigen Fleisch sehr bald trichinös
wurden. Männer von wissenschaftlichem Ruf, Roeper,
v. Recklinghausen, Engel - Reimers, Köhne u. A. haben
diese Versuche angestellt und sind ausnahmslos zu dem-
selben negativen Resultat gelangt.
Demnach muss vom hygienischen Standpunkt das
Einfuhrverbot nicht nur nicht als nützlich, sondern insofern
als eine für die Volksgesundheit verderbliche Massregel be-
zeichnet werden, als dadurch weite Bevölkerungskreise ge-
zwungen wurden, an Stelle des unschädlicheren ameri-
kanischen Schweinefleisches das frische einheimische zu
o-eniessen, das trotz aller Kontrolle weit gefährlicher ist als
jenes. . , ,
Was aber die obligatorische Trichinenschau anlangt,
so ist die vollständige Unzulänglichkeit dieses kostspieligen,
sozialhygienischen Apparats durch jene Untersuchungen
wieder einmal offenkundig geworden. Der Nutzen der-
selben für die Volksgesundheit ist ein minimaler geblieben,
ein gar nicht hoch genug zu schätzender Schaden der-
selben ist es aber, dass dadurch die Bevölkerung in eine
trügerische Sicherheit hinsichtlich des Genusses rohen
Schweinefleisches eingewiegt wird. .....
Weit rationeller und zweckmässiger als alle ’lriclnnen-
schau wäre es, wenn der in Mittel- und Norddeutschland
verbreiteten Unsitte, rohes oder halbrohes Schweinefleisch
zu essen, von Seiten der berufenen Organe, namentlich
der Aerzte, energisch entgegengearbeitet würde. Denn
eine Temperatur von 60— 70 Grad tödtet die Trichinen, und
wenn auch beim Sieden und Braten des Fleisches nicht
überall innerhalb desselben diese Temperatur ganz erreicht
wird, so werden sie dadurch doch soweit m ihrer hort-
pflanzungsfähigkeit geschwächt, dass sie keine Infektion
mehr hervorruten können. Das beweist unwiderleglich die
Seltenheit der Trichinose in Frankreich, England und
Beluden. Wenn die Sitte, das Schweinefleisch nur gekocht
oder gebraten zu gemessen, in Deutschland ebenso aus-
schliesslich geübt würde wie in diesen Ländern, so würde
die ganze Trichinenschau überflüssig, und dabei doch der
Zweck derselben bei weitem vollkommener erreicht, als er
durch diese allein jemals erreicht werden könnte. Denen,
welche meinen, eine so tief eingewurzelte Gewohnheit, wie das
Essen rohen und halbrohen Schweinefleisches, werde sich
in absehbarer Zeit nicht gänzlich ausrotten lassen, muss
das von Fränkel citirte Wort eines andern Fachmanns ent-
gegengehalten werden: „Jedermann vor den gesundheits-
schädlichen Folgen seiner eignen üblen Angewohnheiten,
Liebhabereien oder Unvorsichtigkeiten zu schützen, kann
unmöglich Aufgabe der Sanitätspolizei oder gar der Reichs-
gesetzgebung sein.“
St. Gallen. F. B. Simon.
Litteratur.
Wörishoffer, L. Die soziale Lage der Fabrikarbeiter in
Mannheim und dessen nächster Umgebung. Heraus-
gegeben im Aufträge des grossh. Ministeriums des
fnnern. Karlsruhe, Thiergarten, 1891. 383 S.
Eine Beschreibung der gesammten Lage der Ar-
beiterbevölkerung muss von durchaus unabhängigen und
unparteiischen Persönlichkeiten ausgehen, wenn anders ihr
unbedingtes Vertrauen beigemessen werden soll. In Deutsch-
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Bra
land und Oesterreich haben sich bisher meist junge, noch
nicht in Amt und Würden stehende Gelehrte mit Erfolg dieser
Aufgabe gewidmet. Neuerdings aller hat die badische Fabrik-
inspektion den Beweis dafür geliefert, dass es auch unter den
Beamten im deutschen Reiche Persönlichkeiten gibt, die in
völlig unbefangener Weise ein Bild von den thatsächlichen
Zuständen in unserer Arbeiterwelt zu entwerfen verstehen.
Wir haben hier die ausgezeichnete Untersuchung des Herrn
Oberregierungsrathes L. Wörishoffer: „Die soziale Lage
der Fabrikarbeiter in Mannheim und dessen
nächster Umgebung“ im Auge. Dieser Bericht, der
neben sorgfältig gesammelten und methodisch verarbeiteten,
zahlreichen statistischen Daten auch der Beschreibung ein
weites Feld einräumt, gibt eine, wenigstens in Bezug auf
den objektiven Thatbestand, nahezu vollständige Vorstellung
von der Lage der beobachteten Arbeiterbevölkerung. Die
Verhältnisse der Arbeitsstätten, die Arbeitszeiten und Ar-
beitsformen, Zahl, Alter, Geschlecht und Lohn der Arbeiter,
die allgemeinen wirthschaftlichen Verhältnisse der Arbeiter-
familien und der unverheiratheten Arbeiter in der Stadt
und auf dem Lande, die Wohnungsverhältnisse, die Haus-
haltungsbudgets und physiologischen Bilanzen, die Wolil-
thätigkeitsanstalten und Vereine, die Gesundheitszustände,
und last not least die Gewerkvereine und Fachvereine der
Arbeiter, all das wird in anziehender Darstellung mit ab-
soluter Objektivität und eindringendem Sachverständnis
vorgetragen. Zum ersten Male werden in diesem Werke,
und das "mag besonders rühmend hervorgehoben werden,
die gewerkschaftlichen Bestrebungen öffentlich zum Gegen-
stände eines durchaus vorurteilslosen amtlichen Berichtes
o-emacht. Dass bei den Erhebungen die Arbeiter selbst
Sefrao-t wurden, versteht sich bei einem sozialpolitisch so
hochgebildeten Manne, wie es der badische Fabrikinspektor
ist, von selbst. .
Es drängt sich bei dieser Gelegenheit vielleicht Vielen
die Frao-e auf, ob denn soziale Erhebungen im deutschen
Reiche nun allgemein nach der Methode erfolgen sollen,
die in Baden seit einiger Zeit mit so grossem Erfolge an-
o-ewendet wird. Wir möchten die Frage bejahen, wenn
sie sich nur auf die soziale Berichterstattung der Aufsichts-
beamten bezieht. Wir würden sie verneinen, wenn ihr der
Sinn beigelegt werden sollte, dass andere Erhebungen
überhaupt nicht mehr erforderlich seien.
Der Bericht des badischen Inspektors zeigt, wie eine
gewaltige Reihe von rhatsachen, welche für die Gestaltung
der sozialen Lage bedeutungsvoll sind, sich in Wirklichkeit
verhalten. Zur vollkommenen Beurtheilung der Zustände
reicht es u. E. aber nicht hin, dass ein Komplex ökonomi-
scher und sozialer Thatsachen mit peinlicher Sorgfalt klar-
o-estellt wird. Ausser den rein thatsächlichen Momenten
müssen doch auch noch, wenn man so sagen darf, die
„Imponderabilia“ des sozialen Lebens erfasst werden. Man
muss Auskunft erhalten nicht nur darüber, wie die Dmge
wirklich sind, sondern auch darüber, wie sie sich in den
Köpfen der Betheiligten darstellen, welche Stimmungen,
Anschauungen und Gesinnungen sie hervorrufen, wie
andrerseits wieder letztere auf die Dinge zurückwirken u. s. t.
Der badische Aufsichtsbeamte hat sich freilich bemüht,
auch dieser Anforderung einigermassen Rechnung zu
tragen, allein, hier waren ihm durch seine Stellung, duich
den Umstand, dass seine Arbeit als amtlicher Bericht her-
aus°*eo'eben worden ist, lür welchen das Ministerium die
Verantwortlichkeit trägt, bestimmte Grenzen gezogen, die
schlechterdings nicht überschritten werden durften.
Ein auch nach der angedeuteten Richtung vollstän-
diges Bild vermögen eben doch nur die Untersuchungen
zu" gewähren, welche nach dem englischen Enqueteverfahren
vorgenommen werden. Hier treten die Interessenten selbst
in cter Erhebung auf, sie gelangen selbst unmittelbar zum
Worte, sie legen die Dinge und ihr Denken und Fühlen in
Betreff derselben unumwunden dar. All diese Vorzüge
treten klar hervor; wenn man die eben besprochenen Unter-
suchungen mit dem stenographischen Berichten über die
Erhebungen vergleicht, die von der königlichen Arbeits-
kommission in England vorgenonnnen worden sind.
Welches Leben, welche Plastik, welche I* rische, welch
dramatischer Schwung ! Wie schart sind die Individuali-
täten auf beiden Seiten (Unternehmer und Arbeiter) durch
ihre Aussagen charakterisirt! Man lebt bei der Lektüre
mitten in den Zuständen. ...
Die Eimländer besitzen Vieles, um das wir sie benei-
den können." Sollen auch ihre Enqueten dazu gehören?
Freiburo- i. B. Heinrich Eierkner.
i in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
Berlin, den 11. Januar 1892.
Kür den Vn/eiLrentl.eil sind die Rektion und die Verlagsbuchhandlung nicht verantwortlich. Anzeigen- Annahme stelle nur bei
Dr. Otto Eysler, Berlin SW., Charlottenstrasse 11. Preis für die 3 spaltige Colonel/.eile 4U 1 ».
(£. l|, BcdVfdjg IBcriagatnuManhlnng (Iflghar Berit) in iJhinriien.
3 u nuferem SSerlage ift erfdjieneu:
gmropäiMiEi: Q&eVdntflfghfllcnber. ^eue golge. ©edjftev
3a tjrqaiiV 1890. (®er ganjen tlteilje XXXI. Snttb.) .perous*
qerjeben min JhöTDr. tpattö ©clbviicf. «fSreiö gel). 8 9)i. (Svfctjeiut all jät)rltd). Saljrgang
1891 eijcljeint im gebrudr 1892
jVotnpIete @rt't. her frittieren Sabrgcinge bicie-3 h o t i t i £ e r n u u e h t b e I) v ti d; e u b e r ü 1) m t c n 3 a ti r b u dj si
im-brii neu cintretenben Abonnenten 31t cvmSftigtein Streik geliefert.
ferner:
ii, Jnto altt» itäte- unü Hltfr$VgcHdtermtgggcVeft brnn
1/1. UP. KilllKl) 22. JUtlti 1889. ß m e i t e uolTftäubig umgearbeitete
rtrojjtj. Ijcii. Diegierimgärat: Auflage mit einem Stuljaug, b x e 33 o l|p5 u g § b ef a n 11 1 •
mactjungen bed 93unbedrat§ entfjaltenb. $art. 1 i'i. 80 5ßf.
Sae HvbTtlßrJrflullSeVcll für bas beutfdje dieid) Dütn 1. Suui 1891 (DUmeUe
tu Sdt.'VITbeF ©eroerBeorbnnug). Sejtauogabe mit Einleitung, erlänternben Stnmerfungen
nnb JHegifter. 8V2 39og. Änrt. 1 9JJ- 20
J. ©itHimtag, s8erlagdbud)t)aublnng in Söerliu.
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Kifutieninj.
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Äranfeuuerfidieritng uom 28. SOtat 1885. Son
ly. non SBoebtte. Sterte Sluflage. 2 SJtt
«HetdiHgcfehr betreffenb bie Aommanbitgeic(l=
fdiaften auf Blttien unb bte 'ilfticugefellfdiaften.
Sou ß. fi1 e i) fe u c r nnb Dr. ß. St. © i in 0 11. Stritte Stuf»
tage. 1 SJtt
©a6 S'cutfdie Dicidisgefeh wegen ©rfiebung ber
iöraufteiter uom 31. SJtai 1872. Sou fe. ©ertfjo.
1 SJtt 60 tpf.
©ie 'Ueidiägefchgcbung über '3Jtüni= unb 23attf=
nicfen, 'l'aüiergctb. '4-'rämiemnn’ierc unb 9}cdie=
aiucibcii. Son Dr. 9t. SVodj. 3meite Stuflage. 2 SJtt 40 Sf.
®ie ©efehgebung. betr. bad ©efutibebeitsmcfcn
im ©cutfdien Uteiri). Son Dr. jur. G. ©oefd) nnb
Dr. med. g. SVarfteit. 1 SJtt 60 'Bf.
©efeh, betreffenb bie Unfatluerfidicrung bc.r bei
©lauten befdiaftigten ©.'erfonen. Som .Sult 1887.
©ton ßeo SJtugbau. 1 SJtt 25 Sf.
©efehf betreffenb bie ©rmcrbs= unb ©Birtb=
fdiaftdgenoffcnfdiaften. Som 1. SJtai 1889. ©ton
8. SartfiuS. Sierte Stuftage. 1 ÜJtf. 25 Sf.
©efeh, betreffenb bie Snnalibität6= unb9(ltcrd=
oerfidierung. Som 22. guni 1889. Son G. uon
SBoebtte. Sierte Stuftage. 2 SJtt
'Jicidiogefchf betreffenb bie ©ewcrbegeridi'c.
Som 29. 3uli 1890. S'ou 8eo SJtugban. 2. Sluögabc.
1 SJtt 25 Sf.
B
y v* c n (j i f d> c
1. ©ie ©?crfaffungä=Urfitttbe für beit 'ßrcufjtfdien
Staat. Sou Dr. Stbotf Strnbt. 3>utite Stuftagc.
2 SJtt.
2. ©tcamteii=©efchgcbiiiHl, ©.'reiiütfdjc. Guttjalteub
bie lÄ)tigfteu Seamtengefefee in SreuBcu. SJat furjeu
Slumerfuugen, einem d)rouoiogifdjcn SSerjeit^utS ber ab»
gebrucfteit ©efeijc re. ©Von G. Sraffcvotfi. 3IDChc
ncubearbeitete Stuftage. 1 SJtt 50 Sf.
3.
Sult
3. AVvedj
1 SJtt
1111b Dr. ©. gifdjer. 3weih Stuftage.
4. S'ie ©.'icuniidicu ©efehe, betreffenb bah Siotariat
in ben Baiibeötljeilen be-3 gemeinen 9tcd)tä unb bco
8anbrcd)t§. 3|ueiü ueränbevte Sluflage tjevaudgegeben
uon 9t. © t) b 0 10 unb St. ßetllueg. 1 SJtt 60 ißf.
5. ®ge ©efeh nont 24. ©ll'ril 1854 (betr. bie aufjer»
etictidje ©djtt)äugevuiig) uub bie bauebeu gelteubeii Sc>
ftimmuugru bcS Sl'ttg. 8anbred)tä nebft ben baju ergangenen
Sräiubitaten, ber Sittevatur ic. Son Dr. jur.ß. © dj u tj
75 Sf.
6. ®ic 'ßreitfüfdictt ©Cuhfüliruugssjcfehe unb ©*er--
arbmuigeit 511 ben '3f c i d) o j 11 ft tj g e f e heu . ©'ou
9t. © i) b ö io. 3mei,e Sluflage. 2 SJtt
7. ©tttgcmeiiie ©criditeorbmuig für bie ©•' reuf; i=
fdieii ©tagten uom (i. Suti 1793 intb 'D reit fit idle
ftoiifarhotbiiung uom 8. '33tai 1855. ©'ou
%. Sierljauä. 2 'SJtt 50 Sf-
8. ©ic©orinuitbfdiaft6=©rbnun.x uom 5. 3ulil875,
nebft ben ba.iu ertaffenen Stebengefeben unb Singe»
meinen Serfügungen. Sou SJtaj © dj ulije 11 ft cm.
1 SJtf. 20 Sßf. '
9. S'ie ©Jrci'fjtfdie ©rnubbudigefchgebiutg. Sou
Srof. Dr. £>. S-ifdjer. 1 SJtt 20 St-
10. ©infommcnftcncrgeich für bie 'ßreufjifdie '33t 0=
nardiic. ©ton ©et). Statt) St. SJtei^cn. 3ioeüc Stuf»
tage. 1 SJtt
11.
©eiucrbeftencrgcfch für bie ßßrcuiiiidie ©3to=
itard)ic. 33 on ?Kegiening0ratrj 5(. fjernon?. 80
Verlag von <>ustnv Fisclier in Jena:
Handwörterbuch der Staatswissenschaften.
Herauso-egeben von Professor Dr. J. Conrad in Halle a. S., Professor Dr. L. Elster in
Breslau? Professor Dr. W. Lexis in Göttingen, Professor Dr. Edg. Loening in Halle a. S.
Erster und zweiter Band. Preis brosch. : 36 Mark, gebunden 40 Mark.
eä- Der dritte Band erscheint (in Folge des Setzerausstandes verspätet) im Januar 1892.
ggr- Vollständig in 5-6 Bänden im Umfange von 300—350 Bogen gross
Lexikon S", welche bis Ende des Jahres 1S92 erscheinen sollen. Der Preis des
Werkes soll 100 Mark nicht übersteigen, , .
Ein ähnliches Werk von gleichem Umfange ist bisher weder in der deutschen
noch in der ausländischen Litteratur vorhanden. Der Schwerpunkt desselben ruht
in der Darlegung des thatsächlichen Inhalts der wirtschaftlichen und sozialen Er-
scheinungen, die in ihrem inneren Zusammenhänge und ihrer geschichtlichen Ent-
wickelung mit beständiger Rücksichtnahme auf die entsprechenden Verhältnisse sämt-
licher Kulturländer vorgeführt werden sollen. .
Das „Handwörterbuch“ bietet die gesamte wirtschaftliche Gesetzgebung, eine
detaillierte 'Statistik, die Hauptergebnisse der parlamentarischen und 1 itterarischen
Diskussion und eine vollständige bibliographische U ebersicht.
Eine solche reichhaltige Thatsachensammlung nach geschichtlicher und ver-
gleichender Methode wird nicht nur für das wissenschaftliche Studium von Nutzen
sein, sondern vor allem auch den Beamten und allen denen, welche der grofsen wirt-
schaftlichen und sozialen Bewegung unserer Zeit ein Interesse entgegenbringen, che
Mittel für eine rasche Orientirung und richtige Beurtheilung der schwebenden kragen
an die Hand geben. ... . „ v
Durch Ergänzungshefte, welche dem abgeschlossenen Werke von Zeit zu Zeit
folgen sollen, wird dasselbe vor dem Veralten geschützt werden.
Ausführliche Probehefte werden unentgeltlich abgegeben. Die bisher er-
schienenen Lieferungen können von jeder Buchhandlung zur Ansicht vorgelegt werden.
Jahrbücher für Nationalökonomie und
Statistik.
Gegründet von Bruno Hildebrand. Herausgegeben von Prof. Dr. J. Conrad m
Halle a. S. und Prof. Dr. L. Elster in Breslau in Verbindung mit Prof. Dr. W. Edg.
Loenino- in Halle a. S. und Prof. Dr. W. Lexis in Göttingen. Dritte Folge. Monat-
lich erscheint ein Heft im Umfange von etwa 10 Druckbogen Sechs
Hefte bilden einen Band.
Preis des Bandes 14 Mark. Preis eines einzelnen Heftes 3 Mark.
Inhalt des Heftes Dezember 1891:
Munro, [. L. C. (Manchester), Die englische Arbeitsstatistik. — Conrad, J, Der Grossgrund-
besitz in Ostpreussen. — Die zweite Lesung des Entwurfes eines B u rgeilichen
Gesetzbuches für das Deutsche Reich von Assessor Greift (Fortsetzung). — - Grunzei,
loseph, 1 a p a n. — Strauss, Altersverhaltnisse der Bevölkerung verschiedener
Staaten. — v. Raffalovich, Das Fleischgewerbe in Frankreich, u. s w.
Das Januarheft 1892 wird enthalten:
Die Bedeutung der Gilden für die Entstehung der deutschen Stadtverfassung von v. B e 1 o w. — Die landwirt-
schaftlichen Verhältnisse Englands, von Prof. P a a s c h e. — Die Verhandlungen der Kommission zur
2 Lesun0* des bürgerlichen Gesetzbuches, von G r e i f f. (Fortsetzung.) Das neue Armengesetz in
Deutschland, von Prof. Dr. Edg. Loening. — Die Urteile der deutschen Handelskammern über die
Novelle zur Gewerbeordnung nach den Jahresberichten 1890. von v. d. Börght. — Das Patentgesetz und
die neueste Litteratur über Patentwesen, von Prof. G a r e i s u. s. w.
©vfdjcint tiiijliii) (tttfjev Ittotttags.
bet foütrtlbcntoliratifcf)Ctt
Partei g>eutfd)Canbs.
Berliner fottsBlafl
Sfflan abonnirt für
Q Utk* pr* (Quartal tpojfanftalt.
6652 ber fpoft,)eitung§dßrei§Iifte für 1892.
<g£pebitiou, ©erlitt SW., ©eutlu Strafe 3.
■e
SSerlag non JMtmfeer & Ifumbloi in geipüfl.
©Borg XriebrtvJi Knapp, 2)ie Öanbarbeiter
in ifnedjtfdjaft 11116 33iev Sorträge.
1891. ißreiö ca. 2 931.
©eiuridi Berliner, Sie fociale 9iefonn als
‘*©ebot bee*nürtt)id)aftlid)en ^ortfdjvittö. 1891.
SßreiS 2 9)L 40 5ßf.
Begriffen t»rs fmins für Gncialpnlitik.
49- SBanb : Sie Jpanbelspolifif ber nüdjtigeren
Shilturjfaaten in ben feilten 3 ,ln^e()iiten 1.
Süanb. 2t. u. b. S>ie dpan beföpolitif
9torbamevifaS, Stalienö, DefterreidjS, 23eL
giend, ber 9Lebertanbe, Säitemarf‘3, <Ecf)ioe=
bertS unb 9lorroegen3, fRnfetanbä unb ber
©djineia, foiuie bie beutfd)e fjanbetSftatijtif
Don 1880 bid 1890. fkeiS 18 93t.
— Sajfefbe. 50. 23anb: Sie imubetSpolitif ac.
2. 33anb, 21 u. b. S. : ©ie 3'been ber beuL
fdjen iiaitbeldpofitif mm 1860—1891 93om
ißrof. Dr IDalflier Xnfjt in 9Jhnid)en. flreiS
4 93L. 60 $ßf.
Bcvmanit Xnfdi, Nationale Sßrobuftiou 1111b
'nationale 33erup3gtieberung. 1891. SßveiS
6 93t.
Bl. ü. b. Bßen, Sie gaefjoereine nnb bie
fociale ifemegung in granfreict). ©onberabbr.
and ©djmotlerS ’3af)rbucf) 1891. f>reie> 2 93t.
3t. ©uttentagu SJertagSbitdjljnubluug in SBertin.
dntrdfcitiiinp imö Dcrfiipnp
her
©etticrbcs^ejuitatton beS Söfagiftrats
31t ©erlitt
jum Reuliagel'Efi betrßjfEnb btE BranftEn-
nerltrfiEnmg bsr BrbEifEr
Dom 15 3nni 1883.
ltebff einem 2lbbriufe biejeS ©ejefje^.
.peranbgegeben mm
üeo 93tugbau Dr. jur. SJlidiarb Sfreunb,
aJtnftiftrntä llffefforcn 311 SBetlin.
dp e f t I nnb II.
gr. 8°. 3 93t. 75
uuuuuu u u
:| Verlag von Leonhard Simion in Berlin, f|:
dl SW., Wilhelmstrasse 121. «L
♦ >
1 Beschichte der neuesten ieitl
1815—1885
Prof. Constantin Bulle.
4 Bände. 1887. Preis brosch. 20 31., geb. 24 31.
ft
3m SSerlage non ©eorg 9iciuier in ©erlitt erfdjeinen:
ficuftifdje gialjrbüdjcr.
dperaueigegeben
Don
5§aits 3xlbxüik.
(Hunatsl'rfjrifl für Politik, ©erdjidjie, Bunft unb XifErafur.)
JBF“ SHonatlid) citt jpeft.
93t an abonnirt tjalbjätjrtid) für 9 93tarf bei allen 23ud;t)anblnngen unb tpoftämtern.
I
1
:f; „Bulle’s Geschichte der Neuesten Zeit ist
^ durchaus vom Standpunkte der Wissenschaft
di aus geschrieben, soweit bei Beschaffenheit
;♦» des Quellenmaterials eine wissenschaftliche
3 Behandlung möglich ist. Ein besonderes
Geschick bekundet der Verfasser in der
dl kurzen aber scharfen Characterisirung der
dj handelnden Personen.“
Jenaer Literaturzeitung.
,Wenn von den zahlreichen Darstellungen
der neuesten Geschichte irgend eine em-
-4 pfohlen zu werden verdient, so ist es die-
-t jenige Bulle’s. Besonders der Jugend, die
2| oft mit einer erschreckenden Unwissenheit
hinsichtlich der neueren und neuesten Zeit-
^ ereignisse ins handelnde Leben tritt, kann
3 kaum eine nützlichere Gabe mit auf den
• Weg gegeben werden.“
♦ Prof. Dr. A. Stern (Bern)
d| „(Nation“, 1887 No. 44).
^ ft ff ft fff
Verantwortlich für den Anzeigenteil : Dr. Otto Eysler in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 18. Januar 1892.
Nummer 3.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
nlle Kuchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Die politischel’resseder deut-
schen Sozialdemokratie.
Soziale Wivthschaftspolitik 11.
Wirthschaftsstatistik :
Neuer sozialpolitischer Gesetz-
entwurf in Preussen.
1 iieHypothekenbc wegung im preus-
sischen Staate von 1886/87 bis
1889/90. Von Dr. C. Grünberg.
Agrarische Bewegungen in der
Schweiz. Von Kantonstatistiker
E. Naef.
Zur Frage der Börsenreform.
Arbeiterzustände:
Arbeitsverhältnisse im bayerischen
Bergbau.
Lohnfristen der Bergleute.
Kommission für Arbeitsstatistik.
Zur Beurtheilung der Statistik der
deutschen Gewerkschaften.
Peonagesystem und Arbeitslöhne
in Mexiko.
Ernährungsverhältnisse der Ar-
beiterbevölkerung.
Die Zunahme des Pferdefleisch-
konsums.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Der deutsche Buchdruckerausstand.
Die Achtstundenbewegung in den
Vereinigten Staaten.
Der Kampf um die Sonntagsruhe im
Bäckergewerbe.
Ueber Arbeiterausstände und ihre
rechtlichen Folgen.
Kaufmännische Bewegung :
Die sozialpolitische Keformbe-
wegung im deutschen Handels-
gewerbe. Von Dr. Max Quarck.
Eine Minimalkündigungsfrist für
Handlungsgehilfen.
Die Arbeitszeit kaufmännischer
Lehrlinge.
Handwerkerfra gen :
Die Bauhandwerker und die Hypo-
thekenordnung.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Schutz der Arbeiterinnen.
Die Sonntagsruhe im deutschen
Handelsgewerbe.
Schweizerisches Fabrikgesetz.
Arbeiterversicherung :
Die Erweiterung der Unfallver-
sicherung in Oesterreich.
Beschäftigung ausländischer Ar-
beiter und deutsche Versicherung.
Verstaatlichung der Aerzte.
Prostitution:
Die Prostitution im russischen
Reiche. Von Dr. Stephan Bauer.
Litteratur:
Nordböhmische Arbeiterstatistik.
(H. Herkner.)
Taschenkalender bei Handhabung
der Arbeiterversicherungsgesetze.
Die Steuerdeklaration der Aerzte etc.
(J. Jastrow).
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die politische Presse der deutschen Sozial-
demokratie.
Es ist auffallend, dass den Zeitungen der deutschen
Sozialdemokratie seit dem Erscheinen des Held'schen Essays
über die deutsche Arbeiterpresse’) litterarisch keinerlei Beach-
tung geschenkt wurde, obgleich die Zeitungen der Sozial-
demokratie das hervorragendste Agitationsmittel dieser Partei
sind, für die Verbreitung ihrer Grundsätze weit wirksamer
arbeiten als deren übrige Litteratur und zugleich einen werth-
vollen Massstab für die intellektuelle Stärke der Partei
sowie für den Geschmack und die Auffassungsfähigkeit
’) Held, Die deutsche Arbeiterpresse der Gegenwart.
Leipzig, 1873.
|
(
der im Bannkreise der Sozialdemokratie stehenden Massen
bilden.
Wir unterschätzen keineswegs die Schwierigkeiten
einer gründlichen Untersuchung über das Zeitungswesen im
Allgemeinen und über die sozialistische Presse im Speciellen.
Dieselben bestehen vornehmlich in dem Mangel an Mass-
stäben für eine statistisch-deskriptive Darstellung, in der
Aengstlichkeit, mit der alle Interna von den Zeitungen ver-
borgen gehalten werden, in der Schwierigkeit, einen objek-
tiven Standpunkt dem Zeitungswesen gegenüber einzuneh-
men und endlich in der Voraussetzung für den Beurtheiler,
die journalistische Technik vollständig zu beherrschen.
Daher rührt es, dass wir über den wichtigsten
Faktor unseres öffentlichen Lebens, die Tagespresse, eine
durchaus ungenügende und fast ausnahmlos veraltete
Litteratur besitzen. Freilich ein Buch, wie das WuttkeV),
heute zu schreiben, vor Allem schon die Sammlung des
Materials zu einer vollständigen Darstellung der deutschen
Tagespresse übersteigt, so sehr das Thema auch zur Inan-
griffnahme einer solchen Arbeit reizen mag, die Fähigkeit
eines Einzelnen.
Demgegenüber erschiene eine Arbeit über die sozia-
listische Tagespresse der Gegenwart, etwa für die Zeit seit
Ablauf des Sozialistengesetzes, nicht so schwierig, vor Allem
deswegen, weil eine klare Scheidung der sozialistischen und
nichtsozialistischen Presse möglich ist.
Das Centralorgan der sozialdemokratischen Partei
Deutschlands veröffentlicht zu Beginn jeden Quartals eine
Liste der Parteipresse, aus der man die Entwickelung der-
selben, was die Zahl der Organe betrifft, erkennen kann.
Ueber die Verbreitung der Presse erhielt man auf dem
Congresse von Halle a./S. Aufschlüsse. Danach erschienen
zur Zeit des Ablaufs des Sozialistengesetzes wöchentlich
6 mal 19 politische Blätter, welche zwischen 30 000 und 1 100,
im Ganzen 120 400 Abonnenten hatten, wöchentlich 3 mal
25 Blätter, welche zwischen 9000 und 250, im Ganzen 58 000
Abonnenten hatten, wöchentlich 2 mal 6 Blätter, welche
zwischen 6000 und 450, im Ganzen 14 850 Abonnenten hatten,
endlich wöchentlich 1 mal 10 Blätter, welche zwischen 14 500
und 1000, im Ganzen 60 850 Abonnenten hatten Insgesammt
demnach 60 politische Blätter mit 254 100 Abonnenten.
Der Stand der Gewerkschaftspresse war folgender.
Es erschien wöchentlich dreimal der „Correspondent tür
Deutschlands Buchdrucker“ mit einer auf 4- -5000 geschätzten
Auflage, wöchentlich einmal erscheinen 17 Organe, von
denen eines, dasjenige der Bergleute, 27 000, das zweite
2) Wuttke, Die deutschen Zeitschriften und die öffent-
liche Meinung. Hamburg 1866.
32
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBI ATT.
No. 3.
16 000, das dritte 15 000, das vierte 12 500, das fünfte 11 000,
das letzte 850 Abonnenten, alle zusammen 155 350 Abon-
nenten hatten; monatlich 2 bezw. 3mal erschienen 2 Blätter
mit zusammen [4400 Abonnenten, 24 bezw. 26mal im Jahre
erschienen 20 gewerkschaftliche Organe mit 400— 6000 Abon-
nenten und einem Gesammtabnehmerkreise von 39 750,
monatlich einmal erschienen 2 Blätter mit zusammen 1500
Abonnenten. Die gewerkschaftlich organ isirten sozialdemo-
kratischen Arbeiter verfügten demnach über 41 Organe,
welche von 201 000 Abonnenten gehalten wurden. Zu den
angeführten Organen kam die populärwissenschaftliche,
monatlich erscheinende, Revue „Neue Zeit“ mit einer Auflage
von damals 2500 Exemplaren, das wöchentlich erscheinende
Unterhaltungsblatt „Der Gesellschalter“ mit einer Auflage
von 1 9 000 und zwei Witzblätter mit einer Gesammtauflage
von 107 000 Exemplaren. Die Zahl der politischen Or-
gane stieg von Ende September 1890 bis Anfang Oktober
?891 von 60 auf 69 und zwar stieg die Zahl der täglich er-
scheinenden von 19 auf 27, die der dreimal wöchentlich er-
scheinenden von 25 aut 26, während die Zahl der zwei-
(6) und einmal (10) wöchentlich erscheinenden unverändert
blieb. Die Zahl der Gewerkschaftsorgane stieg von 42
auf 55. Unverändert blieb die Zahl der wöchentlich drei-
mal (1) und der monatlich zweimal (20) erscheinenden.
Die Zahl der wöchentlich einmal erscheinenden stieg von
1 7 auf 26, die der monatlich dreimal und einmal erscheinen-
den von je 2 auf je 4.
Die „Neue Zeit“ wurde aus einem monatlich erschei-
nenden Organe ein Wochenblatt, an Stelle des „Gesell-
schafter“ trat mit dem Jahre 1892 die „Neue Welt“ als
Beilage vieler politischer Organe der Sozialdemokratie.
Die Auflage der „Neuen Welt“ beträgt kaum viel unter
180000, die der „NeuenZeit“ hat sich mehr als verdreifacht und
auch die der beiden wichtigsten politischen Organe der
Partei, des „Vorwärts“ und des „Hamburger Echo“, sowie
des „Correspondent für Deutschlands Buchdruckei ist im
Laufe des Jahres 1891 ansehnlich gestiegen. Auch die Auf-
lage der übrigen Organe der Sozialdemokratie, über die
leider seit dem Kongresse zu Halle keine neuen Angaben
vorliegen, dürfte kaum stationär geblieben , sondern ge-
stiegen sein.
Mit Beginn des Jahres 1892 hat die Zahl der sozia-
listischen Organe wieder zugenommen, die täglichen Blätter
zählen jetzt um eines, die dreimal wöchentlich erscheinen-
den um 3, die wöchentlich einmal erscheinenden um 2 mehr
als zur Zeit des Erfurter Kongresses. Ausser den hier an-
geführten Organen giebt es noch einige, welche eine offi-
zielle Anerkennung durch die Parteileitung nicht gel unden
haben. Hiezu gehört der „Sozialist“, das Organ der unter
dem Namen der „Jungen“ mehr als unter dem Namen der
„Unabhängigen Sozialisten“ bekannten Gruppe, dann die
Monatsschrift „Lichtstrahlen“, welche im Gegensätze zum
Parteiprogramm, das die Religion als Privatsache betrachtet,
in Propagirung einer atheistischen und dabei gleichzeitig
sozialistischen Weltanschauung ihre Aufgabe sieht, endlich
die beiden jetzt, wenn wir uns nicht täuschen, eingegange-
nen Zeitschriften: die populär-wissenschaftliche Revue „Der
Leuchtthurm“ und die von Bruno V ille herausgegebene
„Jugend“. Den von Karl Schneidt herausgegebenen „Spott-
vogel“ und das Flürscheim'sche „Frei-Land“, welche beide
ausserhalb des weitgezogenen Kreises der sozialistischen
Presse stehen, wollen wir nur erwähnen. „Der Spottvogel“
behauptet wohl auf sozialistischer Basis zu stehen, be-
schränkt sich aber lediglich auf eine ausschliesslich pei-
sönliche und verbitterte Bekämpfung der sozialdemokrati-
schen Führer. „Frei-Land“ hingegen ist ein durchaus sach-
lich gehaltenes, der Propaganda der Bodenreform gewid-
metes Organ.
Die politischen Organe der Sozialdemokratie, die allein
zu würdigen heute unsere Aufgabe ist, unterscheiden sich
wesentlich von den Organen der anderen Parteien. Ihre
Leitartikel und ihre sozialpolitische Uebersicht sind zum
grossen Theile sozialökonomischen Inhaltes, nicht selten
trifft man rein theoretische Ausführungen und häufig sta-
tistische Tabellen und auf solche gestützte Deduktionen an.
Nach dieser Richtung bieten sie unzweifelhaft andere und
schwerer verdauliche Kost als die Mehrzahl der politischen
Organe der bürgerlichen Parteien. Bei der Behandlung
politischer und lokaler Fragen bleiben, wenigstens in den
grösseren Städten die sozialdemokratischen Organe hinter
ihren Konkurrenzblättern fast ausnahmslos zurück. Vor
Allem fehlt ihnen hier die Aktualität. Die Berichterstattung
über die Vorgänge in den Landtagen und Gemeindevertre-
tungen wird von vielen sozialdemokratischen Organen sehr
vernachlässigt, im Gegensätze zur Berichterstattung über
den Reichstag, dem meist grosse Aufmerksamkeit gewidmet
wird. Dem eigentlichen lokalen Theile, den Vorgängen
des alltäglichen Lebens wird eine oft auffallend starke
Ignorirung zu Theil, während hingegen dem „Gerichts-
saale“ von vielen dieser Organe sorgfältige Berücksichtigung
gewidmet wird, dies gilt insbesondere vielfach in Beti eft
der Verhandlungen der gewerblichen Schiedsgerichte. Adel
Raum wird auch der Berichterstattung über die gewerk-
schaftliche Arbeiterbewegung eingeräumt, wenn auch hier-
bei bemerkt werden muss, dass eine intensivere Ausnützung
der oft sehr reichhaltigen gewerkschaftlichen Organe diesen
Theil der Blätter noch weit interessanter gestalten könnte.
Ein eigentliches Feuilleton im Sinne der französischen
und österreichischen und mancher deutschen Blätter besitzt j
die sozialdemokratische Presse Deutschlands nicht. Wohl
werden aber in fast allen politischen Organen dieser Partei ,
Romane veröffentlicht. Diese haben zwar häufig, aber nicht j
immer sozialdemokratische Tendenzen, oft sind sie auch
ganz tendenziös. Eine Reihe sozialdemokratischer Organe
veröffentlichen in ihren Sonntagsnummern sogenannte Sonn-
tagsplaudereien, in denen meist in humoristischer Weise
Vorgänge des lokalen und politischen Lebens besprochen j
werden. |
Den Sonntagsnummern liegen meist Beilagen mit ‘
belletristischem und populärwissenschaftlichem Inhalte bei. «
Bis Ende 1891 stammten diese in vereinzelten Fällen
von Verlagsanstalten, welche tendenziöse Sonntagsblätter
für die Organe aller Parteien liefern, eine Reihe
anderer Organe hatten selbstständig redigirte Beilagen mit
belletristischen Beiträgen meist sozialistischer Tendenz,
populärwissenschaftlichen Artikeln und Notizen und Ge-
dichten, welche bei den Arbeitein viel Anklang zu linden
scheinen, da man poetische Beiträge auch sonst in der
sozialistischen Presse häufig antriftt.
In vielen Organen der Sozialdemokratie begegnet
man häufig auch der Rubrik „Vermischtes“, welche alles
mögliche enthält, ohne dass aber hierbei nicht Rück-
sicht auf die sozialistische Tendenz genommen würde,
so bei Abdruck von Scherzen aus den Witzblättern, bei
Aphorismen, Anekdoten, Mittheilung von Erfindungen,
Verbrechen u. dergl. Wenn wir von den grossen Or-
ganen absehen, so vermissen wir in der ganzen sozia-
listischen Presse die den modernen Zeitungsleser am
meisten interessirende Rubrik „Telegramme“. Ebenso fehlt
vollständig ein Börsentheil, alle Hof- und Personalnach-
richten, Wettrennberichte, Notizen über Sport und dergl.
In einer nicht kleinen Anzahl der politischen Organe der
Sozialdemokratie wird der Agitation gegen den Impfzwang
und für das Naturheilverfahren ein auffallend grosser Raum
eingeräumt. .*
Vom sittlichen Standpunkte aus kann man der
No. 3.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
33
sozialistischen Presse keinerlei Vorwurf machen, sie hält
ängstlich alles Unzüchtige, ja selbst nur Pikante aus ihren
Spalten fern.
Im Allgemeinen ist die sozialdemokratische Presse
sehr ernst, ihr Inhalt oft sehr schwer verdaulich, meist zu
wenig abwechselungsreich; es fehlt das Gegengewicht
leichter Kost, Heiteres, rein Unterhaltendes wird den Lesern
der sozialistischen Presse in sehr geringem Mass geboten.
Mag dies auch ein Vorwurf für die Leitung der sozialistischen
Organe sein, so ist der starke und treue Leserkreis der
sozialistischen Presse desto bemerkenswerther.
Nachdem wir den im eigentlichen Sinne redaktionellen
Inhalt der sozialistischen Presse besprochen haben, müssen
wir auch einige Worte der geschäftlichen Seite dieser Or-
gane widmen, da manche Mängel dieser Organe daraus
erklärt werden können.
Die Gründung der in Deutschland erscheinenden
sozialistischen Organe, welche heute fast ausnahmslos
Parteiunternehmungen und nicht geschäftliche Spekulationen
Einzelner sind, erfolgt meist durch Beschlüsse der Partei
in den einzelnen Orten. Die Arbeiter, welche die Gründung
beschliessen, sind fast immer vollständige Laien im Zeitungs-
wesen, sie vermögen die finanziellen, technischen und
literarischen Erfordernisse einer Zeitungsgründung nicht
abzusehen. Das zur Verfügung stehende Grundkapital be-
steht selten aus einigen tausend, oft nur aus einigen hun-
dert Mark, so dass in erster Linie das Bestreben sich
geltend macht, mit einer Druckerei einen in Betreff der
Zahlungsbedingungen möglichst günstigen Vertrag abzu-
sch Hessen. In Bezug auf die Kosten der Redaktion und
Verwaltung wird ganz ausserordentlich gespart, so dass,
und dies gilt von der Verwaltung noch mehr wie von der
Redaktion, im Zeitungswesen oft gänzlich unerfahrene
Leute engagirt werden; in erster Linie werden gemass-
regelte Parteimitglieder berücksichtigt und Unterstützungs-
zwecke mit dem Geschäftsunternehmen verquickt, die dann das
Unternehmen häufig geschäftlich dermassen be nachtheiligen,
dass es daran oft nach jahrelangem Bestände noch krankt.
Lässt sich auch nicht leugnen, dass trotzdem häufig glück-
liche Griffe bei der Wahl der Personen gemacht werden,
so steht doch fest, dass diese Fälle nur Ausnahmen sind.
Im Allgemeinen ist es indessen nach dieser Richtung seit
dem Falle des Sozialistengesetzes bedeutend besser gewor-
den. Die Chefredakteure der sozialistischen Organe sind im
Gegensätze zu früher jetzt nicht nur vereinzelt akademisch
gebildete Personen, in manchen Fällen können sie fach-
mässige nationalökonomische Vorstudien nachweisen. Da-
gegen sind die Lokalredakteure und die Verwaltungs-
personen ziemlich allgemein auch jetzt noch gemassregelte
Parteimitglieder. Auch den Chefredakteuren, selbst den
akademisch vorgebildeten, fehlt übrigens jetzt noch meist
die journalistische Vorbildung. Sie kommen aus allen
möglichen Berufen und Vorstudien in die Redaktionsstube
der sozialistischen Organe und müssen da Lehrlinge und
Meister gleichzeitig sein. Ihre Bezahlung ist ausnahmslos
niedriger als die seitens der Organe anderer Parteien, während
ihre Arbeitslast bedeutend grösser ist. Die meisten sozialisti-
schen Redakteure haben ein Gehalt, das 150 Mk. im Monat
nicht übersteigt, kaum ein Dutzend dürfte ein grösseres
Gehalt beziehen. Trotzdem müssen, von ganz vereinzelten
Ausnahmen abgesehen, nicht mehr als zwei Redakteure ein
Tageblatt redigiren, hierzu kommen noch zahlreiche Ab-
haltungen. Eine grosse Redaktions-Korrespondenz raubt
sehr viel Zeit, da unzählige Briefe mit Anfragen, insbeson-
ders juristischer und politischer Natur, beantwortet werden
müssen; überdies haben die sozialistischen Redakteure nach
gethaner Berufsarbeit ihre Abende als Redner in Agitations-
versammlungen und als berathende Personen in Partei-
sitzungen zu verbringen. Dabei fehlt es an Zeitungsmate-
rial, Reportern, Korrespondenzen und Telegrammen, mit
einem Worte am ganzen Nachrichtendienste der Zeitungen.
Abgesehen von oft kleinlichen Gesichtspunkten der
für das Zeitungsbudget maassgebenden Personen trägt der
geschäftliche Stand der sozialistischen Organe hieran die
Hauptschuld. Glänzende Einnahmequellen sind die sozia-
listischen Blätter sehr selten. Ihr Abonnementspreis ist
nur ganz ausnahmsweise höher als der des billigsten anderen
Blattes am Orte. Inserirt wird in der sozialistischen Presse
weniger als in den Organen der besitzenden Klassen. Ab-
gesehen von den auch hiebei mitspielenden politischen
Gründen, versteht es sich ja von selbst, dass Häuser und
Grundstücke, Parfümerien, Weine, Juwelen etc. nicht in
sozialistischen Blättern zum Kaufe angeboten werden. Die
grossen Inserenten, wie die Konfektionsgeschäfte, meiden
die sozialistische Presse. Endlich nehmen diese Blätter
aus Parteigrundsatz meist Inserate von Geheimmitteln und
dergl nicht auf. Reklameinserate im Texte und ähnliche
viel Geld einbringende Einnahmen besitzt, und dies sei zu
ihrem Lobe gesagt, die sozialistische Presse nicht. So sind
bei einer zudem ihren Aufgaben meist nicht ganz gewachse-
nen Verwaltung die sozialistischen Blätter auf geringere Ein-
nahmen angewiesen als die ihrer Gegner. Da aber aus
politischer Konsequenz das technische Personal der sozia-
listischen Presse (Setzer, Drucker) die höchsten Löhne be-
ziehen, so muss an den Kosten der Redaktion auf’s äusserste
gespart werden. Dass dies nicht klug ist, braucht nicht
besonders hervorgehoben zu werden.
Würden die sozialistischen Organe finanziell besser
gestellt sein, könnten sie mehr Geld für die Redaktion, für
Nachrichtendienst, Ausgestaltung des lokalen Theiles ver-
wenden, so würde höchst wahrscheinlich der Abonnenten-
stand der Blätter gewaltig steigen und die sozialistische
Presse zu einer viel grösseren Macht, zu viel bedeutenderem
Einfluss gelangen, als sie ihn jetzt besitzt.
Ob es aber nicht nur an den Mitteln fehlt, ob nicht
etwa an den geeigneten Personen für die Redaktion und
Verwaltung ein vorerst nicht zu behebender Mangel vor-
liegt, können wir nicht beurtheilen.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Neuer sozialpolitischer Gesetzentwurf in Preussen.
Zu den sozialpolitischen Vorlagen, die gegenwärtig die
gesetzgebenden Körper des Reiches und der Einzelstaaten
beschäftigen, hat die Thronrede, mit welcher der preussische
Landtag am 14 Januar eröffnet wurde, die Ankündigung
eines Gesetzentwurfs hinzugefügt, der die Ausgestaltung
des Arbeiterschutzes der Bergarbeiter betrifft. Die Novelle
zur Reichsgewerbeordnung vom 1. Juni 1891 findet auf die
Bergarbeiter nur soweit Anwendung, als sie die Sicherung
der Sonntagsruhe der Arbeiter, sowie die Regelung der
Beschäftigung jugendlicher Arbeiter und erwachsener Ar-
beiterinnen zum Gegenstand hat. In allem Uebrigen ist
die Reform der auf die Bergarbeiter bezüglichen Schutz-
gesetzgebung den Einzelstaaten Vorbehalten worden, und
soll nunmehr in Preussen in Angriff genommen werden.
Der Aufsatz über die Arbeiterschutzgesetzgebung im deut-
schen Bergbau in No. 2 des Sozialpolitischen Centralblattes
hat es bereits als einen kardinalen Fehler bezeichnet, dass
der Weg der landesgesetzlichen statt der reichsgesetzlichen
Regelung gewählt worden ist. Sobald der seit langem er-
wartete Gesetzentwurf vorliegt, werden wir unte: suchen,
wie weit er im Einzelnen sich geeignet zeigt, innerhalb des
Rahmens der preussischen Verhältnisse eine gründliche Re-
form herbeizuführen.
34
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 3.
Die Hypothekenbewegung im preussischen Staate
während der Rechnungsjahre 1886/87 bis 1889/90.
Bekanntlich werden einer s. Z. von dem königlichen
Landesökonomiekollegium ergangenen Anregung; zufo ge
alljährlich bei den Amtsgerichten und Hypothekenamtern
Nachweisungen über die Hypothekenbewegung m den
städtischen und ländlichen Bezirken Preussens gefuhrL Üie
Zusammenstellung derselben für die Rechnungsjahre 1886/87
bis 1889/90 in der „Zeitschritt des kgl. preuss. Statist.
Büreaus“ 1891 I. und II. Vierteljahrsheft enthält eine Fülle
von sehr interessanten Daten.
Das Verhältniss der Eintragungen zu den Löschungen
überhaupt und mit besonderer Rücksicht auf den städtischen
und ländlichen Grundbesitz ergibt sich aus folgenden
Tabellen:
a) für den gesammten Grundbesitz:
Eintragungen ! Löschungen Mehr
Rechnungs-
in Millionen Mark
1 der
ja hr
in städti-! in land- . in städti- in land-
! über- , i-i
sehen liehen sehen liehen
Bezirken aUP Bezirken
' Eintra-
über- gungen
haupt MiU.Mk,
Löschungen
1889/90
1888/89
1887/88
1886/87
1
1484,59 651.93 2136.52 670.01 472,80 1142,81 993,70
1348 40 583,12 1931,52 624,41 462,10 1086,51 845,01
1128,05 567,62 1695,67 561,27 479,59 1040,86 654,81
1004 81 624.16 1628.96 570,52 491,00 1061,52 567.44
58,8
62.75
67,15
67.75
b) für den ländlichen Grundbesitz:
Rechnungsjahr
Eintragungen |
Löschungen j
1
Mehrbetrag
der
Eintragungen
Prozentualsatz
der
Löschungen
in
Millionen Mark
1889/90 .
1888/89 .
1887/88 .
1886/87 .
651,93
583.12
567.62
624,16
472,80
462,10
479,59
491.00
179,13
121,02
88,03
133,16
72.5
79,2
84.5
78,7
c)
für den städtischen Grundbesitz:
1889/90 .
1888/89 .
1887/88 .
1886/87 .
i
1484,59
1348.40
1128.05
1004,81
670.01
624,41
561 .27
570,52
814,58
723,99
566,78
434.29
45,1
46,3
49.8
56.8
Eintragungen und Löschungen. Die ersteren betrugen füi
städtische Bezirke 2 367 787 Mk., für ländliche 3 495 827 Mk.,
zusammen 5 863 614 Mk.; die Löschungen resp. 39 089 951 Mk.
und 36 079 877 Mk., zusammen 75 169 828 Mk. Es ergibt
sich demnach ein Ueberschuss der durch Zwangsversteige-
rung erfolgten Löschungen über die Eintragungen zu
69 306 214 Mk. Ein nicht unbedeutender Theil der „Ent-
lastung“ des Grundbesitzes geht also im Zwangsversteige-
rungsverfahren vor sich. „Namentlich in den östlichen
Provinzen sind die Kreise zahlreich, in denen der ländliche
Grundbesitz zum grossen, mitunter gar überwiegenden
Theile nicht durch wirthschaftliche oder familienrechtliche
Erwerbungen seiner Eigenthümer, sondern im Wege er-
zwungener Ersetzung derselben durch neue, besser gestellte
Besitzer von seinen Schulden befreit wird.“
Hervorzuheben ist die grosse Uebereinstimmung, mit
welcher in den Begleitberichten der Erhebungsbehörden
die Zunahme der Belastung auf die Eintragung von Erb-
theilen und Kaufgelderresten zurückgeführt, und die Selten-
heit der Fälle, in denen umgekehrt von Löschungen in
Folge Erbschaft oder reicher Heirath oder von Seiten eines
wohlhabenden Käufers berichtet wird.
ln Anlehnung an die eben skizzirten Ergebnisse
plaidirt Geh. Ober-Regierungsrath Dr. H. Thiel (Deutsche
Landwirthschaftliche Presse vom 28. November 1891)
für eine Aenderung der bestehenden Gesetze über die
Erwerbs-, Veräusserungs- und Verschuldungsfreiheit und das
Erbrecht, da dies unterlassen, nur die Geschäfte der agrar-
revolutionären Parteien besorgen hiesse. Doch anerkennt
auch er, dass vorerst noch eine Vervollständigung unserer
Hypothekenstatistik in der Richtung nothwendig ist, dass
eine genaue Uebersicht der gesammten, wirklich zu Recht
bestehenden Schuld Verhältnisse und der aus denselben ent-
springenden Zinsenlast sowie des Einflusses einei längeren
Reihe von guten und schlechten Preisjahren auf die Ein-
tragungen und Löschungen ermöglicht würde.
Wien. Carl Grünberg.
Die voranstehenden Ziffern zeigen eine stetige Zunahme
der Eintragungen und eine ebenso stetige Abnahme des
Prozentualsatzes der denselben gegenüberstehenden
Löschuno-en für den gesammten sowohl, als auch für den
städtischen und ländlichen Grundbesitz insbesondere. Sie
ermöo-lichen freilich keine sicheren Schlüsse aut den wahren
Stanc? der Bodenverschuldung. Eine verhältnissmässige Zu-
nahme der letzteren lässt sich mit Berufung auf das ange-
führte Ziffernmaterial allein schon deshalb nicht behaupten,
weil zweifellos der Grund und Boden in den letzten Jahren
eine bedeutende Wertherhöhung erfahren hat und dadurch
einer stärkeren Belastung fähig geworden ist. Anderer-
seits ist ein sicherer Schluss auf die ziffermässige Höhe
dieser Bodenwerthsteigerung unmöglich. Auch dürfte eine
solche grösstentheils wohl auch nur für die — namentlich
o-rossen — Städte, und nur in geringerem Masse für die
fändlichen Bezirke in Anschlag gebracht werden können.
Zu dem angeführten Momente tritt die bekannte Thatsache,
dass die grundbücherliche Löschung von Hypotheken-
schulden mit deren Abzahlung nicht immer Hand m Hand
o-eht. Auch dürfte ein nicht unbedeutender Theil der
grundbücherlichen Eintragungen nicht auf einer Aufnahme
neuer Schulden des Besitzers, sondern blos auf einer Um-
wandlung bereits bestehender Personal- in Hypotheken-
schulden beruhen. ,.
Immerhin aber wird man wohl sagen dürfen, dass die
Bodenverschuldung stetig fortschreitet und dass die Grund-
besitzet immer mehr aufhören auch die Grrundeigenthümer
zu sein; ein Prozess, der freilich so sehr mit unserer Wirth-
schaftsordnung zusammenhängt, dass er sich kaum wird
auf halten lassen. „„„ „ . „
Die Nachweisungen über das Jahr 1889/90 enthalten
auch die in Folge von Zwangsversteigerungen erfolgten
Agrarische Bewegungen in der Schweiz.
Die wenig rosige Lage, in welcher die Landwirth-
schaft in Folge der Zoll- und Konkurrenzverhältnisse und
der andauernden Missernten in einzelnen Zweigen, so
namentlich im Weinbau, sich befindet, hat die Bauern der
Schweiz etwas aufgerüttelt. Viel von sich reden machte
einige Zeit die Agitation eines zum Landwirth umge-
wandelten Schriftsetzers, welcher unter dem Titel „Die
Bauernsklaverei der Neuzeit oder die Bauern im Kampfe
mit den Federhelden“ eine Flugschrift m Tausenden
von Exemplaren ins Volk warf und im Kanton Zürich
denn auch bald die Gründung eines grossen Bauernbundes
zu Stande brachte. „Die Bauern“, so erklärte er, „erwerben
erst dann die grösste Macht und die ihnen gebührende
Achtung im Staate, wenn sie sich nicht mehr durch das
Federheldenthum bevormunden lassen, sondern selbständig
und vereint Zusammenhalten. Wenn die ländlichen Güter
der geo-ebenen Natur- und Staatsverhältnisse wegen, bei
18 ständiger täglicher Arbeit von Mann und Frau nicht
rentiren können, so sind die Bauern berechtigt, deren Be-
Steuerung zu verweigern. Die riesenhafte Mehrarbeit der
Bauern und der Bäuerin ist die grösste Steuer, welche der
menschlichen Gesellschaft geleistet wird; dafür dürfen sie
Entlastung verlangen“. — Mit dergleichen Schlagwörtern
o-elang es, die Landwirthe für den neuen Bund zu begeistern,
und schon träumte der Stifter von einer grossartigen Ei-
hebung in der ganzen Schweiz. Doch die Ernüchterung
trat sehr rasch ein. Faktisch ist der Bauernbund nicht weit
über die Grenzen des Kantons Zürich hinausgekommen
und auch dort konnte man seinen Bestand nur retten, indem
man den ursprünglichen Führer zur Demission zwang. s
zeigte sich je länger je mehr, dass der Letztere auch nicht
die leiseste Ahnung von den einfachsten Grundregeln der \ olks-
wirthschaft besass, vielmehr nur als Strohmann von Anderen
benützt wurde, um die landwirthschaftliche Bevölkerung für
reaktionäre Zwecke zu benützen. Der ganze Rummel ent-
puppte sich als ein ganz gewöhnliches Spekulationsgeschäft.
Kein Wunder, dass die Landwirthe in anderen Kantonen
es ablehnten, dem Bunde sich anzuschliessen. In mehreren
o-rossen Versammlungen haben sie sich übereinstimmen
3ahin ausgesprochen, dass zwar etwas gethan werden
No. 3.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
35
müsse, und die Landwirtschaft allerdings den neuen Ver-
hältnissen gegenüber sich auch besser organisiren solle, als
es in den zahlreichen landwirtschaftlichen Vereinen der
Fall sei, aber das könne geschehen auf Basis der bisherigen
Vereinigung, ohne Ausschliesslichkeit und ohne Hinein-
tragen politischer Differenzen.
Als Fragen, die in den Vordergrund der Diskussion
gestellt werden, sind anzuführen: Versicherung, Hypo-
thekarkredit, Besteuerung von Grund und Boden. Man
fordert obligatorische Mobiliar-, Hagel-, Frost- und Vieh-
versicherung. Da das Obligatorium die staatliche Ver-
sicherung bedingt, so liegt bei der Kleinheit der Kantons-
gebiete die Möglichkeit einer rationellen Durchführung nur
auf eidgenössischem Boden. Am leichtesten liesse sich noch
die Vieh Versicherung kantonal durchführen, da hier, wie
bei den Krankenkassen, wegen scharfer Kontrolle die orts-
weise Organisation nothwendig ist. Der Staatsrath von
Neuenburg hat für den dortigen Kanton bereits ein bezüg-
liches Projekt ausgearbeitet, Auch die zürcherische land-
wirtschaftliche Gesellschaft hat sich für obligatorische
Viehversicherung ausgesprochen. Gegenwärtig bestehen
in der Schweiz einige hundert Vieh Versicherungskassen;
allein es fehlt ein Centralverband für Rückversicherung.
Zur Bekämpfung des Viehwuchers wird die Gründung von
Viehleihkassen gefordert, welche bis jetzt bloss im Kanton
Thurgau in grösserer, in Zürich in kleinerer Zahl bestehen.
In Aargau hat vor Kurzem der grosse Rath eine bezügliche
Motion erheblich erklärt, ebenso hat man in St. Gallen vor-
bereitende Schritte gethan.
In Betreff des Hypothekarkredits verlangt man vom
Gesetzgeber Einschränkung des zu Spekulationszwecken
betriebenen Güterhandels, der Kündbarkeit der Hypothekar-
forderungen, bessere Verwendung des Staatskredits und
der staatlichen Geldinstitute zur Erleichterung der Zins-
pflicht. Der im Obligationenrecht zu Gunsten des Pächters
ausgesprochene Grundsatz der Erleichterung bei Missernten
soll auch auf das zwischen Hypothekargläubiger und
Schuldner bestehende Zinsverhältniss zur Anwendung
kommen.
Für die Besteuerung der Grundstücke verlangt man,
dass statt des Verkehrswerthes der Ertragswerth zu Grunde
gelegt werde, ferner Abschaffung der Vermögenssteuer und
Ersetzung derselben durch eine reine Einkommensteuer.
Gegen diese Forderungen wird man theoretisch wenig ein-
wenden können. Praktisch macht sich aber die Sache
mangels eines geschulten Beamten-Organismus sehr schwierig,
um so mehr, da eine genaue Vermessung des Bodens fast
noch überall fehlt. Wir werden nur nach und nach das
Ziel erreichen. Aehnlich steht es mit der Forderung der
grösseren Entlastung der Gemeinde durch den Staat. Weder
Kantone noch Bund haben überflüssige Gelder, es müssten
ihnen zu diesem Zwecke neue Einnahmequellen eröffnet
werden, was nur durch Schaffung neuer indirekter Steuer-
Monopole geschehen könnte, und gerade hier müsste man
vorsichtig vorgehen, damit man nicht vom Regen in die
Traufe gelangt. Bestreiten lässt sich freilich nicht, dass
der Ruf nach Erleichterung der Besteuerung der Landwirt-
schaft begründet ist einerseits durch den Rückgang im
Preise des Grund und Bodens und andererseits durch die
sich mehrenden Lasten im Strassen-, Armen- und Schul-
wesen Der Staat wird einen Theil übernehmen müssen.
Neue Einnahmen wird er auf kantonalem Boden suchen
müssen, in einer erhöhten Erbschaftssteuer, Besteuerung
der Wechselgeschäfte, der Aktiengesellschaften, auf eidg.
Boden im Tabaksmonopol, welches übrigens bereits als
Finanzquelle für die staatliche Kranken-, Unfall-, Alters-
und Invaliditätsversicherung in Aussicht genommen ist.
Weitere Forderungen sind Erhöhung des Existenz-
minimums für den Steuerabzug auf 800 — 1000 Fr., ferner
Einführung der allgemeinen Inventarisation im Todesfall.
Soll die letztere den gewünschten Erfolg haben, wird aber
wohl auch noch die eidliche Einvernahme der Erben be-
züglich allfälliger Schenkungen vor dem Tode erfolgen
müssen, denn ohne diese verhindert, wie die Erfahrung
vielfach zeigt, die allgemeine Inventarisation die Steuer-
verheimlichungen nicht im gehofften Masse.
Aarau. E. Naef.
Zur Frage der Börsenreform ist von Reichswegen an die-
jenigen Bundesstaaten, in deren Bezirk sich Börsen befinden,
ein Umschreiben gerichtet worden, durch welches sie, dem
„Reichs-Anzeiger“ zufolge, eingeladen werden, nach Berlin Ver-
treter zu entsenden, um liier die Grundzüge für eine Prüfung
der Frage der Börsenreform festzustellen.
. Arbeiterzustände.
Arbeiterverhältnisse im bayerischen Bergbau. Im An-
schluss an die Darlegungen über die Arbeiterzustände im
preussischen und sächsischen Bergbau, wie sie L. Verkauf
bei Besprechung der deutschen Bergwerksgesetzgebung in
No. 2 dieser Zeitschrift streifte, sollen im Nachfolgenden
einige Daten über die Arbeiter des bayerischen Bergbaues
gegeben werden: Die seit 1883 als Anhang der Fabrik-
inspektorenberichte erscheinenden Mittheilungen der Berg-
behörden bieten eine fortlaufende Statistik, die einzige
permanente Arbeiterstatistik Bayerns. Von 391153 deut-
schen Bergleuten des Jahres 1890 entfallen auf Bayern
6449, also ein sehr geringer Theil; immerhin machen be-
sondere Verhältnisse die Entwickelung des bayerischen
Bergbaues sehr interessant. Unter den im Jahre 1890
gezählten 335 Anlagen bilden nämlich die Kleinbetriebe,
und zwar die Steinbrüche und Gräbereien, die Hauptzahl;
Anlagen, die jugendliche Arbeiter beschäftigten, gab es
nur 22. Ungefähr in derselben Weise beschränkt war
der Motorenbetrieb. Und diese Entwickelung ist deshalb
so anziehend, weil sie sich ganz regelmässig im Sinne der
Vermehrung des Kleinbetriebes ohne Motoren seit 1883
vollzogen hat, sodass fast ausschliesslich auf Rechnung der
letzteren die Vermehrung der Betriebe überhaupt von
274 i. J 1883 auf 335 i. J. 1890 zu setzen ist, während die
Zahl der Anlagen mit Motoren im gleichen Zeitraum nur
von 30 auf 32, und diejenigen der Anlagen mit jugendlichen
Arbeitern nur von 15 bezw. 18 i. J. 1884 auf 22 wuchs.
Innerhalb der somit eng begrenzten Anzahl industriell be-
triebener Bergwerksanlagen, als welche namentlich die
oberbayerischen und pfälzer Steinkohlengruben in Betracht
kommen, vollzog sich freilich die Anwendung schutzbedürf-
tiger Arbeitskräfte im Wesentlichen ganz in derselben
Weise, wie anderswo. Während 1883 auf 4590 Arbeiter
überhaupt erst 1 70 weibliche Arbeiter (144 erwachsene und
26 jugendliche von 14 — 16 Jahren) beschäftigt wurden,
kamen i. J. 1890 auf 6449 Arbeiter überhaupt schon 263
weibliche (222 erwachsene und 41 jugendliche). Die Zahl
der jugendlichen weiblichen Arbeiter verdoppelte sich also
geradezu, während sich die Zahl der erwachsenen männ-
lichen noch nicht ganz um die Hälfte vermehrte (von 4420 auf
6206), und auch die Steigerung in der Zahl erwachsener weib-
licher Arbeiter war etwas grösser als diejenige der männlichen
erwachsenen. Hinter diesen allgemeinen Daten verbirgt
sich aber noch eine weit schlimmere Entwicklung in ein-
zelnen Bergbaubezirken. Während der Bezirk Zweibrücken
trotz seines Steinkohlenbergbaus weibliche Arbeit gar nicht
kennt und damit beweist, dass man recht gut ohne sie aus-
kommen kann, wurden im Bezirk Bayreuth statt 10 er-
wachsener weiblicher Arbeiter i. J. 1883 bereits 54 i. J.
1890 beschäftigt; mässiger wuchs die Zahl im Bezirk
München, nämlich von 134 auf 168. Die Anwendung
der Mädchenarbeit endlich konzentrirt sich ausschliesslich
auf den Bezirk München, wo die Ziffer der weib-
lichen Arbeiter von 26 auf 41 im gleichen Zeitraum
wuchs. Die Ungleichmässigkeit dieser Entwicklung zeigt
wohl, dass es sich hier um Erscheinungen handelt, die mehr
auf der Willkür des Unternehmers, als auf wirklichen Be-
triebsbedürfnissen beruhen und sich gesetzlich leicht im
Sinne der Ausführungen L. Verkaufs ausmerzen lassen.
Die Zahl der männlichen Arbeiter von 14 — 16 Jahren nahm
im Zweibrücken von 1883 auf 1890 von 52 aut 44 ab, im
Bezirk München aber von 40 auf 77, und im Bezirk Bayreuth
vollends von 18 auf 42 zu. Eine erfreuliche Thatsache ist
daneben, dass die Beschäftigung kindlicher Arbeiter von
12 — 14 Jahren im bayerischen Bergbau fast gleich Null ist.
Kindliche Arbeiter tauchen zum ersten Mal im Jahre 1889
auf, und zwar einer im Bezirk Bayreuth, fünf im Bezirk
Zweibrücken, und sämmtliche sind Knaben. Im Jahre 1890
wurde nur noch je ein Knabe in jedem dieser beiden Be-
zirke beschäftigt, wonach wohl zu hoffen steht, dass die
kindliche Arbeit wieder ganz aus dem bayerischen Bergbau
verschwindet. In der Art der Beschäftigung jugendlicher
36
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 3.
Arbeiter ist auch in Bayern noch sehr viel zu bessern. Die
oberbayerischen Steinkohlengruben beschäftigten sie nach
dem Bericht von 1883 unter Tage zum Fördern und Ven-
tilatortreiben und die Bergbehörde bekennt ganz often, dass
die gesetzlichen Pausen liir diese Jungen nicht beobachtet
werden; das würde ihren Ausschluss von der Arbeit zur
Folge haben und das müsste „hinsichtlich der Heranbildung“
und „im Interesse der Bergarbeiter selbst“ „lebhaft beklagt“
werden ! 1886 heisst es zwar plötzlich ohne jede Erläuterung
des Widerspruchs, dass die jugendlichen Arbeiter „nur über
Tao-e“ beschäftigt würden; aber schon 1887 und 1888 taucht
wieder „einer“ auf, der unter Tage beschäftigt ist, und
nachdem der Bericht von 1889 wieder „sämmthche“ Jungen
über Erde hat arbeiten lassen, schweigt sich der 1890 er
über die Sache vollständig aus. Nebenbei erfährt man 1889, !
dass die Jungen ganze 12 Stunden täglich einschliesslich
der Pausen arbeiten. Im Bezirk Bayreuth arbeiteten 1883
in einem Steinkohlenwerke beim Einfüllen der Förderwagen
unter „Tage“ 13, 1890 dagegen schon 25 Jungen von 14—16
Jahren, hier heisst es 1884 von diesen jugendlichen Arbeitern,
dass ihre Arbeitszeit nur 8 Stunden einschliesslich der Pausen
betrage. Ein Pendant zu der 12stündigen Arbeit der Jungen
bildet die Angabe, dass auf einem Bergwerk des Bezirks
Zweibrücken die Arbeitszeit der Jungen (einschliesslich
Pausen) unter Tage 11 Stunden betrage; hier arbeiten 3
unter Tage. 1888 sind schon 4 daraus geworden, während
behauptet wird, die effektive Arbeitszeit beträgt jetzt nur
10 Stunden, und 1889 ist die Zahl der unter Tage beschäf-
tigten Jungen bei 2 Steinkohlengruben und 7 unterirdischen
Thongruben bereits auf 24 gestiegen, 1890 auf 13 gesunken.
Der Bezirk Zweibrücken hat also hier die schlimmsten Ver-
hältnisse. Aus den dürftigen Angaben über die Arbeiterinnen
ist nur hervorzuheben, dass dieselben im Bezirk Bayreuth
nicht bloss zum Tragen von Kalksteinen, sondern nach dem
neuesten Bericht sogar zum Fördern von Ilion- und
Kapselerde verwandt wurden. Sonst verdienen die theil-
weise sehr langen Schichten (bis zu 12 Stunden) und die
ausgedehnten Lohnfristen (monatlich) beim bayerischen Berg-
bau" Erwähnung. Für die Reform der deutschen Berg-
werksgesetzgebung liefern also auch die bayerischen Berg-
bauverhältnisse hinreichendes Material.
Lolinfristen der Bergleute. Sehr oft ist schon betont
worden, auch von amtlichen Aufsichtsbeamten in Deutsch-
land (vergl. Baden), dass lange Lohnfristen für den Arbeiter
und seinen beschränkten Haushalt sehr nachtheilig sind,
weil sie ihn dem Borgsystem und der Uebervortheilung
durch den Kleinhandel in die Arme treiben. Irotzdem wird
seitens der deutschen Bergwerksunternehmungen an sehr
langen Lohnfristen festgehalten, und die „Musterarbeits-
ordnung“ des Vereins für die bergbaulichen Interessen des
Bezirks Dortmund, welche in No. 2 dieses Blattes besprochen
wurde, setzt ebenfalls Lohnfristen von P/2 Monaten (nicht
„Wochen“, wie in unserem ersten Artikel infolge eines
Druckfehlers zu lesen war) fest. Es bleibt abzuwarten, ob
die bevorstehende Novelle zum preussischen Berggesetz
hier Wandel schafft. Zur Erklärung dafür, dass jener Miss-
brauch auch wieder in die rheinisch-westfälische „Muster-
arbeitsordnung“ übergehen konnte, mag die I hatsache mit
dienen, dass die preussische Bergarbeiterenquete vom Jahre
1889 auch über diesen Punkt wie über so viele andere mit
Stillschweigen hinwegging. Wenigstens ist uns aus dem
amtlich veröffentlichten Schlussberidit über die Erhebung
eine einzige Stelle (S. 9) bekannt, welche vom Ruhr-
reviere sagt: „Auch finden sich Angaben darülrer vor, dass
eine gewisse Unregelmässigkeit hinsichtlich der Löh-
nungen bestehe, insbesondere nicht ein für allemal be-
stimmte Lohntage festgesetzt seien.“ Das ist aber Alles.
Demgegenüber mag hevorgehoben sein, dass ältere Berg-
ordnungen weit arbeiterfreundlichere Vorschriften enthielten.
So heisst es im XII. Artikel des 11. Abschnitts der Chur-
trierischen Bergordnung vom 22. Juli 1564, dass „der Schicht-
meister alle Sambstag im beysein des Steigers alle arbeiter
und handwerksleuthen lohnen sol“. Eine Erneuerung dieser
300 jährigen Vorschrift würde sicher gerade jetzt ganz
praktisch sein.
Kommission für Arbeitsstatistik. I11 ^allgemein über-
raschender Weise kündigte anlässlich der am 13. d. M. statt-
o-ehabten Debatte über den Etat des Reichsamts des Innern
cler Minister von Bötticher die Bildung einer Kommission für
Arbeitsstatistik an. Er knüpfte dabei an die von den deut-
schen Gewerkschaften unternommene. Lohnstatistik an und
meinte, in befriedigender Weise lasse sich eine solche nur durch
jene in Aussicht gefasste Organisation erlangen. Leber die letz-
tere sprach er sich dann folgendermassen aus: „ . . . die Mitglieder
sollen zu einem Theil vom Bundesrath, zum anderen vom Reichs-
tag gewählt werden. Diese Kommission, welcher neben dem
einen oder anderen Statistiker Männer angehören werden, die
im gewerblichen Leben stehen, wird die Verwaltung mit sach-
verständigem Urtheil darüber berathen können, in welcher Weise
man die zur Klärung der Arbeiterverhältnisse notwendigen
Aufnahmen einzurichten hat. Die nächste Aufgabe dieser Kom-
mission, die, wie ich annehme, in nicht zu ferner Zeit, wahr-
scheinlich noch während der diesjährigen Tagung des Reichs-
tags, in Thätigkeit treten wird, haben wir bereits entworfen,
uikI dabei namentlich ins Auge gefasst, über die Arbeitsdauer
in gewissen Gewerben — ich erinnere nur an das Müller-,
Bäcker- und Verkehrsgewerbe — Klarheit zu schaffen. Ausser-
dem ist für die Thätigkeit dieser Kommission ein Feld
dadurch eröffnet, dass sie zum Zwecke der Ausdehnung
der Arbeiterschutzgesetzgebung auf das Handwerk und die
Hausindustrie die nöthigen Vorbereitungen treffen soll.“
Im allgemeinen kann diese Ankündigung nur mit Freude be-
griisst werden. Die soziale Statistik ist in Deutschland von
Seite der Regierungen dermassen vernachlässigt worden, dass,
was auch immer auf diesem Gebiete nun geschehen soll,
einen erheblichen Gewinn unseres offiziellen sozialstatistischen
Besitzstandes darstellen wird. Freilich, inwiefern die „Kom-
mission“ an einem etwas strengeren Massstab gemessen sich für
die Arbeitsstatistik und die Fortbildung der sozialen Gesetz-
o-ebung fruchtbar erweisen wird, lässt sich nach den dürftigen
Bemerkungen des Ministers vorerst nicht beurtheilen. Hier
wird Alles von der richtigen Wahl ihrer Mitglieder und der
Machtvollkommenheit abhängen, die der Kommission zuge-
standen werden wird. Da sie bereits demnächst ins Leben
treten soll, werden die Fragen nicht lange unbeantwortet bleiben.
Zur Beurtlieilung der Statistik der deutschen Ge-
werkschaften. In der Sitzung des Reichstags vom 13. d. M.
hat der Minister v. Boetticher die Nützlichkeit der von den
deutschen Gewerkschaften ausgeführten Statistik anerkannt,
aber als einen Mangel derselben bezeichnet, dass sie ein
erschöpfendes Bild nicht biete. Die I hatsache ist als solche
ohne Zweifel richtig, allein es scheint uns dieser Umstand
nicht, wie Herr v Boetticher meint, in der Natur der
gewerkschaftlichen Statistik, sondern vielmehr in den ungün-
stigen Verhältnissen begründet zu sein, in welchen gegen- ;
wärtig jene statistischen Untersuchungen vorgenommen
werden. Nach dieser Seite liesse sich gewiss durch ein plan-
mässiges methodisches Verfahren W andel schaffen. Wenn
sich die deutschen Gewerkschaften dazu entschlössen, ein cen-
trales arbeitsstatistisches Biireau einzurichten, das die von den
einzelnen Gewerkschaften heute isolirt und nach Gutdünken
unternommenen Erhebungen leitete, und eine gleichmässige
Aufnahme und Bearbeitung erzielte, liesse sich Dank dem
unter den Mitgliedern der Gewerkvereine vorhandenem In-
teresse und ihrer ausgesprochenen Begabung für Statistik j
ein noch viel werthvolleres Ergebniss als bisher erzielen. i
Die Gewerkschaften scheinen uns nach den Proben ihres
Könnens speziell dazu berufen, eine systematisch organisirte
Arbeitsstatistik für das Deutsche Reich zu schäften, nach
welcher allgemein aber insbesondere unter den Arbeitern
ein lebhaftes Verlangen herrscht, welches trotz aller An-
läufe bisher nicht befriedigt worden ist. Zu wünschen wäre,
dass der nächste Gewerkschaftskongress diese Frage in Er-
wägung ziehe. So gross und bedeutsam die Aufgaben auch
sine?, die auf seinem Programm bereits stehen, so sollte er doch
nicht zögern, dieser wichtigen Angelegenheit gleichfalls ein
tatkräftiges Interesse zuzuwenden. Und gerade der Umstand,
dass die Regierung nun endlich sich anschickt, auch ihrer-
seits die Arbeitsstatistik zu pflegen, würde es nur um so
fruchtbarer erscheinen lassen, wenn die Arbeiter ihre bisher
befolo-te, allzu primitive Methode verbesserten und eine den
wissenschaftlichen wie den praktischen Erfordernissen besser
entsprechende Arbeitsstatistik schüfen. Aul diese w eise
würden sich die von den Arbeitern ausgeführte und die
amtliche Arbeitsstatistik zu zwei Instanzen gestalten, die sich
p-eo-enseitig kontrollirten und in ihrem \Vetteifer die Bürg-
schalt für eine unparteiische, sachkundige und gründliche
Arbeitsstatistik darböten.
Peoimgesystem und Arbeitslöhne in Mexiko. Die
Spezialität der mexikanischen Unternehmer, durch ein hoch-
1 entwickeltes System von Truckläden und durch Vorschüsse
ihre Arbeiter in Schulden zu stürzen, welche sie abzuarbeiten
gezwungen sind, das sogenannte Peonagesystem, sowie die
niedrigen Löhne, welche in den meisten Staaten der Republik
vorherrschen, scheinen nunmehr selbst den Machthabern
dieses Landes nicht mehr vorteilhaft zu sein. Ihr bestes
künftiges Absatzgebiet, die Vereinigten Staaten, verschhessen
sich hartnäckig den mexikanischen Erzeugnissen, die Nie-
1 drigkeit der mexikanischen __Löhne und die Schrecken dei
No. 3.
SOZI AI ,P( )LITISCH ES CENTRALBLATT.
37
Schuldknechtschaft werden von amerikanischer Seite als
Ursachen angeführt, dass der Wettbewerb mit mexikanischen
Produkten auf dem heimischen Markte erschwert werden
müsse. Diesem Umstande verdankt man einen von Herrn
Romero, mexikanischen Minister in den Vereinigten Staa-
ten, verfassten Aufsatz über „Löhne in Mexiko“ (North
American Review, Januar 1891, p. 33— 4-9), welcher über die
in diesem Lande herrschenden Lohnverhältnisse Einzelheiten
bringt. Das Peonagesystem ist zwar durch Artikel 5 der
Verfassung (1857) nominell abgeschafft, welcher bestimmt,
„dass Niemand zu persönlichen Diensten ohne wirkliche
Entschädigung und volle Zustimmung seinerseits verhalten
werden dürfe,“ und jeden Kontrakt verbietet, welcher „den
Verlust oder die unwiederbringliche Preisgebung der Frei-
heit eines Menschen durch Arbeit, Erziehung oder Gelöbniss
zur Folge hätte“. Diese Einrichtung herrscht nichtsdesto-
weniger thatsächlich in den Küstenstrichen und Thälern
der gemässigten und heissen Zone, wo in Folge des gelben
Fiebers und der Mosquitoplage die Arbeiterbevölkerung
dünn gesät ist und höhere Löhne (bis 1 Dollar 50 cts.) erhält,
weniger in den reicher bevölkerten Distrikten mit niedrig-
entlohnten Arbeitern (12 cts.), welche vorwiegend im Berg-
lande sesshaft sind. Das Vorschusswesen und die Schuld-
hörigkeit grassirt inbesondere in den fast unbewohnten
Gegenden mit guten Holzbeständen , in 1 abasco und Cam-
peachy, wo der Unternehmer zum Kaufmanne und zur
Obrigkeit wird. Hier muss der Unternehmer, um einen
Arbeiter zu erhalten, dessen Schulden im Betrage von 100
bis 500 Dollars bezahlen. Ebenso wirkungslos waren die
Verfassungsbestimmungen , welche die Aufhebung der
Zwischenzölle betrafen und die Zahl der F eiertage aut 6
beschränkten, da der Klerus an der ein Drittel des Jahres
umfassenden Feiertagszeit ein materielles Interesse besitzt.
Die mexikanische Konkurrenz ist der nordamerikanischen
nicht gefährlich. Der Mangel an Maschinen, sowie an Trans-
portmitteln in Mexiko steht hier im Wege. Der Transport, der 1
durch Maulthiere oder durch Indianer besorgt wird, ermög-
licht nur die Ausfuhr von Edelmetallen (40 Millionen Doll.)
und Färbstoffen (20 Mill Doll.). Trotz günstiger Produktions-
und Anbauverhältnisse und hoher Einfuhrzölle werden da-
her Baumwolle, Zucker, Papier von den Vereinigten Staaten
nach Mexiko importirt. Der Tagelohn des mexikanischen
Arbeiters ist ein Viertel des amerikanischen; zugleich be-
tragen die Grosshandelspreise in Mexiko das Doppelte der
in New-York notirten. In Verbindung mit den niedrigen
Löhnen steht die Niedrigkeit der Arbeitsleistung; ein nord-
amerikanischer Maurer lege in 9 Stunden 2500 Ziegel, ein
mexikanischer in 1 1 Stunden nur 500 Ziegel. Ein ameri-
kanischer Weber bedient 8, ein englischer 6, ein belgischer
5, ein französischer 4, ein mexikanischer nur 2 Stühle. Als
Ursache dieser geringen Leistungsfähigkeit werden die
schlechtere Ernährung und Bezahlung, die Ausnützung der
Arbeiter bis zur Erschöpfung, die schlechtere Erziehung,
die Bedürfnisslosigkeit und der geringe Ansporn zur Arbeit
in Mexiko geltend gemacht. An der Seeküste, wo auch die
Zahl der Pferde in Folge der tropischen Hitze bei derselben
Arbeit wie in anderen Distrikten vermehrt werden muss,
tritt der Einfluss des Klimas hinzu.
Auf ein reformatorisches Eingreifen der Gesetzgebung
scheint in dem von Verfassungskämpfen erfüllten politischen
Leben Mexiko’s wenig Hoffnung zu sein. Dagegen wird
eine Lohnstatistik in Aussicht gestellt, welche die bisher
verfügbaren Angaben über die Löhne der Feldarbeiter er-
gänzen soll. Danach betrug der Höchstlohn eines mexika-
nischen Feldarbeiters täglich 50 cts , der Mindestlohn 23 Vn cts.
Greift man einzelne Bezirke heraus, so wurde der höchste
Tagelohn mit 1 Dollar in Sonora, der niedrigste in Hidalgo
mit 12'/2 cts. gezahlt.
Ernährungsverhältnisse der Arbeiterbevölkerung. Wie
schon in einer grossen Anzahl anderer Städte (Wien, Berlin etc.),
so ist jetzt im industriellen Aachen durch Erhebungen eines
kürzlich unter dem Vorsitz des Oberbürgermeisters begründeten
Hauptausschusses für soziale Wohlfahrtseinrichtungen festge-
stellt worden, dass in den Elementarschulen ein grosser Theil
der Kinder, hier ungefähr 1500, eines Frühstücks dringend
bedürftig sind, weil sie es zu Haus nicht erhalten. Es sollen
nun an diese Kinder täglich je '/s 1 Vollmilch und ein Brötchen
vertheilt werden. Die Ausgabe des Frühstücks findet in
28 Schulräumen morgens um 8 Uhr statt. Die Milch wird in
passenden Gefässen vorgewärmt geliefert und an den Aus-
schankstellen warm gehalten. Zur Verabreichung sind 1500
Becher zu je '/^ 1 Inhalt und eine entsprechende Anzahl Schöpf-
löffel zu je Vs 1 Inhalt beschafft worden. Aus diesen Ermitt-
lungen von behördlicher Seite erhellt, wie gross das Manko in
der Ernährung der Arbeiterbevölkerung der grössten und ange-
sehensten Industriebezirke Deutschlands ist.
Die Zunahme des Pferdefleisehkonsums „Die Hippophagie“
macht besonders in Frankreich grosse Fortschritte. Einer Ab-
handlung von Ch. Morot, Thierarzt der Municipalität von I royes
zufolge (vgl. Journal of the Royal Statistical society vol. 54 (1891)
p 519 fg ) betrug die Zahl der Rossschlächter in Paris 1874 48, um
1889 bis auf 132 zu steigen. Im Jahre 1887 wurden verzehrt:
Pferde geschlachtete Pferde
(Esel, Maulesel) auf 1000 Einwohner
im Seinedepartement (Paris
und Vororte)
in Lyon
„ Marseille
„ Tours
„ Lille
,, Roubaix
„ Calais
16 446 6
3 291 9
2 188 6
1 329 26
900 5
765 8
249 18
In Brüssel wurden 1883 900 Einhufer verspeist, in Berlin 1884
137 700 1888: 171 100 kg Pferdefleisch verzehrt (vgl. Statistisches
Jahrbuch der Stadt Berlin. XV. Jahrg. Stat. d. J. 1888. Berlin
'1890. S. 226).
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Der deutsche Buchdruckerausstaml. Der Strike der
Buchdrucker hat nach mehr als zweimonatlicher Dauer mit
einer Niederlage der Gehilfen geendet. Am Sonntag, den
10 d M. hatten die Vertreter der Gehilfen von München,
Stuttgart, Berlin, Leipzig, Halle und Dresden in Leipzig
eine Konferenz, um die Situation festzustellen. Es wurde
in fast allen der genannten Städte eine Verschlechterung
der La°e in zweifacher Beziehung konstatirt: einerseits ver-
mehrtet ich die Zahl der Fahnenflücht'gen und andererseits
wuchs der Zuzug auswärtiger Strikebrecher. Die Gehilfen-
Vertreter versuchten unter diesen Umständen, eine noch-
malige Unterhandlung mit den Prinzipalen, diese führte
aber zu keiner Verständigung. Die neunstündige Arbeits-
zeit wurde seitens der Prinzipale rundweg abgelehnt, ebenso
die Forderung einer 9l/2 ständigen Arbeitszeit mit den ent-
sprechenden Lokalzuschlägen. Die Forderung der Prinzipale
lautete: Beendigung des Strike und Festhalten an der Tarif -
gemeinschaft. Letzteres lehnten die Vertreter der Gehilfen
ab die Entscheidung über die erste Forderung überliessen
sieden einzelnen Städten. Nach den in den Versammlungen
vom 14. d. M. in Berlin und Leipzig gefassten Beschlüssen
ist nicht daran zu zweifeln, dass der Strike nunmehr in
ganz Deutschland als beendigt zu betrachten ist. Wir
kommen auf den Verlauf desselben und seine Folgen m
der nächsten Nummer ausführlicher zurück.
Die Aclitstundenhewegung in den Vereinigten Staaten
von Nordamerika. Diese Aufschrift könnte der eben zur
Ausgabe gelangte Eight Annual Report of the Bureau
of Statistics of Labor of the State of New York
for the Year 1890, (Albany: 1891, 2 Bde.) führen. Sem
Inhalt ist so reichhaltig, die Vielseitigkeit, mit welcher das
Arbeitsamt, an seiner Spitze der Kommissioner Charles
J. Peck, die Frage des Achtstundentages erörtert, eine
so ausserordentliche, dass hier nur auf einige wenige, in
die Augen springende Ergebnisse dieser Erhebungen hin-
gewiesen werden kann. In der Einleitung wird aut _ die
ständige Abnahme von Gewaltthätigkeiten bei den Strikes
der letzten fünf Jahre hingewiesen, welche man, gleich
so vielen Lohnerhöhungen und Reduktionen der Arbeits-
zeit, vor allem der steigenden Organisation der Arbeiter-
schaft zu verdanken hat. Nur wo diese letztere aber
die öffentliche Meinung für sich gewonnen habe,
Hessen sich auf gesetzgeberischem Wege die Arbeitszeit
im Allgemeinen und Minimallöhne für die staatlichen
Betriebe festsetzen. Auf 100 Seiten werden ferner die
Forderungen der Arbeiter an den Staat durch eine Dar-
stellung der Fabrikgesetzgebung aller Länder charakten-
sirt; die Einführung des Normalarbeitstages in der Schweiz
und in Oesterreich wird ebenso richtig geschildert, wie das
Fehlen einer Schutzgesetzgebung in Belgien, das schmählich
allein steht unter den zivilisirten Nationen, („Stands dis-
j gracefully alone among the civilized nations“) heftig ange-
griffen wird.
38
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 3.
Den Ausgangspunkt der Achtstundenbewegung bilden '
auch im Staate New-York wie überall die Arbeiter der
Baugewerbe. Man kann hier alle Wirkungen der Verkürzung
der Arbeitszeit beobachten : Verringerung der professionellen
Sterblichkeitsrate und der Trunksucht, intensivere Arbeit,
Einführung der Löhnung per Stunde u. s. w.
Zum Zwecke einer Stundenverkürzung wurden m den
Jahren 1885—1889 1508 Strikes geführt; davon waren 52,6 %
erfolgreich, 28,6% schlossen mit einem Kompromisse und
18,8% waren erfolglos. Dagegen waren von 78 Ausständen
zur Erlangung eines Samstaghalbfeiertages 62 erfolglos.
Ueber die^ Halbfeiertagsbewegung, sowie über den Stand
des Early Closing Movement der Handelsbediensteten ent-
hält der Bericht werthvolle Nachweise. Im Jahre 1890
nimmt die Achtstundenagitation vor allem durch die Propa-
ganda der American Eederation of Labor (Präsident: Samuel
&ompers) erheblich zu. Die Stundenverkürzung betrifft
119 Gewerkschaften mit 31 191 Mitgliedern. Die Hälfte der
letzteren hat eine einstündige, der Rest eine mehrstündige
Reduktion der Arbeitszeit erfahren. Ganz vortrefflich war
der Gedanke, nicht nur die Ansichten angesehener Oeko- |
nomen und Staatsmänner, sondern auch jeden Gewerkyerein
um sozialpolitische Reformvorschläge und um seine Meinung
über die Durchführbarkeit und die wahrscheinlichen Folgen
des Achtstundentages zu befragen. Die verschiedenartigsten
Wirkungen werden da vorausgesagt: Steigerung der Löhne,
oder wenigstens kein dauerndes Sinken derselben; Ver-
schwinden der Ueberproduktion; die ständigere Verwendung
einer grösseren Arbeiterzahl, weniger Arbeitsschaden, mehr
Arbeiter („less hours, more men“), höhere Bildung und mehr
Erholung, besseres Familienleben, Erfüllung der staats-
bürgerlichen Pflichten, Steigerung der Leistungsfähigkeit.
Matrosen und Eisenbahnbedienstete heben ihre Verantwort-
lichkeit im aufreibenden Dienste und die Verringerung von
Unfällen durch Stundenverkürzung hervor. Nur eine Union
in Brooklyn meint, die Maassregel wäie „sozialistisch und
deshalb schlecht“. Mehr auseinander gehen die Meinungen
über die Frage, welche Wirkung der Achtstundentag aut
die Einwanderung ausüben werde. „W ird er nicht den
neuen Ankömmlingen mehr Arbeit geben?“ fragen die
Einen. „Leider“, sagen die Anderen, „die Einwanderung
wird dadurch gesteigert werden.“ „Nein“, sagen Optimisten,
„überall wird ja für den Achtstundentag agitirt“. Manche
sagen ehrlich genug: „Wir haben keine Idee“.
Aus den Ergebnissen der Strikestatistik des Jahres 1890,
welche den zweiten Band des Berichtes füllt, seien nur
folgende Gesammtergebnisse hervorgehoben: in 6258 Eta-
blissements fanden Ausstände statt. Davon wurden 5433
durch Einigung mit Arbeitsorganisationen beigelegt. 296
durch direkte Verständigung mit den Arbeitern, 5 durch
Schiedsspruch, 464 wurden fallen gelassen. Unter den Ur-
sachen der Ausstände tritt namentlich die Zahl der „aus
Sympathie“ (7321 und wegen Verwendung von Nicht-
Gewerkschaften (243) ausgebrochenen Ausstände hervoi.
Tn 3764 Fällen blieben die Löhne unverändert; in 1902
wurden sie erhöht; Lohnherabsetzungen fanden nur in 463
Fällen statt. Zur Verkürzung der Arbeitszeit fanden 4155
erfolglose Strikes statt; in 16 Fällen wurde sogar die
Arbeitszeit verlängert, in 2087 Fällen eine Verkürzung
durchgesetzt. Dadurch fanden — nur 55 Personen mehr
Verwendung!
Der Bericht, welcher noch äusserst werthvolles Material
über Aussperrungen und Boycotts enthält, kann daher nicht
genug allen jenen empfohlen werden, welche sich die
Mühe nicht verdriessen lassen, in einer so verantwortungs-
vollen Frage sich erst mit den Thatsachen vertraut zu
machen, aber auf Grund derselben den Muth nüchterner
Schlussfolgerung nicht scheuen.
Der Kampf um die Sonntagsruhe im Räckergewerbe.
Bekanntlich gewährt der § 105e der Reichs-Gewerbeordnung
der höheren Verwaltungsbehörde u A. auch das Recht, für Ge-
werbe, die dem täglichen Beclürfniss der Bevölkerung dienen,
von der im § 105b allgemein festgesetzten Sonntagsruhe
Ausnahmen zuzulassen. Die bezüglichen Verordnungen sind
noch nicht ergangen, und nun benutzen die bis zu ihrem
Erlass verstreichende Zeit Unternehmer und Arbeiter der
fraglichen Gewerbe, um durch eine rege Agitation die von
der Regierung zu treffende Entscheidung in ihrem Sinne zu
beeinflussen. Insbesondere ist der Kampf Seitens der Bäcker-
meister und Bäckergesellen ein lebhafter. Die Letzteren
wünschen im Gegensatz zu den Ersteren, dass die Bäckereien
von der allgemeinen Sonntagsruhe nicht ausgenommen
werden und für dieselben der § 105 b zur Geltung gelange.
Im Augenblicke zirkulirt unter den Bäckergesellen eine
Petitioir, die für die Behörden bestimmt ist und zum
Theil auch bereits an einzelnen Stellen eingereicht
worden ist, in welcher die Gründe für die Forderung
der Arbeiter m den Bäckereien klar und nüchtern dar-
gelegt werden.
Die Petition führt zunächst aus, dass es sehr wohl
möglich sei, in den letzten Tagen der Woche Vorsorge für
den’ Sonntagsbedarf zu treffen, da Roggenbrod am zweiten
oder dritten Tag wohlschmeckender und gesunder sei, als
in frisch o-ebackenem Zustande, und das Weizengebäck recht
wohl airT Sonnabend hergestellt werden könne, wenn nur
zu der besseren Waare reine Milch und gute Butter ver-
wendet würden. , „ ...
Im Weiteren beziehen sich die Bäckergesellen für ihr
Verlangen auf die ausserordentlich lange in diesem Beruf herr-
schende Arbeitszeit. Es sei unwidersprochen geblieben, was
Bebel in seiner Untersuchung der Lage der Arbeiter in den
Bäckereien konstatirt, dass in 63 Proz. der Bäckereien eine
tägliche Arbeitszeit von 14 Stunden und darüber üblich sei,
in 28 Proz. der Betriebe die Arbeitszeit sogar täglich 16 bis
20 Stunden und zwar Sonntags wie Werktags dauere
Welchen Einfluss diese Ueberanstrengung, _ die bei den
Lehrlingen absolut und relativ noch ärger sei, auf die Ge-
sundheit übe, das zeige beispielsweise der Ausweis der
örtlichen Verwaltungsstelle Berlin der Central-Kranken-
und Sterbekasse Deutschlands, welche etwas über 1600 Mit-
olieder, meist jüngere Leute, zählt und von der dennoch im
Monat November allein über 100 Mitglieder Krankenunter-
stützung bezogen haben. Die Bäckergesellen weisen sodann
auf die enorme Zahl von arbeitslosen Bäckern hin, welche
den durch die Sonntagsruhe etwa entstehenden Ausfall von
Arbeitskräften leicht zu decken im Stande wären. Endlich
berufen sie sich in der Petition auf die Thatsache, dass z. B.
m Elberfeld, Barmen und anderen rheinischen Städten schon
seit fahren am Sonntag nicht gebacken werde, und damit
der praktische Beweis geliefert werde, dass die Bewilligung
dieses Verlangens ohne Schaden möglich sei.
Die in der Petition erhobene Forderung ist eine so
bescheidene und wohlmotivirte, dass die Erfüllung derselben
als eine dringende Pflicht erscheint. Allein die Regierung
darf sich unseres Erachtens nicht damit begnügen, sondern
sie muss angesichts der überaus traurigen Lage der Arbeiter
in den Bäckereien mindestens von der ihr eingeräumten
Befmmiss im § 120e der Gewerbeordnung Gebrauch machen,
um ein Maximum der täglichen Arbeitszeit anzuordnen. W lr
möchten glauben, dass gerade in diesem Punkt die that-
sächlichen Verhältnisse in dem Maass verlässlich festgestellt
sind, dass es zur vorläufigen Bestimmung einer Maximal-
arbeitszeit im Bäckergewerbe der vorbereitenden Lnter-
suchung der geplanten Kommission für Arbeitsstatistik nicht
bedarf, so wichtig es auch in allem Uebrigen ist, dass eine
amtliche und gründliche Untersuchung der Zustände m den
Bäckereien endlich erfolge.
i
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■4
H
I
XJeber Arbeiterausstände und ihre rechtlichen Folgen
hat neuerdings das Reichsgericht in Leipzig als letzte Instanz
prinzipiell in der Klagesache eines Berliner kokeslieferanten
ireo-en die Zeche Dannenbaum in Bochum wegen Schadenersatz
entschieden. Es führt in den Urtheilsgründen Folgendes gegen
die Zeche aus, die sich auf den Bergarbeiterstrike von 1889
als rechtsgültigen Hinderungsgrund für die Lieferung des Ivokes
berufen hatte: „Es . . . kann nicht unterstellt werden, dass
Jeder Ausstand in dem betr. Kohlenrevier an sich für das Vei-
hältniss zwischen dem Kohlenhändler und seinem Abnehmer
als Zufall“ zu erachten sei, vielmehr darf einem Ausstand
diese rechtliche Bedeutung nur dann beigelegt werden, wenn
er derart unvorhergesehen und mit solcher Wirkung ein tritt,
dass er etwa einem Einsturz oder Inbrandgerathen der Zeche
oder ähnlichen Ereignissen gleich zu achten sein wurde, ln
letzterer Beziehung kommt dann weiter in Betracht, ob die im
einzelnen Falle thatsächlich hervorgetretenen Folgen des Aus-
stands derart gewesen sind, dass die Nichterfüllung eines ge-
schlossenen Vertrages hierauf und nicht auf eigene Nachlässig-
keit des Verpflichteten zurückzuführen ist. Demgemäss ist im
vorliegenden Falle zu erörtern, ob der Beklagte behaupten und
darthun kann, dass der betr. Ausstand als Zufall in dem "vor-
stehend dargelegten Sinne erachtet werden müsse und die Un-
möglichkeit der Vertragserfüllung verursacht habe. In dieser
Beziehung könnte eine Berufung auf die in der I resse geschii-
derten allgemeinen Ausstandsverhältnisse im Jahre 1890 keines-
falls o-enügen, es würde vielmehr allein der Nachweis erheblich
sein, dass der Ausbruch des thatsächlich stattgehabten Aus-
standes auf der Zeche Dannenbaum und dessen thatsächlich
erfolgte Einwirkung auf das Vertragsverhältniss der Parteien
für den Beklagten als unvorhergesehen und unabwendbar
No. 3.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
39
erachtet werden müsste. Sollte dem Beklagten dieser von ihm
bisher nicht versuchte Nachweis gelingen, so würde noch der
von der Klägerin erhobene Einwand zu prüfen sein, dass der
Beklagte die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes im Sinne
des Handelsgesetzbuches ausser Acht gelassen habe, indem er
bei Abschluss des Vertrages unterliess, die Möglichkeit, dass
während der Vertragsdauer pro 1889 ein Ausstand der gedachten
Art störend in die von ihm getroffenen Vorkehrungen eingreifen
könne, mit in Berechnung zu ziehen und auch für solchen Fall
genügende Vorkehrungen zu treffen.“
Kaufmännische Bewegung.
Die sozialpolitische Reformbewegung im deutschen
Handelsgewerbe.
Den eigenthümlichen Verhältnissen des deutschen
Handelsgewerbes, die von der sozialen Lagerung der Per-
sonen und Dinge in anderen, namentlich industriellen Be-
rufen vielfach abweichen, entspricht auch die besondere
Beschaffenheit der sozialen Bewegung im deutschen Kauf-
mannsstande.
Die kaufmännischen Verhältnisse in Deutschland be-
finden sich mitten im gährenden LTebergange aus den
alten patriarchalischen Zuständen, welche das noch geltende
Handelsgesetzbuch vorausgesetzt, mit angemessenen Kün-
digungsfristen, auskömmlichen Salären, mit Gehilfen, die
beim Prinzipal wie in der Familie wohnen und speisen,
und im Krankheitsfalle gepflegt werden, kurz mit einem
Personal, das vom Prinzipal als wirklicher Nachwuchs be=
trachtet wird und mindestens zu einem grossen Theil An-
wartschaft auf späteres Selbständigwerden hat, also in
einem Uebergangszustande, der aus diesen Verhältnissen
der früheren patriarchalischen Beschränkung des Handels-
gewerbes zu den weit bewegteren Verhältnissen eines
international erweiterten Marktes mit allen Rücksichts-
losigkeiten der freien Konkurrenz auch in sozialen Dingen
führt. Weitgehende Arbeitsteilung innerhalb der Betriebe
und rücksichtsloses Anpassen an alle Konjunkturen hat aus
den früheren Gehilfen und Lehrlingen, welche Kandidaten der
Prinzipalschaft waren, teilweise ein Heer von mechanisch
beschäftigten Arbeitern gemacht; dieselben werden oft aus
ungebildeten Schichten rekrutirt, und mit der Unfer-
drückung der Individualität auf zahlreichen Posten geht
eine schlechtere soziale Stellung der Betroffenen bezüglich
des Salärs, der Kündigungsfristen, damit der Pflege in
Krankheitsfällen und in vielen anderen sozialen Beziehungen
Hand in Hand. Diese Verschlechterung äussert sich aber
wieder weniger in der Gruppe der Komptorarbeiter, um
desto schlimmer bei den Ladengehilfen hervorzutreten.
Bei der ausserordentlichen Zersplitterung des deutschen
Handelsgewerbes — die Zahl der Betriebe stieg von der
vorletzten zur letzten deutschen Berufszählung, also von
1875 bis 1882, von 529 459 auf 616 836 und die Zahl der in
ihnen beschäftigten Personen um 25 %, während die ge-
sammte Bevölkerung in derselben Frist nur um 6% zu-
nahm — vollzieht sich ausserdem die Verschlechterung der
sozialen kaufmännischen Verhältnisse in Stadt und Land,
im ländlichen Osten und im industriellen Westen, in den
bereits zum Grossbetrieb übergegangenen Handelszentren
des Nordens und den noch in behäbigeren Mittelverhält-
nissen lebenden Städten und Städtchen Süddeutschlands
ganz ungleichartig. Und dieser Verschiedenartigkeit der
sozialen Lage entspricht auch eine augenfällige Verschieden-
heit der Art und Weise, in welcher die verschiedenen
Gruppen der Betheiligten an der Reformbewegung theil-
nehmen.
In den ländlichen Bezirken des Ostens, auch in den
grösseren Städten derselben, herrscht noch die grösste
Apathie gegen jede selbständige Bewegung und gegen jede
j Diskussion kaufmännischer Berufsfragen überhaupt, ebenso
wie in den Landstädtchen der übrigen deutschen Bezirke,
m denen sich noch vielfach altfränkische Verhältnisse
zwischen Prinzipal und Gehilfen erhalten haben, der Zu-
fluss von Gehilfen gering, die Aussicht, selbständig zu
werden, hier und da auch ohne Kapitalbesitz noch vor-
handen ist, und in der Hauptsache nur die zahlreiche und
ungenügende Ausbildung von Lehrlingen, die aber theil-
jweise in die grösseren Städte abfliessen, beklagt wird.
Eine Erhebung der Handelskammer zu Oppeln stellte
kürzlich fest, dass von ca. 400 Lehrlingen acht ober-
schlesischer Städte ungefähr 50% eine tägliche Arbeitszeit
von 15 Stunden und darüber hatten. Wo also in diesen
Bezirken eine Bewegung vorhanden ist, geht sie fast aus-
schliesslich von einsichtigen Prinzipalen aus, welche sich
gegen die übermässige Lehrhngszüchterei wenden,
für obligatorische Lehrlingsschulen eintreten und
höchstens noch aus Anlass der revidirten Gewerbe-
ordnung die Regelung der Sonntagsruhe herbeizuführen
streben. Einen grösseren Antheil an der Reform-
bewegung nehmen bereits die kaufmännischen Vereine
der Hansestädte und einzelne süddeutsche Korporationen
insofern, als sie die Stellenvermittelung und das Hilfskassen-
wesen („Verein für Handlungs-Kommis von 1858“ in Ham-
burg, „Verband Kaufmännischer Vereine Württembergs“
u. A.), oder das Handels-Schulwesen (Verein „Merkur“,
Nürnberg) tüchtig pflegen, auch den zusammenfassenden
Bestrebungen des „Deutschen Verbandes Kaufmännischer
Vereine“ näher stehen. Aber diese Gruppe hält unter dem
Eindruck der günstigeren Lage ihrer Vereinsangehörigen,
die sich meist aus den höheren Schichten der kaufmänni-
schen Angestellten rekrutiren (Bureaubeamte), die Selbst-
hilfe innerhalb der Vereine noch für ausreichend und die
weitergehende Reformbewegung für eine „künstlich in den
Kaufmannsstand hineingetragene Agitation“ (vgl. Artikel
des „Hamburger Vereinsblattes“). Die dritte Gruppe wird
von der Mehrzahl der Vereine des „Deutschen Verbandes
Kaufmännischer Vereine“ (Frankfurt a. M., Mannheim, Köln,
Mainz, München, Plauen, Zwickau und viele andere) ge-
bildet und tritt für staatlichen Versicherungszwang, staat-
lichen Arbeitsschutz und Schulobligatorium neben inten-
siver Vereinsthätigkeit auf dem Gebiete der Stellenvermitte-
lung, des Kassenwesens etc. ein, indem sie im Organ des
Verbandes, der „Kaufmännischen Presse“, Frankfurt a. M.,
fortlaufend Belege dafür sammelt, dass die Lage eines
grossen Theils der Gehilfen sich zusehends verschlechtert,
und dass die Selbsthilfe zur Bekämpfung der Mängel nicht
ausreicht. Diese Gruppe hat auf dem letzten Verbandstag
(Juni 1891) zu Braunschweig die Mehrheit der Stimmen auf
ihre Vorschläge vereinigt, die auf eine Gutheissung der ge-
setzlichen Regelung der Sonntagsruhe, der Krankenversiche-
rung und des Fortbildungswesens im Kaufmannsstande, so-
wie auf die Forderung einer gesetzlichen Maximalarbeits-
zeit für Lehrlinge und einer Minimalkündigungsfrist für
Gehilfen gingen. Theilweise parallel den Bestrebungen
dieser Gruppe gehen diejenigen des „Verbandes Deutscher
Handlungsgehilfen“ (Leipzig) und seines Organes „Verbands-
blätter“, der aber kein Gehilfenverband im Gegensatz zu
den Prinzipalen sein will und die Reformbewegung nur so-
weit mitmacht, als sie seinen besonderen Verbandszwecken
dienlich erscheint. Wenn dann noch die kleinen Hirsch-
Duncker’schen „Vereine Deutscher Kaufleute“., der „Verband
reisender Kaufleute Deutschlands“ (Leipzig) und der
„Deutsche Privatbeamten- Verein“ (Magdeburg) mit ihren
Versicherungskassen erwähnt sind, so hat man die rein
gewerkschaftliche Bewegung erschöpft, und es bleibt noch
die politische zu erwähnen, welche die sozialdemokratische
Partei seit einer Reihe von Jahren ohne grossen äusseren
Erfolg im deutschen Handelsgewerbe eingeleitet hat. Rührige
sozialdemokratische Gehilfenvereine bestehen namentlich in
Berlin und Hamburg, also dort, wo die kaufmännischen
Vereine in Unthätigkeit oder wesentlich auf dem Standpunkt
der Selbsthilfe beharren. Diese politischen Vereine sind
das Produkt der betrübenden grossstädtischen Verhältnisse,
bei denen, wie der Abgeordnete .Singer neulich im Reichs-
tage mittheilte, unter dem System der Grossbetriebe (Bazare)
ein erheblicher Theil der Gehilfen sich eintägige Kündigungs-
fristen oktroyiren lassen muss und in fortwährender Fluk-
tuation ist. Die Leiter dieser politischen Bewegung würden
jedoch die grossstädtischen Verhältnisse zu sehr verallgemei-
nern, wenn sie die unpolitische und rein gewerkschaftliche
Bewegung der kaufmännischen Vereine an anderen Orten
durch ihre politische Agitation verdrängen wollten, und ein
Misserfolg würde nicht ausbleiben. Die sozialen Verhält-
nisse des Kaufmannsstandes sind denjenigen der Industrie
nicht ohne Weiteres analog. Die unpolitische Standesbewe-
gung hat hier u. E. die grössere Berechtigung wegen
der noch theilweise patriarchalisch geordneten kaufmänni-
schen Verhältnisse im Lande. Insgesammt organisirt in
allen oben aufgeführten Vereinen mögen ungefähr 100 000
Kaufleute sein, und zwar drei Viertheile Gehilfen, da in
den „Kaufmännischen Vereinen“ auch Prinzipale enthalten
40
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 3.
sind. Nach der Berufszählung von 1882 bezifferte sich aber
das Hilfspersonal im deutschen Handelsgewerbe schon da-
mals auf 391 206 Köpte. , ,
Ueber die einzelnen sozialpolitischen Forderungen der
sozialpolitischen Bewegung im deutschen Handelsgewerbe,
so über die vom „Deutschen Verband Kaufmännischei V er-
eine“ beantragte Reichsenquete über die Verhältnisse des
Kaufmannsstandes, über die vom 1 . April d. J. ab zu erwartenc e
ortsstatutarische oder polizeiliche Regelung der Sonntags-
ruhe, über den vom 1. Januar 1893 ab eintretenden Kranken-
versicherungszwang für Handlungsgehilfen, über das ' chic -
sal des dem Reichstag gegenwärtig vorliegenden Antrages
Goldschmidt, das Recht auf Zeugnisse betreffend, sowie über
andere Punkte wird gesondert zu berichten sein.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Die Arbeitszeit kaufmännischer Lehrlinge ist nach An-
gabe der „Kaufm. Presse“ (Frankfurt a. M.) in acht schlesischen
Städten durch eine Umfrage der Oppelner Handel stamm« bei
den dortigen kaufmännischen Vereinen festgestellt worden, also
unter doppelter Kontrolle. Danach beträgt die Lehrlingszelt in
der Mehrzahl der in Betracht kommenden Gemeinden 3 bis
4 Jahre, an einzelnen Orten scheinl .eine .. vl?rJl^rl|® wSSt^
die Reffei zu bilden. Die Dauer der täglichen Arbeitszeit ist
im Durchschnitt übermässig grosse Nach den oben genannten
Ermittelungen werden Lehrlinge beschäftigt.
19 — 10 11 12
Std. i Std. i Std.
13
! Std.
14 15
i Std. ; Std.
Eine Minimalkümligungsfrist für Handlungsgehilfen
wird erbeten in einer Petition, welche der „Kaufmännische
Verein“ Frankfurt a. Main soeben an den Reichstag richtete.
In der Begründung der Eingabe heisst es: „Die Bestim-
mung des Artikel 61 des Handelsgesetzbuches, nach welcher
durch freie Vereinbarung beliebig kurze Kündigungsfristen
zwischen Prinzipal und Handlungsgehilfen festgesetzt \\ er-
den können, befriedigt schon seit einer Reihe von Jahren
den deutschen Kaufmannsstand nicht mehr. Vierzehntägige,
achttägige und eintägige Kündigungsfristen, welche den
Gehilfen in seiner materiellen Sicherheit ausserordentlich
schädigen, kommen nicht bloss in Berlin und Norddeutsch-
land, sondern auch hier und in Süddeutschland öfters vor.
Daher rühren die Bestrebungen der Kaufmännischen Ver-
eine, dem Handlungsgehilfen eine Sicherung seiner Existenz
durch Einführung einer Minimalkündigungsfrist zu ver-
schaffen, welche dem Vertrauensverhältniss zwischen Prin-
zipal und Gehilfen entspricht und den Letzteren einiger-
maassen vor allzuhäufiger Stellenlosigkeit schützt. Da das
Stellenvermittelungswesen der Kaufmännischen v er eine den
Prinzipalen Gelegenheit bietet, sich hinreichende Auskunft
über jeden Gehilfen vor Abschluss des Engagements zu
verschaffen, ausserdem eingehende briefliche Erkundigungen
bei früheren Chefs durchgehend üblich sind, so kann von
einer Benachteiligung der Prinzipale durch eine a^Se”
messene Minimalkündigungsfrist nicht gesprochen werden,
dieselben werden sich nach Einführung einer solchen noch
sorgfältiger als bisher über das zu engagirende Personal
erkundigen, was im Interesse des befähigten und gebildeten
Gehilfenstandes nur begrüsst werden kann. Aus allen diesen
Rücksichten hat sich die Jahresversammlung des „Deutschen
Verbandes Kaufmännischer Vereine“ vom 8. Juni 1891 zu
Braunschweig einstimmig für eine Mmimalkündigungstns
ausgesprochen, wofür als Beleg dem Präsidium des Reic s-
tages die Broschüre „Zur kaufmännischen Reform n ^er-
reicht wird, welche das Referat und den Beschluss über
den Gegenstand enthält.“ Dieses Referat welches vom
Rechtsbeistand des petitionirenden Vereins, Dr. Max fjuarck,
erstattet wurde, enthält die Ergebnisse einer Verbands-
enquete, welche sich über ganz Deutschland erstreckte unc
die bemerkenswerthe Thatsache ergab, dass nicht bloss im
schlecht situirten Kleinhandel, sondern auch im wohlhaben-
den Grosshandel die kurzen Kündigungsfristen immer mehr
Platz greifen und auch sonst eine sehr ungleichmassige
Vertheilung der Pflichten und Rechte zwischen Prinzipal
und Gehilfen stattfindet. Während nun von der sozial-
demokratischen „Freien Vereinigung junger Kaufleute m
Berlin um eine vierwöchentliche Minimaikündigungsfrist tu
Handlungsgehilfen petitionirt wird, schliesst die Frankfurter
Eingabe folgendermaassen: „Die sechswöchenthche Dauer
der Kündigungsfrist ist eine geschichtlich bewahrte Ein-
richtung des deutscehn Handelsstandes, die deshalb vor
nunmehr 30 Jahren im Handelsgesetzbuch sanktiomrt wurde
und auch jetzt noch so weit als möglich erhalten werden
sollte. '- ImlNamen seiner” 8500 Mitglieder und einer grossen
Zahl weiterer Interessenten richtet daher der Unterzeich-
nete Verein die Bitte an den hohen Reichtag: bei der
zweiten und dritten Berathung des Antrages Goldschmidt
folgenden Zusatz zu Artikel 61 des Handelsgesetzbuches
beschlossen zu wollen: „Die Vereinbarung einer kürzeren
Kündigungsfrist, als einer sechswöchentlichen und am 1 .
und 15. jedes Monats beginnenden ist nicht gestattet Dei
erwähnte Antrag Goldschmidt will das Recht der Hand-
lungsgehilfen auf Zeugnisse, das bisher nur aut dem Urts-
o-ebrauch basirte, im Handelsgesetzbuch festlegen.
1. Gleiwitz
2. Kattowitz
3. Patschkau • ■ • •
4. Rosdzin-Schoppinitz
5. Neustadt
6. Ziegenhals . . . •
7. Rybnik •
8. Pless
10
3
16
20
29
5
9
11
3
5
4
5
17
2
60 I
18l)
16
Std.
8
2
13
4
13
28
4 49 38 32 119 12
Die Kaufm. Presse bemerkt hierzu: „Die Mehrzahl dieser
'->82 Lehrlinge in 8 Städten — wahrscheinlich konnten die Ver-
eine noch n?cht einmal die Arbeitszeiten sämmtlmher Lehrlmge
erfahren ! - arbeitet also 15 Stunden täglich nämlich 1 19 oder
i ■ 0i c ca o • 19 müssen soe;ar 16 Stunden schaffen. Dass dabei
dfe' A usb il d un g des Gemeinsinns und die Berufsfreudigkeit schwer
leiden mSsem ist ohne weiteres klar. Und da gibt es noch
KÄute die’ gegen eine Abkürzung dieser
durch den Fortbildungsschulzwang sind! Ihatsacnucn
He Jugendlichen Arbeiter in Fabriken und Bergwerken gegen
diese Parias des Handelsgewerbes „die reinen Kavaliere , um
mit dem Reichstagsabgeordneten Buhl zu sprechen, denn -
Arbeitszeit llätgefetzlTch auf 10 Stenden mclustve Pensen be-
schränkt.
Handwerkerfragen.
*
Die Bauhandwerker und die Hypothekenordnung.
Die in Nummer 2 des Sozialpolitischen Centralblatts
erwähnte Petition des Deutschen Bundes für Bodenbesitz-,
reform ist nunmehr dein Staatssekretär des Reichsjustizamtes
Bos™ Übersicht worden. Der in der Petition enthaltene.
Gesetz Vorschlag, welcher nach Möglichkeit allen Bedenken
weo-en Schädigung der Rechte älterer Hypothekenglaubiger
Rechnung tragen wollte, ohne den berechtigten Forderung
der Bauhandwerker etwas zu vergeben, hat tolgendei
\\ ortla^m tli h bejm Neubau eines Gebäudes betheihgteii
Handwerker, Lieferant und Arbeiter haben innerst
eiJes Zeitraumes von sechs Monaten nach der baupolizei-
lichen "Gebrauchsabnahme des Gebäudes für ihre durc
Lieferung von Materialien und Arbeiten entstandene
Forderungen ein Recht auf Eintragung m das Grundbuch
D°e so entstandenen Hypotheken gemessen bei „Gleich-
berechtigung unter sich ein Vorzugsrecht vor allen an
deren dinglichen Belastungen, soweit solche nicht a
öffentlichen Titeln beruhen. Neubau ,m Sinne > dwae^Ge
setzes ist jedes von Grund aus oder von der Erdobertiacii
an eTe“XeGwdche einen Verzicht auf dieses Rechtaus
d Türken sind o-esetzlich unwirksam. .
drucken, -6^. ha( von jedem von ihr genehmige,
Neubau im Sinne dieses Gesetzes der Grundbuchbehord
Nachricht zu geben, welche letztere Hype
thekenp-läubio-ern Anzeige zu machen hat. Den nyp
thekeno'läubilern steht es nach Erhalt dieser Anzeige fre,
binnen^ 30 Tagen ihre Forderungen zur Ri ^gzahlun- m.
gekUkndniglnn Forderungen darf »
d6m SS^GeÄ^
Bundes für Bodenbesitzreform, Fabrikant Freese, eine lang
i) Im Sommer sogar I6V2 Stunden.
No. 3.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
41
Unterredung mit dem Staatssekretär Bosse, welcher auch der
Vortragende Rath, Geheimrath Struckmann beiwohnte. Als
bemerkenswerth wird aus dieser Unterredung mitgetheilt,
dass zwar die preussische Regierung den Wünschen der
Bauhandwerker sympathisch gegenüberstehe, dass dagegen
die Regierungen der übrigen Bundesstaaten den Bauhand-
werkern nicht einmal das vom preussischen Landrecht zu-
gestandene — in der Praxis freilich durchaus unzulängliche
Recht auf Vormerkung für ihre Verwendungen einräumen
wollen. Wir können nur unseren Wunsch wiederholen, dass
die Regierungen den berechtigten Forderungen der Bau-
handwerker entgegenkommen, indem sie sich über die vom
Standpunkte des reinsten Kapitalismus aus verfassten Motive
des „Entwurfes eines Gesetzes betr. die Zwangsvoll-
streckungen“ hinwegsetzen. An einer eifrigen Unterstützung
eines derartigen Vorgehens durch eine Agitation aus Bau-
handwerkerkreisen heraus, dürfte es allen Anzeichen nach
nicht fehlen.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Schutz der Arbeiterinnen, ln den schweizerischen
Konfektions- und Modegeschäften kommt vielfach eine arge
Ausbeutung der Arbeiterinnen vor, gegen welche die Be-
stimmungen des Fabrikgesetzes machtlos sind, da es sich
hier meistens um Gewerbe handelt, welche diesem Gesetz
nicht unterstellt sind. Aehnliche Verhältnisse linden sich
in einer Reihe von Hausindustriebetrieben und im Schank-
gewerbe. Um dem Uebelstande abzuhelfen, gehen einzelne
Kantone von sich aus mit Erlass von Spezialgesetzen vor.
Den Anfang machte Baselstadt mit einem Gesetz zum
Schutze der Arbeiterinnen. Demselben unterstehen alle
Gewerbe, in welchen drei Frauenspersonen oder mehr ge-
werbsmässig arbeiten, oder in welchen überhaupt Mädchen
unter 18 Jahren als Arbeiterinnen oder Lehrmädchen be-
schäftigt werden. Ausgenommen sind die Wirthschaften
und die Ladengeschäfte, sofern die Inhaber der letzteren
ihre weiblichen Angestellten nicht zu gewerblichen Ar-
beiten, sondern zur Bedienung der Käufer verwenden. Für
alle unter das Gesetz fallenden Frauenspersonen soll die
Dauer der regelmässigen Arbeitszeit nicht mehr als 1 1 Stun-
den, an den Vorabenden von Sonn- und Festtagen nicht
mehr als 10 Stunden betragen. Die Arbeitszeit muss in die
Stunden von 6 Uhr Morgens bis 8 Uhr Abends verlegt
werden, mit Pause von mindestens einer Stunde um die
Mitte der Arbeitszeit. Die Arbeit an Sonntagen ist unter-
sagt. Vorübergehende Ueberzeitarbeit kann das Departe-
ment des Innern bewilligen, Arbeitsverlängerung für mehr
als 2 Wochen der Regierungsrath. Von dieser Bewilligung
sind in allen Fällen Mädchen unter 18 Jahren und Schwan-
gere ausgeschlossen. Sie dürfen nach 8 Uhr Abends zu
keinerlei Dienstleistung mehr angehalten werden. Wöch-
nerinnen dürfen vor und nach ihrer Niederkunft während
8 Wochen nicht in dem Gewerbe beschäftigt werden. Für
bewilligte Arbeit nach dem gesetzlichen Feierabend sind
Frauenspersonen besonders zu entschädigen und können
diese nur mit ihrer Zustimmung dazu verwendet werden.
Wo nicht durch schriftliche Uebereinkunft etwas anderes
bestimmt ist, bleibt gegenseitige 14 tägige Kündigung Vor-
behalten. Bussen dürfen nur ausgesprochen werden, sofern sie
in einer Arbeitsordnung angedroht sind; sie sollen die Hälfte
des Tagelohnes der Gebüssten nicht übersteigen und sind
im Interesse der Arbeiterinnen zu verwenden. Lohnabzüge
für verdorbene Arbeit sind nur zulässig, wenn der Schaden
aus Vorsatz oder grober Nachlässigkeit entstanden ist. Die
Räumlichkeiten, in welchen Arbeiterinnen beschäftigt sind,
unterliegen in Bezug auf sanitarische Verhältnisse der Auf-
sicht der zuständigen Behörde. Wenn es der Umfang oder
die Natur des betreffenden Geschäftes rechtfertigen, können
die unter dieses Gesetz fallenden Gewerbinhaber durch die
Fabrikkommission angehalten werden, über die'Arbeitszeit,
die Bedingungen des Ein- und Austritts und die Ausbezah-
lung des Lohnes eine Arbeitsordnung zu erlassen und im
Arbeitslokal an sichtbarer Stelle anzuschlagen. Diese Ar-
beitsordnungen unterliegen der Genehmigung des Departe-
ments des Innern. Im Falle von Anständen entscheidet der
Regierungsrath. — Mit einem ähnlichen Gesetzeserlass be-
schäftigt man sich im Kanton Zürich. Im Kanton Waadt
will man die Kellnerinnen gesetzlich schützen. In St. Gallen
sind es die Arbeiter- (Griitlivereine), welche die Initiative
zum Erlass eines Gesetzes zum Schutze der Arbeiterinnen
ergriffen haben.
Die Sonntagsruhe im deutschen Handelsgewerbe, ln
Bezug auf die Festsetzung der Arbeitsstunden für das Handels-
gewerbe an den Sonntagen ist den Regierungspräsidenten fin-
den Fall, dass nicht ortsstatutarische Bestimmungen die ge-
setzlich zulässige Maximalarbeitszeit von 5 Stunden noch
weiter herabsetzen, nachfolgende Instruktion zur Ausfüh-
rung der Gewerbenovelle ertheilt worden: a) Bei Fest-
setzung der Arbeitsstunden ist die für den öffentlichen
Gottesdienst bestimmte Zeit jedenfalls soweit zu berück-
sichtigen, dass diese Stunden nicht in die Zeit des Haupt-
gottesdienstes und thunlichst auch nicht in die Zeit solcher
Nebengottesdienste fallen, während welcher nach den zur
Zeit geltenden Vorschriften die Verkaufsstätten geschlossen
sein müssen, b) Die Arbeitsstunden sind einerseits für
rössere Bezirke — thunlichst für Regierungsbezirke oder
rovinzen — andererseits für die verschiedenen Zweige
des Handelsgewerbes möglichst einheitlich lestzusetzen.
c) Damit den in Betracht kommenden Personen eine wirk-
same Sonntagsruhe zu Theil werde, wird der Beginn der
zulässigen Beschäftigungszeit möglichst früh, und das Ende
derselben derart festzusetzen sein, dass der grössere Theil
des Nachmittags und der Abend frei bleiben. Ohne be-
sonderen zwingenden Grund werden demgemäss die Ar-
beitsstunden sich nicht über zwei oder äussersten Falls
drei Uhr Nachmittags hinaus erstrecken dürfen.
Schweizerisches Fabrikgesetz. In Bern versammelten sich
letzthin die schweizerischen Fabrikinspektoren und deren Ad-
junkten, um sich mit dem eidgenössischen Industriedepartement
Uber Herausgabe einer Sammlung aller seit Inkrafttreten des eid-
genössischen Fabrikgesetzes erlassenen Auslegungen, Verfügungen
und Kreisschreiben zu verständigen. Im Jahre 1878 erschien schon
eine offizielle Ausgabe des schweizerischen Fabrik- und Haft-
pflichtgesetzes mit allen bis dahin erflossenen bundesräthlichen
Erlassen. Eine Ergänzung derselben wird auch für den nicht-
schweizerischen Sozialpolitiker von Interesse sein.
Arbeiterversicherung.
Die Erweiterung der Unfallversicherung in Oesterreich.
Im österreichischen Abgeordnetenhause wurde kürzlich eine
Vorlage betreffend die Ausdehnung des Unfallversicherungs-
gesetzes vom 28. Dezember 1887, R.-G.-Bl. No. 1 ex 1888
eingebracht, deren wesentlicher Inhalt in Folgendem wieder-
gegeben sei. Zur Zwangsversicherung sollen nunmehr
herangezogen werden: 1. Alle Unternehmungen, welche sich
gewerbsmässig aus dem Transporte von Personen oder
Sachen zu Lande oder auf Flüssen und Binnenwassern befassen,
mit Ausnahme der Eisenbahnen, insofern auf dieselben das
Haftpflichtgesetz vom 5. März 1869 Anwendung findet;
2. Baggereien; 3. Unternehmungen, die sich gewerbsmässig
mit der Reinigung von Strassen und Gebäuden (Fenstern,
Dächern u. dgl.) befassen; 4. gewerbsmässig betriebene
Kellereien und Waarenlager-Unternehmungen, sowie die
Betriebe von Holz- und Kohlenlagern; 5. die Unternehmungen
von ständigen Theatern bezüglich der darstellenden Personen
sowie der Arbeiter und Betriebsbeamten; 6. Berufsfeuer-
wehren; 7. die Gewerbebetriebe der Kanalräumer und
Rauchfangkehrer; 8. die gesummten Betriebe der Stein-
metze und 9. jene Gewerbebetriebe, welche sich auf die
Ausführung von Bauarbeiten erstrecken, auch hinsichtlich
der Werkstättenarbeiten.
Rücksichtlich dem Binnenschifffahrtsbetriebe erstreckt
sich die Versicherungspflicht auf diejenigen Unternehmungen,
welche in Oesterreich ihren Sitz oder eine ständige
Vertretung haben und deren Fahrzeuge ausschliesslich oder
zeitweilig im Inlande verkehren. Auch für Unfälle, die sich
auf solchen Schiffen im Auslande ereignen, wird den auf
denselben bediensteten Betriebsbeamten und Arbeitern
Entschädigung geleistet, vorausgesetzt, dass sie nicht bereits
nach den Gesetzen des anderen Landes gegen die Folgen
von Betriebsunfällen versichert sind.
Zur freiwilligen Versicherung werden bei den
bestehenden Anstalten zugelassen: 1. die Unternehmer von
unfallversicherungspflichtigen Betrieben selbst, aber auch
42
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 3
deren Bevollmächtigte oder Repräsentanten, ferner ;andere
Personen, welche ohne versicherungspflichtig zu sein, den
Gefahren eines solchen Betriebes ausgesetzt sind; 2. Unter-
nehmer, deren Betriebe gesetzlich der Versicherungspflicht
nicht unterliegen, sammt ihren Arbeitern und Betriebs-
beamten, der Beitritt muss jedoch korporativ erfolgen;
3. Eisenbahnunternehmungen , rücksichtlich derjenigen
Arbeiter und Betriebsbeamten, auf welche das Haftpflicht-
gesetz vom 5. März 1869 Anwendung findet, wobei jedoch
die nach dem Unfallversicherungsgesetze zukommenden
Entschädigungen als Minimum gelten, das in geeigneter
Weise auf das dem wirklichen Jahresbezuge entsprechende
Ausmaass zu erhöhen ist.
Ueber die Beiträge für die Versicherten sub 1 und 2
ist ein Uebereinkommen zwischen den Unternehmern und
Bediensteten zulässig; für die sub 3 angeführten Personen
ist die Prämie zur Hälfte von den Eisenbahnen aufzubringen.
Einige Aenderungen sollen die Bestimmungen über
den gemeinsamen Reservefonds erhalten. Wenn nämlich in
Folge eines Betriebsunfalles, durch welchen mindestens 5
Personen verletzt oder getödtet worden sind, Renten an
Verletzte oder die Hinterbliebenen getödteter Personen
flüssig werden, welche zur Zeit der Feststellung zusammen
ein Deckungskapital beanspruchen, welches das Vierzigfache
des bei der betreffenden Versicherungsanstalt bestehenden
durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienstes eines Versicherten
übersteigt, so hat die Versicherungsanstalt Anspruch auf
Ersatz des diese Summe übersteigenden Deckungskapitales
aus dem gemeinsamen Reservefonds. Welche Beträge als
durchschnittliche Jahresarbeitsverdienste zu gelten haben,
wird vom Minister des Innern nach Anhörung der Ver-
sicherungsanstalten von 3 zu 3 Jahren festgesetzt.
Soweit der gemeinsame Reservefonds nicht durch diese
Bestimmung in Anspruch genommen ist, kann derselbe
dazu verwendet werden, einen Abgang zu decken, welcher
sich bei einer Versicherungsanstalt nach Auszahlung des
Spezialreservefonds ergiebt, sofern nicht zur Deckung dieses
Abganges eine Erhöhung der Versicherungsbeiträge geboten
erscheint.
Der Minister des Innern ist ermächtigt, sobald sich
eine den Zweck überschreitende Ansammlung des gemein-
samen Reservefonds ergiebt, die Beisteuer der \ ersicherungs-
anstalten zu reduziren oder gänzlich einzustellen; wenn er
zu den bezeichneten Zwecken nicht ausreicht, durch eine
2° „nicht übersteigende ausserordentliche Auflage zu ergänzen.
Aus den der Vorlage beigegebenen Motiven ist zu
entnehmen, dass die Regierung die Ausdehnung der L nfall-
versicherungauf die Land- und forstwirthschaftlichen Betriebe
in Aussicht genommen und zu diesem Behufe bereits ein-
gehende Studien angestellt hat.
Beschäftigung ausländ’ sch er Arbeiter und deutsche
Versicherung. Aus der Beschäftigung fremdländischer
Arbeiter, deren Bedenken auch in anderer Beziehung sozial-
politisch wohlbekannt sind, erwachsen in der Praxis der
deutschen Versicherungsgesetzgebung mannigfache Schwie-
rigkeiten , wie nachfolgende interessante Stelle in dem
soeben erschienenen Jahresberichte der Handelskammer
von Bremen (für 1891) zeigt. Es heisst da: „Ganz eigen-
artig gestalten sich die Verhältnisse hinsichtlich der Ver-
sicherung der auf deutschen Seeschiffen dienenden aus-
ländischen Seeleute, da diese sich vielfach weigern, die ihnen
nach der deutschen Gesetzgebung zufallende Hälfte der
Beiträge von dem verdienten Lohne sich abziehen zu lassen,
und da sie in dieser Weigerung von ausländischen Behörden
häufig unterstützt werden. Die hierin für die deutschen
Rheder liegende Härte (!) steigert sich noch, wenn, wie es
bei der Anmusterung farbiger Mannschaften meistens der
Fall ist, zur Bemannung der Schiffe eine erheblich grössere
Kopfzahl erforderlich ist, als bei Verwendung europäischer
Mannschaften. Aus dieser Veranlassung sind die Deutsche
Dampfschiffahrtsgesellsehaft „Hansa“ und der Norddeutsche
Lloyd, die auf ihren nach Indien und in den chinesischen
Gewässern fahrenden Schiffen neuerdings, hauptsächlich
wegen klimatischer Verhältnisse, farbige Mannschaften,
Laskaren, Chinesen u. s. w. anstellen, mit der Bitte hervor-
getreten, die Versicherungspflicht möge hinsichtlich
solcher Mannschaften überhaupt aufgehoben werden. Sie
haben sich dabei auf die fernere Erwägung gestützt, dass
derartige Farbige wohl nie so lange und so regelmässig aut
deutschen Schiffen Dienste nehmen, dass sie zur Renten-
berechtigung gelangen könnten. Aehnliche Verhältnisse
walten bei der Fahrt nach Ost- und Westafrika und bei
der dortigen Küstenfahrt ob. Die Handelskammer hat sich
dieses Wunsches angenommen, und dessen Erfüllung er-
scheint nicht als ausgeschlossen. Denn das Bedenken, es
möge durch eine Erleichterung der Pflichten der Rheder
bei Anstellung farbiger Mannschaften der Arbeitsmarkt zu
Ungunsten der einheimischen Seeleute beeinflusst werden,
ist nicht zutreffend, da einmal die Anmusterung der Farbigen
fast stets in fremden Häfen erfolgt, und da ferner, wie schon
bemerkt, diese Mannschaften auch jetzt trotz des Ver-
sicherungszwanges in anscheinend noch steigendem
Umfange aus dem Grunde bevorzugt werden, weil sie
in heissen Zonen den klimatischen Verhältnissen gegenüber
widerstandsfähiger sind als Europäer. Ein Interesse aber
an der Einbeziehung dieser Leute unter die deutsche Ver-
sicherungspflicht an sich besteht zweifellos nicht.“ Die
Streiflichter, welche aus diesen widerspruchsvollen Dar-
legungen auf die Frage der Beschäftigung ausländischer
Arbeiter fallen, werden nicht unbeachtet bleiben können.
Verstaatlichung (1er Aerzte. Von Rednern der sozial-
demokratischen Partei ist bekanntlich gelegentlich der Ver-
sicherungsdebatten im Reichstage öfters geäussert worden, die
deutsche Versicherungsgesetzgebung werde ihr Theil dazu bei-
tragen, dass die Verstaatlichung der Aerzte, die von der Sozial-
demokratie auch aus anderen Gründen angestrebt werde, zur
Wirklichkeit würde. Als Beitrag zu dieser einschneidenden
Frage kann eine Mittheilung aus der letzten Sitzung der Aerzte-
kammer der Rheinprovinz dienen, welche allerdings die steigende
Abhängigkeit der staatlichen Versicherung von den jetzt noch
freien Aerzten darthut. In der genannten Aerztekammer wurde
zum ersten Gegenstand der Tagesordnung : „Die Invaliditäts-
und Altersversicherungsanstalt und die Aerzte“ folgendes ver-
handelt. Die Versicherungsanstalt theilte mit, nach dem Ge-
setze müsse jeder, der den Antrag auf Bewilligung einer Rente
stelle, alle Beweisstücke, auch das ärztliche Zeugniss selbst
herbeischaffen. Nun sei es aber für die Anstalt unerlässlich,
dass sie ein vollständiges, alle Fragen genau beantwortendes
Zeugniss erhalte, wenn sie auf Grund desselben sich über Be-
willigung oder Ablehnung der Rente schlüssig machen solle.
Die Anstalt habe nun ein Formular für d ese ärztlichen Atteste
aufgestellt, das wohl etwas über den Rahmen einer rem ärzt-
lichen Bescheinigung hinausgehe und am besten von dem be- .
handelnden Arzte ausgestellt werde. Die Anstalt wolle daher
alle Aerzte der Provinz" als ihre Vertrauensärzte ansehen und sie ,
bitten, die Bescheinigungen nach dem vorgeschriebenen Formular ,
auszustellen und diese an die Verwaltungsbehörde einzureichen; ,
hierfür biete die Anstalt den Aerzten ein massiges Honorar, das
allerdings als eine Honorirung der Ausarbeitung der Bescheini-
gung nicht angesehen werden könne, da eigentlich der Antrag-
steller dieses Honorar zahlen müsse. In den Fällen, wo die
Aerzte die Bescheinigungen nicht ausstellen wollten, müssten
allerdings besondere Distriktsärzte angestellt werden. Die ,
Aerztekammer beschloss hierauf einstimmig, auf die Vorschläge ;
der Versicherungsanstalt einzugehen.
Prostitution.
Die Prostitution im russischen Reiche.
George Kennan hat der Welt die Schrecknisse der
sibirischen Gefängnisse, enthüllt; das offizielle Russland zieht
soeben zum ersten Male den Schleier von dem Inferno seiner
gefallenen Frauen. Herr Staatsrath N. Troinitzky veröffent-
licht in der Statistique de FEmpire de Russie XIII. (Supple-
ment frangais) die Ergebnisse einer am 1./13. August 1889
veranstalteten Enquete, welche von dem statistischen Central-
comite im Einvernehmen mit dem Sanitätsdepartement im
Ministerium des Innern veranlasst wurde, und wrelche sich mit
Ausnahme des Bezirkes Zakataly im Kaukasus, der Provinz
Turgal in Centralasien und Finnlands auf das ganze rus-
sische Reich erstreckte. Den Sanitätsbehörden wurden Frage-
bogen zugeschickt, welche sie mit Rücksicht auf den Stand |
der Prostitution am 1./13. August 1889 ausgefüllt, dem
Centralkomite einzusenden verpflichtet wurden. Auf \ oll-
ständigkeit kann selbstverständlich eine solche Arbeit auch
in einem Reiche, welches den kolossalsten Beamtenapparat
zu diesen Zwecken in Bewegung setzt, keinen Anspruch
machen; die Polizei mag in einem Lande allmächtig sein,
— allwissend ist sie nicht. Die Aufschlüsse dieser Statistik
stehen im Einklang mit den sozialen Zuständen im russi-
schen Reiche, obwohl einige der ermittelten Daten den
Stempel der Ungenauigkeit an der Stirne tragen. \\ enn
z. B. die Gesammtzahl der russischen Prostituirten auf
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBI ATT.
43
' No. 3.
17 603 angegeben wird bei einer Bevölkerung von rund
108 843 193 Köpfen, — während der Sittenpolizeibericht von
1867 für Berlin 12 497 der Polizei namentlich bekannte
Weiber als Prostituirte oder als prostitutionsverdächtig ver-
zeichnet, so springt die Mangelhaftigkeit dieses Abschnittes
der russischen Erhebung in die Augen.
Auch zu der Frage der gesetzlichen Reguhrung der
Prostitution kann diese Statistik einen Beitrag liefern; denn
ausser rein sanitätspolizeilichen Vorschriften enthält die
russische Gesetzgebung keinerlei Normative; in Moskau ist
Lselbst die polizeilicne Meldung nicht obligatorisch. Das
Heim der Prostitution bilden erstens die „maisons de rendez-
voüs“, die Absteigequartiere; 52 derselben sind im ganzen
Reiche, 49 im europäischen Russland mit Ausschluss
der Weichseldepartements (Russ.-Polens) eruirt worden.
Man kennt ferner 1164 maisons de tolerance, Bordeille,
(davon 74,1% im europäischen Russland) mit 7840 Be-
wohnerinnen und endlich 9763 selbständige Prostituirte
(prostituees en carte), davon 69,9 % in den 50 Gou-
vernements des europäischen Russland, und 17,6% in den
Weichseldepartements (Russ. -Polen). Hier ist die Zahl der
selbständigen Prostituirten fünfmal so gross wie jene der
in Toleranzhäusern befindlichen; von allen Gouvernements
entfällt hier die höchste Zahl der Gefallenen aut die ge-
sammte weibliche Bevölkerung: 48 Prostituirte aut 100 000
Frauen (der Reichsdurchschnitt beträgt 32 aut 1 00 000).
Diese hohe Ziffer „erklärt sich einerseits aus der schärferen
Beaufsichtigung der Prostitution in diesen Gouvernements
(Russ.-Polen), andererseits aus dem Umstande, dass eine
grössere Anzahl von Soldaten in dieser Gegend kantonnirt
sind“ (p. 7).
Die Prostitution ist eine wesentlich städtische Er-
jscheinung: von der Gesammtzahl ihrer Opfer entfallen auf
die Hauptorte der Gouvernements des Reiches 59,6% (Russ.-
Polen 63,8%), auf die Distrikte 36,5% (Russ.-Polen 27,1%);
auf Flecken und Dörfer im ganzen Reiche nur 3,9%, da-
gegen 9,1% auf Flecken und Dörfer in Russ.-Polen und
11,7% im Kaukasus; es sind insbesondere „grosse industrie-
treibende Dörfer, welche die Centren der Prostitution für
die ländliche Bevölkerung bilden (p. 8).“
Die Prostituirten sind zum Theil der Gegenstand eines
Geschäftsbetriebes der „Matrones des maisons de tolerance“,
der Bordellinhaberinnen. Seine Einträglichkeit lässt sich
erstens aus der durchschnittlichen Dauer desselben ermessen:
51,7% bis 5 Jahre im russischen Reiche (39,6 "/n in den
Weichseldepartements, 60,7 % in Sibirien), 20,5 % durch
5— 10 Jahre im Reiche (22,9 % in den Weichseldepartements),
über 10 Jahre (darunter 9 über 50 Jahre) 27,8 % im Reiche
(37,5 % in den Weichseldepartements); zweitens aus der
auf jede solche Firma entfallenden Zahl von Prostituirten,
verglichen mit der Höhe der Jahresmiethe ihrer Häuser.
Man findet 3,1% Prostituirte in Häusern, welche jährlich
120 Rubel zahlen und 22,7% Mädchen dort, wo der Mieth-
zins 6600 Rubel beträgt — eine durchaus gleichmässig an-
steigende Reihe. Endlich ist der Preis eines Besuches, einer
Nacht, und des Ausganges (der letztere nur sehr unvoll-
ständig) in den verschiedenen Gouvernements bekannt ge-
geben worden. In Russisch-Polen übersteigt er nicht I Rubel,
der der Nacht nicht 4 Rubel; er steigt in den Hauptstädten
bis 4 — 5, und für die Nacht auf 15 Rubel.
Der Konfession, Nationalität und dem Stande nach
.sind von den „Matronen“, den Bordellbesitzerinnen — wohl
so genannt, weil nur 3% derselben weniger als 25 Jahre
alt sind — :
■
57,1 % russisch-orthodox, und 53,1 % russischer Nationalität
24,9% mosaisch, „ 27,6 % israelitischer „
6)6% protestantisch. „ 6,5% deutscher „
2.8% römisch-katholisch „ 2,6 % polnischer „
Dem Stande nach gehört „die grosse Masse der
Matronen den unteren Klassen der Gesellschaft an“ und
i zwar sind 3,1 /„Adelige und Beamtentöchter, 1,8% Handels-
frauen und höhere Bürgersfrauen, 47,5°/., Bürgersfrauen
(Bourgeoises), 20,5 % Bäuerinnen, 19 % Soldatenfrauen; 8,1%
entfallen, auf Fremde und andere Klassen.
Auf die Prostituirten ausgedehnt zeigt dieselbe Unter-
suchung, dass die vier zahlreichsten Nationalitäten in den
Toleranzhäusern in ganz anderem Ausmasse vertreten sind,
als unter den selbständigen Prostituirten; die letzteren
rekrutiren sich vornehmlich aus der ortsansässigen Bevölke-
rung; die ortsfremden Prostituirten befinden sich zumeist
in den Häusern ■ — ein offenbares Symptom ihres Handels-
betriebes. Nach dem Alter vertheilt sind von den selbst-
ständigen Prostituirten 61,3% 15 — 20 Jahre alt, 36,6%
20— 40 Jahre alt, von den in Toleranzhäusern befindlichen:
80,7 % 15—20 Jahre alt, 19,2% 20—40 Jahre alt.
Dass die Zahl der jugendlichen Prostituirten in den
Toleranzhäusern um so vieles höher ist als unter den
selbständigen „erklärt sich einestheils aus der Gewinnsucht
der Matronen, welche diese Häuser leiten; andrerseits, aus
der Unerfahrenheit und der Mittellosigkeit dieser Mädchen,
die unfähig sind, sich ein freies und unabhängiges Leben
zu begründen; ausserdem sind die Lebensbedingungin einer
selbständigen Prostituirten prekärer“ (p. 23).
Nach der Konfession gegliedert gehören im Reiche
an: der russisch-orthodoxen Religion 67,9 %, der römisch-
katholischen Religion 1 3, 6 %; israelitisch sind 6,8%, protestan-
tisch 5,9%. Von den russischen Prostituirten entfallen 85,6%
auf das europäische Russland, 1% auf Russisch-Polen, 6,2%,
auf den Kaukasus, 5 % auf Sibirien und 2,2 % auf Central-
asien. Von den Polinnen: 29,3% auf das europäische Russ-
land, 69,9% auf die Weichseldepartements; von den Israeli-
tinnen 71,7% auf das europäische Russland, 25,3 "/n auf die
Weichseldepartements. Von den Deutschen endlich ent-
fielen 85,6 % auf das europäische Russland, 1.1,9% auf die
Weichseldepartements.1)
Nach dem Stande sind 47,5% Bäuerinnen, 36,3%
Bürgerstöchter, 7,2% Soldatentöchter; andere Klassen : 4,7%,
Fremde: 1,5%, Adelige und Beamtentöchter: 1,8 "/„Händle-
rinnen und höhere Bürgerliche: 0,5% und Priesterstöchter:
0,5°/,. Die ersten drei Klassen, d. i. die erdrückende
Majorität der Prostituirten, gehört den proletarischen Volks-
schichten an. Sie waren zu 45% früher als Dienstboten,
zu 8,6% als Näherinnen u. dergl. in der Arbeit gewesen.
Die Prostituirten stammen zu 0,9 % aus reichen, zu
1 5,6 % aus Familien mittleren Wohlstandes; 83,5 % rekru-
tiren sich aus den Kreisen der Armen. Von diesen Un-
glücklichen haben 77,6% keinerlei Unterricht genossen.
Nach zwei wichtigen Abschnitten des Lebens ge-
gliedert zeigt es sich, dass 23,1% der Prostituirten vor dem
16. Lebensjahre, 80,5% vor dem 21. Lebensjahre, also vier
Fünftel vor erreichter Volljährigkeit und ein volles Viertel
vor der physischen Reife ihr Gewerbe begannen; beiläufig
drei Viertel hatten bis 5 Jahre darin ausgeharrt. Gewaltsam
wurden von ihnen im ganzen Reiche 14,6 u/o, 111 den Weichsel-
departements 26 % entehrt.
Mit der Statistik der venerischen Krankheiten unter
den Prostituirten Russlands schliesst die Publikation. Es
ergiebt sich aus derselben, dass die Syphilis 26,1%, vene-
rische Krankheiten 31,8% der Prostituirten ergriffen hatten.
Höchst bemerkenswert!! ist hierbei die Vertheilung dieser
Krankheiten auf die in den Toleranzhäusern befindlichen
und die selbständigen Prostituirten. Es herrschten nämlich:
Syphilis: Venerische Krankheiten:
in Toleranzhäusern .... 27,1 % 34,2%
unten denselbständigen. 25,3% 35,3%
unter den selbständigen grassirten also um 1,1 % mehr
venerische Krankheiten, aber um 1,8u/o weniger Syphilis,
als in den Toleranzhäusern. Die Liste der Syphilitischen
schwillt in Moskau, Petersburg und in Sibirien am
stärksten an. .
Die alte Erfahrung, dass zu vier Fünftel die Prosti-
tution ein Resultat des sozialen Nothstandes ist, wird durch
diese Angaben vollauf bestätigt; ferner tritt noch, wie
man aus der von Soldatenfrauen betriebenen Kuppelei und
der von Soldatentöchtern betriebenen Prostitution gesehen
hat, der schwere Druck des Militarismus hinzu. Dass die
sanitären Verhältnisse in den Toleranzhäusern keineswegs
bessere sind, als unter den selbständigen Prostituirten, dass
dieselben vielmehr nur dem schmarotzerhaften Triebe
einiger Verworfener reichere Nahrung bieten, ist ebenfalls
hervorgehoben worden. So bleibt die Prostitution wie so
manches Andere auch für Russland, „eine schreckliche
Frage“.
Wien. Stephan Bauer.
i) Die Tabellen auf S. 24 und 25 enthalten mehrere Irr-
thürner: die „Totais“ sollen sich jedesmal aut die nächste Ab-
theilung, z. B. jenes für das europäische Russland sich aut die
Weichseldepartements beziehen. Die Ziffer 2.2 rechts oben
sollte fettgedruckt sein. Auch aut S. 5, Zeile 8 von unten soll
es statt 16 908 heissen: 11908, und daher Zeile 6 von unten statt
1 :0,34 heissen: 0,48:1. Im weiteren Verlaute sind jedoch die
richtigen Zahlen der Berechnung zu Grunde gelegt.
44
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 3
Litteratur.
Nordböhmische Arbeiterstatistik. Herausgegeben von der-
Reichenberger Handels- und Gewerbekammer. Reichen-
berg in Böhmen, 1891. Verlag der Reichenberger Han-
dels- und Gewerbekammer. LV u. 552 S.
Statistisch im engsten Sinne des Wortes, d. h. also
nur die Ziffer als Darstellungsmittel verwendend, ist die
von der Reichenberger Handels- und Gewerbekammer her-
ausgegebene „Nordböhmische Arbeiterstatistik“. Sie ist
ganz überwiegend ein Tabellen werk, dem nur eine knappe
^Einleitung“ zur Orientirung über die bei der Erhebung
befolgte Methode und einige sparsame „Erläuterungen zu
den Tabellen“ beigefügt sind. Man verfolgte bei der Er-
hebung einen doppelten Zweck: „Einerseits sollte sie die
Kammer in die Lage versetzen, an der bevorstehenden
Durchführung der sozialen Versicherungsgesetze mit Hilfe
eines anderen und besseren Materiales als den Verwaltungs-
behörden zu Gebote stand, mitzuwirken; andererseits sollte
sie im Hinblick auf die allgemein empfundene und er-
kannte Nothwendigkeit einer Verbesserung der statistischen
Quinquennalberichterstattung der österreichischen Handels-
und Gewerbekammern als Prüfstein dafür gelten, was auf
dem Gebiete der Arbeiterstatistik unter den gegebenen
Verhältnissen erreichbar sei“. Um nur bei dem in zweiter
Linie hervorgehobenen Zwecke zu verweilen, so muss
anerkannt werden, dass die Kammer auf dem Gebiete
der Lohnstatistik eine erhebliche Leistung zu Stande ge-
bracht hat. Für etwa 100 000 der Fabrikindustrie des Kam-
merbezirks angehörige Arbeiter sind die Lohnverhältnisse
nach Geschlecht und fünfjährigen Altersklassen, nach Be-
zirken und Industrieen, nach Zeitlohn und Akkordlohn,
nach der Grösse der Unternehmungen und nach um je
50 Kr. abgestuften Lohnklassen zur Darstellung gelangt.
Dazu gesehen sich noch Mittheilungen über die Stabilität
der Arbeiter in den einzelnen Unternehmungen. Was mit
rein tabellarischer Darstellung und Ziffern geleistet werden
kann zur Beleuchtung der Lohnverhältnisse, das ist hier
geschehen. Dennoch wird das Werk nicht als eine irgend
ausreichende Grundlage für soziale Reformen gelten können.
Es gibt eben noch unendlich viele Momente, welche für die
Beurtheilung der Lage einer Arbeiterbevölkerung von
grösster Wichtigkeit sind, und die sich schlechterdings nicht
m zahlenmässig bestimmte Urtheile fassen lassen. Um mit
Carlyle zu sprechen: „Wir müssen weiter fragen: kann der
Arbeiter durch Sparsamkeit und Fleiss emporkommen?
Oder ist diese Hoffnung ausgeschlossen? In welchen Be-
ziehungen steht er zum Unternehmer? Die Stimmung des
Arbeiters, seine Auffassung darüber, ob er gerecht oder un-
i , i i _ T.u J „ A ^ r* ~
behauptet werden kann, begnügt, dann hätten wir ein vom
Parteistandpunkte entworfenes und verzerrtes Bild erhalten,
für welches durchaus kein Bedürfnis vorliegt. Die nord-
böhmischen Industriellen haben sich dieser Aufgabe schon
zu wiederholten Malen unterzogen.
Freiburg i. B. Heinrich Herkner.
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gerecht behandelt wird, seine gesunde Gemüthsverfassung,
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UV.llUUCiC.il. vviivu, ociAic — Y 7 .
seine Mässigurig, sein Gedeihen in dem einen, seine peini-
gende Unruhe, seine Unwirthschaftlichkeit, sein Brannt-
weintrinken und sein allmählicher Ruin in dem andern
Falle, — wie sollen Zahlen uns all das schildern?“ Wer
die volle Passionsgeschichte der nordböhmischen Arbeiter-
bevölkerung, ihr ununterbrochenes Opfer fast auf allen
Gebieten des menschlichen Daseins, wer ihren nüchternen,
ruhigen, gesetzlichen, anspruchslosen Sinn, ihre Ordnungs-
liebe und ihren Fleiss, ihren Drang nach Gerechtigkeit und
Bildung, wer das Alles nicht aus anderen Quellen oder
eigener Anschauung bereits kennen gelernt hat, der wird
mit dem Werke der „Nordböhmischen Arbeiterstatistik“
nicht allzu viel anzufangen wissen: der wird ihm vornehm-
lich nur die Ueberzeugung entnehmen, dass der Lohn
niedrig in einzelnen Industrieen und Bezirken sogar er-
bärmlich niedrig ist, dass die Arbeits- und Lebenskraft
namentlich bei Akkordlöhnung rasch aufgebraucht wird,
und dass die Verwendung weiblicher Arbeitskräfte, obschon
zur Zeit sehr beträchtlich, mit dein Uebergange zur mecha-
nischen Weberei einer noch weit grösseren Ausbreitung
entgegengeht.
Und dennoch, wir müssen der Kammer dankbar sein,
dass sie sich auf die Herausgabe von Tabellen beschränkt
hat. Die Kammern sind zur Vertretung der Unternehmer-
interessen berufen. Sie sind aber — und es wäre thöricht,
ihnen das zum Vorwurfe zu machen — nichts weniger als
unbefangene Beobachter, sobald es sich um Angelegen-
heiten der Arbeiter handelt. Wäre die Kammer zur Be-
schreibung der Zustände übergegangen, hätte sie sich nicht
mit den rein zahlenmässigen Ermittelungen, bei denen die
Objektivität auch von einer Unternehmervereinigung noch
Tasclien-Kalender zum Gebrauche bei Handhabung (1er Arbeiter-
versicherungsgesetze für Behörden, Berufsgenossenschaften,
Schiedsgerichte, Krankenkassenvorstände, Rechtsanwälte,
Aerzte u. s. w. für das Jahr 1892, nach amtlichen Quellen
zusammengestellt und herausgegeben von Buschmann und
Götze. 4 Jahrgang. 2 Theile, Mk. 6,25. Berlin, Verlag der
Liebei sehen Buchhandlung.
Ein hübsch ausgestatteter zuverlässiger Rathgeber für die
Fragen des Arbeiterversicherungswesens, knapp und gründlich,
durch Uebersichtlichkeit sich auszeichnend, über die reiche Fülle
des Stoffes rasch unterrichtend, kurz ein sehr empfehlenswerthes
Werkchen, das in den Händen keines Praktikers fehlen sollte.
Werthvoll sind die zahlreichen, auf die Bescheide und Ent-
scheidungen der massgebenden Behörden sich stützenden Er-
läuterungen zu dem Texte der drei Versicherungsgesetze, ferner
die lehrreichen Angaben über die Organisation der Alters- und
Invaliditätsversicherung. Es finden sich, um nur das Wichtigere
herauszuheben, ferner die Landes-Unfallversicherungs-(Aus-
führungs-jGesetze, die Ausführungsverwaltungen und -Bekannt-
machungen zu den Unfallversicherungsgesetzen, Formulare für
die Anmeldung zur Unfallversicherung, für Unfallanzeigen, ein
Wegweiser bei Erhebung und Durchführung von Unfallentschä-
dio ungsansprüchen. Der als Beilage erschienene zweite l heil
enthält u. a. die Nachweisung der Zentralbehörden, sowie der
höheren und unteren Verwaltungsbehörden, die Uebersicht der
Namen Sitze und Bezirke sämmtlicher Berufsgenossenschaften
i (Sektionen, Schiedsgerichte) u. s. w., die Nachweisungen der
ortsüblichen Taglöhne und des durchschnittlichen Jahresarbeits-
verdienstes für land- und forstwirthschaftliche Arbeiter im
deutschen Reich.
Die Steuerdeklaration der Aerzte auf Grund des neuen preussi-
schen Einkommensteuer-Gesetzes von Dr. med. Max Kamm,
Breslau Nach einem am 22. November 1891 im Verein der
Aerzte des Regierungs-Bezirks Breslau gehaltenen V ortrage.
Breslau. Verlag von Preuss & Jünger. 1891.
Die sozialpolitische Seite der „Selbsteinschätzung“ (welche
am 4 Januar im ganzen Umfange der preussischen Monarchie
begonnen hat) zeigt sich auch darin, dass die Erörterung der Mass-
regel jetzt vielfach nach Berufsständen vorgenommen wird; ein
deutlicher Beweis, dass der sozialen Seite cles Steuerwesens die
Selbsteinschätzung eher gerecht zu werden geeignet ist, als das
bisherige Einschätzungsverfahren. — Das vorliegende Schnttchen
ist von einem Arzte für Aerzte geschrieben. Ohne aut die steuer-
technische Seite der Frage tiefer einzugehen, stutzt sich der
Verfasser fast überall auf mein Schnftchen über „die Selbstein-
schätzung und die geistige Arbeit“ (Berlin, Simion, 1891) Der
Nutzanwendung von den dort angegebenen Grundsätzen aut
den ärztlichen Stand kann ich mich (von untergeordneten Einzel-
heiten abgesehen) anschliessen. Die drei Beispiele einer ärzt-
lichen Selbsteinschätzung, welche der Verfasser seinem Schritt-
chen einverleibt hat, sind in ihrer Ausführlichkeit ganz besonders
lehrreich.
Berlin. J. Jastrow.
Eingesendete Schritten.
(Besprechung Vorbehalten.)
Ex malis mimina! Reflexionen zur Prostitutionsfrage von einem
Universitätslehrer. Berlin W., 1891. Philosophisch-historischer
Verlag. 8T 15 S. . , .. , , T
Hielt, Aug., Arb etaref öresä keringskomiten s Betakan de i
, ö ’ . i t~» fKv A rhpf-Qrp nrr
Sjuk-, Begrafnings- och Pensionskassor för Arbetare och
;muk-, rsegrainings- ocu rcuMunsnaMui .
Handverkare T Finland Statistisk Undersökmng. Heisings-
fors. Wellin & Görs’ Aktiebolags Boktrykri 1891. gr. 8.
II u. 115 S. . T . ,
Jäger, Adolf, P., Die soziale Frage im Lichte der Offen-
barung, in der Geschichte der Völker und im Irrlicht er
Zeit. II. Bd. Neu-Ruppin, Verlag von Rud. Petrenz. 1891.
IV und 295 S. ...... „ . ,
Käppler, H Arbeitsverhältnisse der Müller Deutsch-
lands. Nach statistischen Quellen bearbeitet. Altenburg,
1891. Selbstverlag, kl. 8'. 70 S. .
Vandervelde, Emile, Les associations professionnell
d’ar tisans et ouvriers en Belgique. Bruxelles, 189 1,
Imprimerie des travaux publics. gr. 8 ', I, X und 259 S., u,
199 S
Wurm, Em, Die Naturerkenntniss im Lichte des Dar-
winismus. Dresden, Verlag von R. Schnabel. 1891. 8 . 19- S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT
Berlin, den’ 18. Januar' 1892.
Für den Anzeigenteil sind die Redaction und die Verlagsbuchhandlung nicht verantwortlich. Anzeigen-Aimahxnestelle nur bei
S Dr. Otto Eysler, Berlin SW., Charlottenstrasse 11. Preis für die 3 spaltige Colonelzeile 40 I f.
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Uitln'r frfje Bttdifjanblung in Berlin SW., Be (Tau er 1fr afp 19.
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(Monalafdirift für Politik, ©EftfndjiE, BunP unb Xiteratur.)
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53iau abottnivt kalbjälpttd) für 9 531arf bei allen 33ud)l)anbliitigeii unb fßoftämtern.
Verlag mm Dunrftev & jfumbtof in Seip^ig
©Borg SriEtiritfi Knapp, ©ie Sanbarbeiter
in itnedjtfdjaft nnb gmljeit. Slier «otträge.
1891. $reid ca. 2 5)1.
BEtnrirfi ©Erkner, ©ie fociale Slieform alb
©eüot Des tut rt 1) ’ d) n f t lictjcn gortfdjrittd. 1891.
fßreid 2 531. 40 $ßf.
©tf jriffen örs ©rrrtna für ©ürialpolitih.
49. Jöanb: ©ie paubelopolitif ber luidjitgereii
Shilturftaaten in ben leiden 3,.l)rjel)nten 1.
ibanb. St. u. b. Sie .fjaitbeldpolittf
5lorbamerifad, Sinkend, Defterreidjd, 33el=
gieitd, ber Dheberlanbe, ©öiiemarfo, ©djioe*
beud unb Dlorioegend, dlufpanbd unb ber
©djineij, fomie bie beutfdje .püiibeldftattftif
oon 1880 l'iö 1890. Jlreis 13 531.
— ©affelbe. 50. löanb: ©ie Ämubeldpolitif ic.
2. «anb, 31 n. b. £. : ©ie 3öeeu ber beut=
fdjeu Jpanbeldpolitif mm 1860 — 1891 33om
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4 531. 60 5ßf.
©Ermann Xofrfr, 5latiouale ißrobnftion unb
s nationale iBerufdglieberiutg. 1891. ißreid
6 531.
BL ü. b. Dlirn, ©ie gadjuereine unb bie
fociale ^Bewegung in Rrantreid). ©onberabbr.
and ©cijmoilerd Sta'bud) 1891. J3reid 2 531.
II. (Suttenlag, Slerlagdbudpiaubluug in JBerliu.
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gür Sbeorie unb ißrajid fpftematifd) bargeftetlt
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Dr. Ahcittcid) Plofin,
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3erfatlen, oon beuen ber erfte „bie retd;srec±)t=
ltdjeu ©rnnblageu ber Slrbeiterüerfid)erung''
befrmbeln, ber jtoeite aber ut brei ©peilen bie
•drunten--, Uufaü=, fomie bie Suoaltbitätö* unb
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©. ^fr. «erger,
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(5 l f t C 2t 1t f I rt fl c.
Safdjenformat; cart. 1 531. 25 43f.
Antiquarische Lagerkataloge :
No. 255. Geschichte und Literatur der
National-Oekonomie bis Adatn
Smith.
No. 264. Geschichte und Literatur der
National-Oekonomie von Adam
Smith bis zur Gegenwart.
No. 278. Socialwissenschaft. Socialismus
und Kommunismus, Grundeigen-
thumsverhaltnisse, Geschichte d.
Arbeit.
Joseph Baer & Co.
Buchhändler u. Antiquare.
Frankfurt a./Main.
Smrcf) {ebe «8ucf)hanblung au beäiet)en :
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lniferer foplüciiiolmitiE.
9tad) nmtlidjctt Studien eutl)«Ut
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28 23ogen, get). 2 «Dicu'f.
I. Sie Siigen unserer (Sogialbemolratie.
II. ®ic ©ntroid'elimg nuferer ©ogialbemo»
fvatie unb ihrer Pefyre noit 1863— 1891. -
III. Sie Iommunil'tifche3»funTt^9eleU|chatt
unferev ©oaialbemofratie. — IV. Sie
«Baterlcmbsltebe nuferer Soaialbemonatte.
— V. Ser gefehlte ihm unlerer ©0,3101=
bemofraten.’ — VI. Sie Religion nuferer
©oxialbemofraten. — VII. Sie 2lrbeiter=
freunblicl)feit nuferer ©ogialbemotratie.
(£. 3$. Berit* ftftc Bniagsburfjfranblnrtg (Baftar Berit) in HBimri)en.
3n unferem S3erIoge ift erfdjienen:
fT + Qtitrpoäirdier q^cltlndifghalcntici-. Diene golge. ©edjiter
*&U) UltljCSB Jahrgang. 1890. (Ser gaujeu JHeifje XXXT. Sonb.) heraus«
gegeben po’n tprofDr. ^angSdbrncf. «Preis gei). 8 3)1. Grf<$eiiit alljährlich- 3al)rgaug
1891 erfdjeiut im gebrnar 1892
iinHorUTüit Sofbud)ti., ftrnpcrt,
in ü&Siewar.
ßomptete Grpt. ber früheren Sa&rgänge biete« B 0 1 i t i f e r n u u c 11 1 b e I) r 1 i d) e n b e 1 ü t| m t e n 3 a f) r b u d) ä
werben neu cintretenben Stbonnentcn ju ennä&igtem »reife geliefert.
ferner:
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2tnl)ang,
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cjro&f). tjeff. 91egienmgSrat: 5;iii(Uige lltit einem 2lul)01\g, bie
madjungen be3 33uubc3i*cit3 eutfjciltenb. Äcivt. 1 ÜM» BO
BvbEilcrVdntltocVfll f«r bad beutfdje «Reich com 1. Suni 1891 («RooeUe
ui Sit. vü ötr ©eioerbeorbunug). SejtauSgabe mit (Einleitung, erlöuternbeu Dlnmerfnngen
unb Stieg ift er. 8V2 33og. ÜEart. 1 «Dt. 20 tPf-
Spcrber’jche Sjerlagbljonbluttg, grdbutitiin 'äieisgau
©neben i|t erfdgenen unb bnrd) alle 23ud)t)onblungeu jn beziehen:
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Dculfdicr Kcid)S0tf4e unb Piciifiifd)«' OMcljt.
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1. ©ie Schaffung be§ ©entfdien i*«äp|f80" lJr
oon fHbnne. <S-eci)fte Auflage. 1 25 4-T*
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SJlfcbluS brt6w^ä. ®o.« 8- St“ bauet, siebente
Stuftage. 2 23tt.
5. Sttlg meine Xcutfdte aScdifelorbnunfl
©. Sordjarbt, ©ecljfte Stuftage ^pou^ 6. Italt, unD
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15. Weriditcfoftcngcf.^ unb ©ebütirenorbnunfl .für
©eriditeooUjictjer. ©cbüljrcnprPnnng für 3eu-
acn ui b Sadioerftanbige. föiit . SVoftcntabcUen.
Sou 91. ©Dboio. SSierte Sfiiftage. 80 '(St-
16. 9{ed)ts.unraltsorbnung für bae f®eutfdic 9Jcid).
SGon 91. ©i)boui. 3»cltc Stuflage 50 'fit-
17. We l) ü I) renorb n tut a für 3ieditsanttJältc. SSen
!R. ©ijboro. Eritte Stuftage. 6J '4>t-
Xaö ®entfdic SRcicüSgefeb über bie. 'Reid)ö=
ftcii'Uetabgabcn in ber Raffung beä ©eiefee» boiu
29. SJfcti 1*5&5. S9firfenfteuergefej. SSou 33. ©aupp.
3,/4. Sluftage ergiin.t bt3 1890. 2 331t
Sue Seeaefetjgcbnn i bee Tciitfdicu 9icidice.
ton Dr jur. fc S. K u i Ift) t * 3 SUf f.
20 Wefcfee, betreffenb bie Ärantcnoeifidicrunfl.ber
Sib«tei. Won ®. oon SBoebtte. ©ritte Stuftage
1 O.l 1 1. 20 ij}f.
B
18
19.
21.
atc^fcUteu pelfteiicrüc^^^ « et) ?'t 'iO. ctirf o 1 ft c m
ftcuertarif oon S. ©aupp. ftunrte Stuftage. 2 3311.
6. s3{cid)-Wemerbe=Orbnun9 mit ^en fftr ba« «teUJj
ertafieneu Slu«fübrung«beftimmuuaen. Dleuejtc nanuiui
"eä ©efefee«. Hon 4. $£ 23erger, SHegievungsra.t).
felite Stuflage. 1 Stßt. 25 Sßf. .
7 5^ie ©eutidic %'oft-- unb Se(egrapt)en=feeH't5=
aebuna 33ou Dr. V ©. Sü^er. ©ritte Auflage.
2 Vit 50 Sßf. , ...
8 T'io W fetse über ben Unterttutningewobnuei
über S3 nbe«- unb @taat8ange^ötigfeit unb Rreijuatgteit.
SSou Dr 3- Äred). Stoeite Slurtage. 2 JJtt.
9a Sammlung flcinercr pvioatredtttidicr 91cid)c-=
geietje. tlrgäujuugäbaub ju ben tm 3. ^ ©uttentag idjen
leidige etidiienenen ©injel SluSaaben beutlet Ouidjä-
gefetje. »on g. »lertjau«. 2 SUit. 25 Pf.
9b Sammlung flcinercr iWeidiegcfetec jtrafredit;
lidien 3n batte, ©rgänaungobaub ju beu im 3. ©litten.
ISgi^u actlage erfdneiieneu bin3et |u.3gabeu beutfd;ei
9icicbSgefc&e. 3>ou 9)1. iKcrnei. 1 ÜJlf. 8 4>T-
10. ©ae 91 e i di e b e a 111 1 c n g e f e fe °om ?hP} $ Im
Sluftage oonlB.iuvnau, SReidjägeviditä.att). ^ JJit. 40 bt-
11 (^tuthjroAcfeovimiuiö wiit (öcrldjtöucvfüffutii ö*
2 9)1 f. 50 bi-
i y.ii 1. m ipy.
©ic tlonf. largefcfegebung bce©eutfd)cn91cidice.
33on Dr. bbilipp 3«tn- 4 soit-
22. •l atentgeicis. «efetj über 991 ufter= unb WobclD
fdmfe. ©c»cfe über s33i arf enf d)U^» 3?cb|t 3tiio-
füfjrungSbeiiimmungcn. 33ou $. bb- 'Bevger. dritte
Stuftage. 3n SSovbeveitung.
23. UnfallweriidiC' «ngegefefe oom 6. 3uli m unb
(Seiet? übe. bie Vluebebnuna ber «nfaü- unb
,tl ran f eu ocritdierung nom 28. bla 1885. ^on
©. non SBoebtte. »texte Stuftage. 2 9Jft.
24 9icidiegefct5, betreffenb bie .(VommanbitgcfelD
fdiaften Auf «ItHcn unb bie ^«lcn«efeM*«rteii.
»01t & iS eg fi 11 er unb Dr. fj. ». St in 0 n. glitte Juf-
Tage. 1 9)tf.
tuvje. j. -'-/v*-
25. ©ae ©cntfdjc 9leidiegcfe> megen ert)ebi.ng ber
itrauftcucr boiu 31. blat 1872. »on L. ^ er
r 1 1) 0.
1 aut. 6° bi. ... vn, «
26. ©ie 9icidK-gcfct?gcbung über 9Jluni= unb tgnf-
mefeu, b'av'ieractb. 'Vramteurut ptevc unb liVdie-
anleibcn. »011 Dr. 91. S 0 d). Sroeite Stuflage. 2 ))». 40 bf.
27. ' '
©ic ©efefegebnug betr bge © ; ■ i 1 1 1 ib 0 Iie i . orn e f e t t
i»Ä 9!cidi. bau Dr jur. G. ©oefd, unb
Dr. med. 3’. Star fielt. 1 3)1 E. 60 bf.
28. ©eiet?, betreffenb bie Ititfatloerfidierung bcr bet
93 nuten befdiaftigten b'enoncu- .oom ..gilt 1887.
üBon Sco 9Ji u g b a n. 1 tUif- 25 +>y.
~ "■ w 9Slirth=
29. ©efefe, betreffenb bie
f d) n f t c- g e n u 1 1 e ttfdi a f tc it. bom I. lUat i«»). o
g.SBartiiuä. »terte Stuflage. 1 9)lf. 2o bl-
©ic 93crfnffttttg«=Urfuttbc für ben 9Jreu6ifAei
Staat So“ Dr. Stbotf Strnbt. ßmeite StufTage.,
2 9Jlt.
9.3 ea ut t e 1 1 = © e f c t? g e b u tt g < b'reumfdie. ©nttiattenb
bic toiditigfteti S9camtengcte0e m »reuBeu. _ blit^fut jen
oie totiDtiqiten 'oeamieiiiyeieyc u , .y
Sliimerfungen einem djronoloaddjen ^eneidyntB oer ab-
qebrurften ©efefec tc. älort © bjafferott). 3n»-tte
neubedrbeitete 'iltiflage. 1 50 s}>f.
©gö ''Drctt nifdic ©efc^i b tr. bic 3'l,l*ngbot’ti-
flrecfung in Zä wnb mcalidie Vermögen oom
16 3utt 1883 unb aUen »ebengeiehcn. »ou Dr.
3 Jnedt tittb Dr. O. Sfifdier. 3»«'ti Sluftage.
1 9)1 1.
©ic tprcitfiiidicu ©efctec, betreffenb ba8 9lotariat
in beit SanbeSt -ctlen beä gemeinen »editä mb W
Canbrcdjtä. groeite oerimberte Sluftage fieiauägegeben
non 91. ©t)bon> unb St. ©ellroeg. 1 SD1E. 60 4S|.
©ab ©efefe «out 24. SCpril 1854 (betr bie auwr.
ehetidje ©djioängerung) unb bie ba eben gettenben Se-
ftimuiiing n beä StUg. Öanbrecbtd uebfl ben ba\u ergangenen
»räiubitaten, ber Öitteraturic. »ott Dr.jur.§. ©d) u Ij..
76 »f. 1
’SÄ?»"
91. gijboir. groeite Auflage. 2 sDcr.
uttfc s^cr=
»Ott
Dlttgemcinc ©criditeorbnuttg ; für bie sV«u^t--
fdien Staa en oom >. 3fult 1794 unb 4>u
. - .reufti Ac
9)!ai 1855. »oh
Sx o tt f röo.bnung «pm s.
5-. »iertjauS. 2 9)1 1. 50 »f.
Tt..- 93ormunbfdiafto=Orbuun ' oom 5. 3'tti 1875,
Sbit bat batu eriafietten Slebengefen e„ unb Uge
meinen »erfiiguugen. »on »lay ©djulfcenftem.
l 9Jlf. 20 »f.
©ie HH-e- fiiidic ©runbbudigcfeügebung. Botr
|«f. Dr.DSifdjer. 1 9J1E. 20 »T-
10.
15 yjeu uu .
SBoebtte. SSierte Stuflage. 2 9Jlf.
61 9!eidiogefet? , betreffenb bie ©ewerbegeria) c.
'Uom 29' 3uti 1890. »on 2eo 9)1 ug bau. 2. lluägabe.
1 ü)it. 25 »f.
13. Sion f u rö o rbnung mit ©i n füi r u vgegeict?, 91 beu=
ae eben unb Graauäungcn. »on Ji. otjooio.
»ierte Sluftage. 80 »T.
14. W- ridit ■«crfaifuugogciet?rüvbtto icutidn' -ietd).
»on 91. ©tjbotn. fünfte Sluftage. 80 Bf.
tage. 1 9)l£.
11.
©cmorbefteuergefeB für bie '4>rcti|if*c 9)1 o
uovdiic. »on fRegieruugäratt) St. Sfernom. 80 4. 1-
■Verantwortlich für Änzeigentheil : I)r. Otto Eysler in Berlin. - Druck von
H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 25. Januar 1892.
Nummer 4.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
T. Guttentae, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis viertel,] ähr lieh 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Amtliche Untersuchungen so-
zialer Zustände in Deut-
schland. Von Dr. H. Braun.
Soziale Wirthschaftspolitik:
Reform der Gewerbeordnung in der
Schweiz. Von E. Naef.
Auswanderungsgesetz für Deutsch-
land.
Arbeiterzustände:
Ueber die Abnahme der Arbeits-
kraft. Von Dr. N. Brückner.
Erwiderung. Von Professor Dr.
H. Herkner.
Löhne im Wiener Schmiedege-
werbe.
Zustände im polygraphischen Ge-
werbe in Frankfurt a. M.
Hamburger Arbeiterkinder.
Arbeiterverhältnisse in den preussi-
schen Staatsgruben.
Arbeitslosigkeit.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Der steirische Bergarbeiterstrike.
Von Dr. Leo Verkauf.
Das Ende des Buchdruckerstrikes.
Von Dr. Adolf Braun.
Politische Arbeiterbewegung.
Die Sozialdemokratie und die
Strikes.
Arbeiterschutzgesetzgebung :
Sonntagsruhe im Handelsgewerbe.
Arbeiterversicherung:
Der Entwurf eines österreichischen
Hilfskassengesetzes.
Zur Statistik der deutschen Alters-
und Invaliditäfsyersicherimg.
Zum deutschen Unfallversicherungs-
gesetz.
Die Unfall- und Krankenversiche-
rung in der Schweiz.
Zur deutschen Krankenkassen-
novelle.
Unterstützungskasse der west-
fälischen Bergleute.
Die österreichische Krankenver-
sicherung i. J. 1889.
Gewerbegerichte, Einigungs-
ämter u. Arbeiterausschüsse:
Gewerbliche Schiedsgerichte in der
Schweiz.
Gewerbegerichte für Bergleute.
Wohnungszustände und Woh-
nungsgesetzgebung :
Schlafstellenwesen in Berlin.
Soziale Hygiene:
Der Entwurf eines Gesetzes zur
Bekämpfung der Trunksucht in
Deutschland. V 011 Dr. M. Q u a r ck.
Aeusserungen zum Trunksuchts-
gesetz-Entwurf.
Zur Sittlichkeitsgesetzgebung.
Ortsgesundheitsräthe im Grossher-
zogthum Hessen.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Amtliche Untersuchungen sozialer Zustände
in Deutschland.
I EBB BgM Wm 1 1 S I
Der immer fühlbarer werdende, mit grösster Peinlich-
keit empfundene Mangel einer deutschen Sozialstatistik
hat dazu geführt, dass in der letzten Zeit zwei auf dieses
Ziel gerichtete aus der Initiative mehrerer Abgeordneten
hervorgegangene Anträge im Reichstag zur Verhandlung ge-
langten, und auch Seitens der Regierung ein Plan entwickelt
worden ist, um endlich einen Zustand zu beseitigen, welcher
der Gesetzgebung und Verwaltung aui Schritt und Tritt
Hemmnisse bereitet und im öffentlichen Interesse schlechter-
dings länger nicht aufrecht erhalten werden darf.
Am 9. Dezember v. J. diskutirte der Reichstag den
von den Abgeordneten Auer und Genossen eingebrachten
Gesetzentwurf betreffend die Einsetzung parlamentarischer
Untersuchungskommissionen, am 13. Januar d. J. kündigte
der Minister von Bötticher die Bildung einer Kommission
für Arbeitsstatistik an, und in der Sitzung vom 20. Januar
berieth der Reichstag den vom Abgeordneten Siegle ein-
gebrachten Antrag, betreffend eine statistische Aufnahme
über die Lage der arbeitenden Klasse und acceptirte den-
selben mit grosser Majorität.
Der Gesetzentwurf der sozialdemokratischen Abge-
ordneten verlangt einen Zusatz zur Verfassung des deut-
schen Reiches, wodurch der Reichstag das Recht erhalten
soll, behufs seiner Information Kommissionen zur Unter-
suchung von Thatsachen einzusetzen. Diesen Kommissionen
stände die Befugniss zu, Zeugen und Sachverständige —
auch eidlich — zu vernehmen und alle diejenigen Er-
hebungen zu veranstalten, die sie zur Klarstellung der
Thatsachen für nöthig erachten. Die Behörden würden
verpflichtet sein, jenen Kommissionen innerhalb der Grenzen
ihrer Aufgabe Unterstützung zu gewähren.
Die hier geforderten gesetzlichen Bestimmungen finden
sich mit geringeren oder grösseren Modifikationen in der
Verfassung zahlreicher europäischer, auch speziell in der
mehrerer deutscher Staaten, wie Preussen und Sachsen.
Der Antrag hat auch bereits einmal, allerdings nicht
in der gegenwärtigen durchgebildeten Gestalt, dem nord-
deutschen Reichstag Vorgelegen und wurde am 5. Juni 1868
verhandelt. Seine Ablehnung erfolgte damals nur aus dem
Grunde, weil trotz allseitiger Anerkennung der Berechti-
gung des Antrages eine Verfassungsänderung zu jener Zeit
als inopportun bezeichnet wurde.
Prinzipiell genommen scheint uns das Recht zur Vor-
nahme parlamentarischer Enqueten zum Begriff gesetzgebe-
rischer Entscheidungen ebenso zu gehören, wie die prozessuale
Beweiserhebung zum Begriff richterlicher LIrtheile. In der
Diskussion des Reichstags ist hervorgehoben worden, dass
ihm auch ohne Verfassungsänderung faktisch bereits heute
das Recht zustehe, Sachverständige zu laden. Wie dem
nun sei, sicher ist, dass dieses Recht ein wirksames nur
sein wird, wenn es genau umschrieben und mit all den
wichtigen Kautelen umgeben ist, die seine nützliche Hand-
habung sichern. Es ist bekannt, dass ganz besonders
in England die Praxis parlamentarischer Untersuchungen
sich eingebürgert hat, und dass an den fruchtbaren Wir-
kungen, welche für die Gesetzgebung und das gesammte
öffentliche Leben sich ergaben, neben dem Charakter des
englischen Staatswesens gerade die Grundsätze, aut denen
dort jenes Verfahren beruht, den grössten Antheil haben.
Die englischen Eintersuchungen dieser Art, die zum
Theil von parlamentarischen Untersuchungskommissionen,
zum Theil von königlichen auf Vorschlag der Minister ein-
gesetzten Kommissionen ausgehen, kennzeichnen sich im
Allgemeinen durch den Geist einer grossen, von engherzigen
46
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 4.
Parteiansichten freien Objektivität, mit welcher sie ihre Aut-
aabe durchzuführen suchen. Ein werthvolles Korrektiv
o-egen die Möglichkeit einer unvollständigen oder befange-
nen Art der Untersuchung besteht in der Oeffentlichkeit
und Mündlichkeit des Verfahrens. Die Kommissionen sind
in der Regel so zusammengesetzt, dass die verschiedenen
Parteien vertreten sind. Dadurch ist von vornherein dafür
Gewähr geleistet, dass eine genügende Zahl sachkundiger
Zeuo-en vor die Kommission geladen und das V erhör in
gründlicher und gewissenhafter Weise vorgenommen wird.
Die schrankenlose Oeffentlichkeit und das dadurch an den
Verhandlungen wachgerufene Interesse aller Betheiligten in
Verbindung mit dem Grundsatz, dass jeder freiwillig sich
meldende Zeuge regelmässig auch verhört wird, bewirkt
ferner, dass unbequeme Ansichten nicht unterdrückt
werden können. Endlich garantirt die den Untersuchungs-
kommissionen zustehende Gewalt, Jedermann zur eidlichen
Aussage und zur Vorlegung dokumentarischer Beweismittel
zu zwingen, eine rücksichtslose Klarstellung der \ er-
hältnisse.
Der dem Reichstage vorliegende Gesetzentwurf dei
sozialdemokratischen Fraktion ist mit Recht der englischen
Einrichtung nachgebildet worden und enthält in der Haupt-
sache die nothwendigen Bestimmungen zu einer gedeihlichen
Funktion parlamentarischer Untersuchungskommissionen.
Empfehlen würde es sich, bei der bevorstehenden zweiten
Berathuno- die Bestimmung in den Entwurf aufzunehmen,
Zeugen vor ungünstigen Folgen ihrer Aussagen gesetzlich
zu schützen. Der Mangel einer solchen Sicherstellung hat
sich in Holland1) gelegentlich der dortigenEnquete bemerkbar
gemacht, und er würde in Deutschland sicherlich auch in
derselben Weise zur Geltung kommen.
Im Interesse eines fruchtbaren Ergebnisses der ge-
setzgeberischen Thätigkeit überhaupt und einer glücklichen
Weiterentwickelung der sozialen Gesetzgebung insbesondei e
muss der dringende Wunsch ausgesprochen werden, dass
dem Reichstag das Recht zur Einsetzung parlamentarischer
Untersuchungskommissionen, welches ersieh mit der Annahme
des besprochenen Gesetzentwurfes vindiziren dürfte, nicht
verschränkt werde und ihm die Möglichkeit unbenommen
bleibe, sich aller jener informatorischen Hilfsmittel zu be-
dienen, die er für seine Wirksamkeit nöthig erachtet.
Insbesondere müsste es bedauert werden, wenn die
Regierung die Ansicht vertreten sollte, die von ihr geplante
Kommission für Arbeitsstatistik mache parlamentarische
Enqueten entbehrlich. Von jener Kommission lasst sich
nach den bisherigen Mittheilungen der Regierung eine ganz
deutliche Vorstellung noch nicht gewinnen. Aber selbst
für den Fall, dass ihre Organisation und Zusammensetzung
durchaus befriedigend, ihre Machtvollkommenheit gross
o-enug und die Ergebnisse ihrer Arbeiten so vortrefflich
ausfallen sollten, wie die Untersuchungsresultate guter
englischer Ausschüsse in ihrer Art waren, so erschiene jene
Kommission für Arbeitsstatistik doch nur als eine willkom-
mene Ergänzung der vom Reichstage geforderten parla-
mentarischen Kommissionen.
Wir haben die Vorzüge der englischen königlichen
und parlamentarischen Untersuchungskommissionen so leb-
haft hervorgehoben, dass wir gerechterweise auch auf die
Schatten neben dem vielen Licht hinweisen müssen. Jene
Kommissionen waren im Ganzen genommen der stärkste
Hebel zur Fortbildung der Gesetzgebung, speziell auch der
Arbeiterschutzgesetzgebung. Aber man kann nicht leugnen,
>) V er o-l O. Pringsheim, Das Gesetz ^etr. Veranstaltung
einer Enqulte über di! Arbei.erve.Ml.msse Ho la„d| Archiv
für soziale Gesetzgebung und Statistik, IN f1891), N.
dass sie zu Zeiten mehr einem Hemmschuh, als einem
bewegenden Hebel zu vergleichen waren. Es gab im poli-
tischen Leben Englands Momente, wo dringende Forderungen
nach einem reformirenden Gesetze mit der Einsetzung einer
in diesem Falle besonders gründlich und langwierig arbei-
tenden Untersuchungskommission beantwortet wurden. W ir
wollen hoffen, dass das von der Regierung geplante arbeits-
statistische Amt nicht gerade in diesem Zug solchen in Eng-
land glücklicherweise vereinzelt dastehenden Kommissionen
gleichen werde. Der Zeitpunkt freilich, in dem der Plan der
Regierung auf der Bildfläche erscheint, ruft jene unwillkom-
mene Ideenassoziation hervor. Der seit langem geäusserte
Wunsch nach einem Gesetz über parlamentarische Enqueten
beschäftigt den Reichstag und die öffentliche Meinung leb-
hafter als bisher — , da erscheint plötzlich die Mittheilung
über jene Kommission, während gleichzeitig die Regierung
selbst gegenüber jenem aus dem Schoosse des Reichstags
hervorgegangenen Gesetzentwurf ein beredtes Schweigen
beobachtet, ihre publizistischen Organe aber gegen den-
selben ins Treffen schickt. Und noch ein anderes zeitliches
Moment schmälert die Freude über jene Kommission für
Arbeitsstatisitik. Es trennen uns nur noch wenige Wochen
von dem Termin, an welchem die Novelle zur Gewerbe-
ordnung in Kraft treten soll. So wenig sie hinsichtlich der
Fortbildung des Arbeiterschutzes berechtigten Ansprüchen
genügt, immerhin könnte das Gesetz in manchen Be-
ziehungen erspriesslicher wirken, wenn der Bundes-
rath und die Landescentralbehörden von den ihnen vorbehal-
tenen Ausführungsbestimmungen im Interesse der Arbeiter
resoluten Gebrauch machten. Statt der lange erwarteten Ver-
ordnungen erhalten wir indessen seitens der Regierung die
Mittheilung, dass es gerade die Aufgabe jener Kommission1
für Arbeitsstatistik sein wird, die statistischen Unterlagen
für die Ausführungsverordnungen zur Gewerbeordnungs-,
novelle zu beschaffen1). Man muss billig staunen, dass die'
Regierung jetzt erst jene Kommission in’s Leben ruft, nach-
dem fast &acht Monate verflossen sind, seitdem die Novelle
zur Gewerbeordnung publizirt und die Regierungen resp.
der Bundesrath vor der Aufgabe stehen, jene Verord-
nungen festzustellen. Es zeugt nicht für eine hohe
Schätzung der Wirksamkeit des neuen Arbeiterschutz-'
gesetzes, wenn die Regierung jetzt noch nicht einmal an
die Beschaffung der ihr nöthig erscheinenden statistischen
Unterlagen geht, sondern vorerst gar sich damit begnügt,
den Zusammentritt einer Kommission in Aussicht zu stellen,
von deren Arbeit sie jene Unterlagen für ihre Verordnungen
erwartet.
Die angedeuteten Umstände, unter denen die Ankün-
digung der Kommission für Arbeitsstatistik erfolgt, ver-
ringern, wie gesagt, die erfreulichen Hoffnungen, welche
man sonst damit verbinden könnte, dass die Regierung sich
anschickt, für sozialstatistische Untersuchungen eine stän-
dige Institution zu schaffen. Wir können nur wünschen,
dass die sich aufdrängenden Befürchtungen bald zerstreut
werden und sowohl die Organisation der zu schaffenden Ein
richtung, wie die zu gewärtigenden Arbeiten derselben
berechtigten Forderungen entsprechen und neben den
hoffentlich ungestört in’s Leben tretenden parlamentarischen
Enqueten zu einer gründlichen sozialstatistischen Erkennt-
niss die Mittel darbieten mögen.
Berlin. Heinrich Braun.
i) Vero-l. die Rede des Unterstaatssekretärs Dr. v. Rotten
bürg in der&Sitzung des Reichstags vom 20. Januar 1892. Steno
graphischer Bericht über die Verhandlungen des Reichstags;
Protokoll der 152. Sitzung, Seite 3748.
No. 4.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
47
Soziale Wirtschaftspolitik.
Reform der Gewerbeordnung in der Schweiz.
Die Notlvwendigkeit, das Gewerbewesen auf eid-
o-enössischem Boden gesetzlich zu ordnen, wird in der
Schweiz je länger je dringender. Die bestehenden
kantonalen Gesetze sind vielfach veraltet, stehen theil-
weise noch auf dem Boden der alten Zunftverfas-
sung und können, weil sie mit der durchdie Bundes-
verfassung garantirten Gewerbefreiheit in Widerspruch
treten, nicht mehr vollzogen werden. Aus den Kreisen der
Gewerbetreibenden wird namentlich eine einheitliche
Regelung des Lehrlingswesens und die Organisation der
gewerblichen Berufsgenossenschaften gefordert. Ob es
zweckmässig sei, bei den letzteren das Obligatorium einzu-
führen, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.
Es war anfänglich die Absicht, anlässlich der durch die
Einführung der staatlichen Unfall- und Krankenversicherung
nothwendig gewordenen Revision der Bundesverfassung dem
Bund gleichzeitig auch die Befugniss zum Erlass einer
schweizerischen Gewerbeordnung zu ertheilen; allein die
eidgenössischen Räthe lehnten diese Forderung ab, weil
man vorläufig mit der Versicherung dem Bund Arbeit genug
auflade. Vielleicht wäre es aber doch besser gewesen, man
hätte zuerst das Gewerbewesen geordnet, weil dadurch
ie Einführung der staatlichen Versicherung ohne Zweifel
rleichtert worden wäre.
Mittlerweile suchen einzelne Kantone selbständig die
wichtigsten Postulate einer Gewerbeordnung auszuführen.
Der Kanton Neuenburg ist mit einem Gesetz über den
Schutz der Lehrlinge vorangegangen. Durch dieses Gesetz
werden die Lehrlinge in jeder Ortschaft der Obhut der
Gemeindebehörde unterstellt, welche hierfür eine Spezial-
kommission, bestehend aus hierzu geeigneten Gewerbe-
inhabern und Arbeitern ernennen kann.
In Ortschaften, wo gewerbliche Schiedsgerichte (conseils
de Prud’hommes) eingeführt sind, haben diese unter Ober-
aufsicht der Gemeindebehörde die Ueberwachung der
Lehrlinge auszuüben. In Ortschaften, wo die Gewerbe-
inhaber und Arbeiter des nämlichen Berufes Berufs-
genossenschaften (syndicats professionnels) errichtet haben,
können diese auf ihr Verlangen die Ueberwachung derjenigen
Lehrlinge übernehmen, welche den betreffenden Beruf
erwählen. Die Abgeordneten der Gemeindebehörde und
der mit der Ueberwachung der Lehrlinge betrauten
Kommission sind jederzeit berechtigt, die Lehrlinge in den
Werkstätten zu besuchen und den Fortgang der Lehre zu
kontrolliren. Zeigen sich Missbräuche, Vernachlässigung
oder schlechte Behandlung, so haben sie zum Schutze der
Lehrlinge einzuschreiten. Es ist dem Gewerbeinhaber
untersagt, einen Lehrling ohne geschriebenen Lehrvertrag,
welcher die dauernde Arbeitszeit, die Zahlungs- oder
eventuell Wohnungs- und Kostbedingungen, die gegenseitigen
Verpflichtungen der Parteien festsetzt, anzunehmen. Ferner
darf er den Lehrling nicht zu anderen als beruflichen
Arbeiten verwenden, ortsübliche Dienstleistungen, aus-
genommen. Dem Lehrling muss für seinen Religions- und
gesetzlichen Schulunterricht die erforderliche Zeit ein-
geräumt werden. Der Normalarbeirstag darf für 13 — 15
jährige Lehrlinge 10 Stunden und für mehr als 15 jährige
Lehrlinge 11 Stunden nicht übersteigen, inbegriffen die
Stunden für Religions- und Schulunterricht. In der Regel
darf den Lehrlingen keinerlei Nachtarbeit auf erlegt und es
dürfen dieselben ebenso an Sonn- und Feiertagen zu keiner
Berufsarbeit angehalten werden. Bei Gewerben, welche
Nachtarbeit erfordern, sind Ausnahmen gestattet, jedoch
muss hierfür jedesmal eine ausdrückliche Bewilligung ein-
geholt werden. Der Staatsrath setzt eine dem Industrie-
und Landwirthschaftsdepartement beigeordnete Kommission
ein, in welcher die verschiedenen amtlich anerkannten
Berufsgenossenschaften möglichst vertreten sind, mit der
Aufgabe, die thunlichen Verbesserungen in der Schutz-
aufsicht der Lehrlinge und die Mittel zur Hebung der Berufs-
lehre und der Fachbildung der Arbeiter zu begutachten.
Die Lehrlinge sollen nach Ablauf der Lehrzeit geprüft
werden in den für den Lehrling nothwendig erachteten
grundlegenden Fachkenntnissen, hauptsächlich aber in der
Ausführung von Probestücken. Lehrlingen, welche die
Prüfung bestehen, wird ein vom Industrie- und Landwirth-
schaftsdepartement geliefertes Diplom zuerkannt. Ueber-
dies werden solchen, welche die befriedigendsten Noten
erzielt haben, Prämien oder Belohnungen verabfolgt,
bestehend aus einem Sparbuche oder aus den für den Beruf
zweckmässigen Büchern oder Utensilien. Stipendien können
ferner solchen Lehrlingen gewährt werden, welche an der
Prüfung ausnahmsweise Fähigkeiten kundgeben und sich
in ihrer Kunstfertigkeit noch zu vervollkommnen wünschen.
Die Lehrlinge werden durch einen Ausschuss von drei
Mitgliedern geprüft, von welchen mindestens zwei, ein
Gewerbeinhaber und ein Arbeiter, dem Berufe der Lehrlinge
zu entnehmen sind.
Aarau. F. Na et.
Auswanderungsgesetz für Deutschland. Der Entwurf
eines solchen, dessen Erscheinen in Aussicht gestellt wird, soll
sich hauptsächlich auf die Regelung des Agentenwesens be-
ziehen, um der erwerb.smässigen Verleitung zur Auswanderung
wirksamer als bisher entgegenzutreten. Die konzessionirteb
Agenten haben fortan gewisse Bürgschaften zu stellen und ihre
Geschäftsführung der behördlichen Aufsicht zu unterwerfen.
In wie weit unmittelbare Beschränkungen der Auswanderung
eingeführt werden sollen, scheint noch nicht festzustehen. Vor-
aussichtlich wird man sich an das Vorbild der Schweiz an-
lehnen, wo den Agenten die Beförderung von solchen Personen
untersagt ist, welche wegen Alter, Krankheit oder Gebrechlich-
keit arbeitsunfähig sind, falls nicht ihre ausreichende Versor-
gung am Bestimmungsort nachgewiesen wird, ferner von
minderjährigen Personen ohne Erlaubniss ihrer Vormünder, von
Personen, die nach Bestreitung der Reisekosten ohne Hiilfs-
mittel anlangen würden, von militärpflichtigen Personen, endlich
von Eltern, wenn sie unerzogene Kinder zurücklassen. Ausser-
dem dürfte eine seit Jahresfrist eingehaltene Bestimmung, nach
welcher die deutschen Dampfschifffahrts-Gesellschaften deutsche
Auswanderer auf Kosten fremder Staaten oder Unternehmer
nicht befördern sollen, auf die Agenten ausgedehnt werden.
Endlich ist die Schaffung einer eigenen Abtheilung des
Reichsamts für das Auswanderungswesen in Aussicht ge-
nommen.
Arbeiterzustände.
Ueber die Abnahme der Arbeitskraft.
In No. 2 des Sozialpolitischen Centralblattes veröffent-
lichte Herr Prof. Herkner unter obiger Ueberschrift einen
kurzen Artikel, dessen Inhalt der Richtigstellung bedarf,
weil er geeignet ist, beim Leser Schlüsse hervorzurufen,
für welche die angeführten Thatsachen nicht im mindesten
einen Anhalt geben. Sein Gewährsmann, der badische
Fabrikinspektor Wörishoffer untersucht in seinem Werke
„Ueber die soziale Lage der Fabrikarbeiter in Mannheim“,
die Altergliederung der 8375 männlichen Fabrikarbeiter
Mannheims und die auffallend grosse Besetzung der Alters-
klassen 20 — 40 veranlasst ihn genauer nachzuforschen, auf
welchen Ursachen sie wohl beruhen möge, warum also die
Stufen 40/50, 50/60, über 60 so ausserordentlich viel weniger
Arbeiter für die Fabrikindustrie stellen als die früheren.
Der natürliche Abgang durch Sterblichkeit kann keine Er-
klärung bieten, deshalb führt er mit Recht die Verschieden-
heit darauf zurück, dass ein Beharrungszustand in der Be-
schäftigung nicht eingetreten ist. Denn die Zahl der
Fabrikarbeiter Mannheims ist erst in den letzten Jahren er-
heblich gewachsen und zwar gewiss verhältnissmässig weit
stärker als die Bevölkerung zugenommen hat. Dass dabei
ausschliesslich junge Leute hinzugetreten sind, ist deshalb
zweifellos, weil die Zuwanderung in die Städte fast nur im
Alter von 20 — 35 erfolgt, sich mithin auf dem Arbeitsmarkt
wesentlich diese Altersklassen vorfanden. Daher ist auch
die Altersgliederung in zwei älteren Etablissements wesent-
lich von der für die ganze männliche Fabrikarbeiterbe-
völkerung verschieden.
Wörishoffer stellt nun nachstehende Tabelle auf, in
welcher die Angehörigen der Altersklassen 20/40 denen der
späteren Altersklassen gegenübergestellt sind, indem be-
rechnet ist, wieviel von letzteren auf 100 Angehörige der
ersteren entfallen:
48
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 4.
Grossh.
Baden
männl.
Fabrikarbeiter
Mannheims
ältere chem.
Fabrik
ältere
Gummi-
Fabrik
20/40
40/50
50/60
über 60
100
42,1
29,6
30,8
100
19,7
8,9
2.4
100
28,5
16,3
7,2
100
26,5
10,0
7,8
Dass sich aus den in der dritten Spalte enthaltenen
Zahlen über die männlichen Fabrikarbeiter Mannheims
iro-end welche Schlüsse ziehen lassen, behauptet Wörishoffer
nicht, sondern sagt, dass auch bei den beiden älteren
Fabriken die Abnahme in den höheren Altersklassen weit
grösser ist, als in der Gesammtbevölkerung. „Zum Theil
lässt sich dies aus den Vergrösserungen erklären, welche
auch diese älteren Anlagen erfahren haben, sodass hei den
Jahrgängen von 40/50 hierin vielleicht eine genügende Er-
klärung der Differenz gefunden werden könnte. Für die
Jahrgänge von 50/60 Jahren ist der Unterschied aber schon
zu gross um eine solche Erklärung zuzulassen, und ganz
ausgesprochen ist dies bezüglich der über 60 Jahre alten
Leute der Fall. Es geht hieraus hervor, dass die ganz
überwiegende Mehrzahl der Arbeiter mit dem 60. Lebens-
jahre schon aus der Beschäftigung gedrängt ist, und dass
dieser Austritt aus der Fabrik schon im 50. Jahre anfängt,
eine gewisse Bedeutung zu gewinnen.“
Mit Recht sagt Wörishoffer nichts davon, dass diese
Thatsachen einen Schluss auf die Abnahme der Arbeits-
kraft an die Hand geben. Berücksichtigt man, dass z. B.
die 55 Jahre alten Arbeiter vermuthlich schon vor etwa
30 Jahren in die Industrie eintraten, und bedenkt man,
welch’ geringe Ausdehnung damals (also im Jahre 1860) die
Mannheimer Industrie gehabt hat , so wird man sagen
müssen, dass schon bei ihm ein gewisser statistischer Irr-
thum im Hintergründe steht, der aber in seinem Buche
nicht genügend zum Ausdruck kommt.
Hätte er die Abnahme der Arbeitskraft im Auge ge-
habt, so würde er gewiss nicht die Altersgliederung der
männlichen Bevölkerung Badens zum Vergleich herange-
zogen haben, denn es könnte doch von dieser nur die
arbeitende in Betracht kommen. Wörishoffer verweist nur
darauf, dass die Ursachen des Austritts aus der Fabrikarbeit
sehr verschieden sind, wobei die Veränderungen in der
Technik, die allgemeine Vorliebe für jüngere Arbeitskräfte,
die weit über das Mass der Kraftunterschiede hinausgeht,
eine Rolle spielen.
Dieselben Einwände treffen auch auf die von Herrn
Prof. Herkner aus der „Nordböhmischen Arbeiterstatistik“
angeführten Zahlen zu.
Natürlich soll nun die derzeitige Abnutzung der
Arbeitskraft durch die Industriearbeit nicht in Abrede ge-
stellt werden, aber die Behauptung ist zurückzuweisen, dass
jene Ziffern „die rasche Abnutzung der Kraft unserer
Arbeiter in ein helles Licht rücken.“ Insbesondere aber ist
es kaum wünschenswerth, dass die von Herrn Prof. Herkner
beigefügten Eingangs- und Schlussworte durch jene Zittern
scheinbar mit einem wissenschaftlichen Ernst umkleidet
werden.
Frankfurt a/M. N. Brückner.
Erwiderung.
Es ist zweifellos, dass für die ungemein schwache
Besetzung der höheren Altersklassen, welche der Alters-
aufbau der Mannheimer Fabrikarbeiter aufweist, die erst
in die letzten Jahrzehnte fallende Blüthe der Mannheimer
Industrie bis zu einem gewissen Grade in Befracht kommt.
Die junge Industrie nahm in erster Linie jugendliche Ar-
beitskräfte auf. Würde Herr Dr. Brückner sich auf die
Betonung dieses Umstandes in seiner „Richtigstellung“ be-
schränken, so läge kein Anlass vor, auf dieselbe weiter ein-
zugehen.
Allein er behauptet, „dass die angeführten Thatsachen ‘
nicht im mindesten einen Anhalt für die Abnahme der
Arbeitskraft ergeben, und das muss ich entschieden be-
streiten.
Dieser noch nicht erreichte Beharrungszustand genügt
eben, wie der Altersaufbau in den älteren Anlagen zeigt,
zur Erklärung der grossen Unterschiede keineswegs.
Und auch Herr Dr. Brückner scheint demgegenüber nicht
bestreiten zu wollen, dass die Arbeiter verhältnissmässig
früh aus der Fabrik ausscheiden. Allein die frühe Ent-
lassung darf nach seinem Ermessen durchaus nicht durch
die Abnahme der Arbeitskraft erklärt werden. Er meint
sogar, dass auch der badische Aufsichtsbeamte hierin nicht
die eigentliche Ursache der Entlassung erblicke. Ich kann
insofern Herrn Dr. Brückner nur empfehlen, S. 94 des Be-
richtes zu lesen. Ich meine, kein unbefangener Leser wird
auf Grund der dort gemachten Ausführungen zu einem
anderen Schlüsse kommen als den, dass auch der badische
Aufsichtsbeamte die zurückgehende Leistungsfähigkeit als
massgebenden Entlassungsgrund ansieht. Herr Dr. Brückner ■
meint, in diesem Falle würde der Altersaufbau der Mann-
heimer in Arbeit befindlichen Arbeiter mit demjenigen der
badischen Arbeiter überhaupt verglichen worden sein. Das
konnte einfach deshalb nicht geschehen, weil letzterer eben
nicht vorliegt.
Wenn nicht die abnehmende Leistungsfähigkeit die
Ursache bildete, warum wären denn die Veränderungen in
der Technik und die Verschiebungen in der Produktion
„grade für die älteren Arbeiter sehr kritisch“? Dass hier-
für nur eine platonische „allgemeine Vorliebe für jüngere
Arbeitskräfte massgebend sei, die weit über das Maass der
Kraftunterschiede hinausgeht“, wie Herr Dr. Brückner will,
klingt doch gar zu unwahrscheinlich. In seinen Aus-
führungen gewinnt es übrigens den Anschein, als ob diese
Worte in dem in Rede stehenden Berichte enthalten wären. (
Ich habe sie nicht finden können, wohl aber wird in dem- ,
selben Zusammenhänge ausdrücklich hervorgehoben, dass
„die Arbeiter im allgemeinen rasch alt werden.“
Dass der badische Aufsichtsbeamte selbst nicht un-
mittelbar den Altersaufbau mit der Abnahme der Arbeits-
kraft in Beziehung gesetzt hat, ist richtig, von mir aber
auch nirgends behauptet worden.
Herr Dr. Brückner fährt nun fort: „Dieselben Ein-'
wände treffen auch auf die von H. aus der „Nordböhmischen
Arbeiterstatistik“ angeführten Zahlen zu“.
Mit dieser Behauptung beweist Herr Dr. Brückner
nur, dass er von den Verhältnissen des Reichenberger
Kammerbezirkes, auf welche sich die Daten beziehen, auch
nicht die geringste Ahnung besitzt. In diesem ausgedehnten
Gebiete ist nämlich in der That eine Art Beharrungszustand
vorhanden. Seine Bevölkerungszunahme bleibt hinter der-
jenigen Oesterreichs zurück. Von Seiten der jüngeren Ar-
beiter findet sogar eine nicht unerhebliche Auswanderung
statt. Der einzige Gesichtspunkt, der gegen die mit-
getheilten Daten ins Feld geführt werden könnte wenn
man eben jener Erwägung aller Umstände sich be-
fleissigt, die ich leider im Interesse der Kürze in meinem
Artikel vermieden habe — wäre der, dass, wenn
auch nicht in Bezug auf die Altersklassen, so doch
in Bezug auf die Ausdehnung der fabrikmässigen
Betriebe in den letzten Jahrzehnten eine ^ Verschie-
bung stattgefunden hat. Letztere haben auf Kosten der
kleineren Betriebe zugenommen und vorzugsweise den
Nachwuchs angezogen. Allein diese Verhältnisse können
nicht entfernt die grellen Unterschiede im Altersaufbau
erklären, da in Folge der ungemein niedrigen Löhne jener
Gebiete die mechanische Fabrikarbeit nur in äusserst lang-
samem Tempo vorschreitet.
Aus diesen Gründen kann ich trotz der „Richtig-
stellung“ Herrn Dr. Brückner’s durchaus nicht einsehen,
warum" die mitgetheilten Ziffern — die überdies angeführten
Akkordlohnsätze der verschiedenen Altersklassen scheinen
No. 4.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
49
seinem Eifer ganz entgangen zu sein — nicht aui die
rasche Abnutzung der Arbeitskraft ein helles Licht werfen
sollen.
Freiburg i. B. H. Herkner.
Löhne im Wiener Schmiedegewerbe. Auf dem ersten
österreichisch-ungarischen Schmiedetag, welcher Weihnachten
1891 in Wien stattgefunden hat, wurde, wie der „Oesterreichische
Metallarbeiter“, Jahrg. 1892, No. I S. 2 mittheilt, festgestellt, dass
in Wien die Löhne ohne Kost bei einer 10 12 ständigen Arbeits-
zeit im Durchschnitt fl. 10,20 für die Woche betragen; in den
Geschäften, welche die Gesellen noch beköstigen, belief sich
der Durchschnittswochenlohn bei 1 1 ständigem Arbeitstage auf
4,62 fl. Kläglich ist die Lage der Schmiedehelfer in den
Fabriken: der Feuerbursch verdient viermal so viel als der Helfer.
Die nachstehende Uebersicht bekundet, dass" in den Handwerks-
mässigen Unternehmungen die Lohnverhältnisse günstiger sind,
als in den Grossbetrieben.
Zahl
der
Gehilfen
Löhne ohne F
Wochen- 1 Täglicher
löhne Lohn
fl. fl.
iost
Stunden-
lohn
fl.
Zahl
der
j Gehilfen
Lö
Wochen-
löhne
fl.
ine mit ]
Täglicher
Lohn
fl.
Co s t
Stunden-
lohn
fl.
i
18 —
3,-
,29
i
16,—
2,66
—.26
13
16 —
2,66
— ,25
i
13,-
2.17
- ,20,5
19
15, —
2,50
.24
i
12, -
2-
-19
26
14,—
2,33
,22
i
1 1,—
1,83
— ,17,3
19
13.
2,17
.20,5
6
10,-
1,67
-,16,7
50
iS—
2, —
— ,19
4
9,
1.50
-14
62
II.
1,83
.17,3
13
8-
1.38
— ,13
82
10,—
1,67
,16,7
21
7r
1,16
.11,5
93
9,—
1.50
— 14
20
6-
1 —
— ,9,5
63
8,—
1,33
-,13,2
54
5-
— ,83
-8
30
7,- -
1,16
,11,5
49
4,-
— ,66
— ,6)7
12
6, —
L—
-.9.5
12
3.50
— ,58
— ,5,4
10
480
5-
6897,—
1
CO
oo
— ,8.3
75
21
279
3, —
9
1291,—
—.50
— 33
— ,4,8
>3,2
Zustände im polygraphischen Gewerbe in Frankfurt a. M.
In Frankfurt wurden etwa 400 — 500 Steindrucker und Litho-
graphen beschäftigt. An einer von der dortigen Mitgliedschaft
des Senefelder-Bundes aufgenommene Erhebung betheiligten
sich 237 Berufsgenossen. Nach dieser Aufnahme betrug der
Durchschnittslohn 24 Mk. pro Woche. Doch wird in der
„Graphischen Revue“ darauf hingewiesen, dass die Lohnverhält-
nisse durchgängig ungünstigere sind; die Mehrzahl beziehe einen
Wochenverdienst von 24 — 12 Mk. Lehrlingszüchterei scheint in
bedenklichem Umfange stattzufinden: in 18 Geschäften befanden
sich 81 Druckerlehrlinge, davon stehen 70 an der Handpresse,
1 1 an der Maschine. Geklagt wird über die Schwäche^ der ge-
werkschaftlichen Bewegung. In Frankfurt, wo die Kranken-
kasse und der Bund ihren Wohnsitz haben, gehören nur 130
dem Verein an, und von diesen seien, wie es scheint, % passive
Mitglieder.
Ueber Hamburger Arbeiterkinder berichtet ein päda-
gogisches Fachblatt, dass von den 64 822 Volksschülern
(35 512 Knaben, 32 310 Mädchen) 6202 zu Erwerbszwecken
verwendet werden, und zwar zum Austragen von Zeitungen
930 Knaben und 307 Mädchen, zum Kegelaufsetzen 304
Knaben, zu sonstigen Beschäftigungen bei fremden Leuten
2312 Knaben und 1208 Mädchen, zu Beschäftigungen im
elterlichen Hause 647 Knaben und 500 Mädchen. Die
ausserhalb thätigen Kinder verbringen 5 bis 6 Stunden in
der Schule, 1 bis 2 Stunden brauchen sie zur Anfertigung
der Schularbeiten; dazu kommen 3 bis 4 Stunden Erwerbs-
thätigkeit, sodass diese Zehn- bis Vierzehnjährigen einen
Arbeitstag von 9 bis 11 Stunden haben. Die 1147 bei den
Eltern beschäftigten Kinder sind zum Theil ebenso sehr
belastet. Im Ganzen werden 9,5 Prozent sämmtlicher Volks-
schüler auf diese Art angewendet, von den Knaben 13 Pro-
zent, von den Mädchen 6,14 Prozent.
Arbeiterverhältnisse in den preussisclien Staats-
gruben. Den preussisclien Abgeordneten ging die Ueber-
sicht über den Betrieb der fiskalischen Bergwerke, Hütten
und Salinen im Etatsjahre 1890/91 seitens des Handels-
ministers zu. Danach wurden vom preussisclien Staat in
69 Betrieben während des Berichtsjahres durchschnittlich
56 475 Arbeiter (311 mehr als im Vorjahre) beschäftigt, und
zwar der Hauptheil, 50 856 Personen, beim eigentlichen
Bergbau. Ueber den Antheil der jugendlichen und weib-
lichen Arbeiter an dieser Gesammtsumme fehlt jede Angabe,
ebenso über die Arbeitszeit, die Nachtarbeit, die Beschäf-
tigung an Sonntagen, das Alter u. s. w., Mängel, die im
Abgeordnetenhause ernstlich gerügt werden müssten. Auch
dasjenige, was sonst berichtet wird, ist in viel zu allge-
meinen Redewendungen gehalten; man trifft hier auf die
Schreibweise der „Amtlichen Mittheilungen“ aus den Be-
richten der Fahrikinspektoren. So heisst es: „der Gesund-
heitszustand der Arbeiter war im Allgemeinen ein befrie-
digender“. „Die wirthschaftlichen Verhältnisse der Arbeiter
waren im Allgemeinen günstig“. Von 93 im Betriebe tödtlich
Verunglückten kamen ~ 88 allein auf den Kohlenbergbau;
jede sonstige Unfallstatistik fehlt und die Mittheilung der
"im Berichtsjahre für die Unfallversicherung gezahlten
Summe (81 1456 M.) leistet keinen Ersatz für das Fehlende.
Deshalb will die Angabe, dass das Promilleverhältniss der
tödtlich Verunglückten von 1687 im Vorjahre auf 1614 im
Berichtsjahre sank, für sich allein wenig besagen. Ueber
die bei den Staatsbergwerken bestehenden Konsumvereine,
welche zum Theil die beschränkte Haftpflicht einführten
und prosperirt haben sollen, ist überhaupt nichts Näheres
mitgetheilt. Im Oberharz besteht eine patriarchalische Ein-
richtung insofern weiter, als aus staatlichen Vorräthen
Brotkorn zu ermässigtem Preise an die Leute abgegeben
wird. An Bauprämien wurden im Saarbrücker Bezirk im
Berichtsjahr zusammen 130 000 Mark als Zuschüsse zur festen
Ansiedlung an Bergleute gezahlt; eben daselbst verausgabte
man 47 010 Mark für den Unterricht der Bergmannskinder,
für Lesevereine und — „Wochenschriften“. Da jede Sta-
tistik der Arbeitszeit (Ueberschichten !) fehlt, hat die mitge-
theilte Lohnstatistik vorläufig keinen wissenschaftlichen
Werth. Nach ihr erhöhte sich, aber lediglich auf den Saar-
gruben, der reine jahresverdienst von 933 Mark im Jahre
1889/90 auf 11 14 Mark im Jahre 1890/91, und der „reine Lohn
für eine Schicht im Durchschnitte des Kalenderjahres“ von
3,24 Mark auf 3,79 Mark. Die Abzüge, welche auch der
preussische Staat noch seinen Arbeitern für Arbeitsmate-
rialien und Versicherungsbeiträge macht, sanken pro Schicht
von 40 Pf. im Vorjahre auf 31 Pf. im Berichtsjahre, was
bei nur 300 Schichten im Jahr tlir den einzelnen Arbeiter
immer noch jährlich 90 Mark für Abzüge macht. Sozial-
politisch interessant ist noch die Thatsache, dass in den
Bergwerksbezirken, in denen die Arbeiterbewegung von
1889 Wellen schlug, also namentlich bei den Steinkohlen-
gruben trotz einer beinahe 8prozentigen Vermehrung der
Arbeiterzahl die auf den Kopf entfallende Jahresleistung um
5 Prozent zurückging. Im Ganzen müssen diese amtlichen
Nachrichten noch sehr vervollkommnet werden.
Arbeitslosigkeit. In Magdeburg betrug Anfangs dieser
Woche die Zahl der Arbeitslosen, die sich bei der städtischen
Arbeitsdirektion um Beschäftigung gemeldet hatten, über 1700,
so dass der Magistrat einigermassen in Verlegenheit gerathen
ist, wie er jeden der sich Meldenden beschäftigen soll. Arbeits-
scheine werden daher jetzt nicht mehr sofort ausgestellt, sondern
die Namen der sich Meldenden in Listen eingetragen, die dann
nach der Reihenfolge bei Bedarf beschäftigt werden sollen. Eine
Versammlung der Arbeitslosen fand am 16. d. Mts. statt und
endigte mit der Annahme folgender Resolution: „In Erwägung,
dass bei den theuren Lebensbedürfnissen ein Familienvater bei
20 Pfennigen Stundenlohn nicht im Stande ist, seine Familie
vor Hunger zu schützen, verurtheilt die heutige Versammlung
der Arbeitslosen die Massnahmen der Stadtverwaltung, beson-
ders die Vergebung der Arbeiten an Unternehmer und die Ein-
führung der "Akkordarbeit.“
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Der steirische Bergarbeiterstrike.
Die Erfahrung hat gelehrt, dass der im Lohnverhält-
nisse stehende Arbeiter nur schwer zur Ertheilung von
Auskünften über seinen Lohn zu bewegen ist. Dies ändert
sich mit dem Eintritte einer Ausstandsbewegung, die einen
Theil des Druckes vorübergehend beseitigt, welcher in nor-
malen Zeiten auf den Massen lastet.
Die Kenntniss dieses Umstandes veranlasste mich, ins
steirische Strikegebiet zu reisen. Was ich an Ort und Stelle
über Ursachen und Verlauf des Ausstandes, über die For-
derungen der Bergleute und das Verhalten der Behörden
50
SOZIALPOI JTISCHES CENTRALBLATT.
No. 4.
theils von den Arbeitern, theils von unbetheiligter Seite
erfahren habe, soll hier kurz dargelegt werden.
Vorerst sei aber ein persönliches Erlebniss mitgetheilt,
welches die Verhältnisse im Ausstandsgebiet besser charak-
terisirt, als noch so weitwendige Abhandlungen. Als ich in
Voitsberg, einem wenige Meilen von Graz entfernten Städt-
chen, in Begleitung eines Bergmannes anlangte, dessen
Bekanntschaft ich während der Reise gemacht hatte, wurden
wir von einem Gendarmen und einem Beamten der Bezirks-
hauptmannschaft empfangen. Mein Begleiter verfiel der
Verhaftung, ich musste beim Amte erscheinen. Als ich den
Zweck meiner Reise mittheilte, wurde ich aufgefordert, das
Strikegebiet sofort zu verlassen. Ich weigerte mich ganz
entschieden, diesem ungesetzlichen Ansinnen zu entsprechen.
Da ich an der Durchführung meiner Absicht nicht gehindert
werden konnte, wurde mir die strengste Ueberwachung
aller meiner Schritte angekündigt und diese auch in der
auffälligsten Weise durchgeführt.
Der Strike erstreckt sich ausschliesslich auf Braun-
kohlengruben, die sich fast insgesammt im Besitze von
Aktiengesellschaften befinden und eine Belegschaft von
circa 7000 Personen haben. Das Vorgehen der Werke
gegenüber den Arbeitern ist ein einheitliches und scheint
auf einem Uebereinkommen zu basiren. Auf der andern
Seite bekundet auch die Arbeiterschaft ein hohes Maass
von Solidaritätsgefühl und Disziplin. Der vor nicht langer
Zeit ins Leben gerufene Fachverein in Köflach besitzt
800 — 1000 Mitglieder, verfügt jedoch nur über geringe
Mittel. Die Bergleute machten auf mich, soweit ich sie
kennen zu lernen Gelegenheit hatte, den Eindruck der
Intelligenz und eines gewissen Maasses von Selbstbe-
wusstsein.
Die Zeit zum Beginn des Ausstandes war günstig
gewählt. Der Kohlenbedarf ist gegenwärtig ein bedeutender,
während die Vorräthe z. B. bei der Graz-Köflacher Eisen-
bahn- und Bergbau-Gesellschaft sehr geringe sind. Ich konnte
mich persönlich davon überzeugen, dass die Lagerplätze fast
ganz geräumt, die Kohlenwaggons völlig leer waren.
Die äussere Veranlassung zum Ausbruche des Strike
gab die Entlassung von Vertrauensmännern der Gruben-
leute bei den meisten Werken, trotzdem die Wahl derselben
zum Theil über Verlangen der Werkleitungen erfolgt war.
Nach Ansicht der Bergleute war der Zweck der Kündigung
der, den jungen aufstrebenden Köflacher Verein zu derou-
tiren, dessen Funktionäre die Verabschiedeten waren.
Dazu gesellte sich eine Reihe weitere Missstände.
Bisher war im Ausstandsgebiete die Zehnstundenschicht
mit 7s Belegung und gelegentlichen Ueberschichten üblich
gewesen. Vom 1. Januar 1892 sollte die achtstündige Schicht
exklusive Ein- und Ausfahrt, zur Einführung gelangen,
jedoch in einer Weise, dass die alten Uebelstände nach
Behauptung der Bergleute fortbestehen bleiben mussten.
Während nämlich die Arbeiter das ununterbrochene Ver-
fahren beider üblichen Schichten und das Einlegen einer
dritten Schicht im Falle stärkeren Bedarfes fordern, wollen
die Werke zwischen der ersten und zweiten Schicht eine
Pause von 1 '/2 Stunden eintreten lassen. Nicht mit Unrecht
folgern die Arbeiter, dass man die Zwischenzeit zum Aus-
fassen von Oel, Pulver, Hölzern u. s. w. benutzen und so
die zehnstündige Arbeitszeit wieder einführen wolle. Ins-
besondere wird aber den Gesellschaften die Absicht zu-
geschrieben, eine 3/s Belegung und damit eine Entlastung
des Arbeitsmarktes zu verhindern, und auch in Zukunft das
Einlegen von Ueberschichten zu ermöglichen.
Rücksichtlich des Lohnes vermag man sich nur schwer
volle Klarheit zu verschaffen. Es scheint heute in immer
grösserem Maasse der Uebergang vom Schichtlohn zum
Gedingesystem stattzufinden. Bisher wurde ein „Grundlohn“
(Minimallohn) von 1 Fl. 20 Kr. an Hauer, von 90 — 100 Kr.
an Förderer und Schlepper, und von 50 — 55 Kr. an Frauen
gezahlt, wozu noch ein „Gedinge“ (offenbar eine Prämie
für Mehrleistungen) bei tüchtigeren Arbeitern kam. Davon
werden 4 — 5 Kr. für die Kundenlade, 8 — 10 Kr. für Oel,
ferner Beträge für Pulver, Strafen u. s. w. in Abzug ge-
bracht. Mancherorts wird aber — offenbar weil ein voll-
ständiger Uebergang zum Gedingesystem vor sich geht —1
der Minimallohn nicht mehr gezahlt, es werden für das Ver-
fahren von Schichten, wie die Arbeiter klagen, zuweilen
70 — 80 Kr. ausgezahlt. Dabei ist es bezeichnend, dass die
Vereinbarung des Gedingesatzes nicht vor Ort, sondern in
der Kanzlei stattfindet, weshalb eine Berücksichtigung der
konkreten Verhältnisse unmöglich ist.
Die Forderung der Arbeiter geht nun dahin, dass das
System der Zahlung eines Grundlohnes beibehalten und
derselbe für Hauer mit I Fl. 50 Kr. (2,5 Mark), für Förderer
mit 1 Fl. 20 Kr. (2 Mark) bemessen werde. Das Grubenlicht
soll in Zukunft von den Werken unentgeldlich gestellt und
damit auch der unrechtmässige Gewinn beseitigt werden,
der aus dem abnorm hohen Preise des Oels (bei den Gruben
43 Kr., im Geschäfte 34 Kr. pro kg) für die Werke resul-
tiren musste.
An diese Forderungen schliessen .sich einige andere:
das Verlangen nach freiem Hausbrand, nach Einführung
monatlicher Kündigungsfrist bei den Werkswohnungen,
nach separater Entlohnung von Nebenarbeiten beim Akkord,
Beseitigung des letzteren bei gefährlichen Arbeiten. An
letzter Stelle wird gewünscht, dass über „zweifelhafte Ent-
lassungen“ ein Schiedsgericht entscheide, das aus je drei
Bergleuten und Beamten unter dem Vorsitze eines Unbe-
theiligten bestehen solle.
Allen Forderungen gegenüber verhalten sich die Ge-
sellschaften vollständig ablehnend. Trotzdem glaube ich,
dass wenigstens ein theilweiser Erfolg angesichts des günstig
gewählten Zeitpunktes und der strammen Disziplin die Be-
mühungen der Bergleute gekrönt haben würde, wenn nicht
das Verhalten der Behörden die Chancen bedeutend ver-
schlechtert hätte. Obgleich nicht die geringste Unruhe :
vorgefallen war, wurden fast überall die Versammlungen
der Arbeiter verboten , wodurch der Kontakt mit den !
Führern aufgehoben wurde. Eine Depesche, welche dem
Strikeausschusse das Einlangen von Unterstützungen avi-
sirte, wurde als staatsgefährlich inhibirt, und ein Arbeiter, ,
der aus Graz Unterstützungsgelder überbrachte — es war
eben mein Begleiter — verhaftet und dem Gerichte ein-
geliefert.
Durch die Androhung der Entlassung, durch welche ;
auch alle Ansprüche an die Bruderlade verloren gehen, (
suchten die Werke auf die Arbeiter vergeblich einzuwirken. !
Die Behörde gab sich nun dazu her, die Abrechnung sammt ‘
den Entlassungsscheinen den Knappen zu übergeben, zu
welchem Zwecke jeder einzelne vorgeladen wurde, unter
Androhung der zwangsweisen Vorführung im Falle des
N ichterscheinens.
Zahlreichen an der Influenza Erkrankten soll die Aus-
stellung des Krankenzettels und die Gewährung ärztlicher
Hilfe verweigert worden sein, trotzdem dieselben formell
nicht als entlassen gelten konnten.
Am sonderbarsten zeigt sich die Auffassung der Be-
hörden über ihre Aufgabe bei einem Ausstande in der Art
einer von ihr eingeleiteten Vermittelung. Ich besitze über
eine Besprechung, zu welcher die Vertrauensmänner der
Bergleute, nicht aber die Werksvertreter zugezogen wurden,
die handschriftlichen Aufzeichnungen eines Theilnehmers.
Die Verhandlungen bestanden darin, dass Bezirkshauptmann
und Bergkommissär die Arbeiter zu unbedingter Unter-
werfung aufforderten. Gegenüber der fortgesetzten Wei-
gerung wurde mit Entlassung, Verlust der Unterstützungs-
ansprüche und zuletzt noch mit der Abschiebung in die
Heimathsgemeinde, einer österreichischen Spezialität für
Beendigung von Strikes, gedroht. Nach der Auffassung der
Behörden ist jeder Strikende als Arbeitsscheuer zu behan-
deln. Da auch die letzte Drohung ohne Erfolg blieb, wurde
die „Vermittelung“ aufgegeben.
Als ich im Ausstandsgebiete weilte, war keine Spur
von Aufregung zu entdecken. Die Führer versicherten,
dass sie all’ ihren Einfluss aufwenden würden, um jede
Unordnung zu verhüten. Augenblicklich soll nach Berichten
der Tagesblätter das Bild sich verändert haben, es sollen
No. ♦.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
51
Ruhestörungen von Seiten der Knappen zu befürchten sein i
Beruhen diese Mittheilungen auf Wahrheit, dann kann die
'Wandlung nur durch weitere Ungeschicklichkeiten der
behördlichen Organe, welche den Strike um jeden Preis
unterdrücken zu müssen glauben, herbeigeführt worden sein.
Die steirischen Kohlengräber müssen auf jeden Un-
befangenen den Eindruck geistig aufgeweckter und am h
körperlich gesunder Männer machen. Es wäre eine der
Staatsverwaltung würdigere Aufgabe, die Bemühungen der
Knappen um Verbesserung der Lebenshaltung, ihren Kamp 1
oeo-en die drohende Herabdrückung des körperlichen und
Geistigen Niveaus zu unterstützen, als sich für die Interessen
einiger Aktiengesellschaften einzusetzen. Der jetzige Aus-
stand mag aber wie immer enden, er wird im steirischen
Braunkohlengebiete nicht der letzte gewesen sein. Die
Erfahrungen, die heute von den Knappen gesammelt wur-
den, werden sie nur zu weiteren Bemühungen beim Ausbau
ihrer jungen Organisation anspornen.
yYien Leo Verkauf.
Das Ende des Buchdruckerstrikes.
Ist auch der Ausstand der deutschen Buchdruckei
nach zehnwöchentlicher Dauer von den Strikenden selbst
für beendigt erklärt worden, so ist ein abschliessendes
Urtheil über diese Arbeitseinstellung, welche nach mehr
als einer Richtung von grösster Bedeutung für die ge-
sammte deutsche Arbeiterbewegung ist, heute ebenso wenig
möglich als während des Strikes selbst.
Trotzdem wollen wir, vorbehaltlich späterer weiterer
Ausführungen, einen Rückblick auf diese Bewegung werten.
Vorerst seien die Momente, welche die Niederlage der Ge-
hilfen verursachten, hervorgehoben.
Der Strike brach nicht zu dem Zeitpunkte aus, m dem
die Begeisterung der Gehilfen am grössten war. Man Hess ,
Wochen verstreichen, glaubte die Unternehmer zu täuschen,
vermehrte indessen nur die Zahl der wankelmüthigen Ge-
hilfen. Der Eintritt in den Strike erfolgte ohne jede Ver-
ständigung mit der übrigen Arbeiterschaft, ja gegen deren
Willen; speziell die Führer der sozialdemokratischen Partei
Deutschlands Hessen es an wohlgemeinten Warnungen nicht
fehlen. Die Buchdrucker, pochend aut ihre Kassen, vei -
trauend auf die Unterstützung ihrer ausländischen Kollegen,
glaubten sich in einer Ausnahmestellung zu befinden und
fn einer für eine Arbeitseinstellung grösseren Styls durch-
aus ungeeigneten Zeit einen Strike von ganz ausserordent-
lichen Dimensionen wagen zu dürfen.
Bei der Vorbereitung der Arbeitseinstellung wurde
der Abhaltung des Zuzuges viel zu wenig Aufmerksamkeit
geschenkt. Durch rechtzeitige Entsendung geschickter Ver-
treter nach den grossen Städten Deutsch-Oesterreichs und
der Schweiz wäre die Zahl der einwandernden Gehilten
eine bedeutend geringere gewesen und grosse Kosten wären
dadurch den Strikenden erspart geblieben.
Trotz so mancher Aufwendungen für die Statistik ihres
Gewerbes wurden die Strikenden erst durch den Verlaut
der Arbeitseinstellung über die ungeahnte Grösse der
industriellen Reservearmee ihres Gewerbes aufgeklärt.
Aber nicht nur bei den Vorbereitungen des Strikes
wurden Fehler gemacht, auch die oberste Leitung desselben
war ihrer Aufgabe nicht vollkommen gewachsen. Sie ver-
schaffte den provinzialen und lokalen Dirigenten des Strikes
nicht die nöthige Klarheit über die Situation, und wies sie
fast ausnahmslos auf die Berichte des „Correspondent“ an.
Vor allem herrschte über die Kassenlage Unklarheit, man
rechnete mit imaginären Grössen und beschloss eine Ein-
schränkung des Betrages der Unterstützungen erst in einem
Zeitpunkt, als die Kassen schon vollständig geleert und
auch zu minimalen Unterstützungen unzureichend geworden
waren.
Der verhängnisvollste Fehler aber war, dass nach der
Massregelung des Unterstützungsvereins deutscher Buch-
drucker seitens der preussischen Regierung der Vorsitzende
des Vereins auf eigene Faust und unberechtigter Weise
die bedingungslose Wiederaufnahme der Arbeit empfahl.
Wohl hatten die Strikenden, deren Haltung , von ganz
vereinzelten Ausnahmen abgesehen, eine durchaus muster-
oiltige und energische war, sofort ihren Vorsitzenden
desavouirt, aber der Schaden war geschehen,^ das Ein-
gestäjfidniss der Schwäche war in offizieller form dem
Geo-ner gegenüber gemacht, das Vertrauen m die Leitung
bef' den Strikenden erschüttert und überdies hatte man,
wenn auch in wenigen Orten, auf das Rundschreiben des
Vorsitzenden hin das Ende des Strikes proklamirt.
Zu diesen grossen Fehlern und Nachtheilen der Striken-
den trat noch die ausserordentlich günstige Situation der
Unternehmer hinzu, deren Organisation sich vorzüglich be-
währte. Ihr zur Seite stand die in Deutschland bisher noch
nie in diesem Maasse zu Tage getretene Interessensolidaritat
der besitzenden Klassen. Sämmtliche Aufträge für das
Buchdruckergewerbe wurden, soweit es nur irgend anging,
zurückgestellt; die Behörden wetteiferten in diesem Punkte
mit den anderen grossen Auftraggebern des Buchdrucker-
gewerbes. , ^ , ...
So musste eine Niederlage der Gehilfen emtreten,
trotzdem sich die Strikenden von der ersten bis zur
letzten Stunde aufopferungsfähig gezeigt haben, und
obgleich die internationale Solidarität der Arbeiter sich
diesmal nicht als Phrase, sondern als eine reale Macht
erwies. . . „ ,
War demnach bei den Unparteiischen auch viel Grund
zur Sympathie für die Sache der Strikenden vorhanden
und sind die moralischen Momente m einem Kampfe um
die Veränderung der Arbeitsbedingungen keineswegs be-
langlos, so entscheiden doch in erster Linie die Machtver -
hältnisse. Anders liegt es freilich, wenn es sich um die
prinzipielle sozialpolitische Beurtheilung handelt. So sehr
auch in dieser Beziehung die Machtstellung der streitenden
Theile von Wichtigkeit ist, so ist sie doch nicht von aus-
schlaggebender Bedeutung. Hier kommt m erster Lime die
Frage in Betracht: Waren die Forderungen der Gehilfen
bei 'der allgemeinen Lage des Gewerbes ohne erhebliche
Schädigung desselben durchführbar, hätte der Sieg der
Gehilfen eine sprunghafte Aenderung im Betriebe zur Fo ge
gehabt, hatten endlich die Forderungen der Gehilfen ihre
innere Berechtigung in den Verhältnissen ihres Berufes t
Die Forderungen der Gehilfen waren bekanntlich. Ver-
kürzung der Arbeitszeit von zehn (effektiv 9‘/r) auf neun
Stunden, 10 % Aufschlag auf die Grundpositionen des Tarifs
und Erhöhung des Lokalzuschlages. Letztere Forderung
war, wie Prinzipale und Gehilfen wussten, nur als Handels-
objekt bei den Verhandlungen aufgestellt worden. Was nun
die Erhöhung der Grundpositionen anlangt, so haben die
Unternehmer in den Anfangs Oktober zu Leipzig stattge-
fundenen Tarifverhandlungen eine Lohnerhöhung bis zu
71/ 0/ auf die Grundpositionen und das tarilmässige Lohn-
minimum selbst vorgeschlagen. War die Bewilligung von
71/0/ möglich, so wären 10°/0 kaum der Ruin des Gewerbes
gewesen. Uebrigens haben die Gehilfen selbst bei jedei
Gelegenheit und speziell auch bei Beendigung der Tarif-
kommission die Frage der Lohnerhöhung als sekundäre
betrachtet, ja sie hatten sich vor Beginn des Strikes zu den
weitgehendsten Konzessionen in Bezug aut ihre Lohn-
forderungen bereit gezeigt. Die Forderung aber, welche
den grossen Widerstand der Unternehmer und die Hart-
näckigkeit der Gehilfen erzeugte, war die Abkürzung der
Arbeitszeit. Diese Forderung ist auch die Ursache des
tiefen sozialpolitischen Interesses an dem wStrike, und sie
erhob denselben über einen Kampf zwischen Arbeitern
und Unternehmern eines einzelnen Gewerbes zu einem
Klassenkampf, an dem die Arbeiterklasse und die Unter-
nehmerklasse in ihrer Gesammtheit sich mitinteressirt fühlte.
Hier haben wir aber nicht diese Frage vom Stand-
punkte des Klassenkampfes zu beurth eilen, sondern lediglich
von dem nüchternen Gesichtspunkte, ob die Buchdruckerei-
besitzer ohne erhebliche geschäftliche Schädigung die
Forderung der Gehilfen hätten bewilligen können. Diese
Frage kann man unseres Erachtens bejahen. Nicht nur
52
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 4.
1
die allgemeinen Untersuchungen Atkinson’s, Roe’s, Schuler’s
über Steigerung der Produktivität der Arbeit bei Verkür-
zung der Arbeitszeit, sondern auch spezielle Erfahrungen
im Buchdruckergewerbe, so z. B. in London lehren, dass
bei der verkürzten Arheitszeit nach einer nicht langen
Uebergangsperiode das Gleiche geleistet wird, wie vorher
bei der längeren Arbeitszeit. Eine grosse Buchdruckerei
Deutschlands führte vor einiger Zeit freiwillig an Stelle
der zehnstündigen die 872 ständige Arbeitszeit ein; bei
Gleichbleiben der Arbeit und bei gleichem Personale wurde
nicht nur die Arbeit in gleicher Weise wie früher bewältigt,
sondern die Setzer sahen sich sogar veranlasst, die Ent-
lassung Einzelner zu fordern, da die Produktivität ihrer
Arbeit so sehr gestiegen war, dass sie nunmehr in
872 Stunden zu grösserer effektiver Leistung befähigt
waren, als vorher in 10 Stunden.
Rechnet man hierzu die grossen thatsächlichen Er-
sparnisse an Licht, Heizung und anderen Generalunkosten,
so wird man den Widerstand der Druckereibesitzer in
ihrem konservativen Geiste zu suchen haben. Sie haben
wohl weitere Forderungen befürchtet und waren vorzugs-
weise von der Absicht geleitet, den starken Gewerkverein
zu schwächen und seine Kassen geleert zu sehen. Das
sind die eigentlichen Gründe des Widerstandes und nicht
etwa die Befürchtung, dass die Kardinalforderung der Ge-
hilfen eine sprunghafte Aenderung im Betriebe und eine
erhebliche Schädigung des Buchdruckereigewerbes herbei-
geführt hätte. Beweis dafür, dass 5000 Buchdruckergehilfen
die Forderungen glatt bewilligt wurden, und dass einem
Theil derselben die günstigen Arbeitsbedingungen auch
nach Verlust des Strikes, trotz der Konkurrenz der auf
Grund des alten Tarifs arbeitenden Firmen weiter belassen
wurden.
Es bleibt die Frage zu beantworten, ob die Forderung
der Gehilfen eine innere Berechtigung in den Verhältnissen
ihres Berufes findet. Wenn man bedenkt, dass im Jahre
1848 die zehnstündige Arbeitszeit bei den Buchdruckern
normiert wurde, so kann man wahrlich nicht von einer
exorbitanten Forderung sprechen, wenn nach fast einem
halben Jahrhundert eine Verkürzung der Arbeitszeit um
eine Stunde gefordert wird. Von der Seite der Unter-
nehmer wird hiergegen eingewendet, dass noch in vielen
Druckereien über 10 Stunden gearbeitet würde, allein das
ist nicht die Schuld der Gehilfen, sondern der Unternehmer,
welche sich zwar bei jedem Tarifvertrag zur Bekämpfung
der Schmutzkonkurrenz, allgemeiner Einführung der Tarif-
bedingungen für ganz Deutschland und Regelung des
Lehrlingswesens verpflichteten, den Kampf hierfür aber
den Gehilfen überliessen, und diese statt zu unterstützen,
meist noch anfeindeten. Aber von alledem ganz abge-
sehen, beweisen Morbidität und Mortalität der im Buch-
druckergewerbe thätigen Personen, dass diesem Gewerbe
schwere Berufskrankheiten eigen sind, welche die Verkür-
zung der Arbeitszeit vom hygienischen Standpunkt aus als
eine noch wichtigere Forderung erscheinen lassen, als vom
sozialen.
Demnach meinen wir, dass die Forderungen der Ge-
hilfen wohl hätten bewilligt werden können. Aber wie alle
sozialen Fragen in letzter Linie, so ist auch diese eine
Machtfrage gewesen. Der Sieg fiel den Unternehmern zu,
da die herrschenden Gewalten, besonders gegen das Ende
des Strikes, immer mehr für das Interesse der Unternehmer
eintraten und die Weiterführung des Kampfes den Gehilfen
unmöglich zu machen suchten. Diese Seite der Geschichte
der letzten Strikebewegung bedarf einer gesonderten Be-
leuchtung, hier wollen wir nur noch die Folgen des Aus-
standes beleuchten.
Während vor Ausbruch des Strikes der grösste Theil
der Arbeitslosen dem Verein nicht angehörte, weil sie zum
Theil nur minderwerthige Arbeitskräfte waren, die das Mi-
nimum, die Voraussetzung der Aufnahme in den Verein,
nicht verdienten, sind jetzt ca. 5000 Mitglieder des Unter-
stützungsvereins arbeitslos, die Kassen sind vollständig leer
und es wird schwer halten, die Arbeitslosen zu unterstützen.
Die nächste Generalversammlung des Vereins dürfte
wohl eine gründliche Aenderung des Statuts und vielleicht
auch einen Personenwechsel in der Leitung zur Folge
haben. Nicht zu übersehen ist, dass sich in allen Ver-
sammlungen, in denen die Aufgabe des Strikes beschlossen
wurde, die Buchdrucker mit Entschiedenheit und Einmüthig-
keit für den Anschluss an die Sozialdemokratie aussprachen.
Nur ein Kurzsichtiger wird diese Konsequenz des Strikes für
nebensächlich halten. Die Buchdrucker haben seit Jahr-
zehnten streng darauf gehalten, dass sie als Arbeitergruppe
in keinerlei Beziehung mit der Sozialdemokratie gebracht
wurden. Sie haben nun eine andere Bahn eingeschlagen,
den Nichts-als-Gewerkvereinsstandpunkt verlassen und sich
in die Kadres der Sozialdemokratie eingereiht. Es mag
sein, dass die Folgen dieses Schrittes von den Prinzipalen
nicht gewürdigt werden, aber es wird die Zeit kommen,
wo diese es vielleicht bedauern werden, ihre Gehilfen ins
sozialistische Lager getrieben zu haben.
München. Adolf Braun.
Politische Arbeiterbewegung.
Die Sozialdemokratie und die Strikes.
Die Stellung der Sozialdemokratie gegenüber der ge-
werkschaftlichen Bewegung und ihrem wichtigsten Kampf-
mittel, dem Strike, ist von sehr grosser Bedeutung und ge-
winnt im gegenwärtigen Moment durch den Verlauf des
Buchdruckerausstands ein erhöhtes Interesse. Am 21. d. Mts.
sprach der Abgeordnete Bebel über diesen Gegenstand in
einer von 5000 Personen besuchten Volksversammlung im
„Feenpalast“ in Berlin und setzte in seiner Rede die Auf-
fassung der Sozialdemokratie in sehr instruktiver Weise 1
auseinander. Wir geben deshalb den Vortrag in
seinen Hauptzügen wieder. Der Titel desselben lautete:
„Was lehren uns die letzten grossen Strikes?“ Der ;
Redner bot zunächst einen historischen Ueberblick
über die Entwickelung der Arbeitseinstellungen. Die in
der bürgerlichen Gesellschaft immer schärfer sich ent-
wickelnden Klassengegensätze rufen die immer schärfer
werdenden Klassenkämpfe hervor. Das hauptsächlichste
Symptom der letzteren bilden die Arbeiterausstände. Diese
seien von zweierlei Natur. Aggressiv insofern sie die
Verbesserung der Lebenshaltung der Arbeiter und ihrer
Arbeitsbedingungen gegenüber dem bisherigen Zustand
erstrebten. Defensiv insofern sie den Bestrebungen der
Unternehmerklasse, die Lohn- und Arbeitsbedingungen der
Arbeiter zu verschlechtern, entgegenwirkten. Diesen Kampf
mit allem Nachdruck und allen verfügbaren Mitteln zu
führen, liege im Interesse der Arbeiterklasse. Aber
die Aussichten auf Erfolge im Gebiete der Lohn-
kämpfe und der Verkürzung der Arbeitszeit verschlechterten
sich in dem Maasse, wie die bürgerliche Gesellschatt sich
entwickele, die Grossproduktion immer mehr überhandnehme
und damit die Krisen immer länger und intensiver würden.
Zeiten, wie die letzteren, geben der Kapitalistenklasse das
Heft in die Hand und sie nutzte diese Situation rücksichts-
los aus.
Das erste Gebot für die Arbeiterklasse diesen Kampi
I mit einigem Erfolg führen zu können, sei die Organisation.
Eine gute gewerkschaftliche Organisation sei die erste und
Hauptforderung. Das habe die Arbeiterklasse, soweit sie
zum Klassenbewusstsein gekommen, auch begriffen, aber
eine solche Organisation sei gegenüben den in Frage kom-
menden Massen nicht leicht zu schäften. Einmal handle
es sich um die grosse Zahl, dann sei aber auch zu beach-
ten, dass der rapide Entwicklungsgang der grosskapitalisti-
schen Produktion in Deutschland die alten Arbeiterver-
hältnisse zersetzt und alles in Gährung und Auflösung ge-
bracht habe. In das so geschaffene Durcheinander sei erst
allmählich eine gewisse Ordnung gekommen, die aber
stets wieder durch neue Eingriffe der kapitalistischen
Entwicklung gestört werde. Die immer häufiger wieder-
kehrende Krisen machten die Verhältnisse noch ungünstiger.
Gegenüber der deutschen sei die englische Arbeiter-
klasse in einer bevorzugten Stellung gewesen. Englands
insuläre Lage, seine Präponderanz als erste und grösste
See- und Handelsmacht, die sie Jahrhunderte lang inne
gehabt, begünstigte nicht nur ungemein die grossindustrielle
Entwickelung, . sondern setzte auch die englischen Arbeiter
No. 4.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
53
in eine günstige Lage. Herren des Weltmarktes, konnten
hei der rapiden Entwickelung der englischen Industrie die
englischen Arbeiter Forderungen stellen, die auf dem
Kontinent unmöglich waren, und aus denselben Gründen
vermochte die englische Bourgeoisie ihren Arbeitern Kon-
zessionen zu machen, an welche die festländische Industrie
nicht denken konnte. Das habe den englischen Arbeitern
bis vor Kurzem jenes Uebergewicht gegeben, das sie ver-
anlasste, auf den kontinentalen Arbeiter herabzusehen. Das
letzte Jahrzehnt habe aber diesen Zustand stark verändert.
Die industrielle Entwickelung Deutschlands und Frankreichs
und vor Allem Nordamerikas habe die handelspolitische
Herrschaft Englands gebrochen, die Konkurrenz dieser
Staaten mache sich der englischen Industrie immer mehr
bemerkbar und nöthige die englische Bourgeoisie, ihren
Arbeitern mit Zumuthungen zu kommen, die bisher nicht
nothwendig waren. Diese Verschiebungen der Konkurrenz-
und Weltmarktsverhältnisse drängen die englischen Arbeiter
immer mehr in die Defensive und dies habe endlich jenes
internationale Solidaritätsgefühl hervorgerufen, wie es
sich im letzten Buchdruckerstrike in überraschender Weise
gezeigt. Die englischen Arbeiter fangen allmählich an zu
begreifen, dass ihre bevorzugte Stellung ein Ende nehme
und sie gemeinsame Sache mit den Arbeitern des Konti-
nents in dem Kampfe gegen die Bourgeoisie zu machen hätten.
In Deutschland sei es hauptsächlich eine Branche ge-
wesen, die eine ähnliche Stellung gegenüber allen anderen
Gewerbeindustrien eingenommen habe, wie dies die eng-
lischen Arbeiter gegenüber der Gesammtheit der continen-
talen Arbeiter gekonnt, dies seien die deutschen Buch-
drucker gewesen. Die Natur des Gewerbes habe dem-
selben von vornherein einen gewissen kapitalistischen
Charakter aufgedrückt, andererseits habe auch die Natur
desselben eben wieder die Anwendung der Maschine bisher
für das Setzerfach unmöglich gemacht. Das habe der
Bildung eines Chorgeistes innerhalb der betreffenden Ar-
beiter mächtig Vorschub geleistet und jene Organisation
in’s Leben gerufen, die in ihrer Art mustergültig war und
durch die Opferwilligkeit ihrer Glieder zu einer vortreff-
lichen Waffe in den Händen der Arbeiter gegen die Unter-
nehmer wurde.
Redner kritisirt nun die Ursachen, welche den letzten
Strike der Buchdrucker hervorgerufen und die Ursachen,
die ihn zu Falle brachten. Der Ausgang sei lehrreich, weil
er die Uebermacht des Kapitals beweise, das letztere trete
immer geschlossener auf in dem Kampfe gegen die Ar-
beiter und es sei kaum eine Aussicht vorhanden, dass auf
diesem Kampfgebiet nennenswerthe Vortheile für die Ar-
beiter zu erreichen seien, um so weniger, da auch die
Staatsgewalt fast stets für die Kapitalistenklasse Partei
ergreife.
Das Kampfgebiet müsse deshalb erweitert und der
Kampf insbesondere auch auf dem politischen Gebiete ge-
führt werden, man habe sich nicht mehr bloss mit kleinen
Konzessionen zu begnügen, man müsse der herrschenden
Gesellschaft als solcher zu Leibe gehen und den Kampf
für ihre Beseitigung führen. Dieser Kampf sei um so aus-
sichtsreicher, weil die ganzen Verhältnisse eine immer
raschere und grössere Proletarisirung der Massen herbei-
führten und damit das Bedürfniss für eine Umwandlung der
gesellschaftlichen Organisation von Grund aus immer allge-
meiner gefühlt und anerkannt werde. Diese Umwandlung
könne aber nur im Sinne des Sozialismus stattlinden und
deshalb müsse die Arbeiterklasse der Sozialdemokratie sich
anschliessen und ihre Ziele unterstützen. Redner schlägt
folgende Resolution vor:
„Die Versammlung erklärt: gegenüber dem Bestreben der
Unternehmerklasse, die wirtschaftliche Lage der Arbeiterklasse
immer tiefer herabzudrücken und die letztere in die vollstän-
digste ökonomische Abhängigkeit von der LTnternehmerklasse
zu bringen, ist die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter-
klasse eine Notwendigkeit.
Da aber die gewerkschaftliche Bewegung ihrer Natur
nach auf die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen
der Arbeiterklasse innerhalb der bestehenden Gesellschaft ge-
richtet ist, so genügt dieselbe nicht, um auch die Befreiung
der Arbeiterklasse aus den Fesseln aes Kapitalismus herbeizu-
führen.
Das ist vielmehr Aufgabe des politischen Kampfes, wie
ihn die Sozialdemokratie führt, eines Kampfes, dessen Endziel
die Aufhebung des Klassenstaates, die Verwandlung des Privat-
eigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigen-
thum und die Umwandlung der Waarenproduktion in sozia-
listische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion ist.
Die Versammlung betrachtet es daher als die Pflicht aller
Arbeiter, sich der Sozialdemokratie anzuschliessen und ihre B -
Strebungen thatkräftigst zu unterstützen.“
Nach einer längeren, rein sachlich gehaltenen Dis-
kussion, an welcher sich auch zwei Frauen und der Referent
als Schlussredner betheiligten, fand die Resolution ein-
stimmige Annahme.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Sonntagsruhe im Handelsgewerbe.
Der Schwerpunkt des preussischen Ministerialerlasses
an die Provinzialbehörden in Betreff der kaufmännischen
Sonntagsruhe und ihrer baldigen Einführung (durch kaiser-
liche Verordnung vom I. April dieses Jahres ab oder einige
Zeit später in Gemässheit der neuen Gewerbeordnung) liegt
im Folgenden. Der sehr ausführliche Erlass bezeichnet
es als dringlich erwünscht, dass namentlich in den grösse-
ren Städten durch Ortsstatut unter die vom Reichs-
gesetz gestattete Maximalarbeitszeit gegangen, eventuell
sogar iede Sonntagsarbeit im Handelsgewerbe unter-
sagt werde. Wenn die zur Berichterstattung und
Vorbereitung der Inkraftsetzung aufgeforderten Pro-
vinzialbehörden auf diesen Punkt mit sehr anerkennens-
werthem Nachdruck hingewiesen worden, so entspricht
dies den in der kautmännischen Bewegung der letzten
Monate dringlich hervorgetretenen Wunsch der Ge-
hilfen wie der Prinzipale in grösseren Städten (Berlin,
Hamburg, Bremen, Köln, Frankfurt, München, Strassburg,
Stuttgart, Karlsruhe u. a. m.); in den Kundgebungen dieser
Interessentenkreise ist vielfach offen gesagt worden, dass
ihnen der gänzliche Sonntagsschluss durch Reichsgesetz
weit lieber wäre, als die eventuelle Vertheilung einiger
Arbeitsstunden auf die Zeit vor und nach dem Gottesdienst.
In der That bleibt, wenn die sonntägliche Arbeitszeit
keinesfalls sich auf den Nachmittag erstrecken soll, wie der
ministerielle Erlass mit Recht betont, und wenn ausserdem
die Zeit des Hauptgottesdienstes freigehalten werden muss,
nur die Zeit vor letzterem für die kaufmännische Sonntags-
arbeit übrig, und dieselbe genügt vollkommen nach den
Eingaben wiederum zahlreicher Interessenten selber. (Frank-
furt a/M., Berlin, Hamburg, Bremen, Strassburg u. a. m.).
Wenn sich der Berliner Magistrat gegen eine solche Rege-
lung durch Ortsstatut ohne jede nähere Begründung sträubt,
so steht er ganz isolirt da und die Kundgebungen von
rechts und links, von der „Kreuzzeitung“ über zahlreiche
Gehilfenversammlungen bis zum Antrag der Sozialdemo-
kraten in der Stadtverordnetenversammlung auf ortsstatuta-
rische Beschränkung beweisen, dass der Magistrat der
Reichshauptstadt die Fühlung mit dem grössten Theil der
Interessenten verloren hat. Der Berliner Magistrat steht
deshalb isolirt da, weil z. B. in Frankfurt a/M. der Magistrat
infolge einer Petition des dortigen „Kaufmännischen Vereins“
bemüht ist, im Einverständnis mit den Kirchengemeinden
den Anfang des Hauptgottesdienstes allgemein auf 10 Uhr
zu verlegen und die Sonntagsarbeit im Handelsgewerbe für
Detailgeschäfte von da ab, tür Engros-, Fabrik- und Bank-
geschäfte aber überhaupt durch Ortsstatut zu verbieten.
fle Behörden in Hamburg und Bremen dürften eine ähn-
liche Regelung anstreben. Sehr zutreffend ist ferner die
Stelle des Ministerialerlasses, in welcher die Provinzial-
behörden angewiesen werden, die Sonntagsruhe möglichst
gleichmässig für alle Zweige des Handelsgewerbes zu
regeln, nicht aber für verschiedene Zweige verschieden; in
der That ist in letzterer Richtung durch die Interessenten
selbst, von den Zigarrenhandlungen vielleicht abgesehen,
Sar kein Wunsch geäussert worden. Den entschiedensten
eifall in kaufmännischen Kreisen findet ferner die Mahnung
des Ministerialerlasses, bei der Zulassung von Ausnahmen
nur ganz zwingende Gründe, nicht aber die Rücksicht auf
die Bequemlichkeit des Pulilikums oder althergebrachte
Gewohnheiten entscheiden zu lassen. Diese Mahnung wird
hoffentlich allseitig beherzigt. Sehr angenehm berührt
endlich an dem Ministerialerlass der den Provinzial- und
Regierungsbehörden gegebene Wink, zur Vorbereitung
ihrer Massnahmen auch Gehilfenorganisationeil, oder, wo
diese nicht vorhanden, einzelne Gehilfenvertreter als Gut-
achter hinzuzuziehen. Darin äussert sich eine wissenschaft-
lich und praktisch sehr lebhaft zu begrüssende Neuerung,
die beibehalten werden muss, wenn die soziale ^Reform für
das Handelsgewerbe richtig angefasst und durchgeführt
werden soll. Freilich ist der ganze bureaukratische Apparat,
mit welchem man in Preussen arbeitet, ungeheuer schwer-
54
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 4.
fällig, und auf dem schriftlichen Wege von Minister zu
Oberpräsident, von Oberpräsident zu Regierungspräsident,
von Regierungspräsident zu Kommunalbehörde, Landrath
und kaufmännischen Vereinen, sowie aut dem Wege, den
das Material rückwärts nach oben macht, dürfte sehr viel
verloren gehen.
Arbeiterversicherung.
Der Entwurf eines österreichischen Hilfskassengesetzes
hat bei der Beratung im Herrenhause einige Abänderungen
erfahren. Die wichtigste derselben bezieht sich auf die Unter-
Stützung; Erwerbsloser, die Gewährung von Reisegeldern, die
Arbeitsvermittlung, Errichtung von Lesezimmern und Biblio-
theken. Die Regierung hatte die völlige Beseitigung dieser
Nebenzwecke gefordert, das Herrenhaus beschloss dagegen
eine stärkere Scheidung von den Hauptzwecken, sowie die
Einräumung grösserer diskretionärer Gewalt an die Regierung,
um den befürchteten Missbrauchen vorzubeugen. .
Nach § 36 kann einer Kasse, welche von dem im k ■
letzten Absatz erwähnten Befugnisse hinsichtlich der Neben-
zwecke einen diesem Gesetze oder den Statuten zuwider-
laufenden Gebrauch macht, von der politischen Landesbehörde
diese Befugniss für eine bestimmte Zeit oder auf immer ent-
zogen und die Einhebung von Beiträgen für diese Nebenzwecke
untersagt werden. Nach dem Alinea 9 des § 4 hat das Statut
über die Verwendung des Kassenvermögens, aber auch der für
Nebenzwecke bestehenden besonderen Fonds für den Pall Be-
stimmung zu treffen, als von der Landesbehörde die ihr nach
8 36 vorbehaltene Verfügung erlassen wird.
Will eine Hilfskasse ihre Thätigkeit auf einen der ge-
dachten Nebenzwecke ausdehnen, so müssen in ihr Statut ge-
naue Bestimmungen über die Einhebung und Verwendung der
bezüglichen Beiträge aufgenommen werden. Diese Vorscnritt
soll nach den Erläuterungen den Zweck haben, „ausserordent-
liche Schwierigkeiten und Vexationen“ zu vermeiden, während
die oben angeführte Bestimmung des § 36 zu verhindern sucht,
dass dem Bestände der Kasse als Versicherungsinstitution eine
unmittelbare Schädigung zugefügt werde, falls die überwachende
Behörde die Verfolgung der Nebenzwecke einzustellen sich be-
müssigt sieht. . , ,
Eine weitere nicht unwichtige Aenderung erfuhr der
§ 38. Derselbe räumt der Landesbehörde das Recht, mit der
Auflösung einer Hilfskasse vorzugehen, auch dann ein, wenn
die Generalversammlung einer dem Gesetze oder Statut zu-
widerlaufenden Verwendung aus dem Vermögen der Kasse dire
Zustimmung ertheilt hat. Mit Recht wurde diese Bestimmung
im Herrenhause als zu hart angefochten; man äusserte die
Besorgniss, die Aufsichtsbehörde könnte zu wenig diskret und
rücksichtsvoll Vorgehen. Das Recht zur sofortigen Auflösung
wurde deshalb durch die Anordnung ersetzt, dass der Kassen-
leitung eine vierzehntägige Frist zur Zurücknahme des gesetz-
oder .statutenwidrigen Beschlusses gewährt werden und erst
nach fruchtlosem Verstreichen dieser Frist mit der Auflösung
vorgegangen werden dürfe.
Der § 44 endlich wurde durch die Bestimmung ergänzt,
dass auf die freien Hilfskassen auch das Vereinsgesetz vom
15. November 1867 keine Anwendung zu finden habe.
zweiten Lesung des Etats, Kapitel Reichsversicherungsamt,
folgende Resolution eingebracht worden: .
Der Reichstag wolle beschliessen: die verbündeten Regie-
rungen zu ersuchen, noch im Laufe der gegenwärtigen Session
einen Gesetzentwurf, betreffend die Abänderung des Untal -
Versicherungs-Gesetzes, vorzulegen, in welchem Besonders^ fol-
gende Punkte Berücksichtigung finden sollen: 1. den k 5, Abs.-,
/'iff. 2 des Gesetzes dahin zu ergänzen, dass die Zahlung der
Rente an Verletzte nicht erst mit dem Ablauf der 13. Woche
nach Eintritt des Unfalls, sondern von dem Tage der Beendigung
des Heilverfahrens an zu erfolgen hat; 2. dem § 6 die Bestim-
mung hinzuzufügen, dass im Falle der Tödtung eines Ver-
sicherten, welcher bereits in Folge eines früher erlittenen Un-
falls Rente bezogen, die Berechnung des den Hinterbliebenen
zu gewährenden Sterbegeldes und der Rente nicht nur nach
dem Arbeitsverdienst, den der Getödtete im letzten Jahre gehabt
hat, sondern unter Zugrundelegung dieses Arbeitsverdienstes
und der bezogenen Rente zu geschehen hat; 3. die in den Strat-
und Gefangenenanstalten als Arbeiter beschäftigten Gefangenen
in die Reihe der durch dieses Gesetz gegen Unfälle versicherten
Personen aufzunehmen; 4. den Strafbestimmungen Vorschriften
hinzuzufügen, nach denen Betriebsunternehmer und deren An-
o-estellte, welche die ihnen auferlegte Beitragspflicht auf die
versicherten Arbeiter abwälzen, in Strafe genommen werden.
Zur Statistik der Invaliditäts- und Altersversicherung.
Nach den im Reichs-Versicherungsamt angefertigten Zusammen-
Stellungen, welche aut den von den Vorständen der Invaliditäts-
und Altersversicherungs - Anstalten und den vom Bundesrath
zugelassenen besonderen Kasseneinrichtungen gemachten An-
gaben beruhen, betrug am Schluss des ersten Jahres seit dem
Inkrafttreten des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes
(Ende Dezember 1891) die Zahl der erhobenen Ansprüche auf
Bewilligung von Altersrenten bei den 31 Invaliditäts- und
Altersversicherungs-Anstalten und den 8 Kasseneinrichtungen
173668. Von diesen wurden 132917 Rentenansprüche anerkannt,
30 534 zurückgewiesen und 7102 als unerledigt auf den Monat
Januar 1892 übernommen, während die übrigen 3115 Anträge
auf andere Weise ihre Erledigung gefunden haben, Von den
erhobenen Ansprüchen entfallen auf Schlesien 19 337, Gst-
preussen 16 838, Brandenburg 13 332, Rheinprovinz 11750, Han-
nover 10159, Sachsen-Anhalt 9289, Posen 8327, Schleswig-Holstein
6922, Westfalen 6721, Pommern 6095, Westpreussen 6074, Hessen-
Nassau 3733 und Berlin 1859. Auf die acht Anstalten des
Königreichs Bayern kommen 17 638 Altersrentenansprüche, aut
das Königreich Sachsen 7381, auf Württemberg 3935, Baden
3248, Grossherzogthum Hessen 3153, beide Mecklenburg 3^71,
Thüringische Staaten 3702, Oldenburg 593, Braunschweig 1-53,
Hansestädte 1105, Eisass - Lothringen 5349 und auf die acht zu-
gelassenen Kasseneinrichtungen insgesammt 2304. Von den
sämmtlichen Ansprüchen sind 168 070 in den elf ersten Mo-
naten des Jahres, 5598 im Laufe des Monats Dezember erhoben
worden.
Zum deutschen Unfallversicherungs - Gesetz. Von den
sozialdemokratischen Abgeordneten des Reichstags ist zur
Die Unfall- und Krankenversicherung in der Schweiz.
Im November 1890 hat das Schweizervolk mit grosser
Mehrheit folgenden neuen Verfassungsartikel angenommen:
„Der Bund wird auf dem Wege der Gesetz-
o-ebung die Kranken- und Unfallversicherung ein-
richten unter Berücksichtigung der bestehenden
\Z rci nlrpnkjl’s^PUl
Er kann den Beitritt allgemein oder für ein-
zelne Bevölkerungsklassen obligatorisch erklären.
Wie in Deutschland und Oesterreich, so war es auch
in der Schweiz die Haftpflicht, welche zur l nfall- und
Krankenversicherung führte. Die Schweiz hatte die
schärfste Haftpflicht und dehnte sie immer noch mehr aus,
in der Absicht, die Unternehmer dadurch zur V ersicherung
ihrer Arbeiter zu veranlassen. Allein nicht nur blieben die
Versicherungsabschlüsse weit hinter den Erwartungen
zurück, sondern es zeigten sich gerade mit der \ er-
schärfung und der Ausdehnung nur um so mehr alle die
Uebelstände, wie sie anderwärts auch aufgetreten waren:
Verbitterung zwischen Unternehmer und Arbeiter, Ab-
wälzung der Haftpflicht auf die Arbeiter, indem man die
Krankenkassen in Mitleidenschaft zog, ungenügende >-
findung des Arbeiter u. s. w. Auf die Dauer mussten diese
Zustände unhaltbar werden, und so entschloss man sich zur
Einführung der staatlichen Unfallversicherung, mit welcher
auch eine Regelung der Krankenversicherung in \ erbmdung
gebracht werden musste. Hierzu aber war vorerst eine e-
vision der Bundesverfassung erforderlich. Man vermied es, in
dem neuen Verfassungsartikel von einer speziellen Arbeiter-
versicherung zu sprechen, weil zunächst die Unternehmer
die Versicherungsorganisation bilden müssen, und ferner die
Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden soll, den Kreis
des^ Obligatoriums nach Belieben zu ziehen. Die neue In-
stitution sollte sich auf möglichst demokratischer Grund-
lage erheben und es vermeiden, ihre Vortheile auf einzelne
Klassen der Bevölkerung zu beschränken. Auch darüber
war man einig, dass der Kranken- und Unfallversicherung
sich die Alters- und Invaliditätsversicherung anzuschliessen
habe, doch wollte man nicht Alles auf einmal dekretiren
Ueber die Art und Weise, wie sich der Bundesrath
die Ausführung der projektirten Versicherung denkt, gaben
die Gutachten seiner Experten Nationalrath Prot- Dr. Ivin-
kelin, Nationalrath Forrer, Ständerath Dr. Göttisheim, Pa-
brikinspektor Dr. Schüler erschöpfende Auskunft. Man
kann kurz sagen, es sei das österreichische System geplant.
Der Bund würde wie in Oesterreich ein Staatsinstitut . ein-
führen mit a) einem Zentralamt, b) kantonalen Unfallver-
sicherungsbezirken mit kantonalen Beamten, c) Bezirks-
kollegien für Anspruchsentscheide aus je 2 Unternehmern
und Arbeitern unter einem Beamten, d. h. mit Rekuis-
kollegien aus 2 vom Bundesgericht und 2 vom Kantonsober-
o-ericht Gewählten unter einem Zentraldirektor. Mit Aus-
schluss aller Gerichte bliebe das Zentralamt die letzte In-
stanz. Einrichtungs- und Verwaltungskosten würde der
Bund Übernehmern Alle Betriebe mit Gehülfen mussten
beitreten, auch Dienstboten und landwirtschaftliche Ar-
beiter, im Ganzen 750 000 Arbeiter. Selbständige Personen
erlangen das Zutrittsrecht, jedoch wird die Versicherungs-
summe auf eine gewisse Höhe beschränkt. Die \ ersicherung
! müsste auch Unfälle ausser dem Betriebe umfassen. Als
No. 4.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
55
Schadenersatz wurden 2/s Tagelohn angenommen. Die ersten
4 Wochen fallen auf die Krankenkassen. An die letzteren
hätte der Arbeiter 2/?, der Arbeitgeber % zu leisten
Wie in Oesterreich so soll auch in der Schweiz das
Deckungsverfahren angewendet werden.
Hinsichtlich der Krankenversicherung denkt man sich
f eine ähnliche Organisation wie in Oesterreich und Deutsch-
land. Man will die bisherigen Krankenkassen benützen,
insofern sie sich einheitlichen Normativbestimmungen unter-
ziehen. Daneben werden Gemeindekrankenkassen errichtet.
Die Gemeindekrankenkassen ständen auch Nichtversiche-
rungspflichtigen offen. I )ie Verwaltung soll selbständig sein,
aber unter Aufsicht der Gemeinde und von derselben ge-
wählt werden. Unternehmer wie Arbeiter sollen in der
Verwaltung angemessen vertreten sein. Eine Zentralstelle
hat Berichte und Rechnungen zu prüfen und den Kassen
mit Rath und That an die Hand zu gehen. Die Kosten
übernimmt der Bund, welcher den Vorständen für pünkt-
liche Uebersendung der Rechnungen und Berichte ange-
messene Beiträge leistet.
Bevor nun der Bundesrath an die Ausarbeitung des
Gesetzes ging, wollte er noch die Wünsche der Interessenten
vernehmen. Zu diesem Zwecke haben die Zentralvorstände
des schweizerischen Handels- und Industrie Vereins , des
Gewerbevereins, der landwirthschaftlichen Gesellschaft, des
Vereins der Handelsbeflissenen und das Arbeitersekretariat
an die Sektionen Fragebogen verschickt. So weit bis jetzt
bekannt, wünscht man in Handwerker- und Arbeiterkreisen
das allgemeine Obligatorium, dazu von Seite der Arbeiter
noch unentgeltliche ärztliche Behandlung und Arznei. Es
regnet in jüngster Zeit förmlich Vorschläge. Wenn es
hierbei nur nicht geht wie in Baselstadt, wo man seit
20 Jahren an der Einführung der obligatorischen Kranken-
versicherung laborirte, sieben Projekte nacheinander aus-
arbeitete, von denen doch keines die Volksgunst erwarb,
so dass man schliesslich aus purem Eifer für eine staat-
liche Krankenversicherung zu gar keiner Versicherung
gelangte. Aehnliche Versuche in den Kantonen Genf,
Aargau und Zürich brachten die Bewegung auf eidgenössi-
schem Boden zum Stillstand. Einzig St. Gallen hat die
Krankenversicherung bis jetzt staatlich durchgeführt, aber
der Zwang erstreckt sich nur auf die sogenannten Auf-
enthalter, d. h auf diejenigen Kantonsfremden, welche sich
nicht dauernd im Kanton niederlassen.
Zur deutschen Krankrnkassennovelle. In seinem an
anderer Stelle dieses Blattes (vergl. „Soziale Hygiene“) aus-
führlicher wiedergegebenen Vortrag' vor der Deutschen
Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege unterwarf
Dr. Blaschko-Berlin auch die Bestimmungen der §§ 6 und
26 des Krankenkassengesetzes, nach welchem die Kassen-
vorstände den Geschlechtskranken das Krankengeld ent-
ziehen können, einer Kritik, indem er nachwies, dass diese
Bestimmung, weit davon entfernt, den beabsichtigten „mora-
lischen“ Effekt zu erzielen, nur zur Verschleppung, Ver-
heimlichung und Weiterverbreitung der Syphilis Anlass
gebe. Der Vortragende, der wegen seiner reichen Erfah-
rungen auf diesem Gebiete als fachmännische Autorität
gelten kann, richtete noch in letzter Minute einen Appell
an die Oeffentlichkeit, um zu verhüten, dass bei der in
nächster Zeit bevorstehenden dritten Lesung der Kranken-
kassengesetznovelle diese für die öffentliche Gesundheits-
pflege so unheilvollen Bestimmungen wieder mit in das
Gesetz aufgenommen werden.
Untcrstützungskasse der westfälischen Bergleute.
Nach dem soeben erstatteten Jahresberichte dieser Kasse
des sogenannten „alten Bergarbeiterverbandes“ (im Gegen-
satz zum „neuen“, unter Mitwirkung der Centrumspartei
gegründeten) hatte dieselbe im Jahre 1891 eine Einnahme
von 3375 Mk., der 2354 Mk. in Ausgabe gegenüberstehen.
Man trat in der Jahresversammlung der Forderung ent-
gegen, dass für die Kassengeschäfte Vergütungen gezahlt
werden sollen. Eine längere Erörterung entspann sich bei
Besprechung des Statuts, das von verschiedenen Seiten
bemängelt wurde; die Mehrzahl entschied sich für Bei-
behaltung des gegenwärtigen. Die ausständigen Erz-
arbeiter im Nassauischen (Biber) sollen unterstützt werden,
weil sie Verbands -Mitglieder und deshalb gemassregelt
seien. Ein Antrag, für diesen Zweck sofort 500 Mk. zu
bewilligen, wurde einstimmig angenommen. Im Vergleich
zur Strikekasse der Zechen verfügen die Bergarbeiter über
sehr geringe Summen.
Die österreichische Krankenversicherung 'im Jahre 188h.
Nicht früher als im Juni 1891 ist die erste Veröffentlichung der
Ergebnisse der österreichischen Krankenversicherung, die sich
auf den Zeitraum vom 1. August bis 31. Dezember 1889 bezieht'),
erfolgt. Wir entnehmen der Publikation lediglich die markantesten
Daten. Die Zahl der theils neu gegründeten, theils umgebildeten
Kassen belief sich auf 2458, von welchen 56 gar keine oder
völlig unbrauchbare Nachweisungen lieferten; die Zahl der Ver
sicherten betrug 1 310 379, wovon 1 020 746 männliche und 289 633
weibliche Personen waren. Von der Gesammtzahl waren 64 364
freiwillig versichert. Die Mitgliederzahl nach Kassenkategorien
ergiebt die nachfolgende Zusammenstellung:
Zahl der
Zahl der Mitglieder am 31. 12, 1889 ^
Kassenkategorie
Kassen am
31. 12. 1889
insgesammt
davon
weibliche
scnnimicn
auf eine
in °/0 1 Kasse
Mitglieder
Bezirkskrankenkassen
Betriebs „
Bau „
Genossenschafts „
Vereins „
524
1 317
2
525
34
432 964
460 065
982
185 774
230 594
59 143
142 088
26 392
62010
13,6 826
30.8 349
— 491
14,2 354
26.9 6 782
Sämmtliche Kassen
Es erkrankten
und erhielten Unters
den Erkrankten wäre
85 417 = 24,2% Erkrai
fielen. Die durchsch
sonach 13,4, bei weibl
Anzahl der Sterbefäll
Männer, 1748 auf Frau
arten vertheilt sich d
in folgender Weise:
2 402 1 310 379 289 633 22,1 545
im Ganzen 302 028 Mitglieder 353 118 Mal
tützung für 4 723 710 Krankentage. Von
n 72 941 = 24,1 % Arbeiterinnen, auf welche
lkungen und 1398 923 Krankentage ent-
nittliche Dauer einer Erkrankung betrug
ichen Mitgliedern dagegen 16,3 Tage. Die
e bezifferte sich auf 6538, wovon 4790 auf
en und Mädchen kamen. Nach den Kassen-
e Erkrankungs- und Sterblichkeitsfrequenz
Kassenkategorie
Zahl der
Erkrankten
Zahl der
Er
krank ungen
Ausgezahlte
Kranken-
tage
Durch-
schnittliche Sterbe-
Dauer der c.
t ’ 1 1 talle
Erkrankung
in Tagen
Bezirkskrankenkassen
Betriebs „
Bau „
Genossenschafts „
Vereins „
65 690
119 193
325
31 490
85 330
71 684
141 638
344
36 941
104 511
717 721
1 729 064
3 485
474 781
1 798 659
10.0 883
12,2 2 360
10.1 4
13,6 738
17.2 2 553
Sämmtliche Kassen
302 028
353 1 18
4 723 710
13,4 6 538
Einen Ueberblick über die finanzielle Gebahrung und
deren Resultate ergiebt folgende Tabelle:
Kassen-
kategorie
Ein-
Aus-
nahmen gaben
in Gulden ü. W.
Von den Ausgaben <
fielen % auf
ho : ^
hfl
c c
C u
■5 o
v
<D
bo c I
c w
— cJ
« ho
Einnahmen-
uberschuss
absolut °/o
Bezirkskranken-
kassen
Betriebskranken-
1125 234 803 353 39,0
16,2
9,2
1,6
27.6 321 881
28.6
kassen
Baukranken-
2 025 457 1 605 307 53,8
20,2
15,4
3,6
3,2 420 150
20,7
kassen
3 321 3 906 43,7
17,1
8,3
2,3
10,0 585
17.6
Genossenschafts-
krankenkassen
Vereinskranken-
666 793 554 899 53,0
10,9
8,1
3,2
17,5 111894
16,7
kassen
1 722 104 1 569 185 68,5
8,5
9,4
4,0
6,6 152 429
8,8
Sämmtl. Kassen !5 542 909 4 536 650 56,1
1
14,3 11,3 3,3 10,4 1 007 429
18,1
Zu dieser Zusammenstellung sei noch bemerkt, dass nach
dem österreichischen Krankenversicherungsgesetze auch die
freien Kassen zur Gewährung von ärztlicher Hilfe und Arzneien
verpflichtet sind.
Auffallend dürfte es sein, dass eine sechste Kassenkategorie,
die das Gesetz kennt, die Bruderladen, in der vorliegenden Ver-
öffentlichung vollständig unberücksichtigt bleibt. Die Erklärung
liegt darin, dass bis heute die Anpassung dieser Kassen an das
Krankenversicherungsgesetz nicht erfolgt ist.
Zum Schlüsse sei auch noch auf die Höhe des „durch-
schnittlichen üblichen Tagelohnes“, wie er der Berechnung des
Krankengeldes zu Grunde gelegt wird, ein Blick geworfen. Der-
') Bei einem Theile der Kassen beziehen sich die Daten
auf einen längeren Zeitraum.
56
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 4
selbe bewegt sich zwischen 53 Kreuzern in Schlesien und
1 13 Kreuzern in Dalmatien, wobei jedoch nicht ausser Acht zu
lassen ist, dass diese Ziffern nur Durchschnitte sind. Manchen
Orts fällt der bezirksübliche ragelohn bis auf 15 und 20 Kreuzer
und das Krankengeld damit aut täglich 9 und 12 Kreuzer.
Gewerbegerichte, Einigungsämter und
Arbeiterausschüsse.
Gewerbliche Schiedsgerichte in der Schweiz. Nachdem
seit Jahren in der romanischen Schweiz (Genf, Neuenburg) den
französischen Conseils dePrud’hommesnachgebildetegewerb-
liche Schiedsgerichte bestehen und mit gutem Erfolg wirken,
wird in jüngster Zeit auch in der deutschen Schweiz, wo
Baselstadt mit gutem Beispiel vorangegangen ist, die Ein-
richtung ähnlicher Institutionen immer lauter gefordert. Im
Aargau hat eine von mehreren hundert Arbeitern besuchte
Versammlung an den Regierungsratfp das Begehren um
Einführung gewerblicher Schieds- und Sühngerichte gestellt,
mit der Begründung dass eine allgemeine sachverständige
Würdigung der bei Streitfällen zwischen Unternehmern und
Arbeitern vorhandenen Umstände und somit eine gerechte
Beurtheilung des Falles selbst nur möglich sei durch rach-
gerichte, in welchen der Standpunkt beider I arteien zur
Gleitung gelangen könne. Die gewerblichen Schiedsgerichte
hätten alle Streitigkeiten zu beurtheilen, welche sich zwi-
schen Unternehmern (Fabrikanten, Kaufleuten und Hand-
werksmeistern) einerseits und ihren Arbeitern, Angestellten
und Lehrlingen andererseits bezüglich der Dienstleistung
ergeben. Es wären demnach gewerbliche Schiedsgerichte
in gewerblichen und industriellen Zentren, wo solche von
den3 Interessenten gewünscht werden, zu wählen und zwar
nach folgenden Grundsätzen:
Die Gemeindebehörde hätte die Richter zu wählen in
o-leicher Zahl aus Unternehmern und aus Arbeitern, in Be-
rücksichtigung der Hauptgruppen der Gewerbe und nach
den Vorschlägen der industriellen, gewerblichen und der
Arbeitervereine. Ferner hätte die Gemeindebehörde zum
Obmann ein rechtskundiges Mitglied aus ihrer Mitte
zu bestellen. Jedem Schiedsspruch müsste ein Sühne-
versuch vorangehen durch einen Sühneausschuss, bestehend
aus je einem Unternehmer und einem Arbeiter. Das Prozess-
verfahren müsste unentgeltlich sein, und es hätten die
Sitzungen des Gerichts ausserhalb der üblichen Geschäfts-
stunden, z. B. Abends stattzufinden.
Leider hat das um ein Gutachten angegangene kan-
tonale Obergericht gegenüber der Eingabe einen ablehnen-
den Standpunkt eingenommen. Nach ihm sind gewerbliche
Schiedsgerichte im Aargau kein Bediirfniss, wie in grösseren
o-ewerbreichen Städten, und ausserdem ist das Gericht
grundsätzlich dagegen, dass zu den bisherigen ordentlichen
üerichten immer neue den Charakter von Ausnahme-
gerichten tragende Gerichtsstände geschaffen werden sollen.
Das letztere Motiv wird wohl ausschlagend gewesen sein;
man fürchtet die Konkurrenz. Zum Ueberfluss fordert nun
aber die Staatsverfassung ausdrücklich die Einrichtung ge-
werblicher Schiedsgerichte. .
Im Kanton Solothurn, der weniger Industrie aufweist
als der Aargau, scheint man die Nützlichkeit solcher Gerichte
besser zu würdigen. Bereits hat nämlich der dortige Re-
gierungsrath einen Gesetzentwurf für Einführung gewerb-
licher Schiedsgerichte im Sinne des aargauischen Vor-
schlages ausgearbeitet. Im Kanton Zürich, wo man sich
seit Jahren mit der Frage beschäftigt, wird ebenfalls die
baldige Veröffentlichung eines definitiven Entwurfs ange-
kündFgt. Derselbe soll auch die Einrichtung von Einigungs-
ämtern vorsehen.
Gewerbegericlite für Bergleute. Vier besondere Ge-
richte sollen für die preussischen Grubenarbeiter in 1 reussen
eingerichtet werden, und zwar in Saarbrücken, Dortmund,
Beuthen und Waldenburg. Zu Vorsitzenden sind die
königlichen Berg-Revierbeamten und als deren Stellvertreter
Mitglieder von Amts- und Landgerichten in Aussicht ge-
nommen. Durch die Zuständigkeit jedes Berg-Gewerbe-
gerichts wird die Zuständigkeit anderer innerhalb seines
Bezirks bestehender oder später errichteter Gewerbegerichte
ausgeschlossen. Die Kosten der Berg- Gewerbegerichte
werden, soweit sie in deren Einnahmen nicht Deckung
finden, vom Staate getragen. Schon aus Rücksicht aut das
gespannte Verhältniss, das zwischen der Arbeiterschaft der
Bergwerke und einem nicht geringen Bruchtheil der Berg-
beamten herrscht, hätte man davon absehen müssen diese
zu Vorsitzenden der bergmännischen Schiedsgerichte zu
machen. Die in den fiskalischen Gruben Schlesiens und
des Saarreviers beschäftigten Arbeiter, welche unmittelbar
von den Berg-Revierbeamten abhängig sind, werden in
ihren Entschliessungcn, beim Gewerbegericht ihr Recht zu
suchen, sicherlich beeinflusst werden, von den Beisitzern
aus der Arbeiterschaft ganz zu geschweigen. Ob es über-
haupt angebracht ist, Sondergerichte für Bergleute ins
Leben zu rufen, ist die Frage. In den Grubenbezirken ist
es ein Leichtes, die nöthige Zahl sachkundiger Richter aus
bergmännischen Kreisen aufzubringen: die Bergleute hatten
schon in ihrem eigenen Interesse für genügende Wahl-
betheiligung gesorgt. Wie die Dinge jetzt liegen, mag
das Sondergericht als Ausnahmegericht erscheinen. Und
dies liegt nicht in den Absichten der Gewerbegerichts-
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung.
Schlafstellen wesen in Berlin. Das Berl"1fr P°L'ä
iräsidium hat seine untergebenen Organe zu einer schar
eren Durchführung der das Schiafstenenwesen n Ber
regelnder Polizeiverordnung vom 17. Dezember 188 |
fordert Die Zahl der Schlafgänger, welche die Wohnver-
hältnisse der arbeitenden Klassen Berlins kennzeichnet,
hat von 59 087 im Jahre 1880 auf 89687 , ^r pr^ebnisse
95 365 im Jahre 1890 zugenommen (Emstweilige Ergebnisse
der Volkszählung vom 1 . Dezember 1 890 in der Stad
Berlin. Veröffentlicht vom Statistischen Amt der Maüt
Berlin 1891. S. 61.) Die meisten Schlafgänger wurden
der jenseitigen Luisenstadt westlicher Theil und im west-
lichen Strafauer Viertel gezählt, in frbeit^quatUer^ von ;
denen das erstgenannte die zweithöchste Behausungszitier
unter sämmtlichen Berliner Standesämtern aufweis ^
der Luisenstadt jenseits des »Kanals 'westlicher ^Theil kamen
auf das bewohnte Grundstuck 1880. 90,2, 1886. yo,u, iövu
95 9 Einwohner. Höher ist die durchschnittliche Behausungs-
Ziffer nur noch in der jenseitigen LuisenetptosthcherThed
mit 127,2. Im westlichen StraWr. Viertel belauft sie si
auf 85 9 im Jahre 1890 gegen 83,0 in 1885 und 73,5 l
a a 6. S.'1). Während der Antheil der Schlafganger für
o-anz Berlin 60,8 pro Tausend der Wohnbevölkerung
trug, bezifferte er ‘sich in der westlichen Lmsenstad ^auf 8*
im westlichen Stralauer \ lertel aut 81. Der Antnen
Vergleich mit der Gesammtheit für Berlin überhau; P ™ar
1880. 52,6, 1885: 64,4, 1890, wie bereits ges; agf ,60,8 ■ /„, sm
dass ein kleiner Rückgang festzustellen ist Abei , wie d
Bericht des Statistischen Amts ausfuhrt, ist f^r der Anthe,
der weiblichen Schlafgänger erheblich zujuckgegan^e,
während derjenige der männlichen fast de .»
blieben ist. Die Missstände, welche aus dem«
gängerwesen entspringen, sind bekann .
nungen jedoch fassen das Uebe nicht Wurzel^ m
lange die Arbeiterfamilien durch ihre wirthschaftliche La|
gezwungen sind, ihre Wohnung mit Fremden zu the
und diese nöthigt, mit solch jammerheher Behaus^g « I
zu bep-nücren, lässt sich eine Reform nicht durcnserzen.
Jedenfalls Ist eine straffe gesundheitspolizeihche Kon ro
-ehr wünschenswerth.
No. 4.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
57
Soziale Hygiene.
Der Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der
Trunksucht in Deutschland.
Der vom Bundesrath umgearbeitete Gesetzentwurf,
betreffend die Bekämpfung der Trunksucht im Deutschen
Reiche, liegt als No. 593 der Reichstagsdrucksachen im Wort-
laute vor und lässt sich als eine nicht erhebliche Umarbei-
tung des zuerst Mitte vorigen Jahres für die öffentliche Kritik
publizirten Entwurfes erkennen. Er will den „Missbrauch
geistiger Getränke“ auf dreifache Weise bekämpfen: erstens
durch einheitliche gesetzliche Regelung der Vorbedingungen
für die Ausübung der den Vertrieb geistiger Getränke be-
zwecken den Gewerbe, sowie gewisser neuer Verpflichtungen
dieser Gewerbetreibenden; zweitens durch privatrechtliche
Vorschriften, den Borg von Spirituosen und die Entmündi-
gung wegen Trunksucht betreffend; drittens durch neue
Strafbestimmungen, deren auffälligste jene des § 18 ist,
wonach „mit Geldstrafe bis zu 60 Mark oder Halt bis zu
14 Tagen bestraft wird, wer in einem selbstverschuldeten
Zustand ärgernisserregender Trunkenheit an einem öffent-
lichen Ort betroffen wird.“
Die Begründung dieser Neuerungen, welche den Cha-
rakter kleinlicher Polizeimassregeln gemeinsam an der Stirn
tragen, lautet in dem amtlichen Schriftstück etwa folgender-
maassen. Im Vergleich mit den Gesetzgebungen anderer
Staaten sei die deutsche Trunksuchtsgesetzgebung bisher
eine verhältnissmässig wenig eingehende gewesen. Dass
sie „zur Bekämpfung der durch den Missbrauch geistiger
Getränke hervorgerufenen moralischen, wirthschaftlichen
und sozialen Uebel“ nicht ausreiche, sei durch zahlreiche
Erörterungen, welche während der letzten Jahre in der
Presse und in der wissenschaftlichen Litteratur stattgefunden
haben, ausser Zweifel gestellt.“ Folgen Berufungen auf
die Schriften von Dr. A. Baer, Dr. Rahts und auf die amt-
lichen schweizerischen Veröffentlichungen zur Alkoholfrage.
Aus den mitgetheilten Statistiken geht hervor, dass der
Alkoholverbrauch auf den Kopf der Bevölkerung 1890
in Deutschland 4,64 Liter, im Jahresdurchschnitt von 1857
bis 1881 in England 4,72, 1888 in Schweden 6,90,
1880 in Dänemark 18,9, 1885 in den Niederlanden 9,26,
im jährlichen Durchschnitt von 1879 — 81 in Belgien 13, in
der Schweiz 9,40, 1880 in Oesterreich-Ungarn 5,76 Liter,
also in allen diesen Ländern mit und ohne Trunksuchts-
gesetzgebung mehr als im deutschen Reiche betrug; nur
die Weinländer Frankreich und Italien zeigen einen etwas
niedrigeren Konsum, als Deutschland. Trotzdem steht in
der Begründung zu lesen: „Hiernach muss der Konsum
geistiger Getränke in Deutschland auch im Vergleich
mit dem Konsum der ebenerwähnten ausländischen Staaten
als ein recht beträchtlicher bezeichnet werden“ Die nun
folgenden Statistiken über das vermehrte Vorkommen des
Säuferwahnsinns in den allgemeinen Krankenhäusern des
deutschen Reiches, über die Steigerung gewisser Geistes-
krankheiten infolge Trunks und die Zunahme der Selbst-
morde, sowie von fünf Arten strafbarer Handlungen, von
denen ohne Weiteres behauptet wird, dass sie „haupt-
sächlich unter dem Einfluss der Trunkenheit verübt würden
(Hausfriedensbruch, Unzucht, Beleidigung, Körperverletzung
und Sachbeschädigung!), reichen fast sämmtlich nur bis
Anfang oder Mitte der achtziger Jahre und lassen die Zu-
nahme der Bevölkerung, welche die Zunahme aller Zahlen
in erster Linie erklärt und dieselbe theilweise noch über-
steigt, ganz unberücksichtigt. Im Anschluss an diese
Zahlenbeweise wird gesagt, dass der Alkoholismus „sich
auch als die ergiebigste Quelle des Pauperismus erweist,
das Familienglück vernichtet, die Prostitution fördert, den
Sinn für öffentliche Ordnung und Rechtssitte untergräbt“.
Die Begründung zur einschneidendsten Bestimmung, zum
§ 18, heisst ^wörtlich:
„Die in die Oeffentlichkeit tretende auffällige Trunkenheit
wird nach den Gesetzgebungen nahezu aller Staaten, welche
ein in sicly abgeschlossenes Strafrechtssystem besitzen, sei es
unter der Voraussetzung, dass dadurch Unordnung, Aergerniss
oder Gefahr für den Betrunkenen selbst oder für Andere ver-
ursacht wird, bestraft. Die Formulirung der in dem Entwurf
vorgeschlagenen Strafvorschrift entspricht den Beschlüssen der
Kommission des Reichstages zu dem Gesetzentwurf vom
Jahre 1881. In den Motiven zu diesem Entwurf wird ausgeführt,
dass davon abzusehen sei, die Trunksucht innerhalb des häus-
lichen Kreises mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen, weil
ein solches Eingreifen das Familienleben unter Umständen ge-
| fährden könne. Eswird dahernurdie an dieOeffentlichkeittretende
Trunkenheit unter Strafe zu stellen sein. Aber auch bei dieser
Beschränkung lassen sich Verhältnisse denken, unter welchen
ein strafrechtliches Einschreiten zu Härten und Unzuträglich-
keiten führen würde. Um dem vorzubeugen, muss die Straf-
barkeit noch an die weitere Voraussetzung geknüpft werden,
dass die Trunkenheit das allgemeine Anstands- und Sittlich-
keitsgefühl zu kränken geeignet war. Deshalb will der Ent-
wurf nur denjenigen bestrafen, welcher in einem Zustande
ärgernisserregender Trunkenheit an einem öffentlichen Orte
betroffen wird.“
Man muss einen Blick auf die Entstehungsgeschichte
dieser Gesetzesvorschläge werfen, um sie ganz zu verstehen.
Sie stammen aus dem kleinbürgerlichen Ideenkreis des
„Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Ge-
| tränke“, dessen Vorstand es z. B. aus „praktischen“ Gründen
ablehnte, sich 1886 für das Branntweinsteuermonopol zu er-
klären, welches seine Ziele doch gerade am vollkommen-
sten fördern könnte. Der Bericht, den der jetzige Vor-
sitzende dieses Vereins, Abgeordneter Struckmann, in der
Session 1884/85 als Drucksache No. 227 dem Reichstage über
die für im Trunksuchtsgesetze eingegangene Petition er-
stattete, ist in der Hauptsache wörtlich die jetzige Begrün-
dung des Regierungsentwurfes geworden. In dem seit 1883
bestehenden Deutschen Mässigkeitsverein überwiegen je
länger je mehr die kirchlichen Elemente, die sich im Sinne
der „inneren Mission“, also von Moralgesichtspunkten ge-
J leitet, an der im Uebrigen von wenigen Personen besorgten
Agitation gegen die Trunksucht betheiligen. Es ist deshalb
kein Zufall, dass gleich nach dem Arbeiterschutzgesetz und
der Sonntagsruhe, gleichzeitig mit der konfessionellen Volks-
schule und noch vor der Berggesetznovelle dieser Gesetz-
entwurf erscheint. Unser sinngetreues Resume der Motive
zeigt, dass dieselben sich auf eine in ihren Einzelheiten
statistisch mehrfach anfechtbare Schilderung der Ausbrei-
tung und Wirkung des Alkoholismus beschränken, die
Frage nach der Ursache aber gar nicht aufwerfen, auch
nicht in einem einzigen Satze, wieviel weniger dieselbe
zu beantworten suchen. Wir betrachten diese sozialpolitische
Blösse des Entwurfes als eine Art Ehrlichkeit und Offenheit,
die man anerkennen muss. Seit der Veröffentlichung des
ersten, inzwischen wenig veränderten Entwurfes im August
1891 hat sich die sozialpolitische Kritik, die noch gewünscht
wurde, fast ausschliesslich darum gedreht, dass es der Ent-
wurf vermeide, irgendwie unter die Oberfläche des Uebels
zu dringen, nach seinen Voraussetzungen zu forschen und
im Kampfe gegen diese Voraussetzungen, als welche For-
scher wie die Professoren Finkelnburg, Binz, Rosenthal,
J. Wolf und Fabrikinspektor Dr. Schüler Ueberanstrengung
und physiologisch mangelhafte Ernährung nachgewiesen
haben, eine gründliche Eindämmung des Alkoholismus zu
versuchen. Wenn die Verfasser des Entwurfes auch in der
jetzigen Umarbeitung desselben gänzlich davon abstrahiren,
auf diese Kritik auch nur abweisend einzugehen, so sagen sie
damit nichts anderes, als dass sie ihren Vorschlag überhaupt
| nicht als sozialpolitische Massnahmen, sondern lediglich als
polizeiliche Repressivmassregel betrachtet haben wollen.
Man hebt deshalb unseres Erachtens den Gesetzentwurf auf
ein Niveau, das er garnicht beansprucht, wenn man ihm
einen Vorwurf daraus macht, dass ihm alle Eigenschaften
einer organischen sozialen Reform fehlen. Nach seiner Be-
gründung will er diese garnicht besitzen, sondern einfach
polizeilich einige Auswüchse beschneiden, und die Frage
steht einfach so, ob nicht etwa seine polizeilichen Mass-
nahmen als solche eine Hohn auf die soziale Gerechtigkeit
sind. Das trifft nun freilich im höchsten Masse zu. Man
kann Niemanden für das Elend bestrafen, in dem er sich
befindet. Der Entwurf bestraft aber lediglich diejenige
Trunkenheit, die nur in Ausnahmefällen nicht eine Folge
des Elends sind, denn er schliesst die Bestrafung der nicht-
58
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 4.
öffentlichen Trunkenheit aus, unter dem Vorwand, „dass
ein solches Eingreifen das Familienleben unter Umständen
o-efährden könnte.“ Damit ist aber offenbar nur das Familien-
leben der besitzenden Klassen gemeint; denn in das F amilien-
leben der Arbeiter will der Entwurf liebevoll schützend em-
irreifen. Die Politik der polizeilichen Hilfe, welche der
Entwurf einschlägt, ist also nicht einmal sehr geschickt.
Bekanntlich hat sich auch der deutsche Juristentag gegen
diese Art der Bestrafung ausgesprochen. Die gewerbepoh-
zeilichen Bestimmungen, welche den Wirthen theilweise
Unmögliches vorschreiben (Prüfung des Alters ihrer Kunden
und Aehnliches) sind im Uebrigen für die Allgemeinheit
nicht von der einschneidenden Bedeutung, welche ihnen die
betroffenen Gewerbetreibenden beimessen möchten. Hier
fehlen vielmehr genaue hygienische Vorschriften für die
Schankräume, die Schankgefässe u. s. w., also gerade das-
jenige, was die Polizei Nützliches leisten könnte. Dass
man das Detailreisen in Spirituosen verbietet, entspricht
dem Grundsatz, den Schwächsten am härtesten zu treffen.
Die Einführung der Bedürfnissfrage für ganz Deutschland,
von welcher die Konzessionsertheilung für den Ausschank
von Spirituosen abhängig zu machen ist, ist nur für Ham-
burg- und Bremen, sowie ca. 60 Städte etwas Neues. Sie
steift eine volkswirtschaftliche Verwaltungsmassregel dar,
die selbstverständlich sein sollte und eigentlich den Keim
einer gesellschaftlichen Regelung der Produktion und Ver-
teilung enthält. Die Bedürfnissfrage hat in diesem Sinne
keinen0 besonderen Zusammenhang mit der Alkoholfrage.
Ihre Berechtigung könnte von uns für jedes andere
Gewerbe zugestanden werden. In der Praxis, in der
Gemeinde- und Kreisverwaltung wird sie freilich viel-
fach zur blossen Form, hinter welcher die Geldinter-
ressenwirthschaft weiter betrieben werden kann, weshalb
die Mässigkeitsvereinler ein auf die Bevölkerungsziffer
basirtes Verhältniss der Schnapsschenken festgesetzt haben
wollten. Hier wagt die Bureaukratie des Entwurfs wieder
nicht die vollen Konsequenzen des Polizeistandpunktes zu
ziehen; sie 'möchte den Finanzen der Selbstverwaltungs-
körper nicht wehe thun.
Die Durchsicht des Entwurfes ergiebt also eine bunte
Sammlung polizeilicher Vorstösse auf der einen Seite und
bureaukratischer Halbheiten auf der anderen. Zwischen
diesen beiden entgegengesetzten Polen, die jedenfalls einer
zielbewussten Sozialpolitik so fern liegen, als nur möglich,
schwankt das reformatorische Können der Urheber dieses
künftigen Reichsgesetzes, die achtlos an dem Schlussatz
Dr. Schuler’s in der von ihnen selbst zitirten schweizeri-
schen Veröffentlichung vorübergegangen sind: „würde . . .
der Anlass zur Beschaffung des Schnapses spärlicher ge-
macht: dann erst könnte eine verbesserte Ernährung dem
Branntwein eine erfolgreiche Konkurrenz machen.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Aeusserungen zum Truuksuchtsgesetz-Entwurf. Ueber
die Trunksuchtsgesetz- Vorlage haben sich neuestens wie-
der zwei offizielle Körperschaften geäussert. Zunächst
beschloss die Aerztekammer der Rheinprovinz m
ihrer letzten Sitzung: „1. Eine Bestrafung der Trunk-
sucht als solcher erscheint nicht zulässig. Die Verbrin-
iriUw der Gewohnheitstrinker in Trinkerheilanstalten darf
nicht auf strafgerichtlichem Wege erfolgen. Vom ärzt-
lichen Standpunkte aus ist die frühzeitige Unterbrin-
gung eines Gewohnheitstrinkers in eine Irmkerheil-
anstalt — ähnlich wie die Unterbringung eines Geistes-
kranken in eine Irrenheilanstalt — auch ohne vorherige
Entmündigung zu wünschen. 2. Die Entmündigung der
Trunksüchtigen unter den im § 12 des Entwurfes ange-
gebenen Umständen ist angezeigt Auf das \ erfahren der
Entmündigung wegen Trunksucht haben aber die Be-
stimmungen über die Entmündigung von Geisteskranken in
Anwendung zu kommen (§ 593 ff der C.-P.-O ), insbeson-
dere darf die Entmündigung nicht ausgesprochen werden,
ohne dass einer oder mehrere Aerzte als Sachverständige
vehört worden sind. 3. Die Trinkerheilanstalten müssen
unter sachverständiger ärztlicher Leitung stehen und sind
in gleicher Weise staatlich zu beaufsichtigen wie die
Irrenanstalten.“ Und die Handelskammer von Bremen,
also eine Unternehmervereinigung äussert, sich in ihrem
soeben erschienenen Jahresbericht für 1891 mit aner-
kennenswerther Einsicht: „Das vorgelegte Gesetz sucht
der Trunksucht im Wesentlichen durch äussere, gewisser-
massen mechanische Mittel entgegenzuwirken, die um so
weniger Erfolg versprechen, als die Trunksucht, wie neuer-
dings wohl allgemein anerkannt wird, eine Erscheinung ist,
deren Wurzel man hauptsächlich in sozialen Missstanden,
wie Mangel an Einsicht und Bildung, Unwirthschaftlichkeit,
schlechten Wohnungs- und Ernährungsverhältnissen und
dergl. mehr zu suchen hat, und die man daher auch wirk-
sam nur durch die Hebung der sozialen Lage der Bevölke-
rung im Allgemeinen bekämpfen kann. Hat die Handels-
kammer schon von diesem mehr prinzipiellen Standpunkte
aus o-egenüber dem Gesetzentwürfe eine ablehnende
Stellung einnehmen müssen, so hat sie gegen die vorge-
schlagenen Mittel an sich noch die gewichtigsten Bedenken
zu erheben. Denn dieselben bedeuten einmal so schwere
Eino-riffe in die wirthschaftliche Freiheit, besonders in die
Geschäftsführung der Wirthe, der Wein- und Spintuosen-
händler und des Kleinhandels mit Verbrauchsartikeln über-
haupt, und enthalten andererseits ein solches Mass Bevor-
mundung und polizeilicher Befugnisse, dass sie selbst dann
noch kaum annehmbar erscheinen würden, wenn man sie
wirklich für geeignet hielte, der Trunksucht mit Erfolg zu
begegnen.“
Zur Sittlichkeitsgesetzgebung. In einem Vortrag, welchen
in der Dezembersitzung der Deutschen Gesellschaft für öffent-
liche Gesundheitspflege Dr. A. Blaschko „Ueber die Verl: Leitung
der venerischen Krankheiten in Berlin gehalten hat, kam der
selbe auf Grund eines umfangreichen statistischen Materials,
das zum grössten Theil auf amtlichen Quellen beruhte, zu dem
Schlüsse, dass in Berlin seit dem Jahre 1860, d. h- also 4 Jahre
nach Aufhebung der Bordelle, die venerischen Krankheitei ,
insbesondere die Syphilis beträchtlich und stetig abgenommen
haben, dass aber trotz dieser Abnahme die Verbreitung dieser
Krankheiten unter der Berliner Bevölkerung noch eine sel^H:
hebliche ist; allein an Syphilis sind in dieser Zeit ca. 50 >000 ,
Menschen erkrankt; unter der Bevölkerung sind jetzt 10-12 /„, ,
d. h. jeder neunte bis zehnte Mensch syphilitisch. Erst gan
neuerdings scheint wieder ein geringes Anwachsen der vene-
rischen Erkrankungen stattzufinden. Als Grunde für die beob-
achtete Abnahme bezeichnet der Vortragende neben der be-
ständigen sanitären Kontrolle der Prostitution durch die Polizei-
Aerzte die zunehmende Einsicht der Bevölkerung m das Wesen
und die Verbreitungsweise dieser Krankheiten, sowie -die m den
letzten Dezennien erheblich erleichterten Gelegenheiten, diese,
Leiden zu kuriren Insbesondere weist er auf die m^Kranken-
geltlich Rath erteilenden Polikliniken, sowie auf die Franken
Sassen hin, von denen leider immer noch eine ganze Anzahl
derartigen Kranken ihre Hilfe zum Theil versagten (vergl. unter
Arbeiterversicherung“). Der Referent fand in der Diskussion
von allen Seiten, insbesondere durch den bekannten Syphihdo-
logen Professor Köbner, warme Unterstützung. Des Weiteren
plädirte der Vortragende dafür, dass die Geschlechtskra nk< en in
allen öffentlichen Hospitälern Aufnahme finden sollten und dass
die inhumane, an mittelalterliche Vorurteile erinnernde Be-
handlungsweise derselben fortfallen müsste; überhaupt sei es
nachgerade Zeit, derartige Kranke nicht als bunder p^ftlmtion
Kranke aufzufassen. Zwangsweise Kaserairune der Prostitutton
erklärte der Vortragende überhaupt für undurchführbar, wahrend
geduldete BordelleVom hygienischen Standpunkt zum mindesten
ojeichgiltig sind. Was zu refornnren sei, sei das Untersuchungs-
Verfahren selber, welches den polizeilichen Charakter ver-
lieren und ein rein sanitärer, ärztlicher Akt werden müsse, -wo -
durch nicht nur der Humanität, sondern auch der Hygiene g
dient sei.
Ortsgesundheitsräthe im Grossherzogthum Hessen. .Wie
in Mainz, Darmstadt und Giessen, so ist nun auch in der ge-
werbsreichen Stadt Offenbach ein Ortsgesundheitsrath gebildet
worden. Er besteht aus dem Oberbürgermeister ais Vorsitzen-
der, einem Vertreter des Polizeiamts, des Kreisgesundhertsamts.
des Kreisveterinäramts, des ärztlichen Vereins und der Militär
behörde, sowie einem Chemiker, einem Bauverstandigen und
mehreren Stadtverordneten, im Ganzen 13 Personen Der Orts-
gesundheitsrath hat alle auf die öffentliche Gesundheitspfle|t
Hpyiio’liclipn Frühen in den Kreis seiner Bctrachtungc
ziehen. Es sollen Fragen wie Regelung des Abfuhrwesens
Reinigung von Luft und Boden, sanitätspolizeiliche Leb
wachung des Schlafstellenwesens, Prostitution u. s. w. zui
Erörterung kommen.
V^räntwoiMichAUr die Redaktion: Dr. Heinrich Braun Tn Berlin. - Druck von H. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT
Berlin, den 25. Januar 1892.
Für den Anzeigentheil sind die Redaktion und die Verlagsbuchhandlung nicht
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SOZIALE GESETZGEBUNG UND STATISTIK.
Vierteljahresschrift
zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder.
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Ißerlag oon JHtmfter & Jjumblcrf in ßeipatg
CBrorg Xriefcrictj Bltapp, ®ie ßanbarbeiter
in &ned)tfd)aft itixb gretl)eit. 23ter Vorträge.
1891. ißreiS ca. 2 5R.
Beinvidl Berliner, $ie foctale «Reform al<§
’©ebot bed mirtf)id)aftlict)ett ft-ortfdjrittd. 1891.
fßreid 2 «JR. 40 J3f.
Brfjriffen i>ra Bereitie für Botiatpolitifi.
49. Sattb: ©ie Jpanbeldpolitif ber roidpigeren
Äulturftaaten in ben lebten 2>.d)rael)uten. 1.
23anb. 2t. u. b. £.: ©te £au betdpolitil
«Rorbamerifaö, Stpliend, Oefterreicfjs, SßeU
gienb, ber «Rteberlanbe, ©änemarfö, <2c£)roe=
beitd unb «Jtorroegend, «Rufftanbd unb ber
©dpueia, fomie bie beutfdje .Spanbetdftatiftil
bon 1880 biö 1890. Sreid 13 3R.
— ©affelbe. 50. 23anb: ®ie ©anbetdpolitif k.
2. 23anb, 2t. u. b. ©. : ©te 3>been ber beuh
fdjen Jiianbeldpoliti! bon 1860—1891 $om
«Prof. Dr. IDalllter Xoft in «Btünctjen. «jßreid
4 «Dt. 60 «Pf.
Brrmanu Xofrtj, «Rationale «Probuftion unb
'nationale Serufdglteberung. 1891. iPretd
6 «Bf.
M. Ü. b. Bffen, sie gadjoereine unb bie
foctale ^Bewegung in granfreidp ©onberabbr.
and (Sdpnofterd Safjrbucf) 1891. Jkeid 2 3R.
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3<tl)rgaug. 1890. (©er gaujeu «Reibe XXXh 23anb.) ,£)eraud=
gegeben oou iprof. Dr. §an§ ©elbrütf. fpreid get). 8 «IR. ©rfdjeiut alljähvlid). Satjvgaug
1891 erfdjeint im gebruar 1892.
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au ©it. Vii öer ©eroerbeorbnnng). ©ejtaudgabe mit (Einleitung, erlauternben 2tntnerfnngen
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bepanbeln, ber ätoeite aber in brei ©keden bie
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(^DStgltef otut $
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in ^ofjenttjurm b. ^>aUe (©.)• ^Prei^ SKI* 1*
ßu belieben burcf) alle 93ndfjljoiiblunoen fotnie
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(!5. gdjnjttfdjKe'frfjen l?frl«9 tn i«Uc (£a«U).
J. ©ufirntag, 23erlagöbud)I)anbUing in Berlin.
®aö 9teid)ägeje^
betreffenb bie
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E'lfltllErUlß.
äSom 22. Suni 1889.
£ej-t=2tn§gabe mit Slnuterfungen unb @od)regifter
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(£. öon Söoebtfc,
ßaiferl. (Set). CBcv=9iegieruijaävatI) unb uortvag. Staff) im
gteidjäamt beä Snnern.
Vierte SHnflage.
£afd)eufoiinat; cavt. 2 2)1.’
X (fenttKutag, Bctlagalnufrfjanblnng in Bprlin.
(Buttmtag’fcfye Sammlung
Dtuifditt Ueidisijcfcijc trab J)ttußi(d)tr itftßt.
tfaf-JUisgabmi mit Bnmgrfmngim.
üLaidjEuTnuntai, ftartuuuirt.
15.
fgiitrd)^ 3Mdj00*r^
1. Sie 33er f a f in n g b c eSc u t fd) ett© cid) | Dr. 8.
üon 9iönne. 0ed)fte Auflage. 1 J3ir. 25 h>[.
-2. Strafgefebbud» für bad Seutfdtc ©cicb mit ben
aebrdiidtlidiftcu 9ield)6fUafgeie|en. Sou Dr. $.
gtii b o r f f. ftiinfaefjnte Auflage. 1 2Jcf.
3 9Militär=Strafacfcbbud) für beä Scutfdtc ©eidt
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© o imä. 2 Etf.
4. Slllgemeined Scutfdtcd ^tanbelegcfcpbudi “'der
i)tuäfd)lufs beä ©eeredjtä. Von ff. Stttljauer. ©tebente
Stugage. 2 3)1 f.
91 tigern eine Scutfdie SScdifcIorbnuug oon Dr
- 9 • 11 <§ed^ftc Sluflagc oon (S\ ©all, imo
©criditefoftengefetj unb ©cbübrcnorbnuug für
gen u u b © ad) u erft'a it b i g e. ®lit Äoftentabclfen.
i!on 31. ©pbom. SPierte Stugage. 80 spp
16. ©cdjteaninaltdorbnung für baS ®cutfdic SHcid).
SBon 9t.- © 1) b o ». Smeite SHugage. 60 Vf-
Von
©. Vordiarbt, i&eiplte nujtage uuu u.
aSedifclftenipclftcuergefeü ncbftffiedifelftcmbcU
{teuer tarif oon 33. ©attpp. Sanfte Auflage. 2 SOU.
6 <Hcid)0=«et»crbe--Orbnnng mit ben für ba| Jeijb
erlaffenen 9tu§ fübrungäbefttmmmigen. Dleucfte tfajfung
bcS ©efetjeä. 33on £. Sptj. SSergev, gtegiernngäratt).
lilite Slugage. 1 SJ1I. 25 spf.
7. Sie Seutfdje ©oft-- unb Selegr«bl)en=©cieü--
gebung. Von Dr. Sp. ®. Sa^er. Sntte Itugage.
Ö 9)1 f- 50 qßf.
8. Sic ©efebe über ben UnterftütmncgtBoIinfiö,
über 58imbeä= unb ©taatäangebörigfett unb preijugigfeit.
SSon Dr. 3- St red). S»ei!e Stuftage. 2 Elf.
17. ©ebührenorbnung für ©edttbaniBaltc.
9t. ©bbo». Sritte Suftage. 60 spf.
18 S«§ Scutfdie gicichegefeb über bie £{eid)8=
ftcutOelabgabcn tn ber fjaffung beä ©efefceä oom
» Etat 18® Sörfenfteuergefeb. S3on 23. ©aupp.
3./4. Slugage ergäiijt btä 1890. 2 9)tt
19. Sic ©cegefefegebnng be8 ®|u«*cn IKcidieo.
33on Dr. jur. 2S. (B. Älni tf d) !t). 8 9Jcf.
20. ©efeüc, betreffenb bie ft r« u f eti u e t ndj er u n g b er
Arbeiter. (S. üon SBoebtte. ©ritte Auflage
1 m. 20
Sie.ftonfulargefefegebungbe8Seutfd)cn9leid)e8.
SSqn Dr. ip^ilipp 3orn. 4 3Jtt.
l atentgeieb- ©efeb überJWlufter= unb SWobea»
B
Jtreitßirrfje
Sie S.terfiiffung8=Urfunbc für ben ®rcn«f*c»
©toat. 33on Dr. Slbotf 3(rnbt. Sroeite Sluffage.
2 9)tf.
:Ueeuntcn=©cfebgcbung. r,
bie loidjtigften 93eamtengeiebe t
^ironologii
21
22.
9a.
Sammlung flehierer nnnatrcditlictier 9lcid)8=
gefebe. ergänjnngäbanb ju ben tm y. Winentag ffflen
Sßerlaqe eridjtcnenen ©iniet=3tuSgnben beutidher Slteidiä-
2.ton §. SBierbanä. 2 W.I. 25 ${.
9b
üerlage e^iietietieit 6injel=%u6wbeu^tatf(ber DteidjS
gefebe. 2.ton §. SSt er 1) au 8. 2 int. 25 SPf.
Sammlung fleinerer gieidtegefebc ftrafreditj
. ... ~ - im % ©
I idiett "änftältS. ©tgänaungibanb ju ben im 3- ©utten
taa'idien 23ertaqe erfdtieuenen ©injcDSlnägnbeu beutfdjer
9ieid)8gcjcbe. iöon 3)t. äßerner. 1 9)tf. 80 SPf.
10. Sa8 s)lcid)8bcauttcngefcb oom31.®tnral873. ^ette
Slugage oon 355. Sur na u, 9teid)8gerid)tSrat£). 29Jtf.40 Spi-
ll. ©ioilörojefeorbnung mit ©erid)t8»crfaffung8>
aefcb- ©inrubrungogefebett, iTtcbcngeicbeu uttb
^rgiiitjuitgcn* S.'on 9i- ©t)bott>. fünfte ilnflage.
2 3ftf. 60 SPf.
12. Strafüroäcftorbnnng nebft «criditeuerfafmugo
gefeb. fünfte Slugage oon apellmcg. 1 9J!t. bO pf.
v. ©ntbaltenb
tue touPttglten »camtengeieKc m -preuBen. SDtit furjen
Stnmertungen, einem djronolofltidjen SBerjetdjmti ber ab-
qcbrucftcu ©efefee tc. SSon 15. Spjafferotl). gtoeib
neubearbeitete Slugage. 1 9)if- 50 Spf.
Sa8 SUreuftifdte ©eieb. betr. bie 3mgug8uoU=
fircctitng in ba8 unbeUteglidie SBermogen oom
13. 3uIiB1883 unb alten 9tebengefe|en. SSon Dr.
3. ifred) unb Dr. D. 5 i ftp er. 3»elt' 1(ugage
1 50t f.
fdtnb ©efeb über Öt arf enf d>n b. «cbft «u«.
tübrunflSbeftimmungen. SSon Si. spp. Derc
SUugage. Jn SSorbeveitung.
rger. Sritte
23. lt u f a tl B c f f i d) c f u ml 6 g c f e b oom 6. 3uti 1884 unb
©Cicb über bie Stuebcbnnng
ftranfcuBeritdternng
©. oon SBocbtfe. SStert
24.
,..ö oom
Vierte Stugage.
Oteidiogefeb» betreffenb
ber itnfall= unb
5Btai 1886. SSon
2 SDtt.
, bie ftommanbitge|cIt=
f diaTtcu'a tir 'Jlfticn tttib bic 'JinicngcfetHdiattcn
äion h- Jfebiinc* unb Dr. Q. SS. ©tm on. ©ritte Huf-
Sie^renbifdtcn ©efe-be, betreffenb b«8 Notariat
in ben ßanbeätfjetlen beä gemeinen 3tcdit3 unb beb
fianbrcdjtä. Stoeite oeränbevte >2t 1 1 ft a ge lj er a u S g c g e b e 1 1
uon ©tjbonj unb 9t. ^clllueg. 1 60
Sa8 ©efeb Bom 24. SJtpril 1854 (betr. bie au6g=
ebelidjc ©d)ioängernng) unb bie baneben geltenbeu Sc-
ftimmungen beä ?(Ug. 8anbred)tä neb]t ben baju ergangene .
sPväiubitaten, ber Sitteratunc. Ston Dr.jur.§. <ss “) uljc.
76
Otai
rnegett ©rbebung ber
1872. SSon ©. SBerttjo.
13. Uonfttrsorbnung mit ©infül)ruttgsgefeb>|!eben=
aeieben unb ©rgeinäuttgett. SSon 9t. tsopbom.
Vierte Slugage. 80 $f.
14. Wcridttc-Bcrfaffmigdgcfeb fürbadSeutfdteOleid).
SSon 9t. ©D bom. fyunfte Stugage. 80 Spf.
er unb Dr. §.
tage. 1 9)tt.
25. Sab Scutfdjc
ilrauftener oom 31.
1 SDff. 60 spf.
26. Sic sKcidtägefcbgcluttia über ®tuin= unb5Banf=
tuefett, SUöBtexgetb, SUramtcnBaBtcrc unb 9Jet dtf-
anleiltcn. SSon Dr. 9t. k o ä). 8»ette Stugage. 2 5üif. 40 'Pf.
27. Sie ©efebgebung. betr. bab ©efntibbitcitbiuefen
im Seutfdjett SKcidt. *oaDr. jur. G. Woefd) unb
Dr. med. §. Kargen. 1 50U. 60 'Pf.
28. ©efeb, betreffenb bie UnfattBcrfidjerung ^ber bei
bauten befdtäftigten 'Ucrfonen. SSom .S'd'
SSon 2eo Stugban. 1 9J(t 25 spf.
Mefcü. betreffenb bie ©ruterbb= unb 4Virtb=
fd) aftogeno ff enfd) a f t ctt. 33om 1. Etat 1889. Pott
8. SPavtftub. SSterte Slugage. 1 9)tt. 25 Spf.
©efeb. betreffenb bie 3nBaIibitätb= uttb 3t|terb=
Bcrfidtcruttg. Sßom 22. Sunt 1889. 33on G. uon
JBoebtte. SÖterte 'Itugage. 2 Elf.
9
3Ser=
Pon
29.
30.
5R. ©i)boic. ßroeite 3luftagc. 2 mt.
Äonfurborbnung Bom 8. ©tat 18a5.
ff. Pierga u8. 2 Ett. 50 spf.
Stc a?ormunbfd)aftb=Orbnun g Bpm 5. Sali 1875,
uefaft ben baju crlaffenen OtebengefeBen unb -tilge
meinen Verfügungen. Von Etaj ©.djullje n ft ent
l Elf. 20 «Pf.
15. fS.SS»""' *“
ss-BrssgRWtt'tf ».üsiÄts
läge. 1 Eit.
31
ieidtbgefeb , betreffenb bie ©etBerbegcrldttc.
Vom 29:’3uli 1890. Von 8eo Etugbnn. 2. Jluägabe.
Eit. 25’fpf.
Verantwortlich tü, HÜ A,„ciBc„tl.c,l T l>r. "Ho Evsle, io 1Mb. - Druck von H. S. Hem, an» in Berlin.
I. Jahrgang'.
Berlin, den 1. Februar 1892.
Nummer 5.
SOZIALPOLITISCHES
C E
NTRALBL
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
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No. 5945 der Postzeitungsliste.
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INHAL T.
)ie gesellschaftlichen Ur-
sachen des Verbrechens.
Von Prof. Dr. Franz v. Liszt.
soziale Wirthschaftspolitik 11.
Wirthscliaftsstatistik :
Agrarische Verhältnisse in Rumä-
nien. Von Dr. Carl Grünberg.
Zahl der industriellen Arbeiter in
Russland.
Vrbeiterzustände :
Die königliche Kommission Uber
die Arbeiterfrage in England.
Von Dr. Stephan Rauer.
Die Kinderarbeit in Frankreich.
Von Prof. Dr. W. Stieda.
Statistik der Arbeiter und Beamten
der preussischen Staatsbahnen.
Arbeitsverhältnisse bei den preussi-
schen Staatsbahnen.
MangelhafteErnährung der Arbeiter-
kinder.
Arbeitslosigkeit.
Ländliche Arbeiterverhältnisse.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Das Programm des deutschen
Gewerkschaftskongresses. Von
C. Regien, Vorsitzender der
Generalkommission der Gewerk-
schaften.
Der steirische Rergarbeiterstrike
Von Dr. Leo Verkauf.
Arbeiterschutz im Bäckergewerbe.
Evangelische Arbeitervereine in
Deutschland.
Politische Arbeiterbewegung :
Die Stellung der Sozialdemokratie
zum Boykott.
Kaufmännische Bewegung:
Minimalkündigungsfristen fürHar.d-
lungsgehilfen.
Die gesetzliche Regelung der Ar-
beitszeit für Handlungsgehilfen.
Handlungsgehilfen als Gefängniss- !
arbeiter.
Haml werkerfragen :
Gewerbekammern in Baden.
Arbeiterschutz und Kleingewerbe.
Auflösung der fakultativen Innun-
gen.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Der Entwurf eines Arbeiterschutz-
gesetzes für den Kanton Glarus.
Von Kantonsstatistiker E. Naef.
Arbeiterschutz bei dem schweize-
rischen Verkehrsgewerbe.
Städtischer Arbeitsnachweis und
städtische Arbeitersekretariate.
Arbeiterversicherung :
Zur Krankheitsstatistik.
Soziale Hygiene:
Zum deutschen Trunksuchtsgesetz, i
Zur schwedischen Trunksuchts-
gesetzgebung.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die gesellschaftlichen Ursachen des
Verbrechens.
Das Verbrechen ist das nothwendige Ergebniss aus dem
Zusammenwirken zweier Gruppen von Bedingungen. Die
ärste Gruppe ist gegeben durch die theils angeborne,
theils erworbene Eigenart des Thäters; die andere durch
lie ihn umgebenden äusseren Verhältnisse. Der Mikrobe
des Verbrechens gedeiht nur in der Nährflüssigkeit der
Gesellschaft. Mit diesem Satze, der allmählich zum Gemein-
plätze geworden ist, ist die Bedeutung der gesellschaftlichen
Verhältnisse für Gestaltung und Entwicklung des Ver-
brecherthums nachgewiesen. Aber diese Bedeutung reicht
noch viel weiter, als es auf den ersten Blick scheinen möchte.
Billige Weisheit ist es, die uns verkündet, dass jede
Ordnung der Gesellschaft ihre Verbrechen und Verbrecher
hat, und dass das Verbrechen nicht früher aus der Welt
verschwinden werde, als bis die letzte Familie ausgestorben
ist. Mit Sünde und Verbrechen beginnt nach der Bibel die
Geschichte des Menschengeschlechtes; warum sollte sie
anders schliessen ! Es ist billige Weisheit, uns das zu sagen :
denn Niemand hat es bestritten. Nicht die Beseitigung,
sondern die Beschränkung der Kriminalität steht in Frage.
Weil gegen den Tod kein Kraut gewachsen ist, sollte
darum alle Hoffnung aufgegeben werden, dass die Sterb-
lichkeit der Säuglinge vermindert, dass die durchschnittliche
Lebensdauer erhöht werden könnte?
Dass durch eine Verbesserung der Gesellschaftsordnung
eine Verminderung in der Zahl bestimmter Verbrechen
herbeigeführt werden kann, liegt auf der flachen Hand.
Der Antrieb zum Verbrechen wird durch die gesellschaft-
lichen Verhältnisse unzweifelhaft bald gestärkt, bald ge-
schwächt. Politische und religiöse Delikte werden sich
umso zahlreicher einstellen, je geschlossener, je rücksichts-
loser die herrschende Ansicht gegen abweichende Ueber-
zeugungen auftritt. Wenn heute eine Richtung der Kunst
staatliche Anerkennung und den Schutz der Strafgesetz-
gebung erlangen sollte, so werden morgen die ästhetischen
Ketzer verfolgt werden, wie die religiösen in früheren
Jahrhunderten. Der Geschlechtstrieb wird stets nach Be-
friedigung verlangen und sie nehmen, wo er sie findet.
Versagt Ihr ihm die Möglichkeit, sich innerhalb der
Schranken der Rechtsordnung zu bethätigen, so wird er
die Schranken brechen und zum Verbrechen führen. Und
wer weder Brot noch Arbeit findet, der wird in weitaus
den meisten Fällen Mittel und Wege sich zu eröffnen wissen,
die ihm auf Kosten der Gesellshaft das eine ohne die andere
sichern.
Aber die Sache liegt viel tiefer. Ich glaube nicht an
„die Bestie im Menschen“. Heute noch müssen wir an
sie glauben. Sie ist da, in allen Kreisen, in allen Schichten
unseres Volkes. Wer sie nicht sehen will, dem freilich
kann nicht geholfen werden. Und dadurch, dass wir die
Schriftsteller kreuzigen, die schildern was sie gesehen, so
gut wie wir gesehen, aber besser als wir beobachtet haben,
schaffen wir die unangenehme Thatsache nicht aus der
Welt. Aber die Bestie mit all’ ihren wilden Leidenschaften,
mit Zorn und Hass, mit Gier und Neid, mit Blutdurst und
unersättlicher Eitelkeit — stammt sie nicht von Papa oder
Mama, die die Genüsse des Lebens oder das Elend des
Lebens gekostet haben bis zur Neige, die verfault waren
im Blut und in den Knochen durch ihre Schuld oder ohne
ihre Schuld, ehe sie den Keim ins Leben setzten, dem sie
60
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLAT 1 .
No. 5.
den Fluch der Vorfahren als Erbtheil mitgegeben auf den
Lebensweg?
Eine bessernde Umgestaltung unserer Gesellschafts-
ordnung wird den Antrieb zum Verbrechen m den heute
lebenden Menschen wesentlich mindern. Aber unendlich
viel wichtiger, unendlich viel dauernder wird ihre Wirkung
auf die kommenden Geschlechter sein. Sie wird, indem sie
die Zahl der erblich Belasteten mindert, die Bestie im
Menschen zähmen. Das ist keine „Utopie“. Es wird wohl
leichter sein, die Wirkung einer solchen Umgestaltung zu
unterschätzen, als sie richtig in ihrer vollen Tragweite, zu
Soziale Wirtschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Agrarische Verhältnisse in Rumänien.
Infolge der Koalition der junimistischen (konstitutio-
nellen) 1111? der konservativen Partei und der Uebernahme
des Portefeuilles für Handel, Domänen und Industrie durch
den Führer der ersteren, Peter Carp, ist eine Wiederauf-
nahme der von letzterem schon 1888 begonnenen Versuche
einer Agrarreform in Rumänien l) zu gewärtigen. Es durfte
deshalb ^nicht ohne Interesse sein, die jetzige agrarpolitische
würdigen.
Aber welche Umgestaltung? Das ist die Frage, aut
die wir Antwort geben müssen, wollen wir nicht als harm-
lose Schwärmer bei Seite geschoben werden.
Auf der Suggestion beruht unsere ganze Erziehung,
in der Schule wie im Leben. Was uns vom Verbrechen
abhält, das sind die „Hemmungsvorstellungen“, die uns an-
erzogen, die uns eingeprägt werden, bis sie m unser Fleisc i
und Blut übergehen und unser Thun und Lassen beherrschen,
ohne dass wir uns dessen bewusst werden. „Das sollst Du“;
„das sollst Du nicht“ — diese allgemeinen Vorschriften des
Rechts und der Sitte, der Religion und der Menschenliebe
oder wie Ihr es nennen wollt, die müssen uns bestimmen,
ohne dass wir überlegen, ohne dass wir schwanken oder
zaudern. Was die Rechtsordnung von uns verlangt, das
müssen wir leisten können, wie die Gewehrgriffe, auf Ems,
Zwei, Drei, selbst im Halbschlummer. Wer „Haltung“ hat,
verliert sie nicht, auch wenn der Alkohol seine Sinne um-
nebelt.
Die Hemmungsvorstellungen aber bewahren ilne Kiatt
nur, wenn wir im Kreise der Genossen, im geschlossenen,
durch gleiche Anschauungen und durch die Gemeinschaft
der Interessen zusammen gehaltenen Kreise leben. Aut sich
selbst gestellt, bewährt sich der echte Mann. Aber die
sind dünn gesät, die das vermögen. Die grosse Mehrzahl
von uns braucht äusseren Halt. Wer hat es nicht an sich
selbst erfahren, wie Urtheil und Vorurtlieil, wie Glauben
und Aberglauben seiner Genossen bestimmend aut ihn
wirkten; wie er die anderen hielt und wie er von ihnen
gehalten wurde? Zerstört die geschlossenen Kreise und Ihr
schwächt oder vernichtet die Hemmungsvorstellungen;
atomisiert die Gesellschaft, dass jeder auf sich gestellt ist
im Kampfe aller gegen alle, und Ihr entfesselt, was an
bösen Trieben in uns wurzelt; deklassirt den Menschen,
und Ihr habt ihn dem Verbrechen in die Arme getrieben.
Und diese Deklassirung hat unsere heutige W irtli-
schaftsordnung reichlichst besorgt. Sie hat den Egoismus
entfesselt, ohne ihm Schranken zu setzen. Sie erntet, was
sie o-esäet. In dem Proletariat hat sie den Nährboden selbst
geschaffen, in dem der Mikrobe des Verbrechens gedeiht.
Neben dem Reichthum Einzelner das Massenelend. Dann
wundern wir uns noch, wenn der Kriminalstatistiker über
die steigende Menge der Zählkarten klagt. Jede Gesell-
schaft hat die Verbrecher, die sie verdient. Wobei neben
den vielen Kleinen die wenigen Grossen nicht vergessen
werden sollten.
Das ist das Problem der Kriminalität. Mit der Er-
kenntnis des Uebels ist der Weg zur Heilung vorge-
zeichnet.
Halle a. S. Franz v. Liszt.
Situation daselbst zu skizziren. . „000 , ,
Infolge der Bauernunruhen im Frühjahr 1888 hatte
Peter Carp, der auch damals im Kabinet Rosetti-Carp das-
selbe Ressort wie heute inne hatte, den gesetzgebenden
Körperschaften zwei Agrarreformvorlagen unterbreitet. Die
eine- betreffend die Veräusserung einiger Theile jder Staats-
güter und die Ablösung der Emphyteusen (lege despre
instrainarea unor pärti din bunurile statului si rescumperarea
embaticurilor) sollte den zahlreichen Bauerntamihen, die
nur ungenügenden, und den Landarbeitern, die gar keinen!
Grundbesitz haben, und sich freilich nicht infolge dessen
allein in drückendster wirtschaftlicher Abhängigkeit von
den Grossgrundbesitzern befinden, Gelegenheit geben, eine
Heimstätte zu erwerben. Diese Vorlage ist auch nach,
heftio-en parlamentarischen Kämpfen Gesetz geworden,
harrt* jedoch infolge des Widerstandes der konservativen
Partei noch ihrer wirklichen und nachdrücklichen Durch-
führung
Die zweite Vorlage: betreffend die Verträge über
Landarbeiten (lege pentru tocmelile agricole) kam gar nicht
ü TN • i • TD r ipcP hP
Lanucü UC1LCII - — ^ :
zur Verhandlung. Die konservative Partei setzte dieselbe
zur v enidiiuiuiib.
nach dem Sturze des junimistischen Kabmets Rosetti-Carp ;
von der Tagesordnung ab und keines der zahlreichen seit-
herigen Ministerien hat sie wieder aufgenommen \V ie
jedoch der rumänischen Presse zu entnehmen ist, soll Herr -
Carp die Absicht haben, unmittelbar nach Zusammentritt ■
der neu zu wählenden Kammern seine Vorlage neuerlich .
der verfassungsgemässen Behandlung zuzuführen und auch
eine zweite Vorlage, betreffend die Reform des bäuerlichen ,
Kreditwesens vorbereiten.
Durch die erstere soll das jetzt geltende Gesetz vom'
1 3. Mai 1 882 abgeändert werden, das nun in seinen wesent- '
liehen Bestimmungen skizzirt werden soll.
Gegenstand der Verträge über Agrararbeiten können
sein- a) Die Uebereinkommen, durch welche sich der<
Landarbeiter oder Bauer verpflichtet, gegen Bezahlung in
Geld pro Tag oder nach Mass Ackerarbeiten zu prastiren
(ackern, säen, eggen, graben, sicheln, mähen, lesen, ernten,
dreschen, einführen), b) Die Weidepachtungen durch die
Bauern und Landarbeiter, gegen Prästirung des Pacht-
schillings in Geld und Arbeit; c) Wiesen oder Acker-
paclitungen durch den Arbeiter gegen Leistung eines I aclit-
schillings in Geld, Arbeit oder einem Theile der Ernte zu-
sammen oder allein; d) Weide- Wiesen- oder Ackerpachtun-
o-en, bei denen der Pächter sich verpflichtet, den I acht-
schilling in Geld zu bezahlen, oder als Aequivalent Getreide-
transporte zu den Häfen und Eisenbahnstationen zu besorgen,
Arbeiten in Wein- und Obstgärten oder solche, die auf die
Kultur und Ausnutzung des Bodens Bezug haben, in einem
bestimmten Jahres- oder Monatsausmass zu verrichten
( Art 1 )
Die „Befreiung“ der Bauern durch das Agrargesetz
von 1 864 hat ihre wirthschaftliclie Abhängigkeit vom Guts-
herrn natürlich nicht beseitigt. Der ehemals frohnpflichtige
Bauer erhielt meist nicht genug Land, um seine und seinei
Familie Bedürfnisse decken zu können. Auch mangelt e>
ihm im Grossen und Ganzen an Weide- und Yv lesenlanc
und die steifende staatliche
nnn
WJ alrlnno'f
') Vel. Grünberg, Carl: „Die rumänische Agrargesetz
o-ebung im Hinblick aff .ihre Reform“ im Archiv für soziale
(jesetzgebung und Statistik. II, 1889, S. 74 ff.
No. 5.
sozi ai. p< n.mscHES ckntkai.blatt.
61
und kommunale Besteuerung, sowie seine geringe wirt-
schaftliche Intelligenz mussten ihn in immer grösseres Elend
bringen. Er war und ist daher genöthigt, seinen Mehrbe-
darf dadurch zu decken, dass er vom Grossgrundbesitzer
Land pachtet, oder seine Arbeitskraft demselben gegen eine
Entlohnung in Geld verdingt. Der gutsherrliche Gross-
betrieb ist seinerseits auf billige Arbeitskräfte angewiesen,
und es ist nur natürlich, dass er diese sich so billig als
möglich zu verschaffen und zu erhalten sucht. Wo, wie
meist in der Walachei der Grossgrundbesitzer seine Güter
nicht in eigener Regie bewirthschaftet, ist das System der
Verpachtung gegen Ablieferung eines Theils des Ertrages
(aremda cu dijma) gebräuchlich, während sonst das Lohn-
vertragssystem vorherrscht.
Man ist nicht davor zurückgeschreckt, alle hierauf
Bezug habenden Verträge der Herrschaft des gemeinen
Rechtes zu entziehen und unter ein Sondergesetz zu stellen,
wogegen prinzipiell sicherlich nichts einzuwenden ist, da
besondere Verhältnisse einer besonderen Formulirung nicht
entbehren können. Aber das geltende Gesetz ist vielfach
im einseitigen Interesse der Grossgrundbesitzer geschaffen
und hat deshalb und besonders wegen der Art seiner
Durchführung und Anwendung sehr schädlich gewirkt. Das
hat freilich Rudolf Meyer (Heimstätten und andere Wirth-
schaftsgesetze, S. 247) nicht gehindert, in vollständiger Ver-
kennung der Sachlage, das Gegentheil zu behaupten.
Ueber die Form des Abschlusses und die Ausführung
der Agrarverträge enthält das Gesetz von 1882 folgende
Bestimmungen :
Die in Artikel I genannten Verträge können nur von
dem Landarbeiter resp. Bauer persönlich und demjenigen,
der die Güter auf eigene Rechnung bewirthschaftet resp.
dessen Bevollmächtigten abgeschlossen werden; sie müssen
die genaue Angabe des Vertragsgegenstandes, den Preis
und die Art der Arbeiten, sowie die Zeit der Erfüllung,
dürfen dagegen weder Strafklauseln noch die Uebernahme
von Solidarverbindlichkeiten enthalten und sind von der
Behörde der Gemeinde, wo sie abgeschlossen werden, bei
sonstiger Nichtklagbarkeit zu legalisiren und zu registriren
(Art. 2, 3, 4).
Nur die Gemeindebehörde des Domizils des kontrahi-
renden Arbeiters ist zur Legalisirung und Registrirung der
von diesem geschlossenen Agrarverträge kompetent Das
hindert jedoch den Abschluss von solchen auch in anderen
Gemeinden nicht. Nur bedarf es hierzu eines domizilbe-
hördlichen Zeugnisses, dass der Kontrahent sich in seinem
Wohnorte zu keinen ähnlichen Arbeiten oder nicht für eine
Zeit verpflichtet habe, dass ihm die Ausführung seiner
neuen Verpflichtung unmöglich würde. Die Ausseracht-
lassung dieser Vorschrift hat die Ungültigkeit jener Verträge
zur Folge, aus denen Dritten Schaden erwachsen würde
(Art. 5 und 7).
Die in Artikel 1 a genannten Verträge dürfen nur für
höchstens 2, die andern nur für höchstens 3 Agrarjahre,
d. h. eine vom I . März bis zum nächstfolgenden letzten
Februar reichende Wirthschaftsperiode geschlossen werden.
Die Erfüllung darf nur in dem Orte, für welchen sie ab-
i geschlossen und nur in Betreff der im Vertrage enthaltenen
Arbeiten verlangt werden. Auch darf eine Cession des
Anspruches nur an den Nachfolger in der Bewirthschaftung
des Gutes stattfinden (Art. 8 und 9).
Diejenigen, welche die Güter bewirthschaften (Eigen-
thümer oder Pächter) sind verpflichtet, am Ende einer jeden
Jahreskampagne die Arbeiter auszuzahlen und bis zum
folgenden 1. März auf der Gemeindekanzlei ein Verzeichniss
ihrer restlichen Geld- oder Arbeitforderungen aus Agrar-
verträgen zu hinterlegen. Sie sind jedoch weder berech-
tigt, den Arbeitern für geleistete Arbeiten schuldige Beträge
aut Grund einer Gegenforderung zurückzuhalten, noch eine
| Schuld, die aus andern als den im Gesetze genannten
' Agrararbeiten herstammt, in einen Agrar-Vertrag umzuwan-
| dein. Ausgenommen ist jedoch der Fall, dass es sich um
fällige und liquide Forderungen aus Darlehen zur Anschaf-
fung von Vieh handelt (Art. 17—19).
Die obenerwähnte Abrechnung soll, wenn ein Theil
dieselbe verweigert, über Anzeige des andern mit Verbind-
lichkeit für beide, vom Gemeindevorstand gepflogen werden
und von dessen Entscheidung innerhalb 14 Tagen der
Rechtszug an das Bezirksgericht gehen (Art. 20).
Die Restforderungen des Gutsbesitzers an Geld oder
Arbeiten sind nicht verzinslich. Die Arbeiter können sich
zur Nachleistung der nicht ausgeführten Arbeiten im
nächsten Jahre verbinden, oder dieselben mit dem vertrags-
mässigen resp. zur Zeit, da sie hätten geleistet werden
sollen, gewöhnlichen Arbeitslohn ablösen. Die betreffende
Erklärung hat, wenn sie von der Gemeindebehörde legali-
sirt wurde, die volle Beweiskraft einer öffentlichen Ur-
kunde (Art. 21).
Wird die Arbeitsleistung aus einem vom Willen beider
Theile unabhängigen Grunde unmöglich, so trifft die Ge-
fahr den Arbeiter, d. h. er muss die Arbeit nachleisten
(Art. 29).
Das Gesetz enthält auch eine Reihe von Vorschriften
über die zwangsweise Durchführung von Agrarverträgen.
Dieselbe hat durch den Bürgermeister oder dessen Adjunk-
ten zu geschehen. Verweigert der Arbeiter trotz ge-
schehener Aufforderung, die Leistung der vertragsmässig
geschuldeten Arbeiten, so ist der Arbeitgeber berechtigt,
unter Zuziehung des Bürgermeisters und in Gegenwart
eines . Gemeinderath es andere Arbeiter auf Rechnung des
Vertragsbrüchigen aufzunehmen, resp. den letzteren für
allen Schaden haftbar zu machen. Zur Hereinbringung
des Schadens kann er auf das gesammte schuldenfreie Ver-
mögen — mit Ausnahme des durch das Agrargesetz von
1864 erworbenen Grundeigenthums, sowie der anderen ge-
setzlich exekutionsfreien Sachen — Exekution führen. Dem
Arbeiter steht im Falle der Nichtzahlung des Lohnes das
gleiche Recht gegen den Arbeitgeber zu. (Art. 24, 25, 27).
Jedenfalls müssen dem ersteren — zur Besorgung seiner
eigenen Wirthschaft — 2 Tage in der Woche (Freitag und
Samstag) freigelassen werden (Art. 26).
Wo Verpachtung gegen Ablieferung eines Theils des
Ertrages vereinbart wurde, ist längstens innerhalb 10 Tagen
nach Vollendung der Ernte zur Feststellung des letzteren
zu schreiten und diese ohne Unterbrechung zu Ende zu
führen — nöthigenfalls durch den Bürgermeister und zwei
Gemeind er äthe, wenn einer der Kontrahenten seine Mit-
wirkung versagen sollte (Art. 30). Im Falle von Streitig-
keiten über das Ausmaass der den Landarbeitern in Pacht
gegebenen Grundstücke hat der Bürgermeister dasselbe
richtig zu stellen.
In Streitfällen über die Höhe der Arbeitslöhne, wo
dieselben nicht vertragsmässig feststehen, sollen die jährlich
von den Generalräthen aufzustellenden Lohntarife ent-
scheiden (Art. 23).
Rechtsstreitigkeiten aus Agrarverträgen sollen von
den ordentlichen Gerichten summarisch und gebührenfrei
verhandelt werden (Art. 32). Alle Ansprüche aus Agrar-
verträgen verjähren innerhalb 2 Jahren vom Zeitpunkt der
Abwicklung an gerechnet.
Wie sich nun die Anwendung des vorstehend skizzirten
Gesetzes in der Praxis gestaltet hat, in welchen Punkten
eine Reform desselben unumgänglich nothwendig erscheint,
und wo die Carp’schen Reformversuche einsetzen, werde
ich in einem nächsten Artikel ausführen.
Wien. Carl Grünberg.
Zahl der industriellen Arbeiter in Russland. Der Fabrik-
inspektor des Warschauer Kreises W. Swjatkowsky hat in seinem
kürzlich erschienenen umfangreichen Werke „Fabrikhygiene“ sehr
viele statistische Daten über die Lage der Arbeiter und die Ver-
hältnisse in den Fabriken gesammelt; unter anderem finden wir
in dem Werke eine Schätzung der Zahl der Arbeiter in den
russischen Fabriken und Hüttenwerken, die darnach eine Million,
d. i. mehr als 1 % der Gesammtbevölkerung Russlands, beträgt.
Andrejew schätzt die Zahl der Kustari (Arbeiter in der Haus-
industrie und im Hausfleisse) auf 7 Vs Millionen: wenn man hierzu
die Vä Million Arbeiter in den handwerksmässigen Betrieben der
62
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 5.
russischen Städte nach der Schätzung von Prof. Iwanjukow hin-
zurechnet, so erhalten wir 9 Millionen industrieller Arbeiter in
Russland, welche Zahl ca. 9% der Gesammtbevölkerung Russ-
lands entspricht. Deshalb hat Swjatkowsky vollständig Recht,
wenn er behauptet, dass die Gewohnheit, Russland als ein rein
ackerbautreibendes Land zu bezeichnen, nun nicht mehr den
Thatsachen entspricht.
Arbeiterzustände.
Die königliche Kommission über die Arbeiterfrage
in England.
Die moderne Sozialwissenschaft und die Gesellschaft
verbindet ein steigendes gemeinsames Interesse an der
Lösung einer bedeutsamen Frage: das Problem, wie man
am besten die Erforschung der Bedürfnisse des Volkes
organisiren könne, ist zu einem brennenden geworden. Die
Wissenschaft bedarf seiner Lösung, denn nur an der Hand
einer verlässlichen Beobachtung vermag sie zu einer un-
parteiischen Einsicht in das Walten jener Mächte zu ge-
langen, welche auf den Bestand, die Ausbreitung, oder die
Umwandlung und den Niedergang einer Gesellschaft von
bestimmendem Einflüsse sind. In ihren bedächtig ge-
wonnenen Ergebnissen liegt das Heute wie das Morgen
eingebettet, und je genauer sie mit den kleinsten Details
des Wirthschaftslebens bekannt ist, desto besser vermag
sie der Zukunft die Wege zu weisen. Aber noch dringender
bedarf der moderne Staat allseitiger Aufschlüsse über die
Lao-e derjenigen, deren Nähr- und Wehrkraft die Grundbe-
bedingungen seines Bestandes bildet. Die Einsicht, dass
diese öffentliche Kontrolle der \\ irksamkeit des Staates aut
sozialpolitischem Gebiete zur Nothwendigkeit geworden sei,
bedeutet einen grossen Umschwung der öffentlichen Meinung.
Die einzige Frage richtet sich heute nach den zweck-
mässigsten Werkzeugen der sozialen Erkenntniss.
In einer Zeit, in welcher die Deutsche Reichsregierung
zur Schaffung einer Arbeitsstatistik zu schreiten im Be-
griffe steht, ist es vielleicht angemessen, nochmals die Vor-
theile und Nachtheile jener Einriehl ungen zu erörtern,
welche in England und Amerika seit langer Zeit mit dieser
Aufgabe betraut sind. Enquete oder Arbeitsamt? Das ist
die Frage, die in der nächsten Zeit wird ausgetragen
werden müssen. Vielleicht vermögen die Erfahrungen,
welche man aus dem Verlaufe der im verflossenen Früh-
jahre eingesetzten Royal Commission on Labour schöpfen
wird, einen neuen Beitrag zu ihrer Lösung zu liefern.
Der Anlass der Einsetzung dieser königlichen Kom-
mission, die erst nach den Neuwahlen ihre Verhandlungen
schliessen wird, ist sowohl in den Ereignissen der letzten
Jahre, als in den Wandlungen der Parteipolitik zu suchen.
Seit dem Dockerstrike in London ist die Ausstandsbewegung
nicht zur Ruhe gelangt. Der Schottische Eisenbahnstrike,
die Ausstände der Docker in Cardiff, der Omnibusbe-
diensteten in London, die Achtstundenbewegung in der
Grossindustrie waren für Politiker und Unternehmer die
Hauptelemente der Beunruhigung. Schliesslich bewog die
Nähe der Parlamentswahlen alle grossen Parteien, sich der
immer schwerer wiegenden Stimme der Arbeiter zu ver-
sichern. Kaum hatte die Opposition das Schlagwort der
Unentgeltlichkeit des Elementarunterrichtes ausgegeben, so
bemächtigten sich seiner die Regierungsparteien und noch
im Sommer wurde Free Education zur Thatsache. Kaum
regte Mr John Morley, das ehemalige Mitglied des Glad-
stone’schen Cabinets, die Einsetzung einer gewerblichen
Untersuchungskommission an, so kam auch d e m die Re-
gierung zuvor; sie setzte eine „königliche Kommission“ e.n,
die nicht gleich parlamentarischen Ausschüssen durch die
Ausschreibung der Neuwahlen eo ipso aufgelöst wird. Sie
macht es daher konservativen Kandidaten möglich, bei ge-
fährlichen Fragen nach ihrem sozialpolitischem Bekennt-
nisse ihre Interpellanten auf die künftigen Beschlüsse der
Loyal Commission zu vertrösten.
Soweit das politische Manöver, das bereits einige
Verbände der Bergarbeiter und Gasstoker veranlasst hat,
der Arbeitsenquete fern zu bleiben. Zu diesem Nachtheile
gesellt sich ein zweiter: die Kommission verhört ausnahms-
los, nebst Inspektoren, Industriellen u. a., Mitglieder oder
Beamte der Gewerkvereine. Nun ist es ja gewiss, dass
gerade diese Beamten mit ihrer beispiellosen Erfahrung
und Sachkenntnis nicht nur den Unternehmern sondern
auch dem Staate gegenüber die Interessen der unionistischen
Arbeiter am besten zu vertreten wissen. Aber um einen
Einblick in die Gesammtlage der englischen Arbeiter zu
gewinnen ist der, wie es scheint, geflissentliche Ausschluss
der nichtorganisirten Arbeiter zu bedauern. Aus einer ein-
seitig veranlagten Untersuchung können nur einseitige Ei-
gebnisse hervorgehen.
Dagegen vei mag die Royal Commission ziemlich reich-
haltigen ^Aufschluss über die Interessen der organisirten
Arbeiterschaft zu bieten; ja man vermag in ihren Mit-
gliedern und manchen Zeugen jene Elemente zu erblicken,
welche in der weiteren Entwicklung des Verwaltungslebens
dem Staatsgefüge werden einverleibt werden müssen. An
manchen Mitgliedern, wie an Mr. Gerard Balfour und Pro-
fessor Marshall bewundert man die Kunst, mit welcher sie
in die Geheimpolitik mancher Gewerkvereinsführer einzu-
dringen und den innigen Zusammenhang allgemein wirth-
schaftlicher und sozialpolitischer Fragen darzuthun im
Stande sind. Die nüchterne, parteilose und doch so lebendige
Behandlung der geschäftlichen Interessen der Arbeiterschaft
fesselt jeden Leser der Verhandlungsberichte Nur wo das
Recht der freien Meinungsäusserung in politischen Dingen
so unbeschränkt ist, wie in England, vermag eine Enquete _
als Sprachrohr der wirtschaftlichen Interessen der arbeiten-
den Klasse zu dienen.
Der Apparat, der zu diesem Zwecke in Wirksamkeit
gesetzt wurde, ist ein ziemlich einfacher. Die Regierung
betraute den Führer der unionistischen Liberalen, Marquis
of Hartington (jetzt Duke of Devonshire) mit dem Vorsitze.
Ein vorbereitendes Komitee theilte zunächst die zu unter-
suchenden Gewerbekategorien in drei Gruppen ein. Zur
ersten, unter dem Vorsitze Mr. David Dales tagenden
Gruppe A gehören die Arbeiter der Berg- , Eisen-,
Maschinen-, Metall-, Schiffbau- und verwandter Industrien.
Die zweite Gruppe B (Präsident: Earl of Derby) umfasst
das Verkehrswesen und die Landwirthschäft ; zu dem |
ersteren zählen die Eisenbahn-, Schiff- und Kanalfahl t-,
sowie die Tramwaybediensteten. In der dritten Gruppe C
werden endlich von Mr. Mundella und den übrigen <
Kommissionsmitgliedern die Arbeiter der I extil-, Kleider-,
Chemikalien-, der Baugewerbe und anderer Branchen
vernommen. Für jede Gruppe sind besondere Kommissäre
ernannt worden; doch ist es jedem derselben unbenommen,
sich aus der ihm zugewiesenen Abtheilung in eine andeie
zum Zwecke der Fragestellung zu begeben. Auch die
Fragesteller werden, soweit sie an der Spitze einer Arbeitei -
oder Unternehmerkorporation stehen, nicht selten vei-
hört. Die Arbeiter sind in keiner Gruppe unvertreten ,
in Gruppe A sind ihre Deputirten Mr. W. Abraham und
Thomas Burt, in Gruppe B der bekannte Maschinenbauer
Mr. Tom Mann, in Gruppe C der Sekretär des Gewerk-
vereins der Baumwollspinner Mr. Mawdsley. Mr. John
Burnett, der bekannte Arbeitskorrespondent des Handels-
amtes, leitet, von einigen Juristen unterstützt, das Schrift-
führeramt. Es ist die Aufgabe dieses letzteren, die zur Aus-
sage geeigneten Personen hierzu aufzufordern; er versendet
an dieselben die für jede Gruppe verschieden abgefassten
Fragebogen. Die schriftliche Beantwortung derselben bildet
eine Art Vorprotokoll, das bei den späteren Kreuz- und
Querfragen vor der Kommission sowohl den Kommissären
als den Befragten zur Grundlage dient.
Es wird in folgenden Artikeln der Versuch gemacht
werden, das Wesen der Fragestellung und die Hauptergeb-
nisse der Kommissionsberichte in gedrängter W eise zu I >e-
leuchten. Nur eines mag noch hier hervorgehoben werden.
So dankenswerth die Billigkeit und Zugänglichkeit der
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT
63
; No. 5.
Sitzungsberichte sein mag — sie kosten nur 2 Pence per
Stück (bis jetzt, 17. Juni bis 11. Dezember 1891 sind 50
Sitzungen abgehalten worden), so bedarf es keiner geringen
Mühe, die oft widersprechenden Aussagen zu vergleichen,
über die Wünsche der Einvernommenen ein bestimmtes
Urtheil zu fällen, und den richtigen Massstab an die Zuver-
lässigkeit ihrer statistischen Angaben anzulegen. Es wird
eines grossen Aufwandes von Privatarbeit bedürfen, um
den Schlussbericht der Kommission zu verfassen, bis zu
welchem noch längere Zeit verstreichen dürfte. Vielen,
welchen die Erkenntniss der Arbeitsverhältnisse am Herzen
liegt, scheint es, als ob eine natürliche Arbeitstheilung und
Arbeitsvereinfachung auch in England anzustreben wäre.
Arbeitsstatistische Aemter, mit der Verarbeitung des lokal
und persönlich erhobenen Materiales betraut, und ständige
Arbeiterkommissionen, die in steter Berührung mit den
arbeitenden Klassen stehend, die sozialpolitischen Aufgaben
der Enquete übernehmen und die öffentliche Meinung be-
lehren würden, — das scheint auch in England im Schosse
der Zukunft zu liegen.1)
Wien. Stephan Bauer.
Die Kinderarbeit in Frankreich.
[Wenige Jahre nachdem England ein Gesetz zum
Schutze der in Fabriken beschäftigten Kinder erlassen
hatte, traf auch Frankreich Vorkehrung, die in Fabriken
und Hüttenwerken mit mechanischen Motoren und fort-
währender Feuerung oder in gewerblichen Anstalten mit
mehr als 20 Arbeitern thätigen Kinder nur unter bestimmten
Bedingungen arbeiten zu lassen. Wir wissen so gut wie
garnichts über die Ausdehnung, die die Kinderarbeit zu
jener Zeit genommen hatte, aber man geht kaum fehl,
wenn man ausspricht, dass es die höchste Zeit für den
Eingriff der Staatsgewalt war. Wenn Sismondi darüber
klagt, dass in den grossen Hauptstädten des Kontinents die
Arbeiter durch die Fabriken gezwungen würden, ihre Kin-
der vom zartesten Alter an mitarbeiten zu lassen, so hat er
| sicher an Paris nicht in letzter Reihe gedacht. Die Berichte
aber, die Villerme 1839/40 veröffentlichte, zeigten die Lage
der Fabrikkinder besonders in den eigentlichen Industrie-
gegenden in sehr trauriger Beleuchtung.
Ob das Gesetz von 1841 zunächst eine Verminderung
der Fabrikkinder herbeiführte, bleibe dahingestellt. Jedenfalls
wurden ihrer immer noch eine erhebliche Anzahl zu regel-
mässiger Thätigkeit herangezogen. Die über seine Wirk-
samkeit im Jahre 1867 veranstaltete Enquete wies nach,
dass in den dem Gesetze unterworfenen Fabriken 99 212
Kinder im Alter von 8 — 16 Jahren beschäftigt wurden. Dazu
kamen in den den gesetzlichen Bestimmungen nicht unter-
stehenden Anstalten 25 003 Kinder; im Ganzen waren mithin
124 215 Kinder in Fabriken thätig. Von diesen standen
6365 im Alter von 8 — 10 Jahren, 22 724 im Alter von 10 — 12
Jahren und 95 126 im Alter von 12 — 16 Jahren.
Für das damals noch französische Obereisass schätzt
Herkner die Zahl der Fabrikkinder im Jahre 1842 auf etwa
12 000, doch die Enquete von 1867 wies nur 8767 nach.
Was sich hier für den oberrheinischen Bezirk offenbart,
nämlich dass die Enquete die Zahlen zu niedrig griff, wird
offenbar auf ganz Frankreich ausgedehnt werden dürfen.
Da es an jeder sicheren Grundlage und Kontrolle für die
Angaben fehlt, werden die obigen 124 215 Fabrikkinder als
eine Minimalrechnung anzusehen sein.
Die hässlichen Zustände machten bekanntlich im Jahre
1874 ein neues Gesetz nothwendig. Die Zahl der Fabrik-
kinder war in der Zwischenzeit nicht unerheblich gewachsen.
Hatte man 1867 in den dem Gesetze von 1881 unterstehen-
den Fabriken 99 212 Kinder festgestellt, so war nunmehr
trotz der erfolgten Abtrennung des gewerbreichen Elsass-
L Vergl. Robert Donald Wanted, A Labour Departe-
ment. Contemporary Review, Dezember 1891. Prof. Munro in
Conrad’s Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik,
Januar 1892.
Lothringen ihre Zahl auf 108 889 gestiegen. Von diesen
unglücklichen Geschöpfen waren 12 357 weniger als zwölf
Jahre alt, und 96 532 standen im Alter von 12 16 Jahren.
Noch immer kam es vor, dass Kinder unter acht Jahren
zur Fabrikarbeit benutzt werden, wenn auch ihre Anzahl
nur 58 sein sollte.
Unter dem Schutz des neuen Gesetzes ist aber die
Kinderarbeit keineswegs zurückgedrängt worden, sondern
ist noch stärker angewachsen. Nur das eine scheint er-
reicht zu sein, dass Kinder unter 10 Jahren nicht mehr zur
regelmässigen Arbeit herangezogen werden. Im Uebrigen
weisen die von der oberen Kommission veröffentlichten
Jahresberichte1) folgenden Umfang nach.
Kinder unter
in den Jahren
10 — 12 jährige
12 — 16 jährige
16 Jahren
überhaupt
1889
1049
149 207
150 256
1890
1094
164 814
165 858
Zu diesen kommen noch die in den Waisenhäusern,
Zufluchtsanstalten und Arbeitssälen (orphelinats, maisons
de refuge, ouvroirs), wie sie sowohl von Laien als von geist-
lichen Körperschaften in’s Leben gerufen sind, beschäftigten
Kinder unter 16 Jahren. Nicht alle die einzelnen Berichte
der Fabrikinspektoren enthalten darüber Angaben; auch
sind die vorhanden Daten nicht im Generalbericht des Vor-
sitzenden der oberen Kommission zsammengefasst worden.
Durch Summirung der Einzelangaben gelangt man zu min-
destens 7053 in den bezeichneten Anstalten gewerblich be-
nutzten Kindern, von denen 3274 10— 12jährig, 2308 12 bis
15jährig, 929 15 — löjährig und 542 12 — löjährig2) sind.
Stellt sich auf diese Weise heraus, dass rund etwa
173 000 Kinder gewerblich beschäftigt sind, so will in Be-
tracht gezogen sein, dass diese Zahl eine Mindestangabe
ist. Denn die Berichte lassen nur den LTmfang der Kinder-
arbeit erkennen, die die Inspektoren in den von ihnen im
Laufe des Berichtsjahres besichtigten gewerblichen An-
stalten angetroffen haben. Alljährlich aber bleiben wegen
der räumlichen Ausdehnung der Bezirke eine Anzahl Fa-
briken unbesucht. So konnte, um einige Beispiele anzu-
führen, der Inspektor des neunten Bezirkes von 2321 vor-
handenen Etablissements nur 1 803, der des zehnten Bezirks
von 4081 nur 2425 in Augenschein nehmen. Mithin wird
die vorstehende Zahl der Fabrikkinder um einen gewissen
Betrag erhöht werden müssen, wenn man sich von der
ganzen Ausdehnung der französischen Kinderarbeit eine
zutreffende Vorstellung machen will.
Den besten Massstab zur Beurtheilung der Wichtig-
keit der Kinderarbeit gibt ihr Vergleich mit der Arbeit Er-
wachsener. Leider fehlt in dem Bericht des Inspektors des
15. Bezirks (Bordeaux) die bezügliche Angabe über die
Zahl der beschäftigten Erwachsenen und die Daten der
Inspektoren des 8. (Lille) und 17. Bezirks (Nimes) können
nicht benutzt werden, weil die in ihnen angegebenen Daten
über die*Z||hl der unter 16 jährigen Arbeiter im Widerspruch
zu denen in der Uebersicht C (Etat C) mitgetheilten stehen.
Lässt man diese Aufsichtsbezirke ausser Ansatz, so ergibt
sich die folgende Uebersicht über die Gruppirung der
Arbeiterschaft in den während des Jahres 1890 besichtigten
Fabriken Es wäre sehr wünschenswerth, wenn diese
ausserordentlich lehrreiche Aufrechnung in den nächsten
Berichten von der oberen Kommission selbst gemacht
werden würde. Es erhellt aus ihr, dass in ganz Frankreich
mindestens 11,6% aller Arbeiter im Alter von noch nicht
16 Jahren stehen. Einige der aus industriellen Departements
gebildeten Bezirke, wie der dritte, elfte, dreizehnte und
neunzehnte, überschreiten diesen Durchschnitt erheblich,
1) Der neueste betrifft die Inspektionsergebnisse des
Jahres 1890: Rapport sur l’application de la loi du 19. Mai 1874
et de la loi du 9. Septembre 1848 pendant l’annee 1890. Paris
1891. Imprimerie Nationale.
2) Diese Altersgruppe lässt sich nicht weiter zerlegen.
64
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 5.
während der Bezirk Marseille mit dem niedrigsten Relativ-
satz am besten wegkommt.
Aufsichtsbezirke
Kinder
im Alter
von 12 — 16
Jahren
Minder-
jährige
Mädchen im
Alter von 16
bis 21 Jahren
Erwachsene
Arbeiter
beiderlei
Geschlechts
Alle
Arbeiter
Von allen
Arbeitern
sind die
12 — 16 jähri-
gen Kinder
in %
1 . Paris
30 354
19 698
153 681
203 733
10,4
2. Versailles . . .
4 547
2318
32 332
39 197
11,5
3. Bourges ....
8919
5012
46 251
60 182
14,8
4. Dijon
1 900
833
19 418
22 151
8,5
5. Nancy
8 374
6 195
64412
78 981
10,6
6. Reims
5 668
3 274
40 708
49 650
1 1,4
7. Saint-Quentin
3 159
3 191
34 883
41 233
7,6
9. Amiens
9 379
4 893
75 352
89 624
10,4
10. Rouen
1 1 537
8 070
69 003
88610
13,0
1 1 . Caen
3 131
2 540
16421
22092
14,1
12. Nantes
6 592
4 435
43 719
54 746
12,0
13. Angers
4 284
3 087
24 363
31 734
13,4
14. Limoges . . . .
3 562
2 736
21 713
28 01 1
12,7
16. Toulouse. . . .
2 864
2 908
23 658
29 430
9,7
18. Marseille. . . .
4 449
4 922
60 206
69 577
6,3
19. Grenoble. . . •
5 953
9614
29 064
44 631
13,3
20. Lyon
3 306
3 635
24 039
30 980
10,6
21. Säint-Etienne .
11 346
13 027
102 575
126 948
8,8
Summa
129 324
100 388
881 798
1 111 510
11,6
Wieviel Kinder im Bergwerksbetrieb beschäftigt wer-
den, giebt unsere Quelle nicht an, die eine Gruppirung der
Arbeiter nach Industrien überhaupt unterlässt. Nach einer
auf der Berliner Arbeiterschutz-Konferenz gemachten An-
gabe waren 1887 noch 4504 Kinder im Alter von 12 16
Jahren unter Tage und 3482 Kinder über läge im Berg-
werksbetrieb angestrengt. Nach den Berichten der Inspek-
toren wurden im Jahre 1890 Kinder nur noch selten unter-
irdisch verwandt. Immerhin finden wir unter Anderem im
ersten Bezirk 132 Kinder im Alter von 12 16 Jahren in
dieser Weise thätig. Das Loos dieser Kinder ist kein be-
neidenswerthes. Sie kommen um 6 Uhr Morgens in die
Mine und verlassen sie um 4 Uhr Nachmittags, indem eine
Stunde für die Mahlzeit und eine Stunde für die f ahrt
hinauf und hinunter angerechnet werden.1) Ebenso scheinen
die bei der unterirdischen Gewinnung von Phosphaten im
sechsten Aufsichtsbezirke beschäftigten Kinder nach den
Andeutungen des Beamten, der im Jahre 1890 die Werke
nicht besuchen konnte, in sehr trauriger Lage sich zu be-
finden.2)
Auf diese Weise winkt auch in Frankreich der Gesetz-
gebung noch die hohe Aufgabe, für die Erleichterung des
schweren Looses der Arbeiterkinder lebhafter als bisher
einzutreten und es wäre zu wünschen, dass das Anfangs-
alter nicht nur für die eingeschulten, sondern für alle Kinder
mit 13 Jahren festgesetzt würde. Wie weit die schon seit
mehreren Jahren in Angriff genommenen Reformarbeiten
gegenwärtig gediehen sind, hat uns erst kürzlich an
dieser Stelle (No. 2 S. 24—25) ein ansprechender Artikel
des Herrn Raoul Jay dargethan.
Rostock. Wilhelm Stieda.
Statistik der Arbeiter und Beamten der preussischen
Staatsbahnen. Dem preussischen Abgeordnetenhause ging
der übliche Bericht über die Betriebsergebnisse der preussi-
schen Staatsbahnen im Jahre 1890/91 zu Demselben ist
über das Beamten- und Arbeiterheer dieses Riesenorganismus
Folgendes zu entnehmen. An Beamten waren 94 027 (gegen
88 639 im Vorjahre) vorhanden, und zwar 77 361 (72 896)
etatsmässige, und 16 666 (15 743) ausseretatsmässige; man
Hess also die Anstellung der letzteren in beschränkterem
Masse eintreten, als die' der ersteren, ein Weg, auf wel-
chem noch viel entschiedener fortgeschritten werden sollte.
Von der Gesammtzahl der Beamten kamen 89655 aut
die Betriebs-, 2263 auf die Werkstätten-, 36 auf die
') Rapport S. 93.
4) Rapport S. 33.
Gasanstalts- und 2073 auf die Neubauverwaltung. Die
Gesammtzahl der Arbeiter betrug 183 659 (166853), wovon
143900 auf die Betriebsverwaltung, 39481 auf die Werk-
stättenverwaltung und 278 auf die Gasanstalten entfielen.
Am meisten vermehrte sich gegen das Vorjahr (um 13,9°/,,)
die Zahl der Streckenarbeiter bei der Betriebsverwaltung.
Von den 2202 im Berichtsjahre beim Bahnbetrieb überhaupt
Verunglückten waren weitaus die Mehrzahl, nämlich 1764
Beamte und Arbeiter der Verwaltung, und zwar 310Getöd-
tete, somit 1454 Verletzte. Gegen das Vorjahr stieg die
Zahl der beim eigentlichen Betriebe gelödteten und ver-
letzten Beamten und Arbeiter sonach um nicht weniger als
21 %, während die Gesammtzahl der Arbeiter und Beamten
bei der Betriebsverwaltung lediglich um 9n/0 vermehrt
wurde. Dieses Verhältnis ist schon seit .einigen Jahren zu
beobachten und lässt auf Dienstverhältnisse schliessen,
deren Anstrengungen weit über die Kräfte der Beamten
und Arbeiter gehen, sonst könnte die Ziffer der Verunglück-
ten nicht so unverhältnissmässig steigen. Die Abstellung
dieses Missverhältnisses müsste die allererste Sorge der
preussischen Staatsverwaltung sein. Im Uebrigen fehlt auch
diesem Bericht jede brauchbare Lohn- und Arbeitszeitstatistik,
was noch mehr beklagt werden muss, als bei den amtlichen
Nachrichten über den staatlichen Bergwerks- und Hütten-
betrieb (vergl. Arbeiterverhältnisse in den preussischen
Staatsgruben in No. 4 des Sozialpolitischen Centralblattes),
wo immerhin eine relativ kleine Zahl von Beschäftigten
in Betracht kam, während auf dem Gebiete des Verkehrs
der preussische Staat der grösste Arbeitgeber in Deutsch-
land ist, folglich zur Offenlegung seiner Arbeiterverhältnisse
ganz besonders verpflichtet wäre.
Arbeitsverhiiltnisse bei den preussischen Staatsbahnen.
Die Arbeiter der Transportgewerbe gehören zu denjenigen
Arbeiterkategorien, die gleichzeitig unter dem Druck einer
übermässigen Arbeitslast und durchaus unzureichender
Löhne leiden. Es ist bekannt, dass nach dieser Seite die ■
La°*e speziell der Eisenbahnbediensteten sich nicht ver-
bessert hat, seitdem die preussischen Eisenbahnen in Staats- ,
besitz übergegangen sind, und dass bisher alle Klagen über
die traurige Lage dieser staatlichen Arbeiter wirkungslos
verhallt sind. In neuerer Zeit scheinen im Unterschied von i
anderen Staaten, die den Angestellten der Transportanstalten :
einen gesetzlichen Schutz energisch angedeihen lassen
(vergl. in der vorliegenden Nummer die Mittheilung über
den Arbeiterschutz bei dem schweizerischen Verkehrs-
o-ewerbe), die Verhältnisse bei den preussischen Staats- ;
Bahnen sich noch wesentlich zu verschlechtern. Man lese ;
die folgende Verfügung eines dem Erfurter Direktionsbezirk
ungehörigen Eisenbahnamtes, die unwidersprochen durch <
die^ Presse geht, und welche hiernach authentisch sein ;
dürfte
T No. 2. C. 568. I Behufs Erzielung von Ersparnissen <
werden die Vorsteher der Dienststellen angewiesen, sorgsam zu
prüfen, ob nicht zur Zeit mit Rücksicht aut den im allgemeinen
schwachen Verkehr Arbeiter entlassen werden können. Ist
dies der Fall, so sind zuerst die unzufriedenen Elemente zu be-
seitigen, die vorzugsweise auf Erhöhung der Lohnsätze hin-
wirken. Schon bejahrte Arbeiter, welche nicht mehr voll
leistungsfähig sind, können zwar ihren Leistungen entsprechend
weiter beschäftigt werden, es ist jedoch der Lohn demgemäss
zu verringern. — Auch auf Ersparniss im Verbrauch ^ on He-
leuchtungsmaterial ist Bedacht zu nehmen, namentlich daraut
zu halten, dass Gas- und Petroleumlampen nicht zu zeiti| an-
crezündet und nicht länger als unbedingt nöthig brennend ge-
halten werden. Innerhalb 14 Tagen erwarten wir Bericht, ob
und inwiefern dieser Verfügung nachgekommen ist Auch ist
anzuführen, wie alt der jüngste dort beschäftigte Arbeiter ist,
da wir beabsichtigen, ein Mindestmass von 18 Jahren für Arbeiter
vorzuschreiben; etwaige Bedenken hiergegen sind anzugeben. i
o-ez • ... An sämmtliche Herren Stationsvorsteher und V or-
steher selbständiger Güter- und Eilgutabfertigungsstellen.
Wir wollen heute den Inhalt dieser Verfügung nicht
cranz ausschöpfen und versagen uns die Charakteristik eines
Verhaltens, welches die legalen Bestrebungen der Arbeiter |
um die Erlangung besserer Lohnbedingungen ächtet, indem
es die sogenannten „unzufriedenen Elemente“ vor die 1 hüre
weist, welches bejahrte Arbeiter für ein m angestrengter
Arbeit zugebrachtes Leben mit der Herabsetzung ihres
Verdienstes belohnt und nach diesen beiden Beziehungen
eine wahre Ironie auf die staatlichen „Musteranstalten ,
der privaten Industrie mit einen zwar nicht nachahmens-
werthen aber ohne Frage eifrig nachgeahmten Beispiel
vorano-eht. Diesmal wollen wir nur darauf hinweisen, wie
Übel eine Politik wirken muss, die Ersparnisse dadurch zu
No. 5.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
65
erzielen sucht, dass sie in einer Zeit sehr schlimmen Noth-
standes und einer weit umsichgreifenden Arbeitslosigkeit in
den Staatsbetrieben zu Arbeiterentlassungen schreitet. Es
Wcäre der Situation wie der Stellung der Staatsverwaltung
weit angemessener, in einem Moment wie dem gegen-
wärtigen zur Ausdehnung ihrer Betriebe und zur Be-
schäftigung einer grösseren Anzahl von Arbeitern
zu schreiten. Die Verringerung der Löhne und die
Entlassung von Arbeitern erscheint um so unangebrachter,
als die Summe der dadurch erzielten Ersparnisse eine
o-eo-enüber dem Budget der Staatsbahnen verschwindend
Geringe ist. Will die Eisenbahnverwaltung angesichts der
verringerten Einnahmen Ersparnisse erzielen, so er öffnete
sich ihr ein weit geeigneterer Weg, wenn sie den bureau-
kratischen Charakter ihrer Verwaltung änderte. Die Um-
ständlichkeit des schriftlichen Verfahrens und der weit-
läufige Instanzenzug, dem, gleichgiltig ob es sich um Wich-
tiges oder Unbedeutendes handelt, jeder Gegenstand der
Eisenbahverwaltung unterliegt, verursacht enorme und zum
Theil sehr überflüssige Kosten. Hier könnte auch im Inter-
esse der Eisenbahnverwaltung selbst sehr wirksam gespart
werden, während die Entlassung von Arbeitern in jeder
Hinsicht Bedenken erregen muss.
Mangelhafte Ernährung von Arbeiterkindern. Wiederum
lie°'t aus Mayen am Rhein eine Nachricht vor, nach welcher
auf Veranlassung der dortigen Armenverwaltung an arme
Schulkinder im Hospital jeden Morgen je eine Tasse Kaffee und
ein Butterbrod und des Mittags ein Teller Suppe verabreicht
wird. Ferner wurde in der letzten Ausschusssitzung des Vereins
Knabenhort in Stuttgart mitgetheilt, dass die Zahl der Tami-
lien, welche armen Kindern in ihren Häusern Mittagskost ge-
währen oder den Verein durch Geldbeiträge in Stand setzen,
dieselben in Volksküchen zu speisen, 353 beträgt. Da aber die
überwiegende Mehrzahl der bisher versorgten Kinder nicht
durch andere ersetzt werden, sondern eine länger dauernde
Fürsorge für dieselben geboten ist, so konnten bis jetzt von
den im Jahre 1891 dem Ausschuss bekannt gewordenen bedürf-
tigen Ferienkolonisten und sonstigen armen Schulkindern nur
wenige berücksichtigt werden und es mussten noch mehr als
150 Kinder auf später vertröstet werden. Dabei wird an-
erkannt, dass wenigstens dem dringendsten Bediirfniss ent-
sprochen und einer weiteren Anzahl Kinder bei der strengen
Winterkälte die so nothwendige warme Mittagskost wenigstens
an 1—2 Wochentagen verschafft werden muss.
Arbeitslosigkeit. Authentische Nachrichten über die
gegenwärtige Beschäftigungslosigkeit von Arbeitern in Deutsch-
land liegen weiter aus folgenden Bezirken vor. In Krefeld
berichtete der Oberbürgermeister der Stadtverordnetenversamm-
lung am 21. d. M., dass von den 65 000 Mk., welche zur Beschäf-
tigung von Arbeitslosen bewilligt wurden, 63 500 Mk. verbraucht
seien, so dass ein abermaliger Kredit erforderlich sei. Die Ver-
sammlung bewilligte einen solchen von 10 000 Mk., nachdem
zur Kenntniss gebracht worden war, dass die Zahl der Arbeits-
losen seit 30. November v. J. von 452 auf 401 gesunken sei; von
den 401 Personen sind 299 Weber. Der Wohlthätigkeitsverem
in Köln a/R. theilt der Presse mit, dass sich die Arbeitslosen
neuerdings ,,schaarenweise“ bei ihm meldeten. Ein Vorrath
von 220 000 Pfund Kartoffeln, der im November v. J. angeschafft
wurde, sei längst aufgebraucht; in der Suppenanstalt werden
täglich 1500 Liter unentgeltlich und 150 Liter für 10 Pfg. ver-
abreicht. Man soll nicht annehmen, der Verein handle „zu weich-
herzig“, denn täglich würden „unverschämte Bettler abgewiesen“.
Die Kleiderkammer sei auch gänzlich geräumt Die täglichen
Ausgaben für Brod und Suppe betrugen 300 — 350 Mk. Auch in
Solingen, wie in Wald und Höhscheid mehren sich die
Anmeldungen Arbeitsloser bei den Behörden, die ihnen Arbeit
verschaffen sollen, und in Höhscheid wie auch in Wald ist das
Armenbudget für das laufende Etatsjahr schon überschritten
bezw. erschöpft. So viel als möglich werden die Arbeitslosen
an Wegebauten und für Strassenarbeiten u. _s. w. verwandt;
aber alle diese Hilfsmittel reichen bei weitem nicht aus, um alle
die Arbeitsuchenden ausgiebig mit Arbeit und Verdienst zu
versorgen. Ferner stand in Erfurt auf der Tagesordnung der
letzten Stadtverordneten-Versammlung : „Bewilligung von Kosten
zur Beschäftigung brotloser Arbeiter“. In Anbetracht des
wirklich bestehenden Nothstandes bewilligten die Stadtverord-
neten gegen 17 000 Mk. Die Arbeiter — nur Familienväter —
nehmen Arbeiten vor, welche im Interesse der Stadt über kurz
oder lang doch hätten vorgenommen werden müssen. Bis
.Montag, den 18. Januar hatten 170 Mann Beschäftigung. An
diesem Tage beschloss die Nothstands-Kommission, noch weitere
80 Arbeiter anzunehmen, so dass nunmehr die Zahl derselben
auf 250 gewachsen ist. Die Leute, welche für die Stunde
Arbeitszeit 20 Pfg. erhalten, verdienen einen Tagelohn von 1 Mk.
80 Pfg.
Ländliche Arbeiterverhältnisse. In einem Vortrag, den
Professor Sering - Berlin im „Club der Landwirthe“ über die
Ergebnisse der Ansiedelung von Bauern und Arbeitern auf
Privatgütern in den östlichen Provinzen auf Grund persönlicher
Beobachtungen und Erfahrungen hielt, fällte er ein scharfes Lr-
thcil über manche Versuche, wie sie seitens grösserer Grundbesitzer
eingestellt worden sind, um Arbeiter auf kleinen Kentengüti rn
sesshaft zu machen. Die Bedingungen, unter denen dies ge-
schehen, sind so ungeheuerliche, dass die betreffenden Arbeiter
in eine förmliche Leibeigenschaft gerathen sind, und schon um
deswillen, wie Redner ausführte, für den Gutsherrn weit weniger
leisten, als dessen freie Arbeiter, weil sie viel schlechter genährt
sind, als diese. Die gutsherrlichen Gründer solcher Arbeiter-
kolonien scheinen noch sehr wenig von der Gährung bemei kt
ZU haben, welche in Arbeiterkreisen herrscht, und ihre Werke
Hilden eher eine soziale Gefahr, als einen sozialen Fortschritt.
Weit erfreulicher ist nach der Meinung des Vortragenden das
Bild, welches die bäuerlichen Kolonisationen darbieten, wie er
sie namentlich im Kreise Kolberg-Köslin in Pommern ange-
troffen hat.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Das Programm des deutschen Gewerkschaftskongresses.
Bekanntlich tritt am 14. März der Kongress der deut-
schen Gewerkschaften in Halberstadt zu sehr bedeutsamen
Verhandlungen zusammen. Kurz präci'sirt ist die Aufgabe des
Kongresses: die bisher getrennt operirenden Gewerkschaften
zu einem einheitlichen Vorgehen zusammenzuschliessen.
Damit ist wohl gesagt, in welchem Rahmen sich die Verhand-
lungen des Kongresses bewegen werden, es bleibt jedoch
festzustellen, um welches Ziel es sich handelt und welche
Mittel zur Erreichung desselben angewendet werden sollen.
Hier muss man sich zunächst den Charakter der ge-
werkschaftlichen Bewegung Deutschlands vergegenwärtigen.
Die Vertreter der Gewerkschaftsorganisationen, welche zu
diesem Kongress zusammentreten, stehen im Gegensatz zu
den sogenannten Hirsch-Duncker’schen Gewerk vereinen aut
dem Standpunkte, dass die Gewerkschaftsbewegung und
Organisation nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel sei, um
die Sozialisirung der Produktion vorzubereiten. Wähl und
die Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereine die heutigen Pro-
duktionsverhältnisse anerkennen und sie weder zu ändern,
noch zu beseitigen wünschen und der Ansicht sind, durch
die Organisation der Arbeiter könne deren volle Gleichbe-
rechtigung in der heutigen Gesellschaft errungen werden,
vertreten die Gewerkschaften die Ansicht, dass eine ma-
terielle Gleichberechtigung und eine Garantie für eine, be-
friedigende Existenz der Arbeiterklasse von der heutigen
Gesellschaft nicht zu erreichen ist. Danach muss man zu
dem Schluss kommen, dass, wenn auch die Organisation der
Gewerkschatten der Form nach den Gewerkvereinen ähnelt,
doch die Differenz in der prinzipiellen Auffassung eine der-
artig grosse ist, dass eine Annäherung dieser beiden Orga-
nisationen nahezu undenkbar erscheint. Die Gewerkschaften
haben daher auch eine andere Kampfesweise als die Ge-
werkvereine. Diese legen das Schwergewicht aut das Unter-
stützungswesen, während jene den Lohnkampf in den
Vordergrund stellen und gleichzeitig bestrebt sind, durch
geeignete Agitation die Arbeiter zum Klassenkampf zu
erziehen.
Im Uebrigen hat sich in den Arbeiterkreisen die
Ansicht über die Bedeutung der gewerkschaftlichen Bewe-
gung in neuerer Zeit erheblich verändert. Die früher viel-
fach vertretene Aulfassung, dass die T hätigkeit dei Gewerk-
schaften durch die politische Arbeiterbewegung vollkommen
überflüssig gemacht werde, ist auch in den Kreisen der
sozialdemokratischen Arbeiter fast gänzlich fallen gelassen.
Man ist nicht nur zu der Ueberzeugung gekommen, dass
die Gewerkschaften die Arbeiterklasse vor \ ersumpfung
und Verelendung bewahren können, sondern man lernte
auch einsehen , dass die Gewerkschaften insbesondere
diejenigen Schichten der Arbeiterbevölkerung zu gewinnen
vermögen, welche dem politischen Leben und der politischen
Thätigkeit verständnislos gegenüberstehen. Die Kampfes-
mittel der Gewerkschaften sind folgende; 1. Erringung
No. 5.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
66 -
besserer Lohn- und Arbeitsbedingungen durch den Stnke;
2. die Agitation unter den nichtorganisirten und für die
Theilnahme am öffentlichen Leben noch nicht gewonnenen
Arbeitern; 3. die Klarstellung der Lage der Arbeiter durch
die Aufstellung von Statistiken
Alle Gewerkschaften sind bisher in diesem Sinne
thätig gewesen, doch hat die Erfahrung gelehrt, dass die
Lohnkämpfe gegenüber dem sich gleichfalls orgamsirenden
Unternehmerthum und bei der ungeregelten Unterstützung
seitens der anderen Gewerkschaften von den einzelnen
Berufsorganisationen nicht wirksam geführt werden können.
Es ist bisher bei den Kämpfen der Gewerkschaften seitens
der oro-anisirten Arbeiter immer hilfreiche Hand geboten
worden, aber diese Hilfe konnte nicht ausreichend sein, weil
sie ohne systematische Organisation war und sich deshalb
den Bedürfnissen nicht anzupassen vermochte. Der Gewerk-
schaftskongress soll eine Regelung nach der Richtung her-
beiführen, dass die verwandten Berufsorganisationen sich
durch Kartellverträge zu Unionen Zusammenschlüssen. Mit
dieser Verbindung würden dann bei allen Ausständen
sämmtliche Mitglieder der betheiligten Organisationen gleich-
mässig zur Unterstützungsleistung herangezogen werden,
und zwar wird die Höhe der Unterstützung sich nach dem
Bedürfniss richten, so dass bei allen Strikes die Sicherheit
geboten wäre, dass die erforderlichen Mittel aufgebracht
werden. Trotz dieser Garantie würde aber dennoch nur
eine verhältnissmässig geringe Belastung dei einzelnen Mit-
glieder eintreten, weil die Zahl der tür den Ausstand Steu-
ernden durch die Verbindung der Berufsorganisationen be-
deutend erhöht wird. Um auch für den Fall gerüstet zu
sein dass eine solche Union in einen Ausstand zu treten
gezwungen ist, welcher eine die Mitglieder sehr stark be-
lastende Ausdehnung annimmt, soll als Bindeglied zwischen
den Unionen eine Kommission eingesetzt werden, welche
die Befugniss erhält, in solchen Fällen die gesammten orga-
nisirten Arbeiter zur Beitragsleistung heranzuziehen.
Auch die Agitation ist stets von den einzelnen Orga-
nisationen eifrig betrieben worden, und für ihren Zweck
sind in manchen Gewerkschaften enorme Mittel verwandt
worden. Da aber die einzelnen Vereinigungen ohne alle
Fühlung mit verwandten Berufsvereinen die Agitation
leiteten, wurden häufig nicht die Erfolge erzielt, welche
erreichbar gewesen wären, wenn die Agitation tür eine
bestimmte Industriegruppe gemeinsam betrieben worden
wäre. Der Gewerkschaftskongress soll nun eine Regelung
der Agitation dadurch herbeiführen, dass er Einrichtungen
schafft, welche die Agitation für die verwandten Berufs-
zweige von einer Zentralstelle, der Unionsleitung, ermög-
lichen würde. Auch hier soll eine Theilung der Arbeit in
der Form eintreten, dass die Agitation unter den Berufen
und in den Gegenden, in denen die Arbeiter noch nicht
organisirt sind, der als Bindeglied zwischen den Unionen
stehenden Kommission zufällt. Bei der Betreibung dieser
Agitation durch die erwähnte Kommission soll mit Rück-
sicht auf die für alle Berufe gleichmässige Bedeutung der
Agitation unter den unorganisirten Massen dieselbe auf
Kosten der gesammten organisirten Arbeiterschaft statt-
finden. Eng verbunden mit dieser mündlichen Agitation
ist diejenige durch die Fachpresse.
Auch die letztere bedarf einer Regelung. Es bestehen
heute fast für jeden einzelnen Beruf eigene Fachorgane, die
nur mit Aufwendung bedeutender Geldmittel hergestellt
werden können. Durch die Einrichtung eines Verbandsorgans
für die verwandten Berufsorganisationen werden bedeutende
Summen erspart werden können, und dennoch wird den
Mitgliedern der Gewerkschaften ein ausreichenderer und
besserer Lesestoff als gegenwärtig geboten werden. Die
hierdurch zu erübrigenden Summen werden vortheilhaft für
andere gewerkschaftliche Aufgaben verwendet werden
können.
Die Statistik liegt gegenwärtig bei den meisten Ge-
werkschaftsorganisationen noch im Argen. Es mangelt
einerseits in den einzelnen Organisationen an geeigneten
Kräften, um die statistischen Aufnahmen zweckmässig vor-
zubereiten, andererseits ist die Verwerthung des gewonnenen
Materials überaus unvollkommen. Die Aufstellung der
Statistiken ist aber eines der wirksamsten Kampfesmittel
der Arbeiterbewegung, und sind die Gewerkschaftsorga-
nisationen in erster Linie berufen und geeignet, die Statistik
zu pflegen.
Der Gewerkschaftskongress soll auch hier Besserung
schaffen, dadurch dass in Betreff statistischer Aufnahmen
für einen grösseren Kreis der industriellen Arbeiter einheit-
liche Einrichtungen getroffen werden, und die Zusammen-
stellung der in den einzelnen Berufsorganisationen ge-
wonnenen Resultate in der Unionsleitung erfolgt. Hier-
durch wird nicht nur der Mangel an geeigneten Hilfs-
kräften beseitigt, sondern es stehen dann auch grössere
Mittel zur Verfügung, um die Zusammenstellung dem Publi-
kum zugänglich zu machen. Ein einheitliches Bild von
der Lage der gesammten industriellen Arbeiterschaft soll
dadurch gegeben werden, dass die für die verschiedenen
Industriegruppen gewonnenen Resultate von der erwähnten
Kommission zusammengestellt werden. Ob dieselbe zu
diesem äusserst schwierigen Werke der Hinzuziehung ge-
eigneter, technisch gebildeter Kräfte bedarf, wird sich in
der Folge ergeben. Der Kongress soll zunächst einmal die
in den Organisationen jetzt schon vorhandenen Kräfte zu
gemeinsamer Arbeit zusammenziehen.
Das sind die Aufgaben, die des Gewerkschaftskongresses
harren. Ob sie in der vorstehend geschilderten Form ge-
löst werden, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden,
weil die Vorschläge, die in dieser Richtung gemacht wer-
den, sehr mannigfaltig sind. Indessen bewegen sich alle in
dem gezeichneten Rahmen. In allen Anträgen ist die An-
wendung der geschilderten Mittel mehr oder weniger be-
stimmt empfohlen. An den bisherigen Grundsätzen und
Zielen der Gewerkschaften festhaltend, drehen sich die
Meinungen nur darum, in welcher W eise die Mittel am ge-
eignetsten zu wählen sind.
Es ist klar, dass es äusserst schwierig sein wird, die
Meinungen vollständig auszugleichen, jedoch ist die '
Schwierigkeit nicht so gross, als viele Gewerkschafter
glauben, und sie ist bedeutend geringer, als die Gegner
der Organisationen annehmen. Die Gewerkschaften sind bis
jetzt, jede für sich, ihren eigenen Weg gegangen und
haben sich in Folge dessen in ihrer \\ irksamkeit .
verschieden entwickelt. Einzelne Organisationen haben
durch die Dauer ihres Bestehens nicht nur die,
Lage der Mitglieder zu heben vermocht, sondern
auch die Leistungsfähigkeit ihrer Mitglieder in Be-
zug auf die Höhe der Beitragsleistung bedeutend zu
steigern verstanden. Dagegen vermochten andere Gewerk-
schaften wegen der ungünstigeren Lage des betreffenden
Industriezweiges, oder der geringeren Intelligenz der Ar-
beiter desselben mit den Ersteren nicht gleichen Schritt zu
halten. Diese zum Theil starke Verschiedenheit in den
Leistungen wird zunächst Schwierigkeiten für eine einheit-
liche Verbindung bieten. Ferner ist aber auch die Meinung
der Gewerkschafter selber über die Art der Betreibung der
Agitation und der Aufklärung der Mitglieder verschieden.
Eine ganze Reihe von Vertretern der Gewerkschaften ist
der Ansicht, dass die Organisationen neuerdings eine poli-
tische Thätigkeit entfalten müssen, weil ohne dieselbe die
, Gewerkschaften zu reinen Kasseneinrichtungen werden
würden. Unter diesen Umständen, mit politischer I endenz
ausgestattet, würden die Gewerkschaftsorganisationen sich
lokalisiren müssen, weil die Vereinsgesetze in Deutsch-
land eine Centralisirung politischer Vereine nicht zulassen.
Die Frage ob Lokalorganisation oder Centralisation ist
eigentlich dadurch entschieden, dass immer mehr Stimmen,
sogar hervorragender Politiker, sich tür die letztere aus-
sprechen, ferner aber dadurch, dass die meisten der gewerk-
schaftlich organisirten Arbeiter in den Centralvereinen sind
Der Lohnkampf kann nur in den Centralorganisationer
wirksam geführt werden. Mehr noch aber ist der Erfolg dei
statistischen Aufnahmen von ihr abhängig. Der Meinungs-
austausch über diese Frage wird wohl auf dem Gewerk-
No. 5.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
67
schaftskongress ziemlich heftig werden, unter keinen Um-
ständen aber eine Vereitelung der gestellten Aufgaben
herbeiführen.
Den schwierigsten Punkt bildet die Vereinsgesetz-
gebung. Hier kommt zunächst in Betracht, dass es
in einzelnen Bundesstaaten Vereinsgesetze gibt, welche
nach dem klaren Wortlaut eine Centralisirung der Gewerk-
schaftsorganisationen unmöglich machen. Dann aber ist in
den Bundesstaaten, nach deren Vereinsgesetzen die gewerk-
schaftliche Centralisation zulässig ist, seitens der Behörden
und Gerichtshöfe eine solche Auslegung der Gesetze beliebt,
dass es auch hier möglich ist, den Centralorganisationen
Schwierigkeiten zu bereiten, ja sie völlig zu vernichten.
So bedauerlich eine solche Sachlage mit Rücksicht aut die
hohe kulturelle Aufgabe der Gewerkschaften ist, so muss
mit dieser Thatsache gerechnet werden und es wird des
ganzen Scharfsinnes, der grössten Ueberlegung der Ver-
treter auf dem Kongress bedürfen, um diese gesetzlichen
Klippen zu umschiffen. Die Lösung der Aufgaben des
Kongresses wird keine leichte sein, sie wird jedoch bei
dem anerkannt gesunden Sinne, den die organisirte deutsche
Arbeiterschaft sich bewahrt hat, erfolgen, und mit ihr wird
ein weiteres Stück Kulturaufgabe vollzogen werden.
Hamburg. C. Legien.
Der steirische Bergarbeiterstrike.
Der Ausstand im Köflach-Voitsberger Revier hat den
Ausgang genommen, den er angesichts des Verhaltens der
Behörden nehmen musste : Die Knappen sind unterlegen.
Zahlreiche Maassregelungen sind erfolgt, die Führer, welche
sich erfolgreich um die Aufrechthaltung der Ruhe bemüht
haben, wurden abgeschoben, einige Verhaftete harren
ihrer Verurtheilung. Noch im letzten Augenblicke wurde
Denjenigen, welche die Arbeiter zum Ausharren beim
Strike ermunterten, mit der Anklage wegen des Ver-
brechens der Störung der öffentlichen Ruhe gedroht. Ein
Knappe, der Subsidien ins Strikegebiet bringen wollte,
wird sonderbarerweise wegen Verbrechens des Betruges
verfolgt. Angesichts solcher Zustände ist es nur zu ver-
wundern, wenn der Ausstand erst nach dreiwöchentlicher
Dauer unterdrückt — der Ausdruck ist nicht bildlich zu
nehmen — werden konnte.
Während ich diese Zeilen schreibe, dürfte auch im
Trifailer Revier, in welchem das slavonische Element weit-
aus überwiegt, der Strike zu Ende gegangen sein. Ein
letzter Versuch, den die Arbeiter durch Entsendung einer
Deputation an den Ackerbauminister unternahmen, scheiterte
an der Weigerung des letzteren, ausständige Bergleute zu
empfangen. So erübrigt mir denn nur die Lage der
Knappen im Trifailer Revier, die von den im Ivöflach Voits-
berger nicht unwesentlich abweicht, hier darzulegen.
Von den ca. 19 Gruben gehören nur einige kleinere
Privatpersonen, alle übrigen sind Eigenthum der Trifailer
Gewerkschaft, einer Aktiengesellschaft. Bis zum 1. August
des Vorjahres war überall 2/s Belegung mit 12stündiger
Schicht und gelegentlichen U eberschichten üblich. Mit dem
gedachten Tage führte die Trifailer Gewerkschaft 3/H Bele-
gung sammt nomineller Achtstundenschicht ein. Die Ein-
fahrt begann für die erste Schicht um 7^6 Uhr Früh, für
die zweite um Uhr Mittags, für die dritte '/glO Uhr
Nachts. Da die Ablösung von dort erfolgen musste und
die Einfahrt, Ausfahrt, sowie der Weg zum und vom Ar-
beitsplätze für manche bis zu zwei Stunden währt, so
dauerte die Schicht in Wirklichkeit bis zu 10 Stunden.
Dazu kamen aber auch jetzt noch Ueberschichten bis zu
vier Stunden, welche keineswegs vom freien Willen der
Knappen abhängig waren, die vielmehr über Anordnung
der Werkleitung verfahren werden mussten. Endlich
| suchte man die nominelle Achtstundenschicht den Berg-
leuten dadurch unbequem zu machen, dass man den Zeit-
lohn, soweit er noch gezahlt wird, um ein volles Drittel
reduzirte.
Nur die Bremser, Schienenleger und Arbeiter über
Tage standen im Schichtlohne, für alle andern galt das Ge-
dingesystem. Der Gedingesatz wurde nach Angabe der
Arbeiter in der Weise fixirt, dass der Schichtmeister ein-
fach erklärte, wie viel er für das Metergedinge oder den
Wagenkasten zahle. Nur äusserst selten wurde das Ge-
stein behauen, so dass auch hier die wirklichen Verhält-
nisse ausser Betracht blieben. Neben dem auch ander-
wärts bekannten Nullen kommt in Trifail auch noch eine
Reihe weiterer Seltsamkeiten vor. Vor Allem wird jeder
Wagen, bei dem die Nummer während der Förderung in
Verlust geräth, der Kameradschaft unbarmherzig ge-
strichen. Ich glaube nicht, dass dieses Vorgehen in ge-
ringerem Maasse die Aufmerksamkeit des Strafgerichtes
verdient, als das Verhalten der Arbeiter. Nicht minder gilt
dies von dem in Verlust gerathenen und vom Knappen
wieder gefundenen Werkzeuge. Er darf dasselbe bei
Strafe nicht an sich nehmen, er erhält aber auch nicht den
Kaufpreis für das neuerhaltene Gezähe zurück. Vielmehr
muss er es im Magazine abliefern, so dass er leicht in die
Lage kommt, dasselbe Werkzeug der Gesellschaft mehrfach
zu bezahlen.
Was nun den Verdienst anbelangt, so soll die Mehr-
zahl der Häuer per Schicht auf höchsens 90 Kreuzer kom-
men, während nur etliche besonders geschickte junge
Knappen bis zu 1 Fl. 50 Kr. erhalten. Der „Grundlohn“
mit Prämie ist hier völlig unbekannt geworden und dem
reinen Gedingsystem gewichen. Die Förderer verdienen
bis zu 80 Kreuzer, Männer über Tage bis 70, Frauen 45
bis 50 Kreuzer.
Von dem Verdienste kommt der Beitrag für die
Bruderladen, das Oelgeld, die Auslagen für Pulver, sowie
die etwaigen Strafen in Abzug. Die letzteren sind keines-
wegs gering. Man zahlt bei Versäumen des Verlesens
20 Kreuzer, bei Versäumen einer Schicht 1 Fl., zweier
Schichten bis 2 Fl., für Verunreinigung 70 — 200 Kreuzer.
Selbst die gesetzlich verpönte Sonntagsarbeit soll durch
Strafen bis 5 Fl. zeitweilig erzwungen werden.
Von dem karg genug bemessenen Lohn erhalten die
Arbeiter wenig oder Nichts in Baarem. Aus Mitteln der
Bruderladen werden Lebensmittelmagazine errichtet, aus
welchen die Knappen auf Grund von Blechmarken oder
eines eio-enen Buches ihren Bedarf beziehen. Es soll sich
nicht selten ereignen, dass der Verdienst so knapp wird,
dass die Arbeiter sogenannte „Reste“ machen, d. h. dem
Werke schuldig bleiben müssen.
Die Organisation der Arbeiter wird auf jede Art ver-
folgt. Kein Bergmann darf es wagen, Funktionär des
Vereins zu werden Als ein auswärtiger Gehilfe sich in
Trifail dort niederlassen und ein selbständiges Geschäft er-
öffnen wollte, daneben aber auch die Kassir erstelle versehen
sollte, wurde er ausgewiesen. Anlässlich der dabei vorge-
nommenen Hausdurchsuchung fiel ein Mitgliederverzeichniss
in die Hände der Behörden. Sonderbarerweise hatte dies
die sofortige Entlassung der Vereinsmitglieder zur Folge.
Die Arbeiter behaupten, dass sie der Werksleitung die
Namen der Gemassregelten nicht bekanntgegeben hätten.
Daraus, sowie aus der raschen Aufeinanderfolge von Haus-
durchsuchung und Entlassungen folgern sie, dass die Be-
hörden auch in diesem Falle der Gewerkschaft ihre Unter-
stützung hatten zu Theil werden lassen.
Die Zustände im Trifailer Revier sind demnach noch
weit trauriger, als in Köflach-V oitsberg. Dabei besteht hier
keine Hoffnung, dass durch die Vereinigung der Arbeiter
in absehbarer Zeit eine Besserung herbeigeführt werden
könnte. Jeder Versuch einer Organisation, jede Bemühung
nach Erreichung besserer Arbeitsbedingungen, werden durch
die vereinigte Macht des Staates wie der Unternehmung
niedergedrückt. Es wäre ein des österreichischen Ackerbau-
ministers würdiges Werk, wenn er sich die Prüfung der
Trifailer Zustände angelegen sein und eine Sanirung der-
selben herbeiführen wollte.
Wien. Leo Verkauf.
68
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 5.
Arbeiterscluitz im Bäckergeworbe. Es ist erfreulich,
dass die Agitation zur Durchsetzung von Schutzbestim-
mungen, welche der im Bäckergewerbe herrschenden mass-
losen Ausbeutung der Arbeiter wenigstens irgendwelche
Grenzen setzen würden, nicht nachlässt. Gegenwärtig ver-
öffentlicht die Agitations-Kommission der Bäckerei-Arbeiter
Deutschlands eine von ihr verfasste Petition an den Bundes-
rath, in der dieser aufgefordert wird, von der ihm im
8 1 20 e, Absatz 3 der Gewerbeordnung eingeräumten Be-
fuo'niss Gebrauch zu machen und 1. die höchste zulässige
Arbeitszeit für Bäckerei - Betriebe auf 12 Stunden täglich
inkl. der zum Essen u. s. w. nothwendigen Pausen zu be-
schränken ; 2 die Nachtarbeit jugendlicher Arbeiter, Lehr-
lhme unter 16 Jahren zu verbieten; 3. die Bäckerei-Be-
triebe der Aufsicht der Fabrik-Inspektoren zu unterstellen.
Die grauenhaften Zustände in den Bäckereien sind, man
sollte meinen, nun bekannt genug, um so massvolle For-
derungen, wie sie hier von den Bäckern erhoben werden,
zum Schutz derselben ohne weiteres Zögern zu gewähren.
Glaubt die Regierung und der Bundesrath erst noch einer
neuerlichen Feststellung durch die zu schaffende Kom-
mission für Arbeitstatistik zu bedürfen, so möge sie
wenigstens mit derselben sich beeilen, um nicht V erhält-
nisse andauern zu lassen, welche die bitterste Anklage
gegen unsere Gesellschaft bedeuten.
, Evangelische4 Arbeitervereine in Deutschland Zu dem
Gesanunt verband der deutschen Evangelischen Arbeitervereine
gehören zur Zeit ca. 250 Vereine mit etwa 10 000 Mitgliedern.
Davon kommen auf Rheinland und Westfalen 121 Vereine,
Baiern 46, Provinz Sachsen 16, Königreich Sachsen 14 W ürttem-
berg 12, Schlesien und Hessen-Nassau je I, Brandenburg 6,
Baden 5, Pommern 4, Hessen-Darmstadt 3, Preussen und
Posen je 1.
Politische Arbeiterbewegung.
Die Stellung der Sozialdemokratie zum Boykott.
Unter dem Titel: „Der Boykott und dessen Bedeutung
für die Arbeiterbewegung“ hielt der Reichstagsabgeordnete
Auer am 26. Januar in einer Berliner Volksversammlung einen
Vortrag, der ebenso wie einige in dieser Versammlung ge-
machte* Mittheilungen für die Anwendung, welche der Boykott
in Deutschland gefunden, und für die sozialdemokratische Auf-
fassung der Frage lehrreiches Material enthielt. Dem Vor-
tra0* crjng der Bericht der Lokal-lvonnnission voraus, aus
welchem sich ergab, dass den politisch und gewerkschait-
lieh orgaipsirten Arbeitern Berlins und der V ororte gegen-
wärtig eine respektable Zahl (ca. 120) mehr oder weniger
grosser Säle für ihre Versammlungen unentgeltlich zur
Verfügung stehen.
Der Abgeordnete Auer knüpfte an das Referat des
Berichterstatters der Lokal-Kommission an und kon.statirte,
dass dieser Erfolg wesentlich dem vor Jahren gegen eine
Anzahl Brauereien inscenirten Bierboykott zu danken ist.
Dadurch seien die grossen Aktienbrauereien gezwungen
worden, ihre Säle Arbeiterversammlungen zu öffnen und
die Arbeiter lernten so den Boykott als Kampfesmittel
würdigen. . .
Dieselben Schwierigkeiten, welche die Berliner Arbeiter
in Bezug auf die Saalsperre zu überwinden hatten, stellten
sich de^ Arbeitern in den meisten Städten und Provinzen
Deutschlands in den Weg und das Mittel des Boykottiiens
sei dagegen allgemein in Anwendung gebracht worden. Die
Argumentation wäre einfach die gewesen: wollt ihr Lokal-
besitzer uns nicht in eueren Räumen haben, wenn wir in den-
selben unsere politischen und gewerkschaftlichen Angelegen-
heiten zu besprechen wünschen, dann verzichten wir aut den
Besuch derselben auch dann, wenn ihr uns zu Konzert und
Tanz und sonstigen Unterhaltungen einladet. Der Boykott
sei später auch auf das Bier jener Brauer ausgedehnt worden,
welche den Arbeitern Versammlungen in ihren Lokalen
nicht gestatteten. .
Wie in Berlin der Bierboykott, so habe in der Provinz
der Boykott gegen gewisse Lokalbesitzer für die Arbeiter
sich als vortheilhaft bewährt. Den besten Beweis, dass
dies der Fall war, dürfe man wohl darin finden, dass
schliesslich auch auf diesem Gebiete die Polizei und die
Gerichte herangezogen wurden, um den Lokalbesitzern
und Brauern gegen den „unerträglichen Terrorismus“ seitens
der Arbeiter beizustehen. Sächsiche Staatsanwälte kon-
struirten gegen jene Arbeiterblätter, in deren Spalten die
Lokale genannt wurden, welche für Arbeiterversammlungen
nicht zu haben waren, Anklagen auf Grund des §360, al.11
(o-rober Untug) und die sächsischen Gerichte Gis in die
höchste Instanz verurtheilten auch wirklich zu theilweise
recht empfindlichen Haft- oder Geldstrafen. Ausserhalb
Sachsens habe indess diese Praxis keine Nachahmung ge-
funden, einzelne Versuche ähnlicher Art durch preussische
Staatsanwälte haben ausnahmslos zub reisprechungen geführt.!
Der Erfolg gegenüber den Versammlungs - Lokalen
habe naturgemäss unter den organisirten Arbeitern che
Frage angeregt, ob der Boykott nicht allgemein als Waffe
in den Kämpfen zwischen den Arbeitern und den Unter-
nehmern in Anwendung zu bringen sei und zahlreiche
Arbeiterversammlungen entschieden diese Frage im be-
jahenden Sinne. So sei es gekommen, dass gelegent-
lich der Arbeiterausstände der letzten Jahre besonders
wo es sich um Lohnkämpfe in der Lebensmittelbranche
oder der Fabrikation von Massenkonsumartikeln handelte —
fast regelmässig mit der Proklamirung des Strikes der
Appell ^an die organisirten Arbeiter erging, die W aaren
jener Firmen, deren Arbeiter sich im Strike befanden, zu
boykottiren. Begründet wurde diese Anwendung des
Boykotts damit, dass jeder Strike einer einzelnen Branche
die Interessen der gesammten Arbeiterschaft m Mitleiden-
schaft ziehe und dass diese ihre Solidarität dadurch be-
kunden müsse, dass sie den Konsum von Artikeln dei mit
Strike heimgesuchten Fabriken meide.
Gegen diese Anwendung des Boykotts seien indessen
von Anfang an sehr beachtenswerthe Stimmen in der
sozialdemokratischen Partei laut geworden. Besonders ent-
schieden sei der Abgeordnete Bebel gegen diese Ver-
quickung von Strike und Boykott in einer grossen Volks-
versammlung in der Lips’schen Brauerei in Berlin im vorigen
fahre kurz nach dem F alle des Sozialistengesetzes aut-
Tetreten. Auch der Parteitag in Halle habe gegen Strikes
und Boykotts „am Unrechten Orte oder zur Unrechten Zeit
angewende't“ resolvirt.
Der Vortragende, der diesen Aeusserungen sich voll-
kommen anschloss, zeigte im Verlauf seines Vortrags an
der Hand aktenmässiger Feststellungen, wie es m Deutsch-
land die Unternehmer gewesen seien, welche che U affe
des Boykotts gegen die Arbeiter zuerst in Anwendung
brachten. Es sei dies zunächst durch Kennzeichnung der Fnt-
lassuno-szeugnis.se, später durch die sogenannten „Schwarzen
Listen“ und förmliche Verrufserklärungen geschehen. Dieses
Vorgehen sei 1 378 nach den Attentaten von der gesammten
Unternehmerschaft allgemein geübt, und von da ab hätten
sich auch die Staatsbetriebe diesem Verfahren angeschlossen.
Privatunternehmer und Staatsbetriebe seien Hand in Hand
geo-angen, um die Arbeiter zur Untreue gegen ihre poli-
tische Ueberzeugung oder zur Heuchelei zu zwingen.
Wenn heute die Unternehmer sich als che \ ergewaf-
tigten hinzustellen suchen, so erinnere das nur an das
Märchen vom Wolfe, dem das unterhalb am Bache stehende
Lamm angeblich das Wasser getrübt habe.
Die Arbeiter, welche heute von dem Boykott den aus-
oedehntesten Gebrauch machten, übten nur, führte der
Redner aus, das Recht der Wieder Vergeltung. Frotzctem
1 aber sei vor der allgemeinen Anwendung dieses Kamples-
mittels zu warnen. Durch dasselbe werden nur allzu leicht
unbetheiligte Kreise geschädigt und dadurch die öffentliche
Meinung jener Schichten, an deren Wohlwollen die im
Kampfe befindlichen Arbeiter interessirt sind, gegen letztere
aufgebracht. Auch die Gefahr, dass der Boykott zu einem
Zwangsmittel gegen die politische und soziale Leberzeu-
o-uno- Andersgesinnter missbraucht werde, sei nicht ausge-
schlossen, gegen eine solche missbräuchliche Anwendung
des Boykotts müsse sich aber die klassenbewusste Aibeiter-
schaft mit aller Energie verwahren. Würde ein solcher
Missbrauch bei der Arbeiterschaft Platz greifen, dann wurde
damit der brutalsten Vergewaltigung der Arbeiter seitens
der Unternehmer ein Schein von Berechtigung gege ie
werden •
Der Redner empfahl zum Schluss folgende Resolution
zur Annahme, welche nach längerer Diskussion gegen sehr
wenige Stimmen zur Annahme gelangte. , ,
Die Versammlung wolle beschliessen: „1. Der Boykott
ist für die Arbeiterklasse nur unter besonderen Yoraus-
setzungen und im beschränkten Umfange ein brauchbares
Kampfesmittel.
No. 5.
SOZIALPOLITISCHES CENTRAT .BLATT.
69
2. Der Boykott darf unter keinen Umständen zu einem
Mittel der politischen oder wirthschaftlichen Vergewaltigung
werden zu dem Zwecke, die persönliche Ueberzeugung zu
strafen oder Heuchelei zu erzwingen.
3. Der Boykott ist aber überall da berechtigt, wo es
für die Arbeiterklasse gilt,
a) die auf materielle oder politische Schädigung ge-
richteten Bestrebungen ihrer Gegner zurückzuweisen;
b) in besonders gearteten Fällen auch da, wo es sich
für die Arbeiterklasse darum handelt, ihre soziale und poli-
tische Lage innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu ver-
bessern.“
Kaufmännische Bewegung.
Minimalkümligu ngsf risten für Handlungsgehilfen. Die
sozialdemokratische Fraktion des Reichstages hat nunmehr
ihren Zusatzantrag zu Artikel 61 des Handelsgesetzbuches
beim Reichstage eingebracht. Derselbe lautet dahin, dass
die Vereinbarung einer kürzeren, als vierwöchigen Kündi-
gungsfrist, zwischen Prinzipal und Handlungsgehilfe nicht
statthaft sein soll. Der Kaufmännische Verein Frankfurt
a. Main hat bekanntlich, wie schon in No. 2 dieser Zeit-
schrift gemeldet wurde, um eine sechswöchige Minimal-
kündigungsfrist petitionirt, und alle diese Anträge werden
mit dem zur zweiten Lesung stehenden Antrag Goldschmidt,
das Recht der Gehilfen auf Zeugnisse betreffend, ver-
handelt werden. Zur Begründung dieser sehr zeitgemässen
Anträge ist in No. 2 schon Einiges aus der Frankfurter
Petition mitgetheilt worden. Weiteres Material zur Be-
schlussfassung über diese gewerbepolitische Frage liefert
aber die vom „Deutschen Verband Kaufmännischer Ver-
eine“ im vorigen Jahre veranstaltete Erhebung, das Vor-
kommen kurzer Kündigungsfristen für Handlungsgehilfen
in den verschiedenen Gegenden Deutschlands betreffend.
Nach dem in Broschürenform veröffentlichten Ergebniss
dieser allerdings nicht lückenlosen Enquete („Zur kauf-
männischen Reform“, Frankfurt a. Main, Mahlau und Wald-
schmidt) meldeten von 75 kaufmännischen Vereinen nicht
weniger als 58, mithin 79 Prozent, das Vorkommen kurzer
Kündigungsfristen in ihrem Bezirk. Zunächst ist nament-
lich der Kleinhandel betheiligt, und zwar fast ohne LTnter-
'schied der Gegend. 18 Vereine melden, dass die Kündi-
gung meist auf 4 bis 6 Wochen verkürzt sei, und Berlin,
Hamburg, Leipzig sowie Strassburg geben die kurzen
Kündigungsfristen als Regel an; Hamburg fügt hinzu, dass
dieselben vielfach bis auf einen Tag sinken. Aber nicht
nur in den Kleinhandel, sondern auch schon in den Gross-
handel ist die Kürzung eingedrungen. 42 Vereine aus
iallen Gegenden bestätigen dies, theilweise mit dem Hinzu-
fügen, dass auch die Fabrikgeschäfte in Betracht kommen.
10 Vereine berichten, dass namentlich die monatliche Kün-
digung immer mehr um sich greife, und von 14-, 8-, ja
1 tägiger Kündigungsfrist in Bank- und Engrosgeschäften
erzählen die Vereine Frankfurt a. Main und Nürnberg.
Dass die dem Reichstag vorliegenden Anträge noch einer
Ergänzung bedürfen, darauf weist noch ein anderes Resul-
tat der Verbandsenquete hin. 21 Vereine theilen nämlich
mit, dass das Kündigungsrecht stellenweise ungleich für
Prinzipal und Handlungsgehilfe festgesetzt wird. In einem
Dresdener Hause kann der Prinzipal '/4 jährlich, der Kommis
aber nur V2 jährlich kündigen. In Karlsruhe bedingt sich
hier und da der Prinzipal vierwöchentliche Kündigung,
während der Kommis sechswöchentliche zu beobachten
hat; ähnlich in Mannheim. In Göppingen vollends existirt
ein Geschäft, bei welchem sich die Kommis auf 3 Jahre
binden müssen, während der Prinzipal vierwöchentlich
kündigen kann. Daraus ergiebt sich wohl die Nothwendig-
keit, auch noch eine Bestimmung in Artikel 61 des Handels-
Gesetz-Buches aufzunehmen, welche besagt: „Die Kündi-
gungsfrist muss für beide Theile gleich sein.“ Hoffent-
lich wird dies bei den bevorstehenden Verhandlungen be-
achtet.
Die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit für Handlungs-
gehilfen wird in Wien von allen Gehilfenorganisationen ange-
| strebt, nur denkt man sich die Art der Einführung verschieden.
‘Der Wiener Kaufmännische Verein, der übrigens auch eine
j grosse Anzahl von Prinzipalen umfasst, wünscht eine zwölf-
|
i
I
ständige Maximalarbeitszeit einschliesslich einer einstiindigen
Mittagspause, aber ohne Stundenbestimmung für Anfang und
Ende; der Verein der österreichischen Handelsangestellten, der
nur Gehilfen zu Mitgliedern hat, sowie mehrere Gehilfenaus-
schüsse der wiener Kaufmannsgenossenschaften wollen dagegen
den Maximalarbeitstag als Maximalgeschäftszeit mit gesetz-
licher Stundenbestimmung, für Detailgeschäfte von 6 Uhr früh
bis 8 Uhr abends, für Engrosgeschäfte von 8 Uhr früh bis 6 Uhr
abends, einschliesslich der Mittagspause. Die Urheber des letzt-
genannten Antrages begründen denselben mit der leichteren
Durchführbarkeit und Kontrolirbarkeit. Der Abgeordnete Fürst
Liechtenstein hat eine Petition des Gehilfenausschusses von
Hernals, welche die Maximalgeschäftszeit erbittet, beim Reichs-
rath zur dringlichen Behandlung eingereicht. Alle diese Fragen
dürften ihre Erörterung in der Enquete des österreichischen
Abgeordnetenhauses über Sonntagsruhe, Arbeitszeit u. s. w. der
Handlungsgehilfen finden, über deren Ergebnisse noch zu
berichten sein wird.
Handlungsgehilfen als Gefängnissarbeiter. Die Gross-
herzogliche Gefängnissverwaltung in Darmstadt hat seit Kurzem
eine derartig grosse Anzahl von Handlungsgehilfen in Ver-
wahrung, dass sie u. A. an frankfurter Firmen folgendes Zirkular
richtete: „Wir theilen Ihnen ergebenst mit, dass sich gegen-
wärtig eine grosse Zahl von Handlungsgehilfen in unserer An-
stalt befindet, die wir, da unsere eigenen Bureauarbeiten hierzu
nicht ausreichen, nur unvollständig beschäftigen können, zumal
diese Leute sich durchaus nicht zu anderen Arbeitsbetrieben
eignen. Es wäre uns daher sehr erwünscht, wenn uns von Ge-
schäftsleuten schriftliche Arbeiten, wie das Schreiben ^ von
Adressen und dergleichen übertragen würde.“ Folgt ein Tarif
für solche Schreibarbeiten, dessen Sätze 20- -30 Prozent unter
denjenigen stehen, welche sonst für Schreibarbeiten bezahlt
werden. Die „Kaufmännische Presse“ in Frankfurt a. M. wendet
sich mit Recht dagegen, dass auf solche Weise vom Staate
menschliche Arbeitskraft zu niedrigen Preisen feilgeboten wird.
Das ist aber nur die eine Seite der Sache. Nahezu proletarisch
müssen auf der anderen Seite die materiellen Verhältnisse der
deutschen Handlungsgehilfen sein, wenn dieselben in der
jetzigen Krisenzeit solche Schaaren in die Gefängnisse eines
einzelnen Landes liefern. Und die Bemerkung der hessischen
Gefängnissverwaltung über die mangelhafte Eignung der jungen
Kaufleute zu anderweitigen Arbeiten kann doch nur dahin ge-
deutet werden, dass die Leute auch körperlich schon so ver-
elendet sind, wie einzelne Kategorien industrieller Arbeiter.
Handwerkerfragen.
Gewerbekammern in Baden.
Eine Vertretung des Kleingewerbes soll auf gesetz-
lichem Wege im Grossherzogthum Baden hergestellt werden,
so dass man dort dem entsprechenden Reichsgesetz, welches
Staatssekretär v. Boetticher vor Kurzem in Aussicht stellte,
gewissermassen vorgreifen würde. Die halbamtliche „Bad.
Corr.“ veröffentlicht jetzt bereits die wichtigsten Einzel-
heiten des Entwurfes, die freilich erkennen lassen, dass der-
selbe theilweise ausserordentlich verbesserungsbedürftig ist,
wenn man es nämlich dem durch die Fabrikindustrie hart
bedrängten Kleingewerbe ernsthaft möglich machen will,
sich in seinen übrig gebliebenen Resten noch vollständig
zu organisiren, von dem zweifelhaften Erfolg einer solchen
Organisation für die Lebensfähigkeit des Handwerks einmal
ganz abgesehen. Zunächst sollen wahlberechtigt zur Ge-
werbekammer sein diejenigen Gewerbetreibenden, „welche
1. handwerksmässig bewegliche Sachen für Andere her-
stellen, bearbeiten oder verarbeiten und 2. zur Gewerbe-
steuer nicht oder mit weniger als 10 000 Mark veranlagt
sind.“ Der Begriff „handwerksmässig“ wird wohl hierbei
noch etwas näher mit Rücksicht auf die Verwendung von
Motoren und die Zahl der beschäftigten Arbeiter zu defi-
niren sein; auch ist die Grenze nach oben mit 10 000 Mark
Gewerbesteuer etwas zu hoch gegriffen. Hauptsächlich
aber vermisst man eine V ertretung und ein V ahlrecht der
Gesellen bei der projektirten Gewerbekammer, die doch
erst dann sozialpolitisch brauchbar wäre, wenn sie in eine
Meister- und eine Gehilfenabtheilung zerfiele und nicht
bloss die ersteren als souveräne Vertreter des Handwerks
ins Auge fasste. Ein ebenso grosser Fehler des Ent-
wurfs scheint die allzu ängstliche Umgrenzung der Zu-
ständigkeit der künftigen Gewerbekammern zu sein.
Die bezügliche halbamtliche Mittheilung lautet : „Den
Gewerbekammern steht laut § 5 das Recht zu, auf Hebung
des Kleingewerbes abzielende Anträge und Wünsche an
70
SOZIALPOLITISCHES CENTRAI .BLATT.
No. 5.
die zu deren Erledigung geordneten Behörden zu richten,
sie haben diese durch Erstattung von Gutachten und that-
sächlichen Mittheilungen zu unterstützen und dem Ministe-
rium des Innern Jahresberichte einzureichen. Die Gewerbe-
kammern sollen, soweit th unlieb, vor gesetzlicher oder
behördlicher Regelung von wichtigeren, die Interessen
des Kleingewerbes unmittelbar berührenden Angelegen-
heiten mit ihrer gutachtlichen Aeusserung gehört werden.“
Diese beschränkten Kompetenzen erinnern lebhaft an die-
jenigen des entschlafenen preussischen Volkswirthschafts-
rathes, der mit an der Gleichgiltigkeit der Betheiligten zu
Grunde ging. Das Recht, Anträge zu stellen und die Pflicht,
Gutachten sowie Jahresberichte zu erstatten, kann den Ge-
werbekammern noch kein Leben verleihen, zumal, wenn die-
selben zur Beschaffung authentischen Materials für
ihre Anträge, Gutachten und Jahresberichte nicht mit
weitgehenden Enquete - Befugnissen ausgestattet werden.
Die Hauptsache wäre , dass die neuen Hand-
werkerorganisationen mit ihren Arbeitern vor jeder
das Kleingewerbe mitbetreffenden Massregel gehört werden
müssten, dass ihre Zustimmung und ihr Veto einen auto-
ritativen Charakter und wirklichen Einfluss auf Gesetzgebung
wie Verwaltung erhielten. Gerade dies soll aber, wie aus
dem gewundenen Wortlaut des oben zitirten § 2 hervorgeht,
ängstlich vermieden werden; das Mitbestimmungsrecht der
Gewerbekammern soll ein ganz problematisches werden,
und die Aufrechterhaltung dieser Bestimmung dürfte unseres
Erachtens über die Lebensfähigkeit der geplanten Organi-
sation entscheiden. In den Kreisen des ohnedies indolenten
und mit einem beschränkten Gesichtskreis ausgestatteten
Kleingewerbes wird für solche Neuschöpfungen wenig
Interesse zu finden sein, und auch das sozialpolitische
Interesse für den badischen Entwurf knüpft sich nicht an
die spezielle Bestimmung der neuen Kammern für das
Handwerk, sondern lediglich an die Methode, mittelst
welcher man irgend einem Stande eine Art gesetzlicher
Vertretung zu schaffen hofft. Wenn man in Baden den
Handwerksmeistern und ihren Kammern nicht grössere
Rechte einräumen will, so kann hieraus bereits ein Schluss
darauf gezogen werden, wie man dort und anderswo Ar-
beiterkammern organisiren wird. Mit der untergeordneten
Stellung, die man in Baden den Gewerbekammern einräumen
will, hängt es schliesslich wohl zusammen, dass die Erhal-
tung der neuen Vertretung nach den halbamtlichen Mit-
theilungen über dieselbe nicht einmal theilweise staatlich
mitgetragen werden soll. Die Gewerbekammern sollen ihre
Kosten von den Handwerkern einziehen, wie die Handels-
kammern von den Kaufleuten. Bei den letzteren handelt
es sich aber um zahlungsfähige Elemente, bei der Masse
der Kleingewerbetreibenden dagegen um sehr wenig geld-
kräftige Existenzen, so dass auch dieser Punkt nicht dazu
beitragen dürfte, die in Baden geplanten Gewerbekammern
beliebt zu machen. Beschränkt man aber etwa die Kosten
der neuen Organisation auf sehr kleine Beträge, so kann
die Kammer weder ein ständiges Bureau haben, noch ein-
gehende Erhebungen oder Vorarbeiten für Verwaltung und
Gesetzgebung leisten; sie wird auch dadurch wieder zur
Dekoration heruntergedrückt. Dass sich das Ministerium
des Innern Vorbehalten will , die Kammern selbst zu-
sammenzurufen, oder zu deren Berathungen einen Ver-
treter zu entsenden, kann die Sachlage nicht wesentlich
ändern. Lediglich aus Ersparungsrücksichten ist wohl auch
der Vorschlag zu erklären, dass die Gewerbekammer even-
tuell als Abtheilung an eine bestehende Handelskammer
angegliedert werden kann. Eine solche Verkuppelung ver-
schiedener Interessen unter einem Dach hat sich bekannt-
lich bei den von 1884 ab neu geschaffenen preussischen
Gewerbekammern als geradezu lebensgefährlich erwiesen.
Fasst man zusammen, so kommt man zu dem Ergebniss,
dass der badische Entwurf einer völligen Neugestaltung
bedürfte, wenn er auch nur das Wenige leisten soll, was
bei einer Organisation des Handwerks noch geleistet
werden kann.
Arbeiterschutz und Kleingewerbe. Ein interessantes
Streiflicht auf die Wechselwirkung zwischen fortgeschritte-
nem Arbeiterschutz und technisch zurückgebliebenen Klein-
handwerk wirft folgender Bericht. Die selbständigen Kon-
ditoren Stuttgarts hielten kürzlich eine Versammlung, in
welcher behauptet wurde, der Konsum an Konditoreiwaaren
werde durch die neuen Sonntagsvorschriften entschieden
vermindert. Wenn dem Publikum die Gelegenheit genom- j
men sei, Sonntags seinen Bedarf an feinerem Nachtisch und j
süssen Speisen zu festlichen Gelegenheiten zu jeder erfor- j
derlichen Zeit ru decken, so sei es gezwungen, passenden j
Ersatz in der eigenen Küche anzufertigen. Es wurde daher
befürchtet, dass sich das Publikum allmählich gewöhne, mit
selbst angefertigten einfacheren Sachen sich zu begnügen, I
und Zustände wie in England einträten, wo das
Konditoreikleingewerbe schon geraume Zeit auf-
gehört habe, zu bestehen. Das Mindeste, was die
Konditoren verlangen müssen, sei das Oftenhalten der
Läden an Sonntagen von 11—2 Uhr Nachmittags. Be-
züglich der Sonntagsarbeit der Gehilfen und Lehrlinge
einigte man sich dahin, nur die im Gesetz erlaubten 3 Stun- |
den zu arbeiten und das Personal schichtenweise zu ver-
wenden. Hierdurch falle die lästige Kontrolle ganz weg,
ebenso die an einem Wochentage zu gewährende ununter-
brochene Ruhepause von 24 Stunden.
Auflösung der fakultativen Innungen. Der Wortlaut des j
Antrages, welchen der frankfurter Innungsausschuss bei dem
nächsten allgemeinen deutschen Innungstag stellen jwill, wird j
jetzt bekannt und heisst: „In Erwägung: dass auf Grund der
im Namen der Reichsregierung Seitens des Staatsministers von i
Bötticher in der Reichstagssitzung vom 24. November v.J. ab-
gegebenen Erklärung ein Entgegenkommen der jetzigen Regie-
rung gegenüber den seit Jahren aut allen Handwerkertagen fest
formuiirten Wünschen des deutschen Handwerkerstandes in
Bezug auf Einführung des gewerblichen Befähigungsnachweises,
sowie der obligatorischen Innung nicht mehr zu rechnen ist;
in fernerer Erwägung: dass die freien Innungen erwiesener-
massen nicht im Geringsten die Mittel bieten, den Zerfall des
Handwerkerstandes aufzuhalten, sondern den Innungsmitgliedern I
nur schwer zu tragende Lasten und Pflichten auferlegen, welche
leider noch sehr oft durch die Massnahmen der aufsichtführenden ;
Behörden erschwert werden, beschliesst der Allgemeine Deutsche J
Innungs- und Handwerkertag: „Den bestehenden freien Innun-
gen die Auflösung zu empfehlen und dafür die Umwandlung .
derselben in unabhängige Vereine oder Genossenschaften zu
veranlassen.“ *
1
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Der Entwurf eines Arbeiterschutzgesetzes für den
Kanton Glarus.
Nachdem einzelne Kantone bereits Spezialgesetze zum |
Schutze der Lehrlinge und der Arbeiterinnen in den nicht ‘
dem eidgenössischen Fabrikgesetz unterstellten Gewerben
erlassen haben, rückt nun der Kanton Glarus mit einem voll-
ständigen Arbeiterschutzgesetz in die Reihe. Bekanntlich war
der Industriekanton Glarus einer der ersten Staaten, die ein
Fabrikgesetz schufen, und nun trägt er auch zum Schutze
der kleingewerblichen Arbeiter die Fahne des sozialpoliti-
schen Fortschrittes voran. Den Anstoss hierzu gab ein An-
trag des kantonalen Arbeiterbundes vom 29. Dezember 1890 j
an die Landgemeinde auf Erlass eines Arbeiterschutz-
gesetzes, welchem alle Geschäfte, die mehrere Arbeitei
oder Arbeiterinnen beschäftigen und nicht unter das eid-
genössische Fabrikgesetz fallen (als Schneider und Schneide-
rinnen, Konfektions- und Modengeschäfte, V irthschaften
u. s. w.) unterstellt werden sollen.
In der Begründung wurde darauf hingewiesen, dass
auch diese Arbeiter und Arbeiterinnen keineswegs auf
Rosen gebettet, sondern der Ausbeutung durch ihre Arbeit-
geber ebenso sehr ausgesetzt seien, als die Fabrikarbeiter,
komme es doch nicht selten vor, dass diese Leute gezwun-
gen werden, 13, 14, 15 und mehr Stunden angestrengt für einen
sehr kärglichen Lohn zu arbeiten. Es scheine nun höchst
ungerecht, dass die Fabrikarbeiter die\\ ohlthat des staatlichen j
Schutzes mit gesetzlichem Normalarbeitstag gemessen sollen,
während diese fast noch schlechter gestellten Arbeiter allen
staatlichen Schutzes entbehren. Da aber gegenwärtig das
eidgenössische Fabrikgesetz sie nicht schütze, so sei es
Pflicht der kantonalen Gesetzgebung, sich dieser armen
Geschöpfe anzunehmen und für sie eigene Gesetze zu
schaffen, welche auch ihnen zu einem menschenwürdigen
Dasein zu verhelfen im Stande seien.
Auf Befürwortung des Regierungsrathes und Vorschlag
des Landrathes hin hat die Landgemeinde am 7. Mai vorigen
Jahres den Antrag einmüthig zum Beschluss erhoben und
No. 5.
SOZIALPOLITISCHES CENTRAT .BLATT.
71
den Landrath mit der Ausarbeitung eines bezüglichen Ge-
setzes-Entwurfes beauftragt. Dieser Entwurf, vom Re-
gierungsrath zu Händen des Landrathes verfasst, liegt heute
mit Motivenbericht vor.
Der Regierungsrath stellt sich bezüglich der Noth-
rvendigkeit des Gesetzes vollständig auf den Standpunkt
des Arbeiterbundes, auch er findet, dass auf eidgenössischem
Boden auf eine Regelung so bald noch nicht gehofft werden
könne, weshalb die kantonale Gesetzgebung eingreifen
müsse.
Das projektirte Gesetz soll Anwendung finden auf alle
dem eidgenössischen Fabrikgesetz nicht unterstellten Ge-
schäfte, in denen mehr als zwei Personen gewerbsmässig
und gegen Lohn im Dienste des Inhabers arbeiten, oder in
denen, ohne Rücksicht auf die Zahl, Personen unter 18 Jah-
ren, sei es als Arbeiter, Arbeiterinnen, Lehrlinge oder Lehr-
töchter, regelmässig beschäftigt sind. Gänzlich ausgenommen
ist der Betrieb der Landwirtschaft. Bedienstete der Wirt-
schaften und Ladengeschäfte können, die ersteren zur Be-
dienung der Gäste, die letzteren zur Bedienung der Kunden
in der offenen Geschäftszeit, ohne Beschränkung verwendet
werden, jedoch ist ihnen mindestens eine Nachtruhe von
8 Stunden zu gestatten. In bestrittenen Fällen entscheidet
die Militär- und Polizeidirektion, unter Vorbehalt des Re-
kurses an den Regierungsrath, ob ein Geschäft dem Gesetz
zu unterstellen sei.
Nach Ansicht des Regierungsrathes kann das Gesetz
unmöglich in alle, also auch in die kleinsten Geschäfte ein-
greifen, obgleich dies nur eine Konsequenz des Grundsatzes
wäre; eine solche Ausdehnung müsste eine Schädigung
kleinerer Leute herbeiführen, deshalb sollen unter das Ge-
setz nur eigentliche Geschäfte und Gewerbe von etwelchem
Belang fallen, zu welchen man die Beschäftigung mit blos
einem Arbeiter nicht rechnen könne. Die Ausnahmestellung
der Landwirthschaft sei durch verschiedene Faktoren be-
dingt; man habe bis jetzt auch nirgends daran gedacht, die
Arbeiterschutzgesetze ohne Weiteres auf die landwirthschaft-
lichen Arbeiter auszudehnen. Es ist dies zweifellos richtig;
nichtsdestoweniger bleibt unbestritten, dass gerade hier die
Arbeitsausbeutung ausserordentliche Dimensionen hat, das
Loos vieler Bauernknechte ein sehr trauriges ist und zu
gesetzlichem Schutze förmlich zwingt.
Uebereinstimmend mit dem eidgenössischen Fabrik-
gesetz verlangt der Entwurf, dass die Arbeitsräume hell,
trocken, gut ventilirt und überhaupt derart beschaffen seien,
dass die Gesundheit der Arbeiter nicht Schaden leidet.
Ebenso sind Maschinen und Werkgeräthschaften in möglichst
sicherer Weise zu erstellen. Je nach Umfang und Natur
des Geschäftes kann die Aufstellung von Arbeitsordnungen
.Liber Arbeitszeit, Bedingungen des Ein- und Austrittes,
Auszahlung des Lohnes verlangt werden. Wenn nicht durch
schriftliche Uebereinkunft etwas Anderes bestimmt ist, kann
der Dienstvertrag beiderseits auf 14 Tage gekündigt werden,
,iedoch nur am Zahltag oder am Samstag. Bei Einstellung
v'on Lehrlingen oder Lehrtöchtern muss in allen Fällen ein
Schriftlicher Lehrvertrag abgeschlossen werden. Der Lohn
st mindestens alle 14 Tage in gesetzlichen Münzsorten baar
mszuzahlen; längere Termine sind bei gegenseitiger Ver-
einbarung zulässig. Bussen dürfen nur ausgesprochen wer-
den, sofern sie in einer vom Regierungsrathe genehmigten
Arbeitsordnung angedroht sind; sie sollen die Hälfte des
1 agelohnes nicht übersteigen und sind im Interesse der
Arbeiter zu verwenden.
Im Einklang mit dem eidgenössischen Fabrikgesetze
wird ferner bestimmt, dass die Normalarbeitszeit nicht mehr
als 1 1 Stunden, an Tagen vor Sonn- und Feiertagen nicht
nehr als 10 Stunden betragen soll. Für das Mittagessen ist
wenigstens eine Stunde freizugeben. Die Arbeit an Sonn-
end Feiertagen ist untersagt. Das Gesetz gestattet auch
Jeberzeitarbeit; dagegen sorgt es durch schärfere Bestim-
nungen, dass mit den Ueberzeit-Bewilligungen kein Miss-
brauch getrieben und nicht unter dem Vorwände öfterer,
periodischer und angeblich durch Ausnahmefälle begründeter
Bewilligungen faktisch der Normalarbeitstag illusorisch ge-
nacht werden kann, wie es beim eidgenössischen Fabrik-
Gesetz leider nur zu häufig geschieht. Von Ueberzeitbe-
villigungen sind von vornherein in allen Fällen weibliche
Personen unter 18 Jahren ausgeschlossen. Dieselben dürfen
l'iach 8 Uhr Abends zu keinerlei Dienstleistung in Anspruch
b'enommen werden. Frauenspersonen, die ein Hauswesen
;u besorgen haben, sind eine halbe Stunde vor der Mittags-
Jause zu entlassen, sofern diese nicht mindestens I '/2 Stunden
jeträgt. Vor und nach ihrer Niederkunft dürfen Wöch-
| nerintien im Ganzen während 8 Wochen nicht in Gewerben
[ beschäftigt werden, die dem Gesetz unterstellt sind. Ihr
Wiedereintritt in dieselben ist an den Ausweis geknüpft,
dass seit ihrer Niederkunft wenigstens 6 Wochen verflossen
sind. Kinder unter 14jahren dürfen weder zu gewerblicher
Lohnarbeit verwendet, noch als Lehrlinge oder Lehrtöchter
angestellt werden.
Der Vollzug des Gesetzes ist den kantonalen Organen
zugewiesen, die auch mit demjenigen der eidgenössischen
Arbeiterschutzgesetze betraut sind. Dieselben haben Berech-
tigung zum Eintritt in die Arbeitsräume und Geschäftslokale.
Uebertretungen des Gesetzes werden vom Polizeigericht
mit Geldbussen von 10 — 500 Fr. bestraft. In Wiederholungs-
fällen und bei schwerem Thatbestand darf Gefängnissstrafe
bis auf 14 Tage ausgesprochen werden. Von der Festsetzung
der Haftpflicht für diese kleineren Geschäfte glaubte der
Regierungsrath im Hinblick auf die projektirte eidgenössische
Kranken- und Unfallversicherung absehen zu dürfen.
Aarau. E. Naef.
Arbeitersclmtz bei dein schweizerischen Verkehrs-
gewerbe. In der gegenwärtigen Session der eidgenössischen
Räthe sind im Nationalrath zwei sozialpolitische Motionen
behandelt worden, von denen die eine die Abänderung
des Gesetzes über die Arbeitszeit bei Eisenbahnen im
Sinne einer den Anforderungen des Betriebes und der
öffentlichen Sicherheit besser entsprechenden Vertheilung
der Ruhetage, die andere eine Untersuchung von Seite des
Bundesrathes fordert, ob nicht eine besondere Kontrolle
über die Ausführung des Gesetzes betreffend die Arbeits-
zeit in den Transportanstalten zu schaffen sei. Beide
Motionen wurden erheblich erklärt, die erstere mit dem
Zusatz, dass der Bundesrath untersuchen solle, ob nicht in
Bezug auf die Arbeitszeit die Bahnen mit beschränktem Be-
trieb (Sekundärbahnen) vom Gesetze auszunehmen seien. Das
eidgenössische Gesetz über die Arbeitszeit bei Eisenbahnen
sichert den Bahnbediensteten jährlich 52 Ruhetage, wovon
mindestens 17 Sonntage, zu. Die Ausführung dieser Be-
stimmung ist sowohl für die Bahngesellschaften, als für die
Angestellten mit Inkonvenienzen verbunden. Die erste
Motion will sie durch das Gesetz, die zweite durch be-
sondere Kontrolle beseitigen. Die Befürworter der letzteren
befürchten, dass durch eine Gesetzesänderung eine Schmäle-
rung der Freisonntage beabsichtigt werde, während sie
diese eher vermehren wollen. Daher opponirten sie zum
Theil der ersten Motion und suchten sie durch die zweite
zu Falle zu bringen. Die Befürworter der ersten Motion
machten dagegen geltend, dass eine Revision des Gesetzes
nöthig sei, indem dasselbe seinen Zweck verfehle und infolge
dessen die Sonntagsruhe häufig keine Wohlthat mehr sei.
Von Seite des Vertreters des Bundesraths wurde betont,
dass die gewünschte Spezialkontrolle nicht dem Fabrik;
inspektorat übertragen werden dürfe.
Städtischer Arbeitsnachweis und städtische Arbeiter-
sekretariate. In einer unserer ersten Nummern meldeten
wir, dass die organisirten Arbeiter in Nürnberg die Errich-
tung eines städtischen Arbeitersekretariates anstreben. Man
geht dort ohne Anknüpfung an schon vorhandene Einrich-
tungen direkt auf sein Ziel los In Frankfurt a. M. dagegen
wird möglicher Weise auf einem anderen Wege etwas
Aehnliches langsamer erreicht, wenn sich die Arbeiter-
organisationen zeitig und wirksam rühren. Vorläufig liegt
freilich nur noch sehr wenig vor. Ein bisher unter sehr
unwürdigen Verhältnissen bestandener öffentlicher Arbeits-
markt, der auf einem der offenen Plätze der Stadt stattfand
und ein Sammelplatz der untersten Arbeiterkategorien ge-
worden war, ist durch Verordnung des Polizeipräsidenten
vom 14. Januar 1892 aufgehoben und nach einem geschützten
Orte, einer umfangreichen Baulichkeit, verlegt worden,
welche die „Aktiengesellschaft für Wohlfahrtseinrichtungen“
erwarb. Die Verwaltung dieser neuen, für den Arbeitsmarkt
geschaffenen Räumlichkeiten besorgt der Vorsitzende des
gewerblichen Schiedsgerichtes, jedoch nicht allein, sondern
unter Zuziehung eines Ausschusses dieses Gerichtes, der aus
Unternehmern und Arbeitern gleichmässig zusammengesetzt
ist. Ein Beamter nimmt im Saal des Ärbeitsmarktes, der
den Arbeitslosen täglich von 9 bis 3 Uhr unentgeltlich ge-
öffnet ist, Angebote und Nachfragen entgegen. Die Be-
kanntmachung offener Stellen erfolgt nach dem anderwärts
bewährten Muster durch Ausrufen derselben; dem sich
72
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 5.
meldenden Arbeiter wird eine offene Karte mit der Adresse
der vakanten Arbeitsstelle übergeben, die mit dem Vermerk,
ob die Einstellung stattfand oder nicht, an die Verwaltung
zurückzugeben ist. Das neue System offener Karten wurde
gewählt, damit jeder Anlass zu irgendwelchem Misstrauen
für die Arbeiter, die Benachrichtigung enthalte einen nicht
dazu gehörigen Vermerk, wegfällt. Zweifellos ist, dass der
Betrieb Anfangs mit den bekannten Schwierigkeiten zu
kämpfen haben wird, zumal sich vorläufig beim Weiterbe-
stehen der Fachvereins- und Innungs-Arbeitsnachweise die
Vermittelung nur auf untergeordneteArbeitskräfte erstrecken
kann. Zunächst müsste also aus den Interessentenkreisen
eine Vervollkommnung dahin angestrebt werden, dass die
Stadt eine vollständige Arbeitsbörse aus dem jetzt ein-
gerichteten Arbeitsnachweis niederen Ranges machte^ und
die Arbeitsnachweise-Bureaus der Arbeiter- wie der Unter-
nehmer-Organisationen in das Gebäude aufnähme, natürlich
unter Zuziehung der Vertreter dieser Organisationen bei der
Verwaltung, was sehr leicht möglich ist, da bereits jetzt
jener Ausschuss des gewerblichen Schiedsgerichts be-
theiligt ist. Die Arbeitsnachweise der Innungen wie der
Fachvereine kranken bekanntlich sehr tief an ihrer Ein-
seitigkeit, und die Vereinigung unter einer unparteiischen
Selbstverwaltung würde einen wichtigen Fortschritt bedeu-
ten. Gelingt es aber, den Arbeitsnachweis in Verbindung
mit dem gewerblichen Schiedsgericht zu vervollkommnen,
so ist ein weiterer Schritt schon halb gemacht: die Ausge-
staltung der neuen Einrichtung zu einem förmlichen städti-
schen Arbeitsamt mit Versammlungsräumen, Lesezimmern,
Fachbibliothek u. s. w. Diese Andeutungen und Aussichten
sind keine unbestimmten Projekte, sondern ihre Ausführung
ist bereits vor zwei Jahren in Erhebungen sehr ernsthaft erör-
tert worden, welche der damalige Frankfurter Oberbürger-
meister und jetzige preussische Finanzminister Miquel zu-
sammen mit dem Vorsitzenden des Frankfurter gewerblichen
Schiedsgerichts Dr. Flesch veranlasste. Der Letztgenannte
wird sich jetzt, wo endlich ein praktischer Anfang gemacht
ist, dem Hinweis auf die damals von behördlicher Stelle
abgegebenen Zusicherungen nicht entziehen können und
es ist auf diese Wreise, bei gehöriger Agitation seitens der
Arbeiter, leicht möglich, dass die Arbeiterschaft in Frank-
furt a. M. auf diesem besonderen Wege, den die Verhält-
nisse anbieten, zu einem städtischen Arbeitersekretariate
kommen.
Arbeiterversicherung.
4:3. Diese Thatsache würde wohl verdienen, von der
Sanitätsstatistik nicht unbeachtet gelassen zu werden.
Krankheitskategorien.
Erkrankungen,
welche Erwerbsunfähigkeit
zur
Folge hatten
nicht zur
Folge hatten
1. Entwicklungskrankheiten ....
47
72
2. Inlektionskrankheiten
4 195
1 038
3. Venerische und syphilitische Krank-
heiten
426
808
4. Neubildungen
63
67
5. Krankheiten des Blutes und mehr-
sitzige
2 224
1 888
6. Krankheiten des peripheren und
zentralen Nervensystems ....
494
817
7. Krankheiten des Auges
590
658
8. „ „ Gehörorgans . .
89
160
9. „ der Athmungsorgane .
5 194
3 100
10. ,, Zirkulationsorgane
602
529
11. „ „ Verdauungsorgane
2713
4 035
12. „ „ Harn- und Ge-
schlechtsorgane
443
331
13. ,, „ Haut
909
1 164
14. „ „ Bewegungsorgane.
939
376
15. Verletzungen
2 050
685
16. Vergiftungen durch mineralische
Gifte.
i 113
37
Zusammen . .
21 091
15 765
Soziale Hygiene.
—
Zum deutschen Trunksuchtsgesetz. Im letzten Jahres- J
bericht des Sächsischen Landes - Medizinal - Kollegiums stellt j
Ober-Medizinal-Rath Weber fest, dass in der von ihm geleiteten
sächsischen Landes - Irrenanstalt „Sonnenstein“ der Alkohol-:'
missbrauch als Krankheitsursache viel weniger in Betracht
komme, als Nahrungssorgen, Ueberanstrengung, Kummer, schwere
Gemüthsbewegung und körperliche Krankheit. Der genannte <
Irrenarzt beweist ausserdem zahlenmässig, dass der Einfluss des •]
Alkohols als Krankheitsursache sich im Aufnahmegebiet der
von ihm geleiteten Anstalt, also in Sachsen, nicht etwa steigerte, I
sondern seit 1887 von 16,2% ständig und bis auf 11,7% der
männlichen Anstaltsinsassen im Jahre 1890 gesunken ist. Ober-
Medizinal-Rath Weber bemerkt hierzu, dass diese Thatsache
zum Mindesten nicht auf einen steigenden Einfluss des Alkohols ;
als Ursache von Geistesstörungen schliessen lasse. Unter diesen :
Gesichtspunkten eine Nachprüfung und Kritik der Trunksuchts- j
Statistik in den Motiven der Reichstagsvorlage vorzunehmen,
würde unseres Erachtens von grossem Interesse für die ärzt-
lichen Kreise sein.
Zur Krankheitsstatisük.
Einem Berichte des „Verbandes der Genossenschafts-
krankenkassen für Wien und Umgebung“ für das Jahr 1890')
entnehmen wir eine für die Morbiditätsstatistik nicht un-
interessante Thatsache. Erismann hat bereits im 1 . Bande
des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik“ darauf
hingewiesen, dass es zur Kenntniss der Erkrankungsfrequenz
keineswegs hinreicht, lediglich diejenigen Fälle zu registriren
und in die statistischen Berechnungen einzubeziehen, welche
die vollständige Arbeitsunfähigkeit des Behandelten zur
Folge habqn. Man vernachlässigt damit eine Reihe von
Erkrankungen, welche für die Beurtheilung der sanitären V er-
hältnisse von Wichtigkeit sind. Diese Behauptung findet .
in der angeführten Publikation ihre volle Bestätigung. Dem
genannten Verbände gehörten im Jahre 1890 im Ganzen
31 Krankenkassen mit rund 66 000 Mitgliedern an. Es wur-
den nun sowohl diejenigen Erkrankungen, welche Arbeits-
unfähigkeit zur Folge hatten, als auch diejenigen, bei
welchen die Berufsthätigkeit fortgesetzt werden konnte,
verzeichnet und gesondert verarbeitet. Das Ergebniss ist
denn auch überraschend genug, wie die Tabelle in der
folgenden Spalte zeigt.
Bei zahlreichen Krankheitskategorien überwiegen
geradezu jene Fälle, wo der Erkrankte die Arbeit fort-
setzt, so insbesondere bei den venerischen und syphi-
litischen Krankheiten, den Nervenleiden, den Erkrankungen
des Auges und Ohres, der Verdauungsorgane und der
Haut. Insgesammt verhalten sich die Erkrankungen, die
Erwerbsunfähigkeit zur Folge hatten, zu den andern wie
Zum schwedischen Trunksuchtsgesetz. Der Bericht des
Stockholmer Polizeigerichts über die Bestrafungen wegen
Trunkenheit auf öffentlicher Strasse im Jahre 1891 zeigt gegen
das vorhergehende Jahr wohl eine kleine Abnahme; aber die
Ziffern sind doch noch so hoch, dass von einer Abnahme
der Trunksucht keine Rede sein kann. Zu der Abnahme
der Bestrafungen hat aber sicher der Umstand beigetragen,
dass die Polizeiorgane während der letzten Jahre den Be-
griff „betrunken“ immer humaner auffassen, so dass selbst
schwer Angetrunkene, wenn sie sich nur ruhig aut der
Strasse verhalten und noch heim zu finden vermögen, un-
angestastet bleiben. Das Polizeigericht verurtheilte also
nur sinnlos Betrunkene und zwar 7532 Männer und 588
Frauen oder zusammen 8120 Personen. Die geringste An-
zahl der Betrafungen kam im Februar vor mit 530 Fällen,
die folgenden Monate zeigen stets höhere Ziffern, Oktober
mit 865 Fällen die höchste. Diese Personen wurden zu-
sammen zu 80 275 Kronen Geldstrafe verurtheilt. Im Jahre
1890 wurden dagegen 7918 Männer und 522 Frauen oder zu-
sammen 8440 Personen wegen Trunkenheit auf offener 1
Strasse bestraft. Auch in diesem Jahre kamen die meisten
Bestrafungsfälle mit 931 im Oktober vor, die wenigsten im
Januar mit 551. Die Strafgelder beliefen sich aut 82 880
Kronen. Auch aus anderen Theilen des Reiches wird be-
richtet, dass trotz der zahlreichen Mässigkeitsvereine oder
Enthaltsamkeitsvereine, welche letzteren nicht nur Brannt-
wein, sondern auch Bier und Wein verpönen, die Trunk-
sucht doch noch immer zunimmt, welche Erfahrung aus
der nordischen Heimath der Trunksuchtsgesetzgebung ge-
rade im gegenwärtigen Augenblicke für Deutschland werth-
voll sein dürfte.
>) Wien 1891. Selbstverlag.
Verantwortlich flir die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — - Druck von H. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT
Berlin, den 1. Februar 1892.
Für den Anzeigentheil sind die Redaktion und die Verlagsbuchhandlung nicht verantwortlich. Anzeigen- Annahmestelle nur bei
Dr. Otto Eysler, Berlin SW., Charlottenstrasse 11. Preis für die 3 spaltige Colonelzeile 40 Pf.
SBevtng hon XHuuftßr & 3§untbllif in Seip^ig.
©Born 3frt£i»rttfj Knapp, Sie Sanbavbeiter
in ffned)tfdjaft unb gveUjeit. 23ier Beiträge.
1891. ißreid ca. 2 93t'.
Krtuvtrfi Ifrrlmcv, Sie fociale Reform ald
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fpretd 2 93h 40 ipf.
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49. Söanb: Sie tpaubeldpolitif her uridjtigeren
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oon 1880 bid 1890. fßreid 18 93h
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2. 33anb, 21 u. b. £. : Sie S'beeit ber beut»
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P. b. JbJfiUl, S)te gadjoereine unb bie
fociale Bewegung in f^ranfreid). ©onbevabbr.
and ©dpnotlerd 3 afjrbudj 1891. fßveid 2 9)h
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Ra Hm (f h sX ’ (hurnpäifdi.rr (Drfciii dif eltalcnbcr. 9teue golge. ©edjfter
llj lllUf tPt> 3 a () r g a 11 g. 1890. ($er gaumen Dteitje XXXI. SSanb.) ^eraud*
gegeben uon ijirof. Dr. tjjand 2)clbrücf. ißreid gel). 8 93t. (ävfdjeiut a 1 1 j äT) r ti cf). 3'aI)r9aiI9
1891 erfdjeint im gebruar 1892.
fi'omplcte (Srp(. bei- früheren gftjfqäitflc btefeä 13 0 I i t i £ c v u u it c it t b e I) r 1 1 Ät n b e v ii t) m t en 3a t; vb u ä) 3
ffierbcu neu eintreteubev 'Abonnenten 311 eftnäBigtem 'preife gelicfevt.
genier:
I |j, itflk tVi'll i'r ditnatibitätg- unb B 1 1 r r n u c r 1 ’t di. cntit a u n 0 fr h ntnn
2*2. 3mtt 1889. fjumU’ o 0 tlft ä it big umgearbeitete
grofif;. tjeff. 3legiennuj3vat: 2luflage mit einem 2tul)aug, bie 5Botl3ugdbefanut=
mad)uugen bed 23uubedratd entfialtenb. Äart. l 93t. 80 ißf.
IDae H r It cif r r frh nh tl c f 0 h für bad b e u t f cl; e 9teid; nottt 1. 3nni 1891 (9tooeUe
311 $it. Vli Oer ©eiuerbeorbnung). Se^taitdgabe mit (Einleitung, erläuternben 2tnmer!mtgeit
unb Stegifter. 8V2 23og. Sart. 1 93i. 20 ißt
3« ^weiter Sluflnfle erfdjten:
(^oätnltefroiittion
ober
o \ i q 1 1 c f o v nt ?
Sun Julia e ID e euer, Sßfaruev
in ^)ol)t'ntl)uvm b. .Spaüe (©.)• $iei€ 9JÜ- 1.
gu belieben buvcf) alle SBiidjIjrtnblungcii fohlte
nnef) unmittelbar bunt
C5. Sci)uu'trd)lu'’fd)cn Ucrlag tu §ailc (Sank).
3. ©uttvnlag, SSerlogslntdjljoublnug in Söevtiit.
Intfilititnmp imii Ufrfiipngra
ber
©ewcrbcs®evutatton be$ §0lagiftrat§
gu ^Berlin
jum ItudisgeU^ bflrtlfcnb bis üvanftun-
nniuljEVum; bet .Rrbt'iU't
uom 15 Suui 1883.
nebl't einem 21 bb rüde biefeä (flefelje^.
$evau3gegeben uoit
See SKuflbon Dr. jur. Dtidjarb g-rettnb,
SDlcifliftvatS-Slffcfforcn 311 SBcvliu.
jp e f t I inib II.
gv. 8°. 3 23t. 75 SPf.
jl, QI 11 1 1 c it t a g , Dcrlagaburijftanbluim in Berlin.
glatter für (Seno|Tenfd)öftsTDefen.
(Snmtitg her ßiifunft XXXIX. S,d)rgang.)
Organ bee Stügcnicinen SBerüaitbeS beutfefjer (Svioerbö* ititb 3SMitfgcf)afti§=
©euoffcnfdjaftcn.
SSegriinbet ooit
Dr.
IferaitsiUHU’lu'n tum turnt Bunmlte.
2Böd)entlid) eine Ütummer in (Starte ooit 1 — 1 V2 ©rudbogeit.
SlbmisienmttSc^rciS Jjalbjätjrig 3 9Jif.
Verlag von Hermann Bahr in Berlin, W. 9, Linkstr. 13.
Meyer, l>r. Rudolf. Der EmancLpationskainpf des Vierten Standes. Bd. I. 2. Aufl. 1882. 532 S. gr. 8
4 1 Inhalt Theorie des Socialismus. — Der katholische Socialismus. — Die Internationale. — Deutsch-
land. — Schulze. — Lassale. — Marx. — Die Gewerkvereine. — Die Socialconservativen. — Die Arbeiter-
presse. — Stellung der Regierungen zu den socialen Parteien. —
Heimstätten- und andere Wirthschafts-Oesetze der Vereinigten Staaten von Amerika, Canada,
Russland. China, Indien. Rumänien, Serbien und England. Hrsg, mit einleit, und erläuternden Ab-
handlungen von Dr. Rudolf Meyer. 1883. 632 S. gr. S°. i5 Mark. ,
A. Sartorius Frlir. v. Waltershausen. Die nordamerikan. Gewerkschaften unter d. Einfluss der
fortschreitenden Productionstechnik. i885. 332 _S. gr. 8°. 7 Mark 60 Pf.
Derselbe. Der moderne Socialismus in den Vereinigten Staaten v. Amerika. 1890. 422 S. gr. 8 . 8 Mark.
Ursachen der amerikanischen Concurrenz. Ergebnisse einer Studienreise der Herren Grafen Geza
Ancl ras sy, Geza und Imre Szechenyi, Ernst Hoyos, Baron G. Gudenus und Dr. Rudolf Meyer
durch die Vereinigten Staaten. Mit einer Karte. 1883. 825 S. gr. 8°. 13 Mark 50 Pf.
Rodbertus-Jagetzow. Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen Creditnoth des Grundbesitzes.
2 Thle. 1868. 544 S. kl. 8°. 6 Mark. , . „
Zeller, J. Zur Erkenntnis unserer staatswirthscliaftlicheii Zustande. 2. Aufl. mit Anhg. : Kodbertus-
Jagetzow. Die soziale Bedeutung der Staatswirthschaft. Erster sozialer Brief an von Kirchmann. Der
Normalarbeitstag. 1885. 305 S. gr. 8U. 6 Mark. . „r
Knies, C. Ad. Die Statistik als selbstständige Wissenschaft 1850. 175 S. kl. 8°. 2 Mark 25 Pf.
(Parthieartikel. Vorräthe nur noch gering.)
3. CÜPitf fentag, BedaggLnttfofjanMung in Berlin.
(ßuttentag’fcüe Sammlung
Beutler Betdiögel’e^c unb }3icitffl|'d)ei:
tfef-J&usgaben mif Bumer hungert.
tEafrfienfavntat, fiavfmtuivt.
§e|et;e.
1
i
A
Ucutfdje |Utd)$0eret?f*
1.
2.
3.
®ic Slcrfaffung bcc- ®eutfd)cu Dfcid)§»0H Dr.
dou [Könne. ©edjfte Stuftage. 1 SDR. 25 Sßf.
Strafgcfcfebud) für ba§ ®cit4fd)e SHcidi mit beit
gcbrandiiidiftcn SHcidiettrafgciefecit. Sou Dr. j,i.
fRüborff. Tyiinfjeljnte Stuftagc. 1 SDcf.
ÜRilitär=®trafgefcfeIiud) für b o ®cutfd)c SKcid)
non Dr. &. SKuborff. ßiocite Stuflage tioit 2». V.
©olmS. 2 SDif.
4. Slllgemeincb ®cutfd)cö ipanbelägcictshndi unter
stuc.fditufj beb ©eeredjts. Sou %. Sitttjauer. Siebente
Stuflage. 2 SDR.
5. Sl II g: meine ®ciitid>c SBcdifclorbmuig oon Dr.
©. Sovd)arbt. ©edjfie Stuftage uott G. Satt, inib
SBc d)f elftem p elfte u er g e f cfs uebft S£öcd)fclficmpel=
ftcuertarif uou SB. bi an pp. fünfte Stuftage. 2 SDR.
6 SJcid)e=WeU)crbe=3C'rbiuutg mit bcn für b«3 SReid)
ertaffenen StuSfubvungSbRtiminumieii. SKeuefte Raffung
beä ©efefceS. a>ou S. Sßt). SBergcr, SRegierungSratl). ,
Gifte Stuftage. 1 SDR. 25 ißf.
7. ®ic ®cutfd)c 'ßoft= unb 2clcgrapl)cn=©cicfe=
getmttg. SSou Dr. Sß. ©. gifdjer. Suite Stuftage.
2 sdr. 50 sßf.
8. ®ic Gleiche über bcn Unterftüfeungömolmfifei
über SunbeS= utib ©taatäangetjörigfeit unb gveijügigfeit.
SBon Dr. 3. ttred). 3>DCt|c Stuftage. 2 9J!f.
9a. Sammlung tTcinercv piiuatteditlidicr Pfeidic-
gefehc. Ergänjuiigäbanb 311 bcn im 3- ©iitteutag’fdjen
Serlaqe erfÄieneiten Ginsch'Oluänaben beutfdjcr 9icid)§=
gefefce. i'Oii ff. SBt er ^ a 11 ä. 2 fflif. 25 Spf.
9b. Sammlung flcitterer fWetdjbgefchc fnaft'edit=
lidicit Snljaltö. Grgätiäungä.bar.b 311 ben im 3- ©nttem
tag'fdien SBcrlaqe erfdjieueiten GiiijeDSInägabeu bentfdjer
SReidibgefe^c. Soft SW. SB ern er. 1 SSJif. 80 Sßf.
10. ®a§ fWcidjebeauitcngcfeh uotn 31. 9Ji 1-3 1873. Srnette
Stuflage non 2B.2 um au, 9teidjSgcrid)t§vatl> 29Jif.40 Sßf-
11. ©iutlprosefiovbmuig mit Gicrtd)t6ucifaffuug0=
gefeb, G'i it f ii I) nui g c- g c fc Be n , fUebcugciehen unb
GSrgoiiiimgen. SBon SK. ©i)bom. ffünfte Stuftage.
2 SKf. 50 Sßf-
12. Stvafproäefunbuung uebft Gi e r i di 1 0 n c r f a f f 11 1 1 g § =
geietj. ffünftc Stuftage oon ^elltoeg. 1 9-Kt. 60 -ßf.
13. Äonfur0ovbnuug mit einfübrung0gcfch,91i bcn=
geeben unb G'rgdiijimgeit. goii 3i. (sstjbom.
fBierte Stuftage. 80 $f.
14. Gi e r i d i t-ni c r f a f f n 1 ' g 0 g e f c h fürba0®cutfd) Sicid).
SBon SK. ©hboiu. (fünfte Stuftage. 80 ‘ßf-
15. Gicvicbtöfoftengefeh uub ©cbftbrctiorbmutg für
Gicridjtetiolljteber. Gicbütncuorbmuig für 3c u=
gen uub ©admerftdnbige. SJiit MoftciitabcUcn.
3?ou 9t. ©tjboiu. SBierle Suiftage. 80 Sßf.
16. 'Hcd)10anmalt0orbniutg für bao ®eutfd)C SK cid).
Klon 9t. © i) b 0 tu. Ißieite Stuftage. 50 Sßf.
17. Giebii (1 reu 0 rb 11 n 11 g für Sicditbanmaltc. Sßcn
sK. ©ljbom. ©ritte Stuftage. 60 sßf.
18 ®a0 ©eutfdie SJeidiogcfeh über bie 'Reid)0=
ftcinpclabgabett in oer ffaffung beä ©efefeeS uom
29. SJJlai 1885. Sörfenfteuergefeti. SBon 2h ©aupp.
3./4. Stuflage ergänzt bis 1890. 2 StKt.
19. ®ic ©ccgcfefegebintg beb Teutfdien Sieidjcb.
SBon Dr. jur. S®. (S. Änitfdjlt). 3 SDu-
20. Gicfcfec, betreffenb bic Mrantenucrfiriieutiig ber
Stibciter. 2'on Gr. uon SBoebtfe. ©ritte sUuflage
1 üJif. 20 Sßf.
21. ®ic Monfnlargcfehgcbung bc0®cutfd)cn SleidicS.
31 011 Dr. SßtjiliJip ,3 0 v it. 4 99it.
22. 't atetitgeicb. Giefets über SlJt uftct= unb SJtobelD
fdiuß. ©eich über SJtarfenfdjitb. iKcbft Sluä-
fü^rungäbeftiminuiigeii. Sy 011 ©. Sßl). 'Berger, ©ritte
Stuftage. 3« SBorbereitung.
23. lInfatItierfiri)eiHiig0gefeh uom 6. 3ul* l^t unb
Giefefe über bic Stuobchitung ber Unfall1 unb
Äranfeuucrfidierung uom 28. 'J.Kai 1885. i'on
©. uoii SBoebtfe. SBierte Stuftage. 2 9Kf.
24. SJcidibgcfch» betreffenb bie ftotnmanbitgefcI(=
idiaften auf Stfticn unb bic SIfticngcfcIlfdiaften.
Sy 01t Sei) 6 n er unb Dr. 6. SB. ©im on. ©ritte Stuf =
läge. 1 2Kf.
25. ®ab ©entfdjc Sicicfibgefefe megen ©rbebiing ber
süraufteucr uom 31. ÜJiai 1872. sy oti (S. SBcrtljo.
1 3Kf. 60 sßf.
26. ®ic 'Mcid)0gcfcbgcbuug über fö}ünj= unb S8anf=
Uicfen, slSaptcrgelb. sVramicnuapicrc unb SKcid)0=
anlcihcn. Bon Dr. SK. 41'od). Biudh: SKuflag« 2 ÜKt. 40 Sßf.
27. ©ic ©efehgebung. betr bas Gi.efiinbebcttemcfeii
ittt ®cxttfä)cn Sicid). Bon Dr. jur. G. öoefd; uub
Dr. med. 3. Sarften. 1 SDtf. 60 'ßf.
28. G3efcfe, betreffenb bie U tifallucrfidierung ber bei
Stauten bcfdiaftigtcn sß'crfoncn. Born ,3ulil887.
SBon Seo ÜKugban. 1 sJJif. 25 Sßf.
29. Giefefe, betreffenb bie GSruierb0= unb SSHrtlu
fdiaftogcuoffcufdiaftcn. Born 1. SDZai 1889. Bon
S. SBartfiuS. Stierte Stuftage. 1 ÜKt. 25 Sßf.
30. G cfehi betreffenb bic 3n»aiibitdt0= unb 3(ltcr0=
uerfidicru ng. Born 22 Juni 1889. SBon (S. uoti
SB 0 e b t £ c. SBierte Stuftage. 2 9.Kf.
31. sKeidiegcfeh, betreffenb bie ©emerbegerid) e.
SBont 29. 3>d' 1890. Sion Beo SKuqban. 2. SluSgabc.
1 SDR. 25 sßf.
B
JHeitßirdje .
1. ®ic SBcrfaffmig0=Urfunbe für bcn sfJrcufeifdjen
©taat. Sou Dr. Sl b 0 1 f Strnbt. Blueite Stuftage.
2 SDif.
2. öcamten=©cfefegcbungi SfSreufüfdje. Gntliattciib
bie luuijtigften sBeauitengcfd3e in ?)3veuBeii; DJcit turnen
Sllimerfuiigen. einem djronologifdjen Serseidjnifi bev ab.
aebruiften (Sicfc^e ic. Soll G. Sßiafferotb- 3wntc
ueubearbeitete Stuftage. 1 ÜKf. 50 Sf.
3. ®a0 SBrcufjifdjc ©eich- b. tr. bie jlmgngsuoü--
ftrcctiing in ba0 nnb.uicalidic SBermbgen uom
13. Suti 1883 1111b atteu Slebengefe^cn. Soit Dr.
3- tfre di uub Dr. S. fyifdjer. Sireib Stuftage.
1 SDR.
4. ®ic Süreuptfdien ©efefee, betreffenb bao sRotariat
in ben BanbeStljeilen beö gemeinen 9red)tb uub bev
Banbredjtv. 3'ueite ueväuberte Stuftage gcrauSgegeben
uon 9(. ©ijbolu unb Sl. §elllueg. 1 SDR. 60 ’ßf.
5.
6.
7.
8.
®a0 ©efefe uom 24. Stpril 1854 (betr. bie auftcr»
ebelidje ©djiuängerung) uub bie banebeu geltenbeu Sic.
ftimmuiigen beä Slüg. Banbveditä uebft beu baju ergangenen
sßräiubif'ateu, ber Bitteratur :c. Sou Dr. jur. .3. © d) u 13 ..
75 Sfr.
ie sVreufjifdjeit Sluefübrutigegcfcbe unb SJer=
rb nun gen 31t ben SKeidicjuitiigefcheu. Sou
StUgemeinc ©eridjtborbnung für btc S<5reu6i=
fdicn Staaicn uom <>. Juli 1793 unb S-H-enfetldic
.ivonfur0orbiiung uom 8. Sölat 1855. Sou
3. Sicvbauä. 2 9Kf. 50 Sßf.
®icSHormnnbfd)aft0=®rbnun .i uout.i. 3ult 187.»'
uebft bcn ba.iu erlaffeneu SKebengefekeu unb Sluge-
meinen Serfüguugeu. Sou SDlaj © d) u l^e uftei 11.
1 9.Kf. 20 Sßf.
9. ®ie 't-'rcafnidie Girunbbudigcfcfegcbung. Sou
Sßrof. Dr. ©. fy 1 f d) e r. 1 SDif. 20 'ßf.
10. GSinfommcnftcucrgeicb für bic 'Vrcufjifdic O.K g:
nardiie. Sou ©cl). SKatl) 9i. SDici^en. Smeite Slup
läge. 1 SDR.
11. Gicmcrbeftcucrgefch für bic 'i'rcufiifdic IKo--
ltard)ic. Sou SiogierungSvatt) Sl. gern oft. 80 St-
1
1
!
\ erant wörtlich
für den Anzeigentheil : Dr. Otto Eysler in Berlin. — Druck von 11. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 8. Februar 1892.
Nummer 6.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag,
in Berlin SW. 48
Verlagsbuchhandlung
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
1 > i e Neu- Organisation der Ge-
werbegerichte in Deutsch-
land und das Berliner Orts-
Statut. Von Dr. Max Quarck.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirthschaftsstatistik :
Ein neuer Lohnberechnungsplan.
Von H. Schlüter.
Berufsgenossenschaften in der
Schweiz.
Agitation der Bodenreformer in
England.
Englisches Genossenschaftswesen.
Arbeiterzustände:
Das Trucksystem in England.
Von Prof. Dr. W. Stieda.
Eine Aufnahme der ländlichen
Arbeiterverhältnisse. Von Dr.
Max Quarck.
Ländliche Arbeiter Verhältnisse in
Siiddeutschland.
Zur Arbeitsstatistik deutscher < ie-
werbeinspektoren.
Ein österreichisches Amt für
Arbeitsstatistik.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung :
Ilolzhauerstrike in Frankreich.
Buchdruckerstrike in Bukarest.
Wiener Buchdruckerei- und Schrift-
giessereiarbeiter-Strike im fahre
1891.
Strike der Bierbrauergehilfen in
Nürnberg.
Zur Organisation der deutschen
Metallarbeiter.
Unternehmerverbände:
Vereinigungen in der Kohlen-
industrie.
Kaufmännische Bewegung :
Die Syndikatskammer der kauf-
männisch Angestellten in Paris.
Zur Verdrängung des Zwischen-
handels.
Minimalkündigungsfristen ftirHand-
lungsgehilfen in Oesterreich.
Gehälter der Handlungsgehilfen.
Handwerkerfragen :
Gewerbekammern in Kaden.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Die neuesten Fortschritte der
Fabrikgesetzgebung in Russland.
Von Dr. Sophie Daszynska.
Arbeiterschutz in der Mühlen-
industrie.
Arbeiterversicherung:
Eine Enquete betr. die Kranken-
versicherung. Von Dr. Leo
Verkauf.
Wohnungszustände und Woh-
nungsgesetzgebung :
Ueber Versuche zur Hebung der
Wohnungsnoth der Arbeiter.
Zur Reform der berliner Bau-
ordnung.
Wohnungszustände in Mannheim.
Armenwesen:
Die Individualstatistik des Wie-
ner Vereins gegen Verarmung
und Bettelei. Von Prof. Dr. E.
Misch 1 e r.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Neu-Organisation der Gewerbegerichte in
Deutschland und das Berliner Ortsstatut.
In Deutschland müssen kleine sozialpolitische Fort-
schritte, welche man eigentlich nur als Wohlfahrtseinrichtun-
; gen bezeichnen kann, wenn sie auch weit über den Kreis
einzelner Fabriken undGewerbe hinaus im praktischen Leben
sich äussern, fast regelmässig eine Menge Reibungen und
Widerstände überwinden, die man anderswo nicht kennt.
Was sind gewerbliche Schiedsgerichte doch eigentlich für
! selbstverständliche Einrichtungen für eine industrielle Zeit!
In Deutschland haben sie sich aber keineswegs widerstandslos
1 eingebürgert. Und speziell der Entwurf eines Ortsstatuts für
j c^as zukünftige Gewerbegericht der deutschen Reichshaupt-
stadt, welcher als Drucksache des Berliner Magistrats vor
uns liegt, bedeutet den endlichen Abschluss jahrelanger
Kämpfe mit der preussischen Büreaukratie um die innere Or-
ganisation dieses Gerichtes, Kämpfe, die seine Errichtung bis
jetzt verzögerten. Hier, wo für die Bedürfnisse der fortge-
schrittensten Arbeiterbevölkernng im Reiche gestritten wer-
den musste, während in Leipzig, Frankfurt a. M. u. s. w.
längst entsprechende Einrichtungen getroffen waren, liegt ein
Stück jener kommunalen Sozialpolitik vor Augen, das lehr-
reicher erscheint, als manche grosse Staatsaktion. In jenem
Kampfe um die Errichtung eines gewerblichen Schiedsge-
richts für Berlin vertrat der Magistrat der Reichshauptstadt
den sozialen Fortschritt, der sich anderswo bereits gesund
entwickelt und in der Praxis bewährt hatte, während die
staatlichen Aufsichtsbehörden von dem offenen Bestreben
geleitet waren, das Zustandekommen eines den Arbeitern
entgegenkommenden Statuts zu verhindern, damit das-
selbe nicht dem damals geplanten und erst später zu
Stande gekommenen Reichsgesetz vom 29. Juli 1890 vor-
greife, welches in der That für die bisher bestandenen
Schiedsgerichte theilweise Rückschritte gebracht hat.
Der sozialdemokratische Stadtverordnete Tutzauer regte
zuerst am 4. Juni 1885 die Errichtung eines gewerblichen
Schiedsgerichtes für Berlin auf Grund des damaligen
§ 120a der Gewerbeordnung an, eines Paragraphen, der den
Gemeindebehörden das Recht der Errichtung gewerblicher
Schiedsgerichte gab und ihnen, die Zustimmung der oberen
Behörde vorausgesetzt, volle Freiheit in der Organisation
derselben durch Ortsstatut liess. Die Herstellung dieses
Ortsstatutes, dessen erster Entwurf ebenfalls von Tutzauer
stammt, und die endgiltige Einigung aller städtischen
Behörden über den schliesslichen Wortlaut nahm volle
zwei Jahre in Anspruch. Der letzte Beschluss der Ber-
liner Gemeindebehörden wurde im Dezember 1887 gefasst
und der Entwurf im März 1888 der staatlichen Aufsichts-
behörde zur Genehmigung unterbreitet. Erst im Oktober
1889 aber, also ca. 1 V2 Jahr nachher, erfolgte der staatliche
Bescheid, und zwar ablehnend. Der Oberpräsident bean-
standete die Bestimmungen des Statuts, welche das Recht
zur Theilnahme an den Beisitzerwahlen mit dem 21. Jahre
beginnen Hessen, dasselbe auch den weiblichen Arbeitern
gewährten, den Innungs -Schiedsgerichten ihre Ausnahme-
stellung nehmen, die Befugniss des Schiedsgerichtes zur
Eidesabnahme feststellen und die Endgiltigkeit der schieds-
gerichtlichen Entscheidung statuiren wollten. Da die Ber-
liner Gemeindebehörde sich in keinem wesentlichen der
vorhin angeführten Punkte trotz aller Berathungen, die zu
Anfang des Jahres 1890 stattfanden, auf den Standpunkt der
staatlichen Aufsichtsbehörde zu stellen vermochte, so war,
74
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 6.
gewollt oder ungewollt, die Wirkung erzielt, dass ein Ge-
werbe-Schiedsgericht der deutschen Reichshauptstadt vor
dem Inkrafttreten des inzwischen von der Reichsregierung j
eingebrachten Spezialgesetzentwurfes nicht zu Stande kam.
Das neue Spezialgesetz ist materiell seit 1. April 1891 in
Kraft. Es enthält fast alle jene Vorschriften, welche die
staatliche Aufsichtsbehörde auf dem Verwaltungswege bei
den Berliner Gemeindebehörden nicht durchsetzen konnte,
als bindende gesetzliche Normen. Wohl oder übel hat des-
halb der neue, jetzt vorliegende Entwurf des Magistrats
jene berücksichtigen müssen.
Somit mussten im § 4 eventuelle Innungs-Schieds-
gerichte als gleichberechtigte Sondergerichte anerkannt
werden; in §9 ist die Berechtigung zur Theilnahme an der
Wahl der 420 Beisitzer (210 Unternehmer und 210 Arbeiter,
von denen immer je 2 an einer Spruchsitzung theilnehmen)
an die Vollendung des 25. Lebensjahres geknüpft, und im
§ 6 das zur Wählbarkeit berechtigende Alter auf 30 Jahre
hinaufgesetzt. Das Wahlrecht der weiblichen Arbeiter ist
ausgeschlossen. Der Vorsitzende des Gewerbegerichtes, der
bekanntlich weder Unternehmer noch Arbeiter sein darf,
sowie seine Stellvertreter werden vom Magistrat ernannt
und müssen vom Oberpräsidenten bestätigt sein; das Letz-
tere war früher auch nicht der Fall. Nur die Vereidigung von
Zeugen und Sachverständigen hat das neue Gesetz zulassen
müssen und infolgedessen auch der Berliner Statutenentwurf
aufgenommen. Die Endgiltigkeit der schiedsgerichtlichen
Urtheile ist zwar für Streitsachen zugestanden, bei denen
der Werth des Streitgegenstandes 100 Mk. nicht übersteigt;
im Uebrigen ist jedoch Berufung an das Landgericht I
statthaft. Die Funktionen, welche das künftige Gewerbe-
gericht der Reichshauptstadt eventuell als Einigungsamt
und gutachtliche Sozialbehörde zu erfüllen hat, sind im
Wesentlichen so umgrenzt, wenigstens in ernsterer Hinsicht,
wie es das neue Gesetz in seinen bekannten § 61 ff. und
§ 70 in Anlehnung an vorhandene Schiedsgerichtsinstitute,
sowie die ersten Berliner Entwürfe, vorschreibt.
Wenn nun aber auch in diesen Hauptpunkten nichts
gethan werden konnte, als die genaue Beobachtung
der neuen gesetzlichen Normalvorschriften, durch deren
Abänderung erst einmal wieder ein freierer sozialpolitischer
Geist in die Organisation der gewerblichen Schiedsgerichte
kommen kann, so lässt das Gesetz vom 29. Juli 1890 doch
nach einigen anderen, ebenfalls nicht unwichtigen Seiten,
der statutarischen Regelung noch einige Freiheit, und hier
wird die Betrachtung des neuen Berliner Statutenentwurfs
im gegenwärtigen Stadium am interessantesten. Man stösst
hier auf einige recht praktische und einsichtsvolle Bestim-
mungen, daneben aber auch manches Verfehlte, das durch
die Stadtverordnetenversammlung am Magistratsentwurf zu
bessern wäre. Der Grundsatz der sachverständigen, schnellen
und möglichst kostenlosen Rechtsprechung, sowie eines
volksthümlichen , leicht verständlichen Gerichtsverfahrens
wurde zunächst an mehreren, durch das Reichsgesetz offen
gelassenen Stellen durch den Statutenentwurf gut verwirk-
licht. Hier ist vor Allem die durch § 65 bestimmte völlige
Gebührenfreiheit zu nennen, die z. B. leider in dem dem-
nächst zu besprechenden neuen Statut für Frankfurt a. M.
nicht ausgesprochen ist, sodann die Besorgung der Zustel-
lungen durch die städtischen Briefboten, sowie die mit den
ersten Berliner Vorschlägen und der Frankfurter Bestimmung
korrespondirende Festsetzung der Beisitzerentschädigung
in der angemessenen Höhe von 4 Mark täglich, welche es
den Arbeitern erst möglich macht, mit Lust und Liebe am
Gericht mitzuarbeiten; nur sollte in § 30 nicht die viertel-
jährliche, sondern die sofortige Auszahlung der Entschädi-
gung als Regel eingeführt werden, da ein Arbeiter doch
nicht so lange vorschiessen kann. Aus dem anerkennens-
werthen Bestreben, die sachgemässe Zusammensetzung des
Gerichtes zu fördern, ist wohl auch Al. 4 des § 29 ent-
sprungen, nach welchem der Vorsitzende ,, darauf zu sehen
hat, dass thunlichst mindestens ein Arbeitgeber und Arbeiter
demselben oder einem verwandten Berufszweige angehören,
wie die streitenden Parteien“; der Vorsitzende soll für
diesen Zweck sogar von der in Gemässheit des § 26 durch
das Loos festgestellten Reihenfolge, in welcher die Beisitzer
jährlich an den Spruchsitzungen theilzunehmen haben, ab-
weichen können. Diese Bestimmung wird jedoch u. E., so gut
sie gemeint ist, in der Praxis zu sehr bedenklichen Folgen
führen. Vor dem Berliner Gewerbegericht werden sich
die Fälle aus den verschiedensten Berufszweigen häufen.
Sollen dieselben schnell erledigt werden, so müssen sie in
der bunten Reihenfolge ihrer Anmeldung zur Verhandlung
angesetzt werden, und es hiesse einen Hauptvortheil des
Gerichts aufgeben, wenn immer gewartet werden sollte, bis
mehrere Sachen aus einem Berufszweig Zusammenkommen,
damit sie auch von Berufsgenossen abgeurtheilt werden.
Soll aber dies in Ausführung des § 29 Al. 4 nicht
geschehen , so müssten zu jeder Spruchsitzung eine
o-anze Auswahl von Beisitzern der verschiedenen Berufs-
zweige einberufen und diese in fortwährender Abwechse-
lung zu den verschiedenen Sachen hinzugezogen werden.
Durch beide Massregeln würde die Schnelligkeit des Ver-
fahrens ausserordentlich gehemmt und etwas Unnöthiges
angestrebt werden, da spezielle Sachkenntniss der Beisitzer
nur in den seltensten Fällen nothwendig, vielmehr ihre
sozialpolitische Mitwirkung als Unternehmer und Arbeiter
die Hauptsache ist. Diese Vorschrift sollte also gestrichen
werden. Ebenso würde die Promptheit des gewerbegericht-
lichen Verfahrens in Berlin sehr gefördert werden, wenn
die in § 5, Al. 2 des Statutenentwurfes ins Auge gefasste
Bildung von Kammern sogleich durch das Statut zur That-
sache gemacht würde. Bei der grossen Ausdehnung Berlins
wäre wohl die 1 heilung des Gerichts in drei oder viel
Kammern für die drei oder vier gewerblichen Hauptbezirke
der Reichshauptstadt im Centrum, im Norden, im Osten
und im Südwesten eine grosse Erleichterung für den Ver-
kehr des Publikums mit dem Gericht. Ferner sollte die
Stadtverordnetenversammlung erwägen, ob es nothwendig
ist, dass lediglich Juristen, wie § 7 des Entwurfes will,
zu Vorsitzenden ernannt werden. Das Reichsgesetz ver-
langt dies keineswegs, vielmehr kann nach seinen Motiven
„unter Umständen ein vertrauenswürdiger und mit den
Verhältnissen des Lebens näher bekannter Mann sehr wohl
geeignet sein, in der Stelle des Vorsitzenden erspriesslich
zu wirken, auch wenn ihm rechtsgelehrte Bildung abgeht“
(vgl. hierzu den trefflichen Kommentar von Stein, Berlin
1891, Verlag von Fr. Vahlen, S. 106). Endlich giebt das
von dem Magistratsentwurf vorgesehene Wahlverfahren zu
Bedenken Anlass; hierauf hat sich bis jetzt besonders die
Kritik der Arbeiter (vgl. „Vorwärts“, Beilage vom 31. De-
zember 1891) konzentrirt, ohne übrigens irgendwie er-
schöpfend gewesen zu sein. Abweichend z. B. vom be-
währten Statut in Frankfurt a. M. will der Berliner Entwurf
in § 13 das System der Wahllisten einführen und in diese
nur diejenigen Wahlberechtigten eintragen, welche inner-
halb einer Präklusivfrist an bestimmten Stellen angemeldet
werden. Damit würden sehr einseitige W ählerlisten ent-
stehen, und die Entscheidung bei den Wahlen würde regel-
mässig in den Händen zufällig gut organisirter Minderheiten
liegen. Dieses System ist ganz nach Wunsch der Innungen,
die mit ihm alle anderen Gewerbetreibenden majorisiren
dürften, während doch gerade durch die Wahlen für das
Gewerbegericht die sozialpolitische Theilnahme der bisher
Gleichgültigen angeregt werden soll. Das Frankfurter
System, bei welchem von Listen ganz abgesehen und tüi
No. 6.
SOZTALPOI JTISCHES CENTRALBLATT.
75
die Wahl lediglich eine einfache, leicht zu beschaffende
Legitimation der sich Betheiligenden vorgeschrieben ist,
verdient entschieden auch für Berlin den Vorzug. Sodann
müsste in sämmtlichen Bezirken für die Gesammtzahl der
Beisitzer gestimmt werden, sodass das ebenfalls anderweit
bewährte Listenskrutinium Platz griffe; jedenfalls dürfte in
§ 11, Abs. 2 dem Magistrat nicht überlassen werden, die
Ziffer der zu wählenden Beisitzer für jeden Bezirk will-
kürlich zu bestimmen, sondern es wäre gleich im Statut
mindestens eine Norm festzusetzen (z. B. die Zahl der im
Bezirk vorhandenen gewerblichen Betriebe), nach welcher
die Bestimmung stattzufinden hätte. Im § 12 empfiehlt sich
vielleicht die Wahl der Wahlausschüsse durch das Gewerbe-
gericht, statt ihre Ernennung durch den Magistrat. Was
dann die Dauer des Beisitzeramtes anbelangt (§ 8), so hätte
der Entwurf nicht gerade gleich die vom Reichsgesetz vor-
gesehene Maximalfrist von 6 Jahren aufnehmen, sondern
Wahlperioden von kürzerer Dauer (2 Jahre) fixiren sollen,
zur Auffrischung des Beisitzerpersonals, dessen soziale Ver-
hältnisse in 6 Jahren zu grossen Veränderungen unterworfen
sind. Eine so lange Wahlperiode ist nirgends sonst in
einer Grossstadt mit rasch fortschreitendem gewerblichen
Leben eingeführt. Durch den Zusatz, dass alle zwei Jahre
ein Drittheil der Beisitzer neu gewählt werden soll, ist
ja die Berechtigung dieses Einwurfes abgeschwächt, aber
doch prinzipiell zugegeben.
Möge nun die Organisation des reichshauptstädtischen
Gewerbegerichts nach so langen Geburtsschmerzen bald
ihre sachgemässe Erledigung durch übereinstimmende Be-
schlüsse des Magistrats, der Stadtverordneten und der staat-
lichen Aufsichtsbehörde finden. Man wird sich dabei in
der Reichshauptstadt seitens aller Betheiligten bewusst
bleiben, dass die Vorzüge und Mängel der neuen Einrich-
tung, wie die Dinge nun einmal liegen, für die Städte des
ganzen Reichs vorbildlich wirken dürften und deshalb auf
eine Beseitigung der letzteren doppelt bedacht sein müssen.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Soziale Wirtschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Ein neuer Lohnberechnungsplan.
Eine neue Art der Lohnauszahlung wird in jüngster
Zeit in den Vereinigten Staaten besprochen und die kapi-
talistischen Fachblätter jenes Landes lenken die Aufmerk-
samkeit auf dieselbe.
Dieser neue Plan der Unternehmer, die Arbeitsleistung
der von ihnen beschäftigten Arbeiter zu berechnen, wird
der „Prämienplan“ genannt. Derselbe geht aus von einem
Herrn J. A. Halsey aus Sheerbrooke, Canada, welcher
seinen Vorschlag kürzlich vor der „American Society of
Mechanical Engineers“ in einer Vorlesung näher be-
gründete.
Da die Angelegenheit von allgemeinem Interesse ist,
dürfte die Wiedergabe der hauptsächlichsten Gesichtspunkte
nicht ohne Nutzen sein.
Nach Halsey sind die drei bestehenden Arten der
Lohnzahlung der Arbeiter folgende: 1. die Zahlung nach
Tagelohn, bei welchem der Arbeiter nach der Zeit, in
der er beschäftigt ist, bezahlt wird; 2. die Zahlung nach
gelieferter fertiger Arbeit, die Stückarbeit, bei der die
Leistung des Arbeiters die Grundlage der Lohnberech-
nungbildet und 3. die Gewinnbetheiligung, bei welcher
der Arbeiter neben seinem Lohne am Jahresschluss einen
Antheil an dem erzielten Geschäftsgewinn überwiesen erhält.
Was die Zahlung nach Tagelohn anlange, so sei
bei derselben kein rechter Antrieb für den Arbeiter vor-
hauden und er werde zu nachlässiger Arbeit veranlasst, so
dass der Untefnehmer den höchsten Preis für die Arbeits-
leistung zu zahlen habe.
Die Stückarbeit sei ein Versuch, diesem Uebelstande
— der nicht genügenden Anfeuerung des Arbeiters bei
seiner Arbeit nämlich — abzuhelfen. Der Unternehmer
kalkulirt, dass irgend ein Stück Arbeit, welches beim Tage-
lohn einen Dollar kostet, bei erhöhter Anstrengung des
Arbeiters für 80 Cents herzustellen sei. Deshalb bietet er
dem Arbeiter einen Theil des Profits an, der aus den herab-
gesetzten Kosten resultirt, indem er dem Manne 90 Cents
für jedes Stück zahlt. Dies geht zunächst recht gut, bis
entweder der Arbeiter findet, dass er nach harter, er-
höhter Anstrengung nichts verdient, oder dass er eine so
grosse Anzahl von Stücken fertiger Arbeit herstellt, dass
der Unternehmer den bisher gezahlten Stückpreis zu be-
schneiden beginnt, und in diesem Fall der Arbeiter anfängt,
weniger intensiv zu arbeiten, bis dieselben Uebelstände
wie früher sich einstellen.
Bei der Gewinnbetheiligung erhält jeder Arbeiter einen
gleichen Antheil an dem Profit des Geschäftes. Diese Gleich-
heit sei bei diesem System das Uebel. Ein fleissiger schwer
arbeitender Mann erhält hierbei denselben Antheil, wie eine
Schaar faullenzender Bursche, und der erstere habe keinen
persönlichen Gewinn von seiner grösseren individuellen
Anstrengung. Hierzu komme, dass bei diesem System keine
Rücksicht auf schlechte Geschäftsjahre genommen werde,
und der Arbeiter, welcher an dem Profit der guten Jahre
Theil nimmt, murre, wenn ihm zugemuthet wird, auch
an den Verlusten zu participieren. Vom Standpunkte des
Unternehmers zahle dieser bei der Gewinnbetheiligung den
Arbeitern Profite, mit denen sie nichts zu thun haben,
z. B. einen Antheil an dem durch reduzirte Unkosten im
kommerziellen Vertriebe oder durch systematischere Fabri-
kationsweise erzielten Gewinn. Der Arbeiter sei bei Ein-
führung der Gewinnbetheiligung froh, ausser seinem Lohne
etwas zu erhalten, und begriisse seinen Antheil als Bonus
über sein bisheriges Total-Einkommen. Nach und nach
aber glaube er, dass die Bestimmungen der Abmachung
nicht innegehalten werden, und die Streitigkeiten beginnen.
Der einzige Weg für den Unternehmer, die Angelegenheit
zu regeln, sei, dass er seine Bücher zeigt, und falls er selbst
hierzu bereit sein sollte — was nicht Jeder ist — so gebe es
doch wenig Arbeitercomitees, die genügend in der Wissen-
schaft des Gewinns und Verlustes bewandert sind, um den
Gegenstand zu begreifen.
Dagegen sei der Prämienplan ein Versuch, alle Uebel-
stände zu beseitigen, die den übrigen Systemen der Lohn-
zahlung anhaften, und Herr Halsey entwickelte denselben
in folgender Weise.
Zunächst werde ein den Umständen angemessener
(reasonable) Voranschlag über die Zahl der Stunden ge-
macht, die zunächst zur Herstellung eines bestimmten Stückes
Arbeit nöthig seien, sodann einige man sich über den Stun-
denlohn, der gezahlt werden solle. Für jede Stunde, die
der Arbeiter bei Herstellung der betreffenden Arbeit
weniger gebrauche, als der Voranschlag vorgesehen, er-
halte er eine auf einer vereinbarten Skala basirte Prämie.
Diese Stunden-Prämie müsse geringer sein, als der Stun-
denlohn, so dass, wenn eine Stunde gespart ist, die
Kosten des Stückes für den Unternehmer kleiner seien,
und gleichzeitig der Verdienst des Arbeiters sich ver-
grössere. Man nehme einen Fall, wie ihn die folgende
Tabelle zur Grundlage hat:
1.
2.
3.
4-
5.
Verbrauchte
Zeit.
Stunden
Lohn
pro Stück.
$
Prämie.
$
Gesammtkosten
der Arbeit
Rubrik 2 + 3.
Lohn des
Arbeiters pro
Stunde
= Rubrik 4/1.
S
10 ....
3,00
0,00
3,00
0,30
9 ... .
2,70
0,15
2,85
0,317
8 ... .
2,40
0,30
2,70
0,333
7 ... .
2,10
0,45
2,55
0,364
6 ... .
1,80
0,60
2,40
0,40
5 ... .
1,50
0,75
2,25
0,45
76
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 6.
Wenn ein Mann zehn Stunden brauche, um ein Stück
Arbeit zu beendigen, und sein Stundenlohn betrage 30 Cents,
so würde die Summe seines Tagelohnes Doll. 3,00 ausmachen.
Beende er dagegen seine Arbeit in acht Stunden, so würde
er 8 Mal 30 Cents, das ist Doll. 2,40 als seinen gewöhn-
lichen Lohn erhalten und zusätzlich der Prämie von
15 Cents per Stunde für die zwei Stunden, die er gespart
hat, so dass sein Tagelohn Doll. 2,70 oder 33“/4 Cents per
Stunde betragen würde, während die Lohn Unkosten des
Unternehmers für das Stück Arbeit um 30 Cents reduzirt
sein würden. In diesem Falle wären die Unkosten des
Unternehmens um lOpCt. verringert, während der Stunden -
lohn des Arbeiters sich um die gleiche Rate erhöhte. Die
Stundenprämie müsste sorgfältig festgesetzt und konsequent
beibehalten werden, bis verbesserte Maschinerie oder ähn-
liche Ursachen eine neue Grundlage der Berechnung noth-
wendig machen. Sollte der Unternehmer heisshungrig sein
und versuchen, die Prämienrate herabzusetzen, so wurde er
die Citrone zu sehr ausquetschen und seine Absicht selbst
vereiteln, da der Arbeiter dann einfach langsamer arbei-
tete. Ist andererseits die Prämie zu hoch, so zahle dei
Unternehmer zu grosse Löhne, aber trotzdem würde er immei
noch billiger dabei fahren, als vor Einführung des Pramien-
systems. . J
Soweit die Ausführungen des Herrn F.A. Halsey, der,
das muss man ihm lassen, es mit grossem Scharfsinn ver-
standen hat, einen Plan auszuhecken, durch den die Arbeiter
zur höchsten physisch möglichen Anstrengung veran asst
werden sollen. Dieser Plan ist ein Versuch, durch eine
Prämie den Arbeiter zu veranlassen, das höchst mögliche
Arbeitsprodukt in möglichst kurzer Zeit herzustellen und
ihn durch den verlockend hohen Lohn der S tun denarbeit
zu bewegen, möglichst viele Stunden des I ages zu arbeiten
und die allgemeine Arbeitszeit zu verlängern.
Es wird nicht nöthig sein, hier aut die allgemeinen
ökonomischen Ursachen näher einzugehen, die bei Einfüh-
rung des Prämienplanes den etwaigen höheren Lohn der
Arbeiter bald wieder auf das alte Niveau herabdrücken
würden; nur einige Worte noch über den unmittelbaren
Vortheil, den derselbe für den Unternehmer, und den un-
mittelbaren Nachtheil, den derselbe für den Arbeiter
bedeutet. . . . ., ,
Mehr noch als die Akkordarbeit, ist die Arbeit nach
dem Prämiensystem eine Mordarbeit. Die Extravergütung,
die Jeder erhält, der seine Arbeit in kürzester Zeit fertig-
o-estellt, — nicht beendet hat, denn es wird fortgearbeitet -
spornt den Arbeiter zur Aufwendung aller seiner Kraft an,
welche er natürlich, da die Kraft begrenzt ist, bald veraus-
gabt, um vorzeitig zu altern. Bei der Stückarbeit erhalt der
Arbeiter wenigstens von vorneherein für das, was er m
FoDe seiner erhöhten Anstrengung mehr erzeugt als m
der nach Tagelohn gezahlten Arbeit, durchschnittlich den-
selben Lohnsatz berechnet. Beim Prämiensystem bean-
sprucht der Unternehmer von vorneherein einen Extra-
antheil von dem Mehrerzeugniss des Arbeiters. Der Vor-
theil, der ihm durch die grössere Leistung des Arbeiters
an sich (durch Verbilligung der Betriebsunkosten) erwächst,
o-enügt dem Unternehmer des Prämiensystems nicht. Er
verlangt eine Prämie für die erhöhte Leistung des Arbei-
ters, indem er, je rascher das Produkt fertig wird, desto
weniger dafür zahlt.
Wenn es nun auch kaum anzunehmen ist, dass die
Lohnzahlung nach diesem Prämiensystem in solchen Arbeits-
branchen eingeführt werden kann, in denen kräftige Orga-
nisationen der Arbeiter ihr Interesse wahren, so ist doch
nicht ausgeschlossen, dass sie dort Eingang findet, wo die Ai -
beiter unorganisirt sind und infolge der maschinellen Entwick-
lung oder der Verwendung billiger Arbeitskraft von frisch
Eingewanderten dem Unternehmer ohnmächtig gegenüber-
stehen. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass das Prä-
miensystem auch noch eine Rolle in den Kämpfen der
amerikanischen Arbeiter spielen wird.
New- York. H- Schlüter.
Bernfsgenossenschaften in der Schweiz. ln einer
früheren Session des schweizerischen Nationalraths hatte
Herr Favon den Antrag gestellt, es sollen die Kantone er-
mächtigt werden, für gewisse Industrien obligatorische Be-
rufsgenossenschaften einzuführen. Dieser Antrag ist jetzt
zurückgezogen und durch einen anderen ersetzt worden,
welche von den Herren Favon, Comtesse, Decurtins und
Voo-elsanger unterzeichnet und folgenden Wortlaut hat.
„Der Bundesrath wird eingeladen, über die Frage
Bericht und Antrag einzubringen, ob es nicht angezeigt
wäre, Art. 31 der Bundesverfassung im Sinne der Ermög-
lichung der Bildung von Bernfsgenossenschaften zu modi-
fiziren, welche die Aufgabe hätten:
1 . Die Arbeitsverhältnisse in den verschiedenen Gewerben
2. die Elemente zur Bestellung ständiger Schiedsgerichte
zu bilden, welche von Rechtswegen in allen Streitig-
keiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu
entscheiden hätten. ,
„Er wird eingeladen, insbesondere nachfolgende
Punkte zu prüfen: empfiehlt es sich, in der Schweiz
obligatorische Berufsgenossenschaften ins Leben zu rufen,
oder empfiehlt es sich eher, freiwillige Berufsgenossen-
schaften mit gesetzlichen Kompetenzen zu dem Zwecke
auszurüsten, um für jedes Gewerbe zu ordnen.
a) den Normalarbeitstag,
b) den Minimallohn,
c) das Lehrlingswesen,
und die genaue Anwendung des Gesetzes übei die Arbeit
in den Fabriken, sowie die hygienischen Verhältnisse der
Arbeitslokale zu überwachen.“ , „ ,.
Es ist auffallend, dass man nicht lieber herzhaft die
Revision des Fabrikgesetzes und vermittelst der Revision der
Bundesverfassung den Erlass einer eidgenössischen Ge-
werbeordnung verlangt, welche alle diese Dinge rege n
würde und auch hinsichtlich des Arbeiterschutzes im Klem-
o-ewerbe einmal Ordnung schaffte. Das wäre doch gewiss
vernünftiger als diese zahllosen Anträge, die bestenfalls ,
Halbheiten, Flickereien und willkürliche Gesetzesinter-
pretationen bringen.
Agitation (1er Bodenreformer in England. Während
die deutschen Bodenreformer ihr Hauptaugenmerk auf die
kleinbürgerlichen Kreise zu richten scheinen, haben ihre
englischen Gesinnungsgenossen unter der jeder politischen
Propaganda so schwer zugänglichen Klasse der Landarbeiter
Anhänger zu werben verstanden. In Erwägung, dass alle j
Versuche der städtischen Arbeiter, ihre Lage zu verbessern, t
durch den Zuzug ländlicher Arbeitskräfte gehindert werden, <
und dass die Lohn- und Landfrage im innigen Zusammen- ,
hange stehen, beschloss die „English Land Restoration *
League“ die Landarbeiter selbst über ihre Interessen au
zuklären. Zu diesem Behufe setzte sich der \ orstand uei
Gesellschaft, dem u. a. Miss Taylor, die Stieftochter John
Stuart Mill’s, und der bekannts Geistliche Rev. Headlam
angehören, mit der „Eastern Counties Labour Federation“
einem seit 1890 bestehenden Landarbeiter verein in Verbin-
dung und sandte seine Redner nach der Grafschaft Suttolk,
wo dieselben vom April bis Oktober 1891 nicht wenmei
als 165 Meetings abhielten. Ein Hinderniss, das sich der
Landpropaganda in der Regel entgegenstellt, der Mangel
an Versammlungslokalen, wurde in höchst origineller \\ eise
beseitigt. Die Gesellschaft erwarb nämlich eine Postkutsche,
die als0 Mittel zur Beförderung von Agitationslitteratur, als
Platform und als Schlafstelle für die mit der Agitation be-
trauten Personen diente. Wenn die rothe Kutsche m _em
Dorf kam, heisst es im Bericht der Liga (Among the Suflotk
Labourers with the red Van) so wurde sie an einer weithin
sichtbaren Stelle plaziert. So erregte sie bald die allge-
meine Aufmerksamkeit. Der nächste Schritt bestand darin,
den Schulkindern beim Verlassen der Dorfschule hlug-
blätter einzuhändigen und sie über den Ort des Meetings
zu instruiren. Am Tage wurden andere Flugblätter untei
der Dorfbevölkerung verbreitet und die Lage der Arbeitei
erforscht, während Abends stets Versammlungen stattlanden.
Der Erfolg dieser originellen Propaganda blieb nicht aus.
Es bildeten sich 83 neue Sektionen des Landarbeitervereins
und seine Mitgliederzahl stieg von 2500 aut 7128.
Englisches Genossenschaftswesen. Dem von der eng-
lischen in Verbindung mit der schottischen Grosshandels-
genossenschaft herausgegebenen Jahrbuche für 1892 en -
nehmen wir folgende, für die glänzende Entwicklung des
No. 6.
SOZIALPOLITISCHES CENTRÄLBLATT.
77
Genossenschaftswesens in Grossbritannien charakteristische
Daten:
Die Mitgliederzahl der 1621 grossbritannischen Genossen-
schaften, welche Berichte erstatten, belief sich Ende 1889
auf I 071 089, der gesammte Umsatz auf 813 Milk Mk., der
Reingewinn auf 74'/2 Mill. Mk.
In der englischen Grosshandelsgenossenschaft waren
1890 924 Genossenschaften mit 837 435 Mitgliedern vereinigt.
Ihr Umsatz betrug 148 Milk Mk. und der Reingewinn
2 1/2 Milk Mk. Ende September 1891 standen 4649 Personen
in dem Dienste der Grosshandelsgenossenschaft; davon
waren 1706 Personen in den Schuhfabriken derselben zu
Leicester beschäftigt. Die Genossenschaften bezogen von
der Grosshandelsgenossenschaft im Jahre 1890 für
109 600 000 Mk. Lebensmittel, für 10 940 080 Mk. Kleidungs-
stücke, für 1520 000 Mk. Wollenstoffe, für 7 500 000 Mk.
Schuhe und Stiefel und für 4 660 000 Mk. Eisenwaaren und
Möbel.
Neben der englischen besteht noch eine besondere
schottische Grosshandelsgenossenschaft. Ihr Umsatz wird
für das mit Ende Juni 1891 schliessende Geschäftsjahr mit
52 Milk Mk. (gegen 46 Milk Mk. im Vorjahre) angegeben.
Die Mitgliederzahl derjenigen Genossenschaften, welche die
genannte Grosshandelsgenossenschaft bilden, belief sich auf
109 647. Neu errichtet wurde im abgelaufenen Jahre eine
Konservenfabrik, deren Entwicklung sich so günstig ge-
staltet hat, dass man bereits Vorsorge trifft, ihre Leistungs-
fähigkeit zu verdoppeln. Sodann wurde ein grosses Fabrik-
gebäude aufgeführt, um in demselben die Wirkwaaren-,
Mäntel- und Wäsche - Abtheilung entsprechend unterzu-
bringen. Da der Umsatz der Grosshandelsgenossenschaft
in Tabak und Tabakfabrikaten jährlich ungefähr auf 2 Milk
Mk. sich beziffert hat, ist auch eine mit den neuesten und
vollkommensten Maschinen ausgestattete Tabakmanufaktur
eingerichtet worden. Die Kleider- und die Möbelfabrik
haben wesentliche Erweiterungen aufzuweisen. Zur Unter-
stützung für die Vieheinkauf- Abtheilung hat man eine Farm
gepachtet. Ausserdem soll im nächsten Jahre eine Mühle
in der Nähe Edinburghs errichtet werden.
Ausser der Verzinsung des eingezahlten Kapitals er-
hielten die Mitglieder 2,8% vom Betrage ihrer Einkäufe als
Dividende, und den 2006 im Dienste der Genossenschaft
befindlichen Personen konnte eine Prämie von nahezu
4% des von ihnen verdienten Lohnes gewährt werden.
Arbeiterzustände.
Das Trucksystem in England.
Einer der empfindlichsten und gefährlichsten Uebel-
stände im Industrie wesen der Gegenwart ist die Auslohnung
der Arbeiter in Waaren aller Art statt in baarem Gelde —
das sogenannte Trucksystem. Empfindlich, weil es den so
oft unter kargem Verdienste leidenden Arbeitern die
Befriedigung ihrer Bedürfnisse nur unvollkommen gestattet;
gefährlich, weil es sie in grosse Abhängigkeit von den
Unternehmern bringt und ihr Vorwärtskommen auf dem
Wege solider Ersparniss erschwert. Aber um gerecht zu
sein, ist dieses System nicht ein Ausfluss der modernen
Fabriken. Vielmehr handelt es sich um ein alteingewurzeltes
Uebel, das in England bereits 1464 gesetzliche Verbote
nöthig machte und in Deutschland (Solingen) in der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts Verordnungen hervorrief. Die
moderne Produktionsweise mit ihrem auf die Beschaffung
billiger Arbeitskräfte gerichteten Streben griff nur eine
vorhandene Einrichtung auf, die sie allerdings dann zu
seltener Verzerrung brachte.
Dass das Uebel zu grosser Höhe emporwachsen konnte,
ist um so bemerkenswerther, als es an obrigkeitlicher Ueber-
wachung nicht fehlte. In England folgten seit dem ge-
nannten Gesetze bis 1887 nicht weniger als 18 Verfügungen,
die alle dem Missbrauche steuern wollten, die meisten —
nämlich 12 — im Laufe des vorigen Jahrhunderts, d. h. in
der Periode, während welcher die Entstehung der Fabriken
vor sich ging. Um dieselbe Zeit sah man auch in Deutsch-
land, in der Solingensehen Metallindustrie, dem einreissenden
Uebel nicht ruhig zu. Die hier sich ausbreitende Haus-
industrie bewirkte unter ihren Arbeitern die gleiche soziale
Missbildung wie später das Fabriksystem und schon 1724
musste ein besonderer Ausschuss mit der Untersuchung der
Frage betraut werden. Indessen seine Feststellungen so
wenig, wie die späteren kurfürstlichen Erlasse von 1777
und 1789 vermochten das Unwesen zu beseitigen. Bis auf
den heutigen Tag macht man die beschämende Wahr-
nehmung, dass die Fälle des Trucks nicht aufhören.
Greift man zum neuesten Jahrgang der amtlichen
Mittheilungen der deutschen Fabrikinspektoren 1890
so liest man freilich, dass im Allgemeinen die Anwendung
des Trucksystems nur selten noch beobachtet wird. Gleich-
wohl werden mehrere Fälle von Verurteilungen wegen
Abgabe und Kreditirens von Nahrungsmitteln erzählt und
für einzelne Gegenden Vermuthungen ausgesprochen, dass
nicht alles in Ordnung sei, obgleich eine direkte Ueber-
tretung der bezüglichen Vorschriften der Gewerbeordnung
nicht nachweisbar war. Klingt dies scheinbar günstig, so
darf nicht übersehen werden, dass dem Auge auch des
wachsamsten Beamten mancher Fall sich entziehen muss,
zumal die Arbeiter wegen der ihnen drohenden Gefahr, ihre
Beschäftigung zu verlieren, selbst an der Geheimhaltung
interessirt sind. Ferner aber kommt in Betracht, dass es
gerade die der Aufsicht der Fabrikinspektoren viel weniger
unterliegende Hausindustrie ist, in der der Truckunfug
einen grossen Platz inne hat. Gesetzlich verboten ist er
allerdings auch für deren Personal. Da nun Jahr für Jahr
unsere Fabrikinspektoren über einige Truckfälle zu berich-
ten haben, so bleibt keine andere Annahme übrig, als dass
in dieser Beziehung die Zustände noch weit davon entfernt
sind, zufriedenstellende zu sein.
Das Gleiche gilt, wie der neueste „Report of the Chief
Inspector of Factories and workshops“1) erkennen lässt, für
England. Die Unzulänglichkeiten des Truckgesetzes von
1831, das theilweise nicht weit genug ging, sich z. B. auf
den Eisenbahnbau nicht erstreckte, theilweise umgangen
oder gröblich verletzt wurde2), bewirkten erst kürzlich
1887 ein Ergänzungsgesetz. Indess selbst dieses, obwohl
es mit seiner Feststellung des Begriffs eines Handarbeiters
(artificer) seine Ausdehnung und Anwendung auf jede Art
von Arbeitern gestattet, die in dem Employers und Work-
man Act von 1875 näher bezeichnet ist, hat noch nicht
völlige Besserung zu erzielen vermocht. Besonders der dem
„Inspector for the Western Division of the Metropolis and
neighbouring counties“, Herrn Gould, unterstellte Bezirk
lässt so viel zu wünschen übrig, dass der Herr Ober-
inspektor Redgrave Veranlassung genommen hat, dessen
Bericht über das in Frage stehende Thema wörtlich in den
seinigen einzurücken.
Herr Gould spricht sich dahin aus, dass das Truck-
system ursprünglich in guter Absicht Eingang fand. Es
wurde namentlich von den grossen Eisenbahnunternehmern
angewandt, die mit ihren Arbeiterschaaren von Ort zu Ort,
in dem Masse als der Bau vorwärts rückte, weiter ziehend
diesen Gelegenheit bieten wollten, sich in den ihnen
fremden Gegenden bequem mit dem nöthigen Lebensunter-
halt versehen zu können. In solchen Fällen, sowie in ein-
sam, entfernt von einem städtischen Markt gelegenen
Fabriken, konnte das System eine wirkliche Erleichterung
für den Arbeiter bedeuten. In späterer Zeit gewinnt es,
besonders wenn die Zeiten schlecht sind und Beschäftigung
schwer zu erlangen ist, den Charakter vollkommener und
drückendster Tyrannei. Wo immer es wirksam war, hat es
dazu beigetragen, die Arbeiterklasse zu entsittlichen und
tiefer herabzudrücken, hat ihre Unabhängigkeit, soweit
noch vorhanden, zerstört und sie ganz in die Gewalt ihrer
Brotherren gegeben, aus der sie sich nur schwer empor-
heben können.
V) Für das am 31. Oktober 1890 endende Gerichtsjahr.
2) Vgl. Samuel Moore, Das Trucksystem in Grossbrittanien
im Archiv für soziale Gesetzgebung II, S. 219— 258. In derselben
Zeitschrift, S. 340 und ff. ist auch me 1887 er Truck- Amendement-
Act abgedruckt.
78
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 6.
Für die Gegenwart nimmt er an, dass in den grossen
Industrie-Mittelpunkten das verhängnissvolle System fast
ganz verschwunden sei. Manche Ursachen haben dazu bei-
getragen, es allmälig auszurotten: das Aufkommen neuer
Industriezweige, die Centralisationsbestrebungen der ver-
schiedenen Gewerbe, der erleichterte Verkehr zwischen
den eigentlichen Industriestätten, die Verbindung von
Dörfern und Städten durch die Eisenbahn, nicht zuletzt
der Einfluss der Gewerkvereine. Dagegen ist ihm in den
ländlichen Distrikten, besonders in von den grossen Handels-
und Verkehrsstrassen abgelegenen Gegenden nicht recht
beizukommen und hier werden noch immer ungestraft
Uebertretungen der gesetzlichen Bestimmungen begangen.
So verweist Herr Gould auf ein, etwa 16 Meilen von
Oxford, einsam auf den Gipfel der Chiltern Hills belegenes
Dorf, dessen Bevölkerung sich mit der Anfertigung von
Stuhlbeinen, Sitzen u. dgl. m. beschäftigt. Hier beflnden
sich 2 oder 3 Fabriken (factories) und eine Anzahl kleinerer I
Werkstätten, die ausschliesslich auf diesen Betrieb ein-
gerichtet sind. Fast alle Unternehmer haben Läden,
Magazine oder Bierkneipen eröffnet und zwingen ihre Ar-
beiter in diesen die zu ihrem Unterhalt erforderlichen
Bedarfsartikel einzukaufen. Nur ein einziger Unternehmer
pflegt seinen Leuten wöchentlich ihren vollen Lohn baar
auszuzahlen. Die Bevölkerung hat ein träumerisches, nieder-
gedrücktes, höchst armseliges Aussehen. „Einen besonders
erbärmlichen Anblick bot ein armer Tropf, der buchstäb-
lich mehr als halb verhungert aussah und mit wenigen
Lumpen bekleidet war, die man kaum noch Kleider nennen
konnte. Er klagte mir, völlig gebrochenen Herzens, sein
Elend, dass er selten oder fast nie baares Geld in die Hand
bekäme.“ Die in diesen Läden veräusserten Waaren sind
von der denkbar schlechtesten Qualität; aber der Arbeiter
hat keine Wahl, denn er ist dem Unternehmer beinahe
immer verschuldet und wenn die Zahltage kommen, so
stellt sich oft heraus, dass die Schuld grösser ist als der
verdiente Lohn.
In einem andern winzigen Dörfchen, gleichfalls aut
den Chilterns gelegen, ist die Hauptpersönlichkeit der Post-
meister, der ein Waarenmagazin unterhält und eine Ziegel-
hütte betreibt. Er veranlasst alle, die bei ihm arbeiten, in
seinem Laden einzukaufen. Baares Geld gelangt an den
Lohntagen selten zur Auszahlung; gewöhnlich wird der
Lohn in schlechtem Speck, noch schlechterem Käse und
zweifelhaften Kolonialwaaren ausgeglichen. Die Unglück-
lichen müssen es sich gefallen lassen, denn bei etwaigen
Beschwerden lautet die Antwort: „Nimm meine Waaren,
oder suche Dir anderswo eine Beschäftigung.“
In einem dritten Dorfe an den Grenzen von
Oxfordshire und Buckinghamshire eröffnete ein Stuhlbein-
fabrikant einen Bierausschank und bestand daraut, dass
seine Arbeiter ihr Getränk bei ihm holten. Diesen hat man
leicht fassen können, indem man ihn der Steuerbehörde
anzeigte, da er ohne Licenz ein Fass Bier verschänkte.
In einem Dorfe in Middlessex, etwa 2 — 3 Meilen von
der nächsten Stadt, vereinigt ein unternehmendes Genie
die Berufe eines Gastwirths, Materialwaarenhändlers, Bau-
unternehmers, Ziegelstreichers und Sägemüllers und versteht
seine günstige Stellung auszubeuten. Seine Arbeiter wohnen
in seinen Hütten, müssen sich in seinem Laden oder Gast-
hause mit dem Nothwendigen versehen und empfangen statt
des baaren Lohns kleine Metallstücke, die ihnen zu einem
Schilling angerechnet werden. In allen Läden oder Bier-
häusern, zu denen der Unternehmer Beziehungen hat,
werden diese Zeichen entgegengenommen, doch nur für
11 Pence, so dass die elenden Besitzer noch 10% von
ihrem sauer verdienten Lohne einbüssen.
Sicherlich würden solche Vorkommnisse wie die er-
zählten selbst unter der Herrschaft der neuen Akte
mehr zur Sprache kommen, wenn die schon ohnehin
überbürdeten Inspektoren genügend Zeit übrig hätten, alle
Uebertreter des Gesetzes aufzustöbern. Allerdings sollen
sie (Art. 13) nach den neuen Zusätzen die Pflicht haben,
den Bestimmungen innerhalb ihrer Distrikte Nachdruck zu
verschaffen, aber doch nur insofern, als Fabriken, Werk-
stätten und Bergwerke, die jeweilig von ihnen inspizirt
werden, in Betracht kommen. Wenn man nun auch das
Vertrauen in sie setzen darf, dass sie ihrer I flicht nach
besten Kräften eingedenk sein werden, so haben diese
Kräfte ihre Grenzen und sie können nicht alle die ihnen
überwiesenen Etablissements regelmässig aufsuchen.
Selbst wenn aber die Inspektoren in ihren Bezirken
vollständig herum kämen und alle mit dem gleichen aus-
dauernden Eifer, wie Herr Gould es offenbar thut, das
Trucksystem verfolgten, so ständen seiner gänzlichen \ er-
nichlung spezifische Schwierigkeiten entgegen. Einmal
gelangen nicht alle Fälle zur Kenntniss des Beamten und
tst es nicht immer möglich, die Zeugen zu beschaffen weil die
unter der Alternative Beschäftigungslosigkeit oder stilles
Dulden stehenden Arbeiter selbst Schweigen beobachten.
Zweitens verbietet kein Gesetz einem Fabrikanten, einen
Laden zu eröffnen, folglich kann man keinen Arbeiter
hindern, dort einzukaufen und Schulden zu machen. Selbst
wenn also die Lohnzahlung wöchentlich in baarem Gelde
erfolgte, so würde ein Theil der Arbeiter immer mit den
im Unternehmerladen, wo man ihm bereitwilligst Kredit
gewährte, aufgelaufenen Schulden zu ringen haben. Das
Beste wäre ein gesetzliches Verbot für Llnternehmer Läden
zu halten, in denen sie ihren Arbeitern Waaren aller Art
feilböten. Doch das würde man nicht nur in England als
einen unberechtigten Eingriff in die wirtschaftliche Freiheit
ansehen.
So bleibt einstweilen keine andere Hoffnung übrig,
als auf das unnachsichtige Vorgehen einer starken Regie-
rung, die den Willen hat, ein hässliches Uebel endgültig
aus*der Welt zu schaffen, in allen den Fällen, die zu ihrer
Kenntniss gelangen. In zweien von den hier erzählten
Fällen ist eine Verurtheilung erfolgt und auf diese Weise
werden, bei nicht ermüdendem Eiter der Beamten, wie sich
annehmen lässt, mit der Zeit Vorgänge solcher Alt zu immer <
grösseren Seltenheiten werden.
Rostock i. M. Wilhelm St ieda.
Eine „Aufnahme“ der ländlichen Arbeiterverhältnisse.
Der „Verein für Sozialpolitik“ hat beschlossen, „eine ;
Aufnahme der ländlichen Arbeiterverhältnisse zu veran-
stalten und zu diesem Zweck die gefällige Mitwirkung der
ländlichen Arbeitgeber anzurufen.“ So sagt der Ausschuss
des Vereins, gezeichnet Geheimer Ober-Regierungsrath
Dr. H. Thiel, in einem Cirkular vom Dezember 1891. Im
Interesse des Vereins soll nun hier dem Bedauern darüber
Ausdruck gegeben werden, dass auch dieses an und für
sich so nützliche Unternehmen wieder von vornherein stark
beeinträchtigt erscheint durch die Art und Weise seiner
Inangriffnahme. Nach der herben Kritik, welche sich be-
reits* eine andere Erhebung des Vereins über soziale Ver-
hältnisse auf dem Lande von wissenschaftlicher Seite aus
dem gleichen Grunde gefallen lassen musste, hätte man
wohl auf einen Wandel in der Erledigung dieser wichtigen
Vorfragen hoffen dürfen (vergl. „Zur Methodologie sozialer
Enqueten“. Von Dr. G. Schnapper- Arndt, Frankfurt a. M.,
1888). Es scheint jedoch, als wenn der neue Fragebogen
von genau demselben Verfasser ebenso einseitig formulirt
worden wäre, wie der frühere für die Wucherenquete;
wenigstens ist es mir undenkbar, dass an dem gedruckt
vorliegenden Formular Kenner, wie Bücher, Knapp oder
Schnapper - Arndt , lauter Vereinsmitglieder , mitgewirkt
haben, die, zu einer ad hoc gebildeten Kommission ver-
einigt, sicher einen Fragebogen geliefert und eine Er-
hebungsmethode festgesetzt hätten, die jeder Kritik Stand
halten würde.
Was zunächst die Methode der „Aufnahme“ betrifft,
so hat der Ausschuss, was ausdrücklich anerkannt sei, eine
No. 6.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
79
kleine Verbesserung gegenüber der Wucherenquete im
Sinne der Kritik von Schnapper- Arndt insofern vorge-
nommen, als er nicht mit „General-“ oder „Stimmungsbe-
richten“ zugleich anfängt und aufhört, sondern wenigstens
eine Art Urmaterial von den Betheiligten selbst zu beschaffen
sucht, indem er Fragebogen — ich weiss allerdings nicht,
wie viele — an Landwirthe aussandte, deren Namen er sich
von der geschäftsführenden Leitung der landwirthschaft-
lichen Vereine beschaffte. Erst wenn diese Stoffsammlung
aus Interessentenkreisen beendet ist, die der Verein diesmal
selbst in die Hand nahm, statt sie der Willkür und Sorgfalt
der Referenten zu überlassen, soll die eigentliche Bericht-
erstattung beginnen, und zwar so, „dass für jede Gegend
ein Generalberichterstatter gewonnen werden soll, welchem
die einzelnen Fragebogen nach ihrer Ausfüllung zur Be-
arbeitung überwiesen“ werden. Wählt man zu diesen
Generalberichterstattern überall wissenschaftlich geschulte
Kräfte mit dem nöthigen Unterscheidungsvermögen für
methodisch festgestellte und bloss einseitig behauptete
Thatsachen, und umgrenzt man die „Gegenden“ so eng,
dass der Berichterstatter die Verhältnisse wirklich übersehen
kann, so werden die schliesslichen Berichte immerhin auf
einer etwas höheren wissenschaftlichen Stufe stehen, als
diejenigen der früheren Erhebung. Freilich fehlt ihnen
trotzdem von vornherein noch immer etwas Wesentliches:
die wissenschaftliche Vollständigkeit des Materials. Dasselbe
stammt ausschliesslich von „Arbeitgebern“ (Unternehmern),
und das Cirkular des Ausschusses übergeht die eigentlich
Betheiligten, die ländlichen Arbeiter, als Auskunftspersonen
über ihre eigenen Verhältnisse mit völligem Stillschweigen.
Der Mangel an Organisationen von Landarbeitern und an
Adressen von Einzelpersonen, welche man zur Mitarbeit
hätte heranziehen können, ist kein Entschuldigungsgrund.
Diese Sachlage kannte man von vornherein, und sie
musste entscheidend für die Wahl der ganzen Er-
hebungsmethode werden. Bei einer wissenschaft-
lichen „Aufnahme“ von Arbeiterverhältnissen, ja selbst
bei einer solchen, die nur praktischen Gesichtspunkten
dienen will, kann heute Niemand mehr an den Arbeitern
selbst vorübergehen. Die Wege, um ihre direkte Auskunft
neben derjenigen der Unternehmer zu erhalten, konnten
verschieden gewählt werden. Man hätte durch Vermittlung
der Staatsbehörden Fragebogen für Arbeiter hersteilen und
ausfüllen lassen können. Dieser Weg wäre freilich kaum
gangbar und so umständlich gewesen, dass ihn die
wenigsten Behörden betreten hätten. Es blieb also die
förmliche Befragung aller in den Unternehmerauskünften
erwähnten Landarbeiter durch die Berichterstatter und jene
enge Abgrenzung ihrer Bezirke, folglich auch die Ver-
wendung einer sehr grossen Zahl von wissenschaftlichen
Referenten, die übrigens von Seiten der vielen deutschen
Universitäten ohne allzu grosse Schwierigkeiten gestellt
worden wären, mindestens blieb die Nothwendigkeit einer
Anweisung an die Generalberichterstatter, durch persön-
liche Forschung und Befragung einiger Arbeiter mittels
Stichproben die einseitige Auskunft der Llnternehmer zu
ergänzen. Diese Methode hat aber der Ausschuss offenbar
selbst in ihrer abgeschwächtesten Form nicht gewählt.
Er sagt kein Wort von einer Nacherhebung bei den
Landarbeitern und bezeichnet die Thätigkeit der General-
berichterstatter mit den Worten: „Bearbeitung der einzelnen
Fragebogen“, hat also lediglich eine Redaktions- und Kom-
; pilationsthätigkeit im Auge, sonst könnte ja auch nicht da-
von die Rede sein, die Ergebnisse „baldmöglichst“ zu ver-
öffentlichen, d. h. nach allem Brauch vor der Herbstver-
sammlung dieses Jahres. Damit ist auch die neueste Er-
hebung des Vereins leider wieder mit einem Mangel be-
haftet, der für die Beurtheilung von Aufnahmen über
Arbeiterverhältnisse keineswegs im günstigen Sinne ent-
; scheidend zu sein pflegt.
Und nun der Fragebogen selbst. Er versöhnt mit
jenem tiefgehenden Mangel weder durch seine formale An-
i Ordnung, noch durch seinen Inhalt. Er mag als der ausser-
ordentlich fleissige und unterrichtende Entwurf einer Auf-
stellung gelten, welche ein praktischer Landwirth und
statistischer Laie als Unterlage für einen wirklichen Frage-
bogen liefern kann. Aber er ist Alles weniger, als ein zum
Gebrauch fertiger Fragebogen, selbst wenn dieser nur für
Unternehmer bestimmt sein soll. Er zerfällt in drei Haupt-
abschnitte: A. Zur allgemeinen Orientirung; B. Die Arbeits-
und Einkommensverhältnisse und C. Besondere Mittel zur
Bedarfsbefriedigung der ländlichen Arbeiter. Der Verfasser
des Fragebogens hat nun noch nicht einmal vermocht,
seine Unterfragen richtig unter diese drei Hauptrubriken
zu plaziren. Mitten unter den Fragen des Abschnittes A,
welche allgemein über die landwirtschaftlichen Verhält-
nisse der Gegend des Antwortenden orientiren sollen, tauchen
z. B. plötzlich Fragen auf, welche unter B gehören, weil
sie den Nebenverdienst, die Hausarbeit, die Betheiligung
am Reinerträge, das Sparen der Arbeiter (vgl. A 9,
Abs. 2 u. 3, 10, Abs. 2, 11, 12), also doch die unter B zu be-
handelnden Einkommensverhältnisse derselben betreffen,
theilweise sogar, wie die Sparfrage, erst Folgezustände dieser
Einkommensverhältnisse sind, deren Behandlung vor der-
jenigen der eigentlichen Lohn- und Verdienstfrage den
Beantworter nur verwirren und in einseitigen Vorstellungen
bestärken kann. Dies als Probe für die erste Schwäche des
Fragebogens. Die zweite liegt in der kaum verständlichen
Lückenhaftigkeit desselben in Punkten, die nicht etwa ge-
sucht sind, sondern in allererster Reihe stehen, wenn
man eine Aufnahme veranstalten will, welche dazu helfen soll,
„vorhandene Schäden in dem ganzen Arbeitsverhältniss“
zu verbessern“ und „unberechtigten Anforderungen mit
Erfolg zu begegnen“. Da fehlt unter B, I, 1 jede Frage
'über das Vorkommen der Sonn- und Festtagsarbeit auf dem
Lande, sowie über den Beginn der täglichen Arbeitszeit,
deren Dauer lediglich erfragt wird. Unter 4 (Frauenarbeit)
ist vergessen, Auskunft über die Art der Frauen-Beschäftigung
über die Schonzeit der Wöchnerinnen und über die Arbeit
erwachsener unverheiratheter Mädchen zu erbitten hinter 5
fehlt jede Frage nach der Art der Beschäftigung kindlicher
Arbeiter, und die jugendlichen Arbeiter, auf deren Schutz
von der Goltz S. 29 ff. seiner „Ländlichen Arbeiterfrage“
(Danzig 1872) so hohen Werth legt, sind völlig übergangen.
Wohnung und Kost der verschiedenen Arbeiterkategorien
würden nur als Rechenposten für die Bemessung des Lohnes
in Betracht gezogen; Auskunft über ihre Beschaffenheit zu
verlangen, ist gänzlich vergessen, und dabei muss man sich
erinnern, dass schon von der Goltz (a. a. O. S. 16 ff.) sehr
schwere Anklagen wegen der Wohnungsverhältnisse der
ländlichen Arbeiter gegen ihre „Arbeitgeber“ erhebt. Lieber
Heizung und Beleuchtung der Arbeiterwohnungen, Gesund-
heits- und Bildungsverhältnisse der Landarbeiter, über die
Vertheilung der Altersklassen, ferner über die Lohnfristen
und die Formalien der Lohnzahlung, über Arbeitsverträge,
Mängel der bestehenden Gesindeordnungen u. v. m. schweigt
sich der Fragebogen gänzlich aus, um schliesslich in frag-
würdige Gemeinplätze, in Rubriken, die z. B. „das Jahres-
einkommen einer durchschnittlichen Tagelöhnerfamilie“ (sic!)
enthalten sollen, auszulaufen. Diese Proben müssen für
diese Stelle genügen.
Man sieht, es wäre dringend wtinschenswerth, dass
der „Verein für Sozialpolitik“ schon um seiner selbst willen
auf die Tagesordnung der nächsten Generalversammlung
wieder einmal folgenden Punkt setzte: „Das Verfahren bei
der Erhebung sozialer Thatsachen“. Wegen der neuen
Reichskommission für Arbeiterstatistik ist ja die Frage auch
„zeitgemäss“.
Frankfurt a. M.
Max Quarck.
Ländliche Arbeiterverhältnisse in füddeutschland. Einem
halbamtlichen „Landwirtschaftlichen Jahresbericht für 189 1 ‘,
den Oekonomierath Stirm im „Schwäbischen Merkur“ über
Württemberg erstattet, entnehmen wir folgende bezeichnende
Stellen: „Der grosse Uebelstand, an dem unsere Landwirtschaft
80
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 6.
seit langer Zeit krankt, ist der Mangel an Betriebskapital.
Dieser hat zur Folge, dass namentlich Kraftfuttermittel und
künstliche Düngmittel nicht in dem Masse angewendet werden,
als nöthig wäre, um lohnende Ernten und Stallerträge zu er-
zielen. Wenn man auch in solchen Orten, welche verhältniss-
mässig gute Ernten gemacht haben und Feld- und Stallprodukte
zu guten Preisen absetzen konnten, heuer über Geldmangel
klagen hört, so kann dies ausser jenem Mangel an Betriebs-
kapital nur daher kommen; dass die Preise von Grund und
Boden gegenüber der kapitalisirten Grundrente viel zu hoch, dass
die Arbeitslöhne und namentlich die öffentlichen Abgaben
(Gemeinde- und Amtsschäden) im Verhältniss zu den Roh-
erträgen zu hoch sind und dass auch in bäuerlichen Kreisen
der Luxus zu sehr überhand genommen hat. Dass Grund und
Boden zu hoch im Preise steht, rührt ausser anderen Ursachen
auch daher, dass die Unterpfandsbehörde bei der Beleihung
von Grund und Boden nicht den kapitalisirten Reinertrag, son-
dern die Kaufpreise zu Grunde legt. Eine gesetzliche Aencle-
rung würde heilsam wirken. Ein grosser Uebelstand, unter dem
die Landwirtschaft schwer leidet, ist ferner in den Arbeiter-
verhältnissen gelegen. Die Industrie in den Städten, bei
welcher die heranwachsende männliche und weibliche Jugend
der Dörfer leichtere und ununterbrochene Arbeit, guten Lohn
und namentlich ungebundeneres Leben hat, zieht die meisten
und gerade die besseren Kräfte an sich, und der Landwirth ist
genöthigt, mit geringen, unzuverlässigen, zu manchen landwirt-
schaftlichen Arbeiten kaum tauglichen Leuten sich herum-
zuschlagen. Dabei ist die Unbotmässigkeit, Faulheit und
Trunksucht im Zunehmen. Bei dem geringen Arbeiterangebot
sind zudem die Löhne im Steigen. Diese sind, wie aus einem
Bericht eines Gutspächters hervorgeht, allein in Folge der
Kranken-, Unfall-, Alters- und Invaliditätsversicheruiig, deren
Beiträge grösstenteils auf die Arbeitgeber übergewälzt sind,
um 20% erhöht worden Derselbe schreibt u. A.: „Schreiber
dieses zahlt an Beiträgen inkl. Lohnerhöhungen rund 600 Mk.
jährlich; derselbe hat bei einem Pachtgeld von 4200 Mk. somit
in Folge dieser Gesetze über Nacht einen Pachtaufschlag um
1 /- erfahren, per Morgen P/2 Mk.‘‘ Durch die meisten andern
Berichte klingt die gleiche Klage über die Arbeiterverhältnisse.“
Weil also die" wtirttembergische Landwirtschaft im rationellen
Betrieb weit zurückgeblieben ist, sollen sich die Arbeiter mit
noch geringeren Löhnen begnügen, als eingestandenermassen
die städtischen Arbeiter beziehen.
industrie im Herzen Deutschlands, vorausgesetzt natürlich,
dass der Inspektor über das Vorkommen der jugendlichen
und kindlichen Arbeit von den Unterbehörden zutreffend
berichtet wurde. Innerhalb 13 Jahren eine 75prozentige
Zunahme der erwachsenen männlichen Arbeiter, welche
über die 57 prozentige Zunahme der Fabrikbetriebe weit
hinausgeht, eine noch unter diesen Prozentsätzen bleibende
mässige Vermehrung der Frauenarbeit (um 54"/0), eine noch
schwächere Zunahme der jugendlichen Arbeiter (um 50%),
sowie endlich eine bedeutende Abnahme der kindlichen
Arbeiter (um 59%), während die Betriebe mit jugendlichen
Arbeitern überhaupt nur um 24% sich vermehrten, — das
I ist das Ergebniss obiger Uebersicht. Lediglich 2 Porzellan-
fabriken, 4 Holzwaaren- und Pinselfabriken, sowie je
1 Zündholzfabrik und Spinnerei beschäftigten im Jahre 1890
überhaupt Kinder. Freilich dürfte dieser gesunden sozialen
Entwicklung einer meist jungen Gebirgsindustrie eine desto
ungesundere Gestaltung der Arbeiterverhältnisse in der
ausgedehnten Hausindustrie desselben Bezirkes entsprechen,
ein Umstand, der die Unterstellung auch dieser Betriebe
unter die Aufsicht der Gewerbeinspektoren, sowie allmählich
auch unter die Arbeiterschutzvorschriften als eine unum-
gängliche Nothwendigkeit erscheinen lässt.
Ein österreichisches Amt für Arbeitsstatistik. Die
Unentbehrlichkeit einer systematischen Sozialstatistik hat
nun auch in Oesterreich zur Anregung eines arbeitsstati-
stischen Amtes geführt. In der Sitzung vom 30. Januar
brachten die Abgeordneten Neuwirth und Genossen einen
darauf bezüglichen Antrag ein. Das Amt soll eine Ab-
theilung des Handelsministeriums bilden und seine Ausge-
staltung im Einzelnen durch den Handelsminister im Ein-
vernehmen mit dem Minister des Innern erfolgen. Die Auf-
gabe des Amtes soll in der fortlaufenden Erhebung, syste-
matischen Bearbeitung und periodischen Veröffentlichung
aller für die Zwecke sozialer Gesetzgebung und Verwaltung
erforderlichen Daten bestehen. Wir kommen auf die Ein-
zelheiten des Antrages noch zurück.
Zur Arbeitsstatistik deutscher Gewerbeinspektoren.
ln der ersten Nummer dieser Zeitschrift wurde hervorge-
hoben, dass im Gegensatz zu den preussischen Fabrik-
inspektoren, welche auf dem Gebiete der exakten Arbeiter-
statistik so gut wie Nichts leisteten, vor Allem die sächsischen
Beamten alljährlich genaue und vollständige Uebersichten der
Schwankungen in der Arbeiterbevölkerung lieferten. Neben
den sächsischen Inspektoren sind aber noch einige Beamte
kleinerer Bundesstaaten zu nennen, die seit Beginn ihrer Thä-
tigkeit der Arbeiterstatistik die nöthige Aufmerksamkeit zu-
wendeten. Hier sei zunächst der Aufsichtsbeamte für das
Fürstenthum Schwarzburg- Rudolstadt erwähnt. In
seinem Bezirke, dessen Gewerbethätigkeit dadurch inter-
essant ist, dass sie den echten Charakter einer ländlichen
Geliirgsindustrie zeigt, entwickelte sich nach den Jahres-
berichten in der „Schwarzb.-Rudolst. Landesztg.“ die Ar-
beiterbevölkerung nach ihren verschiedenen Kategorien wie
folgt;
An-
Zahl
Arbeiter
lagen
der
Jugendliche
Kinde
’
mit
Be-
im Ganzen
jugendl.
Ar-
beitern
männl. 1
weibl.
männl.
weibl.
männl. weibl.
1879
93
2623
895
154
139
1
31
35
54
1880
102
2943
950
177
146
18
32
63
1881
109
2981
926
295
202
16
23
63
1882
109
3457
975
268
182
19
32
63
1883
114
j 3505
1042
293
200
13
35
• 70
1884
114
3768
1088
241
182
15
22
62
1885
115
3737
998
221
155
17
18
61
1886
120
3513
1041
183
156
11
19
61
1887
124
3762
1076
219
175
14
21
68
1888
131
3788
1096
238
155
23
12
73
1889
132
4024
1 186
252
196
23
7
69
1890
140
4346
1227
281
169
32
8
71
1891
146
4601
1387
246
195
18
9
67
Hier
bietet
sich
mitten in
der
von
Aus-
wüchsen aller Art begleiteten industriellen Entwicklung
der grossgewerblichen Gegenden ein Blick aut die
gesündere Anfangsentwicklung einer halbländlichen Gebirgs-
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Holzhauer-Strike in Frankreich. Ein Strike, der in
der Geschichte der Arbeiterbewegung wohl einzig dastehen
dürfte, ist sicherlich der vor einiger Zeit im Cherdeparte- j
ment ausgebrochene Holzhauerstrike. Ausgegangen war er .
von den Holzhauern der Gemeinde Uzey-les-Venon, denen
sich bald die der nächstgelegenen Ortschaften anschlossen,
und gegenwärtig umfasst derselbe mehr als dreissig Ge-
meinden. Deutet sein rasches Umsichgreifen allein schon
darauf hin, dass die Lage dieser Landarbeiter, deren Be-
dürfnisse sich ohnedies nur auf die allernothwendigsten
Lebensmittel beziehen, eine höchst drückende sein muss,
so machen dies die jüngst im Senate gemachten Angaben
zur Gewissheit. Darnach erhalten sie nämlich, je nach den
Waldungen, in welchen sie beschäftigt werden, 1,75 Frcs.
bis 2 Frcs. pro Klafter, zu deren Fertigstellung sie aber,
je nach der Beschaffenheit des Waldes und seines Betriebes,
zwei bis vier Tage brauchen. Wie hoch sich solcherart
ihr täglicher Arbeitslohn beläuft, zeigen folgende Daten;
Im Coury-Wald erhält der Holzhauer 2 Frcs. für die Klafter,
von der er im Durchschnitt täglich nur 40% fertigstellen
kann, was einen Tagelohn von 80 Cent, ergibt; im Pluzaine-
Wald 1,75 Frcs. pro Klafter, Durchschnittsarbeit 40%,
Tagelohn 70 Cent; im Sevaines-Wald 1,75 Frcs. pro Klafter,
Durchschnittsarbeit 50%, Tagelohn 87 Cent; im Vieussat-
Wald 1,75 Frcs. pro Klafter, Durchschnittsarbeit 28 "/0, Tage-
lohn 45 Cent; im Champ-d’Avoine-Wald 1,75 Frcs., Durch-
schnittsarbeit 50%, Tagelohn 87 Cent; im Largentiere-
Wald 2 Frcs. pro Klafter, Durchschnittsarbeit 28%, Tage-
lohn 55 Cent; im Meuliere- 1 urpies-\\ ald 2 Frcs pro Klafter,
Durchschnittsarbeit 25%, Tagelohn 50 Cent. Aus diesen
Daten ergibt sich, dass der durchschnittliche Tagelohn sich
auf 61 Cent stellt. Dabei ist noch zu bemerken, dass der
Arbeitstag 12 Stunden beträgt. Der Verdienst war ehedem
ein bedeutend grösserer. Die Klafter wurde erstlich besser
bezahlt, zweitens war sie auch kleiner als jetzt. Sie hatte
nämlich bei einer Breite von 2,66 m eine Höhe von 0,70 m
No. 6.
SOZIALPOLITISCHES CENTRAT, RI, ATT.
81
und wurde im Durchschnitt mit 2,50 Frcs. bezahlt, während
ilire Höhe jetzt 0,80 m beträgt und die Klafter, wie oben
gezeigt, weit schlechter bezahlt wird. Dazu treten noch ver-
schiedene kleinere Umstände, welche die Arbeit des Holz-
hauers erschweren und weniger einträglich machen. Alles,
was die Strikenden verlangen, ist, dass ihre Arbeit so be-
zahlt werde, dass sie wieder auf ihren früheren Durch-
schnittsverdienst kommen. Wie die Dinge gegenwärtig
stehen, unterliegt es auch kaum einen Zweifel, dass sie ihr
Ziel erreichen werden, wie dies noch jedesmal und überall
der Fall war, wo die öffentliche Meinung hinter den
Strikenden stand. Und das ist hier der Fall, wie die
Hilfsgelder zeigen, die ihnen von den verschiedensten Seiten
zufliessen. In der That erhalten sie nicht nur Unter-
stützungen seitens der verschiedenen Fraktionen der
Arbeiterpartei und zahlreicher Arbeitersyndikate, sondern
auch von einzelnen Munizipien, die ihnen grössere oder
kleinere Summen votiren, ja selbst vom Senat und das
will viel sagen — , der unter seinen Mitgliedern eine Samm-
lung veranstaltete, welche 1000 Frcs. ergab. Dazu kommt,
dass mit dem Strike die Holzhauer sich zugleich organisirten
und nun eine Gewerkschaft bilden, die sicherlich viel
dazu beitragen wird, ihre Arbeitsbedingungen, je nach den
Verhältnissen, so günstig als möglich zu gestalten.
Buchdruckersttfke in Bukarest. Seit einiger Zeit
stehen die Bukarester Buchdrucker im Strike um den
9stündigen Arbeitstag. Ein Theil der Patrone hat denselben
gleich bewilligt. Ein anderer hat die Forderungen der
Gehilfen abgewiesen. In Jassy ist der 9stündige Arbeitstag
in sämmtlicnen Druckereien seit längerer Zeit eingeführt.
Die öffentliche Meinung scheint auf Seite der Strikenden
zu sein. Wie wir der Lupta (vom 2. Februar) entnehmen,
hat die Bukarester Stadtverwaltung an alle Druckereien
eine Verordnung erlassen, in welcher auf Grund des Ge-
setzes über die öffentliche Gesundheitspflege Bestimmungen
über die Einrichtung der Arbeitsräume, das Verhalten der
Arbeiter in denselben und das Alter, in welchem Lehrlinge
aufgenommen werden dürfen, getroffen werden. Der Verein
„Gutenberg“ hat beschlossen, die Strikenden auf alle Weise
zu unterstützen.
Wie der „Romänul“ vom 2. Februar meldet, haben
sämmtliche Patrone in einer Sonntag den 31. Januar ab-
gehaltenen Versammlung die allgemeine Bewilligung des
9stündigen Arbeitstages beschlossen.
Wiener Buchdruckerei- und Schriftgiessereiarbeitei-
Strike vom Jalire 1891. Ueber diesen veröffentlicht der Wiener
„Vorwärts“, das Organ sämmtlicher Buchdrucker-Gehilfenvereine
Oesterreichs eine ausführliche Abrechnung, der wir folgende
Daten entnehmen: Es sind im Ganzen während der Zeit vom
9. Mai bis zum 5. September 1891 eingekommen 1 18 319 fl. 34 Kr ,
denen eine Ausgabe von 117 773 fl. 16 Kr., von welchen 114 772 fl.
9 Kr. für Unterstützungen ausgegeben wurden, gegenübersteht.
Die Einnahmen, last lediglich aus Sammlungen stammend,
| vertheilen sich folgendermassen: Aus Niederösterreich flössen der
iStrikekasse zu 54 571 fl. 95 Kr., aus den anderen österreichischen
I Grönländern 6896 fl. 05 Kr., aus Ungarn 2092 fl. 19 Kr., aus
Deutschland 74 951 Mk. 60 Pf., aus der Schweiz 14 335 Frcs.
50 Cents. Ferner wurden Beiträge aus Frankreich, England,
Italien, Luxemburg, Dänemark, Schweden, Norwegen, Spanien,
'Serbien, Bulgarien, ja auch aus Russland und Argentinien
Iquittirt.
| An Unterstützungen der Strikenden wurden verrechnet
113 162 fl. 49 Kr., ausserdem Abreiseunterstützungen in der Höhe
von 1609 fl. 60 Kr. an 154 Personen. An Spesen (Wagengebühren,
Telegramme, Reisen, Druckkosten etc.) fanden sich verrechnet
1811 fl. 32 Kr.
Die Ausgaben waren am stärksten in der 2. Woche
(17 647 fl. 13 Kr.), am schwächsten in der vorletzten ( 17.) Strike-
woche (894 fl. 70 Kr.).
; . Der Strike hat bekanntlich mit der Niederlage der Ge-
hilfen geendet.
Strike der Bierbrauer - Gehilfen in Nürnberg. Der
Brauerstrike kann nunmehr als beendigt betrachtet werden,
die Braugehilfen haben in der Hauptsache ihre Forderungen
durchgesetzt. Gegenwärtig wird in allen Brauereien pro
Tag 11 Stunden gearbeitet mit Ausnahme der Tucher’schen
Brauerei, _ wo, technischer Schwierigkeiten wegen, die
Arbeitszeit nicht sofort reduzirt werden kann. Die Sonntags-
arbeit ist erheblich beschränkt und auch sonstige Be-
schwerden der Arbeiter haben eine befriedigende Lösung
gefunden. Der Minimallohn für gelernte Brauer beträgt
nunmehr 80 Mk. monatlich, gegen 70 Mk. vor dem Strike.
Behufs Schlichtung zukünftiger Differenzen wurde eine
(Kommission ernannt, welche zu gleichen Theilen aus
Brauereibesitzern und Braugehilfen besteht. Durch dieses
Komitee sollen in Zukunft auch- die Lohn- und Arbeits-
verhältnisse geregelt werden. Da alle Arbeitsplätze wenige
Tage nach Beginn des Ausstandes besetzt waren, bereitet
die Wiedereinstellung der strikenden Arbeiter Schwierig-
keiten. Zwar sind alle verheiratheten Arbeiter nunmehr
untergebracht, jedoch können ledige Arbeiter nur bei
eintretenden Vakanzen auf Anstellung rechnen, da die
Brauereibesitzer sich weigern, die Strikebrecher zu ent-
lassen.
Zur Organisation der deutschen Metallarbeiter. Die
Bestrebungen, sämmtliche Branchen der Metallindustrie in
einer Organisation zu vereinigen, waren bekanntlich nur
zum Theil von Erfolg begleitet. Von kleineren Branchen
abgesehen tragen die Former hieran die Schuld. Dieselben
gründeten im verflossenen Jahre auch ein selbständiges
Organ, das in Hamburg erscheinende „Glück auf“. Die
Organisation der Former war bemüht, ein Kartell zwischen
ihrem Centralverein und denen der Schmiede, Schlosser,
Kupferschmiede und Goldarbeiter zu Stande zu bringen.
Da die Kupferschmiede und Goldarbeiter erst die Zu-
stimmung ihrer demnächst stattfindenden Generalversamm-
lungen einholen müssen, tritt der Vertrag zunächst und
zwar vom 1. Februar ab nur zwischen Schlossern, Schmieden
und Formern in Kraft. Der Vertrag bezweckt vorerst nur
die gegenseitige Verabfolgung des Reisegeschenkes an die
auf der Wanderschaft befindlichen Mitglieder obiger Or-
ganisationen.
Unternehmerverbände.
Vereinigungen in der Kohlenindustrie. Bei dem ge-
sunkenen Bedarf nach Kohlen würden die Preise im Januar
von ihrer normalen Höhe im vergangenen Monat sicher
gefallen sein, wenn sich nicht, wie das Organ der westfälischen
Zechen „Glückauf“ in Essen in seiner Nummer vom 3. d. M.
berichtet, „ein Ereigniss vollzogen hätte, welches dem Berichts-
monat (Januar) in der Geschichte des rheinisch-westfälischen
Kohlenbergbaues einen besonderen Stempel aufzudrücken
geeignet“ sei: eine allgemeine Vereinigung der rheinisch-
westfälischen Zechen und Verkaufsgesellschaften, welche
am I I . Januar endgiltig in Dortmund zu Stande kam und
bis jetzt 85 bis 90"/0 der gesammten Förderung umfasst,
„ein trotz allen früheren Bemühungen bisher noch nie er-
reichter Erfolg“. Es sei gelungen, für die einzelnen Gruppen
(Flamm-, Fett- und Steinkohle) eine gemeinsame feste Be-
zeichnung der Kohlensorten, die Preise dafür, sowie gleiche
Lieferungs- und Zahlungsbedingungen festzustellen. Gross-
abnehmern sollen Rückvergütungen auf die festgesetzten
Preise bis zu 5 Mk. pro Doppelwagen gewährt werden.
Das betreffende Blatt veröffentlicht die beschlossenen
Grundpreise, die auf der alten Höhe gehalten sind. Die neu-
geschaffene Gemeinschaft soll ferner die Produktion „dem
Bedarf entsprechend“ regeln. Da derselbe geringer ge-
worden sei, „dürften sich baldige Beschlüsse über allgemeine
oder gruppenweise Förderbeschränkung empfehlen“. Man
kann also trotz der künstlich hoch gehaltenen Preise auf
baldige Arbeiterentlassungen im Kohlenrevier rechnen. — F ast
gleichzeitig beschloss das westfälische Kokessyndikat auf
seiner Generalversammlung vom 28. Januar zu Bochum, die
bisherige Produktionseinschränkung (20%) für Februar fest-
zuhalten. Man erzeugte 1891 im Ganzen 4,3 Milk Tonnen
gegen 4,1 im Vorjahre, der Geldwerth sei dagegen um
12 Mill. Mk. niedriger geworden. — Unter den Zechen in
Oberschlesien ist nach derselben Quelle eine Bewegung
im Gange, welche den Engros-Zwischenhandel in Kohlen
beschränken und mehr den direkten Verkehr zwischen
Zeche und Verbraucher anstreben will.
Kaufmännische Bewegung.
Die Syndikatskammer (1er kaufmännisch Angestellten
von Paris hat soeben ihren Jahresbericht für 1891 ver-
öffentlicht. Darnach zählt dieselbe gegenwärtig 5156 Mit-
82
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 6.
glieder und beschäftigt sich mit der Plazirung und Fort-
bildung ihrer Mitglieder sowie deren Unterstützung bei Be-
schäftigungslosigkeit. Jeder Beschäftigungslose hat ein
Anrecht auf 2 Frcs. täglich, und zwar während 30 Tage im
Jahre. Die hierfür verausgabte Summe hat sich im ver-
flossenen Jahre auf 10 000 Frcs. belaufen. Plazirt wurden
384 Mitglieder. Die Unterrichtskurse umfassen Handels-
recht, gemeines Recht, vergleichende Gesetzgebung, Ge-
schichte, Hygiene etc. und erhält das Syndikat hierfür vom
Pariser Gemeinderath eine jährliche Subvention von
2000 Frcs. Das Syndikat besitzt auch einen Rechtsbeirat h,
dem im abgelaufenen Jahre 87 Streitangelegenheiten unter-
breitet wurden, von welchen nur 23 zu einem Prozesse
führten, während die übrigen, Dank des Rechtsbeiraths, auf
gütlichem Wege ausgetragen wurden. Damit sind aber die
Aufgaben, die sich die Syndikatskammer gestellt hat, noch
nicht beendet. Sie streikt u. A. auch darnach, dass die
Institution der Prud’hommes auf die kaufmännisch Ange-
stellten ausgedehnt werde, zu welchem Zwecke sie am
I . Mai v. J. eine Delegation an den Präsidenten der Kammer
absandte, um ihm eine bezügliche Petition zu überreichen.
Dieselbe hat indess noch keine Erledigung gefunden, und
das Syndikat wird sie deshalb aufs Neue urgiren.
Zur Verdrängung des Zwischenhandels. Für Beseitigung
des Detailreisenden, welcher zwischen Ladenbesitzer bezw.
Engroshändler und Fabrikanten einerseits , sowie dem
Publikum andererseits vermittelt, neuerdings aber nament-
lich von Fabrikanten und Engroshändlern in Konkurrenz
mit dem Ladenbesitzer gesetzt wird , agitiren seit Jahren
die letzteren , namentlich die Kolonialwaarenhändlervereine.
Dieselben haben den Detailreisenden in zünftlerischen Petitionen
zu einer Art gemeingefährlicher Persönlichkeit gestempelt
und ihn für immer zu brandmarken geglaubt , indem
sie ihn „Hausirer im Frack“ nannten, nicht beachtend, dass der
Fabrikant mit demselben Recht die Vermittlung der Klein-
händler zu beseitigen versuchen und die direkte Verbindung mit
dem Verbraucher anstreben kann. In der letzten Zeit mehren
sich nun die Stimmen, welche für die grundsätzliche Berechti-
gung des Detailreisenden eintreten, so lange die Nützlichkeit
des Zwischenhandels überhaupt nicht zu den Dingen der Ver-
gangenheit gehört. So Hessen kürzlich 300 Bielefelder und
Herforder Firmen eine Eingabe an den Reichskanzler abgehen,
in welcher sie ausführen, dass in ihrem Bezirk allein 180 Leinen-
firmen beständen, welche Privatkundschaft durch Reisende be-
suchen lassen und zu bester Zufriedenheit des Publikums
arbeiteten. Es entwickelten sich immer neue Formen des
Zwischenhandels; der Gesetzgeber könne nicht die eine auf
Verlangen der anderen unterdrücken, hier das Detailreisen auf
Verlangen der ansässigen Detail listen verbieten. Und ähnlich
äussert sich die Mannheimer Handelskammer in ihrem neuesten
Jahresbericht ('S. 222). Auch in Süddeutschland nahmen Ge-
schäfte, deren Betrieb auf Detailreisen basire, eine sehr geachtete
Stellung ein, die man nicht durch gesetzgeberische Eingriffe er-
schüttern dürfe. Hausirer und Detailreisende dürften nicht zu-
sammengeworfen werden, und die Beschwerden kämen aus-
schliesslich von der Konkurrenz. Eine Veranlassung, einzu-
schreiten, sei nach Ansicht der Kammer nicht gegeben.
Minimalkündigungsfristen für Handlungsgehilfen in
Oesterreich. Auch in Oesterreich mehren sich die Versuche,
gesetzliche Reformen zum Besten der Kommis herbeizu-
führen. Der Abgeordnete Dr. Bendel hat im Abgeordneten-
hause einen Antrag auf Abänderung des Artikel 61 des
Handelsgesetzes dahin gestellt, dass „das Dienstverhältnis
zwischen dem Prinzipal und dem Handlungsgehilfen von
jedem Theile nach vorgängiger sechs wöchentlich er
Kündigung aufgehoben werden kann. Nur in dem Falle
einer vereinbarten, aber nicht länger als einen Monat dau-
ernden Probezeit genügt eine vierzehntägige Kündigungs-
frist “ Hierzu bemerkt das Blatt der reisenden Kaufleute
Oesterreichs: „Derzeit ist die gesetzliche Kündigungsfrist
für Handelsangestellte sechs Wochen vor jedem Quartal des
Kalenderjahres. Man kann demnach ohne besondere Ueber-
einkunft einen Angestellten nur beispielsweise Mitte Mai,
pro Ende Juni kündigen, nicht aber Ende Mai pro Mitte Juli.
Diese gesetzliche Kündigungsfrist bildet schon lange nicht
mehr die Norm, ja wir möchten beinahe soweit gehen zu
sagen, dass sie nur ausnahmsweise angewendet wird. Die
privaten Uebereinkommen zwischen Prinzipal und Gehilfen
sind nämlich allmählich so gangbar geworden, dass wohl
in neunzig unter hundert Fällen eine vierzehn-
tägige, eine achttägige Kündigungsfrist, ja sogar
die Möglichkeit einer täglichen Entlassung bedun-
gen wird. Solche Verhältnisse, welche den Mann zum
Sklaven herabwürdigen, indem sie ihn bei der gering-
sten Regung der Selbstständigkeit vor die Gefahr stellen,
binnen 24 Stunden brodlos und obdachlos zu werden, sind
allerdings nachgerade unhaltbar. Es unterliegt ja keinem
Zweifel, dass die Mehrzahl der Angestellten, wenn sie die
eine Anstellung verlieren, in Bälde auch eine andere finden.
Die Gehaltsverhältnisse sind jedoch solche, dass von Erspar-
nis zumeist nicht die Rede sein kann, so dass der gestern
gekündigte und heute auf die Strasse gestellte Gehilfe schon
morgen hungern muss oder in Schulden geräth, von denen
frei zu kommen ihm schwer fällt oder gar unmöglich ist,
so dass die Nothwendigkeit besteht, längere Kündigungs-
fristen zu sichern.“ Das Organ der reisenden Kaufleute
Oesterreichs wünscht den Antrag Bendel nun dahin ver-
bessert zu sehen, dass wohl auch kürzere Kündigungsfristen
auf Probe, dagegen lediglich die Quartalskündigung als
Minimalkündigungsfrist für feste Stellungen zugelassen werde.
Es übersieht dabei, dass dann einfach die Probeengagements
überhand nehmen werden.
Gehälter (1er Handlungsgehilfen. Bislang fehlte es durch-
aus an zuverlässigen Erhebungen über den Arbeitsverdienst der
Handlungsgehilfen in Deutschland. Es scheint, dass dort, wo
die Handlungsgehilfen krankenversicherungspflichtig und des-
halb in abgegrenzte Lohnklassen eingereiht sind, sich mit Hilfe
des Kassenmaterials der Alters- und Invaliditätsversicherung
annähernde Berechnungen über die Höhe der Commisgehälter
anstellen lassen. Wenigstens hat der Assistent der Handels-
kammer in Plauen i. V., Dr. Dietrich, auf jenem Wege eine
Gehaltsstatistik herzustellen versucht, die er kürzlich in einem
Vortrage mittheilte. Danach bezogen in Plauen von 370 ver-
sicherungspflichtigen Gehilfen (Gehalt unter 2000 M.) 101 im
Alter bis zu 20 Jahren 949 M. jährlich, 148 im Alter von 21 — 26
Jahren 1271 M., '73 im Alter von 26— 30 Jahren 1476 M., und 48
im Alter von über 30 Jahren 1619 M. durchschnittlich. Nament-
lich bei der ersten und letzten Klasse fällt die relative Niedrig-
keit des Verdienstes auf. Bei der Ausscheidung nach Branchen
ergaben sich die niedrigsten Gehälter mit 1021 M. im Durchschnitt
für die Angestellten der Kolonialwaaren-, Eisen-, Kurzwaaren-
und Cigarrengeschäfte en detail, sodann 1135 M. für die Gehilfen
in Manufaktur- und Garderobegeschäften, 1 172 M. für die Kommis
der Kolonialwaaren-, Droguen- und Kohlenhandlungen en gros,:
1233 M. für die Angestellten in Gerbereien, Lederhandlungen.
Brauereien. Bier- und Weinhandlungen, sowie Seifengeschäften,
1282 M. Durchschnittsgehalt in Stickerei- und Konfektionsge-i
schäften, 1306 M. in Webereien, Gardinengeschäften und den-
entsprechenden Agenturen, 1362 M. in Maschinenfabriken, Tuch-
fabriken und -Handlungen, Optiker- und Mechanikergeschäften, i
sowie 1372 M. in Bankgeschäften. Ueber die prekäre Stellung
vieler dieser Handlungsgehilfen werden freilich erst weitere An-
gaben bezüglich ihrer Arbeitszeit, ihrer Kündigungsfristen, ihres :
Kleidungsaufwands und ihrer Ernährung erschöpfenden Auf-;
Schluss verschaffen. Endlich wäre es wünschenswerth, zu erfahren,
wieviel Angestellte mit Gehältern über 2000 Mark neben den,:
370 versicherungspflichtigen Kommis in Plauen vorhanden sind.;
Neben den Durchschnittszahlen müssten sodann die höchster
und niedrigsten Gehaltssätze jeder Klasse und Branche ange- 1
geben sein.
Handwerkerfragen.
Gewerbekammern in Baden.
Nachdem an dieser Stelle (vgl. No. 5 dieses Blattes,,
S. 69) die Grundzüge eines Gewerbekammergesetzes für j
das Grossherzogthum Baden, wie sie aus einer Mittheilung
der „Bad. Korr.“ hervorgingen, besprochen worden sind,
ist der Jahresbericht der Mannheimer Handelskammer für
1891 erschienen, unter dessen Anlagen sich der Entwurf
des badischen Gesetzes nebst Begründung und Gutachten
der Handelskammer im Wortlaute abgedruckt finden.
(S. 169 ff.) Dem Anschein nach handelt es sich dabei um
den ersten Regierungsentwurf, während die Mittheilungen j
der „Bad. Korr.“ aus einer theilweise umgearbeiteten Vor-
lage geschöpft sein dürften. Dies geht daraus hervor, dass
in dem von der Mannheimer Handelskammer wiedergegebenen
Entwurf die Beschränkung der Wahlberechtigung auf das
„handwerksmässig“ betriebene Kleingewerbe noch nicht
enthalten ist. Im Uebrigen aber herrscht wesentliche Ueber-
einstimmung zwischen dem von zwei verschiedenen Seiten
bekannt Gewordenen, und die frühere Besprechung sei
deshalb sofort durch einige Einzelheiten aus der neuesten
Mannheimer Veröffentlichung ergänzt.
Deutlich ist jetzt zu erkennen, dass es sich nur um
Einführung fakultativer Vertretungen des Kleingewerbes
No. 6.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
83
handeln soll. Die Wünsche der Betheiligten sollen nicht
nur für die Abgrenzung, sondern schon für die Frage der
Errichtung von Gewerbekammern überhaupt massgebend
sein. Die obligatorische Gewerbekammer hätte nach den
Motiven des Entwurfes den §§ 97 und 97a der Gewerbe-
ordnung „widersprochen“, „die von dem Grundsatz frei-
willigen Zusammenschlusses ausgehe“ und den Beitritts-
zwang ausschliesse. Diese Berufung auf die Gewerbeordnung
ist unseres Erachtens sehr anfechtbar; die letztere ordnet
in den betr. Paragraphen die Stellung freiwilliger gewerb-
licher Vereinigungen (Innungen), verbietet aber nicht die
landesgesetzliche Errichtung obligatorsicher Interessenver-
tretungen. Die mangelhafte Kompetenz der geplanten
Gewerbekammern ist einfach mit der Redewendung „be-
gründet“, dass ihnen ein Mehr „nicht zukomme“. Die schon
besprochenen Bestimmungen, nach welchen sich Industrielle
betheiligen und Gewerbekammern als Abtheilungen ein-
zelner Handelskammern errichtet werden können, werden
damit gerechtfertigt, dass „die Erfahrungen bezüglich der
Wirksamkeit freiwilliger Vereinigungen, deren Mitglieds-
kreis auf die Kleingewerbetreibenden beschränkt sei, ernst-
liche Zweifel an der Nützlichkeit einer derartigen Isolirung
erweckten“ und es als richtiger erscheinen Hessen, das
Kleingewerbe „in möglichst lebhafte Beziehungen zu seiner
Lehrmeisterin, der Industrie,“ zu bringen. Die Vermuthung,
dass die Handwerker dies von ihrem sozialen Standpunkt
aus als eine Bestellung des Bocks zum Gärtner bezeichnen
werden, ist nicht abzuweisen, und auf der andern Seite
verwahrt sich auch die Mannheimer Handelskammer gegen
die projektirte Verquickung, indem sie ausführt: „Es ist
gar nicht abzusehen, warum die Grossgewerbetreibenden
zur Berathung von Fragen des Kleingewerbes sollen bei-
gezogen werden können.“ Lind wenn sie auch die Möglich-
keit streift, „dass sich in den Gewerbekammern eine Art
Trutzkammern zu den bestehenden Handelskammern bilden“,
so schliesst sie doch damit, „dass die Gewerbekammern mit
den Handelskammern nicht vereinigt werden sollten, wenn
die letzteren das nicht wünschen“, denn das Bestreben,
verbunden zu werden, gehe ja doch vom Gefühl einer ge-
wissen Unselbständigkeit aus. Ueberhaupt lässt die Handels-
kammer sehr deutliche Zweifel an der Organisationsfähigkeit
des Handwerks, sowie das starke Bestreben durchblicken,
dass die Grossindustriellen unter sich bleiben. Weiter
ist aus der neueren Veröffentlichung ersichtlich, dass sich
der Regierungsentwurf die Organisation der Kammern und
ihr Verhältnis zu den Handwerkern so zwanglos wie
möglich denkt, eigentlich nicht viel anders, als wenn freie
Vereinigungen geschaffen werden sollten; die Gewerbe-
kammer soll Versammlungen ihrer Wahlberechtigten
veranstalten können, kleine örtliche Unterabtheilungen
haben u. s. w., und von der Einrichtung fester Sekretariate,
von denen allein Erhebungen und Aehnliches ausgehen
könnten, ist gar keine Rede. Die Begründung bezweifelt
freilich selbst, ob es auf diesem Wege gelingen werde, „die
weit verbreitete Theilnahmlosigkeit“ zu überwinden, und
sie hat sehr Recht, diesen Zweifel zu äussern. Als be-
zeichnende Zuthaten im Kleinen sei die bekannte Ver-
knüpfung der Wahlfähigkeit mit der Ueberschreitung des
25. Lebensjahres, sowie die Uebertragung einer gewissen
sittenpolizeilichen Aufsicht über ihre Mitglieder an die
Kammer (§ 12) erwähnt.
Danach sind die Urheber des Entwurfes noch viel
mehr in einer gewissen sozialpolitischen Aengstlichkeit und
Halbheit befangen, als das die ersten Mittheilungen der
„Bad. Korr.“ erkennen Hessen, wozu freilich die Eigen-
thümlichkeit des Stoffes, der hier zu einer lebensfähigen
Gestalt geformt werden soll, nicht wenig beigetragen haben
mag. Viel kann auch bei diesem Experiment für das
Handwerk nicht herauskommen.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Die neuesten Fortschritte der Fabrikgesetzgebung
in Russland.
Die allmähliche Entwickelung der Fabrikindustrie in
Russland ist begleitet von einem steten, wenn auch lang-
samen Wachsthum der Schutzgesetzgebung zu Gunsten der
jArbeiter und mehr noch von einem Eindringen der behörd-
lichen Vorschriften in alle Einzelheiten des Verhältnisses
zwischen Arbeit und Kapital.
Erst im Jahre 1882 hat man überhaupt an Arbeiter-
schutz gedacht. Ein Projekt, das alle Einzelheiten des ge-
werblichen Lebens umfasste, wurde durch Einwendungen
verschiedener Behörden auf eine solche Weise zugeschnitten,
dass davon nur das Verbot von Kinderarbeit unter 12Jahren
und die Beschränkung der Nachtarbeit der Frauen übrigblieb.
Auch dieses Wenige wurde nicht für das ganze Reich
nothwendig erachtet. Man bildete bloss drei Inspektions-
bezirke, Moskau, Petersburg und Wladimir, das übrige
Land tiberliess man seinem früheren Schicksale; das grösste
Arbeiterelend und eine masslos lange Arbeitszeit herrschten
jetzt, ebenso wie früher. Doch schon im Jahre 1886 wurde
die Zahl der Inspektionsbezirke um sechs neue vermehrt
und Vorschriften zur Regelung der Arbeit der Erwachsenen
erlassen. Bezeichnend ist dabei, dass nur einzelne
Provinzen (Gouvernement) den vollen Vortheil der
Arbeiterschutzgesetzgebung gemessen. Bis aut das Jahr
1891 die Moskauer, Petersburger und Wladimirer, seit
Oktober dieses Jahres noch die Provinz Warschau
und Petrokow. Da man in wirthschaftlichen Regierungs-
massregeln immer das politische Moment suchen soll und
umgekehrt, ist es nicht überflüssig daran zu erinnern, dass
in den beiden zuletzt genannten Provinzen die Maifeier in
diesem Jahre ganz nach westeuropäischem Muster begangen
wurde, und dass hier die Arbeiter an Selbst- und Klassen-
bewusstsein den deutschen und österreichischen keineswegs
nachstehen. Die Ausdehnung der Fabrikgesetzgebung auf
diese Provinzen, wo jetzt statt des einen Fabrikinspektors
in Warschau, zwei Inspektionsbezirke in Warschau und
Petrokow- mit je einem Inspektor, drei Gehilfen und zwei
Komitees gebildet wurden, ist also wohl begründet und ihre
Ursachen leuchten ein.
Die Fabrikinspektion umfasst alle industriellen Betriebe
mit Ausnahme von Handwerk, Hausindustrie, derjenigen
Llnternehmungen, welche der Regierung gehören und
solcher Gruben, wo eine besondere Aufsicht seitens der
Regierung ausgeübt wird. Die Aufsichtskomitees haben
eine so ausgedehnte Vollmacht, dass sie den Schutz auch
auf neue Betriebe anwenden dürfen. So wurde in Warschau
der Schutz auf jeden Handwerksbetrieb ausgedehnt, wenn
er 1 6 Gehilfen beschäftigt, oder Maschinen und mechanische
Motoren anwendet.
Neben den Bezirksinspektoren, ihren Gehilfen und
den Komitees besteht noch ein Hauptinspektor; seine Rolle
ist aber mehr formell und die unteren Beamten sind für
ihre Bezirke massgebend. Russland ist zu ausgedehnt und
in seiner Entwickelung zu mannigfaltig, als dass ein einziger
centraler Wille alle Theile nach einem Muster leiten könnte,
wie es z. B. in England vom Chiefinspektor Redgrave ge-
schieht. Hier soll zwar über alles an den Hauptinspektor be-
richtet werden, die Inspektoren aber dürfen im übrigen walten,
wie es ihnen und den Komitees am besten scheint. Letztere
bilden eigentlich eine vollziehende Behörde in allem, was
das Verhältniss der Unternehmer zu ihren erwachsenen
Arbeitern betrifft. Die Unternehmer werden für eine eigen-
willige Entlassung des Arbeiters oder für andere Miss-
bräuche mit Geldstrafen bis zu 100 Rubel oder Einsperrung
bis zu einem Monat bestraft; und das ist keine blosse Drohung,
sie müssen auf die Anklage ihrer Arbeiter nicht selten ins
Gefängniss wandern, wie diese wegen der ihrigen. Nur unter-
liegen die Arbeiter viel höheren Strafen und werden von
den Gerichten abgeurtheilt. Vom Gerichte werden auch
die Anklagen in Sachen der Minderjährigen entschieden.
Die Komitees sind eine so merkwürdige und lür
die russischen Zustände charakteristische Einrichtung,
dass wir ihnen ein paar Worte widmen müssen. In jeder
Stadt bestehen ihrer zwei. Die eine wird von der Polizei-,
die andere von den Provinzbeamten gebildet, beide mit
Zuziehung zweier Industrieller oder Fabrikbesitzer und
eines Gendarmen Letzterer soll in den Charakter des
Verhältnisses zwischen Unternehmer und Arbeiter Einsicht
haben und die Entwickelung der sozialistischen Tendenzen
unter den Arbeitern verfolgen. Dem Polizeikomitee unter-
84
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 6.
liegt alles was sich auf die Ausweise der Arbeiter, ihre
Zugehörigkeit und ihren Aufenthalt in einer Fabrik be-
zieht. Das Provinzkomitee sorgt für industrielle Ange-
legenheiten, Schutz der Arbeiter, pünktliche Auszahlung
der Löhne, Einhaltung des Arbeitsvertrags, Beseitigung des
Trucksystems, Entschädigung für Unfälle, Krankenkassen
und dergleichen mehr. In beiden ist der Fabrikinspektor
das anklagende, referirende und Bescheid gebende Mitglied.
Es ist aber erlaubt, gegen diesen Beamten vor dem Komitee
Klagen zu erheben, welche dann an den Finanzminister
gelangen. Solche Komitees (prisutstwia) sind eben im
Oktober vergangenen Jahres in Warschau und Petrokow
errichtet worden und haben schon Vorschriften erlassen,
einerseits bezüglich der strengeren Aufsicht über die Pässe
und die Ausweise der Arbeitenden, andererseits zum Schutz
und zur Wahrung der Gesundheit und zur Vorbeugung
von Unfällen.
Warschau. Sophie Daszynska.
Arbeiterschutz in der Mühlenindtistrie. Im Aufträge
von 2500 Müllergesellen hat, wie No. 3 des Fachblattes der
Müller und verwandten Berufsgenossen Deutschlands vom
3. Februar mittheilt, der Redakteur H. Käppler eine Petition
an den Bundesrath gerichtet, in der folgende Forderungen
zu Gunsten der Mühlenarbeiter aufgestellt werden: 1. die
Festsetzung einer Arbeitszeit von täglich 12 Stunden (incl.
einer Stunde Mittagspause), 2. eine Verordnung, wonach
§ 105 b der Gewerbe-Ordnung ohne alle Einschränkung
Geltung erhalten solle, 3. die Anwendung des § 135, Ab-
satz 3, der Gewerbe-Ordnung, wonach junge Leute zwischen
14 und 16 Jahren nur 10 Stunden täglich beschäftigt werden
und 4. eine Anweisung an die überwachenden Beamten
der Unfall-Berufsgenossenschaften, wonach die „geradezu
skandalöse“ Nichtachtung der Unfallverhütungsvorschriften
seitens der grossen Mehrzahl der Mühlenbesitzer energischer
verfolgt werden solle als bisher.
Die traurige Lage der deutschen Mühlenarbeiter ( vgl.
Sozialpolitisches Centralblatt, No. 1, S. 7 fg.) lässt jede der
hier formulirten Forderungen durchaus berechtigt erschei-
nen, und wenn der Degeneration dieser Arbeiterklasse ein
Ziel gesetzt werden soll, ist die Bewilligung ihrer Ansprüche
dringend geboten.
Arbeiterversicherung.
Eine Enquete betreffend die Krankenversicherung.
Die Ansicht, dass eine Enquete nur dann Erfolg ver-
spricht, wenn ihre Einberufung von der Staatsvei waltung
oder einer gesetzgebenden Körperschaft erfolgt, ist eine
sehr verbreitete. Ich hatte kürzlich Gelegenheit, mich da-
von zu überzeugen, dass auch Untersuchungen, die von
privater Seite veranstaltet werden, schöne Ergebnisse zu
liefern vermögen. Zum Zwecke der Klarlegung der bis-
her mit dem Krankenversicherungsgesetze gemachten Er-
fahrungen, den zu Tage getretenen Härten und Lücken, hat
zu Ende des \ orjahres der Verband der genossenschaft-
lichen Krankenkassen V iens eine mündliche Enquete ver-
anstaltet, die nach meiner Beurtheilung werth volles Material
für die Reform der Krankenversicherung, aber auch inter-
essante Daten sozialpolitischen Charakters zu Tao-e o-e-
fördert hat.
Es kann nicht Zweck der folgenden Zeilen sein, die
Ergebnisse der Untersuchung mitzutheilen. Dies wird erst
dann geschehen können, wenn die stenographischen Auf-
zeichnungen der Oeffentlichkeit übergeben sein werden.
Heute soll lediglich die Einrichtung und Durchführung der
Enquete skizzirt werden.
Von vornherein stand es fest, dass die Untersuchung
eine ausschliesslich mündliche sein müsse. Dafür sprach
der Umstand, dass die zahlreichen Erfahrungen allzu um-
fangreiche Aufzeichnungen erfordern würden: es fiel aber
noch ins Gewicht, dass vielen Funktionären, insbesondere
der kleineren Kassen, die schriftliche Bekanntgabe ihrer An-
schauungen und Wünsche unmöglich zugemuthet werden
durfte.
Anders gestaltete sich die Sachlage rücksichtlich der
frage der Oeffentlichkeit der Verhandlungen. Auf der
einen Seite stand derselben das österreichische Versamm-
lungsrecht im Wege: andererseits konnte man sich auch
nicht verhehlen, dass der Kreis derjenigen, die gleichzeitig
Verständniss und Interesse dem Gegenstände entgegenzu-
bringen vermöchten, ein enggezogener sei. So entschloss
man sich denn, auf die unbeschränkte Oeffentlichkeit zu
verzichten, dafür aber Allen, die Aufschlüsse zu gewähren
in der Lage sein konnten, den Zutritt zu ermöglichen. Dies
erfolgte in der Art, dass die in Betracht kommenden Kassen,
sowie einzelne Personen, deren Interesse für die Kranken-
versicherung bekannt war, endlich aber auch die berufenen
Behörden von dem Stattfinden der Enquete und dem Zwecke
derselben Mittheilung erhielten. Auf Grund dieser Benach-
richtigung bewarben sich fast alle Krankenkassen um
Eintrittskarten für ihre Delegirten; auch die Gewerbe-
behörde entsandte zeitweilig einen Vertreter.
Zur Leitung der Diskussion wurde eine Kommission
von erfahrenen, auf dem Gebiete der Krankenversicherung
bewanderten Personen eingesetzt, von welcher ein Fragebogen
1 ausgearbeitet und längere Zeit vor Beginn der Enquete an
die Theilnehmer ausgesendet wurde. Bei dieser Gelegen-
heit zeigte sich recht drastisch, wie unrichtig es ist, die
Aufstellung von Fragebogen unter allen LTmständen zu ver-
werfen. Bei der grossen Menge von Punkten, die behandelt
werden mussten, hätten Experten wie Konimissionsmitglieder
den Faden verloren, wären viele Fragen mehrfach, andere .
gar nicht beantwortet worden. Gewiss wird der Frage-
bogen nicht am Platze sein, wo man nur ganz allgemein
weiss, worauf die Untersuchung sich zu erstrecken hat. !
Sind jedoch, wie vorliegend, die konkreten Punkte, die der
Klärung bedürfen, bekannt, dann ist der Fragebogen ein
unumgängliches Erforderniss. Das Fragenschema hatte den
Vortheil, die einzelnen Punkte zumeist nur kurz anzudeuten,
ohne in eine nähere Spezialisirung einzugehen.
Bei der grossen Anzahl von Theilnehmern konnte der j
Vorgang nicht eingehalten werden, dass Jedermann zu jeder <
Frage aufgerufen werde. Dies hätte neben einer unge-
bührlichen Verlängerung der Verhandlungen — circa 50Theil-
nehmer hätten über 78 Fragen vernommen werden müssen
auch eine zu grosse Monotonie herbeigeführt. Aus diesen
Gründen wurde jeder einzelne aufgefordert, sich zu frei-
auszuwählenden Punkten in die Rednerlisten einzuzeichnen.
Ausserdem erging nach Erschöpfung der Rednerliste jedes-
mal die Anfrage, ob noch Jemand vernommen zu werden
wünsche. Die Betheiligung war so eine ausserordentlich
rege; das Auditorium folgte dem Frage- und Antwortspiel
durch 4 —5 Stunden mit nicht ermüdender Ausdauer.
Mit Recht glaube ich, wurde darauf gesehen, dass
lange Reden, breitspurige Ausführungen vermieden wurden.
Die drei abgehaltenen Sitzungen waren fast ganz — - wie
schon bemerkt durch Fragen und Antworten ausgefüllt.
Dabei wurden Unklarheiten mitleidslos aufgedeckt, allge-
meine Behauptungen kritisch geprüft, auf Beibringung von
Beispielen gedrungen. Es konnte nicht fehlen, dass auch
scharfe Gegensätze aufeinander stiessen, dass Verschieden-
heit der Ansichten zu Tage trat. All dass dürfte aber den
Werth der Enquete nur steigern.
Das Eine darf aber nicht verschwiegen werden, dass
die Ergebnisse nur theilweise auf allgemeineres Interesse
Anspruch erheben können. Dahin gehörten die Daten über
die Verbreitung der Hausindustrie und des Sitzgesellen-
wesens in zahlreichen Wiener Gewerben, über die Fluktua-
tion der Arbeiterschaft u. s. w. Der grösste Theil der Zeit
wurde mit Details ausgefüllt, die für den Gesetzgeber wie
für die Ausführungsbehörden, die Kassenfunktionäre und
einen recht engen Kreis von Theoretikern Werth haben
mögen, im Uebrigen aber grösster Gleichgiltigkeit begegnen
No. 6
SO/TAI ,1’OT ITISCHES CRNTKAT.BT.ATT.
85
dürften. Ich werde es trotzdem nicht unterlassen, seiner
Zeit die Reformvorschläge zum Krankenversicherungs-
gesetze, wie die Aussagen sozialpolitischer Natur den
Lesern dieses Blattes zu vermitteln.
Wien. Leo Verkauf.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung.
Ueber Versuche zur Hebung (1er Wohnungnoth der
Arbeiter wurde in der Versammlung vom 1 . d. Mts. des
„Vereins zur Beförderung des Gewerbfleisses“ in Berlin de-
battirt. Die Aeusserungen der verschiedenen Vertreter der
in der Reichshauptstadt für obigen Zweck bestehenden
Gesellschaften Hessen erkennen, dass beinahe jeder Verein
dem Uebel auf einem anderen Wege steuern will, was wohl
nicht anders sein kann, so lange man lediglich gegen die
vielgestaltigen Symptome der eigentlichen Krankheit kämpft.
Professor Post von der Centralstelle für Wohlfahrtseinrich-
tungen will die Arbeiter aufs Land drängen. Ein Industrieller
in Ludwigsburg mache es schon jetzt zur Bedingung, dass
seine Arbeiter auf dem Lande Wohnung nehmen, andere
setzten Prämien für die aus, die auf dem Lande wohnen,
wogegen Fabrikdirektor Holtz geltend machte, dass sich die
Arbeiter mit Recht dagegen wehrten, aus der direkten
Wohnverbindung mit anderen Klassen herausgerissen
zu werden, — als wenn dieses an und für sich
durchaus berechtigte Streben nicht heute schon in
allen grösseren Städten durch die Macht der Verhältnisse
durchkreuzt wäre! Professor Post war sodann mehr für
die Erzielung billigerer Miethspreise für Arbeiter durch
Genossenschaften, während die Vertreter der Bauvereine
und Baugenossenschaften an der Nützlichkeit des Häuser-
erwerbes durch Arbeiter festhielten, ohne zu beachten, wie
bewegt ein Arbeiterleben heute sich zu gestalten pflegt.
Amtsrichter Aschrott sprach sich für gross angelegte und
deshalb dem Arbeiter billiger zu bietende Wohnungen, für
Aktienwohnhäuser (Kasernensystem) aus und will die Kapi-
talien der Alters- und Invaliditäts-Versicherung zum Bau
derselben verwendet wissen, während Bankier W eissbach diese
Aufgaben den Gemeinden zuweist. Recht bezeichnend ist
es, dass in der Debatte gerade die für die Wohnungsfrage
entscheidenden Gesichtspunkte nicht hervorgehoben wurden.
Weder die ökonomische Lage des Arbeiters und ihr Ein-
fluss auf die Gestaltung der Wohnungsverhältnisse, noch
der unvermeidliche Zusammenhang des monopolistischen
Charakters des städtischen Grundeigenthums nebst seinen
Begleiterscheinungen des Baustellen- und Häuserwuchers
mit der herrschenden Wohnungsnoth, noch auch endlich
die Frage näch der Stellung des Staates und der Gemeinde
wurden gewürdigt. Und doch bewegt man sich in Betreff
der Wohnungsfrage auf unfruchtbaren Irrwegen, so lange
man über die Bedeutung jener ausschlaggebenden Momente
nicht zur Klarheit gelangt ist.
Zur Reform der Berliner Bauordnung. Der Vor-
stand des deutschen Bundes für Bodenbesitzreform hat am
21. Januar d. J. an den Berliner Polizeipräsidenten eine
Petition gerichtet, in welcher um eine verschärfte Bauord-
nung für die äusseren Stadttheile gebeten wird. Es wird
ausgeführt, dass die Bauordnung vom 15. Januar 1887 in
vielfacher Hinsicht eine bessere bauliche Gestaltung der
Stadt herbeigeführt hat. Wolle man aber die Möglichkeit
für den Bau kleinerer Wohnhäuser in ausgedehnterem Mass-
stab schaffen, so müsste die jetzige Bauordnung für die
äusseren Stadttheile d. h. für die Terrains ausserhalb der
alten Stadtthore bis zur Weichbildgrenze ergänzt werden. Es
müsse bestimmt werden, dass dort vom Inkraftreten der zu
erlassenden Verordnung an die Höhe der Häuser nur drei
Stockwerke betragen dürfe und dass die bebauungsfähige
I' läche für diese Stadttheile von zwei Dritteln auf die Hälfte
der Gesammtfläche herabgesetzt werden müsse. Es heisst
in der Petition weiterhin: „Ist die Errichtung von Mieths-
kasernen erlaubt, so lassen die Besitzer die Bauflächen lieber
zehn oder zwanzig Jahre als Wüstenei liegen, ehe sie den
Boden zu einem Preise abgeben, welcher die Errichtung
von niedrigen Einzelhäusern erlaubt. Die Errichtung von
Landhäusern rund um die Stadt, welche ein soviel gesun-
deres Wohnen herbeiführen, ist aus diesem Grunde so gut
wie unmöglich. Aus demselben Grunde kann es den zahl-
reichen gemeinnützigen Baugesellschaften nicht gelingen,
sei es auch in noch so erheblicher Entfernung vom Mittel-
punkte der Stadt, niedrige Arbeiterhäuser zu errichten.“
Wohnungszustände in Mannheim. Bekanntlich bestehen
in den grösseren Städten des Grossherzogthums Baden Kom-
missionen zur Untersuchung der kleinen Wohnungen (Ar-
beiterwohnungen).
Wie übel noch die Wohnungs Verhältnisse der Arbeiter
in Mannheim bestellt sind, wie theuer und schlecht da noch
viele Arbeiter wohnen müssen, hat man in objektiver Dar-
stellung aus dem Werk des Fabrikinspektors Wörishoffer
ersehen können. Jetzt liegt wieder ein Bericht der Unter-
suchungskommission vor, welcher die innere alte Stadt
umfasst, während die Aussenstadt, die neuen Arbeiterviertel,
noch zu untersuchen bleiben.
Das Resultat der Untersuchung ergab traurige Zustände
und mussten 250 Wohn- und Schlafräume als gesundheits-
widrig bezeichnet und deren Benutzung für solche Zwecke
untersagt werden. Bei einer weiteren Anzahl von Räumen
wurde die fernere Benutz'ung nur gestattet, wenn die noth-
wendigen Verbesserungen sofort vorgenommen würden.
Die Häuser mit gänzlich verbotenen Wohnungen
müssen vollständig umgebaut werden , um der Hygiene
entsprechende Räume herzustellen. Wird man endlich auch
in anderen Staaten oder im Reich für Untersuchungen der
Arbeiterwohnungen sorgen?
Armenwesen.
Die Individual-Armenstatistik des Wiener Vereins
gegen Verarmung und Bettelei.1)
Der grösste Wiener Armenpflegeverein, der „Verein
gegen Verarmung und Bettelei“, verfügt seit den II Jahren
seines Bestandes über Personalakten von 50 000 Hilfe-
suchenden. Der Präsident des Vereins v. Inama-Sternegg
hat dieselben benützt, um eine Individualstatistik für 10ÖÖ0
dieser Personen, bezüglich welcher die besten Daten Vor-
lagen, zu veranstalten und legt das Resultat den Lesern
vor. Damit ist die erste grössere Individualstatistik aus
österreichischen Verhältnissen gegeben und ein Einblick
gewonnen, der sowohl vermöge der bedeutenden Zahl der
Individuen als auch in Folge ganz neuer Erhebungsmomente
Beachtung verdient.
Was die Wirksamkeit des Vereins anlangt, so ist sie zu-
nächst nicht auf die - um mit dem Verfasser zu sprechen
„chronisch Nothleidenden“ gerichtet, sondern sie bezweckt
vor Allem die „Hebung sinkender Existenzen“.
Die Nachrichten, welche wir über die Zuständigkeit
erhalten, beweisen, dass das österreichische System des
mit dem Heimathsrechte in Verbindung stehenden gesetz-
lichen Armenwesens nur deshalb fortbestehen kann, weil
es nicht gehandhabt wird. Es waren von je 100 gezählten
Armen zuständig: in Wien 31,8% und auswärts 68,2 %.
Angenommen, die Gemeinde wollte von den gesetzlichen
Bestimmungen Gebrauch machen und die Fremdzuständigen
nur in den dringendsten Fällen momentan selbst unter-
stützen, später aber und in allen anderen Fällen ihrer
Heimathsgemeinde überantworten, so hätten von der hier
untersuchten Klientel des Vereins gegen Verarmung und
Bettelei allein 7000 Individuen den Wanderstab ergreifen
müssen. Es ist heute gar nicht mehr möglich, dass die
Gemeinden sich nach den Bestimmungen des Heimaths-
gesetzes richten, auch dann nicht, wenn sie auf eine
Rückerstattung der für Fremdzuständige ausgelegten Be-
träge gar nicht rechnen können. Noch deutlicher wird
dies, wenn wir nachfragen, wie lange diese ca. 7000 fremd-
zuständigen Armen bereits in Wien wohnten:
1) Die persönlichen Verhältnisse der Wiener
Armen. Statistisch dargestellt nach den Materialien des Vereins
gegen Verarmung und Bettelei von dessen Präsidenten K. Th.
von Inama-Sternegg. Wien 1892, Selbstverlag des Vereins,
4-", 22 S.
86
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 6.
Dauer des Aufenthaltes
In Prozenten
Männer Weiber I zusammen
bis 1 Jahr
1,6
1,7
1,6
1 — 2 Jahre
2,9
2,8
2,9
3- 5 „
5,6
5,1
5,4
6—10 „ ....
15,4
13,8
14,8
11—20
35,5
33,6
34,9
über 20 „
39,0
43,0
40,4
zusammen . . .
100,0
100,0
100,0
Aus den Nachrichter
über den
Civilstand
möchte ich
nur auf ein Moment hinweisen und das ist die enorme Zahl
der unehelichen Kinder bei dieser Bevölkerung; von
den weiblichen Ledigen haben 4- 1 °/0 uneheliche Kinder und
zwar 26,5 % mehr als eines, und von den ledigen Männern
8%. Rechnet man dazu jene Fälle, bei denen das unehe-
liche Kind bereits gestorben ist, und diese mögen nicht
wenig zahlreich sein, so kann man wohl ruhig behaupten,
dass eine uneheliche Progenitur zum charakteristischen
Merkmal dieser Bevölkerungsklasse gehört.
Neue Aufschlüsse bietet die Erhebung über das Ein-
kommen und die Miethsverhältnisse der Armen. Nur ist
dabei stets zu bedenken, dass es im Allgemeinen „sinkende
Existenzen“ und nicht der Armuth ganz Anheimgefallene
sind, um welche es sich hier handelt. Demnach fanden
sich 14% der Männer und 16% der Frauen ohne jedes
Einkommen. Die letzteren sind fast ausschliesslich Tag-
löhnerinnen und Personen mit wechselnder oder ohne alle
Beschäftigung. Bei den männlichen Einkommenslosen sind
dagegen fast alle Berufsgruppen vertreten, relativ am
stärksten natürlich die Berufslosen, von denen überhaupt
fast die Hälfte auch ganz ohne Einkommen war. Da aber
nun von allen berufslosen Männern % verheirathet und %
Familienväter sind, so ergibt sich, dass wir hier vor einer
breiten Schichte der eigentlichen Massenarrouth stehen.
Der sogenannte Nebenerwerb spielt bei diesen
Volksklassen eine ungemein wichtige Rolle und kommt bei
ca. V* der Fälle in Betracht; bei besonderen Klassen steigt
der Prozentsatz auch bis annähernd an 60. In wieweit das
Nebeneinkommen die Existenzverhältnisse zu verbessern
vermag, kann aus der folgenden Uebersicht entnommen
werden; von je 100 ein Einkommen Beziehenden waren im
Besitze eines solchen von:
bis
25 fl.
25 bis
50 fl.
über
50 fl.
zu-
sammen
rnännl. Personen mit Neben-
erwerb . .
14
49
37
100
„ ohne Neben-
erwerb . .
33
53
14
100
weibl.
„ mit Neben-
erwerb . .
30
42
28
100
V
„ ohne Neben-
erwerb . .
77
18
5
100
Unter den Ausgaben beansprucht der hohe Mieth-
zins die grösste Beachtung seitens der Armenpflege. Die
hier beobachteten Armen vermochten zur Hälfte nicht mehr
als 5 fl. monatlich =: 60 fl. jährlich für die Miethe selbst
(d. h. ohne Rücksicht auf Aftermiether, Schlafleute etc.)
aufzubringen. Es zahlten überhaupt von je 100 gar keine
Miethe 3, einen Monatszins bis 5 fl. 13, von 5 — 10 fl. 40, und
über 10 fl. 44 Unterstützte. Dabei kommt eine Afterver-
miethung bei einem Miethzins von bis 5 fl. fast gar nicht
vor, dagegen bei einem Zinse von 5 — 10 fl. monatlich in
13% und bei einem solchen von über 10 fl. in 37 % der
Fälle. Im Allgemeinen fand sich die Weitervermiethung
bei 26% der männlichen und 31% der weiblichen Unter-
stützten. Diese Zahlen erhalten einen düsteren Hintergrund
durch die Wiener Wohnungszustände. Eine Wohnung resp.
ein Zimmer (ohne Küche) zum Preise von weniger als 5 fl.
dürfte wohl in »'anz Wien nicht zu erhalten sein und auch
kaum in den Vororten, abgesehen von einigen dumpfen
Kellern und Dachräumen. Die 13% Lhiterstiitzten, welche
diesen Miethzins zahlen, dürften vielleicht Schlafleute sein,
denn in der Stadt wird von Schlafleuten für 1 Bett per
Woche 1 fl. gezahlt. Die eigentlichen Wohnungen, be-
stehend aus einem Zimmer und allenfalls einem ganz kleinen
Küchen- oder Vorraum, kosten selbst in den ehemaligen
Vororten 8 fl. monatlich = ca. 100 fl. jährlich und unter
diesen Verhältnissen wohnen 40n/n der Unterstützten, von
welchen aber 13% Aftermiether resp. Schlafleute beher-
bergen. Es wohnen also nun, was diese beiden Gruppen an-
belangt, 13 -J-40 = 53"/0 in einem Wohnraume, davon ‘/7 bis !
7S mit Schlafleuten etc. Aber auch bei denjenigen, welche !
eine höhere Miethe als 10 fl. monatlich zahlen, wird die j
Sache im Allgemeinen nicht besser stehen. Eine Wohnung,
bestehend aus Zimmer und Küche, kostet im Allgemeinen
mehr als 100 fl. und in solchen dürften jene 44% wohl zu f
suchen sein, welche mehr als 10 fl. monatlich zahlen; von
diesen aber hatten 37 % Aftermiether, welche wieder zum
grossen Theil Schlafleute sein dürften. Damit haben wir
die Wohnverhältnisse dieser Unterstützten klar vor uns. >.
Das ausschlaggebende Gros derselben sind entweder selbst
Schlaf leute oder Bewohner je eines Zimmers resp. eines )
Zimmers und einer Küche und diese beiden letztgenannten
Kategorien haben zu 1 „■ — '/♦ selbst wieder Schlafleute resp.
in gewissen Fällen Aftermiether. Dabei aber darf man
nicht übersehen, dass es immer noch nicht die eigentliche i !
Massenarmuth ist, welcher wir hier begegnen, sondern die J
sinkenden Existenzen. Man kann daraus einen Schluss I
ziehen, wie die Wohnverhältnisse der eigentlichen Armen j
beschaffen sein mögen. Dass die hier skizzirten Zustände i
wohl im Allgemeinen zutreffen dürften, ergibt sich aus den !
Ziffern, welche das Oesterreichische Städtebuch im I. Jahr- ]
gange tür die Stadt und jene damaligen Vororte, welche
von der armen Bevölkerung bewohnt werden, ermittelte:
Stadt
und
Vororte
Von je 100 Wohnungen hatten
i Wohn-
raum1)
2 Wohn-
räume *)
i und 2
Wohn-
räume
zusammen
einen Jahres-Miethzins von
bis 1 ioo bis 1 zusammen
ioo fl. 200 fl. 1 bis 200 fl.
Wien
29,66
35,27
64,93
13,67 34,07
47,74
Fünfhaus . . .
10,39
10,91
21,30
18,92 54,55
73,47
Sechshaus . . .
18,60
45,65
64,25
27,62 49,16
76,78
Oberdöbling . .
31,84
23,48
55,32
33,26 31,32
64,58
Hernals ....
55,13
32,82
87,95 .
41,22 I 46,20
87,42
Währing . . .
45,49
34,65
79,14
25,51 51,89
77,40
Ottakring . . .
60,67
23,92
84,59
50,71 39,72
90,43
Neulerchenfeld .
65,26
26,33
91,59
39,05 | 50,29
89,34
Hält man das Einkommen mit dem Miethzins zusammen, i
so kann wenigstens so viel konstatirt werden, dass in der j
ganz überwiegenden Anzahl der Fälle mehr als '/* des Ein-
kommens zur Wohnungsmiethe verwendet wird.
Was zum Schlüsse noch die Verschuldung dieser ■
„sinkenden Existenzen anbelangt, so geht aus der Erhebung ,
hervor, dass von den Unterstützten ca. 55 — 60% Mieths- : i
schulden und etwa 70% andere Schulden haben; je */4 . 1
dürfte keine Schulden oder nur eine Kategorie derselben
haben , 2/4 aber sowohl Miethsschulden als auch andere |i
Passiva; und zwar sind diese um so häufiger, je kleiner das :
Einkommen ist. Von den Miethsschulden entfallen auf die
Schuldhöhe bis 25 fl. 80 — 90 % und zwar dürfte dabei der
Miethsbetrag in den meisten Fällen 2 — 3 Monate, also nicht
ganz ein Vierteljahr ausstehen.
Prag. Ernst Mischler.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
Damaschke, Adolf, Manchesterthum, Antisemitismus oder
Bodenbesitz-Reform. Vortrag. Berlin, Thormann und
Goetsch,. 1892. 84 32 S.
Ex malis mimina! Reflexionen zur Prostitutionsfrage.
Von einem Universitätslehrer. Berlin, 1891, Philos.-histor.
Verlag. 8". 15 S.
Losch, Dr. Hermann, Nationale Produktion und nationale
Berufsgliederung. Leipzig, 1892, Duncker & Humblot.
84 XII und 324 S.
Mehring, Franz, Herrn Eugen Richters Bilder aus der
Gegenwart. Eine Entgegnung. Nürnberg, 1892, Wör-
__ lein & Co. kl. 84 IV und 61 S.
Rüdiger, Dr. v., Reg.- und Gewerbe-Rath, Wegweiser zur
Aufstellung von Arbeitsordnungen aut Grund des
Arbeiterschutzgesetzes vom 1. Juni 1891. Zum Ge- J
brauche für Behörden, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Berlin,
1892, Heymann. 84 VIII und 128 S.
') Nicht eingerechnet die Küchen.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
Berlin, den 8. Februar 1892.
Kür den Anzeigentheil sind die Redaktion und die Verlagsbuchhandlung nicht verantwortlich. Anzeigen-Annahmestelle nur bei
l)r. Otto Eysler, Berlin SW., Charlottenstrasse 11. Preis für die 3 spaltige Colonelzeile 40 Pf.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung in Berlin SW. 48.
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zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder.
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QI. If. Brrk’lifri Iftgrlagslnttijfjanblmtg (Pahar Bedt) in IDünditn.
Sn unferem Verlage iit evfdjieuen:
*6n*hlllth I>rssx’ CSurnpätfefitcr ©efehtchfsltalcnbcr, 9teue golge. (Sed)fter
3at)rgang. 1890. 7® er ganzen 9ieil)e XXXI. Söatib.) .fperaud*
gegeben uou tgvof. Di\ #andSelbni<f. $reis gelp 8 93i. ©rfdjeint a lljährt i d). Satpgang
1891 erfdjeint itn gebruar 1892
MouU'lete tS.pt. bev jnüjeren 'Antivuaucjc bieied Bolitifevu u 11 e u t b e t) v t i d) e n b v r ii l) m t e n 3 afj v fa lt d) 3
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nvofjt). feil. Slegierumjärat: Auflage mit einem Stnljang, bie Sßollgugdbefauut»
mad)ungeu beö äjnnbedrntg entljaltenb. S'avt. 1 Dt. 80 !pf.
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M. luT'hö, Sfaijtfimfrxrjfr. 55.
Verlag tum Jtnttcker & i§umldnt in Heilig.
(©eorp Jriebridt knapp, Sie Handarbeiter
in itned)tfd)aft mtb Freiheit ®ier SSorträge.
1891. )ßret<3 ca. 2 Di.
Beinrirff Iferfmer, Sie fociale ^Reform al§
’©elmt be§ mirtljic^aftlidjen fyortfdjrittei. 1891.
ißreis 2 93t. 40 5pf.
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49. Sand: “Sie JpanbeläpoUtif ber nichtigeren
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2. 33anb, 21 u. b. S : Sie 3been ber beut=
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amt beS gmievn.
Tritte neun einte x’lufUute.
gr. 8°. 9 9Jt., gebmtbeu 10 93t.
3. CSuftentag, BerlaflgbutfrlTanblunfl in Berlin.
Blätter für (9eno)Tenfd)öftstr»efen.
(Innung bet Buftwft XXXIX. ^aljrgang.)
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©enoff enf^aften.
SBegrunbet Don
I)r.
Xmx tarnt EnumltL
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2lbomtementi;^reii ftalbjöljrtg 3 9Jlf.
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Derselbe. Der moderne Socialismus in den Vereinigten Staaten v. Amerika. 1890. 422 S. gr. 8°. 8 Mark.
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Zeller, J. Zur Erkenntnis« unserer staatswirthschaftlichen Zustände. 2. Aufl. mit Anhg. : Rodbertus-
Jagetzow. Die soziale Bedeutung der Staatswirthschaft. Erster sozialer Brief an von Kirchmann. Der
Normalarbeitstag. 1885. 305 S. gr. 8°. 6 Mark.
Knies, C. ii. Ad. Die Statistik als selbstständige Wissenschaft. 1850. 175 S. kl. 8°. 2 Mark 25 Pf.
(Parthieartikel. Vorräthe nur noch gering.)
No. 255. Geschichte und Literatur der
National-Oekonomie bis Adam
Smith.
No. 264. Geschichte und Literatur der
National-Oekonomie von Adam
Smith bis zur Gegenwart.
No. 278. Socialwissenschaft. Socialismus
und Kommunismus, Grundeigen-
thumsverhältnisse, Geschichte d.
Arbeit.
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über Biiubeb- uub ©taat3anget)örigfeit uub Sfreijügigfeit.
Bon Dr. 3. ffred). 3,l’eil e Sluflage. 2 Skf.
9a. Sammlung ficinerer pnuatrcdittidicc 91eid)C-=
gefebe. GvgänsmigSbaub 311 beu im 3- Muttcntaq’fdjcn
Berlage eridjicneuen GmacbSluäqaben bcutfctjcr 9ieirt)§=
gefelje. Bon gr. SSierljauä. 2 Skf. 25 Bf.
91). Sammlung tleincrcr 91 eidjc- gef ehe ftrafrodit--
lidicti Jnbaltö. GrgänauugSbanb 311 ben im 3- ©litten*
tägfdjcn Berlage evf djicneneu Ginjct-SluSgabcu bentfdjer
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21. TieMonfuIavgcfctjgebung beeTcntfdicnSfeidice'.
Sion Dr. B()ilipp 3‘orn. 4 Skf.
22. 'J'atcntgefeü. ©efeb über fOhifter= unb 5Wlobcü=
id)itfe. ©eictj über SJIarfenfd) 11 fs. Stcbft Slu«--
füfjrungSl'eftimiHungen. Slou T. $0- Berger. Tritte
Sluflage. 3n Borbereitung.
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©cf cb über bic Stucbchuung ber Unfalt= uub
Mranfeuuerfidierung uom 28. Skai 1®5. Sion
G. uon SBocbtfe. Stierte Sluflage. 2 Skf.
24. 'Kcidic-gcfcb» betreffenb bte MomntanbitgcfcU--
fdmftcn auf Btfticu unb bie 'Mfticugcfcüfdtaftcn.
Sion §. St ep finer unb Dr. ®. ©im ön. Tritte Stuf-
tage. 1 Skf.
25. Tab Tcittfd)c Sieidiogcfcts megen ©rbcbuttg ber
Üranftciter uom 31. Skai 1872. Sion G. S3ertt)o.
1 Skf. 60 Bf.
26. Tic SHetdjbgcfcfegcbung über 'Mlüup unb Söanl=
tuefett, Jktpiergeib. '4>rämicmntpicrc ttttb 9}cid)b=
attlctbcn. Sion Dr. 91. Mod), glueite Sluflage. 2 Skf. 40 Bf-
27. Tie ©cfcügcbit ug. betr. bac- ©cfuubi-bcilc-iucfcit
im Tcutfdjcu Meid). SSou Dr. jur. G. ©oefd) unb
Dr. med. 3. Starften. 1 Skf. 60 Bf.
28. Wcfcß, betreffenb bie Uufallucrftdicrung ber bei
Stauten befdiciftigteu '4>eifotten. Siout .Sufi 1887.
Sion Sco Skugban. 1 SJif. 25 Bf.
29. Wefcfe, betreffenb bie ('riucrbb= unb SBirth=
fcbaftbgcu offen fdiaf ten. Siom 1. Skat 1889. S'oit
B. Bartfiub. Bicvte Sluflage. 1 Skf. 25 Bi-
30. ©efeb> betreffenb bie Snualibitätb= ttttb 2lltcrb=
uerfidteruug. Bom 22. 3U"> 1989. S-oti G. uon
SBocbtfe. Stierte Sluflage. ^ Skf.
31. Sieidic-geiet? , betreffenb bie © e l u c v b e g e ri d) t e .
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1 Skf. 25 Bf.
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2. Sleamten=©efet5gebung, tprcufsifbbe. Gutpalteub
bie luidjtigfteu Bcamtengefefee in BrellBen. Skit furjeu '
Slumcvtuugen. einem djronologifd)en Bevjeid)nifi ber al)=
gebvucftcu' ©efefee ec. Bon G. Bfaffevott). 3llle’te
neubearbeitete Sluftage. 1 Skf. 50 Bf.
3. Tao JHcuRtfdje ©efefe, betr. bic 3mangbt)oU=
ftreefung in baö nnbitncglidie SSerntögcn uom
13. Sufi 1883 1111b allen Slcbengefcfccn. Bon Dr
3. Mvcd) unb Dr. O. gifd)er. 3,DC’k Sluflage.
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Tie '4>reupiid)eu ©efefee, betreffenb bao SJotariat
in beit SanbeSttjeiien beä gemeinen 9leihtä uub be-5
Banbredjtä. 31UE'le uevänberte Sluftage gerauSgegeben
uon 91. © i) b 0 tu unb St. §elltucg. 1 Skf. 60 'Bf.
Tas ©efeb oout 24. Btpril 1854 (betr. bie aufjer-
cfje(id)e ©djiuängerung) unb bie baneben geltenben Be*
ftimmungou beS 3111g. Baitbredjtä nebft ben ba3ii ergangenen
Bräiubifatcu, bet Bitteratuv ;c. Boit Dr.jur.§. ©<butjc.
75 Bf-
6. Tie 'Brcufjifdicti Blusführmtgogefebe unb 2Jer=
orbunngen tu ben S i c i d) c- i 1 1 f 113 g c f e ü e tt . Bon
91. ©tjbolu. 3lueitc Sluftage. 2 Skf.
7. Bltlgcmeinc ©erid)teorbnnng für bie 'kreufü-
fd)cn ©taaictt uom (». Quli 1793 unb t^renftifdie
.Uottfuröorbnung uout 8. SJlai 1855. Bon
gr. Bier^auS. 2"Skf. 50 Bf-
8. Tie 93ormuitbfd)aftfi=©rbuun t uom 5. 3uli 1875,
ttcbft beit baju crlaffcncn SlebcngcfeBen unb Stllge-
meiucu Berfiigüugeu. Bon 9)1 ar © d) nllje nftci 11.
1 Skf. 20 Bf- '
9. Tic J'reufetfdte ©ntnbbudigcfeügebuug. Bon
Brof. Dr. D. gif cf) er. 1 Skf. 20 Bf.
10. ©infommenftcuergeicfe für bie JU'cufstfdie 9)1 0=
uard)ie. Sion ©el). 91a tl) 91. SDlcitjen. 3'ueite 9lui =
läge. 1 Skf.
11. ©cmerbcftcnergcfett für bie if>rcuj?ifd)c 9)1 a=
uardiic. S'on gfegterungSvatl) SC. g-ernom. 80 'Bf-
Verantwortlich für clen Anzeigentheil : Dr. Otto Eysler in Berlin. — Druck von II. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 15. Februar 1892.
Nummer 7.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber : Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin .SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Coloneizeile 40 Pfennig.
INHALT.
Zur Heimstättenfrage. Von
Dr. Carl Grünberg.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirthschaftsstatistik :
I )ie russische Wirthschaftspolitik
und die Hungersnoth.
Zu den agrarischen Zuständen in
Mexiko.
Arbeiterzustände :
Ruhezeiten für das Betriebspersonal
der preussischen Staatsbahnen.
Der Nothstand in der ostschweize-,
rischen Stickerei.
klagen über die Lehrlingszüchterei. :
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Zum Programm des deutschen
Gewerkschaftskongresses. Von
Martin Segitz.
< )rganisation der Eisenbahnarbeiter.
Kongress der französischen Arbeits-
börsen.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Frankfurter Ortsstatut über die
Sonntagsruhe im Handelsge-
werbe.
Sonntagsruhe im Berliner Handels-
gewerbe.
Arbeiterschutz in Drahtziehereien.
Zum deutschen Koalitionsrecht.
Rintragungen in Arbeitsbücher
nach deutschem ( jewerberecht.
Schutz Vorschriften für Arbeiter in
Briquettefabriken
Gewerbeinspektion :
Gewerbeinspektion in Holland.
Arbeiterversicherung:
Die Fürsorge für erkrankte Dienst-
boten. Von J. Silbermann.
Zur Reform der deutschen Arbeiter-
versicherungsgesetze.
Der Begriff Unternehmergewinn in
der Auffassung des Reichsver-
sicherungsamtes.
Die Altersversicherung in England.
Gewerbegerichte , Einigungs-
ämter u. Arbeiterausseniisse:
Arbeiterausschüsse bei den preussi-
schen Staatsbahnen. Von Dr.
Max Quarck.
Die Bediensteten der Pariser
Omnibusgesellschaft und das
Handelsgericht als Schiedsge-
richt.
Geschäftsthätigkeit des Stuttgarter
Gewerbegerichts.
Wohnungsfrage :
Regelung des Kost- und Quartier-
gängerwesens im Regierungsbe-
zirk Münster.
Litteratur :
Swjatlowsky, W., Die Fabrik-
hygiene. (E. Scholkow.)
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Zur Heimstättenfrage.
Soll der Gläubiger sein Recht gegen den Schuldner
verfolgen dürfen, ohne Rücksicht darauf, ob durch die
Zwangsvollstreckung der wirthschaftliche Ruin des Letzteren
herbeigeführt, sein und seiner Familie Existenz zerstört
wird? Und innerhalb welcher Grenzen soll dem Gläubiger
die zwangsweise Durchsetzung seiner F orderungsrechte zu-
gestanden werden?
Sieht man von dem strengen Schuldrecht der ältesten
Zeiten ab, welches auch die Person des zahlungsunfähigen
Schuldners selbst dem Gläubiger auslieferte, so ist die erste
Frage in einer zivilisirten Gemeinschaft niemals unbedingt
bejaht worden. Die Antwort auf die zweite Frage ist zu
verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern ver-
schieden ausgefallen.1) Schon in sehr früher Zeit begegnen
x) Vgl. die sehr instruktiven Ausführungen hierüber von R.
Schneider: „Das sogenannte Heimstättenrecht“ in Schmollers
Jahrbuch, 1892. I. S. 43 ff.
wir Exekutionsbeschränkungen in dem Sinne, dass ein ali-
quoter Theil des Vermögens überhaupt oder gewisse Ver-
mögensstücke für unpfändbar erklärt und dem Zugriff der
Gläubiger entzogen werden. Die Tendenz dieser Exe-
kutionsexemptionen kann zweifach sein. Es soll entweder
durch dieselben dem Schuldner seine Erhaltung, die Mög-
lichkeit, sein Dasein weiter zu fristen, innerhalb gewisser
enggezogener Grenzen gesichert bleiben. Oder es soll seine
Arbeitsthätigkeit geschützt und ihm durch Belassung der
Arbeitsinstrumente die Möglichkeit offen bleiben, sich durch
Arbeit wieder hinaufzubringen. Also, Erhaltung des Indi-
viduums einerseits, Wahrung seiner Produktivität anderer-
seits, das sind die zwei verschiedenen Auffassungen, die
den Beschränkungen der Zwangsvollstreckung zu Grunde
liegen.
Die zweite der eben angedeuteten Auffassungen tritt
■in den älteren Rechtssystemen gar nicht oder kaum hervor.
Erst der neueren Zeit kommt es immer mehr zum Bewusst-
1
sein, dass die Gesellschaft das Recht und die Pflicht habe,
den zahlungsunfähigen Schuldner davor zu schützen, dass
er aller Mittel zur weiteren Arbeitsthätigkeit beraubt werde.
Es liegt darin auch ein Akt präventiven Schutzes gegen
ein übermässiges Anwachsen der öffentlichen Armen-
lasten.
In immer bewussterer Weise macht sich diese Tendenz
in den modernen Kodifikationen seit dem Ende des vorigen
Jahrhunderts bemerkbar. So in Preussen schon in der All-
gemeinen Gerichtsordnung und in der Verordnung vom
13. Oktober 1843. So in Oesterreich in grundsätzlich noch
accentuirterer Weise in der allgemeinen Gerichtsordnung
von 1781. Die betreffenden Bestimmungen haben im
Deutschen Reiche eine Weiterbildung erfahren in der Auf-
hebung der Schuldhaft, im Verbot der Beschlagnahme des
Arbeitslohnes, in § 715 der Givilprozessordnung, in §20 des
Postgesetzes vom 28. Oktober 1871 und durch das Reichs-
gesetz vom 3. Mai 1886 (betreffend die Unpfändbarkeit des
Inventars der Posthaltereien resp. der Fahrbetriebsmittel
öffentlicher Eisenbahnen). In der gleichen Richtung be-
wegen sich in Oesterreich neben einer ganzen Reihe von
Spezialgesetzen insbesondere das Gesetz vom 29. April
1873 (betreffend die Sicherstellung und Exekution auf die
Bezüge aus dem Arbeits- und Dienstverhältnisse), das Gesetz
vom 21. April 1882 (betreffend die Exekution auf Bezüge
der in öffentlichen Diensten stehenden Personen und ihrer
Hinterbliebenen) , endlich die Exekutionsnovelle vom
10. Juni 1887.
Es ist klar, dass das Prinzip, welches allen diesen Ge-
setzen zu Grunde liegt, in seinem Wesen sich dadurch nicht
verändert, dass es eine intensivere Anwendung und der Um-
88
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
fang der Schutzbestimmungen zu Gunsten des zahlungsun-
fähigen Schuldners eine Erweiterung erfährt. Man wird
deshalb auch da, wo dies der Fall ist, nicht von einem neuen
gesetzgeberischen Gedanken sprechen dürfen.
Die von den kontinentalen Gesetzgebungen für
exekutionsfrei erklärten Vermögensgegenstände gehören,
von den fideikommissgesetzlichen Sonderbestimmungen
wird abgesehen — der fahrenden Habe an. Das unbewegliche
Vermögen ist bisher in den Kreis der Exekutionsexem-
tionen nicht einbezogen worden. Die ackerbautreibende
Bevölkerung geniesst demnach keinen nachhaltigeren Schutz
als die anderen Bevölkerungsklassen. Und wenn ihr auch,
im Falle der Exekution, ein Theil der fahrenden Habe be-
lassen wird, so wird ihr doch Haus und Hof genommen. In
der Möglichkeit, dass dies in grösserem Masse geschehe,
und der Bauernstand auf diese Weise ganz oder teilweise
vernichtet werde, ist eine Gefahr für die herrschende
Gesellschafts- und Rechtsordnung zu erblicken, zu deren
sichersten und verlässlichsten Stützen der bisher stets
konservative Bauernstand gezählt zu werden pflegt.
Die eben angedeutete Gefahr aber, wird von vielen
Seiten behauptet, ist nicht mehr eine blosse Möglichkeit. Sie
ist bereits wirklich vorhanden, und es ist die höchste Zeit, nicht
mehr nur ihr vorzubeugen, sondern ihr entgegenzutreten und
sie zu beschwören. Auf Grund der aus allen Theilen Deutsch-
lands und Oesterreichs vorliegenden Enqueteberichte und
statistischen Ausweise wird ein starker und stetiger Rück-
gang des Mittel- und Kleinbesitzes behauptet. Derselbe
zeige sich in der steigenden Verschuldung, in der Zunahme
der Zwangsversteigerungen, in der fortschreitenden Zer-
splitterung von Grund und Boden, in der Aufsaugung zahl-
reicher Parzellen des mittleren und kleinen durch den
Grossgrundbesitz. Angesichts dieser — allerdings vielfach
unbewiesenen — Thatsachen wird der Ruf nach Schutz für
den Bauernstand und Erhaltung dieses Dammes der be-
stehenden Gesellschaftsordnung gegen die Wogen der
Sozialdemokratie immer lauter.
Dieser Schutz müsste, — soll er die erhoffte Wirkung
haben — , nach allen den Richtungen gewährt werden, in
denen der behauptete Rückgang des Bauernstandes seinen
Ausdruck findet: gegen die Zwangsversteigerung, gegen
die Bodenzersplitterung, gegen die freie Dispositionsbefugniss
der Besitzer und ihre Verschuldungsfähigkeit. Und in diesen
Beziehungen wird auch thatsächlich Schutz gefordert.
An diese auf Schaffung eines agrarischen Sonder-
rechtes gerichtete Bewegung knüpft die andere an, welche
das Problem in der sogen. Heimstättengesetzgebung der
Vereinigten Staaten von Amerikas bereits gelöst findet und
daher deren Reception verlangt.
Sieht man von allen Details ab, so lässt sich das
Wesen der nordamerikanischen Heimstättengesetze auf
folgende einfache Sätze zurückführen. Das Gut, welches
die Heimstätte bildet Umfang und Art derselben be-
stimmen sich in den einzelnen Staaten und Territorien ver-
schieden — ist dem Zugriff zwar nicht aller, aber doch
wenigstens der Nichthypothekargläubiger entzogen. Eine
Verfügung über die Heimstätte — mag dieselbe mit oder
ohne Zuthun der Ehefrau entstanden sein — ist nur mit
Zustimmung der letzteren möglich. Die Unangreifbarkeit
der Heimstätte tritt nur Hei Rückenbesitz ein. Aber auch
dann ist sie nicht absolut, sondern in manchen Fällen aus-
geschlossen', deren Eintreten — wie bei hypotheka-
rischer Belastung — durch den Willen des Heim-
stättners (und seiner Ehefrau) bedingt oder von dem-
selben unabhängig ist, bei Steuerrückständen, bei Schulden
zur Einrichtung und Melioration der Heimstätte u. a. Das
Heimstättenrecht ist kein agrarisches Sonderrecht, sondern
erstreckt sich wie auf ländlichen so auch auf städtischen
No. 7.
Grundbesitz. Neben der Heimstätte ist auch ein gewisser
Theil der fahrenden Habe eximirt.
Vergleicht man diese prinzipiellen Bestimmungen mit
dem, was oben über unsere kontinentalen Exekutions-
exemptionen gesagt wurde, so zeigt sich, dass ihre Natur
und Tendenz dieselben sind. Der Grund und Boden wird
in der nordamerikanischen Gesetzgebung ebenfalls im Inter-
esse der Wahrung der Produktivität des Exekuten, unter
dem Gesichtspunkt als Arbeitsinstrument, der Zwangsvoll-
streckung entzogen. Darin liegt also nichts Besonderes.
Dazu tritt freilich noch das Bestreben, die Familie und in
erster Linie die Ehefrau vor leichtsinniger Vermögens-
gebahrung des Familienoberhauptes zu schützen. Und das
ist allerdings um so nothwendiger, als nach dem ehelichen
Güterrecht des alten englischen common law die Frau
ausserordentlich schlecht gestellt ist.
Ueber die gedeihliche Wirkung des nordamerikanischen
Heimstättenrechts wusste Rudolf Meyer (Heimstätten und
andere Wirthschaftsgesetze) Wunderdinge zu erzählen. Aber
Sering’s nüchterne Darstellung (in seinem Werk: Die land-
wirthschaftliche Konkurrenz Nordamerika^ in Gegenwart und
Zukunft) hat diese Phantasiebilder auf ihren wahren Gehalt
zurückgeführt: Die Heimstättengesetze hindern nicht die
Verschuldung und Bewucherung der Farmer. Sie hindern
nicht den Landhandel. Sie schränken den Personalkredit
ein und fördern in gleichem Masse den Hypothekarkredit
und vernichten so selbst die beabsichtigte Wirkung.
Wie es aber mit Schlagworten zu gehen pflegt, deren
thatsächlicher Hintergrund unbekannt ist oder missverstanden '
wird, so wurde die Heimstättengesetzgebung sehr überschätzt,
und natürlich wurde auch sofort der Ruf nach ihrer '
Rezeption laut. Ein — erfolgloser — Versuch dazu ist m. ,
W. zuerst im Kanton Luzern gemacht worden (vgl. hier- •
über meinen Aufsatz im Archiv für soziale Gesetzgebung
und Statistik, 1891, S. 377 ff). Auch dem ungarischen
Reichstag lag ein Heimstättengesetzentwurf vor. Und im
deutschen Reichstage hat am 3. Januar d. J. die erste Lesung j
eines solchen .stattgefunden, der einem Initiativanträge der '
Herren Graf von Dönhoff-Friedrichstein und Genossen ent- !
Sprüngen ist.
Dieser Entwurf verfolgt jedoch, wie schon in § 1 ’)
zum Ausdruck kommt, und wie namentlich in der von den f
Antragstellern entfalteten Agitation zu Gunsten desselben
häufig betont worden ist, nicht blos den Zweck, die bereits
ansässige Landbevölkerung in Haus und Hof sesshaft zu
erhalten. Er soll auch die Sesshaftmachung des landlosen
Proletariats, namentlich aber von Arbeitern ermöglichen.
Sein Zweck ist nicht nur die Defensive gegen die Sozial-
demokratie, dieser soll auch durch die Schaffung kleiner
Grundbesitzer, die neben der Landwirthschaft in der
Industrie thätig sind, der Boden abgegraben werden. Da-
neben würde noch die Auswanderung, der masslose Zuzug
der Landbevölkerung in die Städte und die Entvölkerung
des platten Landes von — billigen — Arbeitskräften ver-
hindert werden.
Wie dieses zweite Ziel: die Ansässigmachuno; land-
loser Proletarier erreicht werden soll, ist unter den gege-
benen Verhältnissen nicht klar. Denn es fehlt zunächst an
verfügbaren freien Gründen, wenn man nicht an einen
Verkauf der Staatsdomänen, wie er zur Zeit in Rumänien
stattfindet, oder richtiger nach dem Gesetze von 1889 statt-
finden sollte, oder an eine Zwangsexpropriation der Gross-
grundbesitzer denken will. Und woher sollte denn auch
der landlose Proletarier die Mittel hernehmen, um sich eine
') „Jeder AngehörigeTdes Deutschen Reiches hat nach voll-
endetem 24. Lebensjahr das Recht zur Errichtung einer Heim-
stätte.“
No. 7.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
89
Heimstätte zu schaffen. Das jedem 24jährigen Deutschen
im Entwurf eingeräumte Recht auf Erwerbung einer solchen
hat also an sich keinen realeren Inhalt, als die Rechtsfähig-
keit überhaupt und bedeutet daher auch nur: Wer das Geld
dazu hat, kann sich einen Grund kaufen, sofern ein solcher
verkäuflich ist. Und wer ein Eigenthümer eines Grund-
stückes ist, kann dieses zur Heimstätte erklären. (S. auch
die Rede des Abgeordneten Dr. v. Bar, Sten. Ber. ü. d. Verhdl.
d. Reichstages vom 3. Februar, S. 3973.)
Es kann also m. E. ernsthaft nur das erste Ziel des
Entwurfs und der Heimstättenagitation diskutirt werden:
die Sesshafterhaltung des mittleren und kleineren Grund-
besitzes. Der Weg aber, auf dem diesem Ziele vom Ent-
würfe zugestrebt wird, ist ein wesentlich anderer als jener,
den die nordamerikanischen Gesetzgeber gewandelt sind.
Es handelt sich thatsächlich um Schaffung bäuerlicher Fidei-
kommisse mit Einschränkung der Verschuldungsfähigkeit
ihrer Besitzer und Anerbenrecht.
Es ist hier nicht der Ort, alle die zahllosen strittigen
Fragen und ernsthaften Bedenken , die sich hierbei der
Erwägung aufdrängen, zu besprechen. Ich verweise in
dieser Beziehung auf die höchst instruktiven zusammen-
fassenden Ausführungen und Literaturangaben des Land-
richters R. Schneider (a. a. O.) und die Debatten im deutschen
Landwirthschaftsrath vom Februar 1891 und im deutschen
Reichstag vom 3. Januar d. J. Da aber das zu schaffende Heim-
stättengesetz ein soziales Kampfgesetz sein und die Mittel
zur Abwehr des Umsichgreifens destruktiver sozialistischer
Grundsätze gewähren soll, so muss nachdrücklich auf die
soziale Gefahr der Schaffung einer kleinen und mittleren
Grundbesitzaristokratie, „die aus Interesse für eine Sache,
die Personen um ihr gerechtes Erbtheil betrügt“, hinge-
wiesen werden. So können vielleicht spannfähige Höfe er-
halten, aber weder die Proletarisirung der grossen Ma-
jorität der Landbevölkerung, noch ihr Zuzug in die Städte,
noch der Mangel billiger Arbeitskräfte , an denen der
agrarische Grossbetrieb doch das grösste Interesse hat, auf
dem platten Lande verhindert werden.
Dazu kommt noch der blos fakultative Charakter des
ganzen Entwurfes, der eine nachhaltige Wirkung des Ge-
setzes von vornherein gradezu ausschliesst, oder, nach den
Erfahrungen, die man mit dem preussischen Landgüter-
rollengesetz gemacht hat, wenigstens sehr unwahrschein-
lich macht.
Sieht man aber auch von einer Prüfung der wirth-
schaftlichen Brauchbarkeit agrarischer Sondergesetze über-
haupt und des dem deutschen Reichstage z. Z. vorliegenden
Entwurfes insbesondere ab, so lässt der letztere doch, wie ich
schon an anderer Stelle näher dargelegt habe (vgl. Archiv
für soziale Gesetzgebung und Statistik, 1891. S. 369 ff.)
und wie auch vom Landrichter Schneider nachdrücklich
betont wird, alles vermissen, was man an juristischer Ge-
nauigkeit und Durchbildung gesetzlicher Bestimmungen
verlangen muss. Die einfachsten Fragen bleiben un-
beantwortet. Und was jedem Rechtskundigen als erste
nicht zu übersehende Voraussetzung erscheint, wird der
Landesgesetzgebung überwiesen. So fehlt jede Bestimmung,
ob für die Heimstättenqualität Rückenbesitz erforderlich
sein soll und jede Andeutung über das Verfahren zur Er-
richtung einer Heimstätte; über die Art und Dauer der
„von den Heimstättenbehörden zu vollziehenden Zwangs-
verwaltung“; über den zeitlichen Umfang der Heimstätten-
qualität; über die Wirkung der behördlichen Erklärung
eines Gutes als Heimstätte, oder des Verkaufs einer solchen.
Die Präzisirung der den „kleinsten Heimstätten“ einge-
räumten Steuerfreiheit, die Regelung des Niessbrauchs-
rechts der Wittwe an der Heimstätte, die Errichtung von
j Heimstättenbehörden und der Heimstättenrentenbanken,
ist ebenso wie die Ordnung des Heimstättenerbrechts der
Landesgesetzgebung überlassen. Der Entwurf ist also wie
man sieht, so recht ein Messer ohne Stiel, an dem die
Klinge fehlt.
Trotzdem haben die Vertreter aller Parteien — mit
Ausnahme der Sozialdemokraten — bei der am 3. Februar im
Reichstage stattgefundenen ersten Lesung des Entwurfs
erklärt, „dass sie dem Gedanken und den Absichten (des-
selben) sympathisch gegenüberstehen,“ worauf derselbe
einer Kommission von 21 Mitgliedern überwiesen wurde.
Wenn der Entwurf Gesetz werden soll, wird er jeden-
falls nicht blos verbessert, sondern vollständig umgear-
beitet werden müssen. Dieses Urtheil steht wohl auf allen
Seiten fest. Auch der deutsche Landwirthschaftsrath hat
bekanntlich im Februar 1891 zwar die Idee der Erlassung
eines fakultativen Heimstättenrechtes mit Verschuldungs-
beschränkung und Schutz gegen Zwangsvollstreckung als
„einen Akt praktischer Sozialpolitik“ begrüsst, jedoch
gleichzeitig jede Stellungnahme zum Entwürfe des Grafen
von Dönhoff- Friedrichstein und Genossen für „unthunlich“
erklärt.
Weiter sprach sich der deutsche Landwirthschaftsrath
— in Uebereinstimmung mit den Anträgen des Landrichters
K. Schneider — für die Aufnahme des sog. Deckungssystems
(im Gegensätze zum Verkaufssysteme) aus und in Fortbildung
§ 715 L. P. O. für Exemption eines Besitzminimums „das
neben den nöthigen Wohn- und Wirthschaftsräumen eine
im Verhältniss zum Gesammtbesitz zu bemessende Fläche
Land zu umfassen hätte;“ endlich für Nachbildung der Be-
stimmung der österreichischen Exekutionsnovelle vom 10.
Juni 1887 in Betreff der Möglichkeit, das Zwangsverstei-
gerungsverfahren bei ländlichen Grundstücken zu sistiren,
wenn ein bestimmter Theil des Schätzungswerthes nicht
erreicht wird.
Fassen wir die bisherigen Ausführungen zusammen,
so gelangen wir zum Schlüsse: die Gesetzgebung der
nächsten Zeit wird die in unseren kontinentalen Rechts-
systemen vorhandenen Keime der Exekutionsexemptionen
zum Zwecke der Wahrung der Arbeit und Produktivität
des zahlungsunfähigen Schuldners weiter zu entwickeln
und unter die dem Arbeiter zu erhaltenden Arbeitsmittel
auch Grund und Boden aufzunehmen haben. Wie jedoch
zu diesem Zwecke eine Rückkehr zu alten abgestorbenen
YY irthschaftsformen weder wünschenswerth noch möglich
ist, so bedarf es auch andererseits keiner Rezeption nord-
amerikanischer Rechtsinstitute.
Wien. Carl Grünberg.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Die russische Wirthschaftspolitik und die Hungersnoth.
Die furchtbare Hungersnoth in Russland, welche heute
in ganz Europa Interesse geweckt hat, hat Seitens der rus-
sischen Regierung eine Reihe Massregeln hervorgerufen ,
die in den letzten Monaten zu einem ganzen System heran-
gewachsen sind.
Die vorjährige Missernte hat sowohl die Winter-, wie
die Frühlingssaat getroffen, sie ist aber keineswegs allge-
mein, wenigstens ist sie dem Grad nach verschieden. Der
Rayon der eigentlichen Missernte umfasst zwei Kreise. Der
erste fängt im Nordwesten des Kaspischen Meeres an und
umfasst den Süden der Provinzen Samara und Saratow, die
ganze Provinz Astrachan und Orenburg und die Südost-
Ecke der Provinz Perm. In Sibirien reicht er bis in
einige Gegenden der Provinz Tobolsk. Es handelt sich
zum Theil um ein in gewöhnlichen Jahren kornreiches
90
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 7.
Land. Dasselbe darf noch entschiedener vom zweiten
Misserntebezirk behauptet werden. Dieser reicht vom Osten
der Provinzen Kursk, Orlow, Tula weiter nach Norden und
Westen, indem er die Provinzen Woronez, Kazan, Tambow,
Penza und Kasan umfasst und in einen Theil der Provinzen
Nizegorod, Simbiosk und Wiatka hineingreift. In vielen
anderen Provinzen war die Ernte unter dem Durchschnitt,
ohne eigentlich Missernte zu sein, und nur die Provinzen
Wolhynien, Podolien, Bessarabien und Kiew im Süden,
Nowgorod, Pskow, St. Petersburg von den mittleren und
nördlichen, und besonders der Nordkaukasus weisen eine
sehr gute Ernte auf. Letzteres Land bildet in diesem Jahre
die Kornkammer Russlands. Die ganze Ernte im euro-
päischen Russland (also ausgenommen Kaukasien und
Sibirien) wird geschätzt auf 236,7 Millionen Tschetwert (über
1350 Bushel) und ist um 15 Millionen Tschetwert niedriger
als im kornarmen fahre 1880.
Angesichts dieser ungewöhnlichen Noth muss die
Sorge der Regierung, von einer prinzipiellen Abhülte ab-
gesehen, sich in drei Richtungen bethätigen. Die un-
mittelbarste Hülfe muss der hungernden Bevölkerung ge-
bracht werden, nicht minder nöthig ist die Sorge für Saat-
korn, damit das nächste Jahr kein zweites Massenunglück
bringe, und zuletzt hat das Budget mit einem Defizit zu
rechnen, welches schwer zu beseitigen sein wird. Der vor
einigen Wochen im „Prawitelstwennyj Wiestnik“ publizirte
Staatsvoranschlag lässt gegenüber dem Jahre 1891 einen
Fehlbetrag von 53 Millionen, und im Vergleich mit 1890
sogar einen solchen von 89 voraussehen, ln erster Linie
erwartet man Steuerrückstände Seitens der Bauern, die auf
eine Summe von 24 Millionen Rubel geschätzt werden,
hierzu kommt eine um 17 Millionen geringere Einnahme
aus der Branntwein- und Biersteuer, und endlich folgen
eine ganze Reihe Ausfälle in den verschiedensten Rubriken.
Die Theurung und die herrschende Noth muss selbstver-
ständlich alle Bewegungen des Staatsorganismus lähmen
oder verlangsamen.
Bis zum 1. Januar betrug die Summe, welche Seitens
der Regierung für unmittelbare Hülfe und für Saaten aus-
gegeben worden war, 73 Millionen Rubel; davon wurden
beinahe I I Millionen für die Wintersaaten verbraucht.
Heute sind die Hülfssummen gewachsen und die ganze
Aktion ist in ein System gebracht. Die sogenannte Hunger-
lotterie wurde in Bewegung gesetzt, ihre erste Ziehung er-
folgt in einigen Tagen. Sie stellt eine Art Zwangsbelastung
dar, weil die Billete sehr wenig von Privaten gekauft, son-
dern auf höheren Befehl an die amtlichen Bureaux ver-
sendet wurden, um dort von den Beamten gekauft zu
werden. Bekanntlich darf der Beamte eine freiwillige Gabe
dieser Art nicht versagen. Nach der Verloosung der ersten
Lotterie, bei welcher die Gewinne bis auf 100 000 Rubel
steigen, ist eine zweite zu erwarten mit geringeren und
zahlreicheren Gewinnen. Bemerkenswert ist, dass die
Gaben von Privaten, welche in Geld und Produkten sehr
zahlreich in die Kirchen flössen, beinahe aufgehört haben,
seitdem die Regierung die Hülfsaktion in ihre Hände nahm.
In jedem Falle ist die Staatsaktion unentbehrlich gewesen
und besteht gegenwärtig in folgenden Massnahmen)
Die Tarife der Eisenbahnen mussten verbilligt werden.
Diese Verbilligung galt zuerst für die Frachten, welche
von den Zemstwos oder aus Häfen in die nothleidenden
Provinzen versendet wurden. Heute gilt die Preisermässi-
gung jeder Waare, die dorthin geht. Daneben war den
Eisenbahnverwaltungen aufgetragen, Getreide vor jeder
andern Waare zu verschicken, trotzdem ist diese Verord-
nung nicht eingehalten worden, grosse Massen Getreide
wurden aufgehäuft und die Bevölkerung litt in Folge der
verrotteten Verkehrszustände gesteigerte Noth.
Zur Verwaltung der Hifssummen ist in Petersburg ein
Zentralkomitee errichtet worden, und dieses steht mit ähn-
lichen Komitees in den Provinzen in Verbindung, welche
die Hilfsaktion in den einzelnen Dörfern, Städten und Weilern
zu leiten haben. Die oben erwähnte Lotterie ist eino-erichtet
worden, um dieser Verwaltung unter Anderem auch Geld-
mittel für ihre eigene Existenz zu liefern. Da die emittirten
Billete 6 Millionen einbringen sollen und die Summe der
Gewinne nur 1 200 000 beträgt, so werden die Komiteemit-
glieder reichlich versorgt werden können. Die Verwaltung
der Hilfsaktion hat auch sonst ihr individuelles Wohl nicht
vergessen. Die Geschichte der Mehleinkäufe in Petersburg
haben seiner Zeit die Tagesblätter gebracht, die Miss-
bräuche der einzelnen Gubernatore (Provinzverwalter) ver-
anlässten die Schaffung der Zentral- und Kreiskomitees.
Erwähnenswerth ist hier die Einrichtung von öffent-
lichen Arbeiten zu Gunsten der hungernden Bevölkerung.
Zu diesem Zwecke wurden 15 Millionen Rubel in Aussicht
genommen und der Bau von über 150 Kirchen und Schul-
gebäuden geplant. Der russische Winter ist jedoch zu
rauh, um dergleichen Arbeiten sogleich anfangen zu kön-
nen, im Sommer aber kehrt der Bauer zu seinen Feld-
arbeiten zurück und wenn er es nicht thut, entsteht eine
neue Hungersnoth. Man darf also nicht glauben, dass die
öffentlichen Arbeiten deswegen fehl schlagen, weil die Be-
völkerung der Arbeit überhaupt widerstrebt, wie dies bos-
hafter Weise von manchen Zeitungen verbreitet wurde.
Im Gegentheil. die glaubwürdigsten Berichte lauten dahin,
dass überall die Hülfe in Form von Arbeit am bereitwillig-
sten entgegengenommen wird, dass die erwachsene Bauern-
bevölkerung; sich sogar an manchen Orten sträubt, an
an unengeltlichen Mittagsmahlen Theil zu nehmen. Allein
die Staatsmaschine ist überhaupt wenig bewegungsfähig,
und deshalb schlagen auch die besten Massregeln meistens
fehl oder bewirken nur einen Theil des von ihnen erwar-
teten Guten. Die heutige Regierungspolitik will die Hilfs-
aktion ununterbrochen bis zum 1. (13.) Juli d. J. fort-
führen. Nach den Berechnungen des Departements des
Innern, die man allerdings als minimale zu betrachten hat,
sind jeden Monat 10 Millionen Pud (8 Pud 40 Pfd.) nöthig.
Dabei sind noch 88 Millionen für die Frühlingssaat zu ver-
anschlagen. Da 27 Millionen in den nothleidenden 17 Pro-
vinzen als Vorrath vorhanden sein sollen, unterwegs 15
sind, hat die Regierung noch für die übigen 58 Millionen
zu sorgen. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Zahl
der Nothleidenden von Monat zu Monat wächst, da die
eigenen Vorräthe der Bevölkerung sich allmählich er-
schöpfen.
Zu den agrarischen Zuständen in Mexiko.
Heber die agrarischen Zustände in Mexiko (vergl. ,
Soz. Centralblatt No. 3, S. 36) kann ich, gestützt auf per- j ,
sönliche Beobachtungen, folgende Mittheilungen machen.
Ein Hauptübelstand ist das Ueberwiegen eines ausser-
gewÖhnlich starken Grossgrundbesitzes. Von den zehn •
Millionen Einwohnern des Landes sind kaum 20 000 Grund- i
besitzer! Das ganze Gebiet besteht aus ausgedehnten <
Landgütern (haciendas^oder ranchos), von denen mehrere j
tausende von Quadratmeilen umfassen. Die mexikanische <
Nationalbahn durchschneidet eine solche hacienda in einer j
Länge von mehr als 100 englischen Meilen; diese hat eine ,
Fläche von 13 000 englischen Quadratmeilen! Sie enthält
Städte und Dörfer mit zahlreicher Bevölkerung. Der Eigen-
thümer lebt in Paris. Die haciendas und ranchos sind zu-
gleich auch politische Distrikte, die dem Eigenthümer eine
förmliche feudale Macht verleihen. j
So lange Grund und Boden dem \ olk nicht zugänglich
gemacht wird, kann von einem wirthschaftlichen und
sozialen Fortschritt nicht die Rede sein. Wie dies geschehen
soll, ist freilich noch ein ungelöstes Problem. Vielleicht
kommen die Grundbesitzer selbst zur Einsicht, dass sie
durch Theilung ihrer grossen Ländereien ihr eigenes
Interesse so gut wie dasjenige Anderer fördern würden.
Wenn jede hacienda (in Mexiko in zwei Hälften geteilt
und die eine Hälfte in kleineren Parzellen den arbeits-
tüchtigen Peonen unentgeltlich abgetreten würde, so
würde sich der Schenkende selbst bereichern. Die Hart-
näckigkeit, mit welcher die Besitzenden an jeden Zoll des
den Eingeborenen mit dem Schwert entrissenen Landes
sich anklammern, findet ihr Gegenstück in der \ erblendung
der armen geplagten Peonen, welche nicht selten durch
Zerstörung der landwirtschaftlichen Maschinen ihr trauriges
Loos zu verbessern hoffen.
Die ungleiche Verteilung des Bodens rührt von den
Spaniern her, welche das eroberte Gebiet wenig skrupulös
an einzelne bevorzugte Günstlinge verschenkten. Dieses
System hat die heute noch schlechte Bebauung des Landes
veranlasst. Indianer und Mischlinge, welche fast 9/,n der
Bevölkerung bilden, leben ungemein anspruchslos; die ge-
ringen Löhne sind nicht geeignet, den Konsum zu heben,
No. 7.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBT ATT.
91
die Nachfrage deckt sich bei weitem nicht mit der Pro-
duktion des jungfräulichen, fruchtbaren Bodens und in Folge
dessen werden Feldbau und Viehzucht sehr nachlässig be-
trieben. Dazu kommt eine enorme Verschuldung des
Bodens. Die Peonen ihrerseits werden dem Herrn bald
tief verschuldet und stehen zu demselben in lästigeren
Verhältnissen , wie Sklaven. Die zahlreichen Aufseher
(mayordomos) behandeln sie äusserst roh und brutal und
suchen ihre Arbeitskräfte so viel als möglich auszubeuten.
Zur Zeit der spanischen Herrschaft bezeichnete man diese
Aufseher als die „vierte Plage“, und mehrmals wurde gegen
sie vor dem königlichen Hof in Madrid Klage geführt. Die
Schilderung, welche Motolinia in seiner Geschichte der
Indianer von Neuspanien von ihnen entwirft, trifft heute
noch zu. Er nennt sie Drohnen, welche den von den
Bienen gesammelten Honig essen.
Aarau. E. Naef.
Arbeiterzustände.
Ruhezeiten für (las Betriebspersonal der preussichen
Staatsbahnen. Eine wunderlich schablonenhafte Nach-
weisung über die dienstfreien Zeiten dieses Personals ist
dem preussischen Abgeordnetenhaus seitens des Eisenbahn-
ministers in Folge einer vorjährigen Anregung des Abgeord-
neten Richter zugegangen. Ein Sozialstatistiker ist bei der
Abfassung jedenfalls nicht zu Rathe gezogen worden. Die
Nachweisung bezieht sich auf ein Personal von 88577 Köpfen.
Davon haben im ganzen Monat
keinen halben Ruhetag . . .
538
Personen,
einen halben ,, ...
855
einen ganzen ,, ...
9 094
ein und einen halben Ruhetag
5 532
zwei Ruhetage
26 430
über zwei Ruhetage ....
46 028
Nach der verschiedenen Stellung und Beschäftigung des
Betriebspersonals stellt sich jedoch im Einzelnen die Ruhe-
zeit ganz verschieden. So gemessen
von
Bahn-
wärtern
von
Weichen-
stellern
von
Stations-
beamten
von
Tele-
graphisten
keinen halben Ruhetag . . .
97
45
285
84
einen halben „ ....
170
158
312
67
einen ganzen „ ...
3 239
2 325
I 836
397
ein und einen halben Ruhetag
1 833
1 220
873
203
zwei Ruhetage
10 624
7 530
3 292
642
über zwei Ruhetage
4 348
4 805
2721
1 062
20 311
16 083
9 319
2 455
von
Wagen -
meistern
von
Rangir-
meistern
vom
Zugbe-
gleitungs-
personal
von
Loko-
motiv-
beamten
keinen halben Ruhetag . . .
32
41
32
i
einen halben „ ...
11
41
9
87
einen ganzen „ ...
271
247
487
292
ein und einen halben Ruhetag
106
114
873
310
zwei Ruhetage
461
574
2714
595
über zwei Ruhetage
434
795
17 552
14 347
1 315
1 812
21 867
15 532
Diese Statistik giebt über die thatsächliche Vertheilung der
Puhezeit aut den Monat noch immer keinen Anhalt; denn
die ganzen Ruhetage werden den Beamten sehr oft in ge-
trennten Portionen von halben Ruhetagen zugemessen.
Unseres Wissens kommt hier eine ähnliche Berechnung
der Dienst- und freien Stunden in Anrechnung wie bei den
Postbeamten. Es werden nämlich die in einer Woche zu
leistenden Stunden zusammengezählt und mit sieben ge-
theilt, wobei eine bestimmte Stundenzahl herauskommen
muss. Was der Beamte an einem Tage weniger leistet,
muss er an anderen Tagen wieder einholen. Bei dieser
Sachlage kann ein zutreffendes statistisches Bild der arbeits-
freien Zeit nur im Zusammenhang mit einer Statistik
der Arbeitszeit der Beamten gegeben, und in diesem
Bilde muss die Inanspruchnahme für jede einzelne Woche
des Monats klargestellt werden. Ferner muss die Statistik
erschöpfender sein. Die vorliegende giebt die Minimal-
grenze, bis zu welcher die Ruhezeit einzelner Beamten
sinkt (unter sechs Stunden), und die Maximalgrenze, bis zu
welcher sie steigt (über zwei Tage) nicht genauer an, lässt
also an Vollständigkeit sehr zu wünschen übrig. Freilich
lässt sie auch in der vorliegenden, unvollkommenen Form
einigermassen ahnen, welche Ausnutzung der Betriebs-
beamten bei den preussischen Staatsbahnen stattfindet.
Ueber 500 Beamte geniessen im ganzen Monat nicht einmal
6 Stunden Ruhezeit ausser der gewöhnlichen Ruhezeit
zwischen zwei Arbeitstagen! Man fragt sich vergeblich,
wie so etwas bei einem Staatsunternehmen geduldet werden
kann. Ausserdem bringen es noch ca. 1 6 000 Personen nur
zu Ruhepausen von einem halben bis zu B/jTagen im Mo-
nate! Und selbst die grössere Summe von 26 430 Beamten,
die nun folgt, hat nur zwei volle Ruhetage im Monat, also
noch immer eine sehr magere Erholung. Bei dem Rest von
46 028 Beamten mit mehr als zwei Ruhetagen müsste erst
festgestellt sein, wie sich diese „zwei und mehr“ Ruhe-
tage auf jede Woche vertheilen, ehe die Beschäftigung
auch dieser zahlreichsten Beamtenklasse als eine normale
bezeichnet werden könnte. Bekanntlich soll der Monat
eigentlich vier Ruhetage haben. Betrachtet man, alle wei-
teren Feststellungen Vorbehalten, noch die Vertheilung der
Ruhezeit bei den einzelnen Beamtenklassen nach unserer
zweiten Uebersicht, so bemerkt man eine entfernt befrie-
digende Zutbeilung von dienstfreier Zeit eigentlich nur
bei den Lokomotivbeamten, wo auf 1 5 532 insgesammt
wenigstens ca. 15 000 zwei volle Ruhetage und darüber
haben. Annähernd ebenso sind die Zugbegleitungsbeamten
und Telegraphisten mit Ruhezeit bedacht. Desto schlim-
mer zeigen sich die Dienstverhältnisse der Bahnmeister,
Weichensteller, Stationsbeamten, Wagen- und Rangir-
meister, wo die Mehrheit der Personen es höchstens zu
zwei Ruhetagen im Monat bringt. Am auffälligsten ist der
hohe Prozentsatz von Stationsbeamten, die nicht einmal
6 dienstfreie Stunden im Monat (immer die gewöhnliche
Ruhezeit von 12 Stunden zwischen Beendigung und Wieder-
beginn der Dienstzeit abgerechnet) haben, 285 auf 9319.
Selbstverständlich fällt beinahe die Hälfte aller Dienst-
befreiungen nicht auf Sonntage. Die preussische Staats-
bahnverwaltung muss wohl selbst eine Scham über diese
Zustände empfunden haben, denn sie macht folgende Be-
merkung: „Die verschiedenartige Bemessung der Zahl der
Ruhetage ist theils durch die Verschiedenartigkeit der
dienstlichen Inanspruchnahme des Personals auf den ein-
zelnen Strecken und Stationen, theils dadurch zu erklären,
dass die für die Staatseisenbahnverwaltung bestehenden
allgemeinen Grundsätze auf den vom Staate erworbenen
Privateisenbahnen noch nicht vollständig zur Durchführung
gelangt sind. Das letztere wird wegen der damit verbun-
denen erheblichen Kosten erst nach und nach geschehen.
Die für die Staatseisenbahn Verwaltung erlassenen Vor-
schriften werden übrigens zur Zeit einer Umarbeitung
unterzogen.“ Diese „Umarbeitung“ ist allerdings hoch an
der Zeit. Die Unhaltbarkeit dieser Zustände und die viel-
sagende Mangelhaftigkeit der amtlichen Nachweisung über
dieselben müsste im Abgeordnetenhaus einer sehr scharfen
Kritik unterzogen werden.
Der Nothstaiul in der ostschweizerischen Stickerei. Be-
kanntlich sind vor Kurzem die Vorarlberger Sticker aus dem
segensreich wirkenden ostschweizerischen Stickereiverbande
ausgetreten und haben einen rücksichtslosen Konkurrenzkampi
gegen die ostschweizerische Stickereiindustrie begonnen. Hier-
mit war das Schicksal der Abmachungen zwischen Verlegern
und Hausindustriellen auch in der Ostschweiz entschieden. Man
begann nun auch auf schweizerischem Gebiete alle Anstrengungen
zu machen, die vorarlbergische Industrie zu schädigen und zwar
durch Unterbietung der Preise, Abschaffung der Produktionsein-
schränkungen, Erhöhung der Arbeitszeit und Aufhebung der
Minimallöhne. Wenige Tage erst sind seit dem Falle des Mini-
mallohnes vorüber und schon haben wir grauenhafte Zustände,
schreibt man der „Ostschweiz“. Es ist in solchen Verhältnissen
gar Niemand mehr existenzfähig, es müssen Alle zu Grunde
gehen. Das Elend wächst mit jedem Tag. Die Arbeiter haben
nun in einer Delegirtenversammlung der ostschweizerischen und
Vorarlberger Stickereiarbeiter einen Generalstrike und eine
Petition an die Behörden um Staatsunterstützung beschlossen.
92
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 7.
Klagen über Lehrlingszüchterei sind in keinem Ge-
werbe so berechtigt wie im Bäckergewerbe. Durch die vom
Vorsitzenden des Stuttgarter Gewerbegerichts, Herrn Lauten-
schlager. vorgenommenen Erhebungen wurde festgestellt, dass
in 255 Stuttgarter Bäckereien 610 Arbeiter und zwar 355 Ge-
hilfen und 255 Lehrlinge beschäftigt sind, die biszu 18 Stunden
des Werktags arbeiten. Am Sonntag hatten dieselben bisher
nur 8 — 14 Stunden Ruhe.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Zum Programm des deutschen Gewerkschafts-
kongresses.
DieAufgabe, welche dem im folgenden Monat zusammen-
tretenden Gewerkschaftskongress gestellt ist, hat eine so
grosse und die deutsche Arbeiterbewegung in ihren wich-
tigsten Interessen berührende Bedeutung, dass eine wieder-
holte und von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehende
Erörterung der zu lösenden Fragen auch im Sozialpolitischen
Centralblatt wohl am Platze sein dürfte. In Nummer 5 dieser
Zeitschrift hat Herr Legien das Programm des Kongresses
erörtert , allein in seinen Ausführungen einen Vorschlag
ausser Betracht gelassen, der eine Besprechung wohl
verdient. Es ist dies der von den Gewerkschaften in
Fürth und Nürnberg ausgehende Organisationsplan. Der-
selbe weicht insofern von dem der Generalkommission ab,
als an Stelle der jetzt bestehenden Berufsorganisationen,
welche nach dem Entwurf der Generalkommission auch
für die Zukunft die Grundlage der Organisation bilden
würden, Verbände für die Arbeiter ganzer Industriezweige
hergestellt werden sollen. So soll z. B. für die gesammten
Holzarbeiter, Bauhandwerker, Metallarbeiter, für die Textil-
industrie, Lederindustrie, Bekleidungsindustrie, Papierin-
dustrie nur je eine Organisation in’s Leben gerufen wer-
den, bezw., die verschiedenen für ein und dieselbe In-
dustrie bestehenden Organisationen zu einem Verbände
vereinigt werden. Wo das Bedürfniss vorhanden ist, sollen
sich die Arbeiter örtlich nach Berufen organisiren, so dass
Tischler, Bildhauer, Drechsler, Polirer je für sich eine ört-
liche Verwaltungsstelle bilden, die ihre fachlichen Angelegen-
heiten selbstständig ordnet, im Uebrigen aber der für alle
Berufe dieser Industrie bestehenden Centralleitung unter-
stellt ist. Die Gewerkschaftspresse soll in gleicher Weise
centralisirt werden; für eine ganze Industriegruppe wird nur
eine Zeitung gewünscht. Dadurch würden sich die jetzt
bestehenden Gewerkschafts-Centralisationen wie auch die
Gewerkschaftszeitungen etwa um Zweidrittel vermindern
und jährlich mindestens 150 000 Mk. an Verwaltungskosten
und Ausgaben für Zeitungen ersparen lassen. Die finanzielle
Leistungsfähigkeit der Gewerkschaften würde bedeutend
erhöht und vor Allem eine einheitlichere Leitung als jetzt
ermöglicht werden, wo die Arbeiter ein und derselben
Fabrik, oft in fünf bis sechs Organisationen zersprengt sind
Die so schwierigen Fragen der Wanderunterstützung, des
Herbergswesens, des Arbeitsnachweises, würden bei der
angeregten Zusammenfassung der Kräfte ihrer Lösung ein
gut Stück näher gebracht sein. In jeder Beziehung, würde
die Leistungsfähigkeit der Organisationen vermehrt, ihre
Beweglichkeit gefördert werden. Das will auch die Gene-
ralkommission, durch ihren Organisationsentwurf wird sie
es aber schwerlich erreichen.
Die Union, wie sie von der Generalkommission em-
pfohlen wird, hebt die Kräftezersplitterung und kostspielige
Verwaltung nicht auf, es können nach diesem Plane alle
jetzt bestehenden Centralisationen weiter fungiren, nicht
einmal gegen neue Abzweigungen, d. h. Schwächungen der
bestehenden Organisationen schützt die Durchführung des
Entwurfs der Generalkommission. Dazu kommt noch die
Schwerfälligkeit des von der Generalkommission projek-
tirten Unions-Apparates in Betracht, welche Jeder ei kennen
wird, der sich in die projektirten Unionen hineindenkt. In
Bezug aul die Presse erscheint mir der von der General-
kommission aufgestellte Plan überhaupt nicht durchführbar.
Eine einzige Zeitung genügt unter keinen Lhnständen für
eine der Unionen, wie dies von der Generalkommission pro-
jektirt ist. Man denke sich nur eine Zeitung für eine
Union, welche vielleicht aus sechs bis acht Organisationen
besteht. Jede der Centralleitungen hat ihre in der Regel
sehr umfangreichen Bekanntmachungen zu veröffentlichen,
es sind die Abrechnungen jedes einzelnen Verbandes abzu-
drucken, jeder der- Verbandskassirer quittirt die ein- und
ausgehenden Geldbeträge, dazu noch die Bekanntmachun-
gen der Krankenkassen, die meist so viel Raum bean-
spruchen als die der Verbände. Es bedarf keines beson-
deren Beweises, dass in einem solchen Blatt, wenn nicht
etwa amerikanisches oder englisches Format ins Auge ge-
fasst wird, für alle übrigen Aufgaben der Zeitungen gar
kein Raum mehr bliebe. Die so ausgestatteten Gewerk-
schaftsorgane würden zu Amtsblättern herabsinken und ihren
Zweck vollkommen verfehlen. Ein Vergleich des Organi-
sationsentwurfes der Generalkommission mit dem von den
Fürth-Nürnberger Gewerkschaften vorgeschlagenen Organi-
sationsplan muss deshalb zu Gunsten des letzteren ausfallen.
Dass Industrieverbände in dem hier erläuterten Sinne
möglich sind, giebt auch die Generalkommission zu, aber
sie hält die Zeit hierzu noch nicht gekommen. Das grösste
Hinderniss für solche Verbände scheint in der Verschieden-
heit der Beiträge der einzelnen Organisationen zu liegen.
Mit Recht wird gesagt, dass frei einer Verschmelzung der
Organisationen z. B. die Schuhmacher nicht veranlasst
werden können, ihre Gewerkschaftsbeiträge derart zu er-
höhen, dass sie denen der Sattler oder Handschuhmacher
gleich kommen. Ebensowenig kann den Sattlern und Hand-
schuhmachern zugemuthet werden, ihre Beiträge zu redu-
ziren, alle ihre Einrichtungen, welche sich nach der Höhe
der Beiträge richten, über Bord zu werfen.
Dieser Einwurf verdient sicherlich Beachtung, aber
als ein unübersteigliches Hinderniss kann er nicht
gelten. Dasselbe Verhältnis , welches in Betreff der
Beiträge der verschiedenen Gewerkschaften obwaltet, be-
steht in jeder einzelnen Gewerkschaft, in Bezug auf
grosse und kleine Orte. Für die Arbeiter in kleinen
Orten kann keine Gewerkschaft die Beiträge niedrig
genug ansetzen, da sind die Löhne unzureichend; die
Arbeiter kennen den Werth der Organisation nicht, und
so geschieht es, dass selbst die minimalen Beiträge, welche
jetzt die einzelnen Organisationen erheben, zu hoch
befunden werden. In den grösseren Städten ist das
Gegentheil der Fall. Wollen die Gewerkschaften den
Bedürfnissen der Arbeiter in den grossen Städten Rechnung
tragen und auf die Arbeiter in kleinen Orten mehr Einfluss
gewinnen, so müssen sie Beiträge und Leistungen klassi-
fiziren, es jedem Mitgliede freistellen, ob er hohe oder nie-
dere Beiträge bezahlen und im Bedarfsfälle demensprechende
Gegenleistungen beziehen will. Eine solche Abstufung ist
auch berechtigt, in Bezug auf die Unterhaltungskosten der
Arbeiter, denn diese sind in Berlin oder Hamburg höher,
als in einem Orte von 4000 — 5000 Einwohnern Diese Ein-
richtung würde nach und nach allgemein zu einer höheren
Beitragsleistung führen, ohne dass dem Einzelnen ungebühr-
liche Lasten aufgezwungen würden
Die verschiedenen Beiträge der einzelnen Organi-
sationen bilden demnach kein unüberwindliches Hinderniss
bei der Verschmelzung; jedenfalls verdient der Vorschlag
gründlich diskutirt zu werden, denn wenn nicht jetzt, so
wird man doch in absehbarer Zeit gezwungen sein, diesen
Weg einzuschlagen.
CT» O
Nürnberg. Martin Segitz.
Organisation der Eisenbahnarbeiter. Vor etwa zwei
fahren bildete sich in Bern ein Eisenbahnarbeiter -Verein. Der-
selbe hat in seinen Statuten folgendermassen seine Aufgaben
präzisirt: 1. LJnter allen Berufsgenossen, sowie dem gesammten
Arbeiterstande das Bewusstsein der Solidarität zu wecken und
zu pflegen: 2. dem Arbeiter sein Recht bestmöglichst zu wahren ;
No. 7.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
93
3. die Arbeiter in technischer und moralischer Beziehung zu i
heben; 4. durch alle zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln
und gemeinsames Wirken die geistige und materielle Lage so-
wohl des Einzelnen als der Gesammtheit zu verbessern. Mitglied
des Vereins kann jeder Eisenbahnbeamte werden ohne Rücksicht
auf dessen Branche. Zur Oeffnung der Kasse wird ein monat-
licher Beitrag von 30 Cts. erhoben. Die Verwaltung wurde in
der Weise zusammengesetzt, dass einer jeden Branche die Mög-
lichkeit gewährt wurde, in derselben vertreten zu sein.
Ferner erstrebt der Verein die Verwirklichung nachstehen-
den Programms:
1. Anstellung und Entlassung: Abschaffung der Taglohn-
Anstellung; feste Anstellung mit Vertrag nach einmonatlicher
Probezeit; gegenseitige einmonatliche Kündigung. Sofortige
Entlassung erfolgt nur bei richterlich konstatirter Vernachlässi-
gung der Arbeit (Dienstfehler)
2. Lohnverhältnisse: Festsetzung eines Minimallohnes von
Fr. 100 pro Monat für Neuangestellte. Steigerung des Lohnes
um mindestens 5 Prozent für jedes weitere Dienstjahr während
6 fahren. Aufbesserung der gegenwärtigen Löhne um 10 Prozent.
Für dienstfreie Tage darf kein Lohnabzug erfolgen. Extrastunden
sind nach bestehendem Reglement zn entschädigen. Unentgelt-
liche Lieferung des nothwendlgen Bekleidungsmaterials, be-
stehend in Mantel, Blouse und Mütze, an sämmtliche Arbeiter
nach erfolgter vertragsmässiger Anstellung.
3. Arbeitszeit: Durchführung der lOstündigen Arbeitszeit
für diejenigen Branchen, welche nicht vom Fahrdienst abhängig
sind (Schopf, Depot, Krampe’r'. Gestattung einer Ruhepause
nach der Hälfte der Arbeitszeit von P/2 Stunden. Einführung
von Arbeitsschichten für auf der Linie beschäftigte Branchen
behufs besserer Durchführung der nach Gesetz vorgeschriebenen
Arbeitszeit und der Freitage (Gepäck, Eilgut, Manöver, Wärter).
Kongress der französischen Arbeitsbörsen. Auf An-
regung der Arbeitsbörse von Saint-Etienne fand daselbst
am Sonntag, den 7. und Montag, den 8. Februar ein Kon-
gress der französischen Arbeitsbörsen statt, der sich ge-
mäss seiner Tagesordnung 1) mit der Gründung eines Ver-
bandes der Arbeitsbörsen, 2) mit deren Vertretung im
Arbeitssekretariat beschäftigte. Delegirte hatten entsendet:
Paris, Lyon, Beziers, Cholet, Toulon, Bordeaux, Toulouse,
Montpellier, Marseille und Cette, die zusammen mit
St.-Etienne 550 Arbeitersyndikate vertraten. Der Kongress
sprach vor Allem aus, dass die Arbeitsbörsen, wenn sie das
leisten sollen, was die Arbeiterschaft von ihnen erwartet,
vollständig unabhängig sein müssen und darum jede Ein-
mischung der Regierung wie der Munizipalitäten in ihre
inneren Angelegenheiten zurückzuweisen haben. Was den
Bund der Arbeitsbörsen anbelangt, wurde die Bildung des-
selben einstimmig beschlossen und als Ziel desselben hin-
gestellt: 1. Die Forderungen der Arbeitersyndikate (Gewerk-
schaften) einheitlich zu gestalten und ihrem Ziele ent-
gegenzuführen; 2. die Thätigkeit der Arbeitsbörsen auf alle
industriellen und landwirthschaftlichen Zentren auszudehnen;
3. die Delegirten für das Arbeitssekretariat zu ernennen;
4 alle wünschenswerthen statistischen Daten zu sammeln
und den zum Bunde gehörigen Arbeitsbörsen zu über-
mitteln; 5. die unentgeltliche Arbeitsvermittlung für die
Arbeiter beider Geschlechter zu verallgemeinern. Behufs
Durchführung der Beschlüsse des Arbeitsbörsen-Bundes und
Verständigung mit dem Arbeitssekretariat wird alljährlich
ein aus je einem Mitglied sämmtlicher Arbeitsbörsen zu-
sammengesetztes Bundeskomitee ernannt werden, das seinen
Sitz in derselben Stadt zu nehmen hat, in der sich das
Arbeitssekretariat befindet. Die Kosten dieses Komitees
I sind von den verbündeten Arbeitsbörsen zu tragen. Zu
ihrer Vertretung im Sekretariat wurden vier Mitglieder der
Pariser Arbeitsbörse ernannt. Die Arbeiten des Kongresses
sind mit dem Erlass eines an die Arbeiter gerichteten
I Manifestes geschlossen worden, in welchem es u. A. heisst:
„Von nun an bildet das sich seiner Aufgabe bewusste Pro-
letariat, vergessend der unheilvollen Spaltungen, welche
bisher all seine Bemühungen lähmten und die Verwirk-
lichung seiner Hoffnungen vereitelten, ein einheitliches
Ganzes, entschlossen mehr denn je auf die vollständige
Emanzipation der Menschheit hinzuarbeiten.“ Zum Schlüsse
sei noch erwähnt, dass der Bürgermeister von Saint-Etienne,
Herr Girodet, der gleichzeitig Mitglied der Kammer ist, die
Delegirten des Kongresses zu einem „Ehrenpunsch“ ein-
geladen hatte.
j
I
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Frankfurter Ortsstatut über die Sonntagsruhe im Han-
delsgewerbe. Das erste Ortsgesetz über die Regelung der
kaufmännischen Sonntagsarbeit auf Grund der neuen Gewerbe-
ordnung hat im deutschen Reiche der Magistrat von Frank-
furt a.M. ausgearbeitet, also genau dort, wo die Bewegung
für die Sonntagsruhe seitens der Kaufleute am nachhaltigsten
und planvollsten in Angriff genommen worden ist. Der be-
| treffende Entwurf lautet : „§ 1 . Im Handelsgewerbe dürfen Ge-
hülfen, Lehrlinge und Arbeiter, insoweit nicht seitens der zu-
ständigen Behörden Ausnahmen zugelassen werden, am ersten
Weihnachts-, Ostern- und Pfingsttage überhaupt nicht, im
Uebrigen an Sonn- und Festttagen nur beschäftigt werden:
1 . im Gr ossh andel und Bankgeschäft während höchstens
zweier Stunden innerhalb der Zeit von Vormittags
11—1 Uhr: 2. im Kleinhandel und Ladengeschäft
während höchstens dreier Stunden, innerhalb derZeit von
Vormittags 9 — 10 und 11 — I Uhr. § 2. Soweit nach den
Vorschriften des § I Gehülfen, Lehrlinge und Arbeiter
nicht beschäftigt werden dürfen, darf in Gemässheit des
§ 41a des Reichsgesetzes vom 1. Juni 1891 in offenen Ver-
kaufsstellen ein Gewerbebetrieb nicht stattfinden. § 3. Durch
die Vorschriften dieses Statuts bleiben die sonst geltenden
gesetzlichen Vorschriften, insbesondere die Verordnung vom
21. August 1817 über die Heilighaltung der Sonn- und Fest-
tage unberührt. § 4. Zuwiderhandlungen gegen dieses Orts-
statut werden mit Geldstrafen bis zu 600 Mark, im Unver-
mögensfalle mit Haft bestraft.“ In ihrer Sitzung vom
9. d. M. hat die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung
diese Vorlage an eine Neunerkommission verwiesen, nicht
ohne dass der Stadtverordnete Sonnemann der Ansicht Aus-
druck gegeben hatte, man werde die Sonntagsarbeit in
Engros- und Bankgeschäften noch mehr beschränken können.
Die in § 3 des Statutenentwurfes erwähnte Verordnung von
1817 schreibt im Wesentlichen nur eine äusserliche Schliess-
ung der Läden vor, enthält aber keine Bestimmung im
Interesse des Personals.
Sonntagsruhe im Berliner Handelsgewerbe. Der Aus-
schuss, der behufs Berathung der Sonntagsruhe von der
Stadtverordnetenversammlung eingesetzt worden ist, hat
den Antrag Singer’s (Verbot der Sonntagsruhe der An-
gestellten in den Engr os-Geschäften und Festsetzung einer
dreistündigen Arbeitszeit für die in den Detailgeschäften)
abgelehnt und ist dem Magistratsantrage, die Beschäftigung
im Handelsgewerbe über die gesetzlichen Vorschriften hin-
aus im Wege ortsstatutarischer Bestimmungen nicht einzu-
schränken, beigetreten. Es bleibt darnach in Berlin bei
der fünfstündigen Sonntagsarbeit in den kaufmännischen
Gewerben und die Reichshauptstadt wird aller W ahrscheinlich-
keit nach, durch die Art, wie die Frage in Frankfurt a. M.
geregelt wird (vgl. oben), die peinlichste Beschämung
erfahren.
Arbeiterschntz in Drathziehereien. Dem deutschen
Bundesrath ist ein Entwurf von Bestimmungen über die Be-
schäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in
Drahtziehereien mit Wasserbetrieb zugegangen. Darnach sollen
in solchen Betrieben Kinder unter 14 Jahren und Arbeiterinnen
nicht beschäftigt werden noch sich in den bezüglichen Arbeits-
räumen aufhalten, Knaben zwischen 14 und 16 Jahren dürfen
innerhalb einer Woche nicht über 60 Stunden beschäftigt werden
und die Nachtarbeit darf innerhalb 24 Stunden die Dauer von
10 Stunden nicht überschreiten. Ferner sind zwischen zwei
Arbeitsschichten Ruhepausen innezuhalten. Die Beschäftigung
mit Nebenarbeiten kommt bei der wöchentlichen Arbeitszeit in
Anrechnung. Während der Pausen für Erwachsene dürfen auch
jugendliche Arbeiter nicht beschäftigt werden. An Sonntagen
darf die Beschäftigung innerhalb zweier Wochen nur einmal
von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends fallen.
Zum deutschen Coalitionsreclit. Die öffentliche vor einer
Menschenmenge geschehene Aufforderung an die strikenden
Arbeiter einer- einzelnen Fabrik, Zeche u. s. w., den unter Ver-
letzung der Kündigungsfristen begonnenen Ausstand fortzu-
setzen, ist nach einem Urtheil des Reichsgerichts, IV. Strafsenat,
vom 27. Oktober 1891 nicht als eine Aufforderung zum Unge-
horsam gegen Gesetze im Sinne d&s § 110 des Straf-Gesetz-
buchs zu bestrafen, selbst wenn dem Auffordernden bei seiner
Aufforderung bekannt war, dass die Fortsetzung des Ausstandes
eine Verletzung der Kündigungsfristen enthielt.
Eintragungen in Arbeitsbücher nach deutschem Gewerbe-
recht. Die Eintragungen in den Arbeitsbüchern gewerblicher
| Arbeiter dürfen nach § 1 1 1 Absatz 2 der Reichsgewerbeordnung
94
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 7.
nicht mit einem Merkmale versehen sein, welches den Inhaber
des Arbeitsbuches günstig oder nachtheilig zu kennzeichnen be-
zweckt, und die Zuwiderhandlung gegen dieses Verbot ist nach
§ 146 Zeile 3 der Gewerbeordnung zu bestrafen. In Bezug anf
diese Bestimmung hat das Reichsgericht, IV. Strafsenat, durch
Urtheil vom 6. November 1891 ausgesprochen, dass als solche
„Merkmale“ nur Kennzeichen zu verstehen sind, deren Be-
deutung Uneingeweihten nicht ohne weiteres erkennbar ist.
Allgemein verständliche Vermerke dagegen im Arbeitsbuche,
welche die Kennzeichnung des Inhabers des Arbeitsbuches be-
zwecken, lallen unter die Verbotsbestimmung des § 111 Absatz 3
der Gewerbeordnung, deren Uebertretung gemäss der wesent-
lich milderen Strafbestimmung des § 150 Zeile 2 der Gewerbe-
ordnung zu ahnden ist. — R. hatte in das Arbeitsbuch seines
17jährigen Laufburschen die Worte: „ohne meinen Willen aus
der Arbeit entlaufen“ eingeschrieben R. wurde wegen Ver-
letzung der §§111 Absatz 2 und 146 Zeile 3 der Gewerbeordnung
angeklagt. Die Strafkammer sprach ihn aber frei. Auf die
Revision des Staatsanwalts wurde vom Reichsgericht das erste
LTrtheil wegen Nichtanwendung des § 150 Zeile 2 der Gewerbe-
ordnung aufgehoben.
Schutzvorschriften für Arbeiter in Briquettefabriken
linden sich in einer Bergpolizeiverordnung des Ober-
bergamtes Breslau vom 15. Juli 1891, die von „Glückauf“
(Essen) in seiner No. vom 30. Januar d.J. abgedruckt wird.
Abschnitt I dieser Verordnung enthält bauliche Vorschriften
für die .Anlage solcher Fabriken und ihre innere Einrich-
tung, über bequeme Kommunikation zwischen den ver-
schiedenen Räumen und gute Ventilation, ausreichende '
Beleuchtung und Schutzvorrichtungen an allen Maschinen.
Abschnitt II behandelt den Betrieb der Briquettefabriken, ;
Vorkehrungen gegen Feuersgefahr und Vorschriften über
die tägliche Reinigung der Arbeitsräume von Staub. In
§ 25 beginnen die eigentlichen Arbeiterschutz Vorschriften.
Beschäftigt werden dürfen nur „zuverlässige Männer, die
das 21. Jahr überschritten haben und mit körperlichen Ge-
brechen nicht behaftet sind“. Während der Arbeit sind
nur enganschliessende Kleider zu tragen (§ 26). Ein zwölf-
stündiger Normalarbeitstag wird für die bei den üarrvor-
richtungen, bei der Wartung der Maschinen und Kessel
Beschäftigten eingeführt (§ 27). Ferner müssen heizbare
Ankleideräume, sowie ein Bad für die Arbeiter vorhanden
sein. Die Betriebsführer sind den Bergwerksbeamten nam-
haft zu machen. Diese Verordnung ist mit dem 1. Oktober
1891 in Kraft getreten. Sie lässt darauf schliessen, dass
triiher unerträgliche Verhältnisse in den schlesischen Bri-
quettefabriken geherrscht haben müssen. Der Bundesrath
hätte wohl in’s Auge zu fassen, ob sich nicht die Ausdeh-
nung dieser Vorschriften mit einer weiteren Abkürzung des
A rbeitstages über Oberschlesien hinaus empfiehlt. Ueber-
b aupt macht derselbe von seiner Befugniss, die Arbeitsver-
hältnisse in einzelnen Gewerben gesondert zu regeln, viel
zu wenig Gebrauch.
Gewerbeinspektion.
Gewerbeinspektion in Holland. Das Arbeiterschutz-
gesetz vom 5. Mai 1889 hat die Institution der Gewerbe-
inspektion für Holland eingeführt. Der erste Jahresbericht
der Arbeitsinspektoren, — so heissen diese Beamten — ist
nun erschienen. Aus demselben geht hervor, dass die
Durchführung des Arbeiterschutzgesetzes noch manches zu
wünschen übrig lässt. Im Jahr 1890 betrug die Zahl der Ver-
urtheilungen wegen Uebertretung der gesetzlichen Be-
stimmungen im ersten Inspektionsbezirk 90, im zweiten 115
und im dritten 126. Es ist dies ein Beweis, dass die
Zahl der Aufsichtsbeamten zu gering ist. Der Wirkungs-
kreis des Inspektors für den ersten Bezirk erstreckte sich
auf 4709 Betriebe mit 14 180 dem Gesetz unterliegenden
Personen, die beiden anderen Beamten hatten je 5040 Be-
triebe mit 17 944 geschützten Personen und 8804 Betriebe
mit 21 025 geschützten Personen zu beaufsichtigen.
Arbeiterversicherung.
Die Fürsorge für erkrankte Dienstboten.
Wie schon früher vielfach im Parlament und in der
Presse, so wurde auch bei der augenblicklich noch schwe-
benden Revision des Krankenversicherungsgesetzes von
der sozialdemokratischen Partei der WTunsch ausgesprochen,
den V er. sicherungszwang auch auf das Gesinde auszu-
dehnen. Allein die Sozialdemokraten erhielten von keinem
Redner einer anderen Partei einen nennenswerthen Bei-
stand. Als in der Kommissionsberathung diese Angelegen-
heit zur Sprache kam, erklärte die Regierung nach dem
Kommissionsberichte, dass die Regelung dieser Frage auf
grosse Schwierigkeiten stosse. In allen deutschen Bundes-
staaten sei in irgend einer Weise durch Landesgesetz die
Krankenfürsorge für Dienstboten geregelt, und es sei be-
denklich, in diese Regelung, die in den verschiedenen
Staaten eine sehr verschiedene sei, durch eine allgemeine
reichsgesetzliche Bestimmung einzugreifen; die Verhältnisse
der Dienstboten seien von denen der industriellen Arbeiter
so grundverschieden, dass eine gleichmässige Regelung fast
unmöglich sei; jedenfalls würde sie den Nachtheil haben,
dass eine Berücksichtigung örtlicher Verhältnisse, wie sie
die Landesgesetzgebung möglich mache, ausgeschlossen sei.
Man habe über die Krankenfürsorge für Dienstboten in
den einzelnen Bundesstaaten Ermittelungen angestellt, aus
denen diese Schwierigkeiten zu ersehen seien.
Das Ergebniss dieser Erörterungen ist dem Kom-
missionsbericht beigefügt. Sehen wir uns dieses Ergebniss
einmal näher an!
In Baden, Sachsen, Hessen, Sachsen- Weimar, Braun-
schweig, Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-Sondershausen !
und -Rudolstadt sind die in der Land- und Forstwirthschaft
beschäftigten Dienstboten dem Versicherungszwang unter-
worfen. Das Gleiche gilt für die Stadt Detmold.
Ausserdem ist von der Befugniss, durch Ortsstatut die
Gemeindekrankenversicherung für Dienstboten einzuführen,
Gebrauch gemacht worden: in einer Anzahl Gemeinden in
Bayern, in ganz Württemberg, in 24 ganzen Amts- '
bezirken und ausserdem in 30 Einzelgemeinden (von den ;
übrigen 28 Amtsbezirken) in Baden.
Im Uebrigen ist für die erkrankten Dienstboten in (
folgender WTeise gesorgt.
In Bayern erhält das erkrankte Gesinde freie ärzt- )
liehe Behandlung nebst Pflege- und Heilmitteln für die
Dauer von 90 Tagen gegen eine eventuelle an die Ge-
meindekasse wöchentlich zu leistende Zahlung von höch-
stens 15 Pfennigen seitens der Dienstboten. Die Dienst-
herrschaft ist von jeder Beitragsleistung befreit.
In Sachsen bestehen in einer grösseren Anzahl von
Gemeinden Dienstbotenkrankenkassen (natürlich für das
nicht-landwirthschaftliche Gesinde), welche gegen Versiche-
rungsbeiträge seitens des Gesindes freie Kur, vereinzelt
auch Krankengeld gewähren. Die Dienstherrschaft ist
von jeder Beitragsleistung befreit. Die Herrschaft hat,
wenn die Krankheit aus natürlichen Ursachen entstanden
oder unmittelbare Folge einer Dienstverrichtung ist, wäh-
rend der Dauer der Dienstzeit für die Kur und Pflege
des Dienstboten zu sorgen und darf sie nur die hierfür baar
verwendeten Kosten auf Lohn und Kostgeld anrechnen.
(Das heisst also auch nichts anderes als Befreiung der
Herrschaft von Aufwendungen für erkrankte Dienstboten.)
In gleicher Weise sind die Verhältnisse in Sachsen-
Altenburg und Reuss j. L. geregelt.
Auch in Hessen hat die Herrschaft (abgesehen von
der Fürsorge für das landwirthschaftliche Gesinde) so gut
wie keine Aufwendung für die erkrankten Dienstboten. In
einigen Städten müssen, in anderen können die letzteren
gegen bestimmte Beitragsleistungen sich die Aufnahme in
einem Hospital im Krankheitsfalle sichern. Im Uebrigen
hat die Herrschaft nur für die erste Hilfeleistung zu sorgen
und kann die sonstige Unterbringung und Verpflegung des
Gesindes der Ortsbehörde überlassen. — Ebenso ist in
No. 7.
SOZIALPOLITISCHES CENTRAL, BLATT.
95
Sachsen-Weimar, Lippe-Schaumburg, Anhalt die
Herrschaft nur zur einstweiligen Verpflegung der erkrankten
Dienstboten bis zur Uebernahme derselben seitens der Ver-
wandten oder Behörden verpflichtet. Eine ähnliche Be-
stimmung gilt für B raun sch weig.
In Hamburir besteht eine obligatorische Dienstboten-
Krankenversicherung, auf Grund deren dem kranken Ge-
sinde freie ärztliche Behandlung beziehentlich freie Kur
und Verpflegung in einem Hospital gewährt wird. Der Ver-
sicherungsbeitrag beläuft sich auf 60 Pf. monatlich und ist
lediglich vom Dienstboten zu bezahlen. Aehnlich erfolgt
die Krankenversorgung in einem Theile Oldenburgs. In
einem anderen Theile dieses Bundesstaats gelten im Wesent-
lichen dieselben Bestimmungen wie in Sachsen- Weimar,
wobei noch zu bemerken ist, dass in den beiden letztge-
nannten Staaten sowie in dem grösseren Theil Deutschlands
überhaupt die Dienstherrschaft, falls die Erkrankung des
Gesindes durch ihr eigenes grobes Verschulden erfolgt, für
die vollständige Wiederherstellung des Dienstboten ohne
Kürzung des Lohnes Sorge zu tragen hat. Ferner kann sie
in Oldenburg wie auch in einigen anderen Gebieten ge-
wisse Kurkosten vom Lohn abziehen beziehentlich den Lohn
für die Zeit der Dienstunfähigkeit einbehalten.
ln Lippe-Detmold hat die Herrschaft für Kur und
Verpflegung nur dann zu sorgen, wenn das Gesinde sich
die Krankheit aus Anlass des Dienstes zugezogen hat.
Preussen besitzt eine grössere Anzahl von Gesinde-
ordnungen. Bezüglich der Krankenfürsorge für Dienstboten
gilt im Allgemeinen der Grundsatz, dass die Herrschaft für
Kur und Verpflegung eines Dienstboten zu sorgen hat,
wenn die Krankeit während oder aus Anlass des Dienstes
entstanden ist, jedoch auch dann nur bis zum Ablauf der
Dienstzeit, in der Provinz Hessen-Nassau sogar nur bis
6 Wochen, in der Rheinprovinz und in Schleswig-Holstein
sogar nur bis 4 Wochen und in Hohenzollern nur bis
8 Tage. In Schleswig-Holstein können die Kurkosten vom
Lohn abgezogen werden Aehnliche Bestimmungen wie für
den Geltungsbereich des Allgemeinen Landrechts in Preussen
sind auch für Sachsen-Koburg-Gotha in Kraft.
Die Gesindeordnung für Mecklenburg-Schwerin
lässt die Krankenfürsorge für Dienstboten seitens der Herr-
schaften sich nur auf 1 Woche erstrecken; ähnlich ist es in
einzelnen Theilen Badens.
Verpflichtung zur Krankenfürsorge mit dem Rechte,
die aufgewendeten Kosten vom Lohn abzuziehen, besteht
in Bremen.
Eine der Krankenversicherung der gewerblichen
Arbeiter ähnliche Einrichtung besteht seit 2 fahren in
Lübeck, nach welcher dem erkrankten Dienstboten bis zu
13 Wochen freie ärztliche Behandlung bezw. freie Knr und
Verpflegung in einem Krankenhause gewährt wird gegen
eine jährliche Beitragsleistung von 4 Mk. seitens des Ge-
sindes und 2 Mk. seitens der Dienstherrschaft.
Durchaus keine Verpflichtung der Herrschaft zur
Krankenfürsorge besteht in Mecklenburg - Strelitz,
Eisass- Lothringen, im Kreise Lauenburg, in einem
grossen Theile Mecklenburg-Schwerins, in dem grösse-
ren Theile der Provinz Hessen-Nassau. Auch in einem
1 heile der Provinz Hannover hat die Herrschaft so gut
wie gar keine Verpflichtung gegen den erkrankten Dienst-
; boten.
Aus dieser Uebersicht entnehmen wir also, dass die
Behauptung der Regierung, in allen Bundesstaaten sei in
irgend einer Weise für die erkrankten Dienstboten gesorgt,
nicht richtig ist. Sehen wir von den Gebieten, wo eine
Krankenfürsorge nicht herrscht, ab, so haben wir drei
Kategorien der Krankenfürsorge zu unterscheiden. In ein-
zelnen Gebieten, die noch nicht den sechsten Theil Deutsch -
i lands umfassen, ist entweder für einen Theil des Gesindes
(für das in der Land- und Forstwirthschaft beschäftigte)
oder in einem noch bei weitem kleineren Gebiete für das
gesammte Gesinde die Regelung der Krankenfürsorge
der Krankenversicherung der gewerblichen Arbeiter
entsprechend erfolgt; das heisst es wird freie ärztliche
| Behandlung gegen Beitragsleistung der Dienstherrschaft
und der I Henstboten gewährt. In einem anderen Gebiete,
das noch nicht den dritten Theil des deutschen Reichs-
gebietes umfasst, besteht eine obligatorische Kranken-
versicherung, für welche lediglich das Gesinde Beiträge zu
leisten hat. In dem grössten Theile des deutschen Reichs-
gebiets endlich hat zwar die Dienstherrschaft für das er-
krankte Gesinde zu sorgen, aber nur bis zum Ablauf der
Dienstzeit und nur für den Fall, dass die Krankheit aus
Anlass oder während der Dienstverrichtungen entstanden
ist. Daraus folgt, dass in den überwiegenden Fällen die
Krankenfürsorge für Dienstboten weit unter das Mass der
Fürsorge für gewerbliche Arbeiter fällt. Dieses Mass ist
um so geringer, je mehr insbesondere in den grossen
Städten die Tendenz kurzer Miethszeit obwaltet. So kommt
es, dass ein grosser Theil erkrankter Dienstboten der
Armenpflege anheimfällt, ein Zustand der zur Erbitterung
dieser Personen über ihre Vernachlässigung durch die
Gesetzgebung führen muss, sobald sie sich des Odiums be-
wusst werden, das nun einmal auf der Inanspruchnahme
von Armenpflege ruht. Wenn man nun auf die Schwierig-
keit hinweist, welcher die Regelung dieser Frage wegen
der Verschiedenheit der Gesetzgebungen in den Einzel-
staaten begegnet, so kann man darauf folgendes erwidern:
Wir haben ein einheitliches Strafgesetzbuch, einheitliche
Straf- und Zivilprozess-, sowie Konkursordnungen, einheit-
liche Gerichtsverfassung und sollen ja auch ein einheit-
liches Zivilgesetzbuch bekommen, trotzdem in den einzelnen
Bundesstaaten doch auch grosse Verschiedenheiten in diesen
Materien hervortreten. Was in diesen Fällen aber möglich
war, dürfte in einer verhältnissmässig so einfachen Frage,
wie der erörterten, doch wohl auch nicht unmöglich sein.
Was aber auch in einzelnen Gebieten bezüglich der Ge-
meindekrankenversicherung der Dienstboten durchgetührt
werden kann, das ist auch unschwer in anderen Gebieten
durchzuführen , zumal die Gesindeordnungen trotz ihrer
formellen Verschiedenheit doch auch in ganz Deutschland
einheitliches Grundgepräge tragen. Die Schwierigkeiten
der Regelung beruhen, wie jeder zugestehen wird, in der
Verschiedenheit der ländlichen Verhältnisse. Für die land-
wirthschaftlichen Arbeiter aber ist doch die Versicherung
durch Ortsstatut zugelassen. Giebt man aber die Möglich-
keit zu, dass eine Versicherung sich als nothwendig
herausstellt, und erkennt man ferner aus den geltenden Be-
stimmungen, dass die Krankenfürsorge nach den Gesinde-
ordnungen eine ungenügende ist, was die Thatsachen be-
weisen, so wäre es doch erstens angebracht, für alles
landwirthschaftliche Gesinde den Versicherungszwang' ein-
zuführen wie man die Unfallversicherung eingeführt
hat und für das übrige Gesinde wenigstens die Ver-
sicherung durch Ortsstatut zuzulassen. Die Verschiedenheit
der örtlichen Verhältnisse gilt doch nicht bloss iür die
Dienstboten, sondern auch für die gewerblichen Arbeiter,
und wenn man in allen Orten ohne Unterschied auf die
letzteren den Versicherungszwang sich erstrecken lässt, so
ist kein Grund einzusehen, warum man mit dem Gesinde
eine Ausnahme macht. Die gewerblichen Arbeiter genossen
allerdings bis zum Jahre 1885 keine Krankenfürsorge, wäh-
rend für die Dienstboten wenigstens zum Theil einige
Fürsorge vorgesehen ist. Aber ist das logisch, tür die
früher gänzlich Vernachlässigten nunmehr ein höheres
Mass der Unterstützung einzuführen als für diejenigen,
welche bisher auf eine kleine Unterstützung Anspruch
hatten? Man könnte doch nur dann von einer Regelung
dieser Frage absehen, wenn den Dienstboten wenigstens
in dem grösseren Theile Deutschlands ein gleiches oder
grösseres Mass der Krankenfürsorge gewährt würde als den
anderen Arbeitern. Das ist aber, wie wir gesehen, nicht
der Fall, und zwar um so weniger, als nach den meisten
der hierfür geltenden Bestimmungen die Herrschaft die
Kosten für Kur und Verpflegung nur dann zu tragen hat,
wenn die Krankheit aus Anlass oder während des Dienstes
entstanden ist. Wenn eine gewerbliche Arbeiterin beim
Tanze .sich erkältet und eine zeitlang erwerbsunfähig wird,
so erhält sie freie ärztliche Behandlung und Krankengeld,
das Dienstmädchen steht in diesem Falle schutzlos da.
!
06
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 7.
Man wird vielleicht einwenden: ja, dafür hat es aber auch
keine Versicherungsbeiträge zu leisten. Diejenigen aber,
welche immer behaupten, der Dienstbote stände materiell
besser da, als der sog. Arbeiter, werden dann doch auch
zugeben müssen, dass er die Beiträge leichter zu zahlen
im Stande ist, als eben dieser Arbeiter.
Leicht Hesse sich auch nachweisen, dass die Ver-
schiedenheit zwischen Gesinde und industriellem Arbeiter
durchaus nicht so gross sei, wie von der Regierung be-
hauptet wird. Dazu ist aber die besprochene Frage nicht
die geeignete Gelegenheit. Dass jedoch die Krankenfürsorge
für die Dienstboten in Deutschland eine ungenügende und
die Nothwendigkeit , eine einheitliche höhere Fürsorge
eintreten zu lassen, durch die Thatsachen gegeben ist,
dürfte nach der voraufgegangenen Schilderung dem vor-
urtheilsfreien Beobachter wohl einleuchten.
Berlin. J. Silbermann.
Zur Reform der deutschen Arbeiterversicherungsgesetze.
Am 6., 8. und 9. d. M. verhandelte der deutsche
Reichstag sehr ausführlich über die Reformbedürftigkeit
des Unfallversicherungsgesetzes vom Jahre 1884, so-
wie des Alters- und In va liditäts Versicherungs-
gesetzes vom Jahre 1890, und zwar unter Anknüpfung an
einen sozialdemokratischen Antrag Auer, den wir in No 4
dieser Zeitschrift mittheilten und der in vier genau bezeich-
neten Punkten eine Abänderung des Unfallversicherung!*-
gesetzes verlangt. Der Antrag Auer, welcher einzelne
Reformforderungen genau formulirte, wurde von der Mehr-
heit abgelehnt und durch einen Kompromissbeschluss er-
setzt, welcher das Verlangen nach Verbesserung der Un-
fallversicherung nur im Allgemeinen ausspricht.
Aus den Debatten sind folgende Beiträge zur Reform
herauszuheben. Aut die verfehlte Grundlage der Unfall-
versicherung, ihre Basirung auf reinen Unternehmer-
verbänden, wird kaum eingegangen, trotzdem die Rufe nach
territorialer Organisation, wie in Oesterreich, eventuell nach
Anschluss an die Krankenkassen ausserhalb des Parlamentes
immer lauter werden; nur Sozialdemokraten und der
Centrumsabgeordnete Hitze streiften die Frage, die ersteren
gegen, der letztere durchaus für die Berufsgenossenschaften
Stellung nehmend. Desto mehr beschäftigte man sich mit
den Folgezuständen jener Ueberau twortung eines ganzen
grossen Versicherungszweiges an die Unternehmer mit dem
durch ein vorsintfluthliches Wahlsystem behinderten Recht
der Arbeiter, Vertreter zu ernennen, mit der Uebergehung
dieser Vertretung bei der ersten Entscheidung über Renten-
ansprüche, mit der Lhngehung der Wahlvorschriften in einem
ktirzlichen Falle u. s. w. Aus der Diskussion und den Aus-
künften des Staatssekretärs des Inneren ging deutlich her-
vor, dass noch immer eine gewisse Spannung zwischen
diesem und dem Reichsversicherungsamte besteht, welches
nach grösserer Selbständigkeit und nach seiner Umwande-
lung in ein eigenes Reichsamt strebt. Ein Spezialist in
Unfallversicherungssachen , der Brauereidirektor Rösicke,
der im Verband deutscher Berufsgenossenschaften eine
leitende Stellung einnimmt , sowie der bekannte Eisen-
industrielle Freiherr von Stumm, gestehen die Berechtigung
der Anträge Auer durchaus zu und wollen nur die Reform
auf noch weitere Punkte ausgedehnt haben, ebenso, wie der
Abgeordnete Dr. Max Hirsch; dadurch wird der Sprecher
der rheinischen Industriellen, Möller, welcher sich gegen
die Anträge Auer äussert, aus der Mitte der berufsgenossen-
schaftlichen Organisation heraus desavouirt. Seine Anträge
würden zum Unterschied von den sozialdemokratischen
dahin gehen, die Lasten der Unternehmer aus der Ver-
sicherung zu erleichtern, kleine Renten für geringe Be-
schädigungen kapitalisiren zu dürfen, das Haftpflichtgesetz
zu beseitigen, welches jetzt den Arbeitern noch einige über
das Unfallversicherungsgesetz hinausgehende Ansprüche
gibt und Aehnliches. Ueber die Nothwendigkeit der Aus-
dehnung der Versicherung auf Handwerk und Handelsge-
werbe herrschte Uebereinstimmung.
Den grösseren Theil der Debatten beanspruchte das
Alters- und Invaliditätsversicherungs-Gesetz.
Staatssekretär von Boetticher machte folgende positive
Mittheilungen aus der erstjährigen Praxis desselben. Ueber
Erwarten günstig sei die finanzielle Gebahrung der Versiche-
rungsanstalten. Es sind 15,5 Millionen Mark an Renten ge-
zahlt, deren Kapitalwerth sich auf 54,4 Millionen Mark be-
rechnet. Dazu kommen 10 Millionen Mark Reservefonds
und 11 Millionen Mark Verwaltungskosten. Die Belastung
stellt sich also auf zusammen 76,4 Millionen Mark, welcher
eine Einnahme von 88,8 Millionen Mark gegenübersteht.
Dabei sei freilich nicht ausser Acht zu lassen, dass im ersten
Jahre nur Altersrenten gezahlt wurden. Für 1892/93 ist der
Reichszuschuss zu den Alters- und Invalidenrenten veran-
schlagt auf 9 213 878 Mark, mehr gegen das Vorjahr 3 Mil-
lionen Mark. Der Etat des Reichsversicherungsamts ist auf
I 022 7 10 Mark festgesetzt, mehr gegen 1891/92 206 485 Mark,
wesentlich in Folge Vermehrung der Beamten aus Anlass
der wachsenden Geschäfte durch die Unfallversicherung.
Aus der Diskussion muss zunächst als besonders auffällig
die Behauptung des sozialdemokratischen Abgeordneten
Grillenberger bezeichnet werden, nach welcher aut Grund
des Gesetzes „beinahe Niemand invalide erklärt
wird.“ Soviel wir sehen können, kam kein Regierungs-
Vertreter auf diese Aeusserung zurück. Wenn sie nament-
lich auch für die Zukunft richtig wäre , müsste ja der
Hauptzweck des Gesetzes verfehlt erscheinen und die
eingehende Berücksichtigung der Invalidität dringend ver-
langt werden. Zur Erleichterung der individuellen
„K jebearbeit“ gab der Staatssekretär des Innern fol-
genden Wink: „Das Gesetz selbst giebt im § 112 das
Mittel an die Hand, wie man um das Markenkleben herum-
kommt. Wenn eine Gemeinde findet, dass ihre Angehörigen
durch das Kleben zu sehr belastet werden, so steht nichts
im Wege, dass sie beschliesst, ihren Bürgern das Kleben
abzunehmen. In ganzen Landestheilen, ich erinnere an
Baden, ist das bereits geschehen; ich empfehle, dass da, wo
das Kleben wirklich zu Unzuträglichkeiten führt, von der
Fakultät des § 1 12 Gebrauch gemacht wird.“ Bisher hui- ,
digte man freilich gerade in Preussen mehr dem individua-
listischen Bestreben, das Markenkleben durch die Betheilig- ,
ten besorgen zu lassen. Aus den allgemeinen Aeusserungen
über die Unbeliebtheit des Gesetzes klangen mehr die Be-
schwerden der Unternehmer über ihre „Belastung“ durch die (
Beiträge, als Klagen der Arbeiter, die eine sympathisch-
abwartende Stellung einnehmen und sich durch den Mund
Grillenberger’s mehr über Einzelheiten der Ausführung be-
schwerten. So wurde von letzterem Redner die neuerdings
zugelassene Entw'erthung der Versicherungsmarken durch ;
Beschreiben mit dem Datum als Mittel zur Kennzeichnung ,
der Arbeiter bezeichnet, ebenso vom Abgeordneten Wurm.
Die Klagen der Unternehmer trug besonders beweglich vor :
der freisinnige Abgeordnete Schräder, der das auf die Ver- ‘
Sicherung angewendete Wort vom „nationalen Unglück“ ;
zitirte und anführte, dass kleine ländliche Besitzer Beiträge |
bis zu 14 Mk. jährlich zahlen müssten, während der Frei-
konservative von Helldorf das Zahlenverhältniss in richtige-
rer Beleuchtung so wiedergab, dass aut dem Lande der
Beitrag des Unternehmers ca. 1 Prozent vom Arbeitslohn
betrage, woraus auf die Geringfügigkeit des Unternehmer-
beitrages in den städtischen Industrieen mit höheren Löhnen
ein guter Schluss gezogen werden kann. Von Helldorf sprach
auch nicht unzutreffend von einer „Verschiebung der Armen-
pflege“ durch das Gesetz. Ein Beschluss, der bestimmte
Reformen verlangt, 'wurde nicht gefasst. Man hatte aut
allen Seiten den Wunsch, die weitere Praxis abzuwarten
und dann bessernd einzugreifen. Die Agitation für Auf-
hebung wurde selbst von den Freisinnigen nicht ernst ge-
nommen.
Inzwischen wird die dritte und endgiltige Beschluss-
fassung über den Regierungsentwurf einer Novelle zum
Krankenversicherungsgesetz im Reichstage vorbereitet.
Eine freie Kommission, bestehend aus Vertretern aller Par-
teien, mit Ausnahme der Sozialdemokraten, hat bereits Kom-
promissanträge zur Erleichterung der formellen Verhandlung
eingebracht, welche die geplante Vorschrift bestehen lassen,
nach welcher auch die freien Hilfskassen Arzt und Arznei
in natura liefern müssen, statt eine höhere Geldunterstützung
an ihre Mitglieder zu zahlen. Die Krankenversicherungs-
pflicht der Handlungsgehilfen ist ebenfalls beibehalten. Die
moralisirenden Bestimmungen der Novelle, nach denen die
Kassen geschlechtlich Erkrankten die Unterstützung ent-
ziehen können, sollen ein wenig abgeschwächt, nicht be-
seitigt werden, obgleich kürzlich das auch in dieser Zeit-
schrift No. 4, S. 54, mitgetheilte Gutachten eines Fach-
mannes im Berliner „Verein für Gesundheitspflege“
No. 7,
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
07
dahin ging , dass jene Bestimmungen wesentlich zur
Verbreitung der Syphilis beitrügen. Die Anträge der
freien Kommission befürworten sodann die Erhöhung
des Maximalsatzes für Eintrittsgelder auf das vierfache
(in Höhe der Beiträge für 6 Monate statt 6 Wochen) und
die Zulassung von Extrasteuern für die Unterstützung
Familienangehöriger. Eine sehr eigenthümliche Unternehmer-
praxis, welche in der Einkassirung der Arbeiterbeiträge
zur Krankenversicherung und in der Nichtablieferung dieser
Beiträge bestand, soll abgeschnitten werden durch einige
Zusatzparagraphen, welche in folgende Strafbestimmung
auslaufen : „Arbeitgeber, welche den von ihnen beschäftigten
Personen auf Grund des § 53 Lohnbeträge in Abzug brin-
gen, diese Beträge aber in der Absicht, sich oder einem
Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvortheil zu ver-
schaffen, oder die berechtigte Gemeinde-Krankenversiche-
rung oder Krankenkasse zu schädigen, den letzteren vor-
enthalten, werden mit Gefängniss bestraft, neben welchem
auf Geldstrafe bis zu dreitausend Mark, sowie auf Verlust
der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann. Sind
mildernde Umstände vorhanden, so kann ausschliesslich auf
Geldstrafe erkannt werden.“
Der Begriff „Unternehmergewinn“ in der Auffassung
des Reichs-Versicherungsamts. Das Reichs-Versicherungs-
amt hat sich durch seine arbeiterfreundliche Haltung die
Anerkennung und das Vertrauen der arbeitenden Bevöl-
kerung in hohem Masse erworben. Indessen hat sich doch
neuerdings mehrfach gezeigt, dass die sozialpolitische Ein-
sicht dieser Behörde dem anerkennenswerthen Wollen
derselben nicht immer entspricht.
So steht das Amt mit dem Begriff „Unternehmerge-
winn“ auf recht gespanntem Fusse, wie im Folgenden ge-
zeigt werden soll.
Die Rekursentscheidung No. 857 (Amtl. Nachrichten
des Reichs- Versicherungsamts 1890, S. 494) behandelt die
Frage, ob ein kleiner selbständiger Landwirth, der gegen
eine Jahresentschädigung tägliche bestimmte Fnhrleistungen
mit seinem eigenen Pferde für eine Genossenschaftsmeierei
übernommen hat, während dieser Thätigkeit als selbst-
ständiger Unternehmer oder als versicherter Arbeiter zu
gelten habe. Die Berufsgenossenschaft, zu welcher die
Meierei gehörte, behauptete das erstere und lehnte daher
einen Antrag des Landwirths auf Entschädigung für einen
bei der fraglichen Thätigkeit erlittenen Unfall ab. Das
Reichs-Versicherungsamt erkennt dem gegenüber den An-
spruch an und führt zur Begründung u. A. aus, dass für
die Entscheidung auch „die Frage ins Gewicht fällt, ob der
für seine Thätigkeit in dem fremden Betriebe bezogene
Entgelt auch den Charakter eines Unternehmergewinns
oder lediglich den des Arbeitslohnes trägt. Im vorliegenden
Falle war die Entschädigung, welche der Verletzte von der
Genossenschaftsmeierei für seine Thätigkeit bezog, eine so
geringfügige, dass sie nur gerade als Lohn für die eigene
Arbeit, sowie als Ersatz der Unterhaltungskosten für das
Pferd, nicht aber auch als Unternehmergewinn angesehen
werden kann.“
Bei kritischer Betrachtung der angeführten unklaren
Sätze könnte man zunächst meinen, dass es sich nur um
die schiefe Darstellung eines an sich richtigen Gedankens
handle, dass also gemeint sei, der bezogene Entgelt ent-
halte keine als Unternehmergewinn anzusprechende Quote,
sondern nur den Lohn für die eigene Arbeit und die Unter-
haltungskosten für das Pferd. Indess dass in Wahrheit
dem nicht so ist, vielmehr thatsächlich ausgesprochen
werden sollte, der Entgelt für die Fuhrleistung als solcher
in seiner Gesammtheit sei in diesem Falle wegen seiner
Geringfügigkeit nicht als Lfnternehmergewinn zu be-
trachten, würde aber wohl als solcher gelten müssen, wenn
er in einem andern Falle erheblich grösser wäre, geht aus
folgender Entscheidung des Reichs-Versicherungsamts aus
neuester Zeit hervor:
Die Revisionsentscheidung zum Invaliditäts- und Alters-
versicherungsgesetz No. 77 (Amtl. Nachrichten des Reichs-
Versicherungsamts. Invaliditäts- und Altersversicherung,
1891, S. 181 ) beschäftigt sich mit der Feststellung des Begriffs
der „Hausgewerbetreibenden“. Dabei wird ausgeführt, dass :
fast alle wirthschaftliche Thätigkeit in einer gewissen wirth-
schaftlichen Abhängigkeit von anderen Personen vollzogen
werde. „Auch trifft es“, heisst es dann wörtlich, „bei zahl-
reichen handwerksmässigen Kleinbetrieben, in welchen die
persönliche Arbeitskraft der wichtigste Faktor des Unter-
nehmens ist, zu, dass der Unternehmergewinn sich im
Wesentlichen auf den Entgelt für die eigene Arbeitsleistung
des Unternehmers beschränkt und das Risiko des Unter-
nehmens völlig in den Hintergrund tritt.“
Die höchste sozialpolitische Behörde des Deutschen
Reichs betrachtet also thatsächlich das ganze Einkommen
eines Handwerkers aus seiner gewerblichen Thätigkeit als
Unternehmergewinn und den Entgelt für die eigene Arbeit
als Theil des Unternehmergewinns! Der Arbeitsverdienst
einer Person ist also nach dem Reichs-Versicherungsamt
entweder nur Arbeitsverdienst (Lohn) oder auch Unter-
nehmergewinn. Dass bei solchen Anschauungen der Be-
griff der Hausindustrie nicht klar und sozialpolitisch tief
gefasst werden kann, liegt auf der Hand, ebenso, dass eine
derartige Lhiklarheit über die wirthschaftlichen Grundbe-
griffe sich auch im Uebrigen häufig bei der grossen Thätig-
keit, die das Reichs- Versicherungsamt zu entwickeln hat,
hemmend gelten machen muss.
Die Altersversicherung in England. Im letzten Quar-
talhett des Journals der englischen Royal Statistical Society
behandelt Charles Booth in einem interessanten Artikel die
verschiedenen Vorschläge für eine staatliche Altersversorgung
in England. Einzelne dieser Vorschläge bezwecken eine
Ausdehnung des Armengesetzes im Sinne der Gewährung
von förmlichen Pensionen auf breiter Grundlage Allein bei
diesem System würden solche Pensionäre doch nur Arme
bleiben und die Pensionen den Makel der Armenunterstützung
beibehalten. Andere verlangen, dass die Regierung durch
Prämien die Sparsamkeit fördern solle; dieses Mittel würde
ungenügend sein. Eine weitere Gruppe will den Versiche-
rungszwang mit Staatsbeitrag entweder nach dem deutschen
System oder in der Weise einführen, dass von jeder jugend-
lichen Person ein Beitrag verlangt wird, welcher hinreicht, um
mit Hilfe von Beiträgen der Arbeitgeber oder des .Staates
| im Alter eine bescheidene Pension zu gewähren. Die Ver-
sicherung würde sich in beiden Fällen nur auf die arbeitende
i Klasse erstrecken. Schliesslich gibt es noch Solche,
welche eine allgemeine Altersversicherung vorschlagen.
Nach Booth gibt es in England und Wales gegenwärtig
1323 000 Personen über 65 Jahre. Bei 13 Lstr. per Jahr,
wäre jährlich für die Pensionen eine Summe von 17 Mill. Lstr.
nothwendig. Um diesen Betrag durch direkte Steuern auf-
zubringen, müsste jeder Versicherte jährlich 1,7% seines
Einkommens als Prämie zahlen. Bei diesem System würden
die ärmeren Klassen am besten, die wohlhabenden Klassen
am ungünstigsten wegkommen, während die Mittelklassen
für die Prämie in der Pension eine fast gleichwerthige
Gegenleistung erhalten würden. In Beziehung auf die Alters-
klassen würden natürlich die jüngeren und die im mittleren
Alter stehenden Personen gegenüber den älteren im Nach-
theil sein. Es sind also überall die Schwächsten, welche
den meisten Vorth eil haben. Zwischen Jung und Alt würde
die Zeit eine Ausgleichung treffen; zwischen Reich und Arm
wäre es eine Lotterie, da nur Wenige sicher sind, dass sie
im Alter nicht bedürftig werden.
Bemerkenswerth sind die von Booth erwähnten Vor-
schläge der National Providence League. Dieselben gründen
sich auf folgende Sätze:
I. Dass Diejenigen, welche auf eine Alterspension An-
spruch machen, verhalten werden, von ihrem eigenen
Einkommen Beiträge zu leisten.
II. Dass diese Beiträge nur dann zu einem Staatszuschuss
berechtigen sollen, wenn sie durch eine finanziell ge-
sunde Organisation, sei es durch eine Hilfsgesellschaft,
sei es durch einen vom Parlament gegründeten Pensions-
fonds oder durch die Post gesammelt werden.
Speziell werden unter Anderem noch folgende
Bedingungen aufgestellt :
I . Dass die vom Einzelnen aus seinem E nkommen
zu erwerbende Pension nicht weniger ials 6 Lstr.
10 sh im Jahr, zahlbar im Alter von G5 Jahren,
betrage.
2 Dass der vom Staat garantirte Pensions betrag die
gleiche Summe von 6 Lstr 10 sh. erreiche, sodass
Jeder im 65 Jahre zu einer Pension von 13 Lstr.
im Jahre oder 5 sh. pro Woche berechtigt ist.
3. Dass die Post für die Sammlung der Fonds, wenn
es gewünscht wird und sonst in allen Fällen für
die Auszahlung der Pensionen dienstbar gemacht
werde.
98
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 7.
4. Dass der Ausweis der Prämienzahlungen zu jeder
Zeit einen Gesuchsteller zum Empfang von Armen-
unterstützung, die zu irgend einer Zeit nöthig
werden könnte, berechtige.
5. Dass im Falle der Inhaber eines solchen Aus-
weises vor dem 65. Altersjahre stirbt, seinen
Hinterlassenen 5 Lstr. ausbezahlt werden.
6. Dass der Pensionsberechtigte das Recht erhalte,
über irgend einen Theil seiner Pension von
13 Ltsr. jährlich nach Belieben zu verfügen.
Nach dem Vorschlag der Poor Law Reform Association
sollte jede über 65 Jahre alte Person zu einer Pension be-
rechtigt sein, welche 10 Lstr. pro Jahr nicht überschreitet.
Aus öffentlichen Fonds wären 20% der Pension zu bezah-
len; der Rest wäre unter Benutzung der Post durch Bei-
träge der Versicherten, eventuell mit Beihilfe der Arbeit-
geber, aufzubringen.
Gewerbegerichte, Einigungsämter und
Arbeiterausschüsse.
Arbeiterausschüsse bei den preussischen Staatsbahnen.
Die neue Gewerbeordnung schreibt den Industriellen
bekanntlich die Errichtung von Arbeiterausschüssen nicht
gerade vor, sie legt ihnen dieselbe aber dadurch nahe,
dass sie die Vereinbarung der von 1. April d. J. ab obli-
gatorischen Arbeitsordnung mit einem Arbeiterausschuss
als Dispensation für den Nachweis ansieht , dass diese
Arbeitsordnung im Einvernehmen mit der ganzen Arbeiter-
schaft eines Etablissements erlassen wurde. Daraus erhellt
der Werth, den man neuerdings in Deutschland an offi-
ziellen Stellen auf Arbeiterausschüsse legt; und diese \\ erth-
schätzung wird auch durch praktische Thaten bewiesen.
Zuerst führten vor länger als Jahresfrist die fiskalischen
Kohlengruben des Saarreviers Arbeiterausschüsse ein, die
freilich an den Arbeiterzuständen auf diesen Zechen bei
ihrer beschränkten Machtbefugniss bis jetzt wenig ändern
konnten. Und jetzt veröffentlicht der preussische Eisen-
bahnminister in No. 35 des „Reichsanzeigers“ vom 9. Fe-
bruar 1892 die Vorschriften, welche er an die ihm unter-
stellten Direktoren über die Errichtung und Thätigkeit
künftiger Arbeiterausschüsse im Bereiche der preussischen
Staatseisenbahn Verwaltung erlassen hat. Wohlverstanden
handelt es sich aber dabei nicht etwa um Vertretungen für
das an anderer Stelle dieses Blattes erwähnte Betriebs-
personal von ca. 90 000, oder die Betriebsarbeiter mit ca.
144 000 Köpfen, sondern lediglich um die „in Werkstätten,
Gasanstalten und ähnlichen Anstalten der Staatsbahnver-
waltung“ beschäftigten Arbeiter, also nach der in No. 5,
S. 64 dieses Blattes mitgetheilten amtlichen Uebersicht um
etwa 40 000 Personen.
Danach sollen für jede Werkstätte etc. der preussi-
schen Staatsbahnen, welche in der Regel mindestens
20 Arbeiter beschäftigt, eventuell für mehrere solche An-
stalten an einem Orte oder für mehrere kleinere an ver-
schiedenen Orten gemeinsam ein Arbeiterausschuss von
höchstens 15 und mindestens 3 Mitgliedern durch direkte,
geheime Wahl aller volljährigen Arbeiter konstituirt werden,
die mindestens 3 Jahre im Dienst der Staatsbahnverwaltung
sind. Wählbar sind nur Arbeiter, die das 30. Lebensjahr
zurückgeleiegt haben, seit mindestens 5 Jahren im Dienste
der Verwaltung, sowie „mindestens 1 Jahr in derselben An-
stalt beschäftigt sind.“ Nach ausdrücklicher Verfügung des
Ministers „ist alles zu unterlassen, was den Anschein er-
wecken könnte, als suche die Verwaltung die Freiheit der
Arbeiter bei der Wahl ihrer Vertrauensmänner und die
letzteren in der Aeusserung ihrer Meinung zu beschränken.
Dass in den §§ 3 und 4 das Wahlrecht und die Wählbarkeit
an eine gewisse Beschäftigungsdauer, letztere auch an ein
höheres Lebensalter gebunden ist, entspricht dem Zweck,
bei der Ausübung des Wahlrechts den bei der Verwaltung-
ständig beschäftigten Arbeitern den ihnen naturgemäss ge-
bührenden Einfluss zu sichern. Aus dem oben angeführten
Grunde wird auch von der in § 8 enthaltenen Ermächtigung,
zu den Beratlnmgen der Ausschüsse verwaltungsseitig be-
stimmte Arbeiter zuzuziehen, nur ausnahmsweise und zwar
nur dann Gebrauch zu machen sein, wenn etwa zu be-
fürchten ist, dass es den Ausschussmitgliedern im gegebenen
Falle an genügender Sachkenntniss fehlt, oder dass inner-
halb des Ausschusses die Anschauungen der älteren und
besonneren Elemente nicht genügend zum Ausdruck ge-
langen werden.“ Nach diesen Ausführungen ist das Be-
streben der Staatsbahn Verwaltung, Fühlung mit ihren
Arbeitern zu gewinnen, wirklich ernst gemeint, jedoch
durch eine ganz unnöthige Furcht vor dem Einfluss
„jüngerer und unbesonnener Elemente“ beherrscht. Diese
letztere Furcht dürfte den Arbeitern unangenehm auf-
fallen und sie ihrerseits kopfscheu machen. Es wird ähn-
lich, wie mit den Knappschaftsältesten bei den Bergwerken
gehen: das Gros der Arbeiterschaft erkennt diese konser-
vativen, ausserhalb der Bewegung stehenden Elemente
nicht als geeignete Vertreter an, und der Arbeitgeber,
hier der Staat, lässt sich seinerseits die Gelegenheit ent-
gehen, gerade auf die jüngeren Elemente durch ihre
Heranziehung zur Ausschussarbeit erziehlich zu wirken.
Die unseres Erachtens ganz unbegründete Furcht
vor dieser Heranziehung — in Schiedsgerichten mit
liberalen Statuten, z. B. in Frankfurt a. Main, hat
sie sich trefflich bewährt kommt auch noch in fol-
gender Stelle der Verfügung zum Ausdruck: „Bei den Be-
rathungen der Ausschüsse ist es die Aufgabe der Vor- ,
sitzenden, auf eine rein sachliche Erörterung hinzuwirken
und unberechtigten Wünschen ohne Schärfe mit ruhiger ;
Belehrung zu begegnen. Etwaigen Ausschreitungen
ist mit Nachdruck entgegenzutreten, wie überhaupt die :
Einrichtung nicht dazu dienen dart, die Disziplin und das
Ansehen der Vorgesetzten Behörden zu schädigen.“ Der (
blosse Gedanke an „Ausschreitungen“ ist charakteristisch. <
Damit hängt es offenbar zusammen, dass sich die Staats-
verwaltung sogar die Befugniss der „Auflösung“ vorbehält,
wenn sich Ausschüsse „nach ihrem Ermessen (!) zur
Erfüllung der ihnen gestellten Aufgaben als ungeeignet !
erwiesen haben.“ Die Verhandlungen der „geeigneten“ ;
Ausschüsse finden in der Regel nur vierteljährlich statt; j
aussergewöhnliche Tagungen können jedoch von % der ,
Mitglieder beantragt werden. Jedenfalls „setzt“ der den "
Vorsitz führende Beamte souverän die Tagesordnung für |
jede Verhandlung „fest“; Berathungsgegenstände werden
bei ihm blos „angemeldet“.
Soviel über die Organisation, die ja immerhin noch
relativ liberal ist gegen die Jasagekomites, welche sich Privat-
unternehmer für ihre Fabriken aus den Arbeitern derselben
zusammenzusetzen pflegen (vgl. \ erkauf 's Besprechung von
Sering's Schrift in Band IV, Hett 3, des „Archivs f. soz.
Gesetzgebung“). Auch die sachliche Kompetenz der Ar-
beiterausschüsse bei den preussischen Staatsbahnen ist
vorurteilsloser geregelt, als in manchen Privatetablisse-
ments. Nach § 8 haben die Arbeiterausschüsse die Auf-
gabe: „1. Anträge, Wünsche und etwaige Beschwerden,
welche von ihren Mitgliedern vorgebracht werden und die
Arbeiter der betreffenden Anstalt oder einzelne Gruppen
im ganzen berühren, bei dem Vorstande der Anstalt vor-
zubringen und in Zusammenkünften mit diesem über die-
selben sich gutachtlich zu äussern; 2. über sonstige das
Arbeitsverhältniss betreffende Fragen, insbesondere über
die zu erlassende Arbeitsordnung, über Einrichtungen
zur Verhütung von Unfällen und solche Einrichtungen,
welche zum Wohl der Arbeiter und ihrer Angehörigen
getroffen sind oder künftig getroffen werden sollen, auf
Anfordern ihr Gutachten abzugeben ; 3. soweit j sie von
beiden Theilen angerufen werden, Streitigkeiten der Ar-
beiter unter einander zu schlichten. In den zu I und 2
erwähnten Fällen können von dem Vorstande der Anstalt
auch andere derselben Anstalt angehörige Arbeiter zur
Berathung zugezogen werden. An der Abstimmung (§ 10)
nehmen dieselben nicht Theil. Von der Erörterung in den
No. 7.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
99
Arbeiterausschüssen ausgeschlossen sind, abgesehen von
den zu 3 bezeichneten, alle Anträge, Wünsche und Be-
schwerden, welche lediglich die Angelegenheiten Einzelner
betreffen. Nur bleibt jedoch dem Vorstande der Anstalt
nach seinem Befinden Vorbehalten, den Ausschuss vor der
Bewilligung von Unterstützungen über die Bedürftigkeit
und Würdigkeit der zu Unterstützenden zu hören “ Und
die schon genannte Begleitverfügung sagt als Kommentar
hierzu: „Wie § 8 erkennen lässt, soll den Ausschussmit-
gliedern gestattet sein, Anträge, Wünsche und Beschwer-
den allgemeiner Natur, welche die Arbeiter berühren, in
den Ausschusssitzungen vorzubringen. Es werden daher,
wie zur Vermeidung von Zweifeln bemerkt wird, auch
Lohnfragen, so weit sie allgemeiner Natur sind, von der
Erörterung in den Ausschlusssitzungen nicht grundsätzlich
auszuschliessen sein. Diese Begrenzung der Kompetenz ist
von der Aengstlichkeit, welche die Festsetzung der Orga-
nisation diktirte, relativ frei und gestattet den Ausschüssen
die Besprechung des gesammten Arbeitsverhältnisses. Der
Punkt unter 3 dürfte selten praktisch werden, wogegen ein
Zusatz unter 2, nach welchem bestimmte Anordnungen der
Direktion dem Arbeiterausschuss vor ihrem Erlass zur Be-
gutachtung vorgelegt werden müssten, dieser Gutachten-
thätigkeit erst die richtige Stelle anwiese. Schade nur, dass
auch der liberale Kompetenzparagraph nur halb zur Wir-
kung kommen wird, weil die Vertreter der Arbeiter zum
Ausschuss allzu sehr gesiebt werden durch die Wahlbe-
stimmungen. Die Masse der Beschäftigten traut solchen
.Weitesten“ nicht zu, dass sie ihre Kompetenz wirklich im
Interesse der Arbeiter voll ausnützen.
Nicht, als ob wir uns soziale Wunder von Arbeiter-
ausschüssen versprächen, die allen billigen Anforderungen
äusserlich genügen Aber die Möglichkeit für die Unter-
nehmervertreter, seien sie privat oder staatlich, von einer
wirklichen Arbeitervertretung über die Stimmung und
Anschauungsweise der Beschäftigten viel zu lernen, ist nur
bei einer volksthümlichen, ohne Aengstlichkeit vor „jün-
geren Elementen“ entworfenen Organisation vorhanden.
Und die Schaffung dieser Möglichkeit ist uns für den so-
zialen Fortschritt immerhin wichtig genug, um wenigstens
keine unpraktische Gleichgültigkeit bezüglich einer Neu-
schöpfung, wie die vorliegende, zu äussern. Im Interesse
der preussischen Staatsbahnverwaltung also etwas weniger
bureaukratische Furcht vor den „jüngeren Elementen“, die
nun doch einmal die Gegenwart und Zukunft der Arbeiter-
bewegung sind, dann werden die neuen Arbeiteraus-
schüsse wenigstens höheren informatorischen Werth haben.
Wie dann die Informationen praktisch verwerthet werden,
das sei eine Zeit lang ruhig abgewartet.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Die Bediensteten der Pariser Omnibusgesellschaft und
das Handelsgericht als Schiedsgericht. Die Pariser Om-
nibusbediensteten, die erst im Mai v. j. nach einem Strike
von nur wenigen Tagen einen glänzenden Sieg erfochten
hatten, haben nun neuerdings einen solchen zu verzeichnen,
ohne indess auch nur einen Moment die Arbeit eingestellt
zu haben. Allerdings handelte es sich diesmal nicht um
neue Forderungen. Alles, was sie wollten, war die Auf-
rechterhaltung des errungenen zwölfstündigen Arbeitstages.
Derselbe wurde ihnen seiner Zeit schriftlich zugesichert
und zwar im Beisein des Präsidiums des Munizipalrathes,
der beim Strike die Vermittlerrolle übernommen hatte. In
dem damals aufgenommenen und von den Vertretern der
beiden Parteien Unterzeichneten Protokoll heisst es ausdrück-
lich, dass der Arbeitstag im Prinzip auf 12 Stunden festge-
setzt ist, und zwar vom Ausgang aus der Remise bis zur
Rückkehr in dieselbe. Anfangs wurde dieser Vertrag auch
strenge eingehalten ; allmählich aber hatte die Direktion der
Onnnbuskompagnie solche Veränderungen im Betriebe ein-
geführt, dass die Bediensteten bald gezwungen waren, einen
Tag 10 und 11 Stunden und den andern 13 und 14 Stunden
zu arbeiten. Die Kompagnie hatte nämlich, um keinen
Ausfall zu erleiden — denn an den Gehältern und Tantiemen
der Direktion und des Verwaltungsrathes sowie an den Di-
videnden der Aktionäre durfte um keinen Preis gerüttelt
werden — die Fahrgeschwindigkeit erhöht und die Anhalte-
zeit bei den einzelnen Stationen abgekürzt. Dadurch wurde
es auch möglich, in der nun verhältnissmässig viel kürzeren
Arbeitszeit ebenso viele Kilometer zurückzulegen als vor
dem Strike. So weit war die Kompagnie, wenngleich die
Bediensteten hierdurch in einem intensiveren Maasse ange-
strengt wurden, in ihrem formalen Rechte. Mit der höheren
Fahrgeschwindigkeit stellte sich aber gleichzeitig ein Miss-
verhältnis zwischen den Fahrten auf den kurzen und denen
auf den langen heraus welches dieDirektion dadurch zu heben
suchte, dass sie die Leute, die den einen Tag auf den kurzen
Linien beschäftigt waren, wo die vorgeschriebene Zahl von
Touren in 10 oder 10‘/2 Stunden zurückgelegt wurden,
Tags darauf auf den langen Linien bis 14 Stunden und
selbst darüber beschäftigte. Und damit verstiess die Kom-
pagnie offenbar gegen clen Vertrag. Die Direktion erklärte
zwar, dass sie „im Prinzipe“, wie es im Vertrage heisst, den
zwölfstündigen Arbeitstag einhalte — „im Prinzipe“ hiess
nämlich für sie „durchschnittlich'4 — , aber es ist doch klar,
dass wenn die Bediensteten diesen beiden Worten denselben
Sinn hätten unterlegen wollen, sie nicht eine Festsetzung
der täglichen, sondern der wöchentlichen Arbeitsstunden
verlangt hätten. Nach der Auslegung der Direktion könnten
ja die Kutscher und Kondukteure dann auch einen Tag-
bloss 8 Stunden und den anderen 16 Stunden beschäftigt
werden. Da nun alle Vorstellungen, welche das Syndikat der
Omnibusbedienstetengegen diese Auslegung machte, zwecklos
waren, was sollten diese nun beginnen, um zu ihrem Rechte
zu gelangen? Einen neuen Strike anfangen? Einen Moment
schien es, als gäbe es keinen anderen Ausweg. Auf An-
rathen einiger ausserhalb stehender Freunde haben sie
! indess einen neuen Weg und, wie sich nun zeigt, mit
Glück betreten. Sie hatten sich nämlich an das Han-
delsgericht gewendet. Vor diesem suchte der Rechtsver-
treter der Kompagnie die Worte „im Prinzip“ ebenso zu
deuten, wie seine Auftraggeber, aber mit welchem Erfolge,
das zeigt das am 3. d. M. verkündigte Urtheil. Diesem zu-
folge ist die Omnibusgesellschaft verhalten, spätestens nach
Verlauf eines Monats ihre Angestellten vom Ausgang aus
der Remise bis zur Rückkehr in dieselbe gerechnet, nicht
länger als 12 Stunden pro Tag zu beschäftigen und falls
sie binnen der angegebenen Zeit dem Urtheil nicht nach-
gekommen ist, für jeden Tag Verspätung dem Syndikat der
Omnibusbediensteten eine Entschädigung von 100 Eres, zu
zahlen. Ausserdem wurde die Kompagnie noch verurtheilt,
sämmtliche Prozesskosten zu tragen. Der Kompagnie bleibt
nun allerdings noch der Appellweg übrig. Es ist jedoch
kaum anzunehmen, dass sie ihn betreten werde, da sie sich
wird sagen müssen, dass, wenn sie vor dem, aus der Wahl
des grossen Unternehmerthums hervorgegangenen Handels-
gericht keine Gnade fand, sie dieselbe noch weniger vor
einem anderen Gericht finden werde und ihr Appell daher
die öffentliche Meinung, welche ihr wegen der, trotz ihrer
hohen Reineinnahmen an den Tag gelegten Engherzigkeit,
ohnedies nicht sonderlich hold ist, nur ganz unnützer Weise
: verbittern würde.
Geschäftstätigkeit des Stuttgarter Gewerbegerichts.
Beim Gewerbegerieht Stuttgart, das am 1. Juli 1891 seine Wirk-
samkeit begonnen hat, sind in den ersten 6 Monaten des Be-
stehens 508 gewerbliche Streitigkeiten anhängig gemacht worden.
In 38 Fällen wurde von Unternehmern gegen Arbeiter Klage
erhoben, darunter in 18 Fällen von Buchdruckerprinzipalen
während des Strikes. Streitigkeiten zwischen Lehrmeister und
Lehrling wurden in 20 Fällen anhängig, in 5 Fällen wurde vom
Lehrmeister, in 15 Fällen vom Lehrling Klage erhoben. Die
übrigen Fälle, 450 an der Zahl, betreffen Klagen, welche von
Arbeitern erhoben wurden. In den 508 Streitsachen, welche zu-
sammen anhängig geworden sind, wurden 597 mündliche
Verhandlungen abgehalten, darunter 228 vor dem Gewerbe-
gericht unter Zuziehung von Beisitzern, 369 vor dem Vorsitzenden
allein. Am Schluss des Jahres 1891 waren von den 508 Streit-
sachen vollständig erledigt 475.
100
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 7.
W ohnungsfrage.
Regelung des Kost- und Quartiergängerwesens im
Regierungsbezirk Münster. Der Regierungspräsident in
Münster hat eine Polizeiverordnung für seinen Bezirk
erlassen, welche das Kost- und Quartiergängerwesen regeln
soll. Danach dürfen sittlich unbescholtene Personen ferner-
hin Kost- oder Ouartier-Gänger bei sich aufnehmen, deren
Anzahl bei der Polizeibehörde stets der Ivontrole halber
genau angegeben werden muss; ausserdem ist die Auf-
nahme nur gestattet, wenn ausser den für die Angehörigen
der Haushaltung erforderlichen Räume genügende Schlaf-
räume vorhanden sind. Diese Schlafräume dürfen mit den
eigenen Wohn- und Schlafräumen des Quartiergebers und
seiner Familie nicht in Verbindung stehen, müssen gedielt,
durch eine Thüre verschliessbar und mit einem in der
Aussenwand befindlichen, zum Oeffnen eingerichteten
Fenster versehen sein; sie dürfen nicht mit Aborten in
offener oder verschliessbarer Verbindung stehen. Der
Schlafraum muss für jede denselben benützende Person
mindestens 10 Kubikmeter Luftraum enthalten und bei
Gebäuden welche seit 1884 errichtet oder umgebaut sind,
eine lichte Höhe von 2,50 Mtr. haben. Die zulässige Zahl
der den Schlafraum gleichzeitig benutzenden Kost- oder
Quartier-Gänger muss auf einem an der Innenseite der
Thüre des Schlafraumes angehefteten, von der Polizeibe-
hörde als richtig bescheinigten Zettel angegeben sein; für
je zwei Kost- und Quartier-Gänger muss mindestens ein
Bett mit Strohsack und starker wollener Decke sowie ein
Waschgeschirr mit Handtuch vorhanden sein Die Auf-
nahme von Kost- und Quartier-Gängern verschiedenen Ge-
schlechts bedarf der polizeilichen Genehmigung; dieselben
Räume dürfen an Personen verschiedenen Geschlechts als
Schlafstellen überhaupt nicht überlassen werden, aus-
genommen an Eheleute und deren noch nicht zehn Jahre
alten Kinder, aber auch dann nur, wenn diese Räume von
den Schlafstellen anderer Kost- oder Onartier-Gänger voll-
ständig getrennt sind. Das Quartier ist täglich zu reinigen,
mindestens alle sechs Wochen das Bettstroh und die Bett-
wäsche zu erneuern; die Bettdecken müssen jedes Viertel-
jahr gereinigt, nicht tapezierte Räume jährlich mindestens
ein Mal getüncht werden. Bei ansteckender Krankheit
müssen nach Entfernung des Kranken aus dem Quartier
dieses und alle von dem Kranken benützten Geräthschaften
desinficirt werden. Die Verfügung ist mit dem 1. Februar
in Kraft getreten.
Litteratur.
Swjatlowsky, W. , Fabrik - Inspektor des Warschauer
Distriktes. Die Fabrik-Hygiene St. Petersburg, 1891.
720 S. Mit 153 Holzschnitten.
Unter dem obigen Titel erschien vor kurzem die erste
systematische Fabrik-Hygiene in russischer Sprache. Das
Buch zerfällt in 8 Theile, den allgemeinen inbegriffen. Im
I. Abschnitte wird die chemische Industrie behandelt,
im 2. die Papier- und Tapetenindustrie, im 3. die Bear-
beitung der Metalle, im 4. die Bearbeitung von thierischen
Abfallstoffen, im 5. die Industrie von Nahrungs- und Genuss-
mitteln, im 6. die Glas- und keramische Industrie und im
7. die Textilindustrie. Da der Verfasser eine längere Zeit
Fabrikinspektor des Charkow’schen Fabrikbezirkes war und
gegenwärtig dieselbe Stelle im Warschauer Distrikte ver-
sieht, so hatte er die Möglichkeit, alle beschriebenen Pro-
duktionszweige aus eigener Anschauung gründlich zu
untersuchen und kennen zu lernen.
Obzwar das Buch den Titel „Fabrikhygiene“ trägt,
haben wir es doch nicht mit einem rein hygienischen
Handbuche zu thun. Neben der hygienischen Seite ist
auch die technologische und sozialstatistische Seite behan-
delt. Ueber diesen Theil des Werkes seien einige Bemer-
kungen gestattet.
Neben den Arbeiten von Erisman, Dementjew,
Pogoschew und ähnlichen, welche in diesem Buche ver-
werthet sind> linden wir auch eine ganze Anzahl bisher
vollständig unbekannter Originaluntersuchungen des Ver-
fassers über die russischen und speziell über die russisch-
polnischen Arbeiter. So enthält der allgemeine Theil eine
Reihe von statistischen Tabellen über die Unfälle im Fabrik-
betriebe in Russisch-Polen. Eine Fülle ganz neuen sozial-
statistischen Materials linden wir ferner in den Abschnitten
über die Zündhölzchenfabrikation, die Gerberei und Talg-
lichtzieherei. Eingehend behandelt und mit einer Menge
von statistischen Daten versehen sind auch die Abschnitte
über die Zucker-, Spiritus- und Textilindustrie Was das
Kapitel über die Tabakindustrie anbelangt, so wurde es
von der Frau Dr. Walitzky verfasst und bietet ein ausser-
ordentlich reiches Material vom industriellen, hygienischen
und sozialstatistischen Standpunkte.
E. Scholkow.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
Damm, Dr. med. Alfred, Die Wiedergeburt der Völker.
Monatshefte. 1. Jahrgang, 1. Heft. Wiesbaden, 1892, Damm’s
Selbstverlag. 84 32 S
Geyer, Florian, Der 27. Januar 1959. Ein Traumgesicht. Leipzig,
1892, Jakobsen kl 8". 30 S
Hipler, Wendel, Ehe denn die Schlacht beginnt. Ein
Mahnruf an die deutsche Jugend in ihren Kaiser. Leipzig,
1892, Jakobsen. 84 79 S.
Lohn- und Arbeitsverhältnisse im deutschen Drechslergewerbe.
Eine Zusammenstellung statistischer Aufnahmen vom April .
1890 bis April 1891. Herausgegeben von der zentralen
statistischen Kommission der Vereinigung der Drechsler und ■
Berufsgenossen zu Halle a. S. Hamburg, 1892 Th. Leipart,
_ Fachzeitung für Drechsler., kl. 8". VIII und 88 S.
3Ieinecke, Gustav, Koloniales Jahrbuch. IV. Jahrgang, 1891.
Berlin, 1892, Hevmann. gr. 8". 335 S.
Post, Prof. Dr. J., Musterstätten persönlicher Fürsorge !
von Arbeitgebern für ihre Geschäftsangehörigen. Bd. 1. Die 1
Kinder und jugendlichen Arbeiter. Berlin, 1889, Oppenheim.
8°. IX und 380 S.
Prochowiiik, Dr. Berthokl, Das angebliche Recht auf Ar-
beit. Eine historisch-kritische Untersuchung. Berlin, 1892,
Puttkamer u. Mühlbrecht, kl. 8°. VI und 123 S.
Rägoczy. Die Wirkungen des Krankenkassengesetzes (
mit besonderer Berücksichtigung der Krankenkassen der
Stadt Minden. Minden, 1889, Bruns. 8°. 35 S.
Revue Sociale et Politique. Publiee par la Societe d’Etudes \
Sociales et Politiques. Bruxelles, 1892. II, 1.
Schaefer. Die Unvereinbarkeit des sozialistischen Zu-
kunftsstaates mit der menschlichen Natur. Unge- I
haltene Rede der deutschen Sozialdemokratie gewidmet.
6. Autf. Berlin, 1891. 8°. 80 S.
Somogyi, Dr. Emanuel, Die Lage der Arbeiter in Ungarn
vom hygienischen Standpunkt. S.-A. der Budapester hygie-
nischen Zeitung. Budapest, 1891. kl. 8°. 36 S.
Sturm, Dr. jur. August, Die Haftpflicht der Gastwirthe
nach Römischem Recht, nach dem Entwurf für das
bürgerliche Gesetzbuch und nach dem Allgemeinen Preussi-
schen Landrecht. Naumburg a. S., 1892, Schirmer, kl. 8°.
45 S.
Taschenbuch für Reichstagsabgeordnete und Journalisten.
Materialien-Sammlung zu den wirthschafts- und sozial-
politischen Gesetzes - Vorlagen des deutschen Reichstages.
Herausgegeben von mehreren Volkswirthen und Juristen.
Für 1891/92. Halberstadt, 1891, Meyers Buchdruckerei. 84
IV und 373 S.
The Economie Review. Published quarterly. For the Oxford
university branch of the Christian social Union. London,
1892. Vol. II, No. 1.
Tolle, Karl August, D i e L age der Berg- und Hüttenarbeiter
im Ob er harze unter Berücksichtigung der geschichtlichen
Entwicklung der gesammten Bergarbeiterverhältnisse und
des Knappschaftswesens in Deutschland. Berlin, 1892, Putt-
kamer u. Mühlbrecht. 8°. IV u. 152 S.
Webb, Sidney, The Fabian Society, its objects and
methods. An address, kl. 8°. 9 S.
Wehbeig, Dr. H., Der humanistische Sozialismus im
Licht des Freihandels. Zugleich eine Kritik zur nöthi-
gen Klärung der Bodenreform. Berlin, 1891, Klein, kl. 8".
71 S.
W erner, Pfarrer Julius, Sozialrevolution oder Sozialreform.
Halle a. S., 1891, Schwetschke. 8°. 64 S.
Zürn, Erich, Die angebliche soziale Not der landwirth-
schafllchen Arbeiter. Leipzig, 1892, Rossberg. 8°. 39 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT
Berlin, den 15. Februar 1892.
Für den Anzeigentheil sind die Redaktion und die Verlagsbuchhandlung nicht verantwortlich. Anzeigcn-Annahmestelle nur bei
Dr. Otto Eysler, Berlin SW., Charlottenstrasse 11. Preis für die 3 spaltige Colonelzeile 40 Pf.
Verlag von Leonhard Simion, Berlin SW., Wilhelmstrasse 121
Volkswlrthscliaftliclie Zeitfragen,
Vorträge und Abhandlungen
o o
herausgegeben von
der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin
und
der ständigen Deputation des Kongresses Deutscher Volkswirte
Jährlich erscheinen 8 Hefte zum Abonnementspreise von 6 Mark.
Einzelpreis für jedes Heft i Mark.
Der Staat lind die Volks w i r t lisch a ft . Von
Dr. Karl Braun, Reichstags- Abg.
Der Schutz in der Weltwirtschaft. Von
Prof. Dr. F. X. v. Neumann- Spallart.
Zur Entwickelungsgeschichte der heuti-
gen reactionären Wirtlischaftspolitik.
Von Dr. Th. Barth, Syndikus in
Bremen.
Die Bettelplage. Von A. Lamm er s.
Der Volkswirtschaftliche Senat. Von
Dr. Max Weigert.
lieber Colonisation Von F. C. Philipp-
son.
Die wirthschaftlichen Verhältnisse der
Vereinigten Staaten von Amerika in
ihrer Rückwirkung auf diejenigen
Europa’s. Von A. v. Totis.
Deutschlands Getreideproduktion, Brod-
bedarf und Brodbeschaffung. Von
Ch. Lorenz.
Sparen und Versichern. Von A. La m m e r s.
Ziele und Bahnen der Deutschen Armen-
pflege. Von A. Lammers.
Die Buchdruckerkunst und der Kultur-
fortschritt der Menschheit. V on Dr. K a r 1
von Scherz er.
Die praktischen Versuche zur Lösung der
socialen Probleme. Von Dr. jur. Victor
Böhmer t.
Die Va gabundenfrage. Von Karl Braun.
Armen-Beschäftigung. Von A. Lammers.
(fegen den Staatssocialismus. Drei Ab-
handlungen von Ludwig Bamberger,
Theodor Barth, Max Broemel.
Die bäuerlichen Zustände in Deutschland.
Von N. M. W itt.
lieber Lebensmittelversorgung von Gross-
städten. Von E. Eberti.
Oetfentliche Kinder - Fürsorge. Von
A. Lammers
Der Normal - Arbeitstag. Von Karl
B a u in b a c h.
Das Branntwein - Monopol. Von Dr.
Wolfg. Eras
Die socialistische Gefahr. Von L. Bam-
berger.
Armenrecht u. Armenwesen. Von Adolf
Lasson.
Handarbeit. Von Dr J. Lessing.
Amerikanisches Wirthscliaftsleben. Von
Dr. Th. Barth.
Volkswirtschaft und Unterricht. Von
Dr. Emanual Herrmann.
Scheinbare und wirkliche Socialreform.
Von Dr. Th Barth.
lieber Altersversicherung der Arbeiter.
Von Dr. Alexander Meyer.
Frauenarbeit und Frauenschutz. Von
K. Baumbach.
Zur Beurteilung des Verbrauchs und
der indirekten Abgaben bei verschiede-
nem Einkommen. Von Dr. Karl.
Die Kosten des Haushalts in alter Zeit.
Von Prof. Dr. Heinrich Brugsch.
Die Wohnungsfrage und die Bestrebun-
gen der Berliner Baugenossenschaft.
Von Dr. Paul Nathan.
Die socialdemokratische Gedankenwelt.
Von Dr. Th. Barth, Mitglied des
Reichstags.
Das Völkerrecht im Dienste des Wirt-
schaftslebens. Von Dr. Hugo Preuss.
Von der Freiheit zur Gebundenheit. Von
Herbert Spencer.
Die Selb stein Schätzung und die geistige
Arbeit. Von Dr. J. J astrow.
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fldljrLuiLlici.
Jperaulgegeben
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(BSonafafdjriff für Politik, (Si'ldüdjli;, KunJI mtb litaafur.)
' PBU Üflonatlid) ein £>ef t. "ÄS.
Tian abonnirt fjalbjciljrlid] für 9 Tiarf bei allen 23ud)f)anbluugen uub Sßoftämtern.
33erlag oon UMuutar & ffumblof in Seidig.
OkTU’it Tvirblidl ltnapp, Die Öanbarbeiter
in Sneclitidpft nnb gredjeit. SSier Vorträge.
1891. ißreil ca. 2 Ti.
Ifrinvidf Jfrvhuer, Die fociale Sieform all
"®ebot bei ioirtl)td)aftiid;en jyortfdjrittl. 1891.
fjJreil 2 Ti . 40 0f.
Dd),vittcn brs Derciita für ‘inu'talpolittk.
49. 0anb: Die Jpanbellpolitil ber loidpigeren
Änlturftaaten in beit (e^ten 3 , fjr^eljntert. 1.
0anb. 2t. u. b. Die ^anbellpolitif
Torbarnerifal, Stalienl, £>efterretd)l, 0eP
gienl, ber Tieberlanbe, Dänemarfl, (Sdpoe»
beul nnb Tonoegenl, fJiufflanbl nnb ber
©cfnueig, foiute bie beittfdje .fpanbeliftatiftif
oon 1880 btl 1890. 0reil 13 Ti.
— Daffelbe. 50. 0anb: Die cbanbellpolitif rc.
2. 0anb, 21 n. b. D. : Die ber beut=
fdjen £anbeI!f>oütif oon 1860—1891 23oin
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Ifermann ToJ'df, Diationale fßvoöuftion unb
'nationale 23erurlqliebernng. 1891. SBreil
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BL i», b. T'Jfrit, Die gadpereine nnb bie
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bcs bcutjrfjsn Ütßidj«.
fyür jebermamt 311m praftifdjeit (§e=
braud) fjerauSgegeben ooit 33ümtecfe,
('l'evfnffcv uon: ,,'t'ev iHci(f)S= unb ©tantäbienfl".)
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Verantwortlich für den Anzeigentheil: l)r. ( )tto Eysler in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 22. Februar 1892
Nummer 8.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBL
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
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Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Per parlamentarische Kampf
gegen die Korse.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirthschaftsstatistik :
Ueberseeische Auswanderung aus
dem deutschen Reiche.
1 >ie russische Regierung und die
Hungersnoth.
Ermittelungen über die landwirt-
schaftliche Bodenverschuldung in
der Schweiz.
Sparkassen im Dienst des Arbeiter-
wohls.
Arbeiterzustände :
Eine Aufnahme der ländlichen
Arbeiterverhältnisse. Von Prof.
Dr. Gustav Schmolle r.
Erwiderung. Von Dr. Max
Quarck.
Die Nothlage in der schweize-
rischen Stickereiindustrie.
Zur Lage der Arbeiter in Italien.
Arbeitszeitreduktion in der schweize-
rischen Spinnerei und Weberei.
Lohn Verhältnisse der Basler Posa-
menter.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Die französischen Arbeitsbörsen.
Von Leo Frankel.
Strikes und Lockouts in Eng-
land.
Der Strike der Pariser Droschken-
kutscher.
Ein Tramway-Strike in Lille.
Unternehmerverbände :
Gegen die Kohlenringe.
Amerikanischer Whiskey trust.
Handwerker fragen :
Der deutsche Handwerkertag.
Arbeiterschutzgesetzgebung :
Beschäftigung der Arbeiterinnen
und jugendlichen Arbeitern in
Walz- und Hammerwerken.
Beschäftigung von Arbeiterinnen
und jugendlichen Arbeitern in
Cichorienfabriken und Glas-
hütten.
Entwurf eines Achtstundengesetzes
für England.
Schutzvorschriften für englische
Seeleute.
Soziale Hygiene:
Gewerbe-hygienisches Museum in
Wien.
W ohlfahrtseinrichtungen :
Natural Verpflegung bedürftiger
Durchreisender.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Der parlamentarische Kampf gegen die Börse.
Im deutschen Reichstage haben die Abgeordneten
Graf von Ballestrem, von Behr-Behrenhoff, Freiherr von
Manteuffel und Genossen am 19. November v. J. folgenden
Antrag gestellt:
Der Reichstag wolle beschliessen :
die verbündeten Regierungen zu ersuchen:
1. dem Reichstage noch im Laufe der gegenwärtigen Session
eine Gesetzesvorlage zu machen, in welcher dem Miss-
brauch des Zeitgeschäftes als Spielgeschäft sowohl an der
Börse, wie anderwärts, namentlich in den für die Volks-
ernährung wichtigen Artikeln durch eingreifende Bestim-
mungen auf dem Gebiete des Strafrechts und des bürger-
lichen Rechts entgegengetreten wird ;
2. dahin zu wirken, dass die Börsen und der Geschäftsverkehr
an denselben einer wirksamen staatlichen Aufsicht unter-
stellt und dadurch ihren wahren Aufgaben für Handel und
Verkehr erhalten werden.
Sodann haben am 20. November v. J. die Abgeord-
neten Dr. v. Cuny und Genossen beantragt:
Der Reichstag wolle beschliessen:
die verbündeten Regierungen zu ersuchen:
1. dem Reichstage noch im Laufe der gegenwärtigen Session
Gesetzesvorlagen zu machen, durch welche den Verun-
treuungen anvertrauter Depots und dem Börsenspiele
sowohl an der Produkten-, als auch an der Effektenbörse
entgegengetreten und insbesondere festgestellt wird:
a) derjenige, welchem in seinem Geschäftsbetriebe Inhaber-
papiere anvertraut sind, darf sie nur dann veräussern,
wenn der Deponent ihm die Veräussern ng speziell und
ausdrücklich gestattet hat. Die LTnterschlagung von
Depots wird mit Zuchthaus bestraft;
b) reine Differenzgeschäfte sind nichtig und begründen
kein Klagerecht.
2. die Frage der Verschärfung der gesetzlichen Bestimmungen
über den Konkurs einer eingehenden Prüfung zu unter-
ziehen.
Beide Anträge sind das Ergebniss von Wahrnehmungen,
welche zwar Jedermann jahraus jahrein zu machen Gelegen-
heit hat, die aber anlässlich einiger vorgekommener Fälle
wieder ganz besonders die öffentliche Meinung aufgeregt
haben.
Die Börsen haben stets eine eigenthümliche Stellung
eingenommen. Auf der Börse vollzieht sich der Kampf der
grösseren Kapitalien untereinander, die Niederlagen eines
1 heils treffen in normalen Zeiten zumeist den Siegern gleich-
werthige Elemente. Nur in Zeiten hochgehender Speku-
lation, wie in den letzten Jahren, werden die Kreise der
Börse durch Elemente verstärkt, welche sonst nur auf
ständige Anlagen ihres Kapitals bedacht sind und nur im
T aumel allgemeiner Gewinnsucht ihre traditionelle Rolle in
der Kapitalistenwelt aufgeben: Aristokraten, Beamte, Offi-
ziere, Aerzte, Anwälte, Rentiers u. s. f. Diese Betheiligung
von sonst fernstehenden Kreisen an dem Getriebe der Börse
hat — abgesehen von der durch den leichten Erwerb pro-
vozirten Erhöhung der eigenen Konsumtion dieser Personen
— unzweifelhaft den Effekt, Objekte zu liefern, aus deren
Vermögensbestande und Einkommen schliesslich nach vielen
Irrfahrten die Kosten jener übermässigen Luxuskonsumtion
gedeckt werden, welche die — zumeist über die Situation
selbst im Unklaren befindlichen — professionellen Börsen-
leute treiben.
Allen aus der privatkapitalistischen Oekonomie her-
geleiteten Anschauungen zum Trotz wird nämlich in der
1 hat auf der Börse nichts geschaffen, keine „Werthe“, na-
türlich auch keine „Güter“. Alle Börsengewinne sind
bestenfalls \ orschüsse auf erhoffte zukünftige Profite, in
Spekulationszeiten aber zumeist Entnahmen aus dem Ge-
sammtkapital aller an der Sache betheiligten Kapitalisten.
YV ird nun toll konsumirt, so wird einfach Kapital ver-
braucht, und es liegt in der Natur solcher Epochen, dass
in erster Reihe das Kapital der ungeübten Fcrnerstehenden
verloren geht. Es wäre ein sehr grosser Irrthum, zu mei-
102
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 8.
neu, dass die Börsenleute in der Hauptsache nur das
fremde Kapital verbrauchen, ganz sicher wird von der
Mehrzahl derselben ebenso das eigene mit verzehrt; aber
dieses ist überwiegend nur ein fiktives Kapital gewesen
und keinesfalls würde es ausreichen, um die jahrelange
Ueberkonsumtion der Börsenleute und ihres Annexes —
vom wirklichen Geheimrath-Aufsichtsrathsvorsitzenden bis
hinab zum spielenden Bankkommis und zum „betheiligten“
Hauslehrer — zu decken. Dazu muss dann die grosse
Menge der „ruhigen Kapitalisten“ beitragen. Und da tritt
dann die Ausbeutung des Besitzenden durch den
Besitzenden in die Erscheinung. Daher ist der Lärm er-
klärlich, der sich stets erhebt, wenn irgend welche Um-
stände wieder die Aufmerksamkeit auf unliebsame Vor-
kommnisse in der aus verschiedenwerthigen Elementen zu-
sammengesetzten Bank- und Börsenwelt lenken. Durch die
Paniken und ihre Folgen werden zumeist Mitglieder der-
jenigen Klassen geschädigt, welche am einflussreichsten
im Staate sind, und diese Klassen wissen sich ihrer Haut
zu wehren! Schon Schaeffle hat in seinem „Kapitalismus
und Sozialismus“ treffend gesagt: „Eine Hekatombe dieser
gefrässigen Geschöpfe (Börsenwölfe) würde am Ende jeder
. ehrenwerthe Bourgeois dem tobenden See, der ein Opfer
haben will, sehr gern überlassen“. Es ist eben die Börsen-
frage keine soziale Klassenfrage, sondern eine Ange-
legenheit, welche Berufe und Stände trifft, die innerhalb
derselben Klasse nebeneinander geschichtet sind.
Bei solchen Anlässen entstehen dann sofort Anträge
und Entwürfe, welche dem Treiben an der Börse abhelfen
sollen, ohne dass es bisher irgendwo gelungen wäre, in
dieser Hinsicht wirklich Brauchbares zu Tage zu fordern.
Ein sehr wichtiger Grund hierfür liegt wohl in der Schwie-
rigkeit, welche die technischen Verhältnisse des Börsen-
geschäfts dem Gesetzgeber bieten.
In den weiteren Ausführungen beschränken wir uns
heute auf die Effektenbörsen. Das von diesen Gesagte
gilt, sinngemäss angewandt, auch von den Waarenbörsen.
Der Terminhandel auf letzteren dient allerdings häufig dazu,
einen Schutz gegen die Schwankungen der Konjunktur zu
bieten und das Spielmoment zu eliminiren. Dieser Um-
stand verdunkelt häufig das Bild, welches wir auf den
Effektenbörsen klar vor uns sehen.
Wir heben hervor : Es giebt (mit wenigen belang-
losen Ausnahmen, Prämiengeschäften u. dgl.), keine förm-
lichen Differenzgeschäfte. Bei fast keinem einzigen
Geschäfte besteht die Absicht der Kontrahenten darin,
nach einem bestimmten Zeiträume Gewinn und Verlust
untereinander auszugleichen. Die Durchführung der Ge-
schäfte in der Form des Dilferenzspiels würde auf der
unwahrscheinlichen Voraussetzung basiren, dass zwei Per-
sonen, welche gleichzeitig entgegengesetzte Spekulationen
entriren, bestimmt annehmen, dass sie dieselben späterhin
wieder gleichzeitig abwickeln werden. Das Differenzspiel
vollzieht sich an der Börse meistens durch Kombination
mehrerer Kaufs-, Verkaufs- und Belehnungsgeschäfte.
Fast immer werden die Geschäfte so gemacht, dass
der Verkäufer sich zu wirklicher Lieferung, der Käufer
zu wirklicher Uebernahme der Effekten verpflichtet.
Ganz abgesondert hiervon wird der Verkäufer von
Stücken, die er nicht besitzt, Denjenigen suchen, der
ihm die Stücke leiht, und der Käufer von Stücken, für
deren Uebernahme er keine Kapitalien besitzt, wird
sich einen Kapitalisten suchen, der die gekauften Stücke
belehnt. Bei jedem Geschäftsabschlüsse kann es Vor-
kommen, dass einer der Kontrahenten eine Spekulation
eingeht, während der andere Theil vollkommen frei von
spekulativen Absichten ist. Man denke an den Fall, dass
eine Sparkasse, etwa, weil sie ein Hypothekardarlehen ge-
währt hat, aus ihrem Besitze preussische Konsols verkauft
welche ein Spekulant kauft. Nach einigen Wochen ver-
kauft Letzterer die Konsols, und eine andere Sparkasse kauft
dieselben behufs Fruktifizirung ihrer Einlagen. Hier liegt
auf der einen Seite ein gewöhnliches, auf Gewinnung einer
Differenz gerichtetes Spekulationsgeschäft vor, auf der
andern Seite ein durchaus solider Vorgang, den ja jeder
Kajjitalist bei Anlage seines Vermögens beobachten muss.
Also die Absicht, Differenzen zu gewinnen, hat mit der
Form der Differenzgeschäfte nichts gemein, und es scheint,
festzustehen, dass selbst bei einer wesentlichen Aenderung
in den Börsengeschäftsformen und bei vexatorischem Ein-
greifen in die Geschäftsverhältnisse eine Klarstellung der
wahren Natur des Geschäftsabschlusses kaum erreicht
werden könnte.
Alle auf die Beseitigung des „Differenzgeschäftes“
gerichteten Bestrebungen, und demnach auch die hierauf
abzielenden Punkte der beiden Anträge. sind demnach erfolglos,
weil sie eben nur gegen das fast garnicht vorkommende
formelle Differenzgeschäft ankämpfen. Werden aber die
Massregeln gegen das Differenzgeschäft auch auf die in-
haltlich ein Differenzspiel bildenden Börsengeschäfte aus-
gedehnt, wird insbesondere die Nichtklagbarkeit von Diffe-
renzen, richtiger gesagt, von Forderungen aus derartigen
Geschäften, ausgesprochen, dann pflegt die Sühne, welche
die Moral von der unsittlichen Börsenwelt fordert, gewöhn-
lich zu der erweiterten und verstärkten Immoralität zu
führen, dass die ausserhalb der Börse stehenden Spielkreise
sich ihren Verpflichtungen entziehen, die vorher von der
Börse gezogenen Gewinne für sich behalten und die Ver-
luste auf diejenigen wälzen; welche, ohne die Absicht
zu spielen, nur als Vermittler (Bankier, Kommissionär)
behufs Erlangung einer Provision, Maklergebühr oder dgl.
ihre Gegenkontrahenten geworden sind. Denn nicht der
Gegenspieler, — der nur dasjenige an Gewinn einbüssen
würde, was der durch das Gesetz von der Zahlungspflicht
befreite Spieler an Verlust nicht trägt, — wird von der
Nichtklagbarkeit betroffen, er kennt den Widerpart zu-
meist gar nicht, es besteht zwischen Beiden kein Zusammen-
hang, (siehe obigen Fall beim Handel mit Konsols). Ge-
schädigt werden nur die nichtspielenden Bankiers etc.
durch deren Vermittlung die Geschäfte zu Stande kamen
und welche nach herrschendem Gebrauche als Selbst-
Kontrahenten eintreten müssen. Diese sind vermöge ihrer
geschäftlichen Position nicht in der Lage, den Einwand des
Spiels ihrem Vormanne gegenüber geltend zu machen und
sich damit vor Schaden zu bewahren. Am sichersten hier-
von betroffen ist aber gerade der solideste Bankier, der
die für Rechnung seines Kommittenten gekauften Papiere
aus Eigenem bar ausgezahlt hat, also gar keinen Vormann
mehr hat, an den er sich seinerseits halten kann.
Und hier kommen wir auch zu der Frage der „Depöt-
unterschlagung“. Sicherlich sind zahlreiche Fälle vor-
gekommen, in denen Bankiers sich an dem Eigenthume
ihrer Klienten vergriffen haben, aber so einfach, wie allge-
mein angenommen wird, liegt die Sache doch nicht immer.
Wer bei „Börsenkomptoirs“ „Depots hinterlegt“, pflegt dies
nicht um deren Aufbewahrung willen zu thun. Jedermann,
insbesondere in den Grosstädten, weiss, dass die grossen
Bankinstitute, vor allem die Reichsbank, als Aufbewahrungs-
stellen vorzuziehen sind und dass die geringen Gebühren
keine unnütze Ausgabe sind. Man „deponirt“ Werthpapiere
bei solchen untergeordneten Firmen gewöhnlich nur als
Deckung für grössere Börsenoperationen. Treten nun Kurs-
rückgänge bei den von den Kommittenten gekauften Effecten
ein, so muss es durchaus zulässig sein, dass der Kom-
missionär, um die für seine Kunden eingegangenen Ver-
pflichtungen zu erfüllen, diese „Depots“ weiterbelehnen lässt.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
103
Die unklare Stylisirung des nationalliberalen Antrags
führt dahin, dass die Bestimmungen desselben, in denen
von „anvertrauten“ Inhaberpapieren gesprochen wird, ent-
weder auf den soeben erwähnten häufigsten Fall keine An-
wendung finden, — unter welcher Voraussetzung sie über-
flüssig sind — oder aber, dass dieselben etwas fordern, was
gegen die Absicht der an diesen Geschäften Betheiligten
verstossen muss.
Würden diese Bestimmungen dennoch mit präziserer
Formulirung in letzterem Sinne Gesetz werden, so dass die
Bankiers die Zuschüsse für ihre Kunden nicht aus deren
„Depots“, sondern aus Eigenem zu leisten hätten, so würde
dies die Entwicklung zum Bankgrossbetrieb fördern, indem
die kleinen selbständigen Bankiers nicht genügend kräftig
wären, innerhalb des Rahmens derartiger gesetzlicher Vor-
schriften lohnende Geschäfte zu betreiben. Insofern würde
der Gesetzgeber also durch die Normirung des „Veräusse-
rungsverbots“ (einschliesslich des Verbots, solche Depots
weiterbelehnen zu lassen) eine erhebliche Wirkung erzielen
und es könnte eine Einschränkung und Konsolidirung des
Börsengeschäfts erreicht werden, nämlich in lokaler Hin-
sicht, dort wo (etwa an kleinen Orten) an Stelle der kleinen
Bankiers grosse Aktienbanken nicht entstehen können,
jedenfalls aber in der Art dass die bei der Geschäftsführung
der grossen Institute und Bankiers in Anwendung kom-
menden strengeren Normen eindämmend wirken würden.
Was die weiteren Vorschläge des konservativ-kleri-
kalen Antrags betrifft: es solle „dem Missbrauch des Zeit-
geschäfts als Spielgeschäft (eine präzisere Ausdrucksweise
und richtigere Auffassung, als diejenige des liberalen An-
trags: „dem Börsenspiele sowohl an der Produkten- als
auch an der Effektenbörse“) entgegengetreten werden, der
Börsen- und Geschäftsverkehr solle ihren wahren Auf-
gaben erhalten werden — so sind dies allgemeine Sätze,
welche bei dem Mangel konkreter Angaben nicht weiter
verfolgt werden können.
Die gewünschte Verschärfung der Konkursordnung
kann sich als räthlich erweisen, insbesondere in der Rich-
tung, dass der Wiederbeginn geschäftlicher Unternehmungen
durch Fallite von gewissen Kautelen abhängig gemacht
und dass die Vorschiebung nomineller Firmaträger dauernd
unmöglich gemacht wird u. s. f.
Die Unterstellung der Börsen unter staatliche Aufsicht
ist hingegen kaum anzustreben. Die Erfahrung in anderen
Ländern, vor Allem in Oesterreich, zeigt, dass dieselbe voll-
kommen wirkungslos ist, und nur dazu führt, den Fern-
stehenden, welcher meint, dass die Staatsverwaltung wirk-
lich eine sachliche Prüfung der geschäftlichen Vorgänge
vornehme und vornehmen könne, zu täuschen.
Insolange die grundsätzliche Auffassung, nicht nur
des Börsenverkehrs, sondern des gesammten Geschäfts-
lebens keine radikale Aenderung erfährt, insolange die Er-
zielung eines Gewinns ohne Rücksicht auf die Quelle ■ —
wenn nur das Strafgesetz respektirt wird — zulässig ist,
die Ausnützung von Nachrichten, welche man schneller
und sicherer erlangt hat als Andere, eine nicht nur gedul-
dete, sondern selbstverständliche Grundlage für Börsen-
operationen abgiebt, ist von einer „Staatsaufsicht“ kein
Nutzen zu erwarten. Eine wirkliche Staatsaufsicht würde
tief in den gesammten Verkehr eingreifen, das ängstlich
gehütete Geschäftsgeheimniss vollkommen zerstören müssen
und doch ziemlich erfolglos bleiben.
Die Börse ist eben, wie jüngst anlässlich der Debatte
über die Börsensteuer im österreichischen Abgeordneten-
hause der Finanzminister Steinbach und der czechische
Abgeordnete Kramai' hervorgehoben haben, mit unserem
gegenwärtigen Wirthschaftssystem untrennbar verknüpft.
Man muss sie als eine Individualität in unserer Wirth-
schaftsentwicklung hinnehmen mit ihren Fehlern und Vor-
theilen. Die Börse verdammen, während unsere gesummte
Produktion immer tiefer in die Schwankungen der Kon-
junktur getrieben wird, so dass unsere Industriellen in den
grossen Massenproduktionen an die starken und plötzlichen
Preis-Schwankungen der Rohstoffe und Fabrikate fast mehr
denken müssen, als an den Unternehmergewinn bei der
eigentlichen Produktion — das ist ein Widerspruch, der
unlösbar ist. Man frage jeden Spinnereibesitzer, ob er den
Kurs von Baumwolle und Garn nicht ängstlicher studirt,
studiren muss, als irgend ein Jobber denjenigen von Kom-
manditantheilen der Diskontogesellschaft.
Die Zukunft wird uns nicht eine Einschränkung der
Börsen bringen, sondern eine Erweiterung auf Alles, was
nicht grösste Spezialisirung fordert. Dies liegt so sehr in
der Tendenz unserer Wirthschaftsentwicklung, dass wir den
Ruf nach Abstellung der angeblich nur durch unsaubere
Manipulationen Einzelner hervorgerufenen Preis-Schwan-
kungen sehr bald auf Gebieten vernehmen werden, die
heute davon noch ganz verschont sind. Es ist ein Gemein-
platz, die ausgedehnte Tagesberichterstattung, Telegraph,
Telephon u. dgl. als Ursache für diese Entwicklung hin-
zustellen. In Wahrheit ist es vielmehr die durch die stete
Ueberproduktion hervorgerufene heftige Konkurrenz der
Unternehmer, die zu solchen Ergebnissen drängt. Sowie der
Kleinmeister oft nur mehr dadurch mit der Grossindustrie zu
konkurriren vermag, dass er übermässig Arbeitskraft ein-
setzt, und somit sein Arbeitserzeugniss thatsächlich unter
seinen Produktionskosten verkauft, so wird auch der Gross-
unternehmer vielfach in der Zukunft nur bestehen können,
wenn er beim Ein- und Verkauf glücklich spekulirt und
hierdurch den Gewinnentgang beim Arbeitsprozesse deckt.
Die Effekten- und die Getreidebörse werden zu Musterbildern
für ein allgemeines Börsenthum werden. Das ist eine an
und für sich sehr beklagenswerthe, aber aus unserer Pro-
duktionsweise unvermeidlich sich ergebende Perspektive.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Ueberseeische Auswanderung aus dem deutschen
Reiche. Ueber deutsche Häfen, Antwerpen, Rotterdam
und Amsterdam gingen im Jahre 1891 115 392 reichsdeutsche
Auswanderer, dies sind 20 289 mehr als im Durchschnitte
der 4 Jahre 1887—1890, 23 467 mehr als im Jahre 1890
(91 925), 25 133 mehr als im Jahre 1889 (90 259), 16 877 mehr
als im Jahre 1888 (98 515) und 15 680 mehr als im Jahre
1887 (99 712). Dass die wirthschaftliche Nothlage wesent-
lichen Antheil an der hohen Auswanderungsziffer hat, kann
wohl behauptet werden, obgleich uns leider eine Berufs-
statistik der Auswanderer fehlt. Diese wäre von höchster
sozialpolitischer Bedeutung, sie müsste sich aber nicht nur
auf den Beruf, sondern auch auf die Stellung im Beruf
erstrecken. Einen ganz ungenügenden Ersatz bietet die
in dem Dezemberhefte der „Monatshefte der Statistik des
deutschen Reiches“ nachgewiesene Vertheilung der Aus-
wanderer nach Gebietsteilen des deutschen Reiches. Ver-
gleichen wir auf Grund derselben die Auswanderung aus
den östlichen Provinzen Preussens (Ost- und Westpreussen,
Pommern Posen und Schlesien), so ergiebt sich, dass im Jahre
1891 aus diesen Provinzen 49 020 d. i. 14 219 Personen mehr
als im Durchschnitte der Jahre 1887 — 1890 auswanderten
und zwar 14 094 mehr als im Jahre 1890 (34 906), 16 720
mehr als im Jahre 1889 (32 300), 12 248 mehr als im Jahre
1888, 13 793 mehr als im Jahre 1887 (35 227).
Bedeutend geringer sind auffallenderweise die Unter-
schiede in der Zahl der Auswanderer aus den grossin-
dustriellen Provinzen Preussens (Sachsen, Hannover, West-
phalen, Hessen-Nassau, Rheinland). Aus denselben wan-
104
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLA'IT.
Xo. 8.
derten im Jahre 1891 18 977, d. s. 1584 Personen mehr als
im Durchschnitte der Jahre 1887—1890 aus, und zwar 2 409
mehr als im Jahre 1890 (16 568), 2 093 mehr als im Jahre
1889 (16 884), I 800 mehr als im Jahre 1888 (17 177) und 36
mehr als im Jahre 1887 (18 941). Demnach lässt sich aus
den Auswanderungsziffern auf einen weit grösseren Noth-
stand der ärmeren landwirthschaftlichen als der grossin-
dustriellen Bevölkerung für das Jahr 1891 schliessen.
\\ ir wollen endlich noch die Auswanderung einer
Reihe Bundesstaaten mit stark entwickelter Hausindustrie
hier zusammenstellen. Wir wählen hierzu das Königreich
Sachsen, Sachsen- Weimar, Sachsen-Meiningen, Sachsen-
Coburg-Gotha und die beiden Reuss. Aus diesen Bundes-
staaten wanderten im Jahre 1891 5 504 Individuen, d. s.
2 134 mehr als im Durchnitte der Jahre 1887—1890,' 1 926
mehr als im Jahre 1890 (3 578), 2 308 mehr im Jahre 1889
(3 196), 2 238 mehr als fahre 1888 (3 266) und endlich 2 065
mehr als im Jahre 188/ (3 439) aus. Es lässt sich darnach
wohl der Schluss ziehen, dass die Lage der Hausindustriellen
im Jahre 1891 bedeutend schlechter war als in den voraus-
gegangenen vier Jahren.
Zur Statistik selbst wäre noch zu bemerken, dass die
amtlich publizirten Zahlen kein genaues Bild der deutschen
Auswanderung geben können, da die zahlreichen über
Havre und englische Häfen auswandernden Reichsbürger
nicht ermittelt sind.
Die russische Regierung und die Huugersnoth. Die
russische Regierung versuchte zuerst durch Massreo-eln
zur Regelung des Getreidehandeis und durch Staatsunter-
stützungen in Geld und Korn an die Bauern der
Hungersnoth abzuhelfen. Die ersteren, so namentlich das
Getreideausfuhrverbot, hatten nicht den erhofften ErfoG,
woran der schlechte Zustand der Eisenbahnen und die Un-
entschlossenheit der Regierung Schuld trugen. Auch durch
die staatlichen Unterstützungen, welche durchaus unzu-
reichend waren, konnte die Lage der nothleidenden Bauern
nicht wesentlich verbessert werden, sie blieben schon wegen
des mangelnden Einverständnisses zwischen der Central-
i egierung und ihren lokalen Organen, so wie auch wegen
der zahlreichen Unterschlagungen oft erfolglos.
Diese Massnahmen erwiesen sich als unzureichend;
die Noth wuchs, während die für Bekämpfung derselben
vorhandenen Mittel sich erschöpften.
Durch einen Ukas des Zaren wurde hierauf ein Notli-
standskomitee ins Leben gerufen, das der administrativen
Knse ein Ende machen sollte. Das Nothstandskomitee
sollte die Wohlthätigkeit organisiren und konzentriren. Die
Einberufung des fviothstanclskomitees als sozialpolitische
Aktion betrachtet, war ebenso irrationell wie bezeichnend
für die russischen Zustände.
Irrationell war die Ernennung dieses Komitees des-
halb, weil die Privatwohlthätigkeit weder Konzentrierung,
noch Organisirung bedurfte und weil die grossartige
Entwickelung, welche che Wohlthätigkeit in Russland er-
langt hatte, , in hohem Masse eben durch ihre Freiheit von
offiziellem Zwang bedingt war.
Die Wohlthätigkeit hatte ihre natürlichen Konzentra-
tionspunkte in den Redaktionen grosser Zeitungen und in
hervorragenden Persönlichkeiten gefunden. Iure Organi-
sation war einfach und zugleich zweckmässig. Und die
Opferwilligkeit wuchs fast m gleichem Masse, wie die
.Staatsmassnahmen ihr Ziel verfehlten und die Er-
bffterung gegen die Regierung zunahm. Durch die
Schöpfung des Nothstandskomitees wurde ihr nun ein Ende
bereitet.
Das Nothstandskomitee besteht aus verschiedenen
hochgestellten Personen, die weder genaue Kenntniss der
Sache, die ihnen anvertraut ist, besitzen, noch in irgend
einer Beziehung zu ihr stehen, und die ausserdem unver-
antwortlich sind.
Daher konnte das Komitee von Anfang an auf das
\ ei trauen der Gesellschaft nicht hoffen. Trotzdem trat es
der Privatwohlthätigkeit in den Weg und hat sogar das
Emsammeln von Geld zum Besten cler Nothleidencien den
von ihm dazu nicht ausdrücklich befugten Personen ver-
boten.
Zu seinen Vollziehungsagenten aber hat das Komitee
den Eparchialressort, die Gouverneure und die lokalen
Sektionen der Gesellschaft des Rothen Kreuzes erwählt,
von denen der erste wegen der Desorganisation und der
Bestechlichkeit der Beamten in ziemlich schlechten Ruf
steht, die zweiten gar keine Berührung mit dem Volke
haben, und die dritten sich nur durch schlechte Verwaltung
und Unthätigkeit auszeichnen.
Bisher hat das Nothstandscomitee die unbedeutende
Summe von 789 737 Rubel eingesammelt. Seine Bedeutung
aber ist in den negativen E'olgen seiner Kreirung zu
suchen, die uns hier nicht weiter interessieren, obwohl
gerade sie vielleicht seine raison d’etre bilden.
Ermittelungen über die landwirtschaftliche Boden-
verschulduug in der Schweiz. Am 16. Juni 1891 beauf-
tragte der Nationalrath den Bundesrath, eine Zusammen-
stellung der Thatsachen zu veranlassen, welche über die
landwirtschaftliche Bodenverschuldung und ihre Folgen
in Erfahrung gebracht werden können. In Ausführung
dieses Beschlusses richtete das schweizerische Landwirth-
schattsdepartement an sämmtliche Kantonregierungen unter
dem 5. Februar d. J. ein Kreisschreiben, dem wir entnehmen,
dass der Bundesrath weniger Werth auf eine genaue Stati-
stik der Bodenverschuldung, als vielmehr auf eine Darstel-
lung des Ganges dieser Verschuldung im Allgemeinen, der
Ursachen und der Folgen derselben legt.
Sparkassen im Dienst des Arbeiterwohls. In einer
Zeit, wo so häufig geklagt wird, dass die Sparkassen ihrem
ursprünglich gemeinnützigen Zweck vielfach untreu ge-
worden und m reine Erwerbs- und Spekulationsgeschälte
umgewandelt würden, ist es doppelt erfreulich zu sehen,
wie einzelne Verwaltungen solcher Kassen thatkräftig der
praktischen Sozialrelorm Vorschub leisten, ja sogar selbst
auf diesem Gebiete vorangehen. Es ist bekannt, welchen
strengen \ orschriften die iranzösischen Sparkassen hinsicht-
lich der Anlage der Sparkassengelder unterworfen sind, wie
wenig Aktionsfreiheit sie besitzen, und doch gibt es gerade
unter diesen solche, welche in ihren Bestrebungen für
Hebung des Arbeiterwohls den Sparkassen anderer Länder
ein nachahmungswerthes Beispiel geben.
Besondere Erwähnung verdient in dieser Hinsicht die
Caisse d'Epargne et de Prevoyance des Bouches-du-Rhone
in Marseille. Liese Kasse hat ein Einlagekapital von nahe-
zu 60 Millionen Francs und zählt 27 Hüffsbureaus und
E ilialen. Wie wir dem von ihrem Präsidenten, Eugene
Rostand für 1890 erstatteten Bericht entnehmen, hat die
Kasse mit einem Betrag von ca. 150 000 Francs ein Ar-
beiterquartier erstellen fassen und sich gleichzeitig mit
40 Aktien im Betrage von 20 000 Francs an einem Unter-
nehmen für den Bau gesunder Wohnungen betheiligt.
Ausserdem verwendet sie jährlich l/io des Reingewinns für
soziale Zwecke. Für das Jahr 1890 belief sich die bezüg-
liche Summe auf 1 1 000 Franks. Das Zehntel wird ver-
wendet für Prämien auf Spareinlagen für Miethe und auf
Spareinlagen für Abzahlungen auf Vorschüsse, welche Ar-
beitern ohne andere Deckung als auf das ehrliche Ver-
sprechen der Rückzahlung gewährt werden, ferner für Ein-
richtungen von Werkstätten und überhaupt zu Zwecken
der Arbeitsbeschaffung.
Durch den Bau von Arbeiterhäusern will die Spar-
kasse die Erwerbung eines eigenen Heims ähnlich den
englischen Buildings associations fördern. In gleicher
Weise hat die Sparkasse in Mailand für 80 000 Francs
Aktien in der Societä edificatrice di case operaie über-
nommen. Auch in den Vereinigten Staaten gibt es Spar-
institute, welche ihren Mitgliedern Häuser abtreten, weiche
nach und nach durch Spareinlagen als Eigenthum erworben
werden können.
Die Darlehen gegen blosses Rückzahlungsversprechen,
welche von den italienischen Sparkassen und Volksbanken
schon längst gewährt werden, haben sich für die Arbeiter
als grosse VY olilthat erwiesen und durchaus nicht die nach-
theiligen Folgen gehabt, wie man befürchtete. Das WTort
des ehrlichen Aroeiters hat sich als ebenso gutes Pfand
wie jedes andere erwiesen. Selbstverständlich handelt es
sich hier nicht um grosse Vorschüsse; der Zweck ist, mo=
mentan bedrängten ehrlichen Arbeitern auf diskrete Weise
aus der Verlegenheit zu helfen. Bei der kooperativen Ar-
beiterbank in Mailand, welche seit 1884 besteht, beläuft
sich der Verlust an den sehr zahlreichen Vorschüssen dieser
Art kaum auf 1 %•
No. 8.
SOZIALPOLITISCHES CKNTRALBLATT.
105
Arbeiterzustände.
Eine Aufnahme der ländlichen Arbeiterverhältnisse.
Unter diesem Titel bringt No. 6 des Sozialpolitischen
Centralblattes eine abfällige Kritik der jetzt im Gang be-
findlichen Enquete des Vereins für Sozialpolitik oder viel-
mehr des zu diesem Zwecke vertheilten Fragebogens von
Herrn Dr. Max Quarck.
Obwohl es nicht schwer fallen dürfte, nachzuweisen,
dass dieselbe in ihren wesentlichen Punkten unbegründet
ist, will ich doch hier zur Zeit auf alle Einzelheiten nicht
eingehen, um so weniger als gar nicht alle Schritte und
Massnahmen schon heute feststehen. Die Einleitung des
betreffenden, hoffentlich im Spätsommer erscheinenden
Bandes wird seiner Zeit genau darüber berichten , was
der Verein für Sozialpolitik 'wollte, that und nach seinen
Mitteln konnte. Der unparteiische Leser wird dann selbst
urtheilen können, ob demgemäss das Verfahren zu tadeln,
und ob es recht und billig sei, so im Voraus gegen künftig
erscheinende wissenschaftliche Arbeiten Stimmung zu
machen.
Ich will heute nur drei Punkte konstatiren.
1. hat Herr Dr. Quarck nur den Fragebogen gekannt,
welcher in einigen tausend Exemplaren an die einzelnen
landwirthschaftlichen Arbeitgeber versandt wurde; derselbe
beschränkt sich in wohlerwogener Absicht auf die Eruirung
solcher Thatsachen, hinsichtlich deren eine zuversichtliche
Feststellung von jedem Landwirth erwartet und in Form
von kurzen wo möglichen zahlenmässigen Antworten ge-
geben werden könnte. Was Herr Dr. Quarck in diesem
Fragebogen vermisst, sind lauter Fragen (über Sonn- und
Festtagsarbeit, Ueberanstrengung durch zu lange und un-
geeignete Arbeit, namentlich der Frauen und Kinder, Be-
schaffenheit der Wohnung und Kost, Bildungsverhältnisse,
Mängel der Gesindeordnungen), über die nach unserer An-
sicht nicht jeder Interessent zu fragen war, über die man
nicht im Rahmen eines auszufüllenden Formulars Antworten
einfordern konnte. In Bezug auf diese Dinge ist erst in
jüngster Zeit ein besonderer Schriftsatz an geeignete aus-
gewählte Persönlichkeiten gegangen, mit dem Ersuchen,
uns darüber ihre örtlichen Erfahrungen und ihre Urtheile
in eingehender Darstellung zukommen zu lassen.
2. die Kommission, welche der Ausschuss des Vereins für
Sozialpolitik für die Leitung der Enquete gewählt hat, be-
steht aus den Herren Dr. Thiel, Conrad und Sering, d. h.
denjenigen Sachverständigen aus seiner Mitte, die er für die
besten, mit den Verhältnissen des deutschen Ostens ver-
trautesten hielt und für die zugleich allein die Möglichkeit
vorlag, sich öfter in Berlin zu sehen und zu sprechen.
Wenn Herr Dr. Quarck tadelt, dass man nicht die Herren
Dr. Knapp, Bücher und Schnapper-Arndt zugezogen habe,
so übersieht er, dass schon ihr Wohnort sie von der aktiven
Theilnahme ausschloss und dass die beiden letzteren über
ländliche Arbeiterverhältnisse des deutschen Ostens nie ge-
arbeitet, sie wahrscheinlich nie gesehen haben.
3. was die Befragung der Arbeiter selbst betrifft, so
hätte die Kommission nichts mehr gewünscht, als dies thun
zu können. Aber „ein Schelm gibt mehr, als er hat“. Man
war sich klar, dass eine Befragung derselben, — da wir über
„Staatsbehörden“ nicht verfügen, wie Herr Dr. Quarck
zu glauben scheint, auch als Verein gar nicht wünschen,
uns solcher ausschliesslich zu bedienen — nur möglich
wäre, wenn wir die persönlichen und die sehr grossen
Geldmittel hätten, sie durch monatelang herumreisende
Sachverständige ausführen zu lassen. Dazu fehlte uns
jedenfalls das Geld, auch wenn wir vielleicht die Personen
gefunden hätten. Die Einnahmen des Vereins sind sehr
bescheiden. Er lieferte in den letzten Jahren jedem Mit-
glied für 10 Mk. Jahresbeitrag Schriften für etwa 30 Mk.
er wird deshalb auch seinen Beitrag, so ungern er es thut,
auf 15JMk. erhöhen müssen. Nur durch persönliche Opfer,
durch zeitweilige Deckung des Defizits seitens einzelner
Ausschussmitglieder, durch Honorarverzicht einzelner Mit-
arbeiter etc. kann der Verein finanziell bestehen und seine
umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten ausführen. Dem-
gegenüber ist es unendlich billig zu sagen, ihr müsst Er-
hebungen machen, wie sie nur von parlamentarischen oder
staatlichen Kommissionen, die über unbeschränkte Mittel
verfügen, ausgeführt werden können.
Auch die Vorwürfe, die seiner Zeit dem Band 35 der
Schriften des Vereins über den Wucher auf dem Lande
gewiss in bester Absicht gemacht wurden und auf die Herr
Dr. Quarck zurückkommt, beruhten auf einer ähnlichen Ver-
kennung der Mittel und Möglichkeiten eines solchen Vereins.
Sie forderten Unmögliches und erörterten das Entscheidende
gar nicht, nämlich ob Männer wie Ministerialrath Metz,
Ministerialrath Buchenberger, Regierungsrath Drolshagen,
Freiherr von Cetto, Landrath Knebel, Dr. Franz-Weimar
und alle die anderen Mitarbeiter nicht eine seit Jahrzehnten
angesammelte grosse Erfahrung und Sachkenntniss besitzen
und also von dem Wucher auf dem Lande das wahrste Bild
entwerfen können. Die kleinlich nörgelnden Kritiken
haben in ihrer Wirkung nur dazu gedient, die immerhin
trotz ihrer Unvollkommenheit beste und objektivste Auf-
deckung der schnöden Kreditausbeutung und Bewucherung
der kleinen Leute auf dem Lande, die wir in Deutschland
besitzen, zu verdächtigen; d. h., sie haben die Geschäfte
der Wucherer besorgt und die Wahrheit verschleiert, statt
sie aufzuhellen.
Berlin. Gustav Schmoller,
Vorsitzender des Ausschusses des Vereins für Sozialpolitik.
Erwiderung.
Die Entgegnung, die Herr Professor Schmoller, ein so
verdienstvoller Forscher auf sozialgeschichtlichem Gebiete,
zu diesem mehr praktischen Gegenstände an den Heraus-
geber des Sozialpolitischen Centralblattes gesandt hat, lässt
deutlich erkennen, dass ihm meine Haupteinwendungen gegen
die neue „Aufnahme“ des Vereins für Sozialpolitik nicht ganz
verständlich geworden sind. Ich freue mich deshalb, dem
Vorsitzenden des Vereinsausschusses an der Hand des neuen
und sehr dankbaren Materials, das er uns liefert, meine
Aussetzungen jetzt dadurch näher bringen zu können, dass
ich seiner Entgegnung Punkt für Punkt folge.
1. Herr Professor Schmoller glaubt zunächst, ich hätte
„im Voraus gegen künftig erscheinende wissenschaftliche
Arbeiten Stimmung machen“ wollen, und dieser Verdacht
hat ihn sicher von vornherein daran gehindert, meinen
Ausführungen unbefangen zu folgen. Ich bin in der glück-
lichen Lage, ihm hier eine kleine Verwechslung nachweisen
und mich gründlich von dem schnöden Verdacht reinigen
zu können. Es handelt sich in unserem Falle um die
Vorbesprechung einer sozialstatistischen „Aufnahme“. Bei
einer „Aufnahme“ kann hauptsächlich Zweierlei wissen-
schaftlich nachgeprüft werden: ihre Methode und ihre
Ergebnisse. Die Nachprüfung der Methode darf bereits
vorgenommen werden, ehe die Erhebungsresultate vor-
liegen, wenn sie als feststehend offengelegt ist. In dem
Dezember-Rundschreiben des Ausschusses des Vereins für
Sozialpolitik, welches ich nebst Fragebogen auf Wunsch des
Herausgebers dieser Zeitschrift in No. 6 besprach, wurde
die Methode der beabsichtigten „Aufnahme“ ländlicher Ar-
beiterverhältnisse von der Sammlung des Urmaterials an
bis zur Drucklegung der Ergebnisse offen- und klargelegt.
Dass diese Offen- und Klarlegung eine ziemlich vollständige
war, ist Herrn Professor Schmoller offenbar entgangen: er
würde sonst seine Mittheilung in Absatz 1, dass „erst in
jüngster Zeit ein besonderer Schriftsatz an geeignete aus-
gewählte Persönlichkeiten gegangen“ sei „mit dem Ersuchen,
uns darüber ihre örtlichen Erfahrungen und ihre Urtheile
in eingehender Darstellung zukommen zu lassen“ — er würde
diese Thatsache sonst nicht als etwas Neues hinstellen, das
ich nicht gewusst hätte und in dessen Unkenntniss ich „im
Voraus“ geurtheilt hätte. Das Dezember-Rundschreiben des
106
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 8.
Ausschusses erwähnt auch bereits dieGeneralberichterstatter,
von denen Herr Professor Schmoller jetzt ausführlicher
spricht. Was mir Herr Professor Schmoller jetzt be-
weist, ist nur Etwas, was ich ohne Schande zugestehen
kann. Ich war in meiner Kritik so optimistisch gewesen,
zu glauben, dass jenen Generalberichterstattern die bei der
Sammlung des Urmaterials versäumte direkte Befragung der
Arbeiter in Gestalt von Stichproben nahegelegt werden
könnte. Herr Professor Schmoller belehrt mich, dass ich
diese Hoffnung auf eine nachträgliche Vervollkommnung
der „Aufnahme“ von vornherein hätte fahren lassen sollen.
„Lasciate ogni speranza“ — dies Motto gilt offenbar auch
für verfehlt angefangene „Aufnahmen“ des Vereins für
Sozialpolitik, und es ist ein recht magerer Trost für den
Hoffnungslosen, dass die „geeigneten, ausgewählten Persön-
lichkeiten“ vielfach identisch mit den Ministerialräthen,
Landräthen und Freiherren sein dürften, die Herr Professor
Schmoller von der Wucherenquete her erwähnt. Die „ört-
lichen Erfahrungen und Urtheile“ dieser Herren können nun
einmal vor keinem wissenschaftlichen Forum als Ersatz für
die Befragung der Hauptbetheiligten, der Arbeiter, gelten,
zumal, wenn lediglich eine ganz einseitige Befragung der
Unternehmer vorangegangen ist, bezüglich deren Herr Pro-
fessor Schmoller jetzt selbst zugesteht, dass sie über die
wichtigsten Fragen keine hinreichende Auskunft geben
können. Ich vermag mir also eine gründlichere Bestätigung
der Verfehltheit des Erhebungsprogramms, wie es bereits
durch das Dezember-Rundschreiben des Ausschusses zu
meiner Men nt n iss kam, seitens des Herrn Professor Schmoller
nicht vorzustellen. Meine sachliche Kritik der verfehlten
Methode hoffte eben noch eine Verbesserung der „Aufnahme“
zu erzielen, und sie konnte dies nur dann, wenn sie so bald
als möglich, jedenfalls vor Abschluss der Enquete, veröffent-
licht wurde. Wollte Herr Schmoller eine sachliche Ent-
gegnung meiner Kritik schreiben, so musste er auf meine
methodologischen Aussetzungen eingehen. Leider vermeidet
er dies gerade.
2. Schweres Geschütz, dem ich den Respekt unmög-
lich versagen kann, fährt Herr Professor Schmoller gegen
mich auf, indem er die „persönlichen Opfer, die zeitweilige
Deckung des Defizits seitens einzelner Ausschussmitglieder,
den Honorarverzicht einzelner Mitarbeiter“ als die einzig-
artigen Vorbedingungen erwähnt, unter denen der Verein
für Sozialpolitik bis jetzt seine Arbeiten leisten konnte und
ich gerathe beinahe in das Odium, nicht ganz ohne Schuld
an der geplanten Beitragserhöhung zu sein, da ich so
exorbitante Forderungen an einen Verein stelle, der jetzt
schon jene grossen Opfer erheischte. Mir will es jedoch
scheinen, als ob Herrn Professor Schmoller auch hier
wider W illen eine kleine Verwechslung zwischen Ursache
und W irkung unterliefe. Der Verein für Sozialpolitik
wird nicht durch seine schwachen Mittel in der gründ-
lichen Verfolgung wissenschaftlicher Ziele gehemmt,
sondern er kommt nur dann in Gefahr, jene Gründ-
lichkeit aus dem Auge zu verlieren, wenn er seine Lhiter-
nehmungen seinen Mitteln nicht anpasst. Ein Verein für
Sozialpolitik sollte eben nur Dinge anfassen, die er wissen-
schaftlich erschöpfen kann — im andern Falle riskirt er,
Halbheiten zu begünstigen, die schliesslich doch unter
seinem Namen mit dem Anspruch wissenschaftlicher Voll-
ständigkeit und Gründlichkeit auftreten. Es giebt wich-
tige Aufgaben genug, die er auch mit seinen schwachen
Mitteln bewältigen kann, und wenn er deshalb einmal auch
gegen 10 Mark Jahresbeitrag nicht „für etwa 30 Mark ;
Schriften“ im Jahre durch Zuziehung eines Buchhändler-
mitgliedes vertheilt, so wird dies seiner wissenschaftlichen :
Bedeutung weit weniger schaden, als mangelhaft durch-
gei ährte Enqueten. Wenn nun im vorliegenden Falle nach
der Ansicht des Vereinsausschusses eine „Aufnahme“ länd-
licher Arbeiterverhältnisse durch den Verein vorgenommen
werden sollte, so musste die Methode der Erhebung auch
der Ankündigung des Ausschusses entsprechen, dass eine
„klare und zuverlässige Darlegung der thatsäschlichen Ver-
hältnisse“ erzielt werden solle, „um vorhandene Schäden im
ganzen Arbeitsverhältniss verbessern, mangelhaften Zustän-
den abhelfen, unberechtigten Anforderangen mit Erfolg
entgegentreten und die öffentliche Meinung und damit auch
den Gang der Gesetzgebung rechtzeitig beeinflussen zu
können“. Hier setzte meine Kritik ein: ich suchte nach-
zuweisen, dass diese hochgesteckten Ziele mit den vom
Ausschuss gewählten und dem Verein zu Gebote stehenden
Mitteln nicht zu erreichen seien und dass man deshalb
die Aufgabe enger begrenzen müsse („Stichproben“). Herr
Professor Schmoller ist mir auf diese Einwendung ebenfalls
die Antwort schuldig geblieben, die ich aus so autoritativem
Munde mit hohem Interesse entgegengenommen hätte. Viel-
leicht hinderte ihn auch hier ein fatales Missverständniss.
Er sagt, ich muthete dem Verein Erhebungen zu, wie sie
nur von staatlichen oder parlamentarischen Kommissionen
ausgeführt werden könnten und ich „scheine zu glauben“,
dass der Verein für Sozialpolitik über Staatsbehörden ver-
füge; in Wirklichkeit schrieb ich: „dieser Weg“ (die Be-
nutzung der Staatsbehörden) wäre freilich kaum gangbar
gewesen.“
3. Sicher nähert sich Herr Prof. Schmoller auch meiner
Auffassung von der Art und Weise, wie die Kommission zur
Abfassung des Fragebogens hätte zusammengesetzt werden
müssen, wenn ich ihm dieselbe an der Hand der Einzelheiten
verdeutliche, welche er in seiner „Entgegnung“ mittheilt,
Ich tadelte die unterlassene Heranziehung solcher Vereinsmit-
glieder, welche sich bereits als Kenner der methodologischen
Vorfragen für Enqueten wissenschaftlich und praktisch be-
währt haben und nannte beispielsweise Knapp wegen seiner
Arbeiten über bäuerliche Verhältnisse, Bücher wegen der
von ihm trefflich geleiteten Baseler Wohnungsenquete,
Schnapper-Arndt wegen seiner Erhebungen über die länd-
lichen Hausindustriellen im Taunus und seiner Schrift über
die Methodologie sozialer Enqueten. Herr Prof. Schmoller
antwortet mir, dass zwei dieser Herren „nie über ländliche
Arbeiterverhältnisse des Ostens“ (woher auf einmal nur des
„Ostens?“) „gearbeitet hätten“ und weniger leicht zu Kon-
ferenzen hätten zusammen kommen können. Das sind doch
aber Dinge, welche für die in erster Linie in Betracht
kommende methodologische Qualifikation und die Berück-
sichtigung derselben bei der Auswahl der Verfasser des
Fragebogens nicht ausschlaggebend sind. Herr Professor
Schmoller ist in der wissenschaftlichen Systematik viel zu
sehr geschult, als dass er mir dies nunmehr nicht zuge-
stehen könnte.
4. Bisher bin ich Herrn Prof. Schmoller überall gern
in seinen Ausführungen gefolgt. Er verzeiht mir es deshalb
gewiss, wenn ich mich weigere, ihm auf das Gebiet zu
folgen, das er mit dem Satze betritt: Diejenigen, welche
Schnapper- Arndt’s Ansichten über die verfehlte Wucher-
enquete des Vereins für Sozialpolitik theilten, besorgten
in ihrer Wirkung „die Geschäfte der Wucherer“. Wollte
ich hier folgen, so könnte ich nach derselben Schablone
aus einer sehr fragwürdigen Fabrik antworten: „die Auf-
nahme über ländliche Arbeiterverhältnisse in ihrer vor-
liegenden Gestalt besorgt in der Endwirkung die Geschäfte
der ländlichen Unternehmer“. Ich nehme aber gern den
Tadel auf mich, hier hinter Herrn Prof. Schmoller zurück-
geblieben zu sein und das Gebiet vermieden zu haben, zu
dessen Betretung er mich einlud, zumal ich mir sachlich und
formell nichts damit vergebe. Schnapper-Arndt’s Schrift
bezweckt ja gerade, wie mir jeder Leser derselben bestä-
tigen wird, eine Verbesserung künftiger Wucherenqueten,
damit dieselben gründlicheres Material zur Bekämpfung
der ländlichen Kreditausbeutung liefern, als Band 35 der
Schriften des Vereins für Sozialpolitik. Auch der Umstand,
dass ich mich bei Besprechung einer Arbeiterenquete, die
mit der Frage des Wuchers gar nichts zu thun hat, auf
die Ausführungen Schnapper’s berufen konnte, beweist,
dass der letztere in jener Schrift zu wissenschaftlichen Er-
gebnissen gelangt ist, deren Bedeutung weit über den
damals in Frage stehenden Gegenstand hinausreichen. Ich
bescheide mich deshalb mit diesem Hinweis und hoffe,
der wissenschaftlichen Behandlung der Sache damit einen
Dienst erwiesen zu haben.
Frankfurt a. M.
Max Quarck.
No. 8.
SOZI ALPOL1TISCHES CENTRALBLATT.
107
Die Nothlage in der schweizerischen Stickereiindnstrie.
Eine Reihe von Stickereiarbeitern veröffentlichen in der „Ost-
schweiz“ folgende Zahlen, die ein grelles Licht auf die elenden
Verhältnisse in den Stikereikreisen werfen: Ein Sticker, der
im Tage 2000 Stiche macht - was nach den Gewährsleuten der
„Ostschweiz“ nur bei guter Waare möglich ist — , nimmt im
Jahr 900 Franken ein. Davon geht der Fädlerlohn ab, mindestens
8 Franken in der Woche, und für den Nachsticklohn 120 Franken,
also sind abzuziehen im Ganzen 536 Franken. Somit bleiben
dem Sticker 364 Franken zum Lebensunterhalt für sich und
seine Familie. Ein lediger Sticker hat für die Woche mindestens
10 Franken an Kost und Wohnung zu bezahlen; das macht im
Jahr 520 Franken; er hat somit für 16 Wochen Nichts im Sack,
und dürfte eigentlich nur 36'/2 Wochen im Jahre leben. Die
billigste Familienwohnung um St Gallen herum kostet
240 Franken. Somit bleiben dem Sticker für Lebensmittel,
Kleider, Schuhe u. s. w. 124 Franken für sich und seine Familie.
Zu wenig zum Leben, zu wenig selbst zum Sterben. Eine
Menge dieser armen Leute hat Arbeit gesucht und gefunden bei
den Dammbauten am Rheine; aber auch da verdienen nur die
Wenigsten den höchsten Lohn von 2 Fr. 50 Rp ; die Mehrzahl
bleibt aut dem Minimallohn von 1 Fr. 70 Rp.; denn die Stickerei
macht den Körper nicht geeignet zum Sandschaufeln und Karren-
stossen. Oft wenn das Wetter gar zu schlecht ist, muss zudem
die Arbeit am Damm eingestellt werden, und dann verdienen
die Armen gar nichts.
An einer anderen Stelle schreibt das gleiche Blatt:
„Wir malen durchaus nicht zu schwarz, wenn wir sagen,
dass in unsern Arbeiterkreisen jene Gährung Platz zu greifen
beginnt, welche zur Raserei der Verzweiflung werden kann;
man hört heute Leute vom „Ueber den Haufen scbiessen“ in
einem Tone reden, als ob das selbstverständlich wäre, und zwar
Leute, die in einer halbwegs normalen Zeit jede Gewaltthat tief
verabscheut hätten. . . Wir möchten befürworten, dass die Mit-
glieder der Bundesversammlung aus den Kantonen Thurgau,
St. Gallen und Appenzell in der ausserordentlichen März-Session
einen Antrag auf sofortige Bewilligung eines Nothstandkredites
von mindestens fünf Millionen Franken durch den Bund ein-
brächten. In ähnlichen Fällen ist man in Frankreich, England
und andern Staaten auch so vorgegangen. Ein solcher Kredit
wäre dann auf die verschiedenen Nothstandsgebiete der Schweiz
zu vertheilen; solche sind ja nicht mehr blos die Sitze der
Uhren- und Stickerei-Industrie, sondern auch gewisser Branchen
der Seiden- und Baumwollindustrie “
Mittlerweile hat der St. Gallische Regierungsrath in Sachen
des Nothstandes auf den 16. d. eine Konferenz von Delegirten
der Kantonsregierungen von Thurgau, Zürich, beiden Appenzell
und St. Gallen, sowie des Stickereiverbandes einberufen, an
welcher insbesondere in zwei Richtungen Berathungen gepflogen
werden sollen:
1. Gewährung eines Rechtsstillstandes für die vom Noth-
stand betroffenen Kreise der Stickerei-Industrie (Art.
62 des eidg. Betreibungsgesetzes);
2. Erhebungen über den Nothstand und Mittel und Wege,
um demselben zu begegnen und die Nothleidenden zu
unterstützen.
Aus der Eingabe heben wir folgende Stellen hervor:
„Zweifellos ist ein ganz ausserordentlicher Nothstand vor-
handen; eine Masse von Stickereifamilien stehen erwerb- und
brodlos auf der Strasse. Viele, sehr viele haben fast nichts zu
essen und sind gezwungen, um Unterstützung bei mildthätigen
Mitmenschen nachzusuchen. Wir brauchen uns nicht in Schilde-
rungen des Elends zu ergehen, das uns täglich vor Augen tritt.
Sie kennen dasselbe zweifellos aus eigener Anschauung oder
aus der Presse. Die Thatsachen sind notorisch.“
„Nach allgemeiner Auffassung kann es nicht zweifelhaft
sein, dass die gegenwärtige Krisis unserer Hauptindustrie als
ein Landesunglück zu taxiren ist. Der Sinn des Gesetzes kann
wohl nur Landesunglück betreffen, das vorübergehender Natur
ist; ein Moratorium kann nur auf beschränkte Zeit bewilligt
werden. Das trifft bei industriellen Krisen zu. Wenn nun die
gegenwärtigen Verhältnisse der Stickerei-Industrie so sind, dass
einzelne Faktoren, die sie niederdrücken, dauernder Art sein
dürften, so sind doch auch mehrere rasch veränderliche Momente
vorhanden, die mit Sicherheit darauf schliessen lassen, dass eine
verhältnissmässige Besserung nach kürzerer Zeit eintreten dürfte.
Für diese Periode ist eine Einstellung des Schuldentriebes wohl
berechtigt und begründet.“
Eine grosse Kreisversammlung von Stickerei-Interessenten
in Speicher (Appenzell) fasste am 15. d. folgende Resolution:
„In Erwägung, dass die derzeitigen Lohnverhältnisse es dem
Arbeiter unmöglich machen, zu existiren, ohne die Wohlthätigkeit
der Behörden zu beanspruchen, dass Ueberproduktion die Ur-
i sache der drückenden Geschäftslage und Verdienstlosigkeit ist,
erhebt die Versammlung Protest gegen die Aufhebung des
Minimallohnes, verlangt dagegen Reduktion der Arbeitszeit, bis
Produktion und Konsumtion wieder in Einklang stehen.
Eine zweite grosse Versammlung von Einzelstickern in
' Herisau (Appenzell) fasste am 14. d. folgende Beschlüsse:
1. Am Stickereiverband ist festzuhalten, sofern in abseh-
barer Zeit bessere Zustände geschaffen werden;
2. es ist die Wiedereinführung des Minimallohnes durch
die zuständigen Organe anzustreben;
3. ebenso ist ein inniger Zusammenschluss aller 5000
Einzelsticker nothwendig.
Zur Lage (1er Arbeiter in Italien. Der englische General-
konsul in Florenz hat im vorigen Jahre einen Aufsatz im Foreign
Office über die Lage der Arbeiter in Italien während der
Jahre 1862 bis 1889 veröffentlicht. Eigentümlich ist darin die
Berechnung der Anzahl von Arbeitsstunden, welche nothwendig
sind, um 100 kg Weizen kaufen zu können; nämlich 1862: 195
Arbeitsstunden, 1867: 203, 1871: 183, 1881: 122, 1889: 95. Danach
hätte sich auf den ersten Anschein die Lage der italienischen
Arbeiter nicht unwesentlich gebessert, wenn nicht der Weizen
bedeutend billiger geworden wäre, 100 kg kosteten nämlich nach
dem annuario statistico 1889 im Jahre 1871: 31,37 L., 1881: 27,19 L.
und 1889 nur 23,60 L. Andererseits ist aber das Kilogr. Rindfleisch
in Florenz, dem Sitze des Konsuls, nach derselben Quelle ge-
stiegen von 1,20 in 1871 auf 2,09 L. in 1889. Endlich sind auch die
Wohnungen theurer geworden, so dass in Wirklichkeit eine
Aufstellung wie die des Generalkonsuls nichts weniger als ge-
eignet ist, ein richtiges Bild der Lage der italienischen Arbeiter
zu geben, ganz abgesehen auch noch davon, dass ein Arbeiter
das Korn nicht nach Doppelzentnern einzukaufen pflegt.
Arbeitszeitreduktion in der schweizerischen Spinnerei
und Weberei. Der schweizerische Spinner- und Weberverein
war vor Kurzem in Zürich, etwa 85 Mitglieder stark, versammelt,
eine Zahl, welche noch bei keiner Versammlung bisher erreicht
wurde.
Verhandelt wurde die angeregte Reduktion der Arbeits-
zeit. Deren absolute Nothwendigkeit wurde emmüthig anerkannt,
um den Produktenmarkt soweit zu regeln, dass er vor der Ueber-
produktion einigermassen geschützt wird. Wenn auch die Lage
der Spinnerei zur Zeit noch etwas besser ist als diejenige der
Weberei, welch letztere vorzugsweise aufs Inland angewiesen
ist, so will die Spinnerei dennoch Hand zu einer Verständigung
bieten.
Einstimmig wurde beschlossen, es sei vom 1. April an
die wöchentliche Arbeitszeit auf 5 Tage zu beschränken. Ein
Antrag, die Reduktion sofort eintreten zu lassen, wurde mit
Rücksicht auf die Arbeiter nicht angenommen, welchen Zeit
gelassen werden soll, sich auf die Eventualität vorzubereiten.
Der Beschluss tritt in Kraft, sobald drei Viertheile aller Mit-
glieder schriftlich ihre Zusage ertheilt haben werden. Am Zu-
standekommen der Vereinbarung ist nicht zu zweifeln, da %
sämmtlicher Spinner und Weber in der Versammlung vertreten
waren.
Lohnverhältnisse der Basler Posamenter. Bei der Be-
gründung seines Antrages, statistische Erhebungen über die
ökonomischen Verhältnisse der Textilarbeiter in Basel - Stadt
vorzunehmen, führte der Grossrath Bärwart folgendes über die
Lage im Posamentirergewerbe der gesetzgebenden Behörde, dem
Grossen Rathe des Kantons Basel-Stadt, vor :
Ich habe mir die Mühe genommen, Lohnzettel und Auf-
zeichnungen von Löhnen von Posamentern und Zettlerinnen zu
sammeln und die Zahlen zusammenzustellen, die folgendes
Resultat ergaben :
Ein junger Posamenter" verdiente vom November 1889 bis
November 1891, also in zwei Jahren, Fr. 1063,15, per Jahr
Fr. 531,57 oder per Tag Fr. 1,77.
Ein anderer ca. 40 Jahre alter Posamenter, der als Durch-
schnittsarbeiter gilt, verdiente vom Juli 1886 bis Mai 1888, also
in ca. zwei Jahren, Fr. 1610,05, per Jahr Fr. 805,02 oder per Tag
Fr. 2,68
Eine Posamenterin, ebenfalls Durchschnittsarbeiterin, ver-
diente vom August 1886 bis August 1890, also in vier Jahren,
Fr. 2542,60; per Jahr Fr. 635,65 oder per Tag Fr. 2,12.
Ein weiterer Posamenter, der als sehr guter Arbeiter gilt,
verdiente vom Januar 1885 bis Ende Dezember 1885 Fr. 908,25
oder per Tag Fr. 3,03.
Von zwei weiteren Posamentiererinnen, von denen die eine
als eine sehr gute, die andere als eine Durchschnittsarbeiterin
filt, verdiente die erstere vom Januar 1885 bis Dezember 1885
r. 890,55, also per Tag Fr. 2,96, die andere vom Januar 1891 bis
Dezember 1891 Fr. 750, d. i. per Tag Fr. 2,50.
Noch geringer als die Löhne der Posamenter sind die der
Zettlerinnen und Winderinnen. Eine Zettlerin verdiente im
Jahre 1891 nach genauen Aufzeichnungen Fr. 592,27 oder per
Arbeitstag Fr. 1,97; eine andere im gleichen Jahr Fr. 430,88 oder
per Tag Fr. 1,43. Eine Winderin stellt sich höchstens aut
Fr. 1,20 täglich.
108
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 8.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
; —
Die französischen Arbeitsbörsen.
Eine seitens der Sozialpolitiker bisher nur wenig ge- ,
w ürdigte Institution ist die der Arbeitsbörsen. Und doch
dürfte sie, wofern nicht alle Anzeichen trügen, mehr wie
jede andere berufen sein, innerhalb der französischen
Arbeiterbewegung und mit ihr in der sozialpolitischen
Bewegung Frankreichs eine führende Rolle zu spielen. In
jedem Falle aber — das kann heute schon mit Sicherheit
gesagt werden — werden sie sich in ihrer Fortentwicklung zu
einem Faktor gestalten, mit dem Staat und Gemeinde immer
mehr zu rechnen haben werden. In ihnen konzentrirt sich
nicht nur die organisirte Arbeiterschaft, sie bilden nicht
nur den Sammelpunkt der Gewerk- und Fachvereine, son-
dern sie üben auch eine bedeutende Adhäsionskraft auf die
unorganisirten isolirten Arbeiter aus, die sich denn in der
Folge auch immer mehr zu Körperschaften vereinigen.
Recht deutlich tritt dies schon dadurch hervor, dass unter
den sieben Städten, welche das jüngste vom Handelsmini-
sterium herausgegebene Jahrbuch der Gewerbesyndikate
als diejenigen anführt, die im abgelaufenen Berichtsjahr
(1. Juli 1890 bis 1. Juli 1891) den grössten Zuwachs an
Arbeitersyndikaten erhielten, vier mit Arbeitsbörsen aus-
gestattete an der Spitze stehen, und zwar Paris mit 23,
Lyon mit 18, Saint-Etienne mit 13 und Bordeaux mit II
neuen Syndikaten. Dabei ist deren Mitgliederzahl in Paris
allein von 37 168 auf 58 514, d. i. um 21 346 gestiegen. Dieser
immense Zuwachs, in einem so kurzen Zeitraum, lässt sich
nur durch die Errichtung der Central-Arbeitsbörse erklären,
deren Eröffnung schon im vorigen Jahre erwartet wurde,
aber wahrscheinlich erst am 14. Juli d. J., dem National-
testtag zur Erinnerung an den Bastillensturm, stattfinden
dürfte.
Diese Arbeitsbörse, die wohl verdient, geschildert zu
werden, ist ein auf Kosten der Stadt in der Rue du Chateau
d’Eau, in unmittelbarer Nähe der Place de la Republique,
errichtetes Monumental-Gebäude, einzig und allein bestimmt,
der Sache der Arbeit zu dienen. Es zählt fünf Stockwerke,
von welchen das erste einen Bibliotheks- und Lesesaal im
Ausmaasse von 72 Metern, sowie mehrere für die Exekutiv-
kommission bestimmte Räume enthält, während die vier
übrigen Stockwerke je einen Konferenzsaal und 33 für die
einzelnen Gewerkschaften bestimmte Bureaux, also im
Ganzen 4 Konferenzsäle und 132 Bureaux enthalten. Inder
Mitte des Gebäudes befindet sich ein mit Glas gedeckter
Versammlungssaal, der ausschliesslich für Gewerkschafts-
versammlungen und -Kongresse bestimmt ist. Er hat einen
Flächenraum von 450 Quadratmetern und bietet in schwach
aufsteigender Richtung Sitzplätze für 1500 Personen. DerFuss-
boden, aus dicken Glastafeln bestehend, bildet gleichzeitig die
Decke eines unterhalb befindlichen Saales, der einen Flächen-
raum von 425 Quadratmetern hat und zur Aufnahme von
Taglöhnern und sonstigen Arbeitsleuten bestimmt ist, die
sonst gewöhnlich gezwungen sind, unter freiem Himmel auf
Arbeit zu warten. Ausserdem wird die Centralbörse noch
ein eigenes Post- und Telegraphenbureau, sowie Telephon
besitzen und neben Gas- auch elektrische Beleuchtung
haben.
Die gegenwärtige Arbeitsbörse, die nach Eröffnung
der Centralbörse eine Filiale derselben bilden wird, liegt
in der Rue Jean Jacques Rousseau und besitzt einen grossen
mit einer Gallerie versehenen Versammlungssaal, einen
Konferenzsaal und 21 Bureaux, wovon eines das General-
sekretariat inne hat, während die übrigen zwanzig den
verschiedenen Syndikaten hauptsächlich zur Arbeitsvermitt-
lung dienen. Ihre Organisation ist gegenwärtig folgende:
Sämmtliche zur Arbeitsbörse gehörenden Arbeitersyndikate —
ihre Zahl beträgt gegenwärtig 195, darunter einige
Frauensyndikate — wählen je einen Delegirten, welche zu-
sammen das Generalkomitee bilden, das über alle die
Arbeitsbörse betreffenden Angelegenheiten endgiltig zu
entscheiden hat. Behufs Vorstudiums einzelner die Arbeiter-
schaft berührender Fragen theilt es sich in mehrere Kom-
missionen, die das Ergebniss ihrer Berathungen der General-
konferenz, die mindestens einmal im Monat Zusammentritt,
zur Beschlussfassung zu unterbreiten haben. Die Durch-
führung sämmtlicher Beschlüsse obliegt der Exekutiv-
kommission, die aus 21 Mitgliedern besteht und alljährlich
von dem Generalkomitee aus seiner Mitte gewählt wird.
Diese Kommission theilt sich ihrerseits in eine Verwaltungs-,
eine Finanz-, eine Propaganda- und eine statistische Kom-
mission und wählt aus ihrer Mitte zwei Sekretäre, einen
Kassierer, sowie einen Archivar bezwc Bibliothekar. Sie
hat auch für die Redaktion des offiziellen Blattes, sowfie des
Jahrbuches der Arbeitsbörse, Sorge zu tragen. Das Blatt
erscheint einmal wöchentlich und führt den Titel: „La
Bourse du Travail, Bulletin officiell des chambres syn-
dicales et groupes corporatifs ouvriers de la ville de Paris“.
Es bringt die Verhandlungen und Beschlüsse des General-
komitees, sowie der verschiedenen Kommissionen. Berichte
über die wichtigsten Vorgänge innerhalb der französischen
und ausländischen Arbeiterbewegung, statistische Mitthei-
lungen über die Arbeitsvermittlung u. s. w. Von den
Jahrbüchern, über die besonders zu berichten sein wird,
sind bisher zwei erschienen; das dritte, für welches der
Munizipalrath eine besondere Subvention (5000 Fr.) votirt
hat, erscheint demnächst. Zur Bestreitung sämmtlicher
Kosten erhält die Arbeitsbörse, abgesehen von der freien
Lokalität, eine jährliche Subvention von 20 000 Frcs., wofür
sich der Munizipalrath nur das Recht der Kontrolle Vor-
behalten hat.
Ausser dieser Arbeitsbörse, die am 3. Februar 1887
eröffnet wurde, zählt Frankreich gegenwärtig noch zwölf.
Eine geringere Zahl von Gewerkschaften umfassend und
von ärmeren, zum Theil 'auch weniger vorgeschrittenen
Gemeinden errichtet, treten sie natürlich auch minder her- :
vor, als die Pariser Arbeitsbörse, deren Organisation sie
übrigens soweit als thunlich nachgebildet haben. Hier die <
vorliegenden wichtigsten Mittheilungen über dieselben :
Die Arbeitsbörse von Nimes, errichtet am 1. März 1887,
zählt 9 Gewerkschaften. Ihr von der Stadt für 500 Frcs.
jährlich gemiethetes Lokal zählt nebst der Aufseherwohnung
nur noch zwei Räume; doch wird sie in Bälde ein bedeutend
geräumigeres Lokal haben, da der Munizipalrath in seiner
Sitzung vom 2. Juli v. J. für den Bau einer Arbeits-
börse 50 000 Frcs. votirt hat. Vorläufig erhält sie nur eine ■
Subvention von 1660 Frcs., weshalb denn auch ihr offizielles
Blatt nur einmal vierteljährlich erscheint. Die Arbeitsbörse !
von Marseille, gegründet am 22. Oktober 1888, umfasst
64 Gewerkschaften. Sie ist in einem städtischen Gebäude
untergebracht, dessen Umgestaltung allein 28 000 Frcs. ge-
kostet hat. Ihre Subvention beträgt 10 000 Frcs., wovon
7000 vom Munizipalrath und 3000 vom Generalrath. Sie
giebt ein Monatsblatt heraus, das den Titel „L’Ouvrier
syndique“ führt. Die Arbeitsbörse von Saint Etienne,
errichtet am 21. Februar 1889, zählt 32 Gewerkschaften.
Für die Räumlichkeiten, die sie inne hat, zahlt die
Stadt eine jährliche Miethe von 2500 Frcs. Ihr Jahres-
budget, für das ebenfalls die Stadt aufkommt, beträgt
12 000 Frcs. Das Organ der Arbeitsbörse erscheint halb-
monatlich. Nebenbei sei hier noch bemerkt, dass der
Gemeinderath von Saint Etienne einer der vorgeschrittensten
ist, der dies neulich erst dadurch bekundet hat, dass
er für den jüngst daselbst stattgehabten Kongress der
Arbeitsbörsen 200 Frcs. votirt hat. Die Arbeitsbörse von
Toulon wurde am 15. Oktober 1889 errichtet. Ende
Juni v. J. zählte sie acht Gewerkschaften. Betreffs ihres
Lokals wie Budgets liegen keine Mittheilungen vor.
Bordeaux zählt zw-ei Arbeitsbörsen, eine munizipale und
eine unabhängige. Die erstere wurde am 1 . März 1890 eröffnet.
Sie nimmt nur solche Gewerkschaften auf, die dem Syndi-
katsgesetze vom 21. März 1884 nachgekommen sind. Die
Zahl derselben beträgt zehn. Das Lokal dieser Arbeits-
börse, ein ehemaliges Theater, ist ein sehr geräumiges. Es
zählt 20 Bureaux für Ausschussversammlungen, ein Amphi-
theater für Generalversammlungen und Konferenzen, eine
Halle für den Aufenthalt Arbeitsuchender, ein Stellen-
Nu. 8.
SOZIALPOI JTISCHES CENTRALB1 .ATT.
vermittlungsbureaux und mehrere Säle für gewerbliche Un-
terrichtskurse. Die Verwaltung liegt fast ausschliesslich in
den Händen der Stadt. Dies veranlasste denn auch mehrere
der „Union des chambres syndicales ouvrieres de Bor-
deaux et de la region“ angehörigen Gewerkschaften
am 29. Juni 1890 eine unabhängige Arbeits - Börse
zu gründen. Dieselbe zählt 30 Gewerkschaften, d. i. gerade
dreimal so viel als die municipale und gibt ein Monatsblatt
„Bulletin officiel de la Bourse du Travail independante,“
heraus. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass mit der
Zeit, vielleicht schon nach den nächsten Gemeinderaths-
wahlen, ihre Forderung nach Selbstverwaltung, wie dies
auch auf dem Kongress zu St. Etienne einstimmig ausge-
sprochen wurde, durchdringt und so aus beiden Arbeits-
börsen eine gebildet wird, die, wenngleich vom Gemeinde-
rath subventionirt, von ihm unabhängig bleibt. Die Arbeits-
börse von Toulouse wurde am 20. September 1890 errichtet.
Sie zählt 27 Gewerkschaften und gibt ein „Bulletin officiel“
heraus, das monatlich einmal erscheint. Ihr Lokal, das sie
übrigens nur provisorisch besetzt hält, ist ein für ihren Wir-
kungkreis zu beschränktes; doch wird sie in Bälde ein
eigenes Gebäude haben, das die Stadt für sie herrichten
lässt. Wie das Lokal, ist auch ihr Budget vorläufig ein
bescheidenes; es beträgt 150—200 Frcs. monatlich. Die
Lyoner Arbeitsbörse, errichtet am 11. Januar 1891, zählt
45 Gewerkschaften und ist im ehemaligen Varietes-Theater
untergebracht, wofür die Gemeinde eine jährliche Miethe
von 13 000 Frcs. zahlt. Ihr Budget für das eben abgelaufene
erste Jahr betrug 10 000 Frcs. Ihr offizielles Organ „Le
Travail“ erscheint monatlich. Gegenwärtig befindet sich die
Arbeitsbörse in einer Krise, die wohl nur eine vorüber-
gehende ist. Die Stadt hat nämlich an ihre diesjährige Sub-
vention Bedingungen geknüpft, welche die Unabhängigkeit
der Verwaltung illusorisch machen würden, was zur Folge
hatte, dass sämmtliche Gewerkschaften die Arbeitsbörse
räumten. Die Arbeitsbörse von Beziers, eröffnet am
5. April 1891, zählt 12 Gewerkschaften und gibt ein Monats-
blatt, „Le Travailleur“, heraus. Das Gebäude, dessen Er-
richtung 29 000 Frcs. gekostet hat, ist zweistöckig und zählt
acht geräumige Bureaux, einen grossen Konferenzsaal,
einen Bibliotheks- und Lesesaal, sowie zwei grosse Säle mit
Feldbetten, speziell als Nachtquartier für durchreisende
Arbeiter bestimmt. Ihr Budget, bez. Subvention beträgt
6500 Frcs. Von den übrigen, in Montpellier, Cholet
und Roanne erst jüngst begründeten Arbeitsbörsen lässt
sich, — die älteste, die von Montpellier, wurde erst am
28. Juni v. J. eröffnet — noch wenig und kaum Mittheilens-
werthes berichten.
Zu den hier aufgezählten Arbeitsbörsen werden sich
in Bälde mehrere neue gesellen, und zwar in Cette,
Nantes, St. Quentin und Troyes, wo dieselben bereits
in Bildung begrilfen sind. Ausserdem tragen sich neueren
Mittheilungen zufolge, auch Nizza und St. Nazaire mit
der Errichtung von Arbeitsbörsen, und fallen die am 1 . Mai
in ganz Frankreich — mit Ausnahme von Paris — statt-
findenden Gemeinderathswahlen nach dem Wunsche der
organisirten Arbeiterschaft aus, dann kann es an der baldigen
Errichtung noch vieler anderer Arbeitsbörsen nicht fehlen.
Mit der Vermehrung und Entwickelung der Arbeits-
börsen, den Centren der Gewerkschaftsbewegung, innerhalb
deren es Syndikate gelernter wie ungelernter, Hand- wie
Kopfarbeiter giebt, gewinnt die Arbeiterschaft allmählich eine
Macht, die, je freier sie sich entfalten kann, eine desto
friedlichere Umgestaltung der sozialen Verhältnisse ge-
stattet. Merkwürdigerweise sind es gerade diejenigen, die
sonst immer Gournay’s berühmt gewordenes „Laissez faire,
laissez passer“ im Munde führen, welche die Staatsgewalt
gegen die „Tyrannei der Arbeitersyndikate“ aufrufen. Sie
verlangen volle Vertragsfreiheit zwischen Kapital und Ar-
beit, wollen aber gleichzeitig, dass der eine der beiden
Kontrahenten verhindert werde, aus jener Lage herauszu-
treten, in der er sich allen Bedingungen willenlos fügen
muss. Was sie unter Freiheit verstehen, wird so zur Ge-
bundenheit der Arbeit. Um diese zu lösen, wurden eben
die Arbeitsbörsen geschaffen. Wie die Effekten- und
109
! Waarenbörsen Wahrzeichen des Kapitalismus, so sind jene
Wahrzeichen der aufstrebenden Arbeit. Damit hört aber
auch trotz der gleichlautenden Bezeichnung, jedes Gleich-
niss auf. Anfangs wähnte freilich so Mancher, dass man
auf den Arbeitsbörsen — und daher ihr Name — die Markt-
preise der Arbeitskraft, die Lohnhöhe, wird bestimmen
können, wie man auf den sonstigen Börsen den Marktpreis
von Werthpapieren, Getreide etc. bestimmt. So hatte der
Pariser Munizipalrath noch im Jahre 1884 projektirt, dass
nach Kreirung der Arbeitsbörse sich dieselbe mit den
Handelskammern und Gemeindeverwaltungen Frankreichs
und des Auslandes telegraphisch in Verbindung setzen solle,
um von den „hauptsächlichsten Arbeitspreisen“ unter-
richtet zu sein. Dabei vergass man, dass der Preis der
Arbeitskraft, die sich nicht gleich anderen Waaren vom
Besitzer trennen lässt, auch noch von anderen Verhältnissen
als von Angebot und Nachfrage abhängig ist, und dass
wenngleich der böhmische oder schlesische Kohlenarbeiter
einen so niedern Lohn empfängt, dass er sich von Kar-
toffeln und Heringsuppe nähren muss, ihr französischer
Kollege darum keinen Sou weniger nehmen, ebensowenig
wie ihm der Minendirektor freiwillig auch nur einen
Centime zulegen wird, wenngleich er erfährt, dass die eng-
lischen Grubenarbeiter einen viel höhern Lohn erhalten.
Man war denn auch bald von dieser Idee abgegangen und
ehe die Arbeitsbörse eröffnet wurde, war der Munizipal-
rath sich klar, dass sie bei all’ ihrem Wirken für die
momentanen Interessen der Arbeiter gleichzeitig der viel
höheren Aufgabe, der Emanzipation der Abeiter zu dienen
habe. In der That sagte der Präsident des Munizipalrathes,
G. Mesureur, gegenwärtig Abgeordneter von Paris, bei
Eröffnung der Arbeitsbörse, angesichts der Vertreter
sämmtlicher Gewerkschaften: „Im Namen der Munizipalität
von Paris weihe ich eine Institution ein, welche ganz
der Arbeit, ihrer Organisation und Befreiung dienen
wird. . . . Rufen sie sich in Erinnerung, dass das Proleta-
riat Jahrhunderte gebraucht hat, ehe es die politische Frei-
heit und Gleichheit erlangt hat; Sie werden in Bälde das
Werkzeug besitzen, das Ihnen gestatten wird, diese Frei-
heit, der man sich zu bedienen wissen muss, zu einer wirk-
lichen zu gestalten, und an jener sozialen Gleichheit zu
arbeiten, die, wenn wir nach dem gegenwärtigen Zustande
urtheilen, in welchem die allzu jungen, zu schwachen und
alten Wesen so schwer ihren Platz am Bankett des Lebens,
wie man es genannt hat, finden, noch in weiter Ferne
liegt.“ Und dass die Arbeitsbörsen dieser Aufgaben sich
vollkommen bewusst sind, das hat eben ihr erster Kongress
zu St. Etienne bewiesen.
Paris. Leo Frankel.
Strikes und Lockouts in England. Aus dem soeben
erschienenen Bericht Mr. Burnetts über die Strikes und
Lockouts, welche im Jahre 1890 in England .stattgefunden
haben, ist zu ersehen, dass in diesem Jahre des gewerblichen
Aufschwungs auch die Zahl der Strikes eine gewaltig grosse
gewesen ist. Wenn trotzdem der Verlaut der Arbeiterbewegung
in England in dem genannten Jahre das Interesse weiterer
Kreise scheinbar weniger als früher erregt hat, so dürfte dies
darauf zurückzuführen sein, dass der Arbeiterbewegung des
Jahres 1890 das Charakteristikum fehlte, welches das vorher-
gehende Jahr so scharf hervortreten liess, nämlich das erst-
malige gemeinsame Auftreten der ungelernten Arbeiter, vor
Allem der Dockarbeiter.
Der erwähnte, dem englischen Board of Trade er-
stattete Bericht gibt Nachweisungen über 1028 Strikes, von
denen eine grosse Anzahl allgemeine Strikes waren. Die
Zahl der gewerblichen Unternenmungen, deren Arbeiter an
diesen Strikes betheiligt waren, betrug nicht weniger als 4382.
Hauptsächlich betroffen wurden die Baumwoll- Industrie, das
Baugewerbe, die Transport- Anstalten, der Bergbau, die Beklei-
dungs-Industrie, der Schiffsbau, der Maschinenbau und das
Wollengewerbe. Die genannten Gewerbe sind geordnet nach
der Zahl der Strikes, welche in dem betreffenden Industriezweige
stattgefunden haben. Die Zahl der Strikes, welche im Jahre
1890 auf Irland und Wales entfallen, hat sich, im Vergleich mit
1889 und mit der Zahl der in England und Schottland zum
Austrag gelangten Strikes, relativ erhöht.
SOZ I ALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 8.
I 10
Im Vordergründe steht auch im Jahre 1890 die Lohnfrage,
Nicht weniger als 639 oder 62 % der Gesammtzahl der
Strikes wurden verursacht durch Forderungen nach Lohn-
erhöhungen bezw. durch den Widerstand gegen Lohnherab-
setzungen. Von den erstgenannten waren ganz oder theilweise
erfolgreich 68,7 u o, mit einer Niederlage der Arbeiter endeten
21,1 '/0; gegen Lohnherabsetzung wurde mit ganzem oder theil-
weisem Erfolg Widerstand geleistet bei 57,8"/,,, während bei
33,7l.'/u der Widerstand der Arbeiter sich als nutzlos erwies.
Um Verkürzung der Arbeitszeit handelte es sich bei 23 Strikes,
von denen 69% erfolgreich verliefen. 59 Strikes gelangten
zum Ausbruch, weil Mitglieder von Trades-Unions sich weigerten,
mit nicht unirten Leuten zu arbeiten, doch unterlagen die Ar-
beiter in etwa 35 Fällen. Die Zahl der Strikes aus Sympathie
zeigt eine Abnahme: 63,1 % dieser Strikes gingen erfolglos aus.
Von der Gesammtzahl der 1028 Strikes waren ganz oder
theilweise von Erfolg begleitet 59,7%. Für die Arbeiter un-
glücklich verliefen 31,3%, in den übrigen Fällen ist das Ergeb-
niss nicht bekannt geworden. An 275 erfolgreichen Strikes
waren betheiligt 213 807 Arbeiter; an 888 theilweise erfolgreichen
Strikes nahmen Theil 66 029 Arbeiter. 254 Strikes, welche für
die Arbeiter unglücklich verliefen, umfassen rund 102 000 Ar-
beiter. Die durchschnittliche Dauer eines Strikes war 17,3 Tage
im Jahre 1890, 18,6 Tage im Jahre 1889, 19 Tage im Jahre 1888.
56 % der Strikes des Jahres 1890 wurden durch Einigung
(Conciliation), 15% durch Vermittelung Dritter (Mediation;,
27% durch Schiedsspruch ( Arbitrationj beigelegt.
Auf eine von lvlr. Burnett an die Trades-Unions gerichtete
Anfrage, welches Mittel am besten zu empfehlen sei, um gewerb-
lichen Streitigkeiten vorzubeugen oder dieselben beizulegen,
antworteten 200 Trades-Unions. Von diesen erklärten sich 92
lür Einigungsämter (eine davon für ein staatliches Einigungs-
amt;; 59 waren für Schiedsspruch (von diesen wollten 2 das
Schiedsamt obligatorisch machen, 5 wollten staatliche Schieds-
ämter haben;; 25 Trades-Unions hielten die Verallgemeinerung
trade-unionistischer Anschauungen und Prinzipien für das beste
Heilmittel; 4 sprachen sich lür staatliche Regulirung der Fabriken
und der Arbeitszeit, für den allgemeinen Achtstundentag, für
bessere Vertretung der Arbeiter und grösseres gegenseitiges
Vertrauen zwischen Kapital und Arbeit aus; eine irade-Union
forderte Nationalisirung des Grund und Bodens, eine Abschaf-
fung des kapitalistischen Systems. Auch eine Anzahl von
Arbeitgebern hat sich zu der erwähnten Frage geäussert,
und zwar die Mehrzahl derselben für Conciliation und Arbitra-
tion; andere dagegen sprachen sich gegen Trades-Unions aus
und verurtheilen deren Treiben scharf. Energisch gefordert
wird auch die Abschaffung des Picketing, die Nichteinmischung
des Staates, der Presse, überhaupt Unbetheiligter in gewerb-
liche Streitigkeiten. Einige Wenige empfehlen Gewinnbetheili-
gung, während andere in sarkastischer Weise vorschlagen, den
Arbeitern alles zu gewähren, was sie nur irgend verlangen.
Vielfach sind von den betheiligten Firmen auch die Ver-
luste angegeben, mit welchen die Strikes für sie verknüpft
waren. So betrug in 680 Etablissements der Werth des durch
Strikes stillgelegten Kapitals mehr als 32 Millionen Pfund Ster-
ling. 1427 binnen zahlten vor Beginn des Strikes, durchweiche
sie zur Unthätigkeit gezwungen wurden, zusammen wöchentlich
261 295 Pfund Sterling an Löhnen. 541 Firmen haben angegeben,
dass sie durch den Stillstand ihrer Werke und durch die
Wiederaufnahme der Thätigkeit direkt 151 343 Pfund Sterling
verloren haben.
Der Strike der Pariser Droschkenkutscher währt
nun schon seit dem 3. Januar und es ist noch immer nicht
abzusehen, wann er endigen wird, da sich auf keiner Seite
auch nur die mindeste Geneigtheit zum Nachgeben zeigt.
Es ist das erste Mal, dass ein Kutscherstrike so lange an-
hält. Gewöhnlich war er schon nach wenigen 'Tagen,
mangels einer festen Organisation und Geldmittel, im Sande
verlaufen. Dasselbe hoffte die Droschkengesellschaft — sie
führt den Namen „IT Urbaine“ — diesmal auch, doch wie
sich zeigte, vergeblich. Die Strikenden gehören einer gut
organisirten Gewerkschaft an und werden von den Kutschern
der übrigen Kompagnien sowie auch von anderen Gewerk-
schaften kräftigst unterstützt. So erhielten sie nach ihrem
letzten Ausweis in der Woche vom 31. Januar bis
inclusive 6. Februar 25 257,65 Frcs., was einer täglichen
Einnahme von rund 3608 Frcs. gleichkommt. Und in dem-
selben Masse sind ihnen die Unterstützungen seit Beginn
des Strikes zugeflossen; es verging kein Tag, an welchem
sie nicht 3 — 4000 Frcs. erhalten hätten. Die Ursache des
Strike war, dass die „Urbaine“ täglich, je nach der Saison
und sonstigen Umständen, 16 — 22 Frcs. für jeden Wagen
fordert, wahrend die Kutscher nur 15 Frcs. zahlen wollen.
Diese geben an, dass sie sonst nicht ihr Auskommen fänden,
die Gesellschaft aber noch immer einen recht hübschen
Profit dabei erzielen würde, während der Direktor der
„Urbaine“ wieder behauptet, dass jeder Wagen täglich auf
15 — 25 Frcs. zu stehen kommt. W er mag da entscheiden?
Der Munizipalrath hat seine Intervention angeboten, doch
wurde diese seitens der „Urbaine“ zurückgewiesen, da man
nicht, wie sie es verlangte, auch gleichzeitig die übrigen
Droschkengesellschaften zur Konferenz laden wollte. Dieses
Vorgehen deutet augenscheinlich darauf hin, dass die „Ur-
baine“ in ihrem Widerstand von den übrigen Kompagnien
unterstützt wird. So lässt sich denn vorläufig auch gar
nicht absehen, wann und wie dieser Strike enden wird.
Ein Tramway-Strike in Lille. Die Bediensteten der
Liller Tramway-Gesellschaft, deren Wagen sowohl in Lille,
als zwischen dieser Stadt und Roubaix, sowie Tourcoing
verkehren, hatten vorige Woche, nachdem sie mit ihren an
die Direktion gestellten Forderungen abgewiesen wurden,
die Arbeit eingestellt. Der Strike war ein heftiger — ein-
zelne Striker hatten die Schienen aufgerissen — aber nur
kurzer, denn schon nach zwei Tagen war er in Folge
Intervention des Bürgermeisters entschieden, und zwar zu
Gunsten der Strikenden, wenngleich sie auch nicht mit
sämmtlichen Forderungen durchdrangen. Ihrer Forderung
der Entlassung eines Kontrolleurs, über den sie sich beson-
ders zu beklagen hatten, sowie der, alle Strafgelder an
ihre Gewerkschaftskasse zu zahlen, wurde nämlich nicht
willfahrt , hingegen aber alle übrigen bewilligt. Unter
diesen sind hervorzuheben: 1. Festsetzung des täglichen
Lohnes auf Fr. 3,75 für das erste Jahr, auf Fr. 4 nach Ab-
laut eines Jahres, auf Fr. 4,25 nach Ablauf zweier Jahre und
auf Fr. 4,50 nach Ablauf von fünf Jahren; 2. Zulage von
25 Ctms. täglich für die Zugführer der Tramway -Linie
Lille-Roubaix — es verkehren da ausschliesslich Dampf-
Tramways — , sowie Vermehrung des Dienstpersonals
auf dieser Linie; 3. freie Fahrt auf allen Tramways für die
Aerzte ihrer Gewerkschaft.
Unternehmerverbände.
Gegen die Kohlenringe richtet sich eine Bewegung in
den Kreisen schlesischer Grossindustrieller, über welche der
„Ob. Anz.“ Näheres berichtet:
Veranlasst durch die trotz des schlechten Geschäfts-
ganges unmässige Höhe der Kohlenpreise beabsichtigt eine .
grössere Anzahl von Grossindustriellen, sich gegenseitig
rechtlich zu verpflichten, je nach der Skala der oberschle- •
sischen Kohlenpreise einen bestimmten Theil des jeweiligen ;
Kohlenbedarfs durch österreichische Kohle zu decken, wenn
auch in Folge der Frachtverhältnisse sich der Bezug noch \
theurer stellt, wie der der oberschlesischen Kohle. Für
die Betriebe, welche fortdauernd thätig sind, soll der aus
Oesterreich zu beziehende prozentuale Theil des Kohlen-
konsums von drei zu drei Monaten einer Revision unterzogen
werden, während die Saisonbetriebe den voraussichtlichen
Bedarf anzugeben und den entsprechenden Antheil durch
österreichische Kohle zu decken haben. Falls bei Eröffnung
des Saisonbetriebes inzwischen in Folge Rückganges der
oberschlesischen Kohlenpreise der Antheil des österreichi-
schen Kohlenbezuges herabgesetzt worden ist, trägt der
Schutzverein für diesen Theil den Preisunterschied.
Amerikanischer Whiskeytrust. Der unter dem Namen
„Cattle Feeding and Destilling Co.“ sich verbergende
Whiskeytrust trägt sich, Nachrichten des „Handelsmuseums“
aus Chicago zufolge, mit der Absicht einer „Reorganisation“,
welche im Wesentlichen darin bestehen soll, die noch nicht
zum Trust gehörigen Branntweinbrennereien zu absorbiren.
Dieselben sollen zunächst mit einer Kapitalisirung von 35
Millionen Dollars unter sich vereinigt und dann als Ganzes
mit dem jetzigen Trust kombinirt werden; letzterer würde
dann als englisch-amerikanische Aktiengesellschaft das ganze
Spirituosengeschäft des Landes mit einer Kapitalisation von
75 — 100 Millionen Dollars monopolisiren. Es soll demnächst
eine Besprechung sämmtlicher Interessenten, beziehungs-
weise deren Vertreter stattfinden und Beschluss über dieses
Projekt gefasst werden.
SOZI AI POLITISCHES CENTRALBLATT.
111
Handwerkerfragen.
Der deutsche Handwerkertag. Der Centralaussch uss
der vereinigten Innungsverbände Deutschlands, der seinen
Sitz in Berlin hat, und der engere Vorstand des Allgemei-
nen deutschen Handwerkerbundes, dessen Vorsitzender der
Reichstagsabgeordnete Biehl ist, haben aus Anlass der Reichs-
tagsdebatte vom 24. November 1891 den Innungs- bezw.
Handwerkertag berufen. Derselbe hat sich daher auch in
hervorragender Weise mit dem Befähigungsnachweis be-
schäftigt, bezüglich dessen bekanntlich Staatsminister von
Bötticher sich in der erwähnten Reichstagssitzung in ab-
lehnendem Sinne geäussert hat.
2000 Handwerksmeister hatten sich zur Erledigung der
langen, 22 Punkte umfassenden Tagesordnung eingefunden.
Es wurden Resolutionen für den Befähigungsnachweis und
gegen die projektirten Gewerbekammern gefasst. Hinsicht-
lich der Konsumvereine, der Gefängnissarbeit, der Abzah-
lungsgeschäfte und des Hausierhandels hielt der Handwerker-
tag che seitens der Handwerkervertreter in der im Juni
1891 zu Berlin stattgefundenen Konferenz der verbündeten
Regierungen gemachten Vorschläge mit Entschiedenheit
aufrecht Bezüglich der Regelung des Submissionswesens
blieb der Handwerkertag auf seinen auf dem 2. deutschen
Handwerkertag gefassten Beschlüssen stehen und sprach
der Reichsregierung gegenüber das Vertrauen aus, dass sie
die in der Reichstagssitzung vom 24. November 1891 gege-
benen Versprechungen in thunlichster Bälde in Thaten Um-
setzen werde. Der Handwerkertag dankte den verbündeten
Regierungen, dass sie den Wünschen des deutschen Hand-
werks nach schärferen Bestimmungen gegen den Kontrakt-
bruch der Arbeiter Rechnung tragen wollten, sprach sein
lebhaftes Bedauern aus, dass vom Reichstage diesem Ge-
setzesvorschlage keine Folge gegeben wurde und hielt
deshalb nach wie vor an seinen auf dem zweiten Hand-
werkertage gefassten Beschlüssen fej>t, in der Erwartung,
dass .die verbündeten Regierungen eine derartige Vorlage
erneut dem Reichstage unterbreiten werden.
Es wurde ferner der Wunsch ausgesprochen, die Un-
fallversicherung auf das ganze Handwerk auszudehnen mit
Ausnahme derjenigen Berufszweige, in welchen eine geringe
Unfallsgefahr festgestellt werden kann.
Endlich erklärte man sich gegen die Ausbildung des
Genossenschaftswesens im deutschen Handwerkerstande
nach den Plänen des Freiherrn v. Broich und bezeichnete
die Gründung einer grossen Handwerkerpartei als unzeit-
gemäss. Eine Reihe von Punkten wurde, nachdem die
Verhandlungen drei Tage gewährt hatten, von der Tages-
! Ordnung ausgesetzt.
Wir kommen auf die Verhandlungen des allgemeinen
Handwerker- und Innungstages noch ausführlich zurück.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen
Arbeitern in Walz- und Hammerwerken. Dem Bundes-
rath ist ein Entwurf von Bestimmungen über die Beschäfti-
gung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in
Walz- und Hammerwerken zugegangen. Danach dürfen
Arbeiterinnen bei dem unmittelbaren Betrieb der Werke
gar nicht und Kinder unter 15 Jahren in den Werken über-
haupt nicht beschäftigt werden. Bedingung für die Beschäf-
tigung junger Leute männlichen Geschlechts ist das vorher
auszustellende Zeugniss eines dazu berechtigten Arztes, wo-
nach die körperliche Entwickelung des Arbeiters eine solche
Beschäftigung ohne Gefahr für die Gesundheit zulässt. Die
Arbeitsschicht darf mit Pausen nicht länger als 12 Stunden,
ohne Pausen nicht länger als 10 Stunden dauern. Die Ge-
sammtdauer der Beschäftigung innerhalb einer Woche, aus-
schliesslich der Pausen, darf 60 Stunden nicht überschreiten.
Ein Schichtwechsel mit Tag- und Nachtbetrieb ist speziell
geordnet. Bei Betrieben mit täglich zwei Schichten darf für
junge Leute die Zahl der Nachtschichten wöchentlich nicht
über 6 betragen. Zwischen zwei Arbeitsschichten muss
eine Ruhezeit von mindestens 12 Stunden liegen. Innerhalb
dieser Arbeitszeit ist keine Beschäftigung mit Nebenarbeiten
gestattet. An Sonn- und Festtagen darf die Beschäftigung
nicht in die Zeit von 6 Uhr Morgens bis 6 Uhr Abends
fallen; auch dürfen junge Leute während der Pausen für
die Erwachsenen nicht beschäftigt werden. Die in den
Fabrikräumen beschäftigten jugendlichen Arbeiter werden
in einem in den Fabrikräumen aufzuhängenden Verzeichnisse
namhaft gemacht. Die Tabelle muss bei zweischichtigem
Betriebe mindestens über die letzten 20 Arbeitsschichten
Auskunft geben. Auch muss der Name desjenigen, welcher
die Eintragungen bewirkt, daraus zu ersehen sein. Die Be-
stimmungen, welche am I. April d. J. in Kraft treten sollen,
haben auf 10 Jahre Gültigkeit.
Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen
Arbeitern in Cichorienfabriken und Glashütten. Dem Ver-
nehmen nach sind dem Bundesrathe zwei weitere durch
die neue vom 1 . April d. J. ab zur Geltung kommende
Fassung des Titels VII der Gewerbeordnung nothwendig
gewordene Entwürfe von Bestimmungen über die _ Be-
schäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern
zugegangen. Der eine bezieht sich auf Cichorienfabriken,
für welche derartige Bestimmungen bisher noch nicht er-
lassen waren. Darnach sollen künftig in Cichorienfabriken
den bezeichneten Arbeiterkategorien in Räumen, in welchen
Darren im Betrieb sind, während der Dauer des Betriebes
eine Beschäftigung nicht gewährt und der Aulenthalt nicht
gestattet werden. Das Verbot ist mit Rücksicht auf die in
den Darrräumen herrschende hohe Temperatur (30° R.)
sowie auf die daselbst entwickelten dem weiblichen Orga-
nismus schädlichen Gase ausgesprochen worden. Der zweite
Entwurf betrifft die Beschäftigung von Arbeiterinnen und
jugendlichen Arbeitern in Glashütten. Für diese besteht
schon eine Bekanntmachung des Bundesraths vom 23. April
1879. Der neue Entwurf trifft verschiedene Aenderungen
an der letzteren. Während bisher der Aufenthalt in den
Häfenkammern nur den jugendlichen Arbeiterinnen ver-
boten war, soll das Verbot nunmehr auf alle Arbeiterinnen
erstreckt werden. Ausserdem wird verlangt, dass wenn
jugendliche Arbeiter beiderlei Geschlechts in den zulässigen
Grenzen in den Glashütten beschäftigt werden sollen, durch
das Zeugniss eines von der höheren Verwaltungsbehörde
zur Ausstellung solcher Zeugnisse ermächtigten Arztes daf-
gethan sein muss, dass die körperliche Entwickelung des
Arbeiters eine Beschäftigung in der Hütte ohne Gefahr für
die Gesundheit zulässt. Des Weiteren ist der bisher ge-
machte Llnterschied zwischen Glashütten mit ununter-
brochenem Nacht- und Tagbetrieb und mit zeitweiligen
Betriebsunterbrechungen aufgehoben und statt dessen zwi-
schen Glashütten, in denen die Glasmasse gleichzeitig ge-
schmolzen und verarbeitet wird, und solchen, in denen die
Schmelzschicht und die Verarbeitungsschicht mit einander
wechseln, unterschieden. Bezüglich beider beschränkt sich
der Entwurf auf diejenigen Aenderungen, welche die dem
§ 139 a der neuesten Gewerbeordnungsnovelle gegebene
Fassung erfordert. So ist die Vorschrift aufgenommen,
dass die Nachtarbeit, welche in 24 Stunden die Dauer von
10 Stunden nicht überschreiten darf und jede Schicht durch
eine oder mehrere Pausen in der Gesammtdauer von min-
destens einer Stunde unterbrochen sein muss. Ferner ist
für die Glashütten der ersteren Art regelmässiger wöchent-
licher Schichtenwechsel angeordnet, während betreffs der
anderen Hütten, auf welche diese Bestimmung nicht an-
wendbar ist, die bisher nur für Knaben bestehende Vor-
schrift, dass innerhalb zweier Wochen von der Gesammt-
dauer der Beschäftigung auf die Zeit von 6 Uhr Abends
bis 6 Uhr Morgens nicht mehr als die Hälfte fallen dürfe,
I auf junge Leute ausgedehnt worden ist. Endlich ist die
bisherige Bestimmung für die zweite Kategorie der Glas-
hütten, dass die Gesammtdauer der Beschäftigung der
Knaben innerhalb zweier Wochen nicht mehr als 72 Stun-
den betragen dürfe, durch die V orschrift ersetzt, dass die
Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit der Knaben 36 Stun-
den nicht überschreiten darf. Für beide Entwürfe ist
eine Dauer von 10 Jahren vorgesehen.
Entwurf eines Achtstundengesetzes für England.
Folgender Gesetzentwurf soll, wie die „Labour Tribüne“
mittheilt, von den Abgeordneten Cunninghame Graham,
Randeil, W. Abraham, Conybeare und Dr. Clark in der
bevorstehenden Session des englischen Parlaments einge-
bracht werden:
Eine Bill, um die Arbeitsstunden in allen Gewerben
und Industrien auf acht pro Tag zu beschränken. In Anbe-
112
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 8.
tracht, dass es wünschenswerth und rathsam ist, die Werk-
tätigen Klassen gegen die Uebel einer zu ausgedehnten
Arbeitszeit zu schützen, möge durch Ihre Majestät die
Königin unter Zustimmung der geistlichen und weltlichen
Lords, wie der Gemeinen das Folgende verfügt werden:
Vom 1. Januar 1893 soll keine Person arbeiten oder
die Arbeit einer anderen Person gestatten oder veranlassen,
aut dem Wasser, wie auf dem Lande, in irgend einer
Eigenschaft, unter irgend einem Kontrakt oder Ueberein-
kunft oder Artikeln für Arbeitsmiethe oder für persönliche
Dienstleistungen zu Wasser und zu Lande (ausser bei Un-
glücksfällen) länger als 8 Stunden an einem Tage von
24 Stunden oder mehr als 48 Stunden in einer Woche. —
Jeder Unternehmer, Betriebsleiter oder andere Person, der
wissentlich eine Person, die seinem oder seinen Befehlen
untersteht, veranlasst oder ihr gestattet, in seiner oder
seinen Beschäftigungen zu Wasser oder zu Lande in irgend
einer Eigenschaft, unter irgend einem Kontrakt oder Ueber-
einkunft oder Artikeln für Arbeitsmiethe oder für persön-
liche Dienstleistungen (ausser bei Unglücksfällen), mehr als
8 Stunden an einem Tage von 24 Stunden oder mehr als
48 Stunden in einer Woche zu arbeiten, soll, falls er über-
führt wird, mit 10 — 100 Lstr. tür jeden Fall betraft werden.
— Alle Uebertretungen des Gesetzes und alle auf Grund
desselben festgesetzten Geldstrafen sollen verfolgt und ein-
getrieben werden gemäss dem „Summary Jurisdiction act“
durch einen Hof der summarischen Jurisdiktion. — Dieses
Gesetz soll für alle Zwecke als „Achtstundengesetz 1892“
angeführt werden.
Schutzvorschriften für englische Seeleute. Von der
englischen Arbeits - Kommission für Schiffahrt wurde un-
längst der Präsident des Seemanns- und Heizervereins, der
bekannte Matrosenfreund Samuel Plimsoll verhört. Der
Verlust an Menschenleben sei auf der britischen Kauffahrtei-
flotte viermal so gross, als auf der anderer Länder. In
Deutschland, den Niederlanden, Norwegen und Italien ver-
löre ein Seemann von 271 jährlich sein Leben, in Gross-
britannien einer von 66. Die meisten Unglücksfälle Hessen
sich vermeiden, ohne dass die Rheder sich deshalb graue
Haare wachsen zu lassen brauchten. Alle bisherigen Schiff-
fahrtsgesetze hätten zur Verminderung des Verlustes von
Menschenleben beigetragen. Deckladungen müssten ver-
boten sein. Eiserne Schiffe sollten gesetzlich wasserdichte
Abtheilungswände haben. Der Proviant, welchen ein Schiff
an Bord nähme, ehe es in See steche, müsse besichtigt
werden. Auf vielen britischen Schiffen seien die Schlaf-
räume der Seeleute geradezu menschenunwürdig. Den
Sanitätsbehörden müssten zur Abstellung dieses Uebelstandes
grössere Vollmachten eingeräumt werden.
Soziale Hygiene.
Gewerbe-hygienisches Museum in Wien. Der „Verein
zur Pflege des Gewerbe-hygienischen Museums“ in Wien zählt
gegenwärtig 459 Mitglieder (80 mehr als im Vorjahre), und zwar
19 Stifter, 170 Gründer, 270 mit Jahresbeiträgen. Den Einnahmen
von 9298 fl. stehen Ausgaben von 5492 fl. gegenüber. Die Ge-
sammtzahl der Modelle beträgt 278 (58 mehr als im Vorjahre),
der Duplikate 57. Ausserdem sind 227 Zeichnungen, Bilder und
Photographien von Sicherheits- und Wohlfahrtseinrichtungen
vorhanden. Im Berichtsjahre war das Museum an 261 Tagen
von 4788 Personen besucht. Von den „Mittheilungen des Ge-
werbe-hygienischen Museums“ sind im Berichtsjahre 9 Num-
mern, darunter einige Doppelnummern erschienen. Maschinen-
fabriken des In- und Auslandes erachten es als in ihrem ge-
schättlichen Interesse gelegen, mit dem Museum in Verbindung
zu treten und sich um die Aufnahme ihrer von Prospekten be-
gleiteten Schutzvorkehrungen u. dergl. in die Sammlung zu be-
werben. In Belgien und Holland plant man die Errichtung von
dem Museum ähnlichen Instituten.
W ohlfahrtseinrichtungen.
N aturalv erpflegung bedürftiger Durchreisender. In der
Schweiz ist die Naturalverpflegung bisnun staatlich organisirt
in den Kantonen Schaffhausen und St. Gallen, in Vorbereitung
ist die staatliche Organisation in den Kantonen Aargau und
Luzern. Freiwillige Organisationen für den ganzen Kanton be-
sitzen Zürich, Baselstadt und Baselland, Thurgau und Glarus,
für Kantonstheile elf Kantone. Aus dem aargauischen Gesetz-
entwürfe betreffend verpflegungsbedürftiger Durchreisender ent-
nehmen wir folgendes. § 2 bestimmt, dass die Naturalverpflegung
durch Gewährung von Herberge und einfacher Verköstigung
unter strengem Ausschluss von Geldgaben zu erfolgen habe und
zwar (§ 3) in den staatlicherseits bezeichneten in angemessenen
Entfernungen von einander liegenden Stationen. § 4 lautet:
An jeder Station sollen, wo immer thunlich, Veranstaltungen
getroffen werden, dass jeder vorsprechende Durchreisende als
Entgeld für seine Verpflegung irgend eine angemessene Arbeit
verrichten muss, wobei indessen darauf zu sehen ist, dass orts-
eingesessenen Arbeitern ihr regelmässiger Arbeitsverdienst nicht
verkürzt wird.
Ausserdem haben die Stationen die Anmeldung von Ar-
beitsbedarf jeglicher Art, insbesondere von Gewerbegehilfen
und Dienstboten, für die Bewohner im Orte, sowie der nächsten
Umgebung entgegenzunehmen und den vorsprechenden Durch-
reisenden nachzuweisen und zu vermitteln.
§ 5 bestimmt, dass die Naturalverpflegung solchen Durch-
reisenden versagt wird, welche a) keine gesetzlich anerkannten
Ausweisschriften besitzen; b) Arbeitsnachweisung nicht benützen
oder die angewiesene Arbeit verweigern; c) drei Monate von
Beendigung der letzten Arbeit an sich auf Wanderschaft befin-
den. Ausnahmen sind gestattet bei strenger Winterszeit, noto-
rischer Arbeitsstockung im Gewerbe oder Krankheit von längerer
Dauer. b
Die Kosten der Naturalverpflegung und der Arbeitsver-
mittelung werden nach § 6 bestritten:
a) durch allfällige freiwillige Beiträge;
b) durch die Beiträge der Gemeinden;
c) durch einen jährlichen Staatsbeitrag von 20% an die
Gemeinden zur Deckung der denselben erwachsenen Kosten.
Die Bedeutung der Naturalverpflegstationen in der Schweiz
ersieht man aus der Thatsache, dass von Wanderern im Jahre
1890 200 000 mal in den Stationen vorgesprochen wurde Die
Ausgabe der Verpflegstationen betrug in diesem Jahre circa
200 000 Francs, so dass die Einkehr jedes Wanderers in eine
Station einen Kostenaufwand von ca. I Frcs. ausmachte.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
Andresen, Dr. Die Rentengüter-Gesetze in Preussen
vom 27. Juni 1890 und 7 Juli 1891. Textausgabe mit An-
merkungen (Taschen-Gesetzsammlung No. 3). Berlin, Carl
Heymann’s Verlag, 1892. 16°. 51 S. kart.
Asclirott, Dr. P. F. Die Behandl ung der verwahrlosten
und verbrecherischen Jugend und Vorschläge zur
Reform. Berlin, Otto Liebmann, 1892. 8°. 64 S.
Basch, Julius. Wir thschaftl iche Weltlage. Börse und
Geldmarkt. 3. Auflage. Berlin, R. L. Prager, 1892. 8°.
67 S.
Berg, Richard. Der wirtschaftliche No th stand und ein
Weg zum Bessern. Berlin und Leipzig, Alfred H. Fried
u. Cie., 1 89 1 8n. 99 S. und eine Tabelle.
Biirkli, Karl. Ursprung der Eidgenossenschaft aus
der Markgenossenschaft und die Schlacht am Mor-
garten. Zur 600jährigen Feier des Bundes am 1. August 1291.
Zürich, Buchhandlung des schweizerischen Grütlivereins,
1891. 8°. 71 S
— - Meine Proporz-Perle vor dem Zürcher Kantons-
rath (15. September 1891). Eine Rede über die Proportio-
nal-\ ertretung wie die Sozialdemokraten sie wollen. Zürich,
Buchhandlung des schweizerischen Grütlivereins, 1891. 8°.
73 S.
Considerant, Victor. De la sincerite du gouvernement
representatif ou Exposition de l’election veridique.
Lettre adressee a Messieurs les membres du grand conseil
constituant de l’etat de Geneve (26. octobre^ 1846). Neu
herausgegeben von Karl Biirkli. Zürich, Buchhandlung des
schweizerischen Grütlivereins, 1892. 8°. 16 S.
Crepaz, Adele. Die Gefahren der Frauen-Emanzipation.
Ein Beitrag zur Frauenfrage. Leipzig, Carl Reissner, 1892.
80. 55 S.
Gumplowicz, Ludwig. Soziologie und Politik. Leipzig,
Duncker & Humblot, 1892. 162 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin
Druck von II. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT
Berlin, den 22. Februar 1892.
E'iir den Anzeigcnthcil sind die Redaktion und die Verlagsbuchhandlung nicht verantwortlich. Anzeigen-AnnahmestcIIc nui bei
Dr. Otto Eysler, Berlin SW., Charlottenstrasse 11. Breis für die 3 spaltige Colonelzeile 40 Pf.
(E, jf. Beri^fiije Iftcrlaggburfjfjattblung (Iftgkar Brrfi) in TJKhnfjm,
3« uufereut fßertage iit erfdjieuen:
l+l» ,x,- 3 (guropHifttjcr Qör feilt dttehalmbcr. 91eue golge. © e cf) ft e r
3at)igaug. 1890. (S)er gan.jeu iReTlje XXXI. 23anb.) beraub*
gegeben ocm $röf"Dr. $anb CTclbrncf. fßreib gel). 8' Hl . Er f <f) ei tt t a 1 1 j ä t) r l i d). 3#rgang
1891 erfdjeint int Februar 1892
.Üomplctc (Opi. bei fviitjcren hvpiaiine bieiev E o l i t ite v n n ii e ii t h e l) x* t i it) e n b e v ii 1) m t e u T a b v b u d) v
UH'vbeu nett eintretcnbei’ '•Jtboitneittcu m cvmäfjigtcm greife geliefert.
ferner:
l)r. 1B. geller,
dnPaübitäte-
22. Juni 1880.
grofifj. Cj c ff. iRcgienntflävat: UlU finge mit
mndjungen beb 23 u n b e b r a t b euttjaltenb
mtb Hltr r su rr ft die r n n runi c fr 1; Hunt
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"einem Sluljaug, bie iiolljngbbefannD
$art. 1 Hi. 80 $1-
^F>ae Hrürifrridiuü.iU'fi'ü für bab beutfdje 8i e i c£) boin 1. Snni 1891 (fRooelle
511 Sit. Vll her ©eioerbeorbnung). Sejitaubgabe mit Einleitung, erlnutetnbcn 2lumerfnugen
uub IRegifter. 8V2 23og. .Ü'art. l 'Hi. 20 s4>f-
Soeben erschien
WirthsiMtliclie Weltlage.
Börse und Geldmarkt.
Von
Julius Basch,
Redakteur.
07 S. 8°. Eleg. brosch. Preis 1 M.
Zu beziehen durch alle Buchliandl. und gegen
vorher. Einsendung des Betrages (ev. in dtseli,
Briefmarken) postfrei von der Verlagshandlung
R. L. Prager in Berlin, NW. 7.
Verlag non 3nnrktV & Ifumblof in Seippg.
©mrp Jmbvidl Knapp, ®ie Canbarbeiter
in <ü'ned)tfd)aft uub greipeit. 23ier fßortröge.
1891. fßretb ca. 2 Hi.
3. Oiuttrutap, Brrlagslntriiliantilnng in Berlin sw. 48, Üfiltirimllraße 119/120-
Ins }Imifii|‘d)r linbimimifteurrgcfc^.
Bum 24. Juni 1891.
Äontmeiitav 311111 pra!tifd)en ©ebraud)
bearbeitet uoit
M. Dnffen,
©eteimev 3}egicmiig*vat: SOlitglieb bei S'öuigl. Tirctti it für bi 'Hevlualtu g
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9)i an abonnirt fjaibfälirtid) für 9 Hiarf bei auett 23ud)banblnngen unb fßoftämtern.
J, ©uftmtag, DErlagsburiiijattblung in Berlin.
Brtttrtdl I§Erfmct, 2)ie fociate ^Reform als
©ebot beb mirtt)fd)aftlid)eu Aortfdpittö. 1891.
S)3reib 2 Hi. 40 fßf.
i&rfjrtffrn bre ferntts für Bncialpnlitilt.
49. 23anb: ®ie Jpanbelbpolitif ber midpigeren
Äultnrftaaten in ben lebten S.i^r^efjnten. 1.
23anb. 2t. n. b. Sie epanbelbpolitif
Horbanterif'ab, 3tdlienb, Defterreidfb, 23el=
gienb, ber Oiiebertanbe, fSänemarfb, (Sd)iue=
benb unb Oiormegenb, fRufflaubb unb ber
©d)met3, foiuie bie beutfdje epanbelbftatiftif
Dan 1880 bib 1890. fßretb 13 Hi.
— fSaffetbe. 50. 23anb: 5)ie cpanbelbpolitif rc.
2. 23attb, 2t u. b. ®ie ber beut-
fd)en Jpanbelbpolitif oon 1860—1891 23om
Sßrof. Dr IPaltlfOr Xotf in Hlündjen. f^reib
4 Hi. 60 23f.
I|cnnann Xofrlf, ^Rationale fßrobuftiou unb
nationale SSerufbglteberung. 1891. fßreib
6 Hi.
Bf. Ü. b. 33lfm, S)ie gac^oereine unb bie
foctate 23etoegung in granfreict). ©onberabbr.
aub @d)tuotterb 3af)l'bud) 1891. fßreib 2 Hl.
3n ^weiter SCuffogc erfdjien:
^o^irtiyenolutioii
ober
Jr, o ft i a 1 1 e f o t m V
23on Julius IBrvncr, Pfarrer
in Jpot)entl)urm b. ^talle (©.)• 23reib Hlf. 1.
3n beäiebett bttrdj alle Hudjfjartbluitgeu foiuie
and) unmittelbar Born
©. §d)utetrcl)lu>’ftljen ®t'rhi>l in (§aale).
®Eid|ö - Oknr t vü c - »Jrii mt n ii
nebft 2tugfü^ruit(t§l>eftimmungeii.
Bmejfe JafTmut bes Qkfcfjca.
$ejt=tu§gabe mit Inmetfungeii unb @ a d) r e g i ft e x
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Die sociale Frage.
2 Bde. M. 6.-.
I. Ein Schlüssel zur Prophetie des Neuen und Alten Testaments.
II. Die sociale Frage im Licht der Offenbarung, in der Geschichte
der Völker und im Irrlicht der Zeit.
Socialpolitische Rundschau: Dem Herrn Verfasser kann das grosse Verdienst
nicht abgesprochen werden, dass er eine Seite der socialen Probleme aufzog, die bisher
noch wenig berührt wurde. Er hat einer socialpolitischen Anschauung Bahn gebrochen,
die vielleicht noch weitere Kreise zieht.
Märkische Zeitung: Er zieht die Geschichte wie die Bibel in ihrem ganzen Um-
fange zu Rat, indem er die Beziehung zur Gegenwart stets in lebendigem Fluss hält.
Aut diese Weise ist es ihm gelungen, eine ebenso belehrende wie Vertrauen er-
weckende Wirtschaftsgeschichte zu schreiben und sich ein kritisches zu Urteil
bilden.
Westfälisches Sonntagsblatt: Die theologische christlich-sociale Litteratur hat
in der Gegenwart kein Werk, welches an Tiefe der Auffassung des socialen Inhalts
der heiligen Schrift und an umfassender Kenntnis der socialen Verhältnisse der in
der Geschichte bekannten Völker diesem Werke gfeichkommt.
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zugesichert. Näh. auf Anfrage.
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Bit CSjepEbttion
H. üvt'hs, LTfallfriiU'tltcrliv. 55.
Verantwortlich für den Anzeigentheil: Dr. Otto Eysler in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 29. Februar 1892.
Nummer 9.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltenc
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHAL T.
Die R e ich s - K o m m i s s i o n für Arbeiterschutzgesetzgebung :
Arbeiterstatistik. Von Dr. Beschäftigung von Arbeiterinnen
Heinrich Braun. in Steinkohlenbergwerken.
Gesetzgeberische M assnah- Kinderschutz innerhalb derFabriken.
men gegen Pro s ti tu ti on und Arbeiterversicherung:
Zuhälterthum. Von Rechtsan- Haftpflicht und Unfallversicherung
waltDr. Theodor Löwenfeld. der Arbeiter in Russland
»Soziale Wirthschaftspolitik: Wohnungszustände und Woh-
Ein deutsches Ausvvanderungs- nungsgesetzgebung:
gesetz. Von Dr.Max Quarck. Amtliche Untersuchungen von
Agrarzustände auf Haiti. Arbeiterwohnungen.
Arbeiterzustände: Wogn Verhältnisse der Bergarbeiter.
Betriebsunfälle in der Industrie Gewerbegerichte , Einigungs-
Nürnbergs. VonMartin Segitz. ämter u. Arbeiterausschüsse:
l'eber die Abnahme der Arbeits- Schiedsgerichte im sächsischen
kraft. Bergbau.
Gewerkschaftliche Arbeiter- Arbeiter-Prud’hommes und Impe-
j)0-^y0priin. ff * rativ-Mandate.
Hirsch - Duncker’sche Gewerkver- Städtisches Versöhnungsamt für
eine. Arbeiter.
Die Chausseearbeiter der Stadt Handwerkerfragen:
Paris. Die Forderungen der Handwerker-
Unternehmerverbände: „ Partf wn I)r- A?01 f !?rau n-
Verband zur Besserung der länd- Gewerberäthe in ( estei reich.
liehen Arbeiterverhältnisse. Vermischtes:
Ein Syndikat französischer Spin- Klassische Konzerte für Arbeiter,
nereibesitzer. Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Reichskommission für Arbeiterstatistik.
Nicht leicht dürfte in unserer von sozialen Strömun-
gen auf das Tiefste bewegten Zeit eine Frage zu finden
Isein, in betreff deren bei den Vertretern entgegengesetzter
Anschauungen so vollkommene Uebereinstimmung herrscht
als in Bezug auf das Bedürfniss nach einer zuverlässigen
und gründlichen statistischen Kenntniss unserer gesellschaft-
lichen Zustände. So erklärt es sich auch, dass das Ver-
sprechen der Regierung, eine Kommission für Arbeiter-
statistik ins Leben zu rufen, auf allen Seiten sympathisch
begrüsst wurde. Mit lebhafter Spannung wartete man auf
genauer orientirende Mittheilungen, und vielfach äusserte
sich freudige Hoffnung, dass nun einmal dem beschämenden
Mangel einer sozialen Statistik abgeholfen würde.
Inzwischen sind die vorbereitenden Arbeiten für die
Schaffung jener Reichskommission gefördert worden, und
vor wenigen Tagen fand sich die Regierung veranlasst,
eine Skizze der geplanten Organisation veröffentlichen zu
lassen. Da dies zu keinem anderen Zweck geschehen sein
kann, als um den Plan allgemein bekannt zu machen, und
durch sachliche Diskussion desselben die Verwirklichung
des vorgesteckten Zieles zu fördern, halten wir es für
unsere Pflicht, die publizirten Grundzüge der Reichskom-
mission für Arbeiterstatistik einer kritischen Betrachtung
zu unterziehen.
Der „Reichsanzeiger“ vom 20. Februar, dessen Mit-
theilungen durch weitere offieiöse Nachrichten ergänzt
wurden, welche nun einen ziemlich vollständigen Ueberblick
über die geplante Organisation ermöglichen, charakterisirt
den Inhalt der dem Bundesrath zugegangenen Vorlage mit
den folgenden Worten: „Die Kommission soll dem Statistischen
Amt zur »Seite stehen. Sie ist als dauernde Einrichtung
gedacht und soll aus einem Vorsitzenden und zwölf Mit-
gliedern bestehen, von denen fünf der Bundesrath und
sechs der Reichstag zu wählen haben wird. Aufgabe der
Kommission soll es sein, die Vornahme statistischer Er-
hebungen über die Verhältnisse der gewerblichen Arbeiter,
ihre Durchführung und Verarbeitung sowie ihre Ergebnisse
zu begutachten und dem Reichskanzler Vorschläge tiir die
Vornahme oder Durchführung solcher Erhebungen zu
unterbreiten; sie soll befugt — in bestimmten Fällen ver-
pflichtet - sein, Arbeitgeber und Arbeiter in gleicher Zahl
zu ihren Sitzungen mit berathender Stimme zuzuziehen und
in gewissen Fällen Auskunftspersonen zu vernehmen. Den
Mitgliedern, sowie den zugezogenen Arbeitgebern und
Arbeitern, sowie den Auskunftspersonen soll Ersatz ihrer
haaren Auslagen, den Arbeitern ausserdem Entschädigung
für entgangenen Arbeitsverdienst gewährt werden.“
Als in der Reichstagssitzung vom 13. Januar durch den
Staatssekretär v. Bötticher die Kommission für Arbeiter-
statistik zum erstenmal angekündigt und hervorgehoben
wurde, dass im Gegensatz zu der von einzelnen Gewerk-
schaften unternommenen Lohnstatistik ein erschöpfendes
Bild der Lohnverhältnisse erst erlangt werden würde, wenn
die zu schaffende Organisation zur Verwirklichung gelangt
sein wird,1) konnte man wohl daran denken, dass es sich
um die Nachbildung irgend einer der bewährten Einrich-
tungen handeln werde, wie sie in anderen Ländern für die
Zwecke sozialstatistischer Erhebungen bestehen. Die über
die Kommission für Arbeiterstatistik veröffentlichten Mit-
theilungen lassen nunmehr erkennen, dass die projektirte
Institution davon weit entfernt ist, dagegen auffallende
Aehnlichkeit besitzt mit «1er preussischen statistischen
Centralkommission.
Diese Kommission besteht seit dem Jahre 1861. Wie
es in dem Erlass des Ministers des Innern von 21. Februar
1870, mittelst dessen sie reorganisirt wurde, heisst, ist es
x) Vgl. Stenogr. Bei', über die Verhandlungen des Reichs-
tags, 146. Sitzung vom 13. Januar 1892, S. 3597.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 9.
I 14
ihre Aufgabe, über alle statistischen Einrichtungen, Erhe-
bungen, Aufstellungen u. s. \v. ihr Gutachten abzugeben.
Der bei ihrer Begründung vorschwebende Zweck war, ein
einheitliches Zusammenwirken aller betheiligten Verwal-
tungen herbeizuführen, damit bei den statistischen Erhe-
bungen in Preussen nach gleichmässigen Grundsätzen me-
thodisch und planmässig verfahren werde1). Als Mitglieder
der Kommission fungiren a) der vom Minister des Innern
berufene Vorsitzende, b) Kommissarien der einzelnen Mini-
sterien und des Reichsamtes des Innern, c) der Direktor
und ein weiteres Mitglied des k. statistischen Büreaus,
d) sechs Mitglieder des Landtages, von denen jedes der
beiden Häuser drei zu wählen hat, und e) solche .Sachver-
ständige, welche auf Vorschlag der Kommission durch den
Minister des Innern zur Theilnahme an deren Arbeiten
eingeladen werden-). Die preussische statistische Central-
kommission, welche von dem Ministerium des Innern ressor-
tirt, hat immer nur ein schattenhaftes Dasein geführt. Im
Unterschied von der statistischen Centralkommission Bel-
giens, welche einen entscheidenden Einfluss auf die Gestalt
der dortigen Statistik üben konnte, weil sie eine aus-
führende Behörde bildete, war der preussischen Kommission,
wie erwähnt, lediglich eine begutachtende Aufgabe zuge-
wiesen. „Eine besondere Thätigkeit hat diese Kommission
in dem Jahrzehnt von 1860- 1869 nicht entfaltet“, sagt
Puslowski 3), und BlenckO registrirt für die Zeit von 1870
bis 1884 21 Tage, an denen sie gutachtliche Aeusserungen
abgegeben. Seit einer Reihe von Jahren ist die Kommission
gar nicht mehr zusammen getreten. Die Summe ihrer
Arbeiten, welche diese beiden Geschichtsschreiber der
preussischen Statistik für eine mehr als 30jährige Periode
feststellen, kann an Bedeutungslosigkeit kaum übertroffen
werden. Die Kommission war eben von vornherein ledig-
lich auf Rathschläge beschränkt, deren Berücksichtigung
von der Willkür der Regierung abhing, und auch zu dieser
berathenden Thätigkeit wurde sie trotz entgegenstehender
Bestimmungen des citirten Ministerialerlasses ganz nach
Belieben herangezogen oder sie wurde, wie seit Jahren,
vollkommen bei Seite gestellt. So ist es erklärlich, dass diese
Kommission nie zu einer ihrem Zweck entsprechenden
Geltung gelangte.
Um so schwerer ist es zu begreifen, dass die Regie-
rung diese dem Anschein nach von ihr selbst für unbrauch-
bar gehaltene Institution zum Muster für die neu zu
schaffende arbeitsstatistische Kommission gewählt hat. Wenn
man von der Zusammensetzung der Mitglieder absieht,
kehren nach den bisher durch den Reichsanzeiger und
andere Regierungsorgane gemachten Mittheilungen in dem
neuen Regulativ die hauptsächlichsten für die preussische
statistische Centralkommission geltenden organisatorischen
Bestimmungen -wieder; zum Theil sind die Befugnisse noch
eingeschränkter. Während in dem die preussische statistische
Centralkommission reorganisirenden Ministerialerlass der-
selben ausdrücklich das Recht zugestanden ist, auch aus
„eigener Initiative“ „über alle statistischen Einrichtungen, Er-
hebungen, Aufstellungen u. s. w. nach Inhalt, Art und Form
zu berathen und besehliessen“, scheint nach offiziösen
Nachrichten die Reichskommission lediglich erst dann in ihre
begutachtende Thätigkeit eintreten zu dürfen, wenn eine
Anordnung des Bundesrathes oder des Reichskanzlers an
sie ergeht. Die arbeitsstatistische Reichskommission ist dar-
') Ver<fl. Ministerialblatt für die gesammte innere Verwal-
tung, 1870, No. 4, S. 89 ff.
-) Blenck, Das k. statistische Büreau in Berlin etc. Berlin,
1885, S. 141.
:1) Das k. preuss. statistische Büreau etc. Berlin, 1872,
S. 87 ft.
4) Blenck a. a. O. S. 142 ff.
nach fast ohne jedes Recht der Exekutive, — zur Ausführung
arbeitsstatistischer Erhebungen, ist das Kaiserliche statistische
Amt bestimmt, dem die Kommission „an die Seite treten
soll“ — aber selbst die Befugniss zu Gutachten erscheint als eine
sehr bedingte, vollkommen von dem Willen oberer Instanzen
abhängige. Darnach bildet die Kommission für Arbeiter-
statistik ein Instrument in der Hand des Bundesraths resp.
des Reichskanzlers, dessen er sich nach Belieben be-
dienen kann. Auch an der letzten Gewähr für Unab-
hängigkeit und Selbständigkeit, welche in der Zusammmen-
setzung der Mitglieder der Kommission gefunden werden
könnte, fehlt es völlig. Von vornherein ist die Majorität
aus den vom Bundesrath und dem Reichskanzler zu
ernennenden Mitgliedern gebildet. Neben den fünf vom
Bundesrath zu wählenden Mitgliedern ernennt der Reichs-
kanzler den Vorsitzenden und delegirt einen Beamten des
Kaiserlichen statistischen Amts in die Kommission. So steht
die kompakte Majorität von sieben dep sechs vom Reichs-
tag zu wählenden Mitgliedern gegenüber, davon zu ge-
schweigen, dass nach dem Parteienverhältniss im Reichs-
tag die Regierung darauf rechnen kann, dass zu den sieben
noch einige ihr unbedingt ergebene Mitglieder hinzutreten
werden. Die mit berathender Stimme zu kooptirenden
ausserordentlichen Mitglieder aus der Klasse der Unter-
nehmer und der Arbeiter ändern an diesem Verhältniss
nichts, weil sie einander in gleicher Zahl gegenüber-
stehen, und, was noch mehr in das Gewicht fällt, nicht
etwa aus freien Wahlen hervorgehen, sondern von der
Kommission ausgesucht werden. Nach halbamtlichen Nach-
richten kann auch diese Heranziehung von Arbeitern und
Unternehmern nur erfolgen, falls dies vom Bundesrath oder '
vom Reichskanzler angeordnet wird.
Wenn die Regierung es für nötig hält, in der Reichs- 1
kommission über eine unbedingte Majorität zu verfügen
und die Thätigkeit derselben lediglich von ihren Aufträgen
abhängig zu machen, so drängt sich der Schluss auf, dass es
der Regierung mehr um eine formelle Befriedigung des
so oft und von den Vertretern der verschiedensten Rich-
tungen geäusserten Wunsches nach einer gründlichen und;
rückhaitosen Klarstellung unserer sozialen Zustände als um
diese letztere selbst zu thun war Auch ohne den Apparat
der Reichskommission für Arbeiterstatistik besass die '
Regierung bisher ja schon die Möglichkeit, das Kaiserliche
statistische Amt durch ad hoc eingesetzte Kommissionen
berathen zu lassen
Bezeichnend für den engen Gesichtskreis, in welchem
die Reichsregierung sich sozialpolitische Aufgaben stellt,
ist die Thatsache, dass der Thätigkeitsbereich der Kommission
auf die Verhältnisse der in Titel VII der Gewerbeordnung
behandelten Arbeiter beschränkt bleiben soll. Die Lage der
landwirthschaftlichen Arbeiter soll also prinzipiell nicht nur
vor jedem gesetzlichen Eingriff zum Schutz derselben,
sondern selbst von jedem Versuch einer Klarstellung ihrer
Verhältnisse gesichert bleiben. . . .
Das ist das Bild, welches die projektirte Organisation
der Arbeitsstatistik des deutschen Reiches darstellt! So wie
die Arbeiterschutzgesetzgebung Oesterreichs und der
Schweiz die des Deutschen Reiches noch immer in den
Schatten stellt, so wird auch, wenn nicht eine grund-
sätzliche Aenderung der besprochenen Vorlage herbei-
geführt werden sollte, die deutsche Arbeiterstatistik hinter
dem Ernst und fruchtbaren Gehalt der sozialstatistischen
Leistungen anderer Länder weit Zurückbleiben.
Berlin. Heinrich Braun.
No. 9.
SOZIALPOLITISCHES CKNTRALBLATT.
1 15
Gesetzgeberische Massnahmen gegen
Prostitution und Zuhälterthum.
Die Bestimmungen des — nach Zeitungsnachrichten
— bereits dem Bundesrathe vorliegenden Entwurfes eines
Reichsgesetzes, betreffend die Prostitution und das Zuhälter-
wesen, zu welchem der Mordprozess Heinze den Anstoss
gegeben hat, beseitigen die Widersprüche des bisherigen
reichsgesetzlichen Systems in Bezug auf die gewerbsmässige
Unzucht in keiner Weise. Die Prostitution ist bekanntlich
gemäss § 361 6 des Reichs-Strafgesetzbuches straflos, wenn
sie von einem unter sittenpolizeilicher Aufsicht stehenden
Weibe, ohne Verfehlung gegen die Aufsichtsnormen, geübt
wird ; sie ist strafbar, wenn geübt ohne polizeiliche Aufsicht
oder den Anordnungen der Polizeibehörde zuwider. Hier-
mit ist ein Recht der Polizeibehörde zur Beaufsichtigung
der gewerbsmässigen Unzucht reichsgesetzlich anerkannt;
es ist ferner die kontrollirte Prostitution gesetzlich durch
Straflosigkeit vor der unkontrollirten privilegirt. Die Kon-
trolle hat vor Allem den Ort der gewerbsmässigen Unzucht
zum Gegenstand; er darf niemals ein öffentlicher Ort, er
soll immer ein geschlossener Raum sein. Die Disposition
über einen solchen können Prostituirte, welche Hausbe-
sitzerinnen nicht zu sein pflegen, regelmässig nur durch
Vertrag mit einem Haus- oder Wohnungsbesitzer erlangen.
Man sollte nun glauben, dass ein Gesetz, welches die kon-
trollirte Prostitution straflos erklärt und die behördliche
Kontrolle „zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen
Ordnung und des öffentlichen Anstandes“ (§ 361 6 R.St.G.B.)
gestattet und begünstigt, — dass ein solches Gesetz den
Prostituirten auch das Miethen einer Wohnung erlaubt,
ohne welche die Anordnungen der Sittenpolizei garnicht
befolgt werden können. Das Gesetz gestattet ihr auch das
Miethen; aber einen Miether gibt es nicht ohne einen Ver-
miether; und das deutsche Strafgesetzbuch verbietet das
Vermiethen an Prostituirte als solche, indem es denjenigen
als Kuppler mit Gefängniss bis zu 5 Jahren, Aberkennung
der bürgerlichen Ehrenrechte und Stellung unter Polizei-
aufsicht bedroht, welcher „gewohnheitsmässig oder aus
Eigennutz durch seine Vermittelung oder durch Gewährung
oder Verschaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub
leistet“ (§180 R.St.G.B.). Die Voraussetzungen dieser Straf-
bestimmung treffen regelmässig bei Demjenigen zu, welcher
an kontrollirte Lohndirnen Wolmräume vermiethet, da man
bei ihm regelmässig schon mit Rücksicht auf die Formen
der Polizeiaufsicht die Kenntniss der Bestimmung der von
der Prostituirten gemietheten Räume voraussetzen muss;
ausnahmslos aber bedroht die Schärfe der Kuppeleipara-
graphen den Inhaber des kontrollirten und nach den Vor-
schriften der Sittenpolizei geführten Bordells. Der deutsche
Strafgesetzgeber verweist sonach in § 361 die Prostituirte
mittelst der Polizeibehörde in das geschlossene Haus ; nach
§ 180 darf aber der Hausbesitzer sie nicht aufnehmen.
Die Geschichte und die Folgen dieser gesetzgeberischen
Absurdität sind so bekannt, dass man hätte annehmen
sollen, dass der Verfasser der neuen Strafgesetz-Novelle
nicht aul solcher Basis einfach fortbauen könne. Ursprüng-
lich standen die jetzigen §§180, 361 R des Reichs-Strafgesetz-
buches als §§ 146, 147 des preussischen Strafgesetzbuches
von 1851 beisammen; diesem nachbarlichen Verhältnisse
sollte nach der Meinung der gesetzgebenden Faktoren auch
die Verträglichkeit des Inhaltes der fraglichen Paragraphen
entsprechen. Man meinte damals, bei Berathung des
preussischen Gesetzes, in den beiden preussischen Kammern
ohne Widerspruch seitens der Staatsregierung, dass mit der
Straflosigkeit der kontrollirten Unzucht auch die Straflosig-
keit der kontrollirten Unzuchtsorte, der Bordelle, gegeben
sei. Man „meinte“ dies, man sagte es nicht im Gesetz,
das vielmehr die Kuppelei allgemein bedrohte; die „Gesetz-
geber“ wollten durch eine klare Erklärung keinen Anstoss
geben und gaben sich der Hoffnung hin, dass die Gerichte
nach dem verhehlten und gegen den erklärten Willen des
Gesetzes Recht sprechen würden. Die vieljährige ständige
Praxis des preussischen Obertribunals erwies diese Hoffnung
als trügerisch; die Polizei hielt sich nach Bedarf bald an
die „Meinung“ der Gesetzgeber, bald an das Wort des Ge-
setzes, so dass die Bordelle ein sehr wechselvolles Schick-
sal hatten. Trotzdem avancirten die §§ 146, 147 des
preussischen Strafgesetzbuches im Jahre 1870 un geändert —
unter dem Schweigen der Gesetzesmotive, des Bundes-
rathes, des Reichstages — zu deutschen Reichsgesetz-
paragraphen und — clas oberste Gericht des Reiches über-
nahm die Praxis des preussischen Obertribunals, welche es
auch bis auf den heutigen Tag getreulich und unentwegt
festhält. W eniger unentwegt gestaltete sich die Praxis der
deutschen Sittenpolizeibehörde. Zwei Seelen wohnen in
ihrer Brust. Als Verwaltungsbehörde lebt sie nach
§ 361 15 des St. G. B.: sie reglementirt und beaufsichtigt die
Prostitution, soweit sich letztere nicht der polizeilichen
Kontrolle entzieht; nach wie vor gibt die Polizei den
Prostituirten gedruckte Verhaltungsmassregeln in die Hand,
welche die Lohndirnen soviel als möglich von der öffent-
lichen Strasse und von öffentlichen Orten fernhalten und
die Verhältnisse der Wohnung sowie das Verhalten in der
Wohnung regeln, insbesondere in Bezug auf Anstand, Rein-
lichkeit und Gesundheitspflege. Nach wie vor sorgt die
Polizei für ärztliche, wenn auch nicht genügende Unter-
suchung und Behandlung der Prostituirten zur Verhütung-
voll Ansteckungsgefahren etc. Dagegen als Hilfsbeamtin
der Staatsanwaltschaft lebt sie wenigstens einiger-
massen gemäss § 180 des St. G. B. Sie nimmt die ihr ein-
laufenden „Anzeigen“ entgegen, dass in diesem oder jenem
(ihr genau bekannten) Hause bei diesem oder jenem (in den
polizeilichen Registern längst eingeschriebenen) Vermiether
diese oder jene (von der Polizei zweimal wöchentlich kon-
trollirte) Prostituirte ihr Gewerbe ausübe, dass also in jenem
Hause Kuppelei begangen werde — sie nimmt solche An-
zeigen pflichtschuldigst trotz mangelnder Neuheit entgegen,
übermittelt sie der Staatsanwaltschaft, die dann Anklage
erhebt und Strafurtheil erwirkt. Im Uebrigen bleibt, wenn
nicht gegen die sittenpolizeilichen Anordnungen der Polizei
gefehlt wurde, fast regelmässig wohl Alles beim Alten; die
alten oder die neuen Adressen der Prostituirten — welche
diese selbstverständlich anzuzeigen haben — schlummern
weiter friedlich in den Akten der Polizei, bis sie auf neue
Denunziation, etwa eines konkurrirenden Kupplers oder
eines Nachbars, wieder in Bewegung gerathen, zu Staats-
anwaltschaft und Kriminalgericht wandern u. s. f. Die
eigentlichen Bordelle sind, wenn auch nicht ausnahmslos,
so doch zumeist aufgehoben; die Quadratur des Zirkels
aber — kontrollirte Prostitution ohne der Kuppelei schul-
dige Wohnungsvermiether — hat man bis zur Stunde nicht
gefunden. Weil und sofern man die Sittenkontrolle nicht
aufgeben will, muss man die Kuppelei leben lassen: Soweit
man die Kontrolle nicht aufgeben will oder — muss; denn
in dem Kampf zwischen § 180 und § 361 fi sind beide nicht
unversehrt geblieben. Indem man die Bordelle schloss, die
kontrollirten Kuppler bestrafte, zwang man den Proteus
Prostitution zu den sonderbarsten, mannigfaltigsten, aber
doch nur das offizielle Auge der Polizei täuschenden Ver-
hüllungen — .schon 1847 theilte man während der Zeit der
Bordelllosigkeit die Berliner Prostituirten in Tanz-, Schank-,
Bier-, Bade- etc. Dirnen und trieb die Prostitution gerade
dahin, wo sie die Sittenpolizei unter keinen Umständen
dulden kann, in die öffentlichen Lokale und auf die Strasse.
LTnd hier heftet sich ein böser und gefürchteter Begleiter
an ihre Fersen: der „Zuhälter“. Die angekündigte Straf-
gesetznovelle definirt und bedroht diese auch für die Sicher-
heit der Sicherheitspolizei gefährliche Erscheinung folgender-
massen :
„Eine männliche Person, welche, ohne im gegebenen
Falle einen gesetzlichen Anspruch auf Alimentation zu
haben, von einer Weibsperson, die gewerbsmässig Unzucht
treibt, ganz oder theilweise den Lebensunterhalt bezieht,
oder welche ihr gewohnheitsmässig oder aus Eigennutz in
Bezug auf die Ausübung des unzüchtigen Gewerbes Schutz
gewährt oder sonst förderlich ist, wird wegen Zuhälterei
mit Gefängniss nicht unter einem Monat bestraft. Ist der
1 16
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 9.
Zuhälter der Ehemann der Weibsperson, oder hat er sie
unter Anwendung von Gewalt oder Drohungen zur Aus-
übung des unzüchtigen Gewerbes angehalten, so tritt Ge-
fängniss nicht unter einem Jahre ein. Neben Gefängnis-
strafen kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, auf
Zulässigkeit der Polizeiaufsicht, sowie auf Ueberweisung
an die Landespolizeibehörde mit den in § 362 Absatz 2 und 3
vorgesehenen Folgen erkannt werden.“
Mit dieser Bekämpfung des Zuhälterthums, deren Vor-
bild theilweise im französischen Strafrecht gegeben ist, lässt
es sich schwer vereinigen, wenn der Entwurf in einem
neuen § 180 die Fassung des alten § 180 bezüglich des
Thatbestandes der Kuppelei beibehält, also die kontrollirte
Kuppelei nach wie vor bedroht und nur bezüglich der
Straffolgen eine Verschärfung eintreten lässt, indem nun
das Strafminimum auf einen Monat Gefängniss erhöht und
neben der Freiheitsstrafe auch Geldstrafe von 150 Mk. bis
6000 Mk. angedroht wird. Durch diese Bestimmungen der No-
velle werden die Widersprüche der bisherigen Gesetzgebung
vermehrt und der Zwiespalt zwischen dem Ivontrollprinzip
einerseits und der Bestrafung der kontrollirten Kuppelei
andererseits erweitert. Wenn der neue Kuppeleiparagraph
nicht in der Hauptsache bezüglich der kontrollirten Ver-
miether ebenso auf dem Papier bleibt, wie dies beim bis-
herigen Kuppeleiparagraphen feststellbar ist, wenn wirk-
lich alle Kuppelei verfolgt, unter Strafe gestellt und ihnen
das weitere Vermiethen — die Fortsetzung des Deliktes -
unmöglich gemacht würde, so würde gewiss nicht die
Prostitution verschwinden, wohl aber die kontrollirte Prosti-
tution, und die Bevölkerung der Strasse und öffentlichen
Lokale mit Zuhältern und deren Schützlingen würde eine
sogar für die Berliner unerhörte Höhe erreichen.
Der Widersinn des geltenden wie des oben skizzirten
projektirten Strafrechts tritt nicht blos darin hervor, dass
es einen Kampt gegen die Symptome einer Volkskrankheit
führt, ohne dem Grund des Uebels irgend wie näher zu
kommen. Darüber, dass man die Prostitution als soziale
Erscheinung nur durch Aenderung der Grundverhältnisse,
welche sie in stets wachsendem Mass hervorbringen, mit
dauerndem Erfolg bekämpfen könnte, besteht heute kein
Zweifel mehr. Es ist aber auch zweifellos, dass man noch
lange Zeit die Erwartung nicht hegen darf, der deutsche
Gesetzgeber werde an diese Grundsäulen der Prostitution
die Axt legen. Wir sehen ihn im Gegentheile in verschie-
denen Werken emsig an der Arbeit, der Prostitution neue
Entstehungsquellen zu verschaffen und ihre Folgen für das
Wohl und die Gesundheit des Volkes zu verschärfen. Es
sei hier nur auf die Zollgesetzgebung, die Gewerbeordnung,
das Krankenkassengesetz hingewiesen. Wenn z. B. nach
§ 26, Absatz 3, Ziffer 2 des letzteren Gesetzes (auch des
neuen Entwurfes desselben) syphilitische Erkrankung durch
Entzug der Krankenunterstützung gestraft werden kann, so
trägt diese Bestimmung gewiss häutig genug zur Ver-
grösserung der Ansteckungs- und Vererbungsgefahr für
dritte ganz schuldlose Personen erheblich bei.
Aber der Mangel aller klaren leitenden Grundsätze
tritt insbesondere auch darin hervor, wie man bisher auch
nur die Symptome der grossen sozialen Krankheit behan-
delt hat, deren Ursachen der Gesetzgeber bestehen lässt
und vermehrt. Wenn man einmal die Prostitution „zur
Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung und
des öffentlichen Anstandes“ (§ 361 6) unter Aufsicht stellt,
dann muss diese gesetzlich gestattete Aufsicht bestellt und
durchgeführt werden können auf dem Wege gesetzlich er-
laubter Handlung. Der Gesetzgeber darf nicht für die von
ihm zu fördernden Zwecke strafbarer Handlungen benöthigen,
und er darf nicht Handlungen als strafbar erklären, welche
ihm für seine Zwecke unentbehrlich sind. Das geschieht
aber im bisherigen § 180 St.-G.-B. und verschärft im § 180
der Novelle. Dieser Paragraph enthält einfach das Prinzip
des sogen. Abolitionismus, der Abschaffung der Kon-
trolle, und damit der „Freiheit“ der Prostitution, welche
§ 361 6 einschränken will. Des Weiteren müsste die
„Aufsicht“, wenn man sie festhalten will, so eingerichtet
werden, dass das vom Gesetzgeber erstrebte Ziel der För-
derung der „Gesundheit, der Ordnung und des Anstandes“
wenigstens einigermassen erreicht wird. Das geschieht
durch die bisherige Ordnung der Sittenpolizei im Deut-
schen Reiche keineswegs. Die Vorwürfe , welche dem
Reglementirungssystem von Seite der Anhänger des Abo-
litionismus gemacht werden und durch welche die Forde-
rung der Abschaffung der Kontrolle und das Verlangen der
staatlichen Ignorirung der Prostitution begründet wird, sind
zum grossen Theil nicht unbegründet. Es ist eine Gefähr-
dung der öffentlichen Sicherheit, wenn es, wie bisher, dem
Ermessen der Polizeibehörde überlassen bleibt, die Stellung
unter sittenpolizeiliche Kontrolle gegen nicht freiwillig
sich hierzu Meldende zu verfügen. Die bisherige Organi-
sation des ärztlichen Kontrollverfahrens ist geeignet, Sitte
und Schamgefühl weit über die Kreise der Prostitution
hinaus zu verletzen, und dies ohne Notli. Diese Kontrolle
ist ferner ungenügend, nicht blos weil sie nur die Prosti-
tuirte und nicht auch den männlichen Urheber ihrer Krank-
heit trifft und ferner ( — wegen § 180!) den weitaus grösseren
Theil der Prostituirten nicht erreicht. Sie ist ungenügend, j
weil sich an sie nicht diejenigen ärztlichen und administra-
tiven Massnahmen anschliessen, welche geeignet wären, die
Verschlimmerung, Verbreitung und Vererbung der erkannten
ansteckenden Krankheiten zu verhindern. Die üblichen Ver-
waltungsmassregeln der Sittenpolizeibehörden befördern
sogar theilweise direkt die Verbreitung der ansteckenden
Geschlechtskrankeiten, welche die Kontrolle verhüten soll.
Die Ausweisung syphilitischer Prostituirter oder deren Ver-
schubung in die Heimat ist z. B. durchaus ungeeignet,
die Gesundheitsverhältnisse dieser Heimathgemeinde zu
fördern, So führen die Sitten- und Gesundheitspolizei-
behörden gelegentlich einen Kampf nicht blos gegen die
Prostitution, sondern auch gegen einander selbst und es ,
bietet die Ausführung des Gesetzes dasselbe Bild, wie
das Gesetz selbst — das alte und das neue: die gefähr-
lichste Verwirrung der Begriffe, Grundsätze und Mass- ' i
nahmen auf einem der wichtigsten sozialpolitischen Gebiete!
München. Theodor Löwen fei d.
■ , 16 ■»'*!, . I
I
t
i
Soziale Wirtschaftspolitik.
Ein deutsches Auswanderungsgesetz.
Der deutsche Gesetzgebungsapparat arbeitet gegen-
wärtig namentlich in den vorbereitenden Abtheilungen
äusserst lebhaft und prompt. Als Zeichen dafür darf nach
der Reihe sonstiger Massnahmen die neueste Nachricht
aus dem Bundesrathe gelten: dieser Körperschaft ist der
Regierungsentwurf eines allgemeinen deutschen Auswan-
derungsgesetzes zugegangen. Die Tagesblätter enthalten
bereits Auszüge aus den hauptsächlichsten Bestimmungen
des Entwurfes und verweisen darauf, dass die Einbringung j
desselben einem seit sehr langer Zeit betonten Bedürfnisse
entspreche
In der That lassen sich die Anläufe zu einer gesetz-
lichen Regelung des Auswanderungswesens für ganz Deutsch-
land bis vor das Jahr 1848 zurückverfolgen, wo Preussen
durch seine Konsuln vorbereitende Erhebungen in Nord- j
amerika machen Hess. Dann entwarf der volkswirtschaft-
liche Ausschuss der Frankfurter Nationalversammlung ein
Gesetz „zum Schutze der Auswanderung“, welches aus
bekannten politischen Gründen Entwurf blieb. 1850 bean-
tragte Preussen beim Fürstenkollegium die Schaffung eines
deutschen „Auswanderungs- und Kolonisationsamtes“, und
1 858 erstattete der Ausschuss der Bundesversammlung einen ■
ausführlichen und zustimmenden Bericht darüber, ohne dass :
jedoch Ernst mit der Ausführung gemacht worden wäre.
1859 schlug die Auffassung an massgebender Stelle in das
Gegenteil um; statt zu organisiren, verbot das bekannte
No. 9.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
117
von der Heydt’sche Reskript vom 3. November 1859 jede
Vermittelung der Auswanderung von Preussen, Baden und
Württemberg nach Brasilien. Die Gründung des nord-
deutschen Bundes brachte die Frage wieder in Fluss und
der Bundeskanzler berief 1868 eine Spezialkommission ; von
ihren Vorschlägen wurde aber nur die Einsetzung eines
Reichskommissars für das Auswanderungswesen verwirklicht,
welcher seitdem vom Reichskanzler ernannt wird und in Ham-
burg seinen Sitz hat. Er soll die Aufsicht besonders über
die Auswandererschiffe führen und die Beobachtung der
von den Einzelstaaten erlassenen Gesetze und Verordnungen
kontrolliren. Aber es fehlt ihm die Exekutive; er muss seine
Anordnungen immer erst durch die betreffenden Landes-
behörden ausführen lassen. Und wie mannigfaltig sind die
einzelstaatlichen Vorschriften über das Auswanderungswesen.
Für Preussen allein kommen hier mehr als ein halbes
Dutzend verschiedener Rechtsgebiete mit verschiedenen
Vorschriften in Betracht. Dieselben regeln, was die binnen-
ländischen Staaten betrifft, hauptsächlich das Agentenwesen
vom Standpunkte der behördlichen Konzession, hier mehr,
dort weniger streng (vergl. die Kritik der verschiedenen
Bundesgesetze vom Standpunkte des Agenten in No. 57
der „Hamburger Börsenhalle“ vom 9. März 1891), wobei
namentlich Beschwerden gegen die preussischen Vor-
schriften erhoben werden; die Seestädte besitzen ausser-
dem ausführliche Vorschriften über den Auswanderertrans-
port. Zuletzt hat Bremen seine diesbezüglichen Anord-
nungen durch ein Gesetz vom Jahre 1891 erschöpfend
ergänzt. Den Beschwerden der Auswanderungsagenten
über das Vexatorische mancher veralteter landesgesetz-
licher Bestimmungen standen nun auf der andern Seite
mehrfache Wünsche namentlich ländlicher Arbeitgeber
gegenüber, die von der Ansicht ausgingen, dass noch immer
vielfach eine unerlaubte Verlockung der ländlichen Bevöl-
kerung zur Auswanderung durch Agenten stattfinde, und
in Folge davon ländliche Dienstverhältnisse oft unter
Kontraktbruch und Aehnlichem widerrechtlich gelöst wür-
den. Ein Ausdruck dieser Wünsche ist der bereits vor
Jahren vom „Centralverein westpreussischer Landwirthe“
gemachte Vorschlag, für die Auswanderung eine Art von
Aufgebotsverfahren einzuführen, durch welches kontrollirt
werden könne, ob der Auswanderungslustige allen seinen
Verpflichtungen nachgekommen sei. Und eine dritte Gruppe
von Reformvorschlägen weniger direkt Betheiligter verlangt
vom Reich die gründliche Organisation der Auswanderung
mittels eigener Staatsbehörden, da die Thätigkeit des Reichs-
kommissars bei Weitem nicht ausreiche. Entweder wird
dabei aut das Beispiel der Schweiz verwiesen, die seit 1888
ein besonderes Amt beim Bundesrath schuf, welches sich
nach dem Gesetz vom 22. März jenes Jahres „mit den be-
treffenden Stellen in anderen Staaten in Verbindung setzen
und auf gestelltes Verlangen Personen, welche auswandern
wollen, mit den nöthigen Auskünften, Rathschlägen und
Empfehlungen versehen wird.“ Ausserdem können für
solche Zwecke „Spezialmissionen“ vom Bundesrath der
Eidgenossenschaft abgeordnet werden, oder wo man nicht
soweit ging, förmliche behördliche Organisationen zur
Ueberwachung und Leitung der Auswanderung zu ver-
langen, äusserte man wenigstens ähnliche Wünsche,
die meist ihre Spitze gegen das private Agentenwesen
richten; so stellte z. B. der „Verein für Handelsgeographie“
in Berlin seiner Zeit folgende Forderungen auf: „Es ist
erwünscht, dass die Auswanderungsagenturen entweder
ganz aufgehoben und die bisherigen Obliegenheiten der-
selben den für die Auswanderungsbeförderung konzessio-
tiirten deutschen Dampfschiffahrtsgesellschaften übertragen
werden, oder dass wenigstens die Thätigkeit der Auswan-
derungsagenturen gesetzlich so geregelt wird, dass die
i deutschen Auswanderer nicht mehr wie bisher durch die
Privatspekulation derselben ausgebeutet werden können.
Es liegt in nationalem Interesse, die deutschen Auswanderer
entweder durch staatlich anerkannte Auskunftskanzleien
1 oder][durch Vereine und Privatpersonen über die Koloni-
; sationsverhältnisse in den transatlantischen Ländern und
' sonstigen Auswanderungsgebieten zu unterrichten, jedoch
mit der Einschränkung, dass jede Anreizung zur Aus-
wanderung und jede Auskunftsertheilung zum Zwecke der
Erzielung geschäftsmässigen Gewinnes einer strafrecht-
lichen Verfolgung unterliegt“. Was die strafrechtlichen
Vorschriften betrifft, so bedroht jetzt schon § 144 des
St -G.-B. die Verleitung zur Auswanderung mit Gefängniss
von einem Monat bis zu zwei Jahren.
Welchen dieser sich theil weise durchkreuzenden
Wünschen will nun der jetzt dem deutschen Bundesrathe
vorliegende Gesetzentwurf Rechnung tragen, und inwie-
weit? Nach den bisher vorliegenden Inhaltsangaben nimmt
er gar keine Rücksicht auf die prinzipielle Forderung,
dass der Staat die Leitung der Auswanderung dem mehr
oder weniger spekulativen Privatgeschäft aus der Hand
nehmen und durch Spezialbehörden selbst besorgen
müsse. Das Deutsche Reich verzichtet also im Gegensatz
zur Schweiz vorläufig auf die Beachtung grosser Gesichts-
punkte bei der Regelung des Auswanderungswesens und
auf die Lösung einer zweifellos ausserordentlich dankbaren
organisatorischen Aufgabe, die sicher mehr im Bereiche
des staatlichen Thätigkeitsgebietes liegt, als manche andere
heute vom Reich ausgeübte Funktion. Man weiss freilich
kaum, ob man diesen Verzicht bedauern soll, wenn man
sieht, dass sich der Entwurf nach dem Muster des vom
Abgeordneten Dr. Kapp in der Reichstagssession des
Jahres 1878 eingebrachten Gesetzes (Sten. Berichte, Bd. I,
S. 500, Bd. III, S. 522, Bd. IV, S. 1602), auf die reichsgesetz-
liche Unifizirung der Polizeivorschriften über Agenturen
und Auswanderung beschränkt und innerhalb dieses Rah-
mens ganz einseitig den agrarischen Wünschen, die wir
oben erwähnten, gerecht wird. Eigene Staatsbehörden zur
strammen Durchführung dieser Agrarierforderungen können
am wenigsten erwünscht sein; so kommt man nothge-
drungen dazu, den Verzicht des Reichs auf eine höhere
Auffassung seiner Aufgabe vorläufig sogar gutzuheissen.
Denn bei der jetzigen gesetzgeberischen Konstellation ist
es ziemlich sicher, dass die neuen Polizeivorschriften durch-
gesetzt werden. Dieselben gehen nach allen Angaben
dahin , dass jeder Auswanderungslustige im Deutschen
Reiche seine Absicht nicht später als vier Wochen vor
ihrer Ausführung der Ortspolizeibehörde seines Wohn-
sitzes oder in Ermangelung eines solchen der Behörde seines
gewöhnlichen Aufenthaltsortes anzuzeigen verpflichtet wird.
Die Behörde hat sodann die bevorstehende Auswanderung
durch Bekanntmachung zur öffentlichen Kenntniss zu
bringen und nach Ablauf von vier Wochen über die er-
folgte Bekanntmachung von Amtswegen eine Bescheinigung
zu ertheilen. Die Auswanderung ist erst nach Ertheilung
dieser Bescheinigung zulässig. Als auffallend wird aus dem
Entwurf, der übrigens lieber vollständig, als in Auszügen
veröffentlicht werden sollte, noch die Höhe der vorgesehenen
Strafen gemeldet, die bis zu 6000 M. oder 6 Monaten Ge-
fängniss namentlich für Agenten gehen sollen. Man steht
auch hier wieder dem Versuch gegenüber, sozialen Massen-
erscheinungen, deren Ursachen auf ganz anderen Gebieten
als dem moralischen liegen, durch kleine Polizeimittel ent-
gegenzutreten, welche von einem verhältnissmässig engem
Kreis spezieller Interessenten aus dem Unternehmerstande
gewünscht werden. Die Zusammenfassung der bisherigen
Landesgesetze in ein einziges Reichsgesetz wird der einzige
Fortschritt sein, den wir machen. Tiefere Einsicht in die
Gründe der modernen Völkerwanderung von Osten nach
Westen, praktische Erfahrungen aus der Entstehung und
dem Fortgang der deutschen Auswanderung insbesondere,
dürfte man in den Motiven des neuen Gesetzes vergeblich
suchen. Dazu fehlen ja bisher auch alle eingehenderen
Vorerhebungen, und der Reichskommissar in Hamburg kann
bei der jetzigen Organisation alljährlich über nicht viel
mehr als Aeusserlichkeiten berichten. Die Hoffnung auf
eine Vervollkommnung des Entwurfes nach den Wünschen
der Freunde einer gründlichen, zeitgemässen Reform bleibt
deshalb, wie die Dinge liegen, wenig aussichtsreich.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
SOZIALPOLITISCHES CENTRAL BLATT.
No. 9.
1 18
Agrarzustände auf Haiti. Dem kürzlich erschienenen
Buche von Roche-Grellier (Haiti, Etudes economiques, Paris,
Arthur Rousseau, 1891) entnehmen wir folgende Schilderung:
Wer Haiti, dessen erster Anblick so glänzend ist, näher be-
trachtet, wird in trauriger Weise überrascht werden. Dieser
Boden, welcher seinen glücklichen Besitzern fast unerschöpfliche 1
Schätze darzubieten scheint, ist nur zu oft sich selbst überlassen
und bringt blos eine zwar prächtige, aber dem Lande und für
das allgemeine Wohl unnütze Vegetation hervor. Befragt man,
um die Ursachen dieser Erscheinung näher zu erforschen, den
Bauer, so wird man vor dem Schmutz und dem äussersten Elend,
das ihn umgibt, zurückschrecken. Ueberall begegnet man in
Lumpen gehüllten Wesen, die ihr Leben muthlos dahinschleppen
und kaum über die zu ihrer Erhaltung nothwendigen Lebensmittel
verfügen. Ueberall herrscht Nachlässigkeit, Unordnung und ab-
stossende Unreinlichkeit. Der Landbewohner ist fast nie Eigen-
thümer des Bodens, den er in seinem Schweisse bebaut. Sein
Arbeitslohn ist so gering, dass er ohne Muth, ohne Hoffnung
und mit jener Sorglosigkeit, welche allein dem Menschen eigen,
der nichts mehr vom Geschicke erwartet, seine Arbeit verrichtet.
Genauere Untersuchungen zeigen, dass die grosse Mehrheit
aller, und namentlich der schwarzen Landarbeiter, dieses elende
Leben führen. Nur die Weissen und ein sehr geringer Theil
der schwarzen Bevölkerung leben in einigermassen civilisirten
Verhältnissen. Berücksichtigt man jedoch die Tüchtigkeit und
die bedeutenderen Anlagen der Bevölkerung, so muss die Schuld
an den geschilderten Zuständen der gesellschaftlichen Organi-
sation und den Fehlern der Verwaltung zugeschrieben werden.
Arbeiterzustände.
Betriebsunfälle in der Industrie Nürnbergs.
Der Nürnberger „Verein für öffentliche Gesundheits-
pflege“ veröffentlichte vor einigen Wochen seinen Sanitäts-
bericht für das Jahr 1890, der auch fragmentarische
Uebersichten über die im Berichtsjahre vorgekommenen
Berufsunfälle enthält. Sind diese Berichte auch unvoll-
kommen — es ist z. B. gar nicht ersichtlich, wie viel
Arbeiter in der Zeit, für welche berichtet wird, beschäftigt
waren — so enthalten sie doch beachtenswerthes Material,
wovon wir das Wissenswertheste herausgreifen. In 2576
auf Grund des Unfallversicherungs-Gesetzes versicherungs-
pfhehtigen Betrieben ereigneten sich im Jahre 1890 1248
LTnfälle, wovon 833 eine Erwerbsunfähigkeit von weniger
als 13 Wochen, 403 eine Erwerbsbeschränkung von mehr
als 13 Wochen, bezw. dauernde Erwerbsunfähigkeit zur
Folge hatten und 12 Unfälle einen tödlichen Verlauf nahmen.
Auf die verschiedenen Berufe vertheilen sich die Unfälle
folgendermassen :
Metallindustrie . . . .
282 leichte,
141
schwere, 2 tödtl. Lbifälle
Baugewerbe
245 .,
105
» 6
Holzindustrie ....
82 „
33
„ 1
Speditionsbetrieb |
Speichereibetrieb j . .
46 „
29
„ 1
Kellereibetrieb I
Brauerei und Mälzerei .
42 „
17
2
55 u 55
Chemische Industrie . .
19 „
14
55 " 55
Nahrungsmittelindustrie
13 „
12
55 55
Fuhrwerksberufe . . .
12 „
13
55 D
Von den Unfällen mit tödtlichem Ausgang entfallen
auf das Baugewerbe allein die Hälfte. Bezüglich der
Gefährlichkeit der übrigen Verletzungen steht der Fuhr-
werksberuf obenan, bei welchem die Zahl der schweren
Unfälle die der leichten überstiegen hat. Dann folgen: die
Nahrungsmittelindustrie, die chemische Industrie, die Spedi-
tions-, .Speicherei- und Kellereibetriebe, die Metallindustrie,
das Baugewerbe, die Holzindustrie. Als schwere Ver-
letzungen sind hier jene Unfälle bezeichnet, welche eine
Erwerbsunfähigkeit von mehr als 13 Wochen, bezw. dau-
ernde Erwerbsbeschränkung oder Erwerbsunfähigkeit zur
Folge hatten, als leichte solche, welche innerhalb 13 Wochen
zur Heilung führten. In dem Berichte ist die Zahl der in
den betr. Industrien beschäftigten Arbeiter nicht angegeben,
ebensowenig sind die Unfälle nach Alter und Geschlecht aus-
geschieden worden; bezüglich der Zeit aber, in welcher sich
die Unfälle ereigneten, gibt eine beigefügte Tabelle alle
wünschenswerthen Aufschlüsse. Es gelangten zur Anzeige:
Im I. Quartal 259, im II. Quartal 349, im III. Quartal 325,
im IV. Quartal 315 Unfälle. Auf die einzelnen Kalender-
monate vertheilen sich die Unfälle wie folgt: Januar 76,
Februar 94, März 89, April 108, Mai 112, Juni 129, Juli 121,
August 123, September 81, Oktober 110, November 104,
Dezember 101. Im Januar haben wir die geringste Zahl der
Unfälle, im ersten Jahresmonat gehen in der Regel die Ge-
schäfte am flauesten, in den ersten Wochen ruht die Arbeit
wegen Inventur in vielen Betrieben ganz. Ende Juni er-
reicht die Mitgliederzahl der Gemeindekrankenkasse und
wohl auch die Zahl der überhaupt beschäftigten Arbeiter
den höchsten Stand, und im Monat Juni ereignen sich auch
die meisten Unfälle. Auffallend ist der Rückgang der Unfälle
von August bis zum Monat September von 123 auf 81. Die
Arbeiterzahl ist in diesem Zeitraum nicht zurückgegangen.
Es scheint das eine örtliche Erscheinung zu sein, die viel-
leicht darauf zurückzuführen ist, dass in Folge des im
Monat September stattfindenden Volksfestes und der sich
daran schliessenden Herbstmesse in vielen Betrieben meh-
rere Tage die Arbeit ruht, auch sonst vielfach die Arbeit
gemieden wird, vor Allem aber in dieser Woche keine
Ueberstunden gemacht werden. Auf die einzelne Kalender-
woche entfallen im Durchschnitt 24, auf den Tag — das
Jahr zu 300 Arbeitstagen gerechnet — 4 (genau 4,16) Un-
fälle. Nach Wochentagen geordnet vertheilen sich die Un-
fälle wie folgt: auf Montag 216, Dienstag 196, Mittwoch 195,
Donnerstag 185, Freitag 203, Samstag 204, Sonntag 29. Bei
20 Fällen konnte nicht ermittelt werden, an welchem Tage
sie sich ereigneten. Für die hohe Zahl der Unfälle an den
letzten Wochentagen sind uns die Ursachen bekannt. Dass,
an Sonntagen sich so viele Unfälle ereigneten, ist ein Be-
weis, dass die Sonntagsarbeit noch ziemlich häufig ist. Die.
meisten Unfälle sind am Montag vorgekommen. Daraus
haben verschiedene Zeitungen den Schluss gezogen, dass
die Arbeiter am Montag nicht immer nüchtern und deshalb’
leichtsinnig bei der Arbeit sind. Mag sein, dass in einzelnen
Fällen dieser Vorwurf berechtigt ist, im Allgemeinen gewiss
nicht. Die vermehrte Zahl der Unfälle an Montagen dürfte
in der Hauptsache auf den Arbeitswechsel zurückzuführen;
sein. Die. meisten Arbeiter werden mit Beginn der Woche
eingestellt, sie sind vielfach mit den Maschinen, die sie zu,
bedienen haben, nicht vertraut und verunglücken oft schon
in den ersten Stunden der Beschäftigung.
Nürnberg. Martin Segitz. |
lieber die Abnahme der Arbeitskraft. Zur Kontro-
verse über den Einfluss der Fabrikarbeit auf die Abnutzung
der Arbeitskraft dürften einige Daten von Bedeutung sein
welche sich im statistischen Anhang des Jahresberichten
des Vereins für Schafwollindustrielle in Brünn für 1881
finden. _ . .
Die Anzahl der männlichen Arbeiter betrug in den
Altersstufen:
14—20 Jahre .
. . . . 1101 Personen
21—30 „
. . . . 1291
31—40 „
. . . . 1372
41-50 .,
. . . . 1013 „
51—60 „
. ... 382
61—70 „
. ... 150
Dass die Altersstufe
31 — 40 Jahre am stärksten
ist, hat jedenfalls seinen Grund darin, dass die Militärpfiich
die Besetzung der vorangehenden Altersstufe beträchthcl
mindert. Zu der namhaften Abnahme in der vierten Alters I
stufe tritt als Beweis der bedeutenden Abnahme der Ar
beitsfähigkeit mit der Grenze des Mannesalters der überau:
beträchtliche Sprung in der fünften Alterklasse hinzu.
Die Anzahl der weiblichen Arbeiter betrug in dei
Altersstufen:
14-20 Jahre 1693 Personen
21—30 „ 2434 „
31—40 „ 1062
41-50 615
51-60 ,, 240 „
61 — 70 „ 64 „
No. 9.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
119
Der bedeutende Abstand zwischen der zweiten und
dritten Altersstufe erklärt sich jedenfalls zumeist dadurch,
dass die Arbeiterinnen, die zum weitaus grössten Theile
aus der Landbevölkerung der Umgebung herrühren und
aus ihrem Arbeitslohn bei der Bedürfnisslosigkeit ihrer
Lebensweise und der Unterstützung aus ihrem ländlichen
Familienkreise verhältnissmässig beträchtliche Ersparnisse
machen, in dieser Altersstufe sich verehelichen und nicht
mehr in die Fabrik gehen. Auf die durch Fabrikarbeit
herbeigeführte Abnahme der Arbeitskraft führen aber die
Unterschiede in den späteren Altersklassen zurück.
Das durchschnittliche Lebensalter
des männlichen Arbeiters beträgt 33 Jahr 4 Monat 21 Tage
das durchschnittliche Lebensalter
des weiblichen Arbeiters beträgt 28 ,, 8 „ 16 „
das Durchschnittslebensalter beider
beträgt 30 „ 11 „ 26 „
Die entsprechenden Daten über die Gesammtbevölke-
rung stehen leider nicht zur Verfügung.
Die durchschnittliche Dauer der Pensionsbezüge bei
den Pensionären der genannten Arbeiterpensionskasse belief
sich nach einer Berechnung
im Jahre 1885 auf ... I Jahr 5 Monat
bei Männern 1 „ 7 „
bei Weibern 1 „3 „
Diese Ziffern sind wohl der deutlichste Beleg dafür,
dass die Fabrikarbeit ihre Invaliden in einem Zustande der
Versorgung überliefert, welcher den körperlichen Ruhe-
genuss nicht sehr lange andauern lässt.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Hirsch-Duncker’sclie Gewerkvereine. Bei dem Ver-
band der deutschen Gewerkvereine betrug der Bestand der
Verbandskasse am Schluss des vorigen Jahres 43 964,65 M. ;
in der Organkasse stellte sich der Bestand auf 21 343,30 M.
und in der Drucksachenkasse auf 1076,09 M. Der Verband
zählte Ende v. J. 61 653 Mitglieder, die sich auf die einzel-
nen Gewerkvereine wie folgt vertheilen: Masehinenbau-
und Metallarbeiter 21 309, Fabrik- und Handarbeiter 10 120,
Tischler und verwandten Berufe 4980, Schuhmacher und
Lederarbeiter 4012, Porzellanarbeiter 3935, Stuhlarbeiter
(Tuchmacher) 3513, Klempner und Metallarbeiter 2608,
Schneider 2374, Bauhandwerker 1809, Kaufleute 1468, Maler
und graphische Berufe 1436, Cigarren- und Tabaksarbeiter
1162, Berg- und Grubenarbeiter 956, Töpfer 880, Kondi-
toren, Pfefferküchler etc. 433, Bildhauer 413, Schiffszim-
merer 183, Vergolder Berlin (selbständiger Ortsverein) 20,
Reifschläger Danzig (desgl.) 42. Durch den mit dem 2t . De-
zember v. J. erfolgten Austritt des Gewerk Vereins
der Porzellanarbeiter (jetzt Verband der [’orzellan-
arbeiter, Vorort Charlottenburg) ist die Mitgliederzahl auf
57 718 herabgegangen. Die Invalidenkasse des Verbandes
ist bekanntlich in Folge behördlichen Einschreitens in Li-
quidation. Ebenso wird der Gewerkverein der Maschinen-
bau- und Metallarbeiter demnächst seine Invalidenkasse
auflösen.
Die Chausseearbeiter der Stadt Paris haben vor
wenigen Monaten, auf Grund des Syndikatsgesetzes vom
21. März 1884, einen Gewerkverein gebildet, um ihre Inter-
essen gleich den sonstigen organisirten Arbeitern wirksam
vertreten zu können. Als Ergebniss mehrerer Besprechungen
hatten sie denn auch vor Kurzem an die städtische Verwaltung
ein Schreiben gerichtet, in welchem sie ihre Wünsche auf
Verbesserung ihrer Lage formulirten. Die Verwaltung
sendete dieses Schriftstück an das Ministerium des Innern,
und die Folge war, dass die Staatsanwaltschaft dem Syn-
dikat die Ordre ertheilte, sich aufzulösen. Die Mitglieder
weigern sich jedoch dessen, und sind fest entschlossen, es
auf einen Prozess ankommen zu lassen. Sie sehen in der
1 Aufforderung der Staatsanwaltschaft eine Beschränkung des
Gesetzes, welches allen Arbeitern das Recht gibt, behufs
1 Verbesserung ihrer Lage Syndikate zu bilden. Man will den
städtischen Arbeitern dieses Recht unter dem Vorwände
verweigern, dass sie Funktionäre seien, für die das ange-
zogene Gesetz eben so wenig, wie für Beamte Geltung
habe. Was hat es nun damit für Bewandtniss? Die
städtischen Arbeiter sind in zwei Kategorieen get heilt, in
regelmässig angestellte und in Hillsarbeiter. Ihre Beschäf-
tigung besteht in Pflasterung, Sandaufschüttung, Strassen-
reinigung, Pflanzungen, Anlage und Pflege öffentlicher Gär-
ten, Instandhaltung städtischer Gebäude, Brunnen etc. Sie
bilden mehrere Klassen, deren Monatslöhne, basirt auf 26 Ar-
beitstage von je 10 Stunden, sich für diege wohnlichen Arbeiter
auf 105—130 Frcs. und für die Aufseher auf 120—160 Frcs.
stellen. Ueberstunden werden extra bezahlt. Ausserdem
erhalten sie, nach einer Verfügung, die erst im vorigen
Jahre in Folge eines dahingehenden Beschlusses des Müni-
zipalrathes getroffen wurde, eine jährliche Pension von
500 Frcs., und zwar schon nach zwanzig Dienstjahren. Dies
Alles gilt jedoch nur für die regelmässig angestellten Ar-
beiter. Die Hilfsarbeiter werden pro Stunde bezahlt, haben
sich ihre Werkzeuge, wie Schiebkarren etc., selbst zu be-
schaffen und erhalten keine Pension. Bei vollem Arbeitstag
stellt sich der Lohn der bestbezahlten Arbeiter einzelner
Dienstzweige auf nicht mehr als Frcs. 3,80, während ein
grosser Theil weiblicher Hilfsarbeiter — noch viel weniger,
nämlich Frcs. 2,10—2,25 verdient. Dabei ist noch ins Auge
zu fassen, dass die Zahl der Hilfsarbeiter grösser ist als die
der ordentlich angestellten. So beträgt das Hilfspersonal
gegenwärtig 4 250, während das regelmässige Personal nur
3 350 Leute zählt. Und aus diesen Hilfsarbeitern heraus
hat sich eben das beanstandete Syndikat gebildet. Den
Verhältnissen entsprechend sind auch die Forderungen,
welche es an die städtische Verwaltung gerichtet. Es
verlangt: Erhöhung der Löhne, und zwar derart, dass keine
städtischen Arbeiter weniger als 4 Frcs. täglich verdienen;
halben Lohn für die Ruhetage, Beistellung der nöthigen
Arbeitswerkzeuge und endlich Altersversorgung der Hilfs-
arbeiter. ...
Was an der Auflösungsordre besonders auftällt, ist,
dass es sich gerade gegen dieses Syndikat richtet. Es be-
stehen nämlich noch mehrere andere von städtischen Ar-
beitern gebildete Syndikate, so das Syndikat der Kanal-
räumer, der Pflasterer wie der Strassenkehrer. Behält
die Staatsanwaltschaft Recht, dann müssten diese Syndikate,
von welchen ersteres schon seit fünf Jahren besteht, ohne
beanstandet worden zu sein, ebenfalls aufgelöst werden.
Ja noch mehr: Werden städtische Arbeiter als Funktionäre
betrachtet, die nicht berechtigt seien, Syndikate zu bilden,
dann muss dies noch mehr von Arbeitern gelten, die vom
Staate beschäftigt werden, wie dies bei den 1 abakarbeitern
der Fall ist. Nun bilden diese in den verschiedenen Städten,
in welchen Tabakfabriken bestehen, nicht nur besondere
Syndikate, sondern auch gleichzeitig einen Nationalbund
(Federation des ouvriers et ouvrieres des manufactures de
tabacs de France), der erst zu Weihnachten vorigen Jahres
einen Kongress abgehalten hat. Wird also ein von städti-
schen Arbeitern gebildetes Syndikat aus dem von der
Staatsanwaltschaft angegebenen Grund aufgelöst, dann
müssten logischer Weise auch die Tabakarbeitersyndikate
aufgelöst werden. Es ist darum noch fraglich, ob es zu
einem Prozess kommen wird; ja, will die Regierung nicht
der Reaktion in die Hände arbeiten, darf sie es zu einem
solchen nicht kommen lassen, wie dies ein an den Präsidenten
des Syndikats gerichtetes Schreiben eines reaktionären
Munizipalrathes deutlich genug zeigt. In demselben erklärt
sich der Absender bereit; alle Kosten des etwaigen Pro-
zesses tragen zu wollen, was aber keineswegs, wie man
annehmen könnte , aus Arbeiterfreundlichkeit geschieht,
denn er schreibt: „Die Regierung und die von ihr aus-
gehenden Behörden gewähren den Arbeiterverbindungen
der Privatindustrie ihren offiziellen Schutz, _ um sich eine
leichte Popularität zu schaffen. ... Es ist Zeit, es ist recht,
dass man auf kommunalen und städtischen Bauhöfen, sowie
in Werkstätten die sozialökonomischen Theorieen anwende,
welche die Minister und ihre Beamten bei Anderen er-
muthigen und unterstützen, ohne dass es ihnen einen Sou
kostet?4 Es ist dies recht malitiös, hoffentlich weiss die
Regierung die richtige Lehre daraus zu ziehen.
120
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 9.
Unternehmerverbände.
Verband zur Besserung der ländlichen Arbeitsver-
hältnisse. Wie das „C'hemn. Tagbl.“ mittheilt, wird sich
in diesen Tagen in Leipzig die Gründung eines Verbandes
zur Besserung der ländlichen Arbeitsverhältnisse für das
Kgr. Sachsen vollziehen. Die Ziele des Verbandes, der
nach dem Muster eines in der Provinz Sachsen bestehenden
gegründet ist, sind: 1. Bekämpfung des dolosen Kontrakt-
bruches. 2. Vermittelung von guten Arbeitern und Kontrolle
der Agenten. 3. Kontrolle der sozialdemokratischen Presse,
besonders im Hinblick auf die immer zahlreicher auftre-
tenden Hetzartikel gegen einzelne Landwirthe. 4 Fest-
setzung gemeinsamer Massregeln gegen die sozialdemo-
kratische Propaganda auf dem Lande. 5. Herbeiführung
von Einrichtungen zum Vortheile braver ständiger Arbeiter.
Es handelt sich hier lediglich um Unternehmer-
interessen und um Bekämpfung der selbständigen Regungen
der Arbeiter. Es wäre falsch anzunehmen, dass der zu
ründende Verband sich lediglich gegen die Sozialdemo-
ratie richte. Es muss im Gegcntheile angenommen werden,
dass jedes dem ländlichen Unternehmerthume unbequeme
Vorgehen der Landarbeiter als sozialdemokratisch stigma-
tisirt werden und damit die Selbständigkeit derselben noch
mehr eingeschränkt werden dürfte.
Ein Syndikat französischer Spinnereibesitzer. Das
französische Sprichwort, wonach der Hunger während des
Essens kommt (L’appetit vient en nrangeant) scheint auch
auf die französischen Spinnereibesitzer Anwendung zu
finden. Kaum hat das Parlament einen Zolltarif votirt, der zu
ihren Gunsten, je nach der Feinheit des Garns, für ein-
faches Rohgarn einen Zoll von 19,50 frcs. bis 403 frcs. mit
einem Zuschlag von 20 % für gebleichtes und von 36 °/0
für gezwirntes Garn festsetzt, welches, wenn gebleicht,
noch überdies 20 ”/0 zu zahlen hat, so finden sie, dass die der-
zeitigen Garnpreise nicht profitabel genug sind und be-
ginnen nun, behufs Erhöhung der Preise, sich zu Syndi-
katen zu vereinen. So hat sich in Fourmies ein Syndikat
von Spinnereibesitzern gebildet, die über 700 000 Spindeln
verfügen und gegenwärtig über eine Einschränkung der
Produktion Berathungen pflegen. Wie verlautet wollen sie
den Arbeitstag auf 6 Stunden, d. i. um die Hälfte reduziren
und damit natürlich auch die Arbeitslöhne. Dabei hatten
die Textilfabrikanten die Erhöhung der Zölle als im Inter-
esse der von ihnen beschäftigten Arbeiter hingestellt Wie
nun, wenn die Arbeiter bei ihren ohnedies niedrigen Löhnen
sich dem nicht fügen wollen? Man vergesse nicht, dass
das Syndikat seinen Sitz in Fourmies hat, wo die Gemüther
noch vom 1. Mai her aufgeregt sind und sein Vorgehen
leicht als eine Provokation aufgefasst werden kann.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Beschäftigung von Arbeiterinnen in Steinkohlen-
bergwerken. Dem deutschen Bundesrathe sind Bestimmun-
gen über die Beschäftigung von Arbeiterinnen auf Stein-
kohlenbergwerken , Zink- und Bleibergwerken und auf
den Kokereien im Regierungsbezirk Oppeln zur Be-
schlussfassung zugegangen. Danach dürfen Iris zum
I. April 1897 Arbeiterinnen im Regierungsbezirk Oppeln
auf Steinkohlenbergwerken: beim Hin- und Zurückfahren
der Förderwagen zwischen Ausstürzvorrichtungen und
Wäschen, beim Verladen der Steinkohle, auf Zink- und
Bleibergwerken, bei Bedienung der Aufbereitungsanstalten,
beim Transport der Erze zum Zweck der Um- und Ver-
ladung auf Kokereien, beim Anfahren der Kohlen zu den
Oefen, beim Einstampfen der Kohlen, bei Bedienung der
Separationsvorrichtungen, beim Füllen, Verladen und Um-
lauen, sowie Transport der Kokes, beim Stellen der Meiler
auch fernerhin zur Nachtzeit unter bestimmten festgesetzten
Bedingungen beschäftigt werden. Auf Steinkohlenberg-
werken und Zink- und Bleierzwerken, deren Betrieb auf
eine doppelte tägliche Arbeitsschicht eingerichtet ist, sollen
die Bestimmungen der Gewerbeordnung über Verbot der
o o
Nachtarbeit, Maximalarbeitstag und Mittagspause für alle
über 16 Jahre alte Arbeiterinnen, welche mit den vorher
aufgeführten Arbeiten beschäftigt werden, unter gewissen
Massgaben bis zum 1. April 1902 ausser Anwendung treten.
Es handelt sich hier um ein Heer von rund 15,000 Arbeits-
mädchen und Frauen, deren Ausnutzung durch die mächtigen
Grossbetriebe für sehr geringe Löhne (80 Pfennig bis 1 Mark
täglich) infolge einer im Herbst vorigen Jahres bekannt ge-
wordenen Eingabe der Lhiternehmer theilweise bis in das
nächste Jahrhundert verlängert wird. Es ist nicht abzusehen,
warum eine über alles Maass ausgedehnte Uebergangsfrist
gewählt wurde. In Oesterreich hat man mit kürzeren
Fristen sehr gute Erfahrungen gemacht. Hält man aber
einen so langen Termin für nöthig, so sollte man Sorge
tragen, dass er wirklich zu einer Uebergangsfrist werde, indem
man geeignete Bestimmungen für eine von Jahr zu Jahr
sich steigernde, wirklich schrittweise und nicht vollständig
dem Zutalle überlassene Einschränkung der weiblichen
Nachtarbeit trifft.
Kinderschutz ausserhalb der Fabriken. Erhebungen
über die Benutzung von Schulknaben zum Kegelaufsetzen
in Gastwirthschaften werden dem Vernehmen nach gegen-
wärtig von den Behörden in Preussen veranstaltet. Sollte
hiermit ein Anfang zur Ausdehnung des gesetzlichen Kinder-
schutzes über die Fabrik hinaus auf die sogenannte „freie
Erwerbsthätigkeit“ gemacht werden, so wäre dieser Schritt
lebhaft zu begrtissen. Die Ausnutzung der schulpflichtigen
Kinder für Austragezwecke, beim Hausiren und bei ähn-
lichen Geschäften hat Dimensionen angenommen, welche
mit der einfachsten Menschlichkeit nicht mehr zu verein-
baren sind. Eine systematische Bekämpfung dieses Unfugs
wurde aber noch nirgends versucht; höchstens, dass Polizei-
behörden hier und dort und für den Bereich einer einzelnen
Stadt das Hausiren der Kinder verboten oder beschränkt
haben. Die jetzt im Gange befindlichen preussischen Er-
hebungen werden also hoffentlich möglichst umfassend vor-
genommen und müssen als praktisches Ergebniss allgemeine
Vorschriften gegen die Ausnutzung der Kinderarbeit ausser-
halb der Fabriken und Werkstätten herbeiführen. Dass die
Landwirtschaft die Kräfte schulpflichtiger Kinder eben-
falls in sehr weitgehendem Maasse ausnutzt, bedarf kaum
der Erwähnung, Wie tief hier der Missstand bereits ein-
gewurzelt ist, zeigt eine Bewegung, die sich gegenwärtig
m rheinischen landwirtschaftlichen Vereinen bemerklich
macht, und die darauf hinausgeht, im neuen preussischen
Volksschulgesetz die Beendigung der Schulzeit fakultativ
auf das 13. Jahr, statt auf das 14. des Regierungsentwurfes,
festzusetzen, sowie allgemein für ländliche .Schulen die be-
rüchtigte Sommerhalbtagsschule einzuführen.
Arbeiterversicherung.
Haftpflicht und Unfallversicherung der Arbeiter in
Russland. Die russische Fabrikgesetzgebung hat bis jetzt
die Entschädigung der Arbeiter für die von ihnen erlittenen
Unfälle im Betrieb vollständig ausser Acht gelassen. Es
wird jedoch demnächst ein Gesetz erwartet, welches diese
Frage für das ganze Reich in einheitlicher Weise regeln soll.
In Vorbereitung ist das Projekt einer staatlichen Un-
fallversicherung der Arbeiter in Russland schon seit dem
Jahre 1881. Damals hatte die Industrie- und Handelsgesell-
schaft den Auftrag erhalten, ein bez. Gesetz auszuarbeiten.
Zwei Ausschüsse unter der Leitung der Grafen jgnatiew
und Walujew waren mit der Frage beschäftigt. Ihre Vor-
schläge unterscheiden sich in den Details, aber sie stimmen
darin überein, dass die Kosten der Entschädigung im Falle
eines Unfalles sowohl von Fabrikbesitzern und Unternehmern
aller Art, wie auch von juristischen Personen, Aktiengesell-
schaften, Kommanditvereinen u. dergl. getragen werden
sollen. Die Entschädigung soll gewährt werden, wenn der
Unfall verursacht wurde: I. durch eine mangelhafte Kon-
struktion der Maschinen; 2. in Folge der Nachlässigkeit des
Aufsichtspersonals und durch den Mangel an Schutzvor-
richtungen; 3. in jedem Falle in denjenigen Produktions-
zweigen, welche für die Gesundheit besonders schädlich
No. 9.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
121
sind. Dieser Gesetzentwurf trägt mehr den Charakter eines )
Haftpflichtgesetzes.
Die Vorlage des Ministers Wyschnegradskij, welche
mehr dem Prinzipe der Unfallversicherung entspricht, beab-
sichtigt die Versicherung vermittelst eines für alle Fabriken
und Industriebetriebe zu bildenden Fonds durchzuführen.
Die Beiträge sollen entsprechend der Arbeiterzahl jedes
Unternehmers aufgebracht werden. Für die Arbeitsun-
fähigen sind Altersrenten in Aussicht gestellt; bei den Un-
fällen, welche den Tod nach sich ziehen, soll den Familien
eine Rente gewährt werden.
Als eine weittragende und durchaus zu billigende
Vorschrift kann die Bestimmung des Gesetzentwurfs gelten,
wonach der Unternehmer prinzipiell in jedem Fall als ent-
schädigungspflichtig anzusehen ist und ihm der gerichtliche
Nachweis des Gegentheils obliegt, wenn er die Entschädi-
gung zu zahlen verweigert. Diese Bestimmung verliert
aber selbstverständlich ihre praktische Bedeutung, wenn
die Arbeiter auf Grund eines Unfallversicherungsgesetzes
nach dem Projekte Wyschnegradskij’s entschädigt werden.
Bisher ist die Sorge um die Verhütung von Unfällen
den Behörden für Fabrikangelegenheiten überlassen, dort
wo solche bestehen. Als ein der Unfallgefahr vorbeugen-
des Mittel wird verordnet, jeden neu in die Arbeit tretenden
Arbeiter auf die Gefahren bei seiner Beschäftigung genau
aufmerksam zu machen. Die Anwendung aller bekannten
Schutzvorrichtungen wird gleichfalls vorgeschrieben. Wie
das von vornherein wahrscheinlich, werden beide Mittel in
den meisten Fabriken vernachlässigt.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung.
Amtliche Untersuchung von Arbeiterwohnungen. In
Altona war, wie dem „Hann. Cour.“ geschrieben wird, dieser
Tage der Regierungs-Präsident Zimmermann aus Schleswig an-
wesend, um eine Untersuchung der Arbeiterwohnungen vor
zunehmen Eine gleiche Besichtigung von Arbeiterwohnungen
fand in letzter Woche auch durch den Regierungs-Präsidenten
von Massow auf der Insel Wilhelmsburg statt, wo sicli die grosse
Wollkämmerei befindet.
i
Wohn Verhältnisse der Bergarbeiter. Im ersten Heft
der „Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen
im preussischen Staat“, Jahrgang 1892, ist eine Abhandlung
von dem königlichen Oberbergrath in Halle, z. Z. Hilfs-
arbeiter im Ministerium für Handel und Gewerbe, Täglichs-
beck, über die Wohnungsverhältnisse der Berg- und Salinen-
arbeiter im Ober-Bergamtsbezirk Halle veröffentlicht. Der
Arbeit liegen amtliche Quellen zu Grunde. Es sind die
Wohnungsverhältnisse von nahezu 45 000 Personen — deren
Angehörige ungerechnet — ermittelt worden. Der Verfasser
glaubt nachweisen zu können, dass die grosse Mehrheit der
Arbeiter weniger als 167;,% des Jahr es Verdienstes (730 bis
1 030 M. nach der mitgetheilten Lohnstatistik) auf die
Wohnung verwenden. Ferner stehe der Hallesche Bezirk
in Bezug auf die Zahl der benutzten Wohnräume (3 ein-
schliesslich der Küche) mit in erster Linie; hinsichtlich der
Zahl von Hauseigenthümern unter seinen Arbeitern zeige er
mittlere Verhältnisse; grössere Zahlen weisen Saarbrücken und
Klausthal, kleinere Oberschlesien und Westfalen auf. Jedoch
übertreffen diese beiden Bezirke den Halleschen in Ansehung
der von Werksbesitzern zur Nutzung bereit gestellten
Wohnungen. Der Verfasser resumirt dahin, dass die Er-
bauung eigener Häuser durch die Arbeiter auf einen ge-
ringen Umfang voraussichtlich beschränkt bleiben wird,
und dass, auch im Interesse solider Bauausführung, das
Bestreben der Werksbesitzer zur Bereitstellung von Mieths-
wohnungen von grösserer Bedeutung zu werden verspricht.
Günstig für den Halleschen Bezirk sei es insbesondere, dass
auch die Braunkohlenindustrie in der Wohnungsfrage sich
eifrig zu bethätigen beginnt. Eine weitere Förderung für
die bergmännische Ansiedelung wird nicht nur im Öber-
Bergamtsbezirk Halle, sondern namentlich auch im nieder-
rheinisch-westfälischen Bergbaudistrikt von einer Revision
des Ansiedelungsgesetzes vom 25. August 1876 erwartet;
auch wird der Verkauf geeigneter Domänengrundstücke zu
Bauplätzen angeregt werden. Zum Schluss prüft der Ver-
fasser die Verhältnisse der Kost- und Quartiergänger und
gelangt zu dem Ergebniss, dass im Halleschen Bezirk ein-
mal die Zahl derselben keine auffallend hohe ist, und dass,
im Gegensätze zu anderen Industriebezirken, besonders
hervorstechende Uebelstände auf diesem Gebiete nur ver-
einzelt aufgetreten sind, immerhin aber eine Abänderung
und Vervollständigung der Polizeiverordnungen über das
Kost- und Quartiergängerwesen im Sinne der für den Re-
gierungsbezirk Düsseldorf über das Halten von Kost- und
Quartiergängern unter dem 11. Juli 1887 erlassenen Polizei-
verordnung zu wünschen ist.
Gewerbegerichte, Einigungsämter und
Arbeiterausschüsse.
Schiedsgerichte im sächsischen Bergbau. Nach dem
Vorgänge der fiskalischen Bergwerks - Verwaltung in
Preussen führt jetzt auch das Königreich Sachsen soge-
nannte Bergschiedsgerichte ein, deren Organisation sich
an die Vorschriften anlehnt, welche das Reichsgesetz vom
29. Juli 1890 für Gewerbegerichte gibt. In einer der letzten
Sitzungen des sächsischen Landtages, zweite Kammer, ge-
langte der entsprechende Regierungsentwurf zur Annahme,
una eine längere Diskussion entspann sich nur über die
Frage, ob die Berufung an die ordentlichen Gerichte gegen
die Urtheile der Bergschiedsgerichte zulässig sein solle.
Der Regierungsentwuri hatte die Berufung ausgeschlossen,
will also den Spruch des Bergschiedsgerichts als endgiltig
bestehen lassen, während von sozialdemokratischer und
fortschrittlicher Seite die Nothwendigkeit der Zulassung
einer Berufung lebhaft betont wurde. Dieser Standpunkt
weicht von demjenigen ab, welchen die volksthümliche
Sozialpolitik sonst zu Ungunsten der Beratung, welche die
Entscheidung verschleppt, eingenommen hat. Vielleicht
kommen im sächsischen Bergbau besondere Verhältnisse in
Betracht, so dass die Arbeiter vorwiegend ungünstige Ent-
scheidungen durch den Vorsitzenden mit Hilfe der Unter-
nehmerbeisitzer fürchten. Die zweite Kammer beschloss
unter Annahme des Regierungsentwurfes, die Regierung zu
ersuchen, in Erwägung zu ziehen, ob es nicht angezeigt
scheine, die Berufung bei den Bergschiedsgerichten einzu-
führen und das Ergebniss der Erwägungen dem nächsten
Landtage vorzulegen.
Arbeiter-Prud’hommes und Imperativ-Mandate. Bei
Wahlen zu den Conseils de Prud’hommes, den französischen
Gewerbe-Schiedsgerichten, stellt die Arbeiterschaft, nament-
lich im Seine-Departement, zumeist nur solche Arbeiter als
Kandidaten auf, die ein imperatives Mandat annehmen,
d. i. sich verpflichten, stets die Interessen der Arbeiter zu
wahren und als Bürgschaft hierfür ihre Demission in blanco
beim Wahlkommitee hinterlegen, das, falls der Gewählte
seinen Pflichten nicht nachkommen sollte, die Demission
mit dem jeweiligen Datum zu versehen und an die kom-
petente Stelle abzusenden hat. Man will damit verhüten,
dass die Arbeiter-Beiräthe bei Entscheidung der strittigen
Angelegenheiten sich von den Unternehmer-Beiräthen be-
einflussen lassen, bezw. das Wohlwollen der Unternehmer
auf Kosten der Arbeiter zu gewinnen suchen. Nun haben
aber mehrere Unternehmer dagegen remonstrirt und den
Staatsrath veranlasst, die letzterfolgte Wahl von vier
Arbeiter-Beiräthen des baugewerblichen Schiedsgerichtes
zu annulliren. Daraufhin haben deren sämmtliche Kollegen,
die ebenfalls ein imperatives Mandat angenommen hatten,
in einem an den Seinepräfekten gerichteten Kollektiv-
schreiben, als Protest gegen diese Annullirung, ihre De-
mission gegeben und gleichzeitig erklärt, es ihren Wählern
überlassen zu wollen, die Antwort auf die vom Staatsrathe
gefällte Entscheidung zu geben. Ihrem Beispiele sind be-
reits 43 Arbeiter-Beiräthe anderer als baugewerblicher
Schiedsgerichte gefolgt, und nach der unter den Gewerk-
schaften herrschenden Stimmung zu urtheilen, dürften bald
alle übrigen Arbeiter-Prud’hommes nachfolgen. Ihre
Wiederwahl wird als unzweifelhaft betrachtet.
122
S< )ZIALlJOLIT1SCHES CENTRALBLATT.
Xo. 9.
Städtisches Versöhnungsamt für Arbeiter. In Birmingham
geht man, wie die Londoner „Allg. Korr.“ mittheilt, mit der
Absicht um, ein städtisches Versöhnungsamt für Arbeiterstreitig-
keiten zu gründen. Der Gewerkrath hat die Initiative ergritfen.
Gelingt der Plan, so werden 70 000 Arbeiter sich der Entschei-
dung des Versöhnungsamts zu fügen haben.
Handwerkerfragen.
Die Forderungen der Handwerkerpartei.
Je mehr die Handwerker unter den Folgen der modernen
Produktionsweise leiden, und die handwerksmässige Be-
triebsform zwischen den Mahlsteinen der grossindustriellen
Konkurrenz und der organisirten Arbeiterbewegung zer-
rieben wird, desto mehr suchen die Handwerker durch
Forderung einer Zwangsorganisation und das Streben nach
einem wirthschaftlichen Ideal, welches vor einem halben
Jahrtausend einmal erfüllt war, dem drohendem Untergange
ihrer gewerblichen Betriebsform zu entgehen. Dass die
Handwerker in dem Kampf ums Dasein, in welchen sie die
Entwicklung der Fabrikindustrie und der Verkehrsmittel
gedrängt hat, die Hände nicht ruhig in den Schooss legen,
und nicht geduldig warten, bis ihre Betriebe gänzlich
konkurrenzunfähig geworden sind und sie gezwungen sein
werden, ihre selbständige wirthschaftliche Stellung mit der
des Fabrikarbeiters zu vertauschen, wird ihnen niemand
verübeln. Bedauern muss man es aber, dass sie ein wirth-
schaftliches Ideal aufstellen, welches nur innerhalb der
Stadtwirthschaft des Mittelalters sich verwirklichen konnte
in der Weltwirthschaft des auf die Neige gehenden 19. Jahr-
hunderts als aussichtslose Utopie erscheint.
Betrachten wir, bevor wir dies näher begründen, die
Lage des deutschen Handwerks in der Gegenwart.
Was die statistisch nachweisbare Entwicklung der
hanclwerksmässigen Betriebe im deutschen Reiche anlangt,
so seien die wichtigsten Zahlen in Folgendem ange-
geben. Als gemeinsames Unterscheidungsmerkmal des
handwerksmässigen und grossindustriellen Betriebes besitzen
die beiden letzten deutschen Gewerbezählungen von 1875
und 1882 lediglich die Scheidung der gewerblichen Betriebe
bis und mit 5 Gehilfen und in solche mit mehr als 5 Ge-
hilfen.
Vergleichen wir nun auf Grund dieses unzweifelhaft
nicht ausreichenden, rein mechanischen Unterscheidungs-
merkmales die Gross- und Kleinbetriebe im deutschen Ge-
werbe, wobei wir aut die Verschiedenheit von Kleingewerbe
und handwerksmässiger Betriebsform wohl nicht besonders
aufmerksam zu machen haben.
Bei einer absoluten Steigerung der Zahl der Kleinbe-
triebe von 1760 033 auf 1 888 380 sank im kurzen Zeiträume
von 1875 auf 1882 der Antheil der kleingewerblichen Be-
triebe am gewerblichem Leben in Preussen von 57,57 auf
54,92 "/o1). Berücksichtigt man, dass seit der letzten Ge-
werbezählung fast ein Dezennium verflossen ist, dass in
diesem Zeiträume eine zwar statistisch nicht sicher beleg-
bare, aber jedem Beobachter durchaus augenfällige ausser-
ordentlich starke Entwicklung der Grossindustrie stattge-
funden hat, während gleichzeitig schon hierdurch, noch
mehr aber durch die Krisenjahre und die gegenwärtige
tiefe wirthschaftliche Depression verursacht, das Kleinge-
werbe einen weiteren starken Rückgang erfahren haben
muss, so darf wohl geschlossen werden, dass der Antheil
des Kleingewerbes am gewerblichen Leben Preussens
jetzt unter 50% gesunken sein dürfte. Im Gebiete des
deutschen Reiches gehörten im Jahre 1882 von 100 Ge-
werbetreibenden 61,15% dem Kleinbetriebe, 38,85% dem
Grossbetriebe an. Bei einer solchen prozentuellen Fixirung
darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass sie eigentlich
l) Petersilie, Zur Statistik des Kleingewerbes in Preussen.
Zeitschrift des preuss. Statist. Bureaus 1887 S. 249 f.
als Vergleichsmassstab durchaus ungeeignet ist. Denn
fast ebensowenig wie es anginge, aus einem Vergleiche
der Zahl der handwerksmässigen und grossindustriellen
Betriebe Schlüsse auf den Antheil derselben an unserer
wirthschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Daseinberechti-
gung in unserem sozialen Körper zu ziehen, so geht es,
wenn auch eher doch nur mit allen Einschränkungen
an, aus einem Vergleiche der von den verschiedenen Be-
triebsformen beschäftigten Personen, die dabei fast nie nach
Alter, Geschlecht und Stellung im Berufe weiter unter-
schieden werden, derartige Schlüsse zu ziehen. Hierzu
würde nur eine Kombination der von den verschiedenen
Betriebsformen produzirten Waarennrengen und in den-
selben sich betätigenden Personen berechtigen. Dass
derartige Kombinationen beim gegenwärtigen .Stande sta-
tistischer Technik und Wissens unmöglich sind, braucht
nicht weiter ausgeführt zu werden. Trotzdem aber ist der
Hinweis wohl gestattet, dass der handwerksmässige mit un-
ausgebildeter Arbeitsteilung und ungenügenden Werk-
zeugen arbeitende Gehilfe und Meister eine weitaus ge-
ringere Waarenmenge unserer nationalen Wirtschaft zuführt
als die auf Grundlage ausgebildetster Arbeitsteilung mit
Werkzeugmaschinen und allen sonstigen technischen Hilfs-
mitteln produzirenden Arbeiter und Ingenieure der Gross-
industrie. Daraus kann man den nur zu oft versäumten
Schluss ziehen, dass der Antheil der 57,57 im Jahre 1875
und der 54,92 im Jahre 1882 im preussischen Kleingewerbe
nachgewiesenen Prozente der in der Gesammtindustrie
tätigen Personen nur die weit geringere Hälfte der in der
Industrie Preussens überhaupt hergestellten Waaren produ-
ziren. Erwägt man aber, dass unter den 57,57 bezw. 54,92 %
die hausindustriellen Betriebe mitinbegriffen sind, die doch
nichts anderes als dezentralisirte Fabriksbetriebe darstellen
und in welchen in Preussen, speziell in den Rheinlanden,
Westphalen, Schlesien, Berlin etc. eine ganz ausserordentlich
grosse Zahl von Personen tätig sind,1) so erscheint der
Antheil der handwerksmässigen Produktion an unserem ge-
werblichen Leben noch geringer.
Vergleichen wir nun die 19 Gewerbegruppen im
deutschen Reiche-), so finden wir, dass die absolute Zahl
der Kleinbetriebe in 10 Gruppen in der Zeit von 1875 — 1882
gefallen, dagegen nur in 9 gestiegen ist, während die Zahl
der Grossbetriebe in 1 8 Gruppen gestiegen und nur in einer
(Bergbau-, Hütten- und Salinenwesen) gefallen ist, welches
Fallen (um 31,1%) aber sicherlich keinen Rückgang dieser
Grossindustrie sondern blos eine Verschiebung in der Zahl
der Unternehmer und Aufgabe unrentabel gewordener Be-
triebe bedeutet. Uebrigens ist die Zahl der Kleinbetriebe
in dieser Industrie weit mehr (um 50,7%) gesunken. Die
Angaben über die Vermehrung und Verminderung der
Gross- und Kleinbetriebe im Zeiträume von 1875 — 1882 sind
als die einzigen, die wir für das deutsche Reich überhaupt
besitzen, für die Frage der Bedeutung des Kleingewerbes
so wichtig, dass es vortheilhaft ist, sie in’s Gedächtniss zu
rufen. Wir lassen die bez. Tabelle auf der nächsten .Seite
folgen.
Wir sehen demnach mit Ausnahme einer einzigen
Gruppe (Künstlerische Gewerbe) im Grossbetriebe einen
weitaus rascheren Gang der Entwicklung als im Kleinbe-
triebe; da aber in der Gruppe Künstlerische Gewerbe im
Jahre 1882 blos 15 388 (1875: 13 326) Personen beschäftigt
waren, so fallen diese Zahlen den ca. 7 Millionen Gewerbe-
und Handeltreibenden im Jahre 1882 gegenüber absolut
nicht in’s Gewicht. Im Durchschnitte aller Gewerbs- und
Handelsgruppen erreichte die Zunahme der kleingewerb-
lichen Kräfte die der grossindustriell Thätigen nicht;
jene belief sich nämlich nur auf 7,6, diese indessen aut
i 1 7,5 %. Im Verhältnis zur gestiegenen Bevölkerung stellt
sich das Wachsthum im Zeiträume 1875 — 1882 für die klein-
gewerblichen Betriebe im Verhältniss 9783 : 9825, für die
Grossindustriellen im Verhältnisse 5694:6245 dar.
*) 6;49% aller Gewerbetreibenden im Deutschen Reiche
waren im Jahre 1882 in der Hausindustrie thätig.
-) Kollman, Die gewerbliche Entfaltung im deutschen
Reiche. Schmoller’s Jahrbuch N. F. XII. (1888) S. 112.
No. 9.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
123
Klein-
betrieb ')
Gross-
betrieb
Kunst- und Handelsgärtnerei, Baumschulen
+ 16,2
+ 237,7
Fischerei
3,7
+ 142,4
- 31,1
Bergbau-, Hütten- und Salinenwesen . . .
- 50,7
Torfgräberei und Torfbereitung
39,1
+ 380,0
Industrie der Steine und Erden
4,8
-f 57,1
Bearbeitung von Metallen mit Ausnahme
des Eisens
+ 6,5
+ D,9
Eisenverarbeitung
- 1,1
+ 0,0
Maschinen, Instrumente, Apparate einschl.
von Gas- und Wasseranlagen
1,4
+ 16,3
Chemische Industrie
+ 3,6
+ 26,6
ForstwirthschaftlicheNebenprodukte,Leucht-
stoffe etc., einschl. Dachfilz und Dach-
pappefabrikation
20,1
+ 25,0
Textilindustrie
10,4
+ 24,5
Papierindustrie ausschl. Dachfilz und Dach-
pappefabrikation
+ 18,7
+ 36,2
Leder-, Wachstuch- und Gummiindustrie
+ 1,9
+ 17,4
Holz- und Schnitzstoffe
— 3,5
+ 8,4
Nahrungs- und Genussmittel ausschl. Kaffee-
brennerei
- 0,9
+ 15,7
+ 12,5
Bekleidung und Reinigung
+ 65,9
Baugewerbe ausschl. Einrichtung von Gas-
und Wasseranlagen
— 29,6
+ 12,8
+ 68,1
Polygraphische Gewerbe
+ 43,8
Künstlerische Gewerbe
+ 45,5
+ 16,3
Da die wirthschaftlichen und technischen Momente,
welche der Fabrikindustrie dem Handwerke gegenüber die
Uebermacht gewähren, noch lange nicht ihre volle Wir-
kung geäussert haben und das Uebergewicht der Gross-
industrie über das Handwerk mit jedem technischen Fort-
schritte, jeder Krise, jeder Kartellgründung sich steigert,
so muss ein weiterer Niedergang dieser Produktionsform
zu gewärtigen sein. .So wie in der Spinnerei und Weberei
der handwerksmässige Betrieb nur noch als vereinzelte
Ausnahme anzutreffen ist, so wird die Fabrikindustrie in
anderen, unserer Meinung nach in den allermeisten Industrie-
gruppen dem Handwerke die Existenzbedingungen er-
schweren und es zuletzt ganz aufsaugen.
Erkennt auch die grosse Masse der Handwerker die
Gründe dieser Entwicklung nicht, so tiihlt sie doch, dass
der Boden, auf dem sie steht, von Tag zu Tag mehr unter-
graben wird, dass die Grundlagen des Handwerkes gefestigt
werden müssen und der Fortbestand der Selbstständigkeit
des Handwerkes erkämpft werden muss.
Dass ein solcher Kampf nöthig ist, falls nicht das Hand-
werk von der gewerblichen Entwicklung verschlungen werden
soll, sehen die Handwerksmeister wohl ein, sie erkennen
aber nicht ihren wirklichen Feind, denn sie erblicken ihn in
der gesetzlich gewährleisteten Gewerbefreiheit, welche sie für
die Ursache statt für den gesetzlichen Ausdruck der modernen,
für sie sich so schwer fühlbar machenden gewerblichen
Entwicklung halten. Deshalb glauben die deutschen Hand-
werker als ihr Ziel die Abschaffung der Gewerbeordnung vom
Jahre 1869 und die Wiederherstellung der alten gewerbe-
rechtlichen Bestimmungen aus der Zeit des ausgehenden
Mittelalters erstreben zu sollen. Auf dem letzten Allge-
meinen deutschen Handwerker- und Innungstage, der in
diesem Monat in Berlin stattfand, formulirten die in im-
ponirender Zahl versammelten Vertreter des zünftlerisch
gesinnten Theiles des deutschen Handwerks2) neuerdings
ihr Programm.
Ihre wesentlichsten Forderungen sind die obligato-
rische Innung und der Befähigungsnachweis.
') -f- bedeutet gestiegen, — gefallen im Zeiträume 1875
bis 1882.
2) Es wäre falsch, das deutsche Handwerk mit den Innungs-
bestrebungen zu identifiziren Die Sozialdemokratie hat schon
jetzt im Handwerk weit mehr Boden, als allgemein vermuthet
wird. Beweis hierfür sind die Wahlen zu den Gewerbegerichten
für die Gruppe der Arbeitgeber. In dieser siegen in Nürnberg
seit Jahren die Sozialdemokraten. Bei den letzten Wahlen zum
Gewerbegericht in Frankfurt a. M. fielen von 872 Stimmen 307
auf die Innungsliste, 279 auf die sozialdemokratische. In Ham-
burg bilden nach dem „Hamburger Echo“ die Handwerksmeister
seit Jahren die Kerntruppen der dort besonders stark ent-
wickelten sozialdemokratischen Bewegung.
Bis zu einem gewissen Grade kann man aus der
Forderung der obligatorischen Innung auf ein Ein-
geständniss der Schwäche und des mangelnden Zutrauens
der Führer der Bewegung in den Handwerkerstand
schliessen. Wenn wir auch keineswegs zu den prinzi-
piellen Gegnern einer Zwangsorganisation uns rechnen, so
glauben wir doch, dass sie erst dort volle Berechtigung
hat eingeführt zu werden, wo die zu organisirenden Indivi-
duen durch möglichste Ausnützung aller Mittel der freien
Organisation das thatsächliche Bedürfnis nach einer ihre
ganze Klasse oder ihren ganzen Stand umfassenden Orga-
nisation bewiesen haben. Nun ist aber weder die den
Handwerkern gegenüber in der Praxis sicherlich aut’s
liberalste durchgeführte V ereinsgesetzgebung der deutschen
Staaten irgendwie erheblich ausgenützt worden, noch ist
auch, und dies ist besonders bezeichnend, von der Mög-
lichkeit der Organisation in freien Innungen, denen
doch werthvolle Sonderrechte vom Reichstage durch die
Novellen zur Gewerbeordnung vom 18. Juli 1881, 8. De-
zember 1884, 23. April 1886 und 6. Juli 1887 zugebilligt
wurden, ein die Forderung nach obligatorischen Innungen
rechtfertigender Gebrauch gemacht worden. Entweder ist
die grosse Masse der Handwerker zu indolent, die ihnen
durch die bestehende Gesetzgebung eingeräumte Gelegen-
heit zur Organisation in freien Vereinen und öffent-
lich rechtlichen Korporationen entsprechend auszu-
nützen oder der Glaube, dass auf dem Wege der
Organisation ihrem Stande geholten werden kann, ist
abhanden gekommen, oder die Meinung bricht sich Bahn,
dass „Befähigungsnachweis und Zwangsinnungen nur
Scheerereien und Kosten für die Kleinhandwerker bedeu-
ten“1), in jedem dieser Fälle würden obligatorische Innungen
bloss Form ohne Inhalt, eine stumpfe Waffe im Daseins-
kämpfe des Handwerkes in Deutschland sein. Es sprechen
so manche Anzeichen dafür, dass selbst in den innungs-
freundlichen Handwerkerkreisen die Innung nicht mehr als
Panacee angesehen wird, stellten doch in den letzten Mo-
naten eine Reihe von Innungen, so die von Hamburg,
Köln a. Rh., Hanau und Frankfurt a. M. den Antrag aut
Auflösung der Innungen. Irrig wäre es, diese Erscheinung
einzig und allein auf die sie unzweifelhaft in erster Linie
veranlassende Rede des Staatssekretärs v. Boetticher in der
Reichstagssitzung vom 24. November 1891 zurückzuführen,
oder sie etwa als eine Demonstration aufzufassen, denn,
hätten die Vertreter der Innungen ein festgegründetes Ver-
; trauen in ihre Sache, so würden sie sich durch eine noch
viel schroffer ablehnende Haltung des Bundesrathes nicht
aus der Fassung bringen lassen. Die Erfahrungen mit den
obligatorischen „Genossenschaften“ Oesterreichs (Novelle
zur österreichischen Gewerbeordnung vom 15. März 1883)
sprechen auch in keiner Weise dafür, dass die Zwangs-
innung das Mittel sei, die Lage des Handwerks zu ver-
bessern. Die Klagen der Handwerker sind in Oesterreich
ebensowenig verstummt, wie im Deutschen Reiche, obgleich
doch im industriell gegen Deutschland noch stark zurück-
gebliebenen Oesterreich die Maschinerie noch lange nicht
die revolutionäre Wirkung ausgeübt hat wie im Deut-
schen Reiche, und die gewerkschaftliche Organisation der
i Arbeiter bei Weitem nicht so ausgebildet ist, wie in Deutsch-
| land, Lohnerhöhungen deshalb weit seltener von den Ar-
beitern den Handwerksmeistern abgerungen werden können.
Trotz dieser weitaus günstigeren Situation des Handwerks
in Oesterreich und trotzdem fast das ganze Programm der
österreichischen Zünftler in die Gewerbeordnung aufge-
nommen wurde, hat es sich ergeben, dass in unserem Nach-
barstaate die Konkurrenzfähigkeit des Handwerkes der
Fabrikindustrie gegenüber nach keiner Richtung grösser
geworden ist.
Der allgemeine deutsche Handwerker- und Innungstag
hat der Frage der obligatorischen Innung weniger Zeit
gewidmet, als man füglich erwarten dürfte. Er hat die An-
träge auf Auflösung der Innung, soweit sie nicht von den
>) Wörtliche Äusserung in einem während des letzten
Handwerkertages in Berlin verbreiteten Flugblatt.
124
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 9.
Antragstellern zurückgezogen wurden, mit grosser Majorität
abgelehnt. Ein ganz spezialisirter, in Form einer Reso-
lution seitens des Sekretärs des Zentralausschusses Dr.
Schulze beantragtes Programm 4) für die Innungen, welches
mit geringen Einschränkungen den obligatorischen Beitritt
zu den Innungen forderte, scheint nicht den vollen Beifall
der Versammlung gefunden zu haben, denn es wurde nur
als „schätzbares Material den Verbänden überwiesen.“
Zur Frage der Handwerkerkammern nahm der
Handwerkertag nicht direkt Stellung, man schien die Ent-
würfe der Regierung erst abwarten zu wollen.
Viel grösseren Eifer und Interesse als der Frage der
obligatorischen Innung wurde dem Befähigungsnach-
weise gewidmet. Dies mag vielleicht auf den Umstand
zurückzuführen sein , dass Staatssekretär v. Boetticher
in seiner Reichtagsrede vom 24. November 1891, welche die
Einberufung des Handwerkertages veranlasste, sich zwar
in gleicher Weise gegen die gesetzliche Einführung der
obligatorischen Innung wie des Befähigungsnachweises
ausgesprochen hatte, aber doch eine Organisation des ge-
sammten Handwerkes in Handwerker- oder Gewerbe-
kammern für die einzelnen Bezirke, denen der gesammte
Handwerkerstand dieser Bezirke unterworfen resp. an denen
er betheiligt sein soll, in Aussicht stellte. Während also
dieses Surrogat der Organisationsform in der obligatorischen
Innung etwa als Abschlagszahlung angesehen werden
konnte, so war an der unbedingt ablehnenden Haltung der
Reichsregierung hinsichtlich der Forderung des Befähigungs-
nachweises nicht zu zweifeln. Der Handwerkertag, von seinen
Veranstaltern zur demonstrativen Kundgebung gegen die
in der Reichstagssitzung vom 24. November 1891 vertretene
Handwerkerpolitik der Reichsregierung einberufen, musste
naturgemäss die Forderung des Befähigungsnachweises mit
ganz besonderer Entschiedenheit betonen. Der Innungs-
und Handwerkertag erklärte „mit aller Entschiedenheit an
dem Befähigungsnachweise festzuhalten und mit vollstem
Nachdruck dessen gesetzliche Einführung zu erstreben, in
der Ueberzeugung dass alle Wiederbelebungsversuche (des
Handwerkes) ohne obige Einführung (des Befähigungsnach-
weises) nicht durchschlagend sein können.“ Obgleich der
einstimmigen Annahme dieser Resolution eine längere De-
batte vorangegangen war, in der man sich mit Ausnahme
eines Redners allgemein für den Befähigungsnachweis aus-
sprach, sind die für denselben nach den Zeitungsberichten2)
vorgeführten Argumente dürftig und gering an Zahl.
Als Widersprüche wurden hervorgehoben, dass der
Staat bei den gelehrten Berufsarten (Aerzten, Juristen,
Lehrer, Bautechnikern) Befähigungsnachweise fordere
und dass er das Fortbildungs- und Fachschulwesen
pflege. Zur Ergänzung aller auf dem Handwerker-
tage für den Befähigungsnachweis angeführten Argu-
mente mögen die folgenden von Vertretern dieser
Forderung angeführten Gründe dienen. Sie sind: Ein-
schränkung der bisher regellosen Konkurrenz wenigstens
auf die befähigten Personen allein (Ackermann)3), Pflicht
des Staates im eigensten Interesse sei es, den Arbeits-
markt mit leistungsfähigen Bürgern zu versorgen und zu
verhüten, dass das Publikum durch das Pfuscherthum und
von kapitalistischen Ausbeutern benachtheiligt werde. Der
Befähigungsnachweis gewährleiste einen Konkurrenz- und
leistungsfähigen Handwerkerstand auf dem Arbeitsmarkt
und dadurch .steuerfähige Bürger4). „Man müsse bald den
b Abgedruckt in der 3. Beilage zu No 41 des „Reichs-
boten“ vom 18 Februar 1892.
’) Wir folgen den ausführlichen Referaten des auf dem
.Standpunkte der Innungsbewegung stehenden „Reichsboten“.
3) Reichstagssitzung 10. März 1885, stenographische Be-
richte etc., 6. Legislaturperiode, X. Session 1884/85. Band V,
No. 119 der Drucksachen Citirt bei Hampke Dr. Thilo, Der
Befähigungsnachweis im Handwerke, Jena, G. Fischer, 1892.
S. 56 f.
4) Schornsteintegenneister Faster am I. Innungstage, Juni
1885, citirt bei Hampke a. a. O. S. 62 f. Aehnlich auch in' Be-
schlüssen des 5. alldem, deutschen Handwerkerbundes und des
5. Delegirtentages des allgem. deutschen Handwerkerbundes in
Dortmund, August 1887. citirt bei Hampke a. a. O. S. 72
Befähigungsnachweis gewähren, um der Maschinenkonkur-
renz zu begegnen“, erklärte ein Redner auf dem Innungs-
tage zu Berlin (September 18881). Der Befähigungsnach-
weis solle die Vorbedingung der Berücksichtigung bei staat-
lichen Submissionen sein und nur „Meister“ sollten Lehrlinge
halten dürfen2). Der Befähigungsnachweis bilde die Ga-
rantie für die fachmännische Ausbildung von Lehrlingen,
er beseitige die Lehrlingszüchterei und wahre die Standes-
ehre3).
Dem naheliegendsten und schwerwiegendsten Argu-
ment gegen die Forderung des Befähigungsnachweises, dass
derselbe in Oesterreich durchaus wirkungslos geblieben ist,
sowohl was die wirthschaftliche Hebung des Handwerker-
standes und seiner Standesehre, als auch die Stärkung seiner
Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Maschinenindustrie und
die Einschränkung der Lehrlingszüchterei anlangt, sucht man
dadurch die Beweiskraft zu nehmen, dass man entgegenhält,
in Oesterreich bestehe nur ein „Verwendungs“- und kein
„Befähigungsnachweis“. Dies ist richtig, denn der Nachweis
der Befähigung wird in Oesterreich im Allgemeinen durch
das Lehrzeugniss und ein Arbeitszeugniss über eine mehr-
jährige Verwendung als Gehilfe in demselben Gewerbe
oder in einem dem betreffenden Gewerbe analogen Fabriks-
betriebe erbracht, während nach dem von den Vertretern
der Innungsbestrebungen im deutschen Reichstage vorge-
legten Gesetzentwürfe der Nachweis der Befähigung
durch eine wirkliche Prüfung geliefert werden soll.
Praktisch erscheint uns der Unterschied zwischen den
österreichischen Gesetzesbestimmungen und dem deutschen
Entwürfe nicht erheblich, da doch angenommen werden
kann, dass ein nach vollendeter Lehrzeit bis zum vollendeten
25. Lebensjahre in der Regel 8—9 Jahre thätiger Gehilfe
meist im Stande sein dürfte, eine Prüfung zu bestehen, falls
diese, und anders könnte ein derartiges Gesetz überhaupt
nicht zu Stande kommen, die nun auch im Handwerk
weit fortgeschrittene Arbeitstheilung entsprechend be- '
rücksichtigt und dem Konkurrenzneide und den
Monopolbestrebungen der Handwerker keine Gelegen-
heit zur Bethätigung gewährt. Wenn heute die hand-
werksmässige Schreinerei in eine grosse Anzahl von
Berufsarten zerfällt, so wäre es thöricht von einem
Meisterkandidaten, der als Lehrling wie als Gehilfe
nur Parquettboden gelegt oder nur Stühle gefertigt •
hat, die Herstellung eines Schreibtisches als Aufgabe )
zu stellen. Eine grosse Anzahl ähnlicher Beispiele könnte
leicht angeführt werden, um zu beweisen, dass ein sinn-
gemässer Befähigungsnachweis zu einer unbegrenzten
Spezialisirung des Handwerks einerseits, zu einer ausser-
ordentlich beengenden Beschränkung der Berufsausübung
anderseits führen würde und jedenfalls müsste, falls man
an die vor Einführung des Befähigungsnachweises selbst-
ständig gewordenen Handwerksmeister die nachträgliche
Nachweisung der Befähigung zur Ausübung des Gewerbes
als Forderung stellen wollte. Trotz der weniger strengen
Bestimmungen des österreichischen Gesetzes und der nicht
rigorosen Durchführung desselben hat sich eine unendliche
Zahl von Grenzstreitigkeiten zwischen den einzelnen Ge-
werben, welche die Elastizität des Gewerbebetriebs und
damit die Konkurrenzfähigkeit einengen, ergeben.
Wir wollen nur darauf hinweisen, dass Tischler und
Tapezierer sich gegensitig das Recht absprachen, Reisekofler
herzustellen, dass Bäcker und Konditoren über das Recht
der Tortenbäckerei lange Zeit in Streit lagen und nicht nur
in der Uebergangsperiode, sondern bis zum heutigen Tage
die Streitigkeiten wegen Abgrenzung der Gewerberechte
einen ganz ungeheuren Umfang genommen haben, der in
keiner Weise hinter den unerträglichen Aergernissen und
Streitigkeiten zurückblieb, welche die gleichen Ursachen
zur Zeit der Verknöcherung der alten Zünfte veranlassten.
Unter den österreichischen Handwerkern werden nun auch
immer mehr Stimmen laut, welche schliessen lassen, dass die
b Vgl. Hampke S. 77.
-b Resolution des 2. Innungstages, s Hampke S. 78.
3) Faster auf dem 1. deutschen Innungstage, s. Hampke
No. 9.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
125
positive Seite des Befähigungsnachweises nicht die erhoffte
Wirkung gehabt hat, während die viel tiefer einschneidende
negative Seite desselben mit den grössten Nachtheilen für
den Betrieb des Handwerks verknüpft ist und in Deutsch-
land, würde man den viel weitergehenden Forderungen der
Innungsvertreter Rechnung tragen, noch weit mehr Nach-
theile dem Handwerksbetriebe bringen würde.
Betrachten wir kurz die für den Befähigungsnachweis
ins Treffen geführten Gründe. Wenn von Aerzten, Richtern,
Lehrern ein Befähigungsnachweis gefordert wird, was
übrigens nur mit Einschränkung1) zuzugestehen ist, so
stehen hier doch ganz andere öffentliche Interessen im Spiel
als beim Schneider, Handschuhmacher und Friseur, deren
Leistungen überdies vom Laien viel leichter beurtheilt
werden können, als die Fähigkeiten zur Ausübung gelehrter
Berufsarten. Den Richter, Lehrer, Armenarzt kann ich nicht
nach Belieben wählen oder meiden, den Wirth, Schuhmacher,
Friseur aber wohl.
Das Fortbildungs- und Fachschulwesen kommt Lehr-
lingen ebenso wie jugendlichen Fabrikarbeitern zu Gute
und steht in keinem Widerspruche mit einer dem Befähi-
gungsnachweise ungünstigen Handwerkerpolitik. Eine Ein-
schränkung der bisher regellosen Konkurrenz wird der
Befähigungsnachweis nicht bringen, da die bis nun er-
sessenen Rechte freier Erwerbsausübung nicht genommen
werden können, andererseits bei dem statistisch erwiesenen
Rückgang der Zahl der Handwerkerbetriebe die Ausfüllung
der durch Tod, Bankerott etc. entstehenden Lücken in der
Zahl der Handwerker auch nach event. Einführung des
Befähigungsnachweises unschwer möglich sein wird. LTebri-
gens ist es klar, dass die „regellose Konkurrenz“ weit
weniger, von den Handwerksmeistern unter einander oder
gar von den armseligen „Pfuschern“, sondern von der
durch den Befähigungsnachweis nicht berührten Fabrik-
und Hausindustrie ausgeht. Die Behauptung, dass der Be-
fähigungsnachweis einen konkurrenz- und leistungsfähigen
Handwerkerstand gewährleiste, ist ebenso leicht aufgestellt,
wie schwer zu beweisen, dies gilt auch von der Behaup-
tung, dass der Befähigungsnachweis dem Handwerke er-
möglichen wird, der Maschinenkonkurrenz zu begegnen.
Hiergegen zu polemisiren erscheint überflüssig, beweisen
doch derartige Aeusserungen nichts mehr als den gänz-
lichen Mangel an Verständniss für die Verschiedenheit der
Umstände und Verhältnisse der Gegenwart und der Ver-
gangenheit. Wenn die Handwerksmeister als Vortheile des
Befähigungsnachweises anführen, dass dieser Vorbedingung
für die Berücksichtigung bei staatlichen Submissionen und
für das Halten von Lehrlingen sein sollte, so muss man
den Vertretern dieses Standpunktes mit dem Minister von
Boetticher2) den Vorwurf machen, dass sie die Regelung
der Interessen des Handwerkerstandes für eine isolirte
Frage halten und an die Interessen der anderen Berufs-
stände dabei gar nicht denken. Es mag ja sein, dass eine
grössere Garantie für die fachmännische Ausbildung der
Lehrlinge durch den Befähigungsnachweis gewährt wird,
sicherlich aber nicht gegen die Lehrlingszüchterei.
Aeusserte sich die Abwehr gegen die Grossindustrie in
den Forderungen der obligatorischen Innung und des Befähi-
gungsnachweises, so die Feindseligkeit gegen die als gleich
gefährlichen Feinde von denHandwerkern gefürchtete organi-
sirte Arbeiterschaft in dem Danke an die verbündeten
Regierungen, dass sie den Wünschen des deutschen Hand-
werkes nach schärferen Bestimmungen gegen den Kontrakt-
bruch der Arbeiter Rechnung tragen wollten und in ihren,
freilich mit der Drohung an die Regierung, im Falle der
Nichtberücksichtigung ihrer Forderungen zur Sozialdemo-
kratie übergehen zu wollen, abwechselnden Angriffen auf
die Arbeiterpartei.
Die Wünsche nach schärferen Bestimmungen gegen
') Die Führung des Titels, nicht aber die Ausübung ärztlicher
Praxis, ist an den Befähigungsnachweis gebunden, richterliche Thä-
tigkeit wird von ungeprüften Schöffen und Geschworenen, ebenso
wie der Lehrberuf auch ohne Befähigungsnachweis ausgeübt.
2) Reichstagsstzg. v. 24. Nov. 1 89 1 . Stenogr. Protokolle 1891.
S. 3022 D.
den Kontraktbruch der Arbeiter sind im Munde der Hand-
werker etwas seltsam, da die Arbeiter häufig genug Grund
haben, über den Kontraktbruch der Handwerksmeister
zu klagen. Wie oft sind letztere nach eigenem Ein-
geständniss ausser Stande, am Lohnzahlungstage mit
den Arbeitern abzurechnen. Wie häufig sind die Klagen
der Arbeiter bei den Gewerbegerichten gegen Handwerks-
meister wegen Nichteinhaltung der vertragsmässigen und
gesetzlichen Bestimmungen. Es wäre vorsichtiger gewesen,
die Klagen über den Kontraktbruch der Arbeiter zurück-
zuhalten.
Ueber die Forderungen zweiten Ranges in Hinsicht
auf die Konsumvereine, Abzahlungsgeschäfte, Hausirhandel
und die Gefängnissarbeit wollen wir uns aut wenige Worte
beschränken.
Die Forderung auf Hintanhaltung der Schleuder-
konkurrenz der Gefängnissarbeit ist durchaus berechtigt.
Am besten thäte man, eine der Entlohnung der freien Ar-
beiter sich nähernde Bezahlung der gewerblich beschäftigten
Gefangenen zu fordern. Dem Vorwurf der Schleuder-
konkurrenz wäre die Spitze abgebrochen, und kriminal-
politisch hätte diese Lösung der schwierig scheinenden
Frage den Vortheil, dass der Gefangene für einige Zeit
mit Geld zum ehrlichen Lebensunterhalt und mit mehr
Freude zur Arbeit das Gefängniss verlassen könnte, wo-
durch die Zahl der rückfälligen Verbrecher vermindert
würde. Erscheint diese Lösung unmöglich, so beschäftige
man die Gefangenen mit Arbeiten, die sonst der Gross-
industrie zufallen würden, oder mit kulturtechnischen Ver-
besserungen auf dem Lande. Jedenfalls ist die Konkurrenz
der Gefängnissarbeit gegen das Handwerk nicht am Platze.
In Bezug auf das Submissionswesen ist zuzugestehen,
dass dasselbe nach mehreren Richtungen reformbedürftig
ist, aber bezweifelt muss werden, dass die Reform des
Submissionswesens den vom Handwerke für sich erhofften
Erfolg haben wird.
Den übrigen hier angeführten Forderungen der Hand-
werksmeister könnte man einfach das Wort des Herrn
v. Boetticher entgegenhalten, dass die Interessen der Hand-
werker keine isolirten sind. Auch die Hausirer haben das
Recht zu leben, und ihnen den Betrieb des Hausirhandel.s
zu verbieten, ohne den in ihrer Mehrzahl Erwerbsunfähigen
eine Entschädigung zu gewähren, scheint uns nicht anzu-
gehen. Uebrigens trotz des Zugeständnisses, dass der, wie
nicht vergessen werden soll, schon jetzt nicht unein-
geschränkte Hausirhandel so manche ungesunde Seiten hat,
darf nicht verkannt werden, dass er eine wichtige Funktion
in der Zirkulation unseres Wirthschaftskörpers bedeutet.
Dass die Abzahlungsgeschäfte ausschliesslich, die Kon-
sumvereine fast ausschliesslich ihren Kundenkreis in der
Arbeiterklasse und unter den minderbemittelten Beamten,
Handwerkern u. s. w. haben, ist bekannt, dass sie in diesen
Kreisen allgemein gefühlten Bedürfnissen Rechnung tragen,
braucht trotz der anerkannten Nothwendigkeit einer gesetz-
lichen Regelung und Kontrolle des Abzahlungsgeschäftes
nicht weiter auseinandergesetzt zu werden, da man es als
unzweifelhaft betrachten kann, dass ein Verbot des Ab-
zahlungsgeschäftes entweder zu einer Verminderung des
Konsums der besitzlosen Volksklassen oder zu einem ge-
steigerten, den Handwerkern sicherlich kaum erwünschten
volkswirtschaftlich ebensowenig vorteilhaften Konsum von
Trödelwaaren führen muss. Die Handwerker, welche ohne
Rücksicht auf die Bedürfnisse ausserhalb ihrer Reihen
stehenden Bevölkerungsschichten Forderungen aufstellen,
ignoriren mit Unrecht die Bedeutung von Konsumvereinen
und Abzahlungsgeschäften. Sie haben auch deshalb nicht
zu erwarten, dass diese Wünsche Beachtung finden werden.
Bemerkenswerth war die entschiedene Ablehnung des
Genossenschaftswesens durch den Handwerkertag gelegent-
lich der Empfehlung der deutschen Zentralgenossenschaft
des Freiherrn v. Broich. Ohne zu diesem Projekte nach
irgend einer Richtung Stellung zu nehmen, scheint uns
doch die fast prinzipielle Ablehnung aller genossenschaft-
lichen Organisationen verfehlt. Scheint , und dies kann
selbst der kundige Vertreter der Handwerkerinteressen sich
126
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 9.
nicht weiter verhehlen, einer Reihe von Handwerkern das
Schicksal der handwerksmässigen Spinnerei und Weberei
bevorzustehen, so sollte man doch versuchen, die starken
Waffen des Gegners, der Fabrikindustrie, sich so weit als
möglich zu eigen zu machen: die Produktion auf höherer
Stufenleiter, und den Uebergang zum genossenschaftlichen
Einkauf, Verkauf und zur genossenschaftlichen Produktion
wenigstens versuchen. Wir wissen wohl, dass hierdurch das
Handwerk sich selbst aufgiebt. Ist es aber nicht besser,
selbst den Uebergang zu einer höheren Produktionsform zu
versuchen, daraus Nutzen zu ziehen, als diesen Uebergang
passiv zu ertragen und im Proletariat zu versinken. Wenn
für eine derartige „Handwerkerpolitik“ des Staates agitirt
und nach dieser Richtung Opfer vom Reiche gefordert, wenn
gleichzeitig ein Reichsgesetz über die Ausbildung der Lehr-
linge in Lehrwerkstätten zur besseren Ausbildung derselben
und zur Hintanhaltung der unkontrollirbaren Ausbeutung
derselben verlangt würde, so wäre dies ein viel aussichts-
volleres Programm als das der Innungsvertreter. Dann
würde auch mehr Selbstvertrauen, Frische und Kampfes-
freude das Handwerk erfüllen und Hoffnungslosigkeit wie
Fatalismus, welche heute in der breiten Masse der Hand-
werker herrschen, vielleicht verschwinden.
Berlin. Adolf Braun.
Gewerberätlie in Oesterreich. Die Sektion für Ge-
werbe- und sozialpolitische Fragen des Klubs der Vereinigten
deutschen Linken beschäftigte sich am 18. Februar mit dem
Anträge des Abg. Exner auf Errichtung von Bezirks-
und Landes-G ewerberäthen sowie eines Reichs-
Gewer berathes. Es besteht nämlich die Absicht seitens
der deutsch-liberalen Partei, eine grosse Organisation zu
schaffen, welche nicht nur einen faktischen Beirath der
politischen Behörden in der Führung der gewerblichen
Agenden bilden, sondern auch ein Organ für die Wünsche
der produzirenden Klassen sein soll. Die Sektion empfahl
einstimmig den Antragstellern die Einbringung des Gesetz-
entwurfes.
Vermischtes.
Klassische Konzerte für Arbeiter. Eine Gesellschaft von
Hofmusikern und Dilettanten hat in Verbindung mit dem aus-
schliesslich aus Arbeitern bestehenden Vereine für Volks-
bildung in München den Versuch gemacht, den Arbeitern zu
billigem Preise (20 Pf.) klassische Musik zugänglich zu machen.
Am 31. Januar d. J. wurden in einem grossen Lokale Haydn, Mozart
und Beethoven u. z. ausschliesslich Werke dieser Meister einem
Arbeiterpublikum vorgeführt. Sämmtliche Eintrittskarten wurden
verkauft, vielen Hunderten konnte wegen Lieberfüllung des
•Saales kein Einlass gewährt werden. Die Haltung des Publikums
war vortrefflich. Die Presse aller Parteien äusserte sich sehr
sympathisch über diesen wohlgelungenen Versuch. Bis zum
Sommer sollen 5 — 6 weitere Konzerte dieser Art für das gleiche
Publikum arrangirt werden.
Eingesendete Schritten.
(Besprechung Vorbehalten.)
Annuaire Statistique de la Belgique. 21. annee 1890. Bruxelles,
Ad. Mertens, 1890. 811. IX, 359, XX S.
Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege, Organ des
niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege.
Herausgegeben von Dr. Finkelnburg, Dr. Lent, Dr. Wolff-
berg. II. Jahrgang. I. Heft. Bonn. E. Strauss, 1892 8U.
8 und 58 S.
Fürth, Dr. Emil von, Die Einkommensteuer in Oester-
reich und ihre Reform. (Staats- und sozialwissenschaft-
liche Beiträge, herausgegeben von A. von Miaskowski.
I. Band, 2 Heft.) Leipzig, Duncker & Humblot. 1892. 8°.
X und 270 S.
Hasse, Dr Ernst, Beiträge zur Bevülkerungs- und Woh-
nungsstatistik von Leipzig. S.-A. aus der Festschrift:
„Die Stadt Leipzig in hygienischer Beziehung“. Leipzig.
Duncker & Humblot 1891. gr. 8°. 88 S.
Hitze. Franz, Normal - Arbeitsordnung, sowie Normal-
statut eines Arbeiter- Ausschusses. Festgestellt vom
linksrheinischen Verein für Gemeinwohl. Mit Einleitung
und Erläuterungen nebst Auszügen aus Fabrik-Ordnungen,
sowie einer Zusammenstellung der Bestimmungen des
Arbeiterschutzgesetzes von 1891. Köln 1892. Bachem. VI
und 120 S.
Höger, Karl. Die Lebcnsmittelvertheuerung (Wiener poli-
tische Volksbibliothek, Heft HD. Wien, L. A. Bretschneider,
1892. 8n. 52 S.
Industrielle Gesellschaft von Mühlhausen. Das Mühlhauser
Arbeiterviertel, seine Badeanstalten und Wasch-
küchen. Historischer LTeberblick. Auszug aus dem Jahres-
berichte 1891. Mühlhausen im Eisass. G. Detloff. 39 S.
1 Tabelle und 2 Tafeln
Jung. J. Der Weltpostverein und der Wiener Postkon-
gress (S.-A. aus Schmoller’s Jahrbuch für Gesetzgebung etc. I.
Leipzig, Duncker & Humblot, 1892. 8n. 58 S. und zwei gra-
phische Darstellungen.
Lassalle, Ferd. Reden und Schriften. Neue Gesammtaus-
gabe. Mit einer biographischen Einleitung, herausgegeben
von Ed. Bernstein, London. I. Band. Berlin, 1892, Verlag
der Expedition des „Vorwärts“ Berliner Volksblatt (Th.
Glocke). 8°. 550 S und 1 Porträt.
Marcinowski. F. Das Lotteriewesen im Königreiche
Preussen. Berlin, 1892, Georg Reimer. 8°. VIII und 214 S.
Miihlberger, Dr. Arthur. Studien über Proudhon. Ein Bei-
trag zum Verständniss der sozialen Reform. Stuttgart, G.
J. Göschen, 1891. 8°. 171 S.
Rauchberg. Dr. Heinrich. Beiträge zur Statistik der
öffentlichen Volksschulen in Oesterreich (S.-A. aus
der „Statistischen Monatsschrift“). Wien, Holder, 1891. 8".
26 S.
Bericht über die Thätigkeit des statistischen
S eminars a n der k. k. Universität W i c n im W i n t e r -
semester 1890/91. 8". 39 S.
- — Die elektrische Zählmaschine und ihre Anwen-
dung, insbesondere bei der österreichischen Volks-
zählung (S.-A. aus dem Allg. Statist. Archiv). Tübingen,
Laupp, 1891. 52 S.
Rausnitz, Julius. Der preussische Richter und der
deutsche Strafprozess. Berlin, H. Walther, 1892. 8".
19 S.
Rieks, Dr. F. Rechte und Pflichten der Lehrlinge, Ar-
beiter und Gesellen. 2. verbesserte Auflage. Berlin,
Wiegandt & Grieben, 1892. 8°. 67 S.
Schiff, Dr. Walter. Zur Frage der Organisation des land-
wirtschaftlichen Kredites in Deutschland und
Oesterreich. Zwei Abhandlungen. (Staats- und sozial-
wissenschaftliche Beiträge, herausgegeben von A. v. Mias-
kowski, Band I, Heft 1.) Leipzig, Duncker & Humblot,
1892. 8". 173 S.
Sozialpolitische Rundschau. Monatsschrift für die Geschichte
und Kritik der sozialen Bewegung. Leipzig, Fr. Richter,
Heft 5, Februar 1892. 8n. S. 321-400.
Sommaire periodiqne des Revues de Droit, fable mensuelle
de tous les articles et etudes juridiques publies dans les
periodiques beiges et etrangers. Brüssel, Larcier, 1891.
Dezemberheft.
Spiess. Dr. Das Gemeinde-Stimm- und Wahlrecht in
den Landgemeinden der sieben östlichen Pro-
vinzen. Auf Grund der Materialien der Landgemeinde-
ordnung vom 3. Juli 1891 und der Rechtsprechung des Ober-
verwaltungsgerichts zum praktischen Gebrauche systema-
tisch dargestellt. Berlin, Carl Heymann’s Verlag, 1892. 8"
cart. IV und 113 S.
Statistisches Jahrbuch des k. k. Ackerbau-Ministeriums für
1890. Erstes Heft. Produktion aus dem Pflanzen-
reiche. Wien 1891. K. k. Hof- und Staats-Druckerei. 8°.
XVIII, 137 S. mit zwei lithographischen Tafeln.
— Drittes Heft. Der Bergwrerksbetrieb Oester-
reichs im Jahre 1890. 1. Lieferung: Die Bergwerksproduk-
tion. Wien 1891. K. k. Hof- und Staatsdruckerei. 8°. 153 S.
— — 2. Lieferung: Ausdehnung des Bergbaues, Betriebs-
einrichtungen, Arbeiterstand, Verunglückungen, Bruderladen,
Bergwerksabgaben, Naphtastatistik und Statistik der Mor-
talitäts- und ln valid itäts Verhältnisse der Berg- und Hütten-
arbeiter, sowie der Mortalitätsverhältnisse ihrer Frauen und
Kinder im Jahre 1889. Wien 1891. K. k. Hof- und Staats-
druckerei. 8°. 211 S.
Summarischer Bericht der Handels- und Gewerbekammer in
Brünn über die geschäftlichen Verhältnisse in ihrem
Bezirke während des Jahres 1891. Brünn 1892. Selbst-
verlag. 8n. XVI und 135 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von II. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES
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Berlin, den 29. Februar 1892.
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3n nuferem Verlage ift erfd)ieueit:
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XXXII. Sanb.) £eraud=
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3 n l)f gang. 1891. (2>er ganzen iKeitje
gegeben oon §and 3?elbtücf, a. o. Sßrofeffov an ber Unioerfitäi
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ferner:
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22. Jitni 1889. ß io e i t e o o 11 ft ä n b t g ulit gearbeitete
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Dr. ID. Zeller,
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tergietjung bed ettgltfd)en Sotfed im neunaetjnten 3at)rt)unbert.
Sretd 9)1. 18-
Jh Qintffrntag, Berlagatmdifianbtung in Berlin.
Rrtrljs - Qktorrbß - Ir>rti intiui
nett ft 2lii$füljrung§Beftitttmungett.
Bntelh' Xaflung bes Qicfi'fiL's.
Z e 1 1 * 5t u § tt n b e mit St n m e x I it tt c\ e it unb © a d) r e g i |t e v
Don
C. pi|*
i»icruiigärntl).
telftc Stuffaße.
(Eafdieul'ormat; rart. 1 111 h. 25 |9f.
üperber’fdje Slcrlagdbanölmtg, greibitrg im Sreidgau.
Soeben ift erfdjieuen unb burd; alle SmSaitbtungeu 311 besiegen:
(Üatfjreiu, ©., S. J., Iber ^uctaliantua.
(Siite Untcrf«d)img feiner ©ruitblagen nub feiner ®nr^füt>rbarfeit.
■Fünfte, mit Berittfefidiiigung bea (Erfurter Programm« bebeuienb uermet;rte Jtu|tage.
(94eunted unb jetjnteö Saufenb.) 8". (XVI u. 198 ©•) 9)t. 1.60.
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Börse und Geldmarkt.
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Julius Basch,
Redakteur.
67 S. 8°. Eleg. brosch. Preis 1 M.
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Settag uott ©Borg Krimer in ©rrltn,
btnrd) alle Sttd)t)anblititgen ju beäietieti:
Qrniir bFSt Qiraume
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OlporgB Bitrui).
Slntorifirtc Ueberfegung and bettt grati3ofifd)eit
oon
Dr. |Vrtb S3ifd)off.
Steid 9SR. 1 60, gebiittbeit 9R. 2,20.
Xßar jiü’s tilntrift v .
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J. Marion (Eramforb.
älutori litte Uebetfeltung aud bem tenglifdfen
oon
Xbctcfc .s>öpfnev.
Steid 9R. 1,60, gebutiben 9R. 2,20.
SMiv. 3 f»ut co.
teilte tet,3d()luttg and bettt Ijeutigen Subieit
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Slntorifirte Uebetfeijung and bettt Gnglifd)en
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Sveid 9)4. 1,60, gebimbeu 9)4. 2 20.
SU. QL tMkßnbmJjßr'o
iafdjtnliiiili für imiflnitr.
20. Stuft. I. Stbtf).
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@etb= unb ^onbdcutfe.
— gebutiben 9)4. 9. —
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1fr. 23. !?• v u t fd 1 0 r U c i d i a g r fo \\ 0 . Ur. 23.
Zejt=3tndgabeu mit Slnuterfungett.
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ootn 6- 3'itli 1884
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(frtUii iilicr bi c ^tobelftuintj bßt*
llnfuÜ-unbfminhcnunliriicimn^
oottt 28. 9)4ai 1885.
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(grfter ®anb ^Wettet *Banb
2l-ft 8-3
TO. 19.—, gt£>. TO. 21.40. TO. 22—, geh. TO. 24,40.
Aus dem Gebiete der Socialgesetzgebung ent-
halt das Wörterbuch folgende Artikel:
Arbeiter (gewerbliche), Reichsversicherungsamt.
Bergarbeiter. Unfallversicherung.
Fabrikaufsichtsbeamte.
Fabrikgesetzgebung.
Gesindepolizei. Armenrecht,
invaliditäts- und Altersver- Armenverwaltung.
Sicherung. Notstandsgesetzgebung.
Knappscha "t .vereine. Sparkassen.
Krankenversicherung. Teuerungspolizei.
Landesversicherungsämter. Unterstützungswohnsitz.
(Srfter ßrgänsnngdbattb erfcf)eint tut Sanum- 1892.
3. (ftnttcntait, Derlagslntrfiljanbltmg in Berlin sw. 48, EPillirlmlfraljr 119/120.
Bunt 24. Juni 1891.
Kommentar 3 11 nt praf tigert ©ebretud)
bearbeitet »on
Ojebeinter 'Jleijieviuigsrat, TOitglteb ber StöuigT. ©ireltion für bic iBerwaltmig
ber biretten ©teuern tn SSerlin.
Slbteilmtg 1.
3 n f) alt: @efet! mit Kommentar ttebfl Slusfiitjrungöanioeiiungen I.— III.
8ej. 8U 8.50 Jl.
yar ®ie 310 eite Abteilung, eiitf)nltenb Slbfcbuitt 5a— 10, iUebengefetje, SRegifter, Sitel, StibattSberjeidjuiö,
behübet fid) im ®rucf uub folgt innerhalb einiger weniger SBocberi nact).
Sie Slbnafjnte ber 3lbteituitg 1. r>erpflid)tet 3m- 3lbna|me bed ooUftdtibigen äöerfed.
Sev ißreiö be<B nollftänbigen Sßerfeö wirb 12 33if. nid)t iiberftfjreiten.
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Sfliirinpr tl>iiniDart.
^>rei§, l)od)e£egartt gebunbeit,
k m. mt, 3,-.
S3orrätt)ig in allen 'Sudjljanbluugen.
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K. (Bmffenlaj), 33erlagöbud)t)anbtung in 33erliti.
9tect)t
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gitr St)eorie uub ißrajid fpftematifd) bargeftedt
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Dr. ^einrid) SKofi«,
ovb. Sprof. für ©taatäreefjt ltnb beutfdieö Dted)t a. b.
Uniuerfität $reibuvg i 18.
(Srfter SSattb:
®ie reid)Sred)tlid)en ©nntblagett ber
2lrbeitemrfid)erung.
Srfte ltnb jmeite Slbttjeitnng. 8n. 9 331. 50 Sßf.
Saö gefmnmte äßerf iuirb in äroei Saube
3erfallen, tum benen ber erfte „bie reid)3red)h
liefen ©runblagen ber Slrbeiternerfidjernng"
beljanbelu, ber iroeite aber in brei Stjeilen bie
ftruufeit--, Unfall», fomie bie Snoalibität^» mtb
Sllterörerfidjerung gur (SingelbarfteUung bringen
fall.
ft et %mb
pdjeiifdjrift nir förüerung filier frieülidp
l^uüalvetuvm.
Brgan bes ©Eulfrfjen Buttbe« für Boben-
bEfikrrfortit.
©rfdieim iebeit SRontng.
31 b o n n e tn e n t 3 b e b i n g u n g e tt :
3Sei allen ißoftanftalten (3fr. 2272
ber tPoftseitungdlifte) .... 3Jtf. O^O
33ei birefter Äreuabaiibfenbung:
in Seutfdjlaub uttb Oefterreid) . „ 1,20
im SBeltpoJtüerein „ 1,50
Sn SSerlin bei freier ßtifenbung . „ 1,—
Bic (Bxpebifiun
H. Iutüs, ^talirdtrrüht'vltr. 55.
Verantwortlich für den Auzeigentheil: L)r. Otto Eysler in Berlin. — Druck von 11. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 7. März 1892.
Nummer 10.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber
Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
NTo. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
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Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHAL I
Arbeitslosigkeit. Von Prof. I)r.
Heinrich Her kn er.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirthschaftsstatistik :
Zu den agrarischen Reformplänen
in Rumänien. Von' Dr. Carl
G rünber g.
Zum deutschen Auswanderungs-
gesetz.
Arbeitergenossenschaften in Italien.
Arbeiterzustämle :
Schweizerisches Arbeitersekretariat.
Untergang einer Hausindustrie.
lagelöhne im Grossherzogthum
Hessen.
Zur Lage der Wiener Schuhmacher
Das Schwitzsystem der Schneidere:
in den Vereinigten Staaten von
Amerika.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Krisis im englischen Kohlenberg-
bau.
Die gleitende Skala in den Kohlen-
werken von Süd -Wales.
Die Kontrollmarke.
Reorganisation der katholischen
Arbeitervereine.
Die Leistungen der dänischen
Böttcherorganisation.
Die amerikanischen Gewerkschaf
ten.
Die gewerkschaftliche Bewegung
in Oesterreich-Schlesien.
Ein Urtheil über Strikes.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Eine Enquete betr. die Organisation
der österreichischen Fabrikindu-
strie. \ 011 Dr. Leo Verkauf.
Noth wencligkeit der Ausdehnung
der Schutzvorschrifteil für jugend- '
liehe Arbeiter.
Minimallöhne in Frankreich.
Ein staatliches Arbeitsvermittlungs-
amt in Neii-Seeland.
Eabrikiiispektion :
Leberbiinlung der Kabrikinspek-
toren.
Jugendliche Arbeiter in der badi-
schen Fabrikindustrie.
Hamlwerkerfrageu :
Zur Einführung der obligatorischen
Innung und des Befähigungs-
nachweises.
Untergang des Kleingewerbes in
der Mühleiiindustrie.
Soziale Hygiene:
Zum schwedischen Trunksuchts-
gesetz. Von Axel Ramm.
Erwiderung.
Lungenschwindsucht und Erwerbs- ,
Verhältnisse.
Eingesemlete Schriften.
Abdruck sänimtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Arbeitslosigkeit.
An der Spree und an der Donau haben hungernde
arbeitslose Proletarier durch Massenaufzüge die Berück-
sichtigung ihrer Noth und ihres Elendes von Seiten rnass-,
gellender Faktoren zu erzwingen versucht. Es ist ein immer
schmerzlicheres Stöhnen und Klagen, das Winter für Winter
aus den Kreisen der Arbeiter über den zunehmenden Ar-
beitsmangel dringt. Die i hätigkeit der Bauhandwerker
muss in der kalten Jahreszeit eingestellt werden, und der
Lohn, den diese Arbeiter während der Saison verdienen,
ist selten so hoch bemessen, dass von demselben etwas
tür die beschäftigungslosen Monate zurückgelegt werden
könnte. Und das Elend erreicht seinen Gipfel, wenn, wie
im lautenden W inter, wenig Schnee fällt, und somit auch
das kärgliche Einkommen, das die Schneeabräumungs-
arbeiten gewähren, und aut das die im Winter Beschäf-
tigungslosen zu rechnen gewohnt sind, noch verloren geht.
Insofern hier besondere Witterungs Verhältnisse zum
herrschenden Nothstand in engste Beziehung treten, wird
man unsere V irthschattsordnung gegen den Vorwurf mann-
halt vertheidigen, dass sie irgendwie die Schuld an der
wachsenden Arbeitsnoth trüge. Wie kommt es aber, dass
der Lohn nicht ausreicht, um dem Arbeiter über die regel-
mässig beschättigungsärmere Zeit hinwegzuhelfen? Nach
den Lehren der Theoretiker wäre das bekanntlich doch
seine Pflicht und Schuldigkeit. Der Gönner unserer Wirt-
schaftsordnung belehrt uns, dass eben die gewerkschaft-
lichen Organisationen dieser Arbeiter noch nicht weit
genug vorgeschritten sind. Mit der Ausdehnung und Er-
starkung derselben wird der Lohn sich steigern und schliess-
lich dem Arbeiter auch während der Arbeitsstockungen die
Befriedigung seiner Lebensnothdurtt gestatten. Nicht genug
an dem. Man vermag auch darauf hinzuweisen, dass die
Arbeitslosigkeit in den grossen Städten sich nur als eine
folge der leichtsinnig erfolgten Abwanderung vom platten
Lande darstellt. Dort besteht ein ebenso grosser Mangel
an Arbeitern als hier, in der Stadt, an Arbeit.
So sucht man sich mit den betrübenden Erscheinungen,
die in Deutschland und Oesterreich den Mittelpunkt des
öffentlichen Interesses während der letzten Zeit gebildet
haben, vergleichsweise leicht abzufinden.
W er hat uns aber bewiesen, dass es nur die Bauhand-
werker sind, die nach Brod und Arbeit flehen? In Wien
z. B. ist die Noth der Schuhmacher bekanntlich nicht viel
geringer als diejenige der Bauarbeiter, welche sehnsüchtig
des Augenblickes harren, in welchem die geplanten gross-
artigen \ erkehrsanlagen in Angriff genommen werden
sollen. Wer giebt uns die Versicherung, dass all’ diese
Leute mit den ersten lauen Frühlingslüften auch wieder
Arbeit erhalten? Wer will behaupten, dass das Gespenst
der Arbeitslosigkeit nur die grösseren Städte heimsucht?
W er vermag darzuthun, dass auch im strengen Winter auf
dem Lande sich genügende, lohnende Beschäftigung finden
würde? ist es wirklich nur freventliche Genuss- und Ver-
gnügungssucht, die vielberufene „Begehrlichkeit“, welche
die Arbeiter vom Lande in die Städte treibt?
„Die sozialen Uebel unserer Arbeiterklassen, und somit
auch die Hauptursachen des Sozialismus, sind nicht von
den grossen Städten aut das Land, sondern im Gegentheil
vom platten Lande in die Städte getragen worden, und
eine Verbesserung des Lebens der Arbeiterklassen muss
daher aut dem Lande beginnen“. So beginnt eine vor
Kurzem erschienene Schrift Asemissens über „Die Be-
deutung des Grundbesitzes für das Wohl der arbeitenden
unteren Volksklassen“.1)
r) Berlin. Carl Heymanns Verlag. 1892.
128
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 10.
Die Rückständigkeit unserer Arbeitsstatistik zeigt sich
hier wiederum in greller Beleuchtung. Wir besitzen nicht
einmal genauere Vorstellungen über die Zahl der Arbeits-
losen, geschweige denn, dass wir über ihre persönlichen
und beruflichen Verhältnisse irgendwie unterrichtet wären.
Zum Glücke gibt es Staaten, die Werth darauf legen,
ihren arbeitsstatistischen Verpflichtungen gewissenhafter
nachzukommen. Aus den vom Arbeitskorrespondenten des
englischen Handelsamtes veröffentlichten Nachweisen sehen
wir, dass jeder Zeit, auch in Perioden „glänzenden“ Ge-
schäftsganges, ein nicht unerheblicher Bruchtheil selbst der
am tüchtigsten organisirten, gelernten Arbeiter Gross-
britanniens arbeitslos ist. Niemand wird ernsthaft behaupten
wollen, bei uns lägen die Verhältnisse vortheihatter. Wie
hoch die Zahl der Arbeitslosen im deutschen Buchdrucker-
gewerbe z. B. angeschwollen, das haben erst die Erfah-
rungen des letzten Ausstandes neuerdings nachgewiesen.
Eine von der Gewerkschaft der deutschen Drechsler unter-
nommene und jüngst veröffentlichte Statistik zeigt, dass
ungefähr 25 pGt. im Jahre arbeitslos waren und zwar im
Durchschnitte während fünf Wochen. Nach den Angaben
der „Vereinigung deutscher Maler, Anstreicher und Lackirer“
waren sogar 25 pCt. länger als drei Monate hindurch ohne
Beschäftigung. Und endlich: „Sämmtliche Arbeitsvermitt-
lungsvereine und Bureaux fassen ihre Erfahrung in dem
Einen zusammen, dass sich mehr zur Arbeit melden als
mit Arbeit versehen werden können“.1)
So spärlich immerhin die statistischen Angaben fliessen
mögen, im Vereine mit der allgemeinen Erfahrung des täg-
lichen Lebens zeigen sie doch deutlich genug, dass die
„industrielle Reservearmee“ kein Wahngebilde trübsinniger
Theoretiker, sondern dass sie, ganz abgesehen von Zeiten
besonderer Krisen, für die arbeitenden Klassen eine furcht-
bare Realität darstellt. Als die aufkommende Grossindustrie
und ihre Maschinen die Arbeiterreserve zu erzeugen be-
gonnen, da suchte man sich bei dem Tröste zu beruhigen,
die unausbleiblichen Segnungen des industriesystemes wür-
den diese temporären Schmerzen bald völlig in Schatten
stellen. Seither ist fast ein Jahrhundert verflossen, und die
Arbeitslosigkeit hat nur immer gigantischere Formen ange-
nommen. Niemand vermag sich mehr der schönen I äu-
schung hinzugeben, es handle sich nur um kleinliche
Uebergangsschmerzen, um Kinderkrankheiten einer neuen
industriellen Verfassung. Hermann Losch rechnet uns eben
überzeugend vor, dass mindestens 2 '/2 Millionen Arbeitskräfte
im Deutschen Reiche erspart werden könnten, wenn man
alle Errungenschaften der modernen Technik und Oeko-
nomik zur Anwendung bringen wollte. Und diese Heere
von Arbeitskräften werden im Laufe der Jahre erspart
werden, und sie werden auf das Pflaster geworfen werden,
und sie werden gleich ihren Vorfahren um Brot und Arbeit
betteln müssen - — wenn die arbeitenden Klassen und ihre
Freunde nicht endlich Geschichte machen, die Gedanken-
gänge grosser genialer Volkswirthe in’s Leben übersetzen
und der sozialökonomischen Entwicklung der Zukunft neue
Bahnen anweisen.
Denn kein undurchdringlicher, geheimnissvoller Schleier
liegt mehr über den Ursachen der Arbeitsnoth. Die Fürsten
der sozialökonomischen Wissenschaft haben sie enthüllt und
uns das beklemmende Räthsel gelöst, warum Massen von
Nahrungsmitteln, Kleidungsgegenständen und Wohnungen
keine Abnehmer linden, während Massen von Arbeitern
hungern, frieren und ein menschenwürdiges Obdach ent-
behren. Xismondi, Stein, Rodbertus, Marx haben nicht ver-
*) Verhandlungen der achten Versammlung des deutschen
Vereines für Armenpflege und Wohlthätigkeit. Leipzig 1887.
Seite 73.
geblich im Dienste der sozialen Wissenschaft gewirkt. Wir
haben begreifen gelernt, dass der' geringe Antheil, welcher
den arbeitenden Klassen im sich selbst überlassenen Ver-
kehre am Volkseinkommen zufällt, die Entfaltung des Wirth-
schaftslebens einschnüren muss, dass der Unterkonsum der
Arbeiterwelt zur chronischen Ueberproduktion und Arbeits-
noth führt, dass die einseitige Niederhaltung des Massen-
konsums sich durch eine gefahrbringende Störung des
natürlichen Kreislaufes der Völkswirthschaft zu rächen ver-
steht. Nicht früher können wir zu normalen Verhältnissen
des Arbeitsmarktes gelangen, als bis wir einen normalen, die
Extreme nur als Ausnahmen zulassenden Prozess der Ein-
kommensvertheilung erhalten. Das ist eine der wichtigsten
Aufgaben der sozialen Reform im wirthschaftlichen Sinne und
einer von der Wissenschaft erleuchteten, sozial unparteiischen
Verwaltung. Erst wenn man, wie L. v. Stein treffend be-
merkt, statt in der Unterwerfung und Ausbeutung der Arbeit,
sein höchstes und praktisches Interesse in der Hebung und
materiellen Befreiung derselben suchen wird, wird die Har-
monie des Güterlebens und mit ihr die wahre Freiheit
beginnen.
Tndess wo finden wir den Pfad nach dem fernen Lande
der Verheissung, von dem uns nur durch das Seherauge
grosser Denker Kunde ward? Wie sollen die arbeitenden
Proletarier sich emporringen auf lichtere Höhen, wenn das
fast bedingungslose Arbeitsangebot der Beschäftigungslosen
gleich einer bleiernen Kette sie immer und immer wieder
auf die Stufe der kärglichsten Lebenfristung, des blossen
Existenzminimums herabzerrt? Wir erblicken keine andere
Möglichkeit: die Nation, der Staat, in deren eigenstem
Interesse die Hebung der Arbeiterklasse und die Entwick-
lung einer sozialen Verwaltung gelegen ist, müssen selbst ,
die Fesseln sprengen, indem sie die Arbeiterklasse ganz '
oder tfeeilweise von der Fürsorge für die Arbeitslosen
entlasten.
Wir haben ein Gesetz über den Unterstützungswohn-
sitz. Dasselbe gewährt nicht einmal ein Recht auf Existenz.
Während der Staat von seinen Angehörigen die weitgehend-
sten und für die besitzlosen Volksklassen doppelt drückenden j
militärischen Dienste, ja die Aufopferung des Lebens selbst ;
beansprucht, hat er sich noch nicht einmal entschlossen, *
klipp und klar ihnen auch ein Recht auf Gewährung des *
Unterhaltes oder der Mittel zu demselben zu gewähren,
wenn sie so unglücklich sind, aus eigener Kraft sich den-
selben nicht mehr verschaffen zu können. Das ist unseres
Erachtens ein tief beschämender, eines Rechtsstaates voll-
kommen unwürdiger Zustand. Und was das schlimmste ist,
man scheint sich der Unzulänglichkeit dieser Verhältnisse
garnicht einmal genügend bewusst zu sein. Dürfte es doch
kaum ein zweites Gebiet des öffentlichen Lebens geben,
auf dem das ödeste Manchesterthum und der platteste
Individualismus theoretisch und praktisch noch in der
Blüthe stehen, kein Gebiet, das mit vereinzelten Ausnahmen
so durchaus unberührt geblieben ist von dem Fortschritte
des sozialen Denkens, wie dasjenige unserer Armenpflege.
Man traut seinen Augen kaum, wenn man in den Verhand-
lungen des deutschen Vereines für Armenpflege z. B. die
Rede liest, mit der Münsterberg den durchaus massvollen
Vorschlägen des Bezirkspräsidenten z. D. von Reitzenstein
betreffend die Beschäftigung der Arbeitslosen und den Nach-
weis von Arbeit entgegengetreten ist. Und doch wird der
Gang der Ereignisse bald unaufhaltsam zu Massnahmen
drängen, die über die Reformideen Reitzensteins noch be-
trächtlich hinausgehen. Die mit den vorgeschritteneren
sozialen Ueberzeugungen nicht mehr im Einklänge befind-
liche Armenpflege wird sich in eine sozialpolitische Für-
sorge grossen Xtyles verwandeln müssen, wenn wirklich
eine soziale Reformpolitik getrieben werden soll.
No. 10.
i‘29
S( t/l \ 1.1*01.1 l ISCHES « TINTRAI, BLATT
Der Staat in finanzieller Hinsicht, die Gemeinde als
ausführendes Organ werden nicht nur die Organisation des
Arbeitsnachweises im Vereine mit Berufsverbänden (man
denke an die französischen Arbeitsbörsen!) zu übernehmen
haben, sondern es wird zu gewissen örtlich, und bei weiterer
Ausbildung auch beruflich, bestimmten Minimalsätzen Den-
jenigen, die Arbeit begehren, eine ihren Fähigkeiten
gerecht werdende Beschäftigung zu gewähren sein. Wir
werden ein Recht auf Existenz anerkennen und danach
trachten müssen, es durch fortgesetzte, stufenweise Hurnani-
sirung dem Ideale eines Rechtes auf Arbeit zu nähern.
Dem Manne, der gegen die Minimalsätze von den öffent-
lichen Körperschaften Beschäftigung begehrt, wird dieselbe
unter Ausschluss jeder entehrenden Bedingung darzubieten
sein und in einer Weise, welche die erworbene Geschick-
lichkeit seiner Hand, sein höchstes wirtschaftliches Gut,
nicht beeinträchtigt. Man darf die mühsam errungene Hand-
fertigkeit eines Setzers, eines Uhrmachers, eines Webers,
eines Kunsttischlers u. s. w. nicht durch Zuweisung schwe-
rer Erdarbeiten vernichten.
Das sind die allerdings schwierigen Aufgaben, deren
Lösung sich eine von modernem Geiste erfüllte Armen-
pflege zuzuwenden haben wird. Diese Arbeiterversicherung
wird übrigens erst dann, wenn das Problem der Arbeits-
losigkeit seiner Lösung entgegengeht, aufhören, gerade in
den dringendsten Fällen ihre Wirksamkeit zu versagen.
Ist der Schutz gegen Arbeitslosigkeit oder deren Folgen
doch die unerlässliche Voraussetzung jeder in der That
wirksamen Arbeiterversicherung, wie Brentano schon längst
nachgewiesen hat.
Aber würde denn die chronische Ueberproduktion
aut diesem Wege nicht noch verschlimmert werden? Würden
auf diese Weise nicht neue Arbeitslose geschaffen werden,
würden die von den Körperschaften des öffentlichen
Rechtes zu beschäftigenden Arbeiter nicht in einem Maasse
zunehmen, dass ein finanzieller Zusammenbruch unvermeid-
lich 'wäre?
Das meinen allerdings die mit privatwirthschaftlichen
Scheuledern bedachten Köpfe, welche nur für die Ver-
mehrung der Waarenproduktion ein Auge haben, welche aber
der volkswirtschaftlichen Bedeutung, welche die Konsum-
tähigkeit der arbeitenden Klassen besitzt, sich niemals zu
erinnern vermögen. Die uns vorschwebende Humanisirung
des Rechtes auf Existenz würde nicht nur produktive, son-
dern in noch weit höherem Grade auch konsumtive Kräfte
entfesseln. Denn es kommt nicht nur die Erhöhung der
Konsumkraft in Erwägung, welche den unmittelbar von den
öffentlichen Körperschaften zu beschäftigenden Personen zu
Theil wird. Mit der Humanisirung des Rechtes auf Existenz
eröffnet sich vor allem auch den gewerkschaftlichen Be-
strebungen der ungelernten und minder gelernter Arbeiter
eine erfolgreiche Zukunft.1) Setzen wir ferner voraus, dass
diese Verwandlung unserer malthusianisch angehauchten
Armenpflege in eine sozialpolitische Fürsorge vorzugsweise
auf Kosten der besitzenden Schichten der Gesellschaft er-
folgt — etwa durch Verschärfung der für die höheren Ein-
kommensstufen gütigen Progression der Besteuerung — ,
so wird auf dem gekennzeichneten Wege sicherlich eine
normalere Einkommensvertheilung und damit eine allmäh-
lige Beseitigung derjenigen wirthschaftlichen Kreislauf-
störung sich anbahnen lassen, auf welche die chronische
Arbeitsnoth zurückgeführt werden musste.
Nicht klägliche Palliative, wie Rodbertus sagt, nicht
schmale Kost und Diät für die laufende Produktion in Form
') Eingehendere Erörterungen dieser Frage in meinen
„Studien zur Fortbildung des Arbeitsverhältnisses“. Braun’s
Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. IV. Band.
S. 589 u. flgde.
von hohem Diskont und für die arbeitenden Klassen die
noch kläglicheren Almosen- und Suppenanstalten sind im
.Stande, wirksame Heilung zu bringen. Sie können nur den
Mitteln verglichen werden, welche der Arzt anwendet, um
einen siechen Körper so lange zu erhalten, bis diejenigen
Massnahmen eine Wirkung zu äussern beginnen, welche
den Sitz des Uebels ergreifen.
Man organisire allenthalben den Arbeitsnachweis, und
man wird auch eine Statistik der Arbeitslosigkeit erhalten;
man gewähre den Arbeitssuchenden gegebenen Falls die
Arbeitsmittel, damit die Produktionskraft ihrer Hände ihnen
die Deckung ihrer Lebensnothdurft gestatte, man lasse die
beschäftigungslosen Bauarbeiter Arbeiterwohnungen er-
richten, man entwickle die Arbeiterschutzgesetzgebung,
man fördere die auf Herabsetzung der Arbeitszeit und Er-
höhung des Lohnes gerichteten Bestrebungen der Gewerk-
schaften, man unterstütze die Entwicklung technischer
Fortschritte, denen bei sozialer Verwaltung kein Arbeiter
mehr fluchen wird, und die Entwicklung Deutschlands
wird einen ungeahnt grossen Aufschwung nehmen!
Freiburg i. B. Heinrich Her kn er.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Zu den agrarischen Reformplänen in Rumänien.1)
Das Gesetz betreffend die Verträge über ländliche
Arbeiten vom 10. Mai 1882 hat zu einer grossen Reihe von
Missbräuchen geführt, ganz abgesehen davon dass es in
der Praxis vielfach garnicht oder doch nur sehr lax ange-
wendet wird. Dies gilt insbesondere von den Vorschriften
über die Y ertragsregistrirung , sowie dass zwei Tage
wöchentlich den Arbeitern zur eigenen Wirthschaftspflege
frei bleiben sollen. Auch die den Kommunalbehörden ein-
geräumten sehr weitgehenden Vollmachten haben zu
schweren Unzukömmlichkeiten geführt. Dass die Kommu-
nalbehörden nur zu oft ihre Amtsgewalt im Interesse des
Grossgrundbesitzers missbrauchen, hat die gegen sie,
während der Bauernunruhen im Jahre 1888 zu Tage ge-
tretene ausserordentliche Erbitterung bewiesen, und ist
schliesslich, bei ihrer Abhängigkeit von den Grossgrund-
besitzern, auch nicht zu verwundern.
Es muss freilich auch andererseits zugestäiiden werden,
dass die ländlichen Arbeiter sich sehr häufig schon im
Winter für die nächste Saison verdingen, vorausbezahlen
lassen und dann der Erfüllung ihrer vertragsmässigen YTer-
pflichtungen entziehen. Wenn sie das aber thun, so ist ihre
elende wirtschaftliche Lage daran Schuld. In der Moldau,
wo das Lohnvertragssystem vorherrscht, sind die ländlichen
Arbeitslöhne sehr gering. Sie werden noch mehr durch
den Umstand gedrückt, dass der Gutsherr, wenn der Land-
arbeiter sich für die nächste Saison verdingt, bei der Fest-
stellung des Lohnes nicht nur den Zinsentgang für die ge-
währten Lohnvorschüsse und eine Risikoprämie, sondern
auch die Nothlage des Arbeiters in Berechnung bringt.
Der gewöhnliche — Werklohn in Tagelohn umgerechnet
beträgt daher durchschnittlich in den seltensten Fällen mehr
als 60 Centimes und Nahrung (d. h. Mamaliga (Polenta) und
Käse).
Schlimmer noch steht es im Süden, in der Walachei.
Dort bewirthschaften die Gutsherren ihre Ländereien nur
selten in eigener Regie. Sie verpachten dieselben vielmehr
entweder ganz an Grosspächter, die einen Theil der Grund-
stücke den Bauern in Afterpacht geben, oder einzelne
’) Vergl. Sozialpolitisches Centralblatt No. 5, S. 60 und 61.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 10.
1 30
Theile direkt an Bauernfamilien, ln beiden Fällen sind die
Vertragsbedingungen für die Bauern sehr ungünstig. Denn
einerseits ist der Grosspächter gezwungen, die stetig
wachsende Last des Pachtschillings auf die Afterpächter zu
überwälzen. Kontrahirt aber auch der Gutsherr direkt mit
den Bauern, so wird wie übrigens auch im ersten Falle
der Pachtschilling nicht in Geld berechnet, sondern in
einem Theile — l/u 1/3, oft sogar der Hälfte des Erträg-
nisses (arenda cu dijma). Die Kleinpächter ziehen es sogar
vor, 50 n/0 der erzielten Früchte abzuliefern, weil sie sonst
zu noch anderweitigen, oft geradezu lächerlichen Leistun-
gen verpflichtet werden.
Die Regierungsmotive zu dem 1888 von Carp einge-
brachten Gesetzentwürfe, betreffend die Verträge über
ländliche Arbeiten, bemerkten hierüber : ..Neben und ausser
dem vertragsmässig festgesetzten Pachtschilling wird in
der Regel noch eine Summe von scheinbar unbedeutenden
Leistungen vereinbart: z. B. Fuhren, Zug- oder Handarbeits-
tage, Naturalabgaben, welche, zusammengerechnet, den
Pachtschilling ins Ungemessene vergrössern, ohne dass der
Kleinpächter sich davon Rechenschaft zu geben vermag.“
Nach welcher Richtung nun die vom gegenwärtigen
Ministerium geplante Reform sich bewegen soll, ist aus dem
von demselben am 3. Februar publizirten und von sännnt-
lichen Ministern gezeichneten Apell an die Wähler un-
schwer zu entnehmen. „Das Gesetz über die Agrarverträge
heisst es da — wird eine möglichste Versöhnung der
lnteressen der Grossgrundbesitzer und der Landarbeiter
versuchen und die unläugbare Wahrheit zum Ausdruck
bringen, dass der Gross- und Kleingrundbesitz ein Ganzes
bilden und auf eine gleiche Berücksichtigung gerechten
Anspruch haben.“ (Constitutionalul vom 5. Februar 1892.)
Es ist also einerseits zu erwarten, dass die Schutz-
bestimmungen für die ländlichen Arbeiter erweitert und für
deren Einhaltung sowie für Eindämmung des Missbrauches
der Amtsgewalt durch die Kommunalbehörden Sorge ge-
tragen werde. Andererseits darf wohl mit Sicherheit ange-
nommen werden, dass auch das Interesse der Grossgrund-
besitzer in erweitertem Masse geschützt und so insbesondere
für die Einhaltung der von den Landarbeitern den Guts-
herrn gegenüber eingegangenen Verpflichtungen erhöhte
Garantien geschaffen werden.
Von dieser zweifachen Tendenz war auch der Carp-
sche Entwurf von 1888 beherrscht.
Es liegt aber auf der Hand, dass alle Schutzgesetze
in so lange wirkungslos bleiben müssen, als die absolute
wirthschaftliche Abhängigkeit der Bauern und Landarbeiter
von ihren Gutsherrn in gleichem Masse fortdauert, wie bis-
her. Denn nur diese zwingt sie, alle ihnen gestellten Be-
dingungen zu acceptiren und nur auf diese ist es zurück-
zuführen, wenn an Stelle der 1864 aufgehobenen gesetz-
lichen Frohnpflicht eine — viel härtere und ungleich
drückendere freiwillige getreten ist.
In dieser Richtung Abhilfe zu schaffen und die Quelle
des Uebels zu verstopfen, ist das Gesetz betreffend die
Veräusserung der Staatsgüter (kundgemacht mit Dekret
vom 6. April 1889) geschaffen worden.
Bevor ich den Inhalt dieses Gesetzes kurz skizzire,
ist es nöthig, einige einleitende Bemerkungen vorauszu-
schicken.
Als im Jahre 1864 (durch das Agrargesetz vom
14/26. August1) die Frohndienste aufgehoben wurden, er-
hielten die bisher frohnpflichtigen Wirthe, nach Massgabe
des Gesetzes, das freie Eigenthum an den von ihnen inne-
gehabten Ländereien. Von den 1864 vorhandenen frohn-
pflichtigen Familien wurden 402 000 freie Eigenthümer eines
Gesammtareals von 1 605 616 Hektaren. Von diesen besassen
in der Moldau 6700 Familienhäupter je 786,5 Ar, 59 000 je
572 Ar, 58 000 je 357,5 Ar. In der Walachei besassen
64 930 Familienhäupter je 550 Ar, 138 970 je 372 Ar und
74 600 je 230 Ar. Etwa 150 000 Familienhäupter — unbe-
t'eldete Häusler und Jnstleute blieben ohne Grundbesitz.
0 Abgedruckt in Rudolf Meyers Heimstätten und andere
Wirthschaftsgesetze S. 233 ff.
Ausser den genannten erwarben in Gemässheit der
Artikel 5 und 6 des Agrargesetzes und späterer Gesetze von
1881 und 1886 weitere 53 000 Familienhäupter zusammen
rund 702 000 Hektare, also im Durchschnitt je 6,7 Hektare.
Die Zahl der ehemaligen Freisassen, die durch das
Agrargesetz von 1864 nicht berührt wurden, dürfte gegen
117 000 betragen, sodass die Gesammtzahl der heute in
Rumänien existirenden Kleingrundbesitzer zusammen gegen
570 000 erreichen mag. Da nun etwa 650 000 ländliche
steuerpflichtige Familien vorhanden sind, so stellt sich die
Ziffer der ganz besitzlosen oder mindestens unbefeldeten
ländlichen Arbeiterfamilien auf etwa 80 000. Alle diese
Ziffern machen übrigens auf Genauigkeit keinen Anspruch.
Namentlich gehen die Angaben über die Höhe der letzt-
genannten sehr auseinander: So spricht der obenerwähnte
ministerielle Wahlaufruf gar von 180 000 landlosen Land-
arbeitern.
Es steht aber fest, dass ausser den letzteren, die ganz
auf den Ertrag ihrer persönlichen Arbeit und zwar fast
ausschliesslich in der Landwirthschaft — da die industrielle
Produktion Rumäniens kaum in Betracht kommt — ange-
wiesen sind, auch die materielle Lage der grossen Mehrzahl
der Kleingrundbesitzer eine sehr schlechte ist. Das Er-
trägniss ihres eigenen landwirtschaftlichen Betriebs reicht
zur Deckung ihrer Bedürfnisse nicht hin. Sie leiden Mangel
an Weide und Wiesenland, sowie an Waldungen, und
müssen daher ihr Vieh auf die herrschaftliche Weide
treiben und sich für die Erlaubniss hierzu die härtesten
Bedingungen gefallen lassen. Es ist daher klar, dass jede
Reform, welche nachhaltig wirken will, ihr Bestreben dahin
richten muss, einerseits den unangesessenen Landarbeiter-
familien die Möglichkeit zu verschaffen, eigenen Grund-
besitz zu erwerben, und den bereits angesessenen : ihn derart
zu komplettiren, dass ihnen der Wirthschaftsertrag eine ■
ausreichende Existenz sichere und die wirthschaftliche Ab-
hängigkeit von dem Grossgrundbesitzer breche.
Zu diesem Zwecke ertheilt das Gesetz vom 6. April :
1 889 l) der Regierung die Vollmacht : sämmtliche Staats-
domänen in Parzellen zu je 5, 10 und 25 Hektaren an
rumänische, im Lande wohnhafte Landarbeiter zu ver-
kaufen. Auf jeder Domäne soll '/4 des Areals für 10 und
25 Hektarloose reservirt werden. (Art. 1 und 10.) Unter
den .sich meldenden Käufern sollen in erster Reihe Berück-
sichtigt werden die Familienhäupter, welche ganz unbe-
feldet sind. Wittwen mit Kindern sind als Familienhäupter
anzusehen. Verbleibt noch ein Rest, so sollen solche !
Käufer berücksichtigt werden, welche weniger als 5 Hek-
tare besitzen und ihren Besitz auf dieses Ausmass bringen
wollen. (Art. 17 b und c.)
Der Verkauf der 5 Hektarenparzellen findet aut Grund
von legalisirten schriftlichen Anmeldungen der Kauflustigen
statt. Melden sich mehrere Kauflustige zu derselben
Parzelle, so entscheidet das Loos. (Art. 17.) Der
Kaufpreis soll bis zu der in Aussicht genommenen all-
gemeinen gesetzlichen Feststellung durch Kapitalisirung
des 10jährigen Durchschnittsertrages des betreffenden Gutes
(auf Grund einer 5% Verzinsung) ermittelt, aber keines-
falls geringer als mit 10 Frcs. i>r. Hektar angesetzt werden.
(Art. 84.)
Der Verkauf der 10 und 25 Hektarenparzellen hin-
gegen soll durch öffentliche Feilbietung stattfinden und der
Kaufpreis auf Grund des zwanzigfachen letzten Pacht-
schillings, jedoch ebenfalls nicht unter 10 Frcs. pr. Hektar,
bestimmt werden. Bleiben zwei Feibietungstermine er-
folglos, so kann das für Loose zu 10 und 25 Hektaren
reservirte Viertel jeder Domäne auch in 5 Hektarenloosen
veräussert werden. (Art. 20 und 21.)
Der Kaufpreis der 5 Hektarenparzellen soll in, aut
Grund einer 5prozentigen Verzinsung und einer Iprozentigen
Amortisationsquote, jener für die 10 und 25 Hektarenloose
in auf Basis der gleichen Verzinsung aber einer 2prozentigen
') Ueber die der Erlassung dieses Gesetzes yorausgegaa-
genen Verhandlungen vgl. Braun’s Archiv für soziale Gesetz-
gebung und Statistik 1889, S. 96 ff.
No. -10,
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
131
Amortisationsquote zu berechnenden Jahresraten beglichen
werden. Ueberdies sollen die Käufer von Pafzellen der
zwei letzten Kategorien auch noch ein Zehntel des Kauf-
schillings innerhalb eines Monats, vom Tage der Bestätigung
des Kaufes gerechnet, bezahlen. (Art. 35.)
Im Interesse der Bildung von neuen Gemeinden w ird
das Domänenministerium die Käufer von 5 Hektarenloosen
verpflichten, sich innerhalb 3 Jahren auf dem erkauften
Grund anzusiedeln. Die Agrarkreditinstitute werden er-
mächtigt, ihnen zum Behufe der Einrichtung und Beschaf-
fung des fundus instructus Darlehen im Höchstbetrage von
600 Frcs. zu gewähren, deren Rückerstattung in gleicher
Weise wie die Zahlung des Kaufschillings zu erfolgen hat
und vom Staate garantirt wird. (Art. 3 und 35.)
Die Veräusserung der in Gemässheit dieses Gesetzes
erkauften 5 Hektarenloose ist nach Art. 132 der Ver-
fassung innerhalb eines Zeitraumes von 30 Jahren aus-
geschlossen. (Art. 51.)
Das vorstehende Gesetz ist jedoch bisher nicht zur
Durchführung gelangt. Die Gründe sind leicht einzusehen,
auch wenn man die technischen Schwierigkeiten, deren
Ueberwindung längere Zeit erfordert, gänzlich ausser Be-
tracht lässt. Das konservative Ministerium, das sich auf die
grossgrundbesitzenden Bojaren stützte, denen durch eine
energische Durchführung der Reform die billigen Arbeits-
kräfte entzogen und die Einkünfte geschmälert würden,
ging nicht energisch vor. Die fortwährenden Parteikämpfe
und Ministerwechsel lassen eine stetige Arbeit ebenfalls
nicht zu. Und was am wichtigsten ist: den künftigen
Käufern fehlt es an Geld und die landwirthschaftlichen
Kreditinstitute sind, bei ihrer heutigen Organisation, ausser
Stande, die ihnen in Art. 3 des Gesetzes zugewiesene Auf-
gabe zu erfüllen und die dort vorgesehenen Darlehen zur
ersten Einrichtung zu gewähren.
Es hat daher, wenn die im Jahre 1888 von junimisti-
scher Seite angeregten Agrarreformen verwirklicht werden
sollen, noch Alles zu geschehen.
Der ministerielle Wahlaufruf kündigt auch Gesetz-
entwürte in Betreff einer Reorganisation der landwirth-
schaftlichen Kreditinstitute, sowie der im Gesetze von 1889
vorgesehenen Kaufschillings-Bestimmungen beim ^Verkauf
der Staatsdomänen und in Betreff der Verträge über länd-
liche Arbeiten an.
Wien. Carl Grünberg.
Zum deutschen Auswanderungsgesetz Bereits in
No. 9 dieser Zeitschrift war betont worden, dass der von der
deutschen Reichsregierung' vorbereitete Gesetzentwurf zur
Regelung des Auswanderungswesens sich merkwürdiger
Weise che Vorschläge agrarischer Kreise zu eigen gemacht
habe, die von der Anschauung ausgehen, als ob eine heim-
liche Verlockung der Landbevölkerung durch Agenten in
grösserem Massstabe stattfinde. Nun findet sich aber in dem
Bericht des kaiserlich deutschen Auswanderungskommissars
tür 1891 folgende Stelle: „Vielfach liefen wieder gegen Aus-
wandereragenten und deren Angestellte, sowie gegen die auf
den Bahnhöfen stationirten Beamten Klagen ein, in welchen
behauptet wurde, dass diese einen Druck auf die Auswan-
derer ausübten, um sie zur Lösung von Fahrscheinen bei
einer bestimmten Firma zu veranlassen. Die von den zu-
ständigen Behörden geführten Untersuchungen ergaben fast
stets die völlige Grundlosigkeit dieser Klagen, so dass sie
wohl zum grössten Theil auf Verhetzung der Auswanderer
durch konkurrirende Firmen zurückgeführt werden müssen.
Auch anonyme Denunziationen gingen ein gegen Personen,
die sich im Geheimen mit Anwerbung von Auswanderern
abgeben sollten. Die von den zuständigen Behörden ein-
Seleiteten Untersuchungen ergaben keinen Grund zum
inschreiten gegen die Angeschuldigten.“ Damit widerlegt
ein kaiserlich deutscher Beamter aus seiner praktischen Er-
fahrung^ die Motive, von welchen sich die Reichsregierung
bei Abfassung ihres Gesetzentwurfes theilweise leiten Hess.
Arbeitergenossenschaften in Italien. Der zweiten italie-
nischen Kammer liegt ein Gesetzentwurf vor, welcher Erleich-
terungen für die Verwerthung genossenschaftlicher Arbeit bei
öffentlichen Unternehmungen bezweckt. Bisher durften die Ar-
beitergenossenschaften nur bei staatlichen Unternehmungen, und
zwar nur für Unternehmungen bis zu höchstens 100 000 Lire unter
den durch Gesetz vom 11. Juli 1889 vorgesehenen Erleichterungen
der Kautionsstellung zugelassen werden. Nach dem Entwurf
soll der Maximalbetrag auf 200 000 Lire erhöht und der Kreis
der Unternehmungen über jene des Staates hinaus auf solche
der Provinzen, Gemeinden, Wohlthätigkeitsanstalten, Bonifi-
kations- und Bewässerungsunternehmungen erweitert werden.
Die zur Prüfung des Gesetzentwurfs niedergesetzte Kommission
hat kürzlich einen in der Hauptsache dem Regjerungsvorschlag
zustimmenden Bericht erstattet. Dem Kommissionsberichte sind
interessante Nachweise über das italienische Genossenschafts-
wesen beigefügt. Unter den nach dem Stand vom 31 Dezember
1891 nachgewiesenen Kooperativ-Gesellschaften nehmen die
Maurer- und die Handarbeitergenossenschaften besonderes
Interesse in Anspruch. Der Bestand an Maurergenossenschaften
beträgt 120, davon fallen auf die Provinzen Bologna, Ravenna
und Modena je 6, Reggio Emilia 8, Rom 16. Leider sind die
Nachweise über das eingezahlte Kapital sehr unvollständig; für
die 16 römischen Genossenschaften sind nur 12 919 Lire ange-
geben, dagegen für eine Genossenschaft in Lecce 39 587 Lire;
meist fehlen die Angaben ganz. Als Handarbeitergenossen-
schaften (Societä di braccianti) sind 199 bezeichnet; sie fanden
sich vorzugsweise in Oberitalien, insbesondere in den Provinzen
Padua 12, Forti, Ravenna und Ferrara je 15, Modena 22. Rovigno
und Mantua je 23. Die Angaben über das eingezahlte Kapital
sind gleichfalls sehr unvollständig; für die 23 Genossenschaften
der Provinz Mantua sind 30 285 Lire, für die gleiche Zahl von
Genossenschaften der Provinz Rovigo nur 3 513 Lire angegeben.
Diesen beiden besonderen Arten von Arbeitergenossenschaften
sind beigefügt die Genossenschaften für den Bau von Arbeiter-
häusern. Es sind 80 solcher Genossenschaften nachgewiesen,
davon 15 in der Provinz Florenz und 19 in der Provinz Genua,
erstere mit nur 164 542 Lire, letztere dagegen mit 2 018 686 Lire
eingezahltem Kapitale. Als eigenartig seien erwähnt die Ge-
nossenschaften für Anwendung der Elektrizität (6), für Hygiene
(12).- Von einzelnen Produktionszweigen finden wir vertreten:
Landwirthschaftliche und Weinbaugenossenschaften 125), Nah-
rungsmittelgenossenschaften (60), darunter 21 in der Provinz
Belluno; keramische und Glasgenossenschaften (9); chemische
Genossenschaften (21), mechanische und metallurgische (17),
Bergbaugenossenschaften (2); polygraphische (20), Genossen-
schaften für Textilindustrie (10). Die Wasserbauverwaltung hat
schon jetzt in mehr als 100 Fällen unmittelbar mit Arbeiter-
genossenschaften Verträge über die Herstellung von Damm-
arbeiten abgeschlossen.
Arbeiterzustände.
Schweizerisches Arbeitersekretariat. Die Aufsichts-
behörde des schweizerischen Arbeitersekretariats , der
Bundesvorstand des schweizerischen Arbeiterbundes, setzte
auf das diesjährige Arbeitsprogramm des Arbeitersekre-
tariates: 1. Untersuchung über die Einwirkung der Krisen
auf die Arbeiterverhältnisse; 2. Studium der Frage der
obligatorischen Berufsgenossenschaften (Syndikate und Ge-
werkschaften); 3. Anlage eines Archivs über die Arbeiter-
bewegung in der Schweiz behufs Erstellung einer Geschichte
über diese Bewegung; 4. Publikation des Versuchs einer
Lohnstatistik in Winterthur und zwar binnen einem hal-
ben Jahre.
Mit Rücksicht auf die Nothlage m der Stickerei-
und Uhrenindustrie wurde beschlossen , sofortige Erhe-
bungen über den Umfang der Arbeitslosigkeit m diesen
Industrien vorzunehmen, welche Erhebungen nach Ver-
sicherung des Arbeitersekretärs Greulich in drei bis vier
Wochen abgeschlossen sein können, um gestützt aut das so
erlangte Material dann schnellstens beim Bundesrathe^ ein-
zukommen um staatliche Schritte zur Hebung der Noth-
lage (Forderung eines Nothstandskredits etc.), ferner soll,
und zwar ohne Weiteres, eine Eingabe an den Bundesrath
abgehen, welche diesen ersucht, die Bestrebungen um
internationale Abkürzung der Arbeitszeit energisch wieder
aufzunehmen. _ ■
Das Arbeitersekretariat erhielt ferner Auttrag, f älle
von Vereinsrechts-Verletz ungen zu sammeln und das be-
zügliche Material stets sofort dem eidgenössischen Justiz-
departement zur Kenntniss zu bringen.
Die Frage der Errichtung eines gesonderten Arbeiter-
sekretariats für die französische Schweiz wurde dem im
Jahre 1893 tagenden Arbeitertag zur Entscheidung über-
132
sozialpolitisches cen I r alblatt.
No. 10.
lassen. Einem grossen Theil der Verhandlungen wohnte
das Mitglied der eidgenössischen Centralregierung, Bundes-
rath Deucher bei.
Untergang einer Hausindustrie. Die schlechte Geschäfts-
lage drückt natürlich vor Allem auf die ohnedies schwachen
Zweige der Produktion am stärksten So mehren sich die
Meldungen von der gänzlichen Einstellung hausindustrieller
Thätigkeit in Deutschland. Die Hausweberei im Kreise Graf-
schaft Hohenstein geht hoffnungslos ihrem Untergange ent-
gegen Die entkräfteten Männer, die blassen Kinder, die zu
Soldaten untauglichen Burschen bezeugen es. Der „soziale
Ausschuss des Hohensteinschen Pfarrvereins“ erlässt jetzt einen
Aufruf, in dem er „Gaben der Liebe“ erbittet, um 1 den ärmsten
Weberfamilien, welchen in Folge der schlechten Kartoffelernte
der Hunger naht, helfen, besonders aber 2. Prämien als Ersatz
für ihnen entgehenden Arbeitsverdienst solchen Eltern gewähren
zu können, deren Kinder der AVeberei den Rücken kehren. Der
soziale Ausschuss ruft den Webern zu: „Heraus aus der |
Weberei: die Erwachsenen wenigstens im Sommer, die heran- !
wachsende Jugend aber für ihr ganzes Leben!“
Tagelöhne im Grossherzogtlium Hessen. Nach einer so-
eben erschienenen Statistik über die Tagelöhne erwachsener
Personen in Hessen nach den Stand vom 1. Februar 1892 werden
die höchsten Löhne im Kreise Offenbach bezahlt, nämlich für
männliche Arbeiter Mk. 2 — 2,20. Im Kreise Mainz betragen die-
selben Mk. 1,60—2,20. Alsdann folgt der Kreis Darmstadt mit
Mk. 1,40—2,20. Kreis Oppenheim weist Löhne von Mk. 1,80 — 2
auf: Worms Mk 1,50 — 2; Bingen Mk. 1,50—1,70; Alze3- Mk. 1,60
Die geringsten Löhne werden in den Kreisen Alsfeld und Die-
burg bezahlt, nämlich Mk. 1,20 — 1,50 resp. Mk 1 — 1,80. Die Tage-
löhne für Arbeiterinnen sind ebenfalls im Kreise Offenbach die 1
günstigsten, Mk. 1,20 — 1,40, dann folgen die Kreise Darmstaclt
und Mainz mit Mk 1 - 1,20; die Kreise Bingen, Alzey, Oppen-
heim und Worms zahlen Mk. 1. Die geringsten Löhne für weib-
liches Personal weisen die Kreise Giessen, Alsfeld und Dieburg
mit 80—90 Pf. auf.
Zur Lage der Wiener Schuhmacher. Die grosse Arbeits-
losigkeit in der Wiener Schuhmacherei hat bekanntlich eine
parlamentarische Enquete veranlasst, deren Bericht bisnun noch
nicht vorliegt. Auch das Wiener Gewerbeinspektorat suchte ,
sich über die Arbeiterverhältnisse in der Wiener Schuhmacherei
zu informiren, es hat aber, wie es scheint, nur die Kleinmeister
befragt, indem es der Wiener Schuhmachergenossenschaft
(Zwangsinnung) u. a. folgende Fragen zur Beantwortung vor-
gelegt hat:
1. Dauer der täglichen Arbeitszeit. 2. Minimal- und Durch-
schnittslöhne für die verschiedenen Arbeiterkategorien. 3. Wie
werden Ueberstunden und Feiertagsarbeiten bezahlt. 4 Erfolgt
ein Abzug für Feiertage?
Aus der Antwort können wir folgendes über die Lage der
Schuhmacher in kleingewerblichen Betrieben mittheilen.
1. Die Dauer der täglichen Arbeitszeit dauert in den klein-
gewerblichen Betrieben in schlechter Jahreszeit zumeist 6 — 11
Stunden, in besserer lahreszeit auch über 1 1 Stunden. In Betreff
der Sitzgesellen (Heimarbeiter, die für die Fabrik arbeiten) kann
die Genossenschaft genau konstatiren, dass dieselben mit Hilfe
der Wochengehilfen oder Familienangehörigen 14 18 Stunden
täglich arbeiten.
2 Die Minimal- und Durchschnittslöhne der Gehilfen der
Kleinmeister bei den Wochenarbeitern betragen für die Woche
2 — 6 fl. und die Verpflegung. Der Stückarbeiter verdient 4 bis
8 fl. und die Verpflegung pro Woche. Nachdem die Verpflegung
mit mindestens 3 fl. in Anschlag gebracht werden muss, ver-
dient ein Gehilfe der Kleinmeister im Durchschnitte 5 fl. bis
über 1 1 fl.
3. Ueberstunden sind bei den Kleinmeistern nicht üblich-
Wenn jedoch ein Wochenarbeiter in strenger Saisonzeit länger
als gewöhnlich arbeitet, so erhält derselbe vom Meister am Ende
der Woche einen halben bis einen Gulden mehr Wochenlohn,
bei Stückarbeitern stellt sich der Lohn ohnehin bei LTeber-
stunden höher, weil der Arbeiter in der längeren Zeit mehr
an fertigt.
4. Ein Abzug für Feiertage erfolgt bei den Kleinmeistern
nur in seltenen Fällen, dennoch erhält aber der Gehilfe die
Verpflegung auch an den Feiertagen. Bei den Fabrikanten ist
nach gemachten Erfahrungen ein Abzug in den meisten Fällen
üblich oder es muss an gewöhnlichen Feiertagen gearbeitet
werden.
Das Organ der Arbeiter, die „Freie Schuhmacher-Zeitung“,
bemängelt die Antwort der Genossenschaft. Es behauptet, dass
die tägliche Arbeitszeit bei den Kleinmeistern in der That in
den meisten Fällen eine 13 — löstündige ist, ja sogar nicht selten
bis auf 24 Stunden ausgedehnt wird. Der Antwort betr. die
Lieberstunden setzt das Arbeiterblatt folgenden Satz entgegen:
„Eine geregelte Arbeitszeit ist bei den Kleinmeistern nicht
üblich, weshalb auch von Ueberstunden nicht leicht die Rede
sein kann.“
Das Schwitzsystem in der Schneiderei der Ver-
einigten Staaten. Einem zunt Zweck der Gründung- einer
„National-Organisation der Mäntelmacher“ erlassenen Auf
rufe entndimen wir folgende Stellen:
„Noch vor 5 Jahren waren die Arbeiter des Hosen-,
Kniehosen- und Hemdengeschäfts im Stande, einen halb-
wegs anständigen Lebensunterhalt zu verdienen; sie konnten
7 — 8 Doll, die Woche verdienen. Wie traurig, schrecklich
und jammervoll ist jetzt ihre Lage. Bei etwa 16stündiger
täglicher Arbeitszeit sind dieselben jetzt kaum im Stande,
5—6 Doll, wöchentlich zu verdienen.
Vor 5 Jahren hat noch ein Plüschmantel (dessen Kauf-
preis jetzt bedeutend höher ist) für Macherlohn 5—6 Doll,
eingebracht, und jetzt beträgt derselbe 1,25 — 1,60 Doll Mit
den übrigen Sorten Arbeit aus Stoff wie Seide ist ungefähr
dasselbe der Fall. Die Zahl der Kontraktoren und Schwitzer
ist in Newyork allein von 100 auf 650 gestiegen. Dieses
schändliche Schwitzsystem hat 1. Reduktion der Löhne,
2. Verlängerung der Arbeitszeit und fast die Verdoppelung
der Zahl der Arbeitslosen, 3. den geistigen Verfall der Ar-
beiter, 4. den bevorstehenden Ruin des genannten Gewerbes
durch Theilung der Arbeit, d. h. durch zehnfache Zerglie-
derung des Mantels, verursacht.“
Dass der Ruin des Gewerbes mit der fortschreitenden j
Arbeitstheilung begründet wird, ist natürlich unrichtig,
richtiger wäre es gewesen zu sagen, die Ausbildung der
Arbeitstheilung habe das Sweating-System ermöglicht, in |
derselben sei wieder ein Produktionsfortschritt zu konsta- [
tiren, der lediglich den Unternehmern und den Zwischen-
personen, nicht aber den Arbeitern zu Gute komme. L
In dem zitirten Aufrufe werden die Mäntelmacher auf- j
gefordert, einen Nationalverband der Mäntelmacher der
Vereinigten Staaten von Amerika zu gründen und einen
zu diesem Zwecke einberufenen Kongress zu beschicken,
der am 15. März in New -York zusammentreten und folgende j
Tagesordnung erledigen soll: 1. Wahl zweier (Finanz- und
Korrespondenz-) Sekretäre. 2. Gründung eines Strikefonds.
3. Einführung eines Union -Labels (Kontrollmarke). 4. Bei-
tritt zu einem Centralkörper der Vereinigten Staaten. ;
5. Agitation und Organisation. 6. Verschiedenes.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Krisis im englischen Kohlenbergbau. Das vereinigte
Königreich steht am Vorabend einer Krisis, die beispiellos
in der Geschichte der Industrie ist. Nachdem zu Anfang
dieses Jahres die Bergarbeiter von Südwales einer Lohn-
reduktion von 7'/-j0/o sich hatten unterwerfen müssen, be- J
schloss der grösste englische Bergarbeiterverband, die
„Miners federation of Great Britain“, für den 12. März die
Arbeit zu kündigen, um einer seinen Mitgliedern drohenden
Lohnherabsetzung vorzubeugen. Auch die Bergleute der
Grafschaft Durharn haben sieb der Bewegung angeschlossen.
Es ist dies um so bemerkenswerther, weil ihre Organisation, !
die „Miners national Union“, bisher stets im Gegensatz zur
„Miners federation“ stand. Nach der Meinung des „Daily i
Chronicle“ dürfte eine Verschmelzung der beiden Gewerk-
schaften eine der wichtigsten Folgen des bevorstehenden
Ausstandes sein. W ie gross die Zahl der vom Strike Be-
troffenen sein wird, lässt sich nicht genau beziffern. Von
den 178 513 Mitgliedern der „Miners federation“ haben bis-
her 150 000 Mann hauptsächlich in Yorkshire, Lancashire,
Cumberland, Nottinghamshire und Derbyshire gekündigt.
Rechnet man noch die Bergleute der nordöstlichen Graf-
schaften und von Schottland hinzu, so würden an 300 000
Mann feiern. Die Ankündigung des Strikes hat bereits auf
dem Londoner Kohlenmarkt eine Panik hervorgerufen. Die
Einfuhr deutscher und belgischer Kohlen hat begonnen.
Die Kohlenvorräthe auf den Gruben schwinden, und falls
es zum Ausstande kommt, werden eine grosse Anzahl von
Werken ihren Betrieb aus Kohlenmangel einstellen müssen.
Die gleitende Skala in den Kohlenwerken von Siid-
Wales. Als das System der gleitenden Lohnskalen dem grossen
Publikum bekannt wurde, entspann sich über ihre Wirk-
samkeit ein grosser Widerstreit der Meinungen. Von der
einen für eine Panacee, von anderer Seite schlechthin für
eine der vielen Arten der Ausbeutung erklärt, harrt dieses
C t
Ko. 10.
SOZIALPOLITISCHES'' CENTRALBLATT.
r
-133
System sowohl seiner vollen Ausbildung im Wirtschafts-
leben, als der richtigen Beurteilung durch die Forschung.
Jede neue Phase in ihrem Ausbau, jede 'Veränderung ihres
Standes gewährt daher neue Belehrung.
Um die neue Vereinbarung, welche in Süd-Wales am
I. Januar ins Leben trat und die Löhne von gegen 95 000
Arbeitern regelt, recht zu verstehen, ist es notwendig,
einen Rückblick auf ihre Vorgeschichte zu werfen. Nach
dem grossen Strike von 1875 wurde die erste Skala fest-
gestellt. Der Minimallohn der Häuer sollte um 5% über
den im Jahre 1869 gezahlten Häuerlöhnen stehen, der Stück-
lohn per Tonne wurde nach der Dichte bestimmter Flötze
abgestuft. Dieser Minimallohn sollte bei gewissen Minimal-
reisen (II und 12 sh. per Tonne) der Kohle eintreten.
ei jeder Steigerung der Kohlenpreise um I sh. per Tonne
sollten die Löhne um 7 1/s °/n über den Minimalsatz bis zu
einem Maximallohne von 20 bezw. 21 sh. steigen, bei sin-
kendem Preise in derselben Weise fallen. Rechner, die
sowohl von Seite der Arbeiter, als der Arbeitgeber an-
gestellt wurden, waren damit beauftragt, die Kohlenpreise
der letzten 6 Monate aus den Büchern der Unternehmer zu
eruiren, um ihren Durchschnitt dem Lohntarife des folgenden
Halbjahres zu Grunde zu legen. Im Jahre 1878 wurde um
5 n/o unter den Minimallohn herabgegangen.
Eine neue Skala trat 1880, von einem Joint Committee
der Arbeiter und Arbeitgeber durchberathen, ins Leben.
Von der Bestimmung eines Minimal- oder Maximallohnes
wurde abgesehen. Die Dezemberlöhne 1879, 4 sh. bis 4 sh.
2 d. per Tag, gezahlt bei einem Kohlenpreisstande von 8,
bezw. 8'A sh., wurden als Normallöhne (Standard) fest-
gestellt, als Nullpunkt der Skala, und die Löhne sollten bei
jeder Preisschwankung von 4 d. um 2 1/2 °/n (in gewissen
Gruben um 5 %) sich über oder unter diesen Standard be-
wegen; die Preisfeststellung sollte sich auf Basis der letzten
vier Monate vollziehen.
Auch diese Skala dauerte nur bis zum Jahre 1882.
Die Lohnfestsetzung dieses Jahres setzt als Standard die
Häuerlöhne von Dezember 1879 bei einem Kohlenpreise
von 7 sh. 8 d. bis 8 sh. fest. Bei jeder Preissteigerung um
4 d. verändert sich der Lohn, wie im früheren Falle, um
272%, bis er 100% bei 21—21 sh. 4 d. erreicht.
Nach einigen Veränderungen, die im Juni 1882 und
am 7. November 1887 eintraten, wurde die vorletzte Skala,
nach einer Periode steigender Kohlenpreise im Januar 1890
errungen. Sie bestimmt, dass der Standardlohn (Dezember-
löhne 1879) bei einem Kohlenpreise von 7 sh., 1 0l/2 d. bis
8 sh. per Tonne gezahlt werden solle. Die Lohnschwan-
kungen sollen mit U/4% jeder Preisschwankung von d.
tolgen, also bei einem Kohlenpreise von 13 sh. IOV2 d- bis
14 sh. per Tonne mit 60% über dem Nullpunkte stehen.
Während des letzten Jahres fielen nun die Kohlen-
preise um 1 — U/s sh. per Tonne; die Löhne standen noch
immer Dezember 1891 um 53:7(% über dem Standard.1)
Die Reaktion ist nicht ausgeblieben. Die Grubenbesitzer
kündigten eine Reduktion dieses Lohnsatzes an. Elf Tage
hindurch hielt das Sliding Scale Committee in Cardiff
Sitzungen a.b, um schliesslich die gegenwärtig geltende
Lohnskala festzusetzen. Die Unternehmer wollten auf die
Skala von 1882 zurückgehen; dies hiess eine 137iprozentige
Reduktion verlangen. In Wirklichkeit ist das Resultat der
Berathungen ein l'/.2 prozentiger Abschlag gewesen. Im
§ 9 des neuen Vertrages heisst es: der Standardlohn (1879
Dezember) solle eintreten bei einem Kohlenpreise von 7 sh.
I01/,) d. bis 8 sh., und im § 19, dass die Januarlöhne 1892 mit
46 7 4% über dem Dezemberstandard 1879 stehen sollen.
Dabei sollen die Durchschnittspreise der letzten zwei
Monate immer für die beiden nächstfolgenden massgebend
sein. _ Durch eine Kombination der Skalen von 1882 und
(890 ist ferner die Bestimmung getroffen worden, dass bei
Steigen oder Fallen der) Kohlenpreise um weitere 1% d.
die Löhne jedesmal 1 ’^prozentige Veränderungen erfahren
sollen. Eine wichtige Konzession der Arbeiter bestand
schliesslich darin, dass sie aut die Bezahlung der Kleinkohle
verzichteten.2)
li i nWi , • . .
j T 7 Vergl. tiu das Vorhergehende die Schriften Professor
1 7\.,. • Munro’s: Sliding Scales in the Coal Industry 1885.
Sliding Scales in the Coal and Jron Industries from 1885 to
1889, und I he Economic Effects of an Eight Hour’s Day for
Coal Mmers, 1891. National Liberal Club Transactions, pt. 1,
vpl II, p. 7 und in den Reports der Royal Commission ofLabour
Group Ä.
2) The Labour Tribüne, January 9, 1892.
Seit diese Abmachungen zu Stande gekommen sind,
sind die Kohlenpreise weiter gesunken, und es ist nicht
unmöglich, dass weitere Reduktionen bevorstehen.
Bei allen ihren Vorzügen spiegelt ihre Ausbildung
den Charakter unseres Wirthschaftslebens deutlich wieder:
sie ist darauf berechnet, den Arbeitern eine gewisse Ein-
kommenssicherheit und doch zugleich die Theilnahme an
dem mit steigenden Preisen steigenden Ertrage zu ge-
währen. Aber je ausgebildeter, desto unbeständiger wird
die Skala; wie die Preissätze jählings auf- und nieder-
schwanken, gehen in immer kleineren Prozentualantheilen
ihre Sätze auf und nieder, für desto kürzere Zeiträume
bleiben sie in Wirksamkeit. Bei sinkenden Preisen hilft
keine Sliding Scale. Das beweist auf das deutlichste die
Krisis im englischen Kohlenbergbau, über die wir oben
berichteten.
Die Kontrollmarke, das in den Vereinigten Staaten
zuerst in Anwendung gekommene gewerkschaftliche Kampf-
mittel, wird immer mehr auch von den deutschen Arbeitern
anzuwenden gesucht. Nachdem die Hutmacher anscheinend
mit der Kontrollmarke Erfolge erzielt haben, suchten nun
auch die Schuhmacher, Textilarbeiter und Tabakarbeiter,
dieselbe einzuführen, ihnen wollen die Schneider und andere
Branchen folgen. Doch nicht nur die gewerblichen Arbeiter
in engerem Sinne finden Gefallen an der Kontrollmarke,
auch Kellner- und Musikerorganisationen bedienen sich nun
dieses originellen Kampfmittels. Die Berliner Kellnerorga-
nisation sucht, allerdings nicht unter dem ungetheilten Beifall
der organisirten Arbeiter, dieselben zu veranlassen, nur
denjenigen Kellnern Trinkgeld zu verabfolgen, welche sich
durch ihre Kontrollmarke als Mitglieder der Gewerkschaft
legitimiren können. Ein ähnliches Vorgehen hält die freie
Vereinigung der Civil-Berufsmusiker Hamburg-Altonas und
Umgebung für angezeigt. In der Nummer vom 19. Februar
des „Hamburger Echo“ erlässt der Vorstand dieses Vereins
eine Aufforderung, welche für die Beurtheilung der
Arbeiterkontrollmarke uns so charakteristisch erscheint,
dass wir sie hier vollinhaltlich folgen lassen. Dieselbe lautet:
„Um zu verhindern, dass Musiker, Musikdirigenten resp.
Annehmer von Mu.sikgeschäften, welche nicht Mitglieder
der Freien Vereinigung der Civil-Berufsmusiker von Ham-
burg-Altona und Umgegend sind, durch Vorspiegelung
falscher Thatsachen Musikgeschäfte an sich reissen, die für
die Freie Vereinigung bestimmt waren, ist beschlossen
worden: für die Mitglieder der Freien Vereinigung ein Er-
kennungszeichen, bestehend in einer Legitimationskarte mit
vierteljährlicher Gültigkeit und Farbenänderung einzuführen.
Wir bitten jedes Mal da, wo sich ein Berufsmusiker als
Mitglied unseres Vereins ausgibt, von diesem die Vorzeigung
der Legitimationskarte, mit welcher alle unsere Mitglieder
versehen sind, zu verlangen. Diese Karten enthalten am
Kopf den vollen Namen des V ereins und müssen ausserdem
mit dem Vereinsstempel abgestempelt sein. Ferner achte
man darauf, dass es heissen muss: „Freie Vereinigung“.
Die jetzt ausgegebenen Karten sind von gelber Farbe und
haben Gültigkeit bis 30. April 1892. Wir bitten, alle an-
deren Karten als ungültig zurückzuweisen.'1
Reorganisation der katholischen Arbeitervereine. Eine
Umwandlung der katholischen Arbeiter- und Gesellenvereine ist
im Werke. Diese sollen wie die gewerkschaftlichen Organi-
sationen auf der Grundlage der speziellen Berufsart aufgebaut
werden. Der Aachener katholische Arbeiterverein hat bereits
sechs sogenannte Werksgenossenschaften eingerichtet (Weber,
Spinner, Appreteure, Nadler, Bauarbeiter und Metallarbeiter).
Weiter sollen in den so umgestalteten Vereinen ein organisirter
Arbeitsnachweis und besondere Kommissionen, hauptsächlich
zu Zwecken des Rechtsschutzes eingerichtet werden. Diese
Kommissionen würden also bei den Rechtsstreitigkeiten der
Arbeiter und Unternehmer, bei Unfallversicherungsangelegen-
heiten u. s. w. etwa die Aufgaben zu erfüllen haben, welche
jetzt schon vielfach die Vorstände der Fachvereine und Gewerk-
schaften und die Arbeitersekretariate erfüllen. Man sieht hieraus,
dass das Prinzip konfessioneller Arbeitervereinigungen sich nicht
bewährt hat, sondern der Grundsatz der Fach vereinigung jauch
hier sich mächtiger erweist, als eine künstliche Scheidung der
Arbeiter nach Konfessionen. Zu der späteren Vereinigung der
neuen katholischen Fachvereine mit den nichtkonfessionellen
Fachvereinen ist dann nur noch ein Schritt
Die Leistungen der dänischen .Böttcher-Organisation
waren nach einem Berichte der „Skandinavik Boedker og
Tunnbinderiarbeitere Tidende“ im Jahre 1891 die folgenden.
Durch eine ausserordentliche Agitation in allen Theilen des
Landes erzielte der Verband einen bedeutenden Zufluss
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
von Mitgliedern, sodass fast sämmtliche Böttcher Dänemarks
jetzt der Organisation angehören.
Im Laufe des Jahres ist ein neuer Lohntarif ausge-
arbeitet worden, es ist geglückt, denselben von fast
allen Arbeitgebern unterschrieben zu erhalten. Derselbe
sichert den Gehilfen bestimmte Minimalpreise ihrer Arbeit
im ganzen Land und einen Maximalarbeitstag von zehn
Stunden. Dies ist hauptsächlich durch freundschaftliches
Uebereinkommen mit den Arbeitgebern erreicht worden,
doch kam es auch an verschiedenen Orten zur Arbeits-
einstellung, so in Helsingör, Kjüge und auf der Insel
Syn. In beiden letzteren Orten endete die Arbeitseinstel-
lung mit Unterzeichnung des Lohntarifs, während in
Helsingör das Abbrennen der Fabrik „Hamlet“ den Strike
beendigte.
Nachdem in dem Berichte die gute Disziplin der Mit-
glieder und besonders die Treue und Opferwilligkeit der
jungen Mitglieder betont wurde, heisst es dann weiter:
„Auch die Verhältnisse zwischen uns und unsern Fach-
genossen im Auslande sind gleichfalls bessere geworden.
Während wir bei dem Kopenhagener Strike von 1884 einen
bedeutenden Zulauf von ausländischen Fachgenossen zu
verzeichnen hatten, hat während des letzten Sommers auch
nicht ein einziger Ausländer in den vom Strike betroffenen
Städten Arbeit angenommen. Dies Resultat ist sicher den
Verbindungen zu danken, welche wir mit den ausländischen
Fachgenossen geschlossen haben.“
Den Erfolgen der Böttcher-Organisation Dänemarks
können sich die Schwedens und Norwegens nicht an die
Seite stellen; in diesen Ländern steckt die Organisation der
Böttcher noch in den Kinderschuhen. Auch die Organisation
der Böttcher Deutschlands hält den Vergleich mit den
Leistungen der dänischen Organisation nicht aus.
Die amerikanischen Gewerkschaften. Die amerikani-
schen in der Federation of Labor vereinigten Gewerk-
schaften zählten im Jahre 1890/91 675117 Mitglieder, demnach
ca. dreimal so viel wie die deutschen Gewerkschaften. Die
stärkste Organisation war die der Zimmerer und Tischler,
welche in 2 V erbänden und 780 Zweigvereinen 67 800
Mitglieder umfasste, dieser reihen sich die Eisen- und Stahl-
arbeiter mit 311 Zweigvereinen und 60 000 Mitgliedern an.
20 000 und mehr Mitglieder vereinigten 9 Organisationen,
zwischen 10- und 20 000 Mitgliedern wiesen 14, zwischen 5-
und 10 000 Mitgliedern 12 Organisationen auf, 1000 — 5000
Mitglieder besassen 30 und 300 bis 1000 Mitglieder 8 Orga-
nisationen. Aehnlich wie in Deutschland besitzen die
Tischler, Metallarbeiter, Hutmacher, Tabakarbeiter, Berg-
arbeiter und Buchdrucker die stärksten Organisationen.
Im Gegensätze zu Deutschland verfügen aber auch die
Bäcker (17 500 Mitglieder), Brauer (9500 Mitglieder), Eisen-
bahnarbeiter (16 000 Mitglieder), Eisenbahnschaffner (10 000
Mitglieder), Weichensteller (7000 Mitglieder), Telegraphen-
beamte (800 Mitglieder), Heizer (8000 Mitglieder), Musiker
(1 1 000 Mitglieder), Muster- und Schablonenarbeiter (11000
Mitglieder), Maler und Dekorateure (16 000 Mitglieder),
Pianomacher (6000 Mitglieder), Stukateure (14000 Mitglieder),
Matrosen (12 000 Mitglieder) über Organisationen, die in
Deutschland überhaupt nicht existiren oder nur vegetiren.
Die gewerkschaftliche Bewegung in Oesterreich-
Schlesien. Seit dem Amtsantritte des Landespräsidenten
[aeger litten die schlesischen Gewerkschaften unter einer
einem Ausnahmezustände gleichkommenden Auslegung des
Vereinsgesetzes. Die Statuten neu sich bildender Fach vereine
erhielten ebensowenig, wie die von Arbeiterbildungsvereinen
die nach dem österreichischen Vereinsgesetze erforderliche
Genehmigung, weil diese Vereine nach Ansicht der Landes-
regierung laut ihren Statuten „politische“ Vereine bilden,
als welche sie sich aber nicht erklären. Durch eine in
Folge Rekurses der Gründer eines Fachvereins für Maschi-
nisten, Maschinenwärter und Dampfkesselheizer in Jägern-
dorf und eines Arbeiterfortbildungsvereines für Gruschdorf
und Umgebung erfolgte Entscheidung des Ministeriums des
Innern wurde die Auslegung des Landespräsidenten dem
Gesetze nicht entsprechend erklärt und damit prinzipiell
festgestellt, dass die Bildung von Fach- und Arbeiterbildungs-
vereinen durch die Erklärung derselben zu politischen Ver-
einen nicht gehindert werden darf.
Ein lTrtheil über Strike». Der Präsident der Internatio-
nalen Cigarrenmacher-Union von Amerika A. Strasser hat sich
kürzlich über Strikes folgendermassen ausgesprochen: Die Be-
ziehungen der Lohnarbeiter zu den Fabrikanten haben nicht die
No. 10.
Natur einer Kompagnieschaft mit denselben Interessen, Gewinnen
und Verlusten, sie^gleichen vielmehr dem Verhältnis» des Käu-
fers zum Verkäufer einer Waare. Falls organisirt, wird jeder
Theil bestrebt sein, für sich die günstigsten Bedingungen hei
der gegenseitigen Uebereinkunft zu erlangen. Wenn kein Ueber-
einkommen erzielt wird, schliesst der Fabrikant seine Fabrik
der Arbeiter stellt die Arbeit ein. Man nennt dies entweder
einen Ausschluss oder einen Strike. In Wirklichkeit bedeutet
es die Anstrengung, einen bestimmten Preis oder Werth für
Geschicklichkeit oder Verstand zu erhalten, welcher seinem
Eigner ein annehmbares Aequivalent für die zu vollbringende
Arbeit sichert. Wenn die gegenseitigen Interessen durch die
Verhandlungen nicht ermittelt werden können, verwandeln sich
die Positionen in zwei feindliche Lager, wovon ein jeder Theil
bestrebt ist, den Gegner zu besiegen. Die stärkste Seite schreibt
die Bedingungen des Friedens vor, unter welchen das Arbeits-
verhältniss wieder hergestellt werden kann. Es ist nicht Ge-
rechtigkeit, welche siegt, sondern Macht. Die bestdisziplinirte
Kraft, die vollständigste Organisation und die stärksten finan-
ziellen Mittel bedingen die Macht, welche in dem Ausgleich
bei gewerblichen Streitigkeiten als Gerechtigkeit anerkannt wird.
Gewerkschaften, gut organisirt und disziplinirt, begünstigen
keine Strikes, sie entmuthigen voreilige und unvorbereitete Be-
wegungen, um wirkliche oder eingebildete Beschwerden zu be-
seitigen. Ein Strike sollte nicht unternommen werden, bevor |
nicht alle Anstrengungen, die Differenzen zu schlichten, soweit
dies die Ehre und Würde des Arbeiters zulassen, fehlgeschlagen
sind. Ein Strike sollte in einer ruhigen, doch energischen Art
und Weise geführt werden, ohne sich anderer als thatsächlich
vorhandener Fonds und sicherer Quellen zu rühmen. Dies allein
wird die theilnehmende Aufmerksamkeit des Publikums und eine
Beachtung unserer Beschwerden sichern.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Eine Enquete betreffend die Organisation der
österreichischen Fabrikindustrie.
Im österreichischen Abgeordnetenhause wurde bekannt-
lich im Vorjahre eine Regierungsvorlage, „betreffend die
Einführung von Einrichtungen zur Förderung des Einver-
nehmens zwischen den Gewerbsunternehmern und ihren Ar-
beitern“ eingebracht, welche die obligatorische Einführung |
von Arbeiterausschüssen, die genossenschaftliche Organi- j
sation der Fabriksindustrie , sowie die Errichtung von j
Einigungsämtern bezweckt. Die Vorlage wurde dem Ge-
werbeausschusse zugewiesen, der die Abhaltung einer
Enquete zur Beschaffung des nothwendigen Materials be-
schlossen hat.
Der den Experten vorzulegende Fragebogen ist jüngst
veröffentlicht worden und hat folgenden Wortlaut:
„I. Arbeiterausschüsse. I. Ist die Einführung eine»
Arbeiterausschusses in den fabriksmässigen Betrieben für die
Erhaltung und Herstellung guter Beziehungen zwischen Unter-
nehmern und Arbeitern wünschenswerth und durchführbar?
2. Soll die Einführung von Arbeiterausschüssen durch das Ge-
setz allgemein und unbedingt für alle fabriksmässigen Betriebe
gefordert werden oder soll aer Gesetzgeber den Unternehmern
freisteilen, solche Ausschüsse einzuführen oder nicht? 3 Welches
sind die Aufgaben, mit denen ein Arbeiterausschuss betraut
werden soll, und wie verhalten Sie sich zu § 2 der "\ orlage-
4 Soll der Arbeiterausschuss bloss aus Arbeitern bestehen, ab-
gesonderte Berathung pflegen und sich von Fall zu Fall mit dem
Unternehmer oder seinem Stellvertreter in Verbindung setzen
oder soll in dem Ausschüsse (Fabriksausschuss) neben dem
Arbeiter auch der Unternehmer selbst oder durch seine Organe
ständig vertreten sein, oder endlich, sollen diese beiden Formen
je nach Wahl des Unternehmers zulässig sein? 5. Entsprechen
die besonderen Bestimmungen der §§f — 10 des Gesetzentwürfe»
dem Zwecke eines Arbeiter-(Fabriks-) Ausschusses? In welchen
Punkten wäre eine Abänderung oder eine Ergänzung dieser Be-
stimmungen wünschenswerth? II- Genossenschaftliche Or-
ganisation der fabriksmässig betriebenen Gewerbe.
6. Welche Organisationen der Unternehmer und Arbeiter (\ er-
eine, Verbände, Fachvereine, Genossenschaften, Lern- und
Bildungsvereine, Hilfsvereine u. s w.) bestehen an dem Orte,
wo Sie wohnen? Wie viele Mitglieder haben diese Organi-
sationen, welche Zwecke verfolgen sie, welche Mittel stehen
ihnen zu Gebote und welche praktische Wirkung haben sie bis-
her geübt? 7 Halten Sie eine gemeinschaftliche Organisation
der Unternehmer einerseits und der Arbeiter andererseits durch
Vereinigung von Personen aus verschiedenen Betrieben der-
Nd. 10.
SOZIALPOLITISCHES CPNTRAI .Hl .AT T.
1.3S
selben Art für geeignet, die wärthsehaftlichen Interessen der j
Genossen zu fördern? 8. Ist zu erwarten, dass durch die Ver-
einigung der Unternehmer und Arbeiter zu von einander unab-
hängigen Genossenschaften, die mit einander von Fall zu Fall
in Verbindung treten und sich zu verständigen suchen, das Ein-
vernehmen zwischen beiden Theilen gefördert werden wird?
9. Wie müssten Genossenschaften eingerichtet sein, um als von
den Interessenten anerkannte, lebensfähige Organe diese beiden
in den Fragen 7 und 8 bezeichneten Zwecke verfolgen zu j
können, und sind die diesbezüglichen Bestimmungen der Gesetz-
entwürfe als entsprechend anzusehen? 10. Sollen die Genossen-
schaften durch Gesetz und Verordnung (§§ 1 1 und 12 des Ent-
wurfes) obligatorisch eingeführt werden oder freiwillig gebildet
sein? II. Was ist insbesondere zu den Bestimmungen der
§§15 — 34 des Entwurfes im Einzelnen zu bemerken? III. Eini-
gungsämter. 12. Wie haben sich die bestehenden Gewerbe-
gerichte bewährt, warum sind bisher nur drei Gewerbegerichte
in Thätigkeit getreten, welche Erfahrungen haben Sie über die
Wirksamkeit und die Erfolge des Gewerbegerichtes gemacht?
13. Welche Erfahrungen haben Sie bezüglich der Entscheidung i
von Streitigkeiten aus dem Arbeiterverhältnisse gemacht, die
auf Grund des § 87 c) der Gewerbe-Ordnung von der politischen
Behörde zu verhandeln sind? 14. Welche Erfahrungen haben
Sie bezüglich der vermittelnden Thätigkeit einzelner Personen,
Repräsentanten der Arbeiter oder behördlicher Organe bei
Arbeitseinstellungen oder anderen Differenzen zwischen Unter-
nehmern und Arbeitern gemacht? 15. Besteht ein Bedürfniss,
eine Instanz zu schaffen, welche dazu berufen wäre, sowohl in
Betreff der Auslegung eines bestehenden Arbeitsvertrages, als
in Betreff der Bedingungen für die Wiederherstellung eines
unterbrochenen oder für den Abschluss eines neuen Arbeitsver-
trages zwischen Unternehmern und Arbeitern zu vermitteln und
eine Einigung zu erzielen? 16. Von wem und in welcher Weise
sollen die Mitglieder des Einigungsamtes (für die fabriksmässigen
oder für die gewerblichen Betriebe § 35) gewählt werden <
17. Entsprechen die Bestimmungen der §§ 39—66 über die Zu-
sammensetzung der Einigungsämter und das Verfahren vor den-
selben ihrem Zwecke, in welcher Richtung wären sie abzuändern
oder zu ergänzen? 18. Liegt ein Bedürfniss vor und wäre es
möglich, dieses Einigungsamt zu einem Schiedsgerichte zu er-
weitern, welches über Streitigkeiten aus dem Ärbeiterverhalt-
nisse mit Rechtskraft und Exekutionsfähigkeit zu entscheiden
hätte, falls sich beide Theile vorher seinem Ausspruche unter-
worfen haben?“
Das Schema des Fragebogens zerfällt, entsprechend
dem Gesetzentwürfe, in drei Theile, deren erster sich mit
den Arbeiterausschüssen, der zweite mit der genossenschaft-
lichen Organisation, der dritte endlich mit der Frage der
Einigungsämter beschäftigt.
Es ist zu begriissen, dass zum ersten Mal auch die
Arbeiter dazu gelangen werden, ihre Ansicht über die
Fabriksausschüsse kundzugeben. Bisher sind lediglich die
Stimmen der Fabrikanten und ihrer Beamten laut geworden.
Freilich versprechen wir uns von der projektirten Einver-
nahme von Arbeiterausschuss-Mitgliedern nicht viel. Nicht
nur, dass deren Wahl bisher in einer Weise zu erfolgen
pflegt, dass sie keineswegs als Vertrauensmänner ihrer Ge-
nossen betrachtet werden können; sie stehen überdies
unter dem Drucke des Fabriksherrn, der eine ungünstige
Aeusserung über die Einrichtung sicherlich nicht gleich-
gültig aufnehmen würde. Wollte man also die Wahrheit
erfahren, dann würde nichts Anderes erübrigen, als sich an
Arbeiter zu wenden, die in Fabriken gearbeitet haben, in
welchen Ausschüsse bestehen. Das Mittel, zu welchem, wie
ein Gerücht behauptet, gegriffen werden soll: die gesonderte
Einvernehmung der Experten, ist äusserst bedenklich. Es
dürfte mehr schaden als nützen.
Die fünf auf diesen Theil bezüglichen Fragen erstrecken
sich auf die Durchführbarkeit der Arbeiterausschüsse, auf
deren obligatorischen oder fakultativen Charakter, die Auf-
gaben derselben, die Zusammensetzung und endlich auf die
Detailbestimmungen des Gesetzentwurfes.
Korrekter Weise hält es der Gewerbeausschuss für
erforderlich, ehe er an die Berathung der genossenschaft-
lichen Organisation der fabriksmässigen Betriebe schreitet,
die bestehenden Organisationen der Arbeiter und Unter-
nehmer, die bisherige Wirksamkeit derselben, ihre Mitglieder-
zahl, Mittel und Zwecke kennen zu lernen. Es ist aber
völlig verkehrt, solche Daten auf dem Wege der mündlichen
Enquete zu suchen. Die Zahl der Experten müsste eine
riesige werden: jede auch noch so kleine Organisation
müsste eben einen Vertreter entsenden.
Da nun die Absicht besteht, eine beschränkte Zalli
von Unternehmern und Arbeitern zu vernehmen, so weist
dies mit zwingender Nothwendigkeit darauf hin, dass nur
von einer schriftlichen Enquete eine halbwegs befriedigende
Antwort auf die P'rage 6 zu erwarten ist. Auf Grundlage
des vorhandenen Vereinskatasters und mit Unterstützung
der Behörden wäre eine derartige Erhebung leicht durch-
zuführen. Das Ergebniss würde eine werthvolle Vorarbeit
zur eigentlichen Enquete bilden.
An den weiteren auf den Theil II bezüglichen Fra-
gen haben wir noch auszusetzen, dass sie zu allgemein
gehalten sind. Dies gilt insbesondere von den Fragen 7—9.
Der Punkt 9 will beispielsweise nicht weniger wissen als,
wie Genossenschaften eingerichtet sein müssten, um als von
den Interessenten anerkannte, lebensfähige Organe die
früher bezeichneten Zwecke verfolgen zu können. Da wird
von jedem Experten ein fertiges Programm verlangt, das
er bis ins Detail darlegen und wohl auch rechtfertigen soll.
Sache des Fragebogens wäre es jedoch, ganz konkret jene
Momente vorzuführen und zur Erörterung zu stellen, die in
i Betracht kommen können. Die entscheidenden Punkte sind
j doch auch dem Subkomitee des Gewerbeausschusses kein
] Geheimniss. Billiger Weise wird man wohl von den Ex-
{ perten keine neuen Entdeckungen auf dem Gebiete der
I Organisation erwarten. Weshalb also allgemeine, unklare
| Fragen, wo nur eine scharf umschriebene, konkrete Fassung
zu einem befriedigenden Ergebnisse führen kann?
Der dritte, die Einigungsämter betreffende Theil wird
mit einer Frage nach den Gewerbegerichten und der Wirk-
samkeit der politischen Behörden in Lohnstreitigkeiten ein-
geleitet. Der Zusammenhang ist schwer zu verstehen und
die Erklärung ist nur darin zu suchen, dass von Seite einer
Unternehmerkorporation die Ausbildung der Gewerbe-
gerichte zu Einigungsämtern in Vorschlag gebracht worden
ist. Wir verschliessen uns keineswegs der Nützlichkeit
einer Erörterung dieser Fragen; sind ja die Missstände auf
dem Gebiete der Lohnstreitigkeiten unglaublich zahlreich.
Wir meinen nur, dass die Gelegenheit nicht die passende
ist, um auch diese zu erledigen und dass die Einbeziehung
so vielfacher Gegenstände die Gründlichkeit der Erörte-
rungen beeinträchtigen muss. Ein übermässiger Umfang
des Fragebogens wird nur zu rasch eine Ermüdung des
Ausschusses wie der wenigen Experten herbeiführen. Man
wird die Absolvirung der einzelnen Punkte forciren und
zuletzt über keinen einzigen volle Klarheit gewinnen. Schon
aus diesem Grunde heisst es das nicht unbedingte Noth-
wendige ausscheiden. Ueberdies erscheint uns aber der
Versuch der Verquickung von Schiedsgericht und Eini-
gungsamt als sehr bedenklich und als eine Verschlechterung
der Regierungsvorlage.
Zum Schlüsse sei noch ein Wunsch vorgebracht. Die
bisher vom österreichischen Abgeordnetenhause veranstal-
teten Enqueten haben leider unter Ausschluss der Oeffent-
lichkeit stattgefunden. Wie, wenn man diesmal davon
abweichen und den Zutritt Jedermann ermöglichen wollte?
Wir sind überzeugt, dass dies den Gang der Erörterungen
nicht im Geringsten hemmen, vielmehr belebend aut die-
selben wirken, manche Irrthümer und Unrichtigkeiten be-
seitigen würde. Es gibt nicht ein Moment, welches gegen
unseren Vorschlag, zahlreiche, die für denselben sprechen.
Das Interesse, welches heute nur in sehr engen Kreisen
besteht, würde ausserordentlich wachsen und die Stellung-
nahme auch jener Körperschaften herbeiführen, die über
die Regierungsvorlage bisher beharrlich geschwiegen haben.
Wien. Leo Verkauf.
Nothwendigkeit der Ausdehnung' der Schutzvor-
schriften für jugendliche Arbeiter. Während der vor-
jährigen Arbeiterschutzdebatten im deutschen Reichstage
wurden mehrfach Anträge dahin gestellt, die Schutzvor-
schriften für jugendliche Arbeiter aut die jungen Leute bis
zu 18 Jahren auszudehnen. Diese Anträge wurden auch
von der Regierung abgelehnt. Jetzt geht ihre dringende
Nothwendigkeit aus folgender Stelle des neuesten Jahres-
berichtes der Badischen Fabrikinspektion hervor: „Bei dem
136
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 10.
Besuche der gewerblichen Anlagen w ird häufig die Wahr-
nehmung gemacht, dass ein grosser Theil der jungen Leute,
welche das 16. Lebensjahr schon überschritten haben, hinter
der körperlichen Entwickelung ihrer Altersklasse zurück-
geblieben sind. Sie werden häufig für jünger gehalten und
es kann dann nur durch Vorlage des Arbeitsbuches der
Nachweis geliefert -werden, dass es sich nicht um gesetzlich
geschützte Personen handelt. Schon die blosse äussere
Beobachtung lehrt, dass es ein Unding ist, diese jungen
Leute gesetzlich dem Erwachsenen gleichzustellen.
Allein die Regelmässigkeit der Nachtarbeit mit dem für die
auswärts Wohnenden frühzeitigen Verlassen des Wohnorts,
der späten Rückkehr am andern Morgen und dem unge-
nügenden Schlafe in den engen Wohnungen sind Dinge,
welche ein so jugendlicher Organismus auf die Dauer ohne
tiefgreifende Schädigungen nicht erträgt, auch abgesehen
von der Länge der regelmässigen Arbeitszeit. Die nächste
Etappe der Arbeiterschutzgesetzgebung wird daher das
Ziel erreichen müssen, dass der den jungen Leuten von
14-16 Jahren gewährte Schutz bis zum vollendeten 18. aus-
gedehnt, oder dass wenigstens die Nachtarbeit der jungen
Leute von 16 — 18 Jahren untersagt wird.“ Hier zeigt sich
von Neuem, dass die deutschen Arbeiterschutzvorschriften
weit mehr mit Rücksicht auf die Wünsche der Unternehmer
als die Erfahrungen der Gewerbeaufsichtsbeamten formulirt
zu werden pflegen.
Minimallöline in Frankreich. In der Sitzung der Dejmtirten-
kammer vom 16. Februar stellte der Abgeordnete P. Richard
folgenden Antrag:
Art. 1. Die Arbeiter oder Angestellten beiderlei Ge-
schlechtes, welche im Stunden-, Tag-, Wochen-, Monats-, Jahres-
oder Akkordlohn arbeiten, haben Anspruch auf einen Minimal-
lohn unter folgenden genau umgrenzten Bedingungen.
Art. 2. Für die Gesammtzeit jedes Gewerbes in jedem
Departement wird ein Lohnminimum festgesetzt.
Art. 3. Der Conseil general jedes Departements bestimmt
für fünf Jahre das Lohnminimum, auf das die Arbeiter jedes
Gewerbes Anspruch haben.
Bei der Festsetzung desselben stützt er sich so weit thun-
lich auf die ihm zu diesem Zwecke zukommenden Berichte und
Wünsche der Gewerkvereine des Departements.
Art. 4. Die vier Kategorien umfassende Lohnskala wird
in der Gesammtheit jedes Gewerbes nach der Stellung des
Arbeiters oder Bediensteten berechnet.
Art. 5. Die von den Conseils generaux angenommene
Festsetzung des Lohnminimums wird auf Veranlassung des
Ministeriums für Handel und Industrie im Journal officiel ver-
öffentlicht.
Vom Zeitpunkte dieser Veröffentlichung an wird das in
jedem Departement veröffentlichte Lohnminimum obligatorisch
und gesetzlich.
Art. 6. Jede dem Geiste dieses Gesetzes widersprechende
Abmachung zwischen Arbeitgebern .oder Unternehmern und
Arbeitern oder Angestellten verwirkt für den Arbeitgeber oder
Unternehmer eine Geldstrafe von 100 — 500Frcs. und im Falle der
Wiederholung eine Haftstrafe von 1 — 8 Tagen.
Der Antragsteller begründete seinen Gesetzentwurf mit
der Erhöhung der Lebensmittelpreise, welche nach ihm durch
die Anwendung des Generalzolltarifs verursacht ist, er verlangte
für seinen Antrag die Dringlichkeitserklärung, für welche sich
aber nur 101 gegen 361 Stimmen erklärten.
Ein staatliches Arbeitsvermitthingsamt in Neu-See-
land. Im Juni 1891 wurde in Neu-Seeland, wie das „Board
of Trade Journal“ meldet, ein Bureau of Industries gegründet.
Die Centrale befindet sich in Wellington, die Filialen in
Christchurch, Dunedin und Invercargil. Verwaltungsbeamte
wurden mit der Leitung dieser Filialen betraut, und auf
dem Lande 200 Sub-Filialen unter Leitung der Polizei-
beamten errichtet. Allmonatlich erstatten diese Beamten
Bericht über Angebot und Nachfrage auf dem Arbeits-
markte. Bei ungewöhnlicher Arbeitsnachfrage wird ein
besonderer Bericht auf brieflichem oder telegraphischem
Wege erstattet. Bei Nachweis der bona fides der Gesuch-
steiler wird freie Fahrt zum Bestimmungsorte gewährt.
Zeugnisse zur Erlangung dieser Vergünstigung stellen die
OrtsLehörden, der Geistliche, der Vorsitzende einer Stifts-
kasse oder der Sekretär des Gewerkvereinsrathes aus.
Von Juli bis Oktober wurden durch das Büreau 1977
Stellen vermittelt; 1389 fanden bei privaten Firmen, der
Rest beim Staats-Eisenbahn- und Strassenbau Verwendung.
Bei den hier beschäftigten Arbeitern kommt das Cooperativ-
und Ansiedlungssystem zur Wirksamkeit. Eine Gruppe von
Arbeitern thut sich zusammen und erhält vierzehntägige
Vorschüsse bis zur Vollendung des Vertrages, Es herrscht
keine Konkurrenz.
Viele Einwanderer werden schon vom Generalagenten
in London von der Existenz des Labour Bureaus in Kennt-
niss gesetzt und sind daher in der Lage, die "Wartezeit bis
zur Erlangung eines Postens erheblich abzukürzen. Die
Frage der Arbeitslosen hat bis jetzt das Büreau ausschliess-
lich beschäftigt.
Fabrikinspektion.
Ueberbürdung der Fabrikinspektoren. Die Ueber-
tragung der Dampfkesselaufsicht an die Fabrikinspektoren,
die man neuestens nach sächsischem Muster auch in Preussen
vornahm, wird in dem soeben erschienenen badischen
Fabrikinspektionsbericht für 1891 indirekt als eine sehr un-
geeignete Massregel bezeichnet. In Baden hat man dieselbe
seiner Zeit auch getroffen; die Gewerbeinspektion führt
lebhafte Klage darüber und deutet gleichzeitig an, wie dem
Uebel abgeholfen werden kann. Es heisst im Bericht des
Leiters der badischen Fabrikinspektion, Regierungsrathes
Wörishoffer: „Die Verbindung dieser verschiedenartigen
Revisionsthätigkeiten hat sich bald nach ihrer Einführung
für den eigentlichen Dienst der Fabrikinspektion nicht
förderlich erwiesen, weshalb mit Gutheissung des Gross-
herzoglichen Ministeriums des Innern dahin gewirkt wurde,
dass die Dampfkessel der Privaten mehr und mehr in die
Aufsicht der badischen Gesellschaft für die Ueberwachung
von Dampfkesseln ^übergingen. . . . Jetzt sind daher ausser ,
den Kesseln der Staatsbetriebe nur noch wenige Dampf-
kessel von Privaten in staatlicher Ueberwachung.“ Da in
Preussen und Sachsen ebensolche Gesellschaften mit tüch- <
tiger Organisation bestehen, so sollte derselbe Weg zu einer •
Entlastung der Gewerbeaufsichtsbeamten auch dort einge-
schlagen werden. Die Sicherheit und Richtigkeit der Re-
visionen durch Gesellschaften könnte nöthigenfalls durch
wenige staatliche Spezialbeamte im Aufsichtswege kon-
trollirt werden.
{
Jugendliche Arbeiter in der badischen Fabrikindustrie. ,j
Wie immer, so erschien auch dieses Jahr der Bericht für 1891
der badischen Fabrikinspektion zuerst von allen Referaten der
deutschen Aufsichtsbeamten. Derselbe enthält u. A. eine unter-
richtende Zusammenstellung über die Ausnutzung jugendlicher
und kindlicher Kräfte in badischen Fabriken. Danach wurden
dort beschäftigt:
Im
fahre
Junge Leute
von 14 — 16 Jahren
Kinder
von 12 — 14 Jahren
Im
Ganzen
männl.
weibl. zus.
männl. weibl.
zus.
1874 . . .
3 369
3 563 1 6 932
1 488
1 395
2 883
9 815
1880 . . .
2 500
3011 5511
722
610
1 332
6 693
1884 . . .
3 453
3 889 7 342
848
671
1 519
8 861
1890 . . .
5 504
6 065 1 1 569
1 319
1 041
2 360
13 929
1891 . . .
5 533
5 890 || 1 1 423
1 256
1 100 ||
2 356
13 779
Die Gesammtzahl der Anlagen, welche solche Kräfte be-
schäftigen, stieg von 1 450 im Vorjahre auf 1 548. Im Vergleich
zum Vorjahre zeigt sich eine sehr kleine Abnahme bei den
Mädchen von 14—16 Jahren und den Knaben von 12—14 Jahren,
während die Ausnutzung der jungen Leute männlichen Ge-
schlechts von 14 — 16 Jahren und sogar der Mädchen von 12—14
Jahren sich weiter steigerte, letztere so, dass sie den hohen
Stand von 1874 beinahe wieder erreichte Seit 1880 zeigt sich
überhaupt eine stetige Ausdehnung der jugendlichen und Kinder-
arbeit, und der kleine Ausfall des Jahres 1891 dürfte wohl nur
auf die schlechte Geschäftslage dieses Jahres zurückzuführen
sein. WTeitere Schlüsse lassen sich freüich, wie der Fabrik-
inspektor richtig bemerkt, erst aus einer vollständigen Arbeiter-
statistik ziehen, welche auch, wie in Sachsen, die erwachsenen
Arbeiter mitumfasst, die aber in Baden „andauernd“ fehlt.
SOZIALPOLITTSC1 IKS CE XTRAJ /BLATT.
137
Np. 10.
Handwerkerfragen.
Zur Einführung' der obligatorischen Innung und des
Befähigungsnachweises. Gelegentlich der Berathung des
diesjährigen Etats des Handelsministeriums entwickelte sich
im preussischen Landtage eine lebhafte Debatte über Hand-
werkerfragen. Aus derselben ist vor Allem die Stellung
des Handelsministers hervorzuheben, obgleich er betonte,
über die definitive Stellungnahme des preussischen Mini-
steriums zur Handwerkerfrage noch keine Erklärung ab-
geben, sondern nur seine persönliche Meinung äussern zu
können. Minister v. Berlepsch wünschte, dass das Hand-
werk in die Prüfung der Frage eintreten solle, ob nicht auf
anderem W ege als aut dem des Befähigungsnachweises
sein Zustand verbessert werden könnte, er sei der Meinung,
dass die Einführung des Befähigungsnachweises dem Hand-
werke nicht helfen, sondern es geradezu schädigen müsse,
dass das Handwerk den Zusammenschluss zu Genossen-
schaften brauche, um es kreditfähig zu machen, und zu
gemeinsamem Einkauf und \ erkauf übergehen zu können,
dass ihm eine bessere technische Ausbildung und eine
Regelung des Lehrlingswesens Noth thue. Ferner erklärte
der Minister, dass im preussischen Handelsministerium die
Frage der Errichtung der Handwerkerkammern, als einer
ausschliesslich für die \ ertreter der Handwerkerinteressen
berufenen Organisation, wohl erwogen werde. Sollten
solche Kammern errichtet werden, so müsste man ihnen
auch die Beaufsichtigung über das Lehrlingswesen über-
geben. Endlich gab er den Rath, dass das Handwerk sein
I Augenmerk mehr auf die Qualität richten solle, dass die
Handwerker in allen Zweigen Kunsthandwerker werden
sollen. Die Abgeordneten aus den innungsfreundlichen
Parteien vertraten die auf dem letzten ' Handwerker-
und Innungstage betonten Forderungen. Bemerkenswerth
war die Erklärung des treikonservativen Abgeordneten
Fohren, dass die Lohnarbeiter im Handwerke viel
schlechter daran seien als die Fabrikarbeiter. Den
Beweis dafür, dass aber den Lohnarbeitern im Handwerke
durch Wiederverleihung der alten Privilegien an die
Meister geholfen werden könne, unterliess er zu erbringen.
Der Centrumsabgeordnete Pless forderte eine grössere ^Be-
rücksichtigung des fachgewerblichen Unterrichtes in den
Fortbildungsschulen. Der Freisinnige Eberty sprach sich
zwar für freie Genossenschaften aus, suchte aber als Kern-
punkt der Handwerkerfrage die Bildungsfrage hinzustellen.
Aut den Rath des Ministers, dass die Handwerker Kunst-
handwerker werden sollen, ging man nach den vorliegenden
Berichten von keiner Seite ein' und dies mit Recht," denn
das „Kunsthandwerk“ wird erstens heute zum überwiegenden
Theile von tabriksmässig betriebenen Unternehmungen ver-
drängt, und zweitens ist der Konsum der naturgemäss kost-
spmhgen Waaren des Kunsthandwerkes auf einen kleinen,
sich stets verengenden Abnehmerkreis beschränkt.
Als Ergebniss der Debatte kann die neuerliche An-
kündigung der Errichtung von Gewerbekammern, in Ver-
bindung mit der Regelung der Lehrlingserziehung und
grösserer Aufwendungen für das Fachschulwesen angesehen
werden.
Untergang des Kleingewerbes in der Miihlenindustrie Mit
bezug auf die Lage der badischen Mühlenindustrie schreibt der
• J or?-lSe Fabrikmspek’tor in seinem soeben erschienenen Jahres-
berichte. „Wenn im Berichtsjahre auch wenig Kunstmühlen neu
errichtet wurden, so schreitet doch die Aufsaugung des Erwerbs-
gebietes der kleinen Kundenmühlen durch die auf den Handel be-
rechneten Kunstmühlen und im Zusammenhang damit der Nieder-
gang der Kundenmüllerei ununterbrochen weiter. Je nach den
örtlichen Bedingungen sind die Kräfte des Widerstandes gegen die
r,1 ä rjC”e”de Vernichtung bei den Kundenmühlen verschieden, es
befindet sich daher in den verschiedenen Landestheilen dieser
Aut saugungsprozess in verschiedenen Stadien, sodass hier an
‘Jen gleichzeitig vorhandenen Zuständen die ganze Entwickeln«-
des wirtschaftlichen Kampfes ums Dasein für dieses spezielle
Debiet dargestellt werden könnte. Wo der Kampf schon längere
feit beendet ist, sind auch häufig die Ruinen der Schlachtfelder
, beseitigt, und die an die Stelle der untergegangenen Betriebe
getretenen technisch vollkommeneren Anlagen und die neuen
Industriezweige, welche sich der freigewordenen Wasserkräfte
Demachügt haben, verwischen durch ihre offenbaren guten
Wirkungen fast die Erinnerungen an die Leiden, welche ein
l fa ier Kampf, dessen Ausgang unzweifelhaft war, für die Unter-
1«^n<^en ,lnSen fasste. Wo die kleinen Mühlen noch nicht
\ hg unterlegen sind, da sieht man noch den ganzen Ver-
zweinungskampt mit allen seinen nach der Verschiedenheit der
menschlichen Natur individuell gefärbten Schattirungen. So
werden in vielen Thälern des Odenwaldes Mühlen angetroffen,
die ihren Betrieb ganz oder theilweise eingestellt haben. Es
fehlen die Bedingungen, oder ihr Besitzer konnte den ener-
gischen Entschluss nicht fassen, um zu neuen Betriebsformen
oder zu einer anderen Industrie überzugehen. Man lebt von dem
Ertrage der kleinen Landwirthschaft, man tliut gar nichts mehr
für die Unterhaltung des Werkes, dessen ganze Beschaffenheit
in einen immer jämmerlicheren Zustand kommt, man schränkt
sich mehr und mehr ein, steigt von der eingehaltenen relativ
höheren sozialen Stufe immer tiefer und tiefer herunter, und
das Ende ist der vollständige wirtschaftliche Untergang durch
moralische Entkräftung. Es ist der Kampf ums Dasein auf dem
sozialen Gebiete in seiner häufigsten Erscheinungsform. Es
giebt aber auch Besitzer, welche es vorziehen, den Kampf auf
offenem Felde aufzunehmen, anstatt sich in ihrer kleinen wenig
beachteten bestung aushungern zu lassen. Aber auch hier muss
der Kampf, wenn auch ruhmvoller, wegen der ungenügenden
Streitkräfte und der Unkenntniss der feindlichen Stellung, oder
weil die Entschliessungen nicht rechtzeitig gefasst wurden,
schliesslich doch verloren gehen. Es gibt unternehmende Be-
sitzer kleiner Mühlen, welche ihrer Leistungsfähigkeit auf ver-
schiedene Art aufzuhelfen suchen. Nicht allzu selten wird die
Kundenmühle auf Spekulation in eine Kunstmühle umgebaut.
Solche in geringem Umfange ausgeführte, komplizirte und kost-
spielige Einrichtungen lassen aber dann meist wegen ihrer
relativ zu geringen Leistungsfähigkeit und wegen der schon zu
weit vorgeschrittenen wirtschaftlichen Schwächung der Eigen-
tümer keine genügende Rente der Kosten übrig und die Unter-
nehmer werden vergantet. Eine solche Mühle hatte im Verlaufe
weniger Jahre den dritten Besitzer, der mit seiner Frau allein
die ganze Arbeit besorgte. Ein anderer Müller hat mit seiner
V asserkraft die elektrische Beleuchtung eines benachbarten
Städtchens übernommen und betreibt die Müllerei nur noch
nebenbei. Es ist dies ein Beispiel dafür, wie bei den durch die
tortschreitende Entwickelung für ganze Berufszweige eintretenden
Katastrophen immer Einzelne durch günstige Umstände und
richtige und rechtzeitige Einsicht begünstigt dem allgemeinen
I ntergang entgehen. Aber nicht nur für die Arbeitgeber, auch
iür die Arbeiter ist ein solcher wirthschaftlicher Entwicke-
lungsprozess verhängnissvoll. Die Arbeitszeit ist bekanntlich
nirgends grösser und nirgends rücksichtsloser eingetheilt, als in
solchen kleinen Mühlen. Nirgends so sehr, wie hier, zeigt es
sich unverhüllter, dass die Prosperität einer Industrie "nicht
durch missbräuchliche, wenn auch für den Einzelnen wenig
schuldhafte Ausnützung der menschlichen Arbeitskraft erzwungen
werden kann. In solchen einen hoffnungslosen Kampf kämpfen-
den Mühlen ist meist nur ein Arbeiter, meist dazu im Alter der
köi Dei liehen Entwickelung, vorhanden, der die ganze Arbeit
tluui muss, und bei den harten Arbeiten frühzeitig zu Grunde
gehen muss. Der Bezirksarzt eines Bezirkes, in welchem solche
kleinen Mühlen nicht einmal besonders zahlreich sind, hat bei
einer über diese Verhältnisse genommenen Rücksprache mit-
getheilt, dass ihm Fälle, in welchen Arbeiter aus dem Müllerei-
gewerbe vollkommen erwerbsunfähig geworden, in seiner Praxis
häufig vorkämen.“ Das ist auch eine Illustration zu den Utopien
des kürzlich hier besprochenen deutschen Handwerkertages.
Soziale Hygiene.
Z um schwedischen Trunksuchtsgesetz.
In No. 5 des Sozialpolitischen Centralblattes ist eine
Notiz unter der Ueberschrift „Zum schwedischen Trunk-
suchtsgesetz“ veröffentlicht worden, deren Inhalt einer
kleinen Richtigstellung' bedarf, weil sie möglicherweise beim
Leser Schlüsse hervorraten kann, für welche die ange-
führten I hatsachen schwerlich einen richtigen Anhalt
gehen. Jedenfalls scheint es nicht ganz zutreffend, wie
dort geschehen ist, moralstatistische Ziffern ohne irgend-
welche Vergleichung mitzutheilen.
Der Branntweinverbrauch (inclusive des Verbrauchs
der sogenannten feineren Spirituosen Getränke: Arrac,
Cognac etc.) stellt sich in Schweden folgendermassen :
J h h r
Verbrauch,
Liter pro Kopf der
Liter
mittleren Bevölkerung
1870
43 004 162
10.33
1871
43 927 366
10,49
1872
46 116 737
10,91
1873
50 304 466
11,77
1874
58 464 843
13,53
1875
53 967 336
12,37
1876
54 881 81 1
12.45
138
S0ZIA1 .POLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 10.
Jahr
Verbrauch.
Liter pro Kopf der
Liter mittleren Bevölkerung
1877
47 584 422
10,68
1878
47 496 297
10,54
1879
40 089 923
8,80
1880
37 204 801
8,14
1881
40 473 043
8.86
1882
36 842 973
8,05
1883
35 787 305
7,79
1884
38 182 126
8,26
1885
38 277 360
8,21
188b
36 828 360
7,84
1887
33 456 993
7,08
1888
32 690163
6,89
1889
ca. 31 000 000
ca. 6,50
1890
ca. 31 000 000
ca. 6,50
Wie man
hieraus ersehen kann,
, ist eine absolute V
Minderung des Verbrauchs eingetreten, die seit dem Jahre
1876 beinahe unausgesetzt andauerte. Die hohen Ziffern
der |ahre 1873 — 76 bezeichnen wirthschaftlich und ökono-
misch gute Jahre.
Die Einfuhr von ausländischen „feineren“ Spirituosen
Getränken (Cognac etc.) belief sich im jährlichen Durch-
schnitte:
1871- 75 Liter 2825955
1876-80 „ 2 975 304
1881—85 „ 2 451001
1886—90 „ 1945 000
und ist demnach auch gefallen.
Die Einfuhr von Wein aller Art ist auch vermindert
Systems noch auffällig zahlreich Vorkommen (1890: 8440 be-
strafte Personen, 1891: 8120 bestrafte Personen) Diese
Thatsache wird von obiger Erwiderung nicht bestritten, viel-
mehr indirekt durch die Mittheilung bestätigt, dass auch in
Gothen bürg die Summe dieser Straffälle sich auffällig
steigerte. Noch weniger wird Etwas gegen die bedeutsame
Mittheilung unserer ersten Notiz eingewendet, dass die
schwedischen Polizeiorgane den Begriff „Trunkenheit“ je
länger je humaner auffassten, sodass eigentlich, bei strenger
Anwendung des Strafgesetzes, eine noch viel grössere Zahl
von Bestrafungen hätte stattfinden müssen. Dass diese
Thatsachen nicht für die in Deutschland geplante Strafvor-
schrift sprechen, auf welche am Schluss unserer ersten
Notiz Bezug genommen wurde, liegt auf der Hand, und in
diesem Nachweis lag der Hauptzweck der ersten Notiz.
Wenn aus den neuen Mittheilungen der Erwiderung hervor-
geht, dass jenes andauernde Vorkommen der Trunkenheit
stattfand, trotzdem sich der Verbrauch an Spirituosen
quantitativ im Ganzen verminderte, so steht man eben vor
einem neuen Beleg dafür, dass sich die quantitative Be-
schränkung der Trinkgelegenheit nach dem gothenburger
System als ein sehr unzulängliches Mittel zur Bekämpfung
der eigentlichen Trunksucht erweist. In Deutschland hat
man ja bereits ganz ähnliche Erfahrungen gemacht; die
Verminderung der Schankstätten führt durchaus keine Ab-
nahme der Trunksucht herbei.
worden :
Jahr Liter Liter pro Kopf
1871—75 3 466 989 0,81
1876—80 3 260 826 0,72
1881—85 3 123114 0,68
1886—90 2 620 000 0,55
Alle diese Thatsachen ergeben, dass wirklich von einer
Abnahme der Trunksucht die Rede sein kann.
Es mag richtig sein, dass der ßierver brauch, während
der letzten Jahrzehnte bedeutend gestiegen ist; aber nach
den letzten Berichten (1888) des Commerz- Collegiums
kommen hier in Schweden gegenwärtig kaum 28 Liter pro
Kopf der Bevölkerung gegen 81 Liter in Norddeutschland,
95 Liter in Dänemark und 227 Liter in Bayern (Vergl. in
Conrad’s Handwörterbuch den Artikel „Bier und Bierbe-
steuerung“). Dem schwedischen Reichstage ist in der dies-
jährigen Session von der Regierung ein Gesetzentwurf über
Bierbesteuerung vorgelegt worden, die bis jetzt hier nicht
existirte.
Was nun die Bestrafungen wegen Trunkenheit auf
öffentlicher Strasse betrifft, so zeigt die Statistik Gothen-
burgs folgendes:
Jahr
Bestrafungen
Bevölkerungszahl
1875
2 490
59 986
1880
2 101
68 477
1885
2 475
84 450
1890
4010
101 502
Demnach s
?md im Prozent
der Bevölkerung
die
ahre 1875 und 1
890 gleich (4%) und die Jahre 1880
und
885 davon nicht
viel verschieden (
um 3%).
Die Bestrafungen haben sich
folglich vielleicht
ein
wenig erhöht. Man mag aber dieses nicht allzu hoch an-
setzen; denn wie viel von dem grössten Missbrauche geistiger
Getränke wird bestraft?
Das sogenannte Gothenburger-System hat überall,
wo man es annahm, segensreiche Wirkungen gehabt; und
kaum der allerärgste Enthaltsamkeitsmensch kann ver-
neinen, dass die schwedische Trunksuchtsgesetzgebung
eine gute sei und gerade im gegenwärtigen Augenblicke
für Deutschland werthvoll sein dürfte.
Gothenburg (Schweden). Axel Ramm.
Erwiderung.
Die Notiz, auf welche sich die obige Polemik bezieht,
theilte einfach die Thatsache mit, dass in Stockholm die
Bestrafungen wegen Trunkenheit trotz des gothenburger
Lungenschwindsucht und Erwerbsverhältuisse. Das Auf-
treten der Lungenschwindsucht in Berlin und seinen Vororten
hat Dr. Halle-Berlin für einen längeren Zeitraum verfolgt und
darüber Folgendes veröffentlicht. Trügerisch sind auf alle j
Fälle allgemeine Durchschnittszahlen. Man ersieht dies daraus,
dass für ganz Berlin in den Jahren 1851 — 1878 auf je 10 000
| Menschen 38 Todesfälle an Lungenschwindsucht kamen, seit j
1885 aber diese Zahl auf 31,9 heruntergegangen ist, während bei ,
genauerer Betrachtung die Verhältnisse in den einzelnen Vor-
orten, von denen Lichterfelde und Friedrichsfelde die günstigsten,
Stralau dagegen die ungünstigsten Zahlen aufweist, ausser-
ordentlich schwankend sind. Es starben nämlich während der
letzten Jahre in Gross-Lichterfelde an der Lungenschwindsucht
von je "10 000 Einwohnern 9,4, in Steglitz 15,1, in Schöneberg- ,
Friedenau 23,5, Tempelhof 30,9, Friedrichsfelde 7,2, Pankow 41,8,
Plötzensee 24,7, Tegel 17,7, Reinickendorf 42,5, Hohen-Schön- i
hausen 25,3, Nieder-Schönhausen 44, Weissensee 26,7, Lichten- 1
berg 34,7, Rixdorf 37,8, endlich in Stralau 70,9. Diese Ungleich- j
heit lässt deutlich erkennen, dass bei Verbreitung der Lungen- ;
tuberkulöse, abgesehen von den hygienischen Verhältnissen, ;
auch den sozialen Bedingungen eine grosse Bedeutung beizu-
messen ist. Es erweist dies auch der Umstand, dass die Villen-
kolonie Lichterfelde die geringste, der Fabrikort Stralau die
höchste Sterblichkeitsziffer zeigt. Bei einzelnen Orten wirken
für diese Ziffern noch besondere Umstände mit, welche durch
grössere öffentliche Anstalten bedingt werden. So hat Schöne-
berg seine Krankenhäuser, Lichterfelde die Kadettenanstalt und
Plötzensee das Gefängniss. Nach dem aus 208 Orten mit
1500 Einwohnern und mehr zusammengestellten Gesammtmaterial
bilden die ungünstigste Gruppe folgende vorwiegend industriellen
17 Städte: Remscheidt, Mühlheim a. Rh., Stralau. Langenbielau,
Fürth, Erlangen, Linden, Solingen, Passau, Heidelberg, M.-Glad-
bach, Bockenheim, Nürnberg, Neuss, Würzburg, Bamberg und
Münster. Die günstigste Gruppe wird gebildet von Hamburg,
Hof, Tilsit, Ingolstadt, Lichterfelde, Friedrichsfelde, Grünberg
in Schlesien und Guben.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
American Federation nt' Labor. Otticial Book ©t the
American Federation of Labor issued for the Ele-
venth Annual Convention held at Birmingham.
Ala., December 14, 1891. 41'. 80 S.
Jahresbericht der Grossherzoglich badischen Fabrikinspektion
für das Jahr 1891. Herausgegeben im Aufträge des Gross-
herzoo-ffchen Ministeriums des Innern. Karlsruhe 1892.
F. Thiergarten. 8U. \ u. 82 S.
Webb. Sidnex L. L. B. The Reform of London. London
„Eighty“ Club, 1892. 8". 35 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — - Druck von H. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT
Berlin, den 7. März 1892.
Kür den Anzeigentheil sind die Redaktion und die Verlagsbuchhandlung nicht verantwortlich. Anzeigen-Annalnnestelle nur bei
Dr. Otto Kysler, Berlin SW'., Charlottenstrasse 11. Preis für die Bspaltige Colonelzeile 40 Pi.
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(SiittmtagfcR' Sammlung
DeutJdjer Ucid)öijcfct;c uitb J)teulnjcl)er dkfeije.
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1. Tic SBcrfaffuitg bes ffcutfdieu Dteidie- uon Dr. V*.
uon STtiinnc. ©edjfie 9CufIage. 1 'Ulf. 25 5pf.
2. ©trafgefefeburi) für baS ffcutfdie 9*f cid» mit beit
gcbrändilidiften 91eid)sfirafgetefecn. Son Dr. .£).
sRitborff. ©edjSäetjute Stuflage. 1 SHf.
3. A*Jilittii'=®tvafgefefebud) für bes ffcutfdie 9feid)
uon Dr. Sy. SUiiborff. B'neitc ?IiifTage uon SS. 2.
Solms. 2 SLTfr.
4. 21 II gerne: uce ffeiitfdicS £>itiibclsgefcfefmdi unter
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Sluftage. 2 SJif.
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S. Sordjarbt, ©ertjfte Stuflage uon S. Salt, unb
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ftcnertnrif uon 33. ©aupp. ffftnjte Sluftage. 2 9Jlf.
6. :Keid)6=Wcuierbe=CrPniina mit ben für ba*3 9fcid)
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beä ©efetjeS. Sou ff. St). S erg er, SientetunnSrmlj.
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7. ffie ffeutfdjc 'Voft= nnb ffe t e g r a p 1 1 c u = W e i e fe=
gebuug. Sou Dr. S- ®. Sfifdier. dritte Stufloge.
S SJif. 50 St-
8. $ie Weiche über beit ItntcrftüfeungSwol) nfife,
über Sunoeä-- unb StaatSaugeljöngfcit unb greijügigfcit.
Sou Dr. 3- ftved). 3'ucite Sluftage. 2 50f El
9a. Sammlung flciiterer prin atrcdütidier 91eid)S=
gefefec. GrijäiijuiigSbaub ju ben im 3. ©iittcntag'idieii
Sevlage erfdjienenen GinjeKSlnSgaben beutfdjcv 9feid)8>
gefetje. Sou jy- Si er tja US. 2 Wt 25 St-
9h. Sammlung flciiterer 9lcid)Sgcfefee ftrafredit-
lidicn Anhalts. ©rgäitpiigSbanb ju ben im 3- ©nttciu
tag fdjen Scrlage erfdjieuencn ©iii5el=9lu3gabeii bcntjdjev
9teid)ägefefce. Sott 93J. äöernev. 1 AB f. 80 Sjjf.
10. ff no 91 c i diSfeea in t eil g e j c t; oom31. äff r;1673. Autelte
Stuftage uon SB. Sur na u, 9fetd)Sgerid)t§rntt). 2S.tif. 40 St-
il- (Siöilbroäcftorbuuitg mit Werirf)tSocrfaffiuuis=
gefefe, (Sinfütjruiigc'gefeüen, ÜWcbeugefetjcn tittb
©rgnmttitgcn. Sou 9t. ©pboiu. Sfunfte Slufiage.
2 go”f. 50 St-
12. Strafv>roäefturbuuitg nebft W e r i di I c- u e r f a f f u tt g s =
gefefe. fünfte Slufiage uon fbelliueg. 1 Sftf. 00 Sf-
13. ftonfiirsorbituug mit ©ittfülmtngSgcfcfe, tBe beu-
ge cfecii ititb Wrgätmuigcu- Sou 9\. ©ijboiu.
Vierte Slufiage. 80 Sf.
14, Wcridjte-uerfaffungögcfeü für bas Seit tfrfic 9icidi.
Son 9t. ©pbolo. fyififte Stuftagc. 80 St-
15. Weridjtsfufteugefefe unb Webührcuorbuuug für
WeridjtSuotljieljer. Wcbührciiorbmutg für 3eu=
gen unb Sadiberftänbigc. 9JJit .Uoftcntabellen.
Sou 9t. ©tjboiu. Sievte Slufiage. 80 St-
16. Di c dj t Cniu tu a t ts u r b ttn it g für bas ffcutfdie 9feidi.
Son 9t. S tj b o tu. äd'ette Stuftage. 50 St-
17. Webührenorbit uitg für t'tcdjtsainualtc. San
9t. ©IjDolD. ffvitte Stuftagc. 60 St-
18 ffaS ffeutfehe 9Icidisgcicfe über bie 9Jeid)6=
ftemüelabgabcn in ber jyaffung b e§ ©efeijeS Dom
29. ttjtai lfeö. SörfenftcuergefeR Sou S. ©aupft.
3./i. Slufiage evgäutt bt8 1890. 2 AB f .
19. ®ie ©eegefeögebuitg bec ®cutfdien 9t ei dies.
Son Dr. jur. Ss. ©. St’ui t f d) f t). 3 Sif.
20. Kefefee, betrcffcitb bie M ra n ten uerfidjc nt ug ber
SCrbciter. Sou ©. uon tüBoebtfc. ®rittc Stuftagc
i af. 20 st-
21. ®ic .9 im f u t a r g e i e ü g e b u 1 1 a bes Teutfdicit '.Beidjes.
Son Dr. S l)i tipp 3llv a. 4 SOtf.
22. g atcittgcfcfe. Weier, über 99J nfter= itub ABobctl-
fdi ut?. Weier über '.Wartenfdiur. 9teb[t StuS-
ffiprmigSbefiimiiuuigen. S*ou ff. fßt). Sergcv. ffritte
Stuftagc. Sn Vorbereitung.
23. Uiijaftberfidici uugegeicü uom 6. 3»!' 1884 unb
Weich über bie 'ilusbehuuita ber ItnfafD unb
Äranfeuuerfidierung uom 28. ABai 1885. Soii
©. ooit SBocbife. Sievte Stuftagc. 2 ATtf.
24. fficiriisgcfefe, betrcffcitb bie .9oittmanbitgcfe(l=
fdiaftett auf pHtticn unb bie 'Itttieugcfellfdiaften.
Sou A. Äcufincv unb Dr. A. S. © i ui ö it. ffvitte Stitf-
tage. 1 99(f.
25. ffas ffcutfriie tlfeidisgefer tucgeii Wrücbiutg ber
'Braiifteuer uom 31. ATfai 1872. Son (S. Scrtpo.
1 Sif. 60 St.
26. ff ie 9 i e ih s g e f e ü g e b 1 1 1 1 g über 9)lün;= unb itanf-
tuefeit, ffBil’iei gctb, H>räutiemuu>iere uitb 9ieidis=
aitletbeit. Sou Dr. 9t. »t od). .Biucite S(uf||gc. 29Jif. 40 Si-
27. ffic Wefebgebuiig. betr. bas WefiiubSheitSmefcn
int ffentfdieu 91 cid). Son Dr. jur. G. Woefd) unb
Dr. med. 3- ft<prfteu. ! 991 f. 60 Sf.
28. Wefcfe, betrcffcitb bie Unfaflberfidjcruttg ber bei
'-Bauten befdiäftigten 'peri Litten. Som -3"ti 1887.
Sou Sco 8Jt u g bau. 1 AB f. 25 Sf.
29. Wefcfe, betreffenb bie ('riuerbs= unb ifeirtti--
id) a f tsg c ti o ff e it |d) a f te n . Som 1. ABai 1889. Sou
2. S.avtfiuS. Sicrte Slufiage. 1 A.Bf. 25 Sf-
1.
2.
3.
4
5.
6.
7.
8.
9.
10.
30. Wefete» betveffeub bie 3iiua1ibitätS= unb 9llters=
ucrfidicrung. Som 22. Suai 1889. Sou G. uon [|.
2Boebtfe. Sierte Stuftagc. 2 5üf.
31. 9teidisgefefe , betreffenb bie Wemcrbegcridite.
Som 29. 3» d 1890. Son 2eo S.Bngbau. 2. SlnSgabe.
1 SOtf. 25 Sr-
B
yien^trd|c
ffic älerfaffiittgssUrfuitbc für beit 'Vreuüifdjeit
©iaat. Son Dr. Stbotf Strubt. Sroeite Stuflage.
2 ABf.
iBeaniteiKWcfcfegebuug, '4>rcuinfdie. Gntfjaltenb
bie tt)id)tigfien Scamteiigefefie tu Sveufjeu. SOtit furjeu
Stutiicrfuugeu, einem djronoloiiifdjen Serjeidjuifj ber ab-
gebriidteu ©efebe re. Son G. Sfafferotp. thwiR
ueubearbeitete Sluftage. 1 ABf. 50 Sf-
ffaS 'Vreuüifriie Wefcfe, betr. bie ;}iuangouotl'
ftreefung in bac- iiiib.meglidic 'itermogeii uom
13. Sah 1883 unb alten fftebengefetjen. Son Dr,
3- ft'rcd) unb Dr. ff. Sifdjev. Stoeitr Stuftagc.
1 991f.
ffic 41reuf;iid)cit Wefefee, betreffenb bas 91otariat
in beu 2anbe3tf)cileu be-3 gemeinen DtecbtS unb be»
VaubreditS. 3>uche ueriinberte Sluftage tjecaiiSgegcben
uon 9t. ©pboiu utib Sl. ®elltoeg. 1 991 f. 60 ißf.
ffaS Wcfefe uom 24. ’-Hprit 1854 (betr. bie aufjcr=
eheliche ©djinäugeeimg) unb bie baneben gettenbeu Se=
ftimmimgi n bc-3 Stttg. Saitbred)t-3 nebft ben baju_ ergangenen
Srajubifatcu, ber Öitteratur jc. Son Dr. jur. .§. © d) u lä c.
75 St-
ffic AWeufjiieheu 2tuSfül)ritnge-«cfefee unb '1ter=
orbmtitgcn nt ben 91eid)Sjuftt4gcfefecn. Sou
9t. 6 1) b o ln. 3ll,eite Stuftagc. 2 99iE.
'Jlügeineittc Weriditc-mbnung für bie s4‘reufti=
fdicit Staaien uom <>. Sitli 171*3 unb 'Vreuftifdie
ÄonfitrSorbnnng uom 8. 991 ai 1855. Son
ff-, Sicrtja u-3. 2 99t f. 50 St-
ff ieaSormiinbfd)aftS=Orbuung baut 5. Anti 1875,
nebft ben ba.)u crlaffenen 'Dtebe'ngcfebeii unb Stttge-
meinen Serfügmigen. Sou Star ©rinitljenftcti!
ßlocitc Stuftagc. t 9CB f . 50 Si-
ffic 'Vrci'üifdte ©rnitbbudjgefefegebuug. Sou
Srof. Dr. ff. fy tf d) er. 1 991f. 20 Sf.
Winfommcnfteucrgeiefe für bie AHeunifdie 9Jlo--
itardiie. Sou ©et). Statt) SR. Aft e i lj e it. jÄmeite 9tnf=
tage. 1 A.Bf.
Weiucrbefteucrgejefe für bie A'reuüiidie 9Jli'--
uavdiie. Son Kegtcriniglratf) Sl. 7y c r n o u< . 80
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3a()rgaug. L 89 1. (®er ifaiBe11 ?Heit)e XXXII. 93mtb.) ,pennts=
(leaebett hon .§ctn3 Sselbrürf, a. o. ^vofeifov au her Itniueijitot sBerlin uitb OJittglicb beö
Inetdjötacjö. 22 löocfeu. ©etjeftet 8 9Jif.
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ntadjuugen bee» SöuubeSvatd eutbalteub. Äavt. 1 DJf. 80 ißf.
BvbuifErVrfluHfleVEii f»f bnö beu iTf d) e tlieid) uom 1. 3i»'i X891 (Lobelie
au Sdt.Tir ber ©eiuerbeorbnnng). Sejtauögabe mit (Einleitung, erläuternbeu Slunterfungen
unb SRegifter. 8l/s Sog. ^art. 1 9Jt- 20 Spf.
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PfliljEnfiijrift nir Brömnui einrr frifDlirijeit
SuiialrcfnruL
©i'gan bcs J^rutrdii'n Bintirs für Botutn-
bi'lifjrt'fonir.
©rfdjcittt jebeu ÄRoutag.
Stb ottne nt entSbebingungen:
Töei allen tßoftanftalten (,5Rr. 2272
ber Tßoitieitungcdifte) .... 93t I. 0,80
VBci bivefter Ä'reujbanbieitbuug:
itt 3)eutfd)Ianb unb tOefterreid) . „ 1 ,20
int SMtpoJtberein „ 1,50
3tt TSetiin bei freier 3ufenbitng . „ I,—
Btt (Expebifuin
K. Iua'Its, ‘AtAUIiljimilTevltv. 55.
®niap unn Buitrkev fr %mnblot in Iripjig:
(föltlfatf ^rhirmllpr Iur teutr*fteit Snrial- unh cncnuuiu'pölitilt her
U cu -^UHIU UU ©egcuUtarf. Sieben imb Slufffitje 1890- Aßreis 9 W.
In TU BrpnfanD IH?*1' tlil' Hrfacfan her Iieutigen lirrialvn Untii. (Sin
1 ®e,tva(] ’>uv SDiorpljoIogie ber Jßoiroroirtljfcljaft. 1. unb 2. Sluf.
läge. 1889. '4?ret<3 1 9)i.
Staats- imti )\i 1: i a h n i n> n !Vfr a ft I i di r Bnträiu\ l)eZ^
V,U. ü 9)iiasfon)Sfi. Söonb I, 1. imb 2 .oft. 1892 ißreid 9 60 9)i.
I. l. 3ttr Trage ber ©rganilatiun bes lanbioirtlifdiat'Uulu'n Tsrrbits in ©rutfdi-
(anb unb Drlterreirfj. £>on iy. (gdjiff. tßveid 3,60 'JJi.
I. 2. Bit (Sinluimnmilhum- in Drjierreid) unb ifjre Refnrm. 33 an ©. n. giivtli.
jßvtftö (i y j i .
Btiil iKailtn gl'\uei'L,lid?c Husliilbiuut ber luIinaiiH'iti'itbni Häbthrn.
o, * . <■ > ®I" öetitrnn 3111 beruflidjeii @r3ie[)iuiq beb weiblichen ©efdfferiits. 1892.
Sßreis 4<> ißig.
Jiritj Kalk, Hi> tr tri Cdy aff I i if]]? Lehren. 6. Sluflage. Sßreiä 80 ißfg.
(Verhall il 3um fujinten Trieben. (Sine
V. ■ u 1 V V3cttlli L UlL»i ®ar|teüniii] ber fosialpolitiidjen
(Si3tegmig bey engltfdjen Tolles 111t uemijeljuten Sabrfiunbevt- (wei Söätibe. 1890.
ißrets 9)i. 18-
J. ©utfenfag, Derlagsbmfüianbhuni in Berlin.
Ri'iiiis - Ok Hierin.'- Hvimumi
it e b ft 2f n s f it l) v u it g $ b e ft i 111 11t it it ^ c lt.
Heu eite „ffalfüng bes (Jki'eües.
^ e f t S li I n a b e mit 31 11 m e r f 11 it g e 11 unb 6 a d) r e g i ft c
€. pij» Bcitut,
Sleiiiniinfl vatl).
(elfte tJlitftagc.
[afdieuforntat; ravt, i Mt. 25 JBf.
AafcA
'V:'
/ O <
(Meh,
mm:
©te im vsobve 1827 tum beut ebleit t\>c eitf ctjeiif veintbe (£*tuft iL'tll).
Sfrnolbi begrünbete, auf Oöegeufeitigfeit mtb Oeffentlid^feit berubenbe
€ebenöücrrt(ljenmg0böttk f. B.
3u aPotlja —
labet biermtt 311111 Beitritt ein. Sic barf für ftd) geltend niadjen,
boft fte, getreu beit Slbfidften iljrec' C'orit uberc, „als tfigentbnut 3111er,
luetdje iiet) it)r 311111 '-Befielt ber übrigen anfdfltefeen, and) 3 Uten ol)ue
'Kueuabme ,311111 ÜJutteit gereicht.“ ©ie ftrebt nad) größter We
redjtigfeit unb killigfeil. 'sl)i*e (yefebäfteerfolge fiitb ftetc- überau»
g duftig. @ie bat allezeit beut nernitnfttgen <Vortfct)i*itt geljulötgl.
0ie ift tute bte altefte, fo and) bie größte ® e 1 1 tf cf) e 1? ebene 0 e r f t d) e r 1 1 1 1 g s =
Stuftalt.
33 e v f i d) e v 1 1 n g e = si' e f t a 11 b ©ube 1891 . . .
Wefctjäftsfonbs CSube 1891
Set runter:
3n berffjeüenbe Ueberfct)iiffe
iSiit' (Sterbefälle aitSbe^atjlt feit ber söe=
gritnbimg
Pie BevUi a 1 1 11 it g 0 U a |ien Ijaben ftets unter aber wenig über ö°'0 ber
(Siiiimbuie betragen.
(»O« :7t SßiUiattcn iVff.
I J3 iWülliottcu SJDif.
31 Will innen y.){f.
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physiocratique, et cependant ses öcrits soiit «
peu pres inconnus: ils n’ont jamais ite l'ohjet
d’une etude monograpliique: et avant cette annie
une seule öditiou fort mcompl^te en avait 6te
publiee dans la Collection des principaux öcono-
mistes, avec une preface de 51. Daire (1846). 5)
Oncken a voulu coinbler cettelacunede notre
littirature öconomique; il nous donne. une
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Econoiniques et philosophiques de F. Quesnay.
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— ißreis gebuubett 9)1. 9. —
Verantwortlich für den Anzeigentheil: Dr. Otto Eysler in Berlin. — Druck von H. 8. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 14. März 1892
Nummer 11.
SOZIALPOLITISCHES
ENTRALBL
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
ATT.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
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No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
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Die K o h 1 e n a r b e i t e r f r a g e
Grossbritannien. Von
Stephan Bauer.
Soziale Wirthschaftspolitik:
Die Wiener Verkehrsanlagen und
die Arbeiter. Von Dr. Hein-
rich F r i e d j u n g.
Städtische Sozialpolitik in England.
Reform des Gesetzes betr. den
Unterstützungs Wohnsitz.
Ai'beiterzustände:
Statistik der Bergarbeiterentlas-
sungen.
1 ländliche Arbeiterverhältnisse.
Schneiderwerkstätten in der Stadt
New- York.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung :
Die Lage der deutschen Gewerk-
schaften. Von Dr. Adolf
Brau n.
Kontrollmarken ftir Textilarbeiter.
Ein Kellnerstrike.
Der Strike der Pariser Droschken-
kutscher.
Abdruck sämmtlicher Artikel
Arbeiterschutzgesetzgebung :
Schutz von Arbeiterinnen und
jugendlichen Arbeiter in Zucker-
fabriken.
Schutz der jugendlichen Arbeiter
auf Steinkohlenbergwerken.
Schutzvorschriften für Bergleute.
Internationale Regelung der deut-
schen , österreichischen und
schweizerischen Stickerei.
Gesetzlicher Schutz der Handlungs- j
Bediensteten in England.
Gewerbeinspektion :
Fabrikaufsicht und Arbeiterbewe- I
gung in Baden. Von Professor j
Dr. Heinrich Her kn er.
W ohnungszustände und Woh-
nungsgesetzgebung :
Staatlicher Bau ländlicher Arbeiter-
wohnungen.
Wohnungszustände in Bamberg.
Wohnungszustände in Warschau.
Litteratur:
Hampke, Dr. Thilo, Der Befähi-
gungsnachweis.
und Zeitschriften gestattet, |
INHAL f
i n
Dr.
ist Zeitungen
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Kohlenarbeiterfrage in Grossbritannien.
Es giebt zur Stunde kaum ein Schauspiel, welches der
Aufmerksamkeit des modernen Volkswirthes und Sozial-
politikers würdiger wäre, als jenes der Kohlenkrisis in Eng-
land. Auf dem klassischen Boden der Grossindustrie würde
Kohle dieselbe universelle Rolle als Produktionsgut spielen,
wie das Geld im Tauschverkehre, gäbe es nicht anderes
Gut, das der Kohle erst zu ihrer allgemeinen Wirksamkeit
verhilft — die menschliche Arbeit.
Wer den Ausspruch wagt, dass Englands Grösse in
den Eländen einer halben Million Kohlenbergarbeiter ruht,
macht sich daher keiner Uebertreibung schuldig. Von
dem Dampfe des Gesteins, das sie zu Tage fördern, rauchen
seine Fabriksschlote, glühen seine Hochöfen, dampfen seine
Lokomotiven, seine Schiffe; die Kohlenfrage ist die Frage
der Getreideversorgung, die Frage des Freihandels, der
industriellen Kapitalsanlage, der Weltstellung und der
kolonialen Machterweiterung Englands '). Wird dieser
Reichthum je versiegen und der prophezeite Niedergang
Grossbritanniens seinen Anfang nehmen? Der Schreiber
dieser Zeilen erinnert sich noch der Bewegung, mit welchen
man vor zwei Jahren in einer Sitzung der Statistical Society
zu London den Ausspruch des gelehrten Geologen
Mr. G. G. Chisholm begleitete: „English coal, we may
feel sure, will never be exhausted“. Der Tag wird niemals
kommen, an welchem unsere Bergleute sagen werden:
„Wir brauchen nicht mehr hinabzufahren, um Kohle zu
fördern, es ist nichts mehr da unten“* 2). Wie aber, wenn
das andere Produktionsgut, die Arbeit, zwar nicht versiegen,
aber zeitweilig seine Wirksamkeit versagen würde!
Die Folgen wären theilweise dieselben, und die Er-
eignisse geben uns Gelegenheit, sie zu beobachten. Man
weiss, dass eine lange Periode der Ruhe in den englischen
Kohlenrevieren seit Dezember vorigen Jahres einer leb-
haften sozialpolitischen Bewegung gewichen ist. Ihr Vor-
spiel bildeten die Lohnreduktionen in Süd-Wales, welche
in dieser Zeitschrift erst kürzlich geschildert wurden.3) Den
Anstoss zum Preisfalle der Kohle, der zu jenen Vorgängen
führte, gab die Depression des Eisen- und Kohlenmarktes.
Man hatte im verflossenen Jahre auf einen steigenden Ab-
satz englischer Eisenbahnschienen nach Argentinien ge-
rechnet, dessen Eisenbahnnetz sich stetig erweitert hatte.
In den Nationalbankerott der aufblühenden Republik wurde
nicht nur die hohe Finanz, sondern nunmehr auch die Gross-
industrie verwickelt. Von 101 Hochöfen in Cleveland allein
wurden Ende 1891 1 2 ausgeblasen ; viele andere beschränkten
ihre Produktion, Ein erbitterter Konkurrenzkampf ent-
spann sich, in welchem die gefährdeten Betriebe sich gegen-
seitig unterboten.
So kam es zu den geschilderten Lohnreduktionen in
Süd-Wales, die nach langen Berathungen von den Ver-
tretern des Arbeitgebervereines und der Süd- Wales und
Monmouthshire Kohlenarbeiter-Föderation bestimmt wurden.
Dieser Verein gehörte bisher, gleich der Miner’s National
Union, welche Northumberland, Durham, Nord-Yorkshire
und Cleveland beherrscht, der Richtung des alten Unionis-
mus insofern an, als sie im Prinzipe die Regelung der
') Nach Price-Williams,Journ.R. Stat. Society, 1888 vertheilte
sich der Kohlenkonsum in Prozenten der Jahresproduktion
folgendermassen: Industrie 23,58, Haushaltungen 17,44, Export
1 6,4, Eisen-, Erz- und Stahlproduktion 15,11, Schifffahrt 8,48,
Kohlen- und Erzwerke 6,72, Gasfabriken 5,87, Lokomotiven 3,98,
Wasserwerke 1,40, Zinn-, Kupfer-, Blei-, Zinkgiesserei 0,80,
Kriegsdepartement 0,18.
2 An Examination of the Coal and Iron Production of the
Principal Coal and Iron Producing Countries of the World etc.
By George G. Chisholm. Journ. R. Statist. Soc., 1890.
3) Vergl. Sozialpolitisches Centralblatt No. 10 S. 131 lg.
140
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 11.
Löhne durch gleitende Skalen, Schlichtung von Streitig-
keiten durch Schiedsgerichte und Einführung einer acht-
stündigen Schicht auf dem Wege der Selbsthilfe anstrebt.
Aber ein Theil der Bergleute von Süd- Wales und Mon-
mouthshire war unzufrieden mit der getroffenen Verständi-
gung. Die letzteren gehörten der dritten grossen Kohlen-
arbeiter-Verbindung an, der numerisch grössten und radi-
kalsten: der Miner’s Federation of Great Britain. ln vielen
Gruben von Monmouthshire wurde daher den ganzen Januar
hindurch gestrikt.
Am 2. Januar erfuhren auch die Bergarbeiter von
Northumberland einen 5prozentigen Lohnabschlag; die Ar-
beiter von Durham und Westschottland wurden auf 10- bis
l5prozentige Lohnreduktionen vorbereitet. Der Vizepräsi-
dent der Miners’ Federation, Mr. S. Woods, besprach diese
Vorgänge auf der zu Hanley (N. Staffordshire) abgehaltenen
Jahresversammlung; er entrollte das Bild des stetigen, und
in Folge des Vorhandenseins eines Fonds von einer halben
Million Lstr. gesunden Wachstlmms der Föderation, welche
im fahre 1888 nur 36 000 Mitglieder zählte und gegenwärtig
112. Januar 1892) 178 513 Mitglieder umfasst. Die Föderation
könne es nicht zugeben, dass ihre Angehörigen in Süd-
Wales von der neuen gleitenden Skala getroffen werden.
Diese letztere sei auf Preisen aufgebaut, die durch ein paar
Agenten im Unterbietungskampfe herbeigeführt worden
seien. Die Vorschläge der Konferenz sollten dahin gehen,
die Preise aufrecht zu halten und die Reduktion einzu-
schränken. Das beste Mittel wäre, nur fünf Tage in der
Woche zu arbeiten. Andere Redner wiesen darauf hin,
dass die bestehende Depression der Kohlenpreise dadurch
entstanden sei, dass einige Kohlenbesitzer zu Verräthern
(blacklegs) ihrer eigenen Vereinigung geworden seien und
zu Spottpreisen Kontrakte mit Eisenbahn- und Gaskompag-
nien geschlossen hätten; sollten die Arbeiter diesen Gesell-
schaften zu 12 und 30% Dividenden verhelfen? Das
beste wäre einfach, man könne es nicht gerade striken
nennen, — aber auf hören zu produziren.1) Am 3. Februar
beschloss die Konferenz zu Birmingham, nach dem Ein-
treffen neuer Hiobsposten aus Forest of Dean und Lancashire,
eine allgemeine Bergarbeiterkonferenz zur Berathung einer
allgemeinen Arbeitseinstellung für den 11. nach Manchester
o o
einzuberufen.
In Yorkshire, Lancashire und Cheshire, Staffordshire,
Derbyshire, Nottinghamshire, Cumberland, Nordwales und
Leicestershire schlossen sich mit überwältigender Majorität
die Logen der Bewegung an. Am 6. Februar ergab die
Rechnungslegung des Sliding Scale Comittee von Süd- Wales
und Monmouthshire eine neuerliche Lohnreduktion von 2l/2%5
also im Ganzen seit Jahresbeginn von 10%. Unter diesen
Auspizien trat die Konferenz zu Manchester zusammen;
ihre 66 Delegirten vertraten 175 485 Bergarbeiter. Auf An-
trag des Mr. S. H. Whitehouse wurde einstimmig der Be-
schluss gefasst, eine allgemeine Arbeitseinstellung der Berg-
arbeiter zu veranlassen, deren Beginn mit dem 12. März
festgesetzt wurde; über ihre Dauer sollte eine für den
16. März nach London einzuberufende Konferenz die Ent-
scheidung fällen. Am Schlüsse der Konferenz hielt Miss
Beatrice Potter, die in England durch ihre Forschungen
über Schwitzsystem und Genossenschaftswesen rühmlichst
bekannt ist, einen Vortrag über Organisation und Föde-
ration der Arbeiter.
Zur Vertheidigung des Konferenzbeschlusses wurde
vielfach darauf hingewiesen, dass die Kohlendepression im
Fortschreiten begriffen sei, wie man aus den in den Zeitungen
t) Diese „restriktive Politik'1 wurde bereits von R. Chisholm
Robertson, Sekretär der Forth & Clyde Valley Miners’ Asso-
ciation vor mehreren Jahren propagirt. Vergf. Krümmer und
Nasse, Die Bergarbeiterverhältnisse in Grossbritannien, S. 130.
angekündigten Kohlenverkäufen „um jeden Preis“ entnehmen
könne; dass daher bei weiterem Zuwarten die Rechnungs-
legung für das erste Jahresquartal eine neuerliche unerträg-
liche Lohnherabsetzung erwarten lasse. Die Aussichten
einer Verbindung mit anderen Arbeiterkategorien, wie der
Kohlenträger in London und auf den Werften, seien günstig.
Der Präsident der Miners Federation, Mr. B. Pickard M. P.,
rechnet auf eine Betheiligung von 300 000 Strikenden gegen
190 000 Gegner des Strikes. Den Einwänden der Citypresse
gegenüber, dass es nationalökonomisch unmöglich sei, durch
Arbeitseinstellung dauernd die Preise zu heben und die
Löhne dadurch zu festigen, blieb der Führer der Strike-
Partei taub. „Die Arbeitgeber haben nur dann Anerken-
nung für die Nationalökonomie,“ sagte er, „wenn sie eine
Lohnerniedrigung brauchen“.
Nach Schluss der Konferenz verwarfen auch die Berg-
leute von Durham, die dahin keinen Vertreter entsendet
hatten, mit 41 897 Stimmen die Vorschläge einer lOprozen-
tigen Lohnreduktion und der Entscheidung durch ein
Schiedsgericht. Die Kohlenbesitzer dieses Bezirkes drohten
darauf am 15. Februar mit 14 tägiger Kündigung, boten
aber noch am 4. März einen nur 5% betragenden Lohn-
abschlag an. So blieben denn nur Süd- Wales und Nor-
thumberland, sowie ein Theil von Schottland von der
„Wochenfeierbewegung“ unberührt. Auch in Süd-Stafford-
shire und Ost-Worcestershire beschloss man, an derselben
nicht theilzunehmen. In Leeds (Yorkshire) wurde noch zu
Beginn des Monats von der Association der Bergarbeiter
der Versuch gemacht, mit den Bergwerksbesitzern sich
über kürzere Arbeitszeit und Bestrafung jedes Arbeitgebers
zu verständigen , der Kohlen unter einem festgesetzten
Preise verkaufen würde. Der Plan erwies sich aber als ,
undurchführbar.
Indessen machte sich der Ernst der Lage auf dem
Kohlenmarkte deutlich fühlbar. Ende Februar kündigten
Londoner Kohlenfirmen bereits an, dass 90 unter 100 Firmen
nur für 6 Tage Vorrat besässen. Kohle, die am 25. Februar
noch 25 Sh. per Tonne bezahlt wurde, notirte am 26. aut
der Kohlenbörse 26 Sh.; im Detailhandel dagegen betrug
die Steigerung 5 Shillings. Am 5. März betrug der Gross-
handelspreis 34 Sh., war also um 8 Sh. seit Beginn der
Krise gestiegen; im Detailhandel war der Preis der Kohle'
in demselben Zeiträume um 10 Sh. in die Höhe gegangen.
Diese Kohlenpanik trifft nicht nur in der schwersten Jahres-
zeit die ärmeren Volksklassen sehr hart, sondern wird vor-
aussichtlich die Aussperrung eines grossen Teiles der In-
dustriearbeiter in den Metall-, Waggon-, Glas-, chemischen,
Salzwerken, sowie Entlassungen von Eisenbahnarbeitern
zur Folge haben, wenn der Strike gegen Erwarten länger
als eine Woche dauern sollte.
Während so für die kommende Märzwoche der Aus-
blick ein ernster ist, bietet es dem englischen Sozialpolitiker
eine gewisse Beruhigung, für die Erforschung der Zustände
der Bergarbeiter und die Klarstellung ihrer Forderungen
das seinige geleistet zu haben. Alle Parteien sind von der
Royal Commission on Labour öffentlich verhört worden,
und ihre Aussagen werden einen authentischen Kommentai
für die nächste Zukunft bilden.
Gewisse Forderungen sind allen Parteien gemeinsam
und auch dem deutschen Leser bekannt.1) Dahin gehört
erstens die Erlassung eines Haftpflichtgesetzes, welches die
vielfach übliche Praxis der Unternehmer, sich der Ent-
schädigungspflicht durch Beitragsleistung zu freien Hilts-
kassen zu entziehen, unmöglich machen soll. \\ as die
i) Yergl. Schulze-Gävernitz. Zum sozialen Frieden Bd. .11 J
und insbesondere Krümmer und Nasse, Die Bergarbeiterverhält-
nisse in Grossbritannien. 1891.
No. 11.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
141
Wirksamkeit des bestehenden Gesetzes betrifft, so zeigte
die von einem Vertreter von Durham angeführte Statistik
die günstigsten Resultate2) (no. 576). Nichtsdestoweniger
ist die Thatsache, dass angeblich für 60 000 Kohlenarbeiter
das Haftpflichtgesetz in der angeführten Weise ausge-
schlossen ist (888, 1007) Beweggrund genug, eine Reform
auf diesem Gebiete zu verlangen. Die zweite Forderung:
Vermehrung der Bergwerkinspektoren, eventuell Wahl der-
selben aus den Reihen der Arbeiter findet in der Ueber-
biirdung der gegenwärtigen Aufsichtsbeamten ihre volle
Erklärung.
Der Gegensatz zwischen der alten und neuen Richtung
tritt insbesondere in den Meinungsverschiedenheiten über
die Festsetzung der Schichtdauer und die Entscheidung von
Lohnstreitigkeiten zu Tage. Beseitigung der gleitenden
Skalen als eines bedrückenden Lohnsystems, gesetzlicher
Achtstundentag von der Einfahrt bis zur vollendeten Rück-
fahrt (eight hours from bank to bank by act of Parliament)
und fünftägige Arbeitszeit in der Woche sind die Haupt-
postulate der Anhänger der Miners’ Federation Bekannt-
lich herrscht faktisch ein Arbeitstag von acht und selbst
weniger Stunden in den Gruben jener Bezirke, wo die
Bergleute einer gesetzlichen Regelung sich bisher widersetzt
haben; weniger bekannt ist, dass diese Stundenverkürzung
im Jahre 1872 durch Strike erwirkt und dass, damals eine
337-jProzentige Lohnerhöhung, welche von den Arbeitgebern
bei Fortsetzung der bisherigen Schichtdauer angeboten
worden war, zurückgewiesen wurde.
Ueber die Anschauungen der neuen Richtung gibt die
Vernehmung Mr. George Jacques’ bisher die beste Auskunft.
Er ist Mitglied der Northumberland Miners’ Association,
aber mit ihrem Vorgehen nicht zufrieden. Kürzung der
Arbeitsdauer, vor Allem der jugendlichen Personen, durch
Gesetz zieht er, nach den Erfahrungen, die er in Strike-
zeiten gemacht , jener durch Selbsthilfe vor. Um die
Schwierigkeit einer einförmigen Regelung der Arbeitszeit
in Bezirken zu beheben, welche eine kürzere und solchen,
welche eine längere als die achtstündige Schicht besitzen,
schlägt er die Annahme dreifacher sechsstündiger Häuer-
und doppelter achtstündiger Förderschichten für Knaben
vor (No. 3306 — 3593). Der Vorzug dieses Plans wäre ausser
seiner Elastizität die Erhöhung der Kohlenförderung und
bei gleichen Löhnen die Verbilligung der Kohlen für die
Konsumenten. Denselben Effekt hätte aber ein Gesetz,
welches das Arbeitsalter der Knaben in Kohlenwerken von
16 auf 18 oder 21 Jahre steigern würde. Darin stimmt der
neue Unionist mit den parlamentarischen Vertretern der
alten Richtung, Burt und Abraham, überein.
Alle Details dieses Planes und die Aussichten seiner
Verwirklichung können hier nicht besprochen werden.
Nur so viel soll zur Charakteristik der gegenwärtigen
Bergarbeiterpolitik noch bemerkt werden: sie neigt
überall dort, wo, wie in Schottland, der Unionismus
auf schwachen Füssen steht, der gesetzlichen Intervention
zu. In diesen Bezirken sind noch die missbräuch-
lichen Abzüge für Repariren des Gezähes, das Streichen
unreiner Wagen bei der Lohnberechnung, die Subkontrakte
häufige Vorkommnisse. Das Interesse an all diesen Reform-
fragen überragt jedoch der Schutz der jugendlichen Per-
sonen gegen allzufrühe Inanspruchnahme ihrer Kräfte, die
Fernhaltung des Zuströmens ungelernter Arbeiter, die mög-
lichste Schonung und Sicherung der Erwachsenen vor Un-
fällen in dem gefährlichsten aller Berufe. Und so viel hier
noch der englische Gesetzgeber zu wirken vermag, so gross
2 Die Zahl der Unfälle mit tödtlichem Ausgange betrug:
1851 1 unter 223, 1860 (amending Act.) 1 unter 258, 1872 t neuer
am. Act.' 1 unter 312, 1872 (Miners Regulation Act.) bis 1887
1 unter 553.
ist der Fortschritt seit zwanzig Jahren. Von 12stündiger
Kinderarbeit, von einjährigen, leibeigenschaftsähnlichen
Kontrakten, vom System der fünfwöchentlichen Lohnzahlung
für vier wöchentliche Arbeit hat er den englischen Berg-
arbeiter befreit Bei ihrer jetzigen Machtstellung haben die
Führer der englischen Bergarbeiter wohl die volle Verant-
wortlichkeit für die Märzereignisse zu tragen ; aber selbst
ein Misserfolg würde auf die Dauer nur zu einer schärferen
Handhabung des Gesetzgebungsapparates zu ihren Gunsten,
zu einer von gesetzeswegen restriktiven Arbeiterpolitik
führen.
Stephan Bauer.
Soziale Wirthschaftspolitik.
Die Wiener Verkehrsanlagen und die Arbeiter.
In starkem Anlauf will das neugeschaffene Gross-Wien
nachholen, was zwei Jahrzehnte politischen und Wirtschaft -
lichen Stillstandes versäumt haben. Oesterreich ist der
konservativste Staat, aber gerade er musste, um nicht die
Fäulniss des Stillstandes über sich zusammenschlagen zu
lassen, zeitweise mit gewaltigem Ruck in die Bahnen des
Fortschritts einlenken. So rüstet sich jetzt die Stadt Wien
und mit ihr der Staat wie das Land Niederösterreich, um
die alte Metropole, welche in ihrem Kommunikationswesen
hinter London und Berlin und selbst hinter kleineren
Städten zurückgeblieben ist, mit einem Netz von Schienen-
strängen, mit Hafenanlagen und mit einem Hauptstock
grossartiger Unrathskanäle zu versehen Der Plan ist um-
fassend genug. Die innere Stadt soll rings mit einem
Schienengürtel umgeben werden; auch das Klein -Wien mit
seinen 800000 Einwohnern wird fast seiner ganzen Peripherie
nach eine Eisenbahnlinie erhalten; und dann werden zu
der einen bestehenden Halbmesserlinie noch drei andere
Radialbahnen gebaut, so dass das Problem, von überall
nach überall mit dem Dampfwagen eilen zu können, seiner
Erfüllung ziemlich nahe kommt. Denn auch der Eisenring,
welcher Wien an seinen äussersten Grenzen jetzt bereits
umzieht, soll in seinen letzten Lücken ausgebaut werden.
Dies alles soll zum grossen Theile schon 1897 beendet sein.
Dazu kommt die Umwandlung des schmalen, Wien durch-
ziehenden Donauarms in einen Hafen, wodurch man den
darniederliegenden Donauhandel heben will. Gewaltige
Summen kommen da in Cirkulation. Zur Ausführung des
gesammten umfassenden Planes ist die Summe von 131,2
Millionen Gulden nothwendig, wovon bis 1900 jedenfalls 103,7
Millionen verwendet sein werden. Schon hat das Ministerium
beim Parlamente einen Kredit von 41 Millionen Gulden ange-
sprochen, so dass mit demZuschuss dervonder StadtWien und
dem Lande Niederösterreich bewilligten Summen der Bau be-
reits im Sommer dieses Jahres beginnen soll. Nicht bloss
dem eigentlichen Verkehrszwecke wird dadurch entsprochen;
der Plan geht dahin, in das stockende Erwerbsleben Wiens
einen Anstoss zu bringen, so dass von diesem Mittelpunkte
aus Arbeit und Verdienst nach allen Seiten gefördert werden.
Laute Klage ward in den letzten Jahren erhoben, dass der
Staat die Entwickelung Wiens in keiner Weise begünstige,
während die Stadt durch die Zweitheilung der Monarchie,
sowie durch die wachsende Selbstständigkeit der Provinzen
in ihrer Bedeutung bedroht ist.
Von dem Entwürfe dieser grossen Bauten an war die
Arbeiterschaft mit der Frage beschäftigt, welche Rückwir-
kung dieselben auf ihre wirtschaftliche Lage üben werde.
Bis Ende 1 897 sollen schon 65 Millionen verwendet sein, und
ein allgemeiner Ueberschlag geht nun dahin, dass etwa ein
Drittheil dieser Summe an Arbeitslöhnen für Wiener Arbeiter
verausgabt werden dürfte, während der Rest theils ausser-
halb Wiens in den verschiedenen Etablissements auszugeben
ist, theils als Unternehmergewinn in Rechnung kommt
142
SOZIALPOLITISCHES CENTRAJ BLATT.
No. 11.
Vertheilt man die Summe von 22 Millionen Gulden aut die
fünf Jahre von 1892 bis 1897, so entfallen auf jedes Jahr
etwa 4l/2 Millionen. Nun wird der Tagelohn für die in
Wien verwendete Menschenmenge zwischen 82 Kreuzer und
1 fl. 50 Kr. schwanken, da nicht bloss die zahlreichen weib-
lichen, sondern auch die männlichen Arbeiter aus Italien,
Nordungarn und Böhmen ihre Arbeit zu einem niedrigen
Preise zu verdingen bereit sind. Greift man selbst sehr
hoch, so wird man auf einen mittleren Jahreslohn von
400 fl. für jede beschäftigte, im Lohnverhältnisse stehende
Person rechnen können, so dass durchschnittlich 1 2 000
Menschen an den grossen Werken beschäftigt sein werden.
Es ist dies gegenüber der Bevölkerung einer Stadt von
1 300 000 Einwohnern keine nennenswerth grosse Anzahl,
so dass sich schon aus dieser Rechnung ergibt, dass man
die Bedeutung der Arbeiten für Lohnverhältnisse und wirth-
schaftliches Leben in Wien gewöhnlich überschätzt. Es
ist unzweifelhaft, dass die Summe der Arbeitslosen in Wien
unendlich grösser ist, als die Anzahl von Personen, die bei
den Verkehrsanlagen Beschäftigung finden können. Jüngst
wurde in den Zeitungen eine Berechnung veröffentlicht,
welche von dem Sekretär des Vereins für Arbeitsvermitte-
lung, Herrn Bardorf, ausging, nach der sich von den
200 000 gelernten Arbeitern Wiens nicht weniger als 40 000
ausser Verdienst befinden Und dabei bedenke man noch die
ungeheure Anzahl ungelernter Arbeiter, welche ihre Arbeits-
kraft zu den verschiedensten Beschäftigungen anbieten, da sie
kein Handwerk gelernt haben oder schon seit so langer Zeit
aus demselben wieder hinausgeworfen sind, dass sie es nicht
mehr auszuüben vermögen. Einzelne Angaben der Berech-
nung sind zwar von kundigen Beurtheilern angezweifelt
worden, besonders deshalb, weil die Anzahl der gelernten
Arbeiter in einzelnen Geschäftszweigen viel höher angesetzt
wurde, als nach der Summe der betreffenden industriellen
Betriebe eigentlich anzunehmen wäre Es zeigt sich aber
hier wieder der schwere Mangel der modernen Verwaltung,
welche den Staat und die Wirthschaft des Volkes lenken
will, ohne über eine genügende Arbeitsstatistik zu verfügen,
ohne auch nur im Entferntesten die Grundlagen zu kennen,
auf denen sie gesetzgeberische Massregeln zu treffen hat.
Aber so lückenhaft auch trotz aller Büreaukratie und alles
Schreibewesens unsere Kenntniss .der nächsten und wich-
tigsten Verhältnisse beschaffen sein mag, so steht fest, dass
der Bau von Verkehrsanlagen vielleicht durch den Antrieb,
der von ihm aus gegeben werden mag, von Bedeutung sein
kann, dass er aber, wie die nackten Ziffern beweisen, an
sich -wenig zur Linderung des Nothstandes, zur Massen-
beschäftigung der Arbeitslosen wird beitragen können. In
dieser Richtung ist in Wien viel übertrieben worden und
zwar vielleicht am meisten von Denjenigen, welche die
wohlmeinende Absicht hegten, durch eine optimistische
Darstellung die herrschende Niedergeschlagenheit zu be-
kämpfen und den fröhlichen Glauben zu erwecken, dass
neues wirthschaftliches Leben in die österreichische Haupt-
stadt einziehen werde.
Dennoch musste die sozialdemokratisch organisirte
Arbeiterschaft, da mit den neuen Bauten das Schicksal von
Tausenden ihrer Brüder verknüpft sein wird, rechtzeitig
daran denken, das Loos derselben in Bezug auf die Arbeits-
löhne und auf den Arbeiterschutz zu sichern und zu bessern.
Der weitfliegende Plan, dass die Wiener Gewerkschaften
sich als Unternehmerverbände konstituiren und selbst Bau-
loose zur Ausführung übernehmen sollten, konnte freilich
bei den stattgehabten Besprechungen nur gestreift werden,
weil die Organisation nicht weit genug fortgeschritten ist.
In Paris allerdings haben die Syndikate der Bauarbeiter
durch den sozialistisch angehauchten Gemeinderath so viel
Förderung erfahren, dass die Arbeiten der Stadt zum grossen
Theile direkt an die Arbeiterverbände vergeben werden.
In Wien nun ist speziell die Genossenschaft der Maurer
und Steinmetze gespalten, da in der staatlich organisirten
Innung die Meister überwiegenden Einfluss üben, dem sich
nur ein Theil der Gehilfen fügt. Die auf eigenen Füssen
stehende Gewerkschaft aber hat weder an Zahl noch an
Kraft genügende Bedeutung, um sich an die Spitze einer
solchen Unternehmung stellen zu können. So mussten sich
denn die Arbeiter mit bescheideneren Hoffnungen und
Forderungen begnügen. Die von der sozialdemokra-
tischen Partei beeinflusste „Gewerkschaft der Maurer
und Steinmetze Niederösterreichs“ veranstaltete am
24. Januar eine Versammlung, in welcher demgemäss die
Forderungen der Arbeiter festgestellt wurden. Sie ver-
langen vor Allem für einfache Handlangerarbeiten bei
Demolirungen und Erdbewegungen einen Minimallohn
(Grundlohn) von 1 fl. 30 Kr. (2 Mk. 20 Pfg.) bei einem
Arbeitstage von zehn reinen Arbeitsstunden. Weiter wird
die Forderung gestellt, dass sich die den Bau ausführende
Kommission mit den Vertretungen der Arbeiter zu einigen
habe über die Festsetzung eines Minimallohntarifes und
einer Maximalarbeitszeit. Der dritte Wunsch zielt ab auf die
Ausdehnung der herrschenden Arbeiterschutzgesetzgebung
von den gelernten Arbeitern, auf welche sich die verschie-
denen Bestimmungen über die Einschränkung der Frauen-
und Kinderarbeit etc. beziehen, auf die Handlanger und
Erdarbeiter, welche von dem Gewerbegesetze ausdrück-
lich ausgenommen sind. Mit diesen Forderungen sind die
Arbeiter bereits an den Gemeinderath der Stadt Wien und
an den Reichsrath herangetreten.
Im Gemeinderath fand dieses Programm wenigstens
theilweise Anerkennung. Diese Körperschaft beschloss im
Anhang zu der Votirung des auf sie entfallenden Theiles
der Baukosten, dass der Regierung nahegelegt werde, sie
solle die Arbeiters! hutzgesetzgebung auf alle bei den Ver-
kehrsanlagen beschäftigten Arbeiter ausdehnen. Dieser
Beschluss wurde von dem Antragsteller dahin motivirt, dass .
ohne Frage in dem Zeiträume von 1892 bis 1897 mannig-
fache Lohnkrisen und Arbeitsausstände eintreten könnten; ,
der Gemeinderath müsse zeigen, dass er von vornherein
bereit gewesen sei, gerechten Forderungen der Arbeiter
entgegenzukommen. Im Reichsrathe kamen die Verkehrs- ;|
anlagen noch nicht zur Berathung. Nur der Ausschuss <
desselben beschäftigte sich vorerst mit dem Entwurf. In
diesem nahm der jungtschechische Abgeordnete Kaizl die '
Forderungen der Arbeiter auf. Er konnte aber mit den-
selben nicht durchdringen. Doch erklärte der Abgeordnete
Bärnreither namens der deutsch-liberalen Mitglieder des '
Ausschusses, dass er ohnedies beabsichtige, unmittelbar j
nach Ostern einen Gesetzentwurf einzubringen, welcher die i
Frage der Ausdehnung der Arbeiterschutzgebung auf die ‘
Erdarbeiter und die Handlanger nicht bloss nebenbei, son-
dern grundsätzlich regeln solle. Jedenfalls hat dieser Ent-
schluss grösseren Werth als die Fassung einer an sich
werthlosen Resolution des Abgeordnetenhauses.
Die Arbeiterfrage wird auf österreichischem, besonders
auf dem Wiener Boden verwirrt durch die stete Einwande-
rung billiger Arbeitskräfte: denn Wien liegt an der Schwelle
des menschenreichen, industriearmen Ostens, es ist die
Hauptstadt eines Reiches, in welchem der grosse Grundadel
noch jetzt eine überwiegende Macht ausübt, so dass aut
seinen Gütern in Böhmen und Mähren ein Arbeitslohn
von 30, 40 bis 50 Ivr gewöhnlich ist, was zum Zuströmen
billiger Arbeitskraft nach Wien und zum Unterbieten des
gewöhnlichen Arbeitslohnes führt. Das ist die wichtigste
Ursache der politischen und wirthschaftlichen Nothlage des
Wiener Arbeiters; er muss die Zuzügler aus den Provinzen
erst nothdürftig für seine Organisation gewinnen. Die
Erdarbeit besorgen billige italienische und friaulische Ar-
beiter aus Oberitalien, aus den Küstenländern; Tschechen
und Slovaken werden sich auch zu den Eisenbahn- und
Hafenbauten Wiens drängen. Die antisemitische Minorität
im Wiener Gemeinderathe hat eine auf den ersten Blick
bestechende Forderung in die Massen zu werten gesucht:
sie verlangte den Ausschluss aller Nichtösterreicher, also
insbesondere der Italiener und der ungarischen Slovaken,
von den Wiener Arbeiten. Darauf ist die sozialdemokra-
tische Partei in Wien nicht eingegangen, da sie eine solche
nationale Abschliessung verwirft, vielmehr eine Hebung des
Lohnniveaus aller Arbeiter anstrebt. Und so spiegelt die
Wiener Lohnpolitik alle die Fragen und Gegensätze wider,
von welchen Europa bewegt wird. Der internationale
No. II
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
143
| Charakter der grossen Bewegung lässt sich nicht abweisen.
Ist doch auch der Hunger international, der nach dem Miss-
rathen der russischen Ernte und der Steigerung des Weizen-
! preises von 8 auf I I fl. in den arbeitslosen Massen wüthet.
i Ein sezessionistiseher Zweig der sozialistischen Partei n
Wien hat es unternommen, durch Brotvertheilungen, welche
auf Wohlthätigkeitssammlungen beruhen, der ärgsten Noth
zu steuern, — aber vergebens ringt mit so kleinen Mitteln
das menschliche Erbarmen gegen das unermessliche mensch-
jj liehe Elend.
Wien. Heinrich Friedjung.
Städtische Sozialpolitik in England.
Das Y erst ad 1 1 iqßu ngspjogramm der Eabisched Gesell-
schaft in London, welches angesichts des Sieges der Reform-
partei bei den soeben stattgefundenen Wahlen zum Lon-
doner Grafschaftsrath (Stadtrath) erhöhtes Interesse gewinnt,
ist in acht kürzlich erschienen Pamphleten enthalten. Das
erste, „The Unearned Incremenl“ betitelt, beschreibt das
Wachsthum der Bodenrente Londons. Es betrug nach offi-
ziellen Berichten (Local Government Board for 1891 c — 6460
und County Council Report)
am 6. April
der Bruttomiethswerth
der Metropolis
Zunahme gegen das Vorjahr
(Jährlicher Miethswerth)
1871
24 103 083
Lstr
1876
27 602 649
1881
33 384 851
1886
37 027 516
5)
1891
39 835 700
>5
1 960 377 Lstr
2 028 283 „
2 963 780 „
1 338 282 „
1 373 207 „
Nach Abzug des durch Neubauten von 1871 — 1891
entstandenen Werthzuwachses von 17 693 004 Lstr. bleibt
das, wie Stuart Mill und Thorold Rogers sagen, „vom Land-
lord im Schlafe gewonnene arbeitslose Einkommen“ übrig;
es betrug in den
Jahren 1871 1876 1881 1886 1891
Lstr. 1458 560 1526 466 2 461963 836 465 871 390.
In den letzten 20 Jahren betrug dasselbe also 7 154 834
| Lstr., gleich einem Kapital von hundertzehn Millionen Pfund
; Sterling. „Dies ist die fürstliche Gabe des Londoner Ar-
beiters an den Londoner Grossgrundbesitzer“. Erweitert
man diese Proportion von 17 693 004 Lstr. des durch Neu-
bauten erzielten Werthzuwachses zu dem arbeitslosen Ein-
kommen von 7 154 834 Lstr. auf ganz London, so würden
im jährlichen Ertrage von 40 Millionen Pfund i6 Millionen
auf die Bodenrente allein entfallen, gleich 8 sh. per Woche
und Familie. Die Fabier schlagen vor, dieselbe durch eine
lOprozentige städtische Immobiliarerbschaftssteuer zu ab-
sorbiren und daraus alle sozialpolitischen Aufgaben der
Gemeinde zu bestreiten. Denn diese besitzt hierfür keine
genügenden Fonds.
Das grösste Hinderniss für munizipale Reform bildet die
i schwere Last der Gemeindesteuern, der „Rates“. Dagegen
besitzen die alten städtischen Gilden ein bedeutendes Ver-
mögen; ihre Rolle und Vermögensgebahrung schildert No. 2.
London’ s Heritage in the City Guilds. Von den fünf
i grössten Innungen verwendeten im Jahre 1879 die Mercers
| (bei einem Einkommen von 47 341 Lstr.) 8766 Lstr. auf Ge-
bühren, 4909 Lstr. auf Gelage und Festlichkeiten; die
| Grocers (bei einem Emkotnmen von 37 236 Lstr.) 762 Lstr.
auf Gebühren, 6014 Lstr. auf Gelage und Festlichkeiten.
Es betrug nach dem Royal Commission Report c -4073,
vol. IV:
Das Gesammteinkommen
Zwölf grosse Innungen . 510 760 Lstr.
„ grössere unter den
kleinen . . . 108 226 „
Fünfzig kleine. .... 50000 „
Zahl der Mitglieder
2715
1496
3500
Schon der Royal Commission Report von 1884 ver-
langte eine Reform in der Vermögensbesteuerung, Reor-
ganisation und die Aufhebung des politischen Wahlrechts,
das bis heute mit der Mitgliedschaft verbunden ist. Die
Fabier beantragen die Aufhebung der Innungen und die
Uebertragung ihrer Funktionen, Rechte und ihres Ver-
mögens an den Londoner Grafschaftsrath.
Die Verstadtlichung der Gasversorgung ist bereits in
Manchester, Birmingham und Bradford erfolgt und nirgends
rückgängig gemacht worden; in London, Liverpool, Dublin,
Sheffield und Bristol ist die Gasversorgung in der Hand
von Aktiengesellschaften. In London ist die Zahl der kon-
kurrirenden Gasunternehmungen von 20 im Jahre 1855 auf
3 gefallen. Da durch Gesetz eine höhere Dividende auf die
Verbilligung der Gasversorgung verwendet werden muss,
so werden, um dies zu vermeiden, an die Beamten enorme
Gehalte und Pensionen gezahlt. Die Dividende der Gas
Light and Coke Company betrug 12% pro 1891; dennoch
erhöhte sie im Dezember dieses Jahres den Preis von
2 sh. 6 d. auf 3 sh. 1 d. per 1000 Kubikfuss, was eine
jährliche Mehrbelastung der Konsumenten von einer halben
Million Pfund Sterling ausmacht. In Manchester betrug der
Reingewinn der städtischen Gasversorgung 21 994 Lstr. im
Jahre 1889—90 bei einem Preise von 2 sh. 6 d., in Birmingham
70 337 Lstr. bei einem Preise von 2 sh. 3 d., bei gleichem
Preise in Bradford 18 000 Lstr. Die Verstadtlichung ist aber
nicht nur finanziell erfolgreich, sondern hat auch die bessere
Löhnung der Gasarbeiter, die Beleuchtung der ärmeren
Quartiere, die Versorgung der Kochöfen mit Gas zur Folge.
Die Uebernahme der Tramways in städtischen Betrieb
zeigt dasselbe Bild (Munizipal Tramways No. 4); eine grosse
und zehn kleinere Gesellschaften monopolisiren 1 26 englische
Meilen in London. Im Jahre 1890 betrug ihr eingezahltes
Aktienkapital 3 492 014 Lstr., ihr Reingewinn 240 653 Lstr.,
also bei 9'/'-> %. Der Lohn ihrer Arbeiter, etwa 5000 Tram-
waybediensteter, beträgt gegen 4 sh. für ein Tagewerk, das
nicht selten 16 Stunden dauert. In 29 Provinzialstädten ist
die Stadt Besitzerin der Tramway, ohne sie zu betreiben,
übt aber immerhin einen kontrollirenden Einfluss aus. Nur
Huddersfield besitzt und betreibt seit 1882, gemäss dem
Gesetze 45 und 46 Vict. c. 236, seine Tramways und Glasgow
ist im Begriffe, Huddersfield zu folgen. Ein besonderes
Gesetz ist aus dem Grunde nothwendig, weil die Tramways
Act 1870, unter dem Einfluss des damaligen Handelsministers
John Bright, verfügte, dass öffentliche Verkehrsmittel nur
durch Privatunternehmer betrieben werden sollten. In
Huddersfield besteht der Achtstundentag für Tramway-
bedienstete; die Einnahmen stiegen von 7935 (1889) auf
8536 Lstr. (1890)
Die Wasserversorgung Londons besorgen acht Ge-
sellschaften (London’s Water Tribute No. 5); in Manchester
und Liverpool die Stadt. Trotz verschwenderischer Aus-
gaben erhielten während der letzten 5 Jahre die Aktionäre
der grössten Gesellschaft (New River Co.) eine Dividende
von 11 /, In Folge des rapiden Anschwellens des Wasser-
bedarfes rückt die Verschlechterung des gelieferten Wassers
in immer grössere Nähe; die Wasserlords wollen aber in
den Bau einer aus Wales führenden Wasserleitung nicht
einwilligen.
Im Jahre 1879 versuchte die konservative Regierung,
den Ankauf der Wasserwerke herbeizuführen, musste aber
in Folge der enormen Forderung von Lstr. 33 118 000 davon
absehen. Mit dem Ertrage einer progressiven „Wassersteuer“
von 6 d. im Pfund Sterling Hesse sich aber ein städtisches
Wasserwerk bauen und den Gesellschaften die wirksamste
Konkurrenz machen. „Wir können uns wenigstens diesen
Wasserkommunismus sehr wohl vergönnen “
Die Verstadtlichung der Londoner Docks (No. 6),
dieses „industriellen Leviathan’s“, ist gewiss unter allen
Vorschlägen von grösstem Interesse; ist doch das Elend der
Dockarbeiter auf das Bestreben der Direktoren von 4 Aktien-
gesellschaften zurückzuführen, die 24/ prozentige Dividende
vor dem gänzlichen Verschwinden zu bewahren. Die Zahl der
Dockarbeiter schwankt zwischen 3888 in der schlechten und
9043 in der guten Zeit. Dennoch könnte ein Docker ebenso
ständig beschäftigt werden, wie ein Eisenbahnbediensteter,
wenn, wfle dies in Liverpool der Fall ist, ein „Dock- und
Hafenamt“ geschaffen würde, welchem nach entsprechender
Umlage Funktionen und Vermögen der vier Kompagnieen
übertragen würde. Ein Ersatz des bestehenden Themse-
Erhaltungsamtes durch einen Ausschuss des Grafschaftsrathes
oder durch die erwähnte „Dock- und River Trust“ wäre
den Fabiern die erwünschteste Form dieser Wandlung.
Der „Skandal der Londoner Märkte“ (No. 7) besteht
darin, dass die Märkte der grössten Stadt der Welt abhängen
von zwei geringfügigen Bezirksbehörden, voa zwei Philan-
tropen (Bress. Burdett-Coutts und Mr. Plimsoll) und zwei
Monopolisten, dem Herzog von Bedford und Sir Julian
Goldsmid M.P., die durch Privilegien aus dem Jahre 1661
und 1682 resp. durch deren Interpretation die ausschliess-
liche Marktgerechtigkeit in Covent Garden und Spitalsfield
besitzen — zusammen gleich Lstr. 20 000 jährlich. Selbst-
verständlich wird die Uebernahme der Marktgerechtigkeit
144
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 11.
durch den Grafschaftsrath gegen blosse Zahlung des Boden-
lind Gebäudewerthes beantragt.
Die Grundsätze der städtischen Politik bei öffentlichen
Arbeiten sind: 1. achtstündiger Normalarbeitstag für alle
öffentlichen Bediensteten; 2. Zahlung von Gewerkvereins-
löhnen (wie dies durch Beschluss der Stadträthe von Bir-
mingham, Bristol, Hüll, Manchester, Salford, Nottingham
und Sheffield bereits erfolgt ist); 3. volle Koalitionsfreiheit;
4. Gewährung eines Ruhetages wöchentlich und genügender
Feiertage; 5. Verbot der Ueberstunden, ausser im Nothfalle.
Auch könnten Artikel für rein munizipalen Verbrauch
im städtischen Betriebe erzeugt werden. „Das Kriegs-
ministerium besitzt seine eigene Fabrik für Soldatenuni-
formen; die Admiralität eine Biskuitfabrik für die Matrosen;
der Stadtrath von Manchester betreibt Gaswerke, der von
Bristol besitzt eigene Docks, Huddersfield seine Tramways,
Nottingham seine Arbeiterwohnungen, und die Vestry von
St Pancras errichtet eben ihre elektrischen Anlagen.“ Die
Erbauung eines Gewerkvereinsraths-Hauses wird gleichfalls
in Vorschlag gebracht; Paris mit seiner Arbeitsbörse, Mel-
bourne in Victoria mit seiner Trades Hall sind hier voraus-
gegangen, Edinburgh wird voraussichtlich bald ein solches
besitzen.
Die Verstadtlichungsaktion der Fabier bezieht sich,
wie man sieht, auf das praktisch Durchführbarste, — auf
alles im Augenblicke mögliche. Find dennoch — vor zwanzig
Jahren wären diese fabischen Reformer, die heute zu
den geistigen Inspiratoren der Sozialpolitik in Eng-
land zählen, als Utopisten verlacht und verketzert worden.
Nicht nur die Geschichte der Vergangenheit, auch die der
jüngsten Gegenwart lehrt so, die Relativität des Bestehenden
erkennen.
Reform des Gesetzes betr. den Unterstützungswohn-
sitz. Dem Bundesrath ist eine Novelle zum Unterstützungs-
wohnsitz zugegangen, die das geltende Gesetz in folgenden
fünf Punkten abändern soll. Es ist das achtzehnte Lebens-
jahr als Grenze festgesetzt; die Verjährung soll nach zwei
Jahren eintreten; es erfolgt eine Ausdehnung auf land- und
forstwirthschaftliche Arbeiter; statt der bisherigen sechs-
wöchentlichen sind dreizehnwöchentliche Fristen angenom-
men, und endlich soll folgende Bestimmung Platz greifen.
Der Beweis, dass ein Unterstützungswohnsitz des Unter-
stiizten nicht zu ermitteln gewesen ist, gilt schon dann als
erbracht, wenn der die Erstattung fordernde Armenverba.nd
darlegt, dass er alle diejenigen Erhebungen vorgenommen
hat, welche nach Lage der Verhältnisse als geeignet
zur Ermittelung eines Unterstützungswohnsitzes anzusehen
waren. Wird nach der Erstattung ein Unterstützungswohn-
sitz des Unterstützten nachträglich ermittelt, so ist der
Armenverband, welcher die Erstattung vorgenommen hat,
berechtigt, innerhalb zweier Jahre, vom Tage der Ermitte-
lung ab gerechnet, von dem Armenverbande des Unter-
stützungswohnsitzes für die gewährte Unterstützung und
für die durch nachträgliche Ermittelungen entstandenen
Kosten Ersatz zu beanspruchen. Wer als dazu verpflichtet
sich dem Unterhalt seiner Familie entzieht, wird mit Haft
bestraft. Das Inkrafttreten des Gesetzes ist Vorbehalten.
Arbeiterzustände.
Statistik der ßergarbeiterentlassnngen. Der Bergarbeiter-
verband „Glückauf“ hatte vor Kurzem in Essen beschlossen,
eine Eingabe an den Minister v. Berlepsch zu richten und Letztem
zu bitten, eine Statistik durch die Bergrevierbeamten anfertigen
zu lassen, um über die Art und Weise der Entlassung von Berg-
leuten Klarheit zu bekommen. Das königliche Oberbergamt zu
Dortmund hat nun kürzlich eine solche Statistik bereits an geord-
net. Dieselbe soll enthalten, an welchen Tagen gefeiert worden
ist, ob dabei ganze Schichten oder nur Bruchtheile derselben
gefeiert wurden, und ob die ganze Belegschaft oder nur Theile
derselben betheiligt waren. Welche /fahl von Arbeitern zur
Ablegung wegen mangelnder Arbeit gekommen ist, welche
Arbeiterkategorien (ob jüngere oder ältere, verheirathete oder
unverheirathete, einheimische oder fremde Arbeiter) betroffen
wurden, ob und bezw. welche ungünstigen Folgen daraus er-
wachsen oder zu befürchten sind.
Ländliche Arbeiterverhältnisse. Das Konsistorium der
Provinz Schlesien hatte bei den Kreissynoden eine Umfrage
über Umfang, Ursache und Bekämpfung der Sozialdemo-
kratie veranstaltet In dem auf Grund der eingelaufenen
Mittheilungen ergangenen Bescheide heisst es: „Alle Kreis-
synoden stimmen wesentlich darin überein, dass fast aller-
orten in Stadt und Land eine bedenkliche Unzufriedenheit
weit verbreitet sei, und dass der Wunsch und das Begehren,
es müsse in den sozialen Verhältnissen vieles anders und
besser werden, weithin die Gemüther beherrsche. Wenn
freilich die Lohn Verhältnisse in einigen Gegenden der-
artig sind, dass auch die angestrengteste Arbeit nicht völlig
im Stande ist, die unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse zu
erwerben; wenn vielfach die Arbeitsverhältnisse so gestaltet
sind, dass den Eltern eine einigermassen genügende Pflege '
und Beaufsichtigung der Kinder unmöglich wird; wenn die
Wohnungsverhältnisse der Arbeiterbevölkerung ein ge-
deihliches Familienleben nicht zulassen und die nothwendige
Erholung, namentlich die Sonntagsruhe, entbehrt wird, so
erscheint jene Unzufriedenheit erklärlich. Verschärft mag
sie oftmals dadurch werden, dass manche der Besitzenden,
statt sich als verantwortliche Haushalter zu wissen, den
Besitz nur ansehen als das Mittel zu üppigstem und zügel-
losestem Lebensgenuss und in der Arbeit und dem Ar-
beiter nur das Werkzeug zur Beschaffung jener Mittel
erblicken. Da kann Missgunst, Neid und Hass nicht aus-
bleiben, und aus vielen Synodalverhandlungen tönt uns die
Klage entgegen, dass dieser Riss gefährlich zu werden be-
ginne.“
Schneiderwerkstätten in (1er Stadt Newyork. Dr. med.
Georg C. Stiebeling hat die hygienischen Verhältnisse der New-
Yorker Schneiderei durch genaue LTntersuchung von 9 kleinen
Werkstätten (sweatings shops) und 3 grossen Fabrikräumen
(factories) beleuchtet. Er zieht aus seinen Untersuchungen fol-
gendes Fazit: Die neun untersuchten kleinen Werkstätten
(sweating shops) haben zusammen einen Inhalt von 10 778 Kubik-
fuss, uncl es befanden sich in denselben zusammen 86 Personen, |
so dass durchschnittlich auf jede Person ein Luftraum von 125
statt 1 000—3 000 Kubikfuss kommt. In einer der geschilderten .
Werkstätten mussten in einem für eine Person gerade genügen- (
den Luftraum von 1 568 Kubikfuss 17 Personen arbeiten, so dass ,
auf eine nur 92 Kubikfuss kamen, wobei übrigens noch zu be-
merken ist, dass der von den Maschinen, Tischen, Tuchen und
fertigen Waaren eingenommene Raum nicht in Abzug gebracht
wurde. Dabei sind Vliese engen Buden schmutzig, überhitzt,
schlecht beleuchtet und übelriechend, und besitzen je nur einen
Abort zur gemeinschaftlichen Benutzung für beide Geschlechter. <
Die drei untersuchten grossen Werkstätten (factories; haben
zusammen einen Inhalt von 151 500 Kubikfuss In denselben
waren zusammen 132 Personen beschäftigt, so dass durch- .
schnittlich auf jede Person ein Luftraum von 1 148 Kubikfuss J
kommt Dabei sind diese grossen Räume reinlich, gut beleuchtet,
nicht überhitzt, gut ventilirt und daher frei von schlechten Ge- '
riichen, und mit getrennten Aborten für Männer und Frauen
versehen.
Schon im Interesse der Verhütung von Verschleppungen
der sich in so elenden Räumen zahlreich entwickelnden Krank-
heitskeime müsste man, nicht minder aus sanitätspolizeilichen
wie aus gewerbepolizeilichen Gründen, gegen derartige Ueber-
füllung der Arbeitsstätten Vorgehen.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Die Lage der deutschen Gewerkschaften.
Die deutschen Gewerkschaften stehen vielleicht vor
einem Wendepunkte ihrer Entwicklung. Durchaus neue
Grundlagen für die fachgewerbliche Organisation der
deutschen Arbeiter sollen auf dem am 13. März in Halber-
stadt zusammentretenden deutschen Gewerkschaftskongresse
geschaffen werden. Mag auch vielleicht dieser Kongress
noch nicht zum erstrebten Ziele führen, so darf doch zum
mindesten konstatirt werden, dass das Bediirfniss nach
neuen Organisationsformen unter den Gewerkschaften
Deutschlands ein fast allgemein gefühltes ist, dass das
Interesse an den auf dem Gewerkschaftskongresse zur
Debatte stehenden Fragen unter der Masse der Arbeiter,
nicht nur bei ihren Führern ein im höchsten Grade inten-
sives ist. Doch wir wollen nicht die Aussichten einer
eventuellen Neuorganisation hier besprechen, sondern die
No. 11.
S< >ZI. UNPOLITISCHES CENTRALBLATT.
145
!
Verhältnisse einer Betrachtung unterziehen, welche die
Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer Umgestaltung
der Organisationsform den an der gewerkschaftlichen Be-
wegung interessirten Arbeitern aufdrängen musste.
Das Bediirfniss nach einer Zusammenfassung der
Kräfte und damit das Eingeständniss der eigenen Schwäche
war das leitende Motiv für die Reorganisationsbestrebungen.
Für die Ursachen der mangelnden taktischen und finan-
ziellen Leistungsfähigkeit der deutschen Gewerkschaften
kommen wesentlich zwei Gesichtspunkte in Betracht, die
Stellung der Gesetzgebung und der Verwaltungsbehörden
einerseits, die Stellung der Unternehmer andererseits
Die Gesetzgebung äussert sich auf dem Gebiete des
Koalitions- und Vereinsrechtes.
Das Koalitionsrecht (§152 der R. G. O.) lässt im Prin-
zipe die Bewegungsfreiheit im Lohnkampfe zu, in der
Praxis aber ist es für die Arbeiter durch die Handhabung
des Vereins- und Versammlungsrechtes, durch Auslegung
des § 153 der R.G.O. und durch die Verwaltungspraxis der
Behörden wesentlich beschränkt. Während der Anwen-
dung der Kampfesmittel der Unternehmer (Aussperrungen,
schwarze Listen u. dergl.) noch nie Hindernisse in den
Weg gelegt wurden, sind die Arbeiter von den Gerichten
in ähnlichen Fällen häufig wegen Verrufserklärung ver-
urtheilt worden. Dass hierbei der elastischste Paragraph
unseres Strafgesetzbuches , die Strafbestimmung gegen
groben Unfug (§ 360 Abs. 1 1 R. St. G.) sehr häufig
Anwendung gefunden hat , ist bekannt. Auch den
§ 110 R. St. G. (Aufforderungen zu Ungehorsam gegen
Gesetze oder rechtsgiltige Verordnungen) wandten
deutsche Gerichte und das Reichsgericht in seinen Ent-
scheidungen (vom 28. November und 3. Dezember 1889
Band 20 S. 63 und 150 der Entscheidungen des Reichsge-
richts) auf die Aufforderung zur Arbeitseinstellung vor Ab-
lauf der Kündigungsfrist an, obgleich kein Gesetz das
Kündigen gebietet und der sich dessen schuldig Machende
lediglich die für seine Person daraus folgenden civilrecht-
lichen Konsequenzen herbeiführt. ’) Das hiermit der Koa-
litionsfreiheit und vor Allem der Oeffentlichkeit des Kampfes
!um bessere Arbeitsbedingungen ein schwerer Schlag ver-
setzt wurde, liegt auf der Hand. Die Arbeiter werden hier-
durch in ihrer Ueberzeugung, dass man eher gegen als für
sie entscheidet, nur bestärkt.
Noch einschneidender als das Koalitionsrecht berührt
das Vereins- und Versammlungsrecht die Entwicklung der
deutschen Gewerkschaften. Die Vereinsgesetze Preussen’s
(Verordnung vom 11. März 1850). Bayern’s (Gesetz vom
26. Februar 1850) und Sachsen’s (Gesetz vom 22. November
1850) und ähnliche Gesetze, welche unter von den heutigen
vollständig verschiedenen politischen und sozialen Verhält-
nissen gegeben wurden, bestehen bis zum heutigen Tage
unverändert fort, sie berechtigen die Polizeibehörden zur
Auflösung bezw. Schliessung von Vereinen und Versamm-
lungen, geben diesen die weitgehendsten diskretionären
Rechte, indem sie über das Vorhandensein der hierzu
nöthigen Voraussetzungen (Gründe der öffentlichen Sicher-
heit) lediglich deren Ermessen entscheiden lassen. Ganz
abgesehen von dem Inhalte der Vereinsrechte ist schon ihre
Verschiedenheit allein ein schweres, in einzelnen Fällen
unüberwindbares Hinderniss für eine einheitliche, das ganze
Reich umfassende gewerkschaftliche Organisation der Ar-
beiter, die um so peinlicher empfunden wird, als durch
die Verwaltungspraxis der Behörden den Unternehmern nicht
die mindesten Schwierigkeiten bei der Ausdehnung ihrer
Verbände und Kartelle über das ganze Reich gemacht wur-
den, dagegen den Arbeitern gegenüber alle die legitimsten
Bestrebungen erschwerenden Bestimmungen der Vereins-
gesetze auf’s allergenaueste zur Ausführung gebracht werden.
Darauf ist in erster Linie die auffallende Erscheinung zurück-
zuführen, dass, obgleich die gewerkschaftlich organisirten
deutschen Arbeiter ihrer überwiegenden Mehrheit nach die
Centralisation der Gewerkschaften vertreten und diesen
Standpunkt in Resolutionen auf den meisten Gewerkschafts-
kongressen zum Ausdruck brachten, die in Lokalvereinen
organisirten Arbeiter bisher so gut wie keinen Schritt ge-
than haben, die Centralorganisation durchzuführen.2) Eine
*) Vgl. Kaufmann G. Rechtsanwalt, Das Vereinsrecht. Ein
Wort gegen Polizeimassregeln. Berlin 1890, S. 53 f.
2) Die Organisationsfrage. Ein Beitrag zur Entwickelung
der deutschen Gewerkschafts-Bewegung. Herausgegeben von
der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands.
Hamburg 1891. S. 7.
Reihe von Filialen centrali.sirter Gewerkschaften wurden
durch die Gefahr, zu politischen Vereinen erklärt zu werden,
gezwungen, aus der Centralisation zu scheiden; da politische
Vereine mit anderen Vereinen nicht in Verbindung stehen
dürfen, mussten vielfach an Stelle der Zugehörigkeit zu
centralen Organisationen Lokalvereine oder Vertrauens-
männer treten, wodurch entweder die für eine leistungs-
fähige Gewerkschaft unerlässliche Verbindung mit den
übrigen Gewerkschaften des gleichen Faches aufgehoben,
die Anregung, Belehrung und Förderung innerhalb der
Gewerkschaft verhindert und der nothwendige persönliche
Verkehr der Mitglieder beschränkt, wenn nicht gänzlich
abgeschnitten wurde.
Die Schwierigkeiten für eine Centralisirung der deut-
schen Gewerkschaftsbestrebungen sind am grössten im
grossindustriellen Sachsen und im zweitgrössten Bundes-
staate, in Bayern. In Sachsen mussten alle Versuche von
V erbindungen gewerkschaftlicher Organisationen aufgegeben
werden, so dass man sich zumeist auf ein Vertrauensmänner-
system beschränken musste, neben dem aber ohne Ver-
bindung mit den Vertrauensmännern meist Lokalorganisa-
•tionen gegründet wurden. In Bayern aber sind die für die
Organisation massgebenden Paragraphen so unklar, dass
die Entscheidungen der Behörden in Bezug auf das gleiche
Vorkommniss oft direkt diametral sich gegenüb erstehen.
Auch in den anderen Bundesstaaten, wenn wir von Württem-
berg und Hamburg absehen, sind die der gewerkschaftlichen
Organisation entgegenstehenden Hindernisse sehr grosse. In
Preussen wird durch die Erklärung zu politischen Vereinen
die Fortdauer vieler Gewerkschaften unmöglich gemacht,
da weder die Verbindung mit anderen Vereinen noch die
Mitgliedschaft von Frauen und nicht Volljährigen weiter
möglich ist.
Man darf nicht glauben, dass die Erklärung zum poli-
tischen Verein von den Gewerkschaften leicht vermieden
werden kann, stellte doch das Kammergericht zu Berlin
den Grundsatz auf, dass auch die Erringung besserer Lohn-
und Arbeitsbedingungen eine sozialpolitische Bethätigung
sei.1) Gegen die Vorstandsmitglieder der Fachvereine der
Tischler zu Altona und Hamburg wurde gerichtlich vor-
gegangen, weil die betreffenden Vereine Petitionen an den
Reichstag betr. Einschränkung der Arbeitszeit, der Frauen -
und Kinderarbeit u. s. w. in Zirkulation gesetzt hatten.
Das Reichsgericht [Entscheidungen Band XVI, S. 383]
entschied in diesem Falle, dass sobald irgend welche ge-
werbliche Korporation in das staatliche Gebiet hinüber-
greift, sobald sie die Organe und die Thätigkeit des Staates
für sich in Anspruch nimmt, aufhört, gewerbliche Korpo-
ration zu sein und sich in einen politischen Verein um-
wandelt. . . . Nicht lediglich die allgemeine Tendenz und
das letzte Ziel, sondern zugleich Form und Mittel der
Vereinsbestrebungen entscheiden darüber, ob sie politischen
Charakter tragen. Das Reichsgericht hat auch die Be-
sprechung der Fragen des Normalarbeitstages und der
Sonntagsruhe als Behandlung politischer Gegenstände be-
zeichnet.
Es wäre verfehlt anzunehmen, dass sich das rigorose
Vorgehen der Behörden bloss gegen die als sozialistisch
angesehenen Arbeiterorganisationen richtet, auch die von
freisinniger Seite geförderten Hirsch-Duncker’schen Gewerk-
vereine haben mannigfache polizeiliche Beschränkungen
ihrer statutengemässen Thätigkeit zu registriren gehabt;
so wurden von ihnen polizeiliche Anmeldung der Ver-
sammlungen und Einreichung der Mitgliederlisten verlangt,
') Hiegegen wendet sich eine Entscheidung des Reichs
gerichtes aus jüngster Zeit, aus der wir folgendes hervorheben:
„Für die Begriffsbestimmung „politische Gegenstände“ im Sinne
des Vereinsgesetzes handelt es sich nicht darum, durch irgend
welche Kombinationen zu ermitteln, ob der fragliche Gegen-
stand nicht unter irgend welchen Umständen und Bedingungen
in die Interessen und Aufgaben des Staates hinüber greiien
kann, sondern ausschliesslich darum, ob der fragliche Gegen-
stand als solcher unmittelbar den Staat, seine Gesetzgebung
oder Verwaltung berührt, seine Organe und Funktionen in
Bewegung setzt und solcher Art als ein politischer bezeichnet
werden darf. Verbindungen zur Erlangung günstigerer Lohn-
und Arbeitsbedingungen, Verbände, welche auf Organisation
eines Arbeiterausstandes berechnet sind, gehören dem Privat-
recht an und nicht der Politik; sie sind daher nicht ohne weiteres
den Beschränkungen des § 8 des Vereinsgesetzes unterworfen.
Mit der entgegengesetzten Annahme würde die in der Ge-
werbeordnung gewährleistete gewerbliche Koalitionsfreiheit nicht
verträglich sein.“
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 11.
146
einzelne der Vereine wurden lediglich auf Grund des In-
haltes ihrer Statuten als politische Vereine erklärt, während
dies hei anderen Vereinen mit gleichlautenden Statuten nicht
der Fall war. Ja man ging noch weiter und erklärte den
Ortsverein graphischer Berufe zu Stettin als Versicherungs-
unternehmen und forderte demgemäss von ihm die mi-
nisterielle Erlaubniss zum Geschäftsbetrieb. Ein ähnliches
Vorgehen und zwar gegen die Gewerkschaften und Kassen
im Allgemeinen scheint seitens der bayerischen Regierung
in ihrer Novelle vom Jahre 1891 zu § 137 des Polizeistraf-
gesetzbuches beabsichtigt gewesen zu sein. Dass die Bahnen
der deutschen Vereinsgesetzgebung und der einschlägigen
Verwaltungspraxis nicht so bald verlassen werden dürften,
beweisen nicht nur die das Vorgehen der Polizeibehörden
sanctiönirenden Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe,
sondern auch der Entwurf eines neuen hamburgischen Ver-
einsgesetzes, auf Grund dessen V ersammlungen nicht nur
aufgelöst, sondern vor ihrer Abhaltung schon untersagt
werden können und besondere Bestimmungen für Ver-
sammlungen vorgeschlagen werden, in welcher innere oder
äussere Angelegenheiten des deutschen Reiches oder des
hamburgischen Staates erörtert oder berathen werden.'
Dass eine Besprechung des Krankenkassengesetzes oder
der Nachtarbeit der Frauen eine derartige öffentliche An-
gelegenheit des Deutschen Reiches ist, kann nach derjudi-
catur des Reichsgerichtes nicht bezweifelt werden.
Die Entwicklung der Vereine wird durch die Hand-
habung der Vereinsgesetzgebung auf’s empfindlichste ge-
hemmt, an die verantwortlichen Vorstandsmitglieder werden
die gewaltigsten Aufgaben gestellt und endlich, was viel-
leicht das einschneidendste Moment ist, kann sich bei den
noch ausserhalb der gewerkschaftlichen Organisation
stehenden Arbeitern die Ueberzeugung von der Leistungs-
fähigkeit und dem längeren Bestände derselben nicht
bilden, was sie vom Eintritte in die Organisation und den
damit verknüpften Opfern naturgemäss fernhalten muss.
Andere äussere Momente wirkten in der gleichen
Richtung. Vor Allem der Umstand, dass in den meisten
deutschen Staaten erst durch die Gewerbeordnung vom
Jahre 1869 die Koalitionsfreiheit eingeführt wurde und so-
mit die Grundlagen für eine öffentliche Organisation zum
Zwecke der Einwirkung auf das Arbeitsvertragsverhält-
niss noch nicht ein Vierteljahrhundert lang existiren. Von
Bedeutung für die gewerkschaftlichen Organisationen war
es ferner, dass sie schon vor Vollendung des ersten Dezen-
niums ihres Bestandes dem Sozialistengesetze fast aus-
nahmslos zum Opfer fielen. Von nicht zu unterschätzen-
dem Einfluss ist auch, dass die deutschen Arbeitgeber in
den Gewerkschaften ein unberechtigtes Hemmmss ihrer
Produktion sehen, so dass die Gewerkschaften noch
schwere Kämpfe zu bestehen haben dürften, um für die in
England seitens der Unternehmer schon längst als legitim
anerkannten Vertretungen der Arbeiter die Anerkennung
durchzusetzen. Wie ott erklären noch die Unternehmer in
Deutschland bei Ausbruch von Strikes oder bei dem Wunsche
nach Einigung, dass sie nur mit „ihren“ Arbeitern aber
nicht mit den Vertretern der Gewerkschaft oder einer
Lohnkommission verhandeln können. In einer grossen Zahl
von Arbeitsverträgen müssen sich die Arbeiter verpflichten,
aus den Gewerkschaften auszutreten, bezw. in solche nicht
einzutreten. Die Zugehörigkeit der Gewerkschaft ist sehr
häufig der zugestandene, noch häufiger der verschwiegene
Grund der Entlassung aus dem Arbeitsverhältnisse.
Gerhardt v. Schulze-Gävernitz, dem eine eingehende
Kenntniss englischer Verhältnisse nicht abgesprochen wer-
den kann, schreibt in Bezug auf diese Taktik der Unter-
nehmer: „Die englischen Arbeitgeber, die früher, genau wie
heute die unseren, die Gewerkvereine nicht anerkannten
und mit ihnen zu unterhandeln verweigerten in der Furcht,
„ihre Autorität zu untergraben“, ergreifen nunmehr begierig
die ihnen dargebotene Hand der Verständigung. Die Ge-
werkvereine gewährleisten Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit
der Arbeit, auf ihnen allein bauen sich die friedlichen Be-
ziehungen und friedenstiftenden Einrichtungen auf, sie sind
derjenige Faktor, auf welchem für die englische Industrie,
die mit vielen Nachtheilen zu kämpfen hat, in erster Linie
ihre Stärke und Ueberlegenheit auf dem Weltmärkte beruht.
Dieser Thätigkeit sind sich die englischeir Arbeitgeber be-
wusst“.1) In Deutschland aber legen, wie wir sahen, Gesetz-
p Vermeidung von Arbeitsstreitigkeiten ^ Strikes u. s. w.)
in England in Schmoller’s Jahrbuch N. F. Band 13 (1889) S. 1417.
gebung, Verwaltung, Rechtsprechung in gleicher Weise wie
das Unternehmerthum der Erstarkung der gewerkschaft-
lichen Organisation der Arbeiter die grössten Schwierig- ;
keiten in den Weg.
Fehlt es neben diesen ausserhalb der Arbeiterklasse
wirkenden Hemmungserscheinungen nicht auch an inneren
Gründen, welche die Entwicklung der Gewerkschaften
hemmen? Sicherlich existiren auch innerhalb der Arbeiter-
klasse derartige Gründe, aber sie würden nimmermehr er-
klären, dass die deutsche gewerkschaftliche Bewegung hinter
der englischen zurückgeblieben ist, denn die deutsche Ar-
beiterklasse hat durch die stete Ausdehnung ihrer politischen
Organisation, durch das Ueberdauern des Sozialistengesetzes
bewiesen, dass in ihr die Fähigkeiten des Kampfes, des
Zusammenschlusses der Organisation, und endlich des An-
bequemens an die ungünstigsten Existenzbedingungen im
höchsten Masse vorhanden sind. Die innerhalb der Organisation
hie und da in Erscheinung tretenden Hemmungserscheinungen
haben in England ebensowenig gefehlt wie in Deutschland:
Unverträglichkeit Einzelner, Berufsdünkel einzelnerGruppen,
beispielsweise unter Arbeitern im Kunsthandwerke, bei
Bildhauern, Malern etc. Nur für eine nach Zahl der
Arbeiter und Bedeutung der Industrie überaus hervorragen-
de Branche, für die Textilindustrie, existiren ausschlag-
gebende Gründe für die Bedeutungslosigkeit der Gewerk-
schaften. Der tief unter das Existenzminimum der übrigen
Arbeiter gesunkene Lohn in diesem Zweig, insbesondere
in der Spinnerei und Weberei lässt es nicht zu, dass auch
nur ein nennenswerther Bruchtheil dieser Arbeiter auf die
Dauer finanzielle Opfer für eine Gewerkschatt bringt. Wo
dies in Folge einigermassen höherer Löhne möglich ist, im
Obereisass, verhindert das noch in Geltung stehende franzö-
sische Vereinsrecht in Verbindung mit dem Diktaturpara- j
graphen jede längere Dauer garantirende Organisation der
Arbeiter. Wir führen diese Momente der Vollständigkeit
wegen an und um zu zeigen, dass diese inneren Gründe
die relative Schwäche der deutschen Gewerkschaften im.
Allgemeinen nicht erklären können.
Wir kommen zum Schluss. _ t
Hat die vom Staate und dem Unternehmerthume ein-
geschlagene Politik den beabsichtigten Erfolg? Wir glauben,1
dass diese Frage verneint w'erden muss. Grosse Arbeits-
einstellungen, wir erinnern an den Bergarbeiterstrike von
1889, werden dadurch nicht verhindert, und immer grösseren
Massen wird durch Versperren der Bethätigung innerhalb
der bestehenden Wirthschaftsordnung das Erstreben einer
anderen Gesellschaftsform aufgenöthigt. Auch ein Vergleich
mit anderen Ländern ist recht lehrreich. Die Freiheit der,
Arbeiterorganisationen in England hat weder den Staat
noch die Industrie vernichtet, die noch stärkere Bevormun-
dung in Oesterreich hat weder die gewerkschaftliche
Arbeiterbewegung verhindert, noch die Erstarkung der
Sozialdemokratie gehemmt. Die Schweiz aber mit ihrer
alten Vereins- und Versammlungsfreiheit hat nur eine un-
bedeutende Arbeiterbewegung. Lässt sich hieraus nicht
schliessen, dass die beschränkende Politik des Staates und
des Unternehmerthums in letzter Linie doch schwächer
sind, als die inneren Wachsthumsmomente einer aus der
gesellschaftlichen Entwickelung naturgemäss entstehenden
und sich stärkenden Klassenbewegung? Alle Möglichkeiten
der Expansion wird keine Macht verhindern können; versperrt
man den deutschen Arbeitern auf die Dauer die Möglichkeit,
sich in befriedigender Weise gesetzlich, öffentlich und un°'e-
hindert zu organisiren, so wird man nur die politischen Be-
strebungen der Arbeiterklasse fördern. Hat man im Sozialisten-
gesetze eine unwirksame Waffe gegen diese gesehen, so
müsste man konsequenterweise der gewerkschaftlichen Be-
wegung gegenüber auch die polizeiliche Chikanirung auf-
geben und ihr die nöthige Bewegungsfreiheit gewähren.
Thäte man dies, so würde auch das Unfernehmerthum seine
kurzsichtige Taktik gegen die Gewerkschaften aufgeben,
und diese selbst würden sich nicht zum Schaden unserer
Industrie in ähnlicher Weise entwickeln wie die englischen.
Berlin. Adolf Braun.
Kontrollmarken für Textilarbeiter. Nachdem zuerst
nur für die Wirker die Kontrollmarken eingeführt wurden,
hat man jetzt auch in den übrigen Branchen der Textil-
industrie Versuche mit ihnen gemacht. Für die Kontroll-
marke für Textilarbeiter wird in einem durch die sozial-
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
147
I No. 11.
demokratische Presse gehenden Aufruf der Kontrollkommission
deutscher Textilarbeiter Propaganda gemacht. Durch die
Kontrollmarke soll nach dieser Quelle den Unternehmern
gezeigt werden, welche Macht die Arbeiter als Konsumenten
[besitzen. In ganz kurzer Zeit soll nach dem Flugblatt einer
grossen Anzahl von Arbeitern und Arbeiterinnen der Textil-
industrie durch die Kontrollmarke die neunstündige Arbeits-
zeit errungen worden sein. Durch dieselbe soll auch der
Gefängnissarbeit, sowie der niedrigen Entlohnung entgegen-
gewirkt werden. Die Behauptung, dass mit Kontrollmarke
versehene Waaren theurer seien als andere gleichwerthige,
wird als eine „bewusste Lüge“ hingestellt.
Die Fabrikanten, welche die Kontrollmarke einzu-
führen beabsichtigen, haben mit der Kontrollkommission
deutscher Textilarbeiter zu Chemnitz einen Vertrag ab-
zuschliessen, aus dem wir die wichtigsten Punkte zum
Abdruck bringen:
„§ 4. Für den Gebrauch des Stempels ist an die
Kontrollkommission pro Kopf und Tag der in ihrem Geschäft
beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen ein Pfennig zu
entrichten. Die Ablieferung der zu entrichtenden Gelder
hat am letzten Tag eines jeden Monats portofrei an die
Kommission zu geschehen.
§ 5. Die Arbeitszeit darf neun Stunden nicht über-
schreiten. Sie verpflichten sich, den von der Organisation
aufgestellten Lohntarif zu zahlen. Derselbe muss im Arbeits-
raume zu Jedermanns Einsicht aushängen.
§ 6. Massregelungen wegen politischer wie gewerk-
schaftlicher Thätigkeit dürfen nicht stattfinden.
§ 7. Bei etwa vorkonmienden Differenzen hat sich
die Firma zunächst an den Vertrauensmann, bei nicht
zu Stande kommender Einigung an die Kommission zu
wenden.“
In der kurzen Zeit ihres Bestandes scheint die Köntroll-
markenkommission noch nicht viele Erfolge erzielt zu haben,
denn die Einnahmen, welche (siehe § 4) einen Massstab für
die Anwendung der Kontrollmarken bieten, beweisen nicht
die in dem Flugblatte aufgestellte Behauptung, sie betrugen
bisnun nur 470 Mk. 47 Pfg., denen Ausgaben in der Höhe
von 357 Mk. 22 Pfg. gegenüberstehen.
Ein Kellnerstrike ist in Hamburg ausgebrochen weil die
Direktion der „Grossen Bier-Hallen“ sich weigert, das benöthigte
Personal wie bisher durch den Arbeitsnachweis des Vereins
der Kellner und Berufsgenossen von Hamburg vermitteln zu
lassen, obgleich die Kellner zur vollsten Zufriedenheit der
Wirthe tliätig gewesen sind Bei dieser Gelegenheit theilen die
ausständigen Kellner über die Ausbeutung durch die Stellen-
vermittler im „Hamburger Echo“ folgendes mit: „Die Kellner
werden fast alle durch sogenannte Kommissionäre besorgt, für
diese Besorgung muss nun der Kellner schweres Geld bezahlen,
für feste Stellung 15 — 20 Mk., für Aushilfe 50 Pf. bis 1 Mk. pro
Tag. Wenn man nun bedenkt, dass die Kellner ohne Gehalt
und ohne Beköstigung arbeiten müssen, so wird man zugestehen
müssen, dass diese Summen horrend sind. Beispielsweise hat
der Kommissionär des Hamburger Gastwirthvereins ein Jahres-
einkommen von 12000—14000 Mk. Durch diese Uebelstände,
welche mit der Stellenvermittlung verbunden sind, veranlasst,
hat der Verein der Kellner und Berufsgenossen ein vollständig
kostenfreies Arbeitsnachweis - Biireau eingerichtet. Dasselbe
funktionirt zum Segen für die Kellner.“
Der Strike der Pariser Droschkenkutscher. Nach einer
mehr als zweimonatlichen Dauer ist der Pariser Kutscherstrike
zu Ende gegangen, ohne ein Resultat erzielt zu haben. Da alle
Versuche, auch nur die mindeste Konzession seitens der Kom-
pagnie „Urbaine“ zu erlangen, als gescheitert betrachtet wurden,
hatten die Strikenden in ihrer letzten Versammlung ganz einfach
(erklärt, ihre Kautionen — 150 Frcs. pro Mann — zurückverlangen
und anderwärts Beschäftigung suchen zu wollen Die Strikenden
(sind demnach, wenn sie auch die Arbeit nicht wieder bei der
i„Urbaine“ aufnehmen sollten, nicht desto weniger unterlegen;
nicht aber, weil ihre Forderungen zu exorbitant waren, sondern
weil die Droschkengesellschaft um keinen Preis nachgeben
wollte, so versöhnlich sich auch die Kutscher zeigten. Dieselben
hatten sich in der That gleich bei Ausbruch des Strike an den
Munizipalrath gewendet, damit er ähnlich wie beim vorjährigen
Omnibusstrike intervenire, doch hatte die Direktion der „Urbaine“
(diese Intervention zurückgewiesen, wie sie es mit dem spätem
Vorschlag gethan, den Streit einem freigewählten Schieds-
gerichte — die Kutscher hatten ihrerseits bereits den Abgeord-
neten Mesureur hierzu gewählt zu unterbreiten. Mit Recht
isagte da derselbe in einem unterm 12 Februar veröffentlichten
Schreiben: „Diejenigen, die den Arbeitern ausser der Llnter-
werfung und der Empörung dieses friedliche Mittel verweigern,
ihre Interessen zu vertheidigen und das, was an ihrer Sache
gerecht und billig ist, zum Siege zu führen, laden eine grosse
I Verantwortlichkeit auf sich.“ Weit entfernt, die Streitangelegen-
heit vor ein unparteiisches Schiedsgericht bringen zu wollen,
hatte der Direktor der „Urbaine“ mit den Herausgebern eines
Anarchistenblättchens („L’Insurge“) ein Uebereinkommen ge-
troffen, wonach dieselben für die Bekämpfung des Strike
wie er, nachdem die Sache ruchbar geworden war, in einem
Interview mit einem Journalisten selber zugestand — „220 oder
250 Frcs.“ von ihm erhielten.
Hält man dieses Vorgehen dem der Strikenden gegenüber,
dann ersieht man auf den ersten Blick, auf welcher Seite Recht
und Anstand in diesem Strike lag. Um so unerquicklicher muss
es wirken, wenn ein angesehenes Blatt wie der „Temps“,
das sonst bei allen Lohnstreitigkeiten dem Schiedsrichteramt
das Wort spricht, für die unterlegenen Kutscher, die allein für
ein Schiedsgericht eingetreten waren, nur Spott und Hohn
findet. So schliesst es einen Artikel, in welchem die Verluste,
die den Kutschern aus diesem Strike erwuchsen, über Gebühr
aufgebauscht werden: „Fürwahr, eine wunderbare Wirkung des
Strike! Da haben die Kutscher nun viel gewonnen! Die Kom-
pagnie, die schon vor den Verlusten, die ihr eben beigebracht
wurden, es für eine Unmöglichkeit erklärte, die Lage ihres Per-
sonals zu verbessern; wie sollte sie dies heute thun?“ Dabei
passirte aber dem „Temps“ das Malheur, dass er übers Ziel hin-
ausschoss, oder besser gesagt, auf die Strikenden zielte und die
Droschkengesellschaft traf. „Die Kompagnie“, führte er nämlich
u. A. aus, „hatte einen Verlust von I6 0Ö0 Frcs. pro Tag zu er-
leiden, d. i. ungefähr eine Million für die ganze Dauer des Striks.
Von jener Summe kann man 300 000 Frcs. — 5 000 Frcs. pro Tag
- als jenen Theil betrachten, welcher das Reineinkommen der
Kompagnie gebildet hätte.“ Wenn aber die „Urbaine“ bei einem
täglichen Brutto-Einkommen von 16 000 Frcs. einen Reingewinn
von 5 000 Frcs. zählt, dann beträgt ihre tägliche Gesammtausgabe
nicht mehr 11000 Frcs. und ihr Gewinn somit mehr als 45%!
Wie viel Unternehmungen weisen noch einen so hohen Profit
auf? Wenn also irgend etwas beweist, dass die Kutscher be-
rechtigt waren, eine Verbesserung ihrer Lage zu verlangen und
dass es der Droschkengesellschaft ein Leichtes gewesen wäre,
diesem Verlangen wenigstens theilweise nachzukommen, so sind
es gerade die Ausführungen des „Temps“, die das Gegentheil
zu beweisen suchten.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Schutz von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern
in Zuckerfabriken. Dem Vernehmen nach soll in den dem
Bundesrathe gegenwärtig vorliegenden Bestimmungen über
die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Ar-
beitern in Zuckerfabriken vorgeschrieben werden, dass beide
genannten Arbeiterkategorien zur Bedienung der Rüben-
schwemmen, der Rübenwäschen und der Fahrstühle, sowie
zum Transport der Rübenschnitzel in schwer zu bewegenden
Wagen nicht verwendet werden dürfen. Es soll ihnen auch
im Füllhause, in den Centrifugenräumen, den Krystalli-
sationsräumen, den Trockenräumen und den Maischräumen,
sowie an anderen Arbeitsstellen, an welchen eine ausser-
gewöhnliche Wärme herrscht, während der Dauer des Be-
triebes eine Beschäftigung nicht gewährt und der Aufent-
halt nicht gestattet werden dürfen. Die Beschäftigung von
Arbeiterinnen über sechzehn Jahre während der Nachtzeit
soll auf den Zuckerböden verlooten und übrigens nur mit
solchen Arbeiten stattfinden, welche für den Fortgang des
kontinuirlichen Betriebes unentbehrlich sind. Die Zeit der
Beschäftigung, die Pausen- und Ruhezeitdauer sollen genau
geregelt, auch bestimmt werden, dass die Tag- und Nacht-
schichten wechseln müssen. Der wöchentliche Wechsel
zwischen den Tag- und Nachtschichten soll so geregelt
werden, dass die in der Tagschicht beschäftigten Arbeite-
rinnen erst nach einer Ruhezeit von mindestens 24 Stunden
in der Nachtschicht, die in der Nachtschicht beschäftigten
erst nach einer Ruhezeit von mindestens 24 Stunden in der
Tagschicht beschäftigt werden dürfen. Auch soll die An-
zahl der in den Fabriken zulässigen Arbeiterinnen begrenzt
und so festgestellt werden, dass sie in Rohzuckerfabriken
sowie in denjenigen Zuckerraffinerien, welche nicht wäh-
rend des ganzen Jahres im Betriebe sind, die Zahl der im
Durchschnitt der beiden letzten Betriebsperioden, in den-
jenigen Zuckerrafiinerien, welche während des ganzen Jahres
im Betrieb sind, die Zahl der im Durchschnitt der beiden
letzten Kalenderjahre in Tag- und Nachtschichten beschäf-
tigten Arbeiterinnen nicht überschreiten darf. Vom 1 . April
1894 ab sollen nur noch zwei Drittel, vom I. April 1896 ab
nur noch ein Drittel dieser Höchstzahl von Arbeiterinnen
148
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 11.
beschäftigt werden. Ausserdem sollen Bestimmungen über [
die Erleuchtung, den Luftraum, die innere Einrichtung in
Bezug auf Ankleide- und Waschräume u. a. m. getroffen
sein. Die für Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter ge-
meinsamen Bestimmungen sollen bis zum I. April 1902, die
die Arbeiterinnen allein betreffenden bis zum I. April 1898
Gültigkeit haben.
So sehr auch gewünscht werden muss, dass die Nacht-
und Ueberarbeit der so überaus ungesunden, ja aufreibenden
Arbeit in Zuckerfabriken Frauen und jugendlichen Arbeitern
sofort und gänzlich untersagt werde, so muss doch aner-
kannt werden, dass die Bestimmungen für den Uebergang
in den gesetzlichen Zustand befriedigendere sind, als die
für die Beschäftigung von Arbeiterinnen auf Steinkohlen-
werken etc. im Regierungsbezirk Oppeln dem Bundesrathe
gemachten Vorschläge. (Vergl. No. 9 dieser Zeitschrift,
Seite 120.)
Schutz der jugendlichen Arbeiter auf Steinkohlen-
bergwerken. Dem Bundesrath ist ein Entwurf von Be-
stimmungen über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter
auf Steinkohlenbergwerken zugegangen, welche bis zum
1. April 1902 gültig sein sollen Danach darf die erste
Schicht nicht vor 5 Uhr morgens beginnen, die zweite
nicht nach 10 Uhr abends schliessen, keine länger als
8 Stunden dauern. Am Tage vor Sonn- und Festtagen
darf die erste Schicht um 4 Uhr morgens beginnen, am
nächsten Werktage die zweite Schicht um 12 Uhr abends
schliessen. Zwischen zwei Arbeitsschichten muss den
jugendlichen Arbeitern eine Ruhezeit von mindestens
12^ Stunden gewährt werden. Ebenso sind eine oder
mehrere Pausen in Gesammtdauer von mindestens einer
Stunde an Arbeitstagen angeordnet. Alles Uebrige ist wie
bei den anderen ähnlichen Bestimmungen für jugendliche
Arbeiter männlichen Geschlechts über 13 Jahre auf Stein-
kohlenbergwerken festgesetzt.
Scliutzvorschriften für Bergleute. Für den preussi-
schen Bergbau hat die Frage der Schiessarbeit in Schlagwetter-
Gruben zur Zeit dadurch eine Lösung gefunden, dass im Wege
der Bergpolizei - Verordnung seitens der Oberbergämter die
Schiessarbeit vor allen Betriebspunkten, an welchen sich An-
sammlungen schlagender Wetter durch die Sicherheitslampe
bemerkbar machen, verboten worden ist Dieses Verbot erstreckt
sich auch auf alle belegten Grubenräume, die mit nicht schlag-
wetterfreien Betriebspunkten in naher Wetterverbindung stehen.
Auch bei Abwesenheit von Schlagwettern ist die Schiessarbeit
mit Schwarzpulver oder anderen langsam explodirenden Spreng-
stoffen in solchen Grubenbauen verboten, in denen erfahrungs-
mässig entzündlicher Kohlenstaub sich bildet, ebenso in solchen
Grubenräumen, die mit den diesen Kohlenstaub führenden
Grubenbauen denselben Wetter-Theilstrom gemeinsam haben.
In allen Fällen muss vor dem Wegthun eines Schusses fest-
gestellt werden, dass innerhalb einer Entfernung von zehn
Metern Ansammlungen von Schlagwettern nicht vorhanden sind
Auch im Königreich Sachsen ist man dazu übergegangen, die
Schiessarbeit vor allen gefährdeten Punkten zu verbieten. In
fachmännischen Kreisen bezeichnet man es als zweckmässig,
wenn die Schiessarbeit mit Scüwarzpulver oder ähnlichen lang-
sam explodirenden Sprengstoffen, sowie ferner mit Spreng-
gelatine u dgl. ohne Anwendung besonderer Sicherheitspatronen
vor Arbeitspunkten mit Schlagwetter-Ausströmung und auch in
trockenen Grubenräumen, in denen sich Kohlenstaub bildet,
gänzlich untersagt würde.
Internationale Regelung der deutschen, österreichischen
und schweizerischen Stickerei. Das Centralkomitee der
Arbeiter und Arbeiterinnen der ostschweizerischen Stickerei-
Industrie und der Kantonalvorstand st. gallischer Griitli-
vereine haben nach dem „St. Galler Stadtanzeiger“ an den
Bundesrath das Gesuch gerichtet, derselbe möchte mit den-
jenigen Industriestaaten, in welchen, die Stickerei in grösserem
Massstabe betrieben wird, also besonders mit Deutschland
und Oesterreich, Verhandlungen über die Regelung einzelner
Produktionsverhältnisse durch einen Staatsvertrag einleiten.
In der Begründung des Gesuches wird darauf verwiesen,
dass die Stickerei in ihren drei Hauptgebieten Schweiz, Oester-
reich, Deutschland bereits organisirt sei, die betreffenden
Privatverbände sich aber als nicht ausreichend erwiesen haben,
so dass die Mithilfe der Staaten nothwendig werde Ein inter-
nationales Vorgehen des Staates werde auf diesem Gebiete t
ebensowohl von den Unternehmern als den Arbeitern gewünscht. '
Die Kaufleute und Maschinenbesitzer werden auch eine ent-
sprechende Eingabe an den Bundesrath richten. Als Inhalt der
zu vereinbarenden Abmachungen wird die Regulirung der Arbeits-
zeit und die Feststellung eines Minimallohnes bezeichnet.
Gesetzlicher Schutz der Handlungsbediensteteu in England.
Am 24. Februar d. J. fand im englischen Unterhause eine unge-
mein interessante Debatte und eine noch bedeutsamere Ab-
stimmung statt. Es handelte sich um die erste Lesung eines
Gesetzentwurfes zum Schutze der Handlungsbediensteten-, die
von Mr. Provaud eingebrachte Shop Hours Bill ist eine Erweite-
rung der Shop Hours Regulation Act, 1886 (49 u. 50 Vict c. 55).
Diese letztere verfügt, dass jugendliche Personen nicht in oder
in Verbindung mit einem Kaufladen länger als 74 Stunden
wöchentlich, einschliesslich der Mahlzeitpausen, verwendet
werden dürfen. Der Entwurf dehnt diese Bestimmung auf er-
wachsene Frauen aus und verlangt die Einsetzung von Inspek-
toren zur Ueberwachung ihrer Wirksamkeit Es lässt sich also
auch hier dieselbe Entwicklung wie bei der Fabrikgesetzgebung
verfolgen: erst Schiüz der Kinder, dann Schutz der Frauen und
dadurch mittelbar: Schutz der erwachsenen Arbeiter über-
haupt.
Der Antragsteller hob hervor, dass die gegenwärtige :
Arbeitszeit der weiblichen Personen in Gasthäusern und Mode-
waarenhandlungen 84-86 Stunden wöchentlich betrage. Der Ein-
wand, dass durch die Kürzung der Arbeitszeit viele Frauen beruf-
los würden, sei nicht stichhaltig; Männer und Frauen sind in
den meisten Handlungshäusern gleichzeitig angestellt, der Vor-1
theil der einen würde den anderen zu Gute kommen. Der
folgende Redner, Mr. Baumann, führte aus, dass an einen Ersatz
der billigen weiblichen durch theure männliche Arbeitskraft
nicht zu denken sei. Er selbst sei Individualist in dem Sinne,
dass man das Individuum schützen müsse, zumal in Zeiten, in
welchen, mit Carlyle zu sprechen, „es nöthig sei, den Menschen
einen Zaum anzulegen und sie zu zwingen, recht zu handeln.“
Die Gegner suchten die Bill durch ein Amendement des Inhalts
zu Falle zu bringen, „dass das Haus jede weitere Einmengung
in die Arbeitszeit erwachsener Frauen ablehne, bis die Frauen
die verfassungsmässigen Mittel besitzen, durch das parlamen-
tarische Wahlrecht ihrer Meinung darüber Ausdruck zu ver-
leihen.“ Das Manöver ist nicht neu; schon in Neu-Südwales,
hat man versucht, sich der Frauenemanzipationsbewegung gegen
die Schutzgesetzgebung für weibliche Arbeiter zu bedienen.
Die Argumente der Gegner waren in der That ungemein
schwächliche. Es wurde hervorgehoben, die Arbeit der Hand-,
lungsbediensteten bestehe nur in leichten Verrichtungen, die
unter Plaudern und Handarbeiten vor sich gehen. Viscount
Cranborne ging so weit, zu behaupten, man könne nicht datf
Argument gelten lassen, dass durch die Annahme des Entwurfes'
die Löhne der Männer steigen würden. „Diesen Frauen habe
die Vorsehung die Kraft gegeben, Geld zu erwerben, und das
Haus habe kein Recht, diese ihre Kraft zu verkürzen.“ Sir
John Lubbock hatte dem gegenüber ein leichtes Spiel, darauf
hinzuweisen, dass hier eine durch keinerlei Klassengegensätze'
verschärfte Frage vorliege; 95 Prozent der Ladenbesitzer seien,
wie in Liverpool durch Cirkulare erhoben wurde, für die gesetz-,;
liehe Regelung. Das Komitee, welches im Jahre 1886 die Shop'
Hours Act vorbereitet hatte, habe konstatirt, dass in vielen Be-
zirken 85 stündige wöchentliche Arbeitszeit herrsche. Sir James
Paget und 300 Londoner Aerzte haben auf die Gesundheits-
schädlichkeit dieser Verwendung durch Petition an das Parla-
ment aufmerksam gemacht, ebenso aus pädagogischen Gründen
der Erzbischof von Canterbury und der Kardinal Manning; sehr
massgebend sei auch das Zeugniss der Gewerbeinspektoren. I
Sir Lubbock empfahl daher, die zweite Lesung zu beschliessen,
und ein Selekt-Komitee mit den Erhebungen über die Zweck-
mässigkeit eines Entwurfes, sowie der Vorlage eines Halbfeier-
tagsgesetzes für Handlungsbedienstete zu beauftragen. Der
Minister des Innern sprach sich gegen den Entwurf aus, er-
klärte aber ausdrücklich, nur im eigenen, nicht im Namen der
Regierung so zu sprechen. Er bedauerte, über die Sterblichkeit
unter weiblichen Handlungsbediensteten keine statistischen
Daten zu besitzen; seiner Ansicht nach, jener der bespöttelten
Schule des Individualismus, gehe der Entwurf über den durch
Fabrikgesetze gewährten Schutz hinaus Die Stellen der Frauen
würden vermuthlich durch Männer ausgefüllt werden, und
zwar wahrscheinlich durch fremde. Eine wirksame Inspektion
sei nur dann denkbar, wenn der Inspektor den ganzen Tag hin-
durch im Laden bleibe. Auch der Führer des Hauses, Mr. Bai- 1
four, erklärte den Entwurf für unannehmbar; er ersuchte den
Antragsteller, seine Vorlage zurückzuziehen und die Frage
einem Selekt-Komitee zum Studium vorzulegen. Mr. Provaud
zog vor, es auf die Abstimmung ankommen zu lassen, die mit
23 Stimmen Majorität zu Gunsten der zweiten Lesung und
gegen die Regierung entschied. Hierauf erst beantragte er die
Zuweisung des Entwurfes an ein Selekt-Komitee. Dieses Er-
gebniss bedeutet für England unzweifelhaft einen erfreulichen
sozialpolitischen Fortschritt und eine denkwürdige Niederlage
der alten Schule.
No. 1 I .
SOZI AI ,l’OI ,1 TISCH KS CENTRALBLAT'l .
149
Gewerbeinspektion.
|
Fabrikaufsicht und Arbeiterbewegung in Baden.
Mit gewohnter Pünktlichkeit ist soeben der (ahres-
bericht der grossherzogl. badischen Fabrikinspektion für
1891 erschienen. Der Inhalt desselben liefert für die Be-
urtheilung schwebender sozialpolitischer Fragen ein so
reiches und interessantes Material, dass es gerechtfertigt er-
scheinen dürfte, wenigstens einige der bedeutsamsten Aus-
führungen wiederzugeben.
Vor allem ist der objektiven, in amtlichen deutschen
Berichten leider immer noch einzig dastehenden Berück-
sichtigung zu gedenken, welche der modernen Arbeiter-
bewegung von Seiten des verdienstvollen Vorstandes der
badischen Fabrikinspektion, des Herrn Dr. Wörishoffer '),
gezollt ward. So macht derselbe, ehe die Beziehungen, die
im Berichtsjahre zwischen Kapital und Arbeit bestanden
haben, besprochen werden, die treffende Bemerkung, es sei
durchaus unrichtig, wenn man annehme, dass die Arbeiter
mit der fortschreitenden Vervollkommnung der Technik in
immer geringerem Masse an den industriellen Erfolgen Theil
hätten. Die technischen Fortschritte seien durchaus nicht
1 allein das Verdienst der Unternehmer und Erfinder,
denn sie würden nur ermöglicht durch Erhöhung des ganzen
Kulturzustandes. Es sei eine viel zu wenig beachtete Vor-
aussetzung dieser Fortschritte, dass ihrer Durchführung auch
intelligente Organe bis zum letzten Arbeiter herab zur Ver-
fügung stünden. Die Ansprüche an die Zuverlässigkeit der
Leistungen und das richtige Urtheil in der Leitung des
Arbeitsprozesses durch die Maschine seien grösser geworden.
„Wenn daher die Arbeiter steigend an den Früchten
der technischen Fortschritte theilnehmen wollen,
so ist dies durchaus nicht der Ausdruck der Be-
gehrlichkeit, sondern es liegt dem die die innere
Berechtigung dieser Forderung begrün dendeThat-
sache zu Grunde, dass die Arbeiter ebenso wie die
anderen Stände Träger des allgemeinen Kultur-
zustandes sind, ohne welchen alle diese Fort-
schritte einfach undenkbar wären. Allerdings müssen
die Arbeiter auch ihrerseits sich des Zusammenhanges mit
den gesellschaftlichen Zuständen bewusst bleiben, und nicht
ihre innerlich berechtigten Forderungen dadurch in Frage
stellen, dass sie diesen Zusammenhang durch ausschliessliche
Vertretung ihres Klassenstandpunktes lösen.“
Die geringe Ausdehnung der Arbeitseinstellungen und
ihr geordneter Verlauf wird ,im Wesentlichen1 „einem be-
sonnenen und mässigenden Einflüsse der Führer der
Arbeiterparteien zugeschrieben, welche trotz zähen Fest-
haltens an ihren Grundsätzen einer nutzlosen Kraftver-
geudung durch aussichtslose Arbeitseinstellung Vorbeugen
wollen.“ Wenn die thatsächliche berufliche Organisation
j selbst in der grössten Industriestadt des Landes, Mannheim,
ungeachtet der politischen Erfolge der dortigen Arbeiter
noch nicht sehr weit vorgeschritten ist, so führt der amt-
liche Berichterstatter auf die rege Organisationsthätigkeit
doch immerhin den Erfolg zurück, dass trotz des Rück-
ganges der geschäftlichen Prosperität in dem abgelaufenen
Jahre keine nennenswerthe Lohnreduktion stattgefunden
hat. Anerkennend wird über die Herberge für durch-
reisende und unverheirathete Arbeiter berichtet, welche die
Centralisation der Gewerkvereine in Mannheim ins Leben
gerufen. „Ein derartiges positives Eingreifen der Arbeiter-
schaft zur Herbeiführung wirklicher Verbesserungen ist er-
freulich, und sollte von allen berufenen Organen unterstützt
werden. Es widerstreitet durchaus dem öffentlichen Inter-
esse, bei den Arbeitern die Meinung aufkommen zu lassen,
dass ihre Veranstaltungen grösseren Schwierigkeiten be-
gegnen, als sie bei allen neuen Schöpfungen ohnedem über-
wunden werden müssen.“
b Die philosophische Fakultät der Universität Freiburg i. B.
n S1<i*1 Un-^ Herrn Oberregierungsrath Wörishoffer dadurch ge-
ehrt, dass sie denselben vor Kurzem in Anbetracht seiner sozial-
wissenschaftlichen Verdienste zum Doctor honoris causa promo-
virt hat. ^
Unter diesen Umständen ist es klar, dass Dr. Wöris-
hoffer die Anschläge der Arbeitgeber zur Vernichtung der
Arbeiterorganisationen nur scharf verurtheilen kann. Seine
diesbezüglichen Aeusserungen sind aber aus verschiedenen
Gründen und auch mit Rücksicht darauf, dass sie den viel-
fach höherenorts vorhandenen Auffassungen durchaus die
materielle Grundlage entziehen, so bemerkenswert!!, dass
wir dem Wunsch, sie hier vollinhaltlich mitzutheilen,
kaum widerstehen können: „Anderseits wurden aber auch
im Berichtsjahre seitens der Arbeitgeber mehr als früher
Anstrengungen gemacht, die Organisationen der Arbeiter
zu untergraben. Oefter fand ein Ausschluss von Arbeitern
von der Beschäftigung statt, die sich wegen ihrer Thätig-
keit in den Fachvereinen missliebig gemacht hatten. Ein
solches Vorgehen, so schlimm es ohne Zweifel für die davon
Betroffenen ist, nahm aber doch nirgends grössere Dimen-
sionen an, unter Anderem vielleicht auch deshalb,
weil die Arbeitgeber sich dadurch ihrer besten
Arbeiter berauben. Meist sind nämlich die Arbeiter,
welche in den Fachvereinen am meisten Einfluss
haben, zugleich die beruflich tüchtigsten Arbeiter.
Vielleicht ist aber auch die Sache umgekehrt, nämlich so,
dass die beruflich tüchtigsten Arbeiter, welche überall
leicht ankommen können, an die Spitze der Fachvereine
gestellt werden, um letztere dadurch vor Massregelungen
zu schützen. Dessenungeachtet zeigt sich in dem Kampfe
gegen die Organisationen der Arbeiter doch auf vielen Ge-
bieten die Ueberlegenheit der Arbeitgeber. Wenn den-
selben auch die äussere Berechtigung zu ihrem Verhalten
nicht abgesprochen werden kann, so ist ihr Verhalten doch
unklug, weil das Bestreben der Arbeiter, sich zur Wahrung
drrer Interessen zu organisiren, nicht nur durch die Gesetz-
gebung anerkannt, sondern auch an sich durchaus berech-
tigt ist, und den allgemeinen Interessen nicht widerstreitet.
Diese Organisation hat übrigens so grosse innere Schwierig-
keiten, dass gegen sie das Verhalten der Arbeitgeber kaum
in die Wagschale fällt. Das letztere ist nur geeignet,
die Arbeiter unnöthig zu verbittern. . . . Wird den
Arbeitern die Anwendung der ihnen zustehenden
loyalen Mittel durch Massregeln wie die genannten
unmöglich gemacht, so kann dies auf die Dauer
keine guten Folgen haben, und die im Augenblicke
erzielten Eintags erfolge kommen nicht sowohl den
allgemeinen Interessen als den vorübergehenden
einseitigen Interessen der Arbeitgeber zu gut.“
ln gleich treffender Weise wird das Verhalten der
Gemeindebehörden, die es nicht für nöthig erachten, bei
dem Erlass von Statuten für die Gewerbegerichte auch an-
erkannte Vertreter der Arbeitervereinigunnen beizuziehen,
kritisirt. „Unter allen Umständen kann der Zuzug der be-
stehenden Arbeiter Vertretungen zu allen diesen Fragen
den Dingen selbst nur von Nutzen sein. Speziell bei den
Erhebungen über die soziale Lage der Fabrikarbeiter in
Mannheim und dessen nächster Umgebung wurde die Er-
fahrung gemacht, dass bei allen konkreten Erörterungen
die Arbeiter ein gutes sachliches Urtheil hatten, und
ihr Zuzug lieferte eine Anzahl werthvoller An-
regungen. — In Freiburg siegte bei der Wahl der
Arbeitervertreter zum Gewerbegericht die Liste der sozial-
demokratischen Partei, was am Anfang bei den Arbeitgebern
einen gelinden Schrecken erregte. Bald fand man es aber
doch nur für selbstverständlich, dass derjenige Theil
der Arbeiter, welcher die Interessen seines Standes
am rührigsten vertritt, auch bei den offiziellen
Wahlen von Arbeitervertretern siegt, und man fand
es auch mitunter erfreulich, dass die Arbeiter an der posi-
tiven Weiterbildung der Verhältnisse so lebhaften Antheil
nahmen.“
Der schon früher geäusserte Wunsch, das Fabrik-
inspektorat möge mit anerkannten Organen der Arbeiter-
schaft in Beziehung gesetzt werden, weil nur so eine
entsprechende Fühlung mit den Arbeitern und weiter
eine befriedigende Berichterstattung über die Entwicklung
der Arbeiterverhältnisse sich erzielen lasse, wird von
Dr. Wörishoffer neuerdings ausdrücklich wiederholt. Vor-
150
SOZIALPOLITISCHES CENTRAT. BLAtt.
No. Li.
läuiig' scheint ihm das sorgfältige Studium der Arbeiter-
zeitungen, deren Anregungen der Bericht mehrfach erwähnt,
einen gewissen Ersatz zu bieten.
Nicht selten erfolgten im Berichtjahre Herabsetzungen
der Arbeitszeit. Am weitesten ist die Druckerei der sozial-
demokratischen „Volksstimme“ in Mannheim gegangen,
welche seit 1. Oktober 1891, also noch vor dem Buch-
druckerstrike, die achtstündige Arbeitszeit eingeführt hat.
Allgemein war man von dem Erfolge der kürzeren Arbeits-
zeit und den Leistungen der Arbeiter befriedigt. „Man
hebt vielfach den Vortheil hervor, welcher in der grösseren
Frische der Arbeiter für die Produktion liege.“ Wenn
dieser Erfolg auch eiiifgermassen sich voraussehen liess, so
hat er doch in einigen Anlagen, wo der Gang der Maschinen
schon früher ein so rascher war, dass er kaum gesteigert
werden konnte, geradezu überrascht. Es zeigt sich somit,
„dass die menschliche Leistungsfähigkeit innerhalb gegebener
Grenzen einer grossen Steigerung fähig ist, wenn jede er-
schlaffende Ueberbürdung ferngehalten wird.“
Im Hinblick auf die auffallend zurückbleibende körper-
liche Entwicklung der jugendlichen Arbeiter bedauert
Wörishoffer, dass bei der Reform des Arbeiterschutzes der-
selbe für jugendliche Personen nicht bis zum vollendeten
18. Lebensjahre ausgedehnt worden ist. So könnte ihnen
wenigstens noch Schutz vor vorzeitiger Nachtarbeit ver-
schafft werden. Gegen etwaige Ausnahmen von dem Ver-
bote der Nachtarbeit weiblicher Personen wird geltend ge-
macht, dass dieselbe in der Regel nicht technischen, sondern
nur finanziellen Bedürfnissen des Unternehmers entspringe,
dass es sich meist „um eine im Interesse der Niederhaltung
der Löhne getroffene Einrichtung handele.“
Zum Schlüsse mag nicht unerwähnt bleiben, wie eifrig
die Arbeitgeber darauf bedacht sind, den Arbeitern die be-
scheidene Mitwirkung bei dem Erlasse von Arbeitsordnungen,
welchen die neue Gesetzgebung vorschreibt, zu entziehen
und so eine vom § 134 g gelassene Lücke auszunützen. Es
heisst da bekanntlich, dass Arbeitsordnungen, welche vor
dem Inkrafttreten des Gesetzes erlassen worden sind, den
Bestimmungen des § 134d nicht unterliegen, also desjenigen
Paragraphen, welcher verlangt, dass vor dem Erlasse der
Arbeitsordnung den grossjährigen Arbeitern Gelegenheit
gegeben werde, sich über den Inhalt derselben zu äussern.
„Es ist fraglich,“ schreibt der Berichterstatter, „ob die ge-
nannte gesetzliche Vorschrift beim Eintritt der Wirksamkeit
des Gesetzes vom 1. Juni 1891 häufig zur Anwendung
kommen wird, weil sich die Arbeitgeber beeilen, die
Fabrikordnung noch vorher abzuändern.“ Und
weiter: „Auch bezüglich der erst in der letzten Zeit
erlassenen Fabrikordnungen wird stets von Neuem
die Erfahrung gemacht, dass sie der Ausdruck des
einseitigsten Unternehmerinteresses sind.“
Freiburg i. B. Heinrich Herkner.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung.
Staatlicher Bau ländlicher Arbeiterwohmingen. Die
braunschweigische Regierung hat dem Landtage eine Vor-
lage gemacht, wodurch sie die Bewilligung von 780 000 Mk.
aus dem Kapitalfonds der Kammer- und Klostergüter er-
fordert, um dafür weitere Familienwohnungen für land-
wirthschaftliche Arbeiter auf den Kammer- und Kloster-
domänen zu bauen. Die Vorlage wird einerseits mit dem
Bediirfniss der Wirthschaftsführung motivirt, weil Schaffung
angemessener Wohnungen eines der einfachsten Mittel sep
die landwirthschaftlichen Arbeiter der Güter zu erhalten,
andererseits werden sozialpolitische Gründe dafür angeführt.
In schlechten Wohnungen fände der Geist der Unzufrieden-
heit leicht eine Stätte, auch müsse der Staat bei der Für-
sorge für Verbesserung der Laoe der Arbeiter nicht zuriiek-
stehen, sondern vorangehen. Er könne das um so leichter,
als die finanziellen Ergebnisse der Domänen sehr günstig
sind. Die Erträge der Kammergüter haben sich in den
letzten 20 Jahren verdoppelt.
W ohiiungszustämle in Bamberg. Auf Anordnung der
Gesundheitspolizei wurden Erhebungen über die Arbeiter-
wohnverhältnisse in Bamberg, der schön gelegenen baye-
rischen Bischofsstadt am Main, angestellt. Dieselben hatten
folgendes Ergebniss. In 779 Quartieren wohnen 2 915 Per-
sonen, darunter 1 054 Kinder im Alter von unter 14 Jahren.
Souterrainwohnungen giebt es im Ganzen nur 5, die meisten
Arbeiter wohnen zu ebener Erde. In 5 Fällen werden
Wohnungen benützt, in denen sich keine Heizvorrichtung
befindet. In 385 Fällen werden 2 Zimmer, in 333 Fällen
I Zimmer von einer Familie bewohnt.
Wohnungszustämle in Warschau. Nach einer im
Frühjahr 1891 vorgenommenen amtlichen Erhebung wohnen
dort 20 °/M der Gesammtbevölkerung in Mansarden und
Kellern. Die letzteren sind überaus elend, 2 °/0 derselben
haben gar keine Fenster und 4"/() trotz des strengen Win-
ters keine Oefen. Die Zahl der Keller betrug 5 623, die
im Ganzen 6 993 Zimmer enthalten; die meisten Kellerräume
bestehen also aus einem Zimmer. Die Einwohnerzahl der-
selben beträgt 28 175 Personen, also 4,3 Personen auf jedes
Zimmer. Davon sind über 10 000 Kinder jünger als 15 Jahre.
Auf jeden Bewohner solcher Keller kommen 8 — 10, 8 Kubik-
meter Luft (die normale Quantität soll 25 Kubikmeter be-
tragen). Licht fehlt überall und in 70 Kellern sind über-
haupt gar keine Fenster, sondern blos Löcher in der Thür
und doch muss man unter solchen Verhältnissen arbeiten,
da 912 solcher Souterrains Werkstätten und 195 verschiedene
Verkaufsläden enthalten. Die Feuchtigkeit solcher „Woh-
nungen“ kann man sich vorstellen, wenn man in Betracht
zieht, dass bei den Ueberschwemmungen der Weichsel
17 Strassen mit Souterrainwohnungen vom Wasser über-
schwemmt werden. Der Miethspreis ist von enormer Höhe,
! das Zimmer kommt auf 96 — 136 (Mittel 121,4 ) Mark jährlich
zu stehen. Kein Wunder, dass die Sterblichkeit eine sehr
grosse ist. 1886 starben in Warschau von je 1 000 Personen <
der besitzenden Klassen 18, der Arbeiter 40, der Taglöhner 57. <
Litteratur.
Hampke, Pr. Thilo, Der Befähigungsnachweis im Handwerk. ;
Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhand- J
langen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. S.
Herausgegeben von Dr. Joh. Conrad. VIII. Band. 1. Heft. '
Jena. G. Fischer. 1892. 8« und 192 S.
Die vorliegende Schrift ist von aktueller Bedeutung. Der
Läge des Handwerkerstandes und ihren Ursachen sind sechs
Kapitel gewidmet, diese erschöpfen aber die Frage nicht, da der
Verfasser unterlassen hat, das vorhandene Material vollständigzu
verarbeiten, er berücksichtigte die Rechtsprechung der Gewerbe-
gerichte gar nicht, behandelt das gewerbe-statistische Material
viel zu wenig eingehend, endlich scheint er aus dem Verkehre
mit Handwerkern wenig gelernt zu haben, sonst hätte er die Kon-
kurrenz der Grossindustrie mit zahlreicheren und lehrreicheren
Beispielen belegen können. Aus diesen Mängeln der Vorarbeiten
lässt sich sein, wenn auch eingeschränkter Optimismus bei Be-
urtheilung der Lebensfähigkeit der handwerksmässigen Betriebs-
form erklären.
Drei Kapitel widmet der Verfasser der auf die Einführung
des Befähigungsnachweises gerichteten deutschen Handwerker-
bewegung. Dieser Abschnitt des Buches bietet viel Lehrreiches,
indessen ist zu bedauern, dass die Ursachen, weshalb ein grosser
Theil der Handwerker von der Innungsbewegung sich fernhält,
nicht erörtert wurden Die dritte Abtheilung des Buches ist
speziell der Frage des Befähigungsnachweises gewidmet, sie
enthält den werth vollsten, fleissigsten und meist durchdachten
Theil der Arbeit. Dass der Verfasser im Schlusskapitel seiner
Arbeit mit den Kleinkraftmaschinen die Handwerker auf eine
bessere Zukunft vertrösten zu können glaubt, spricht mehr für
seinen Optimismus, als für gründliche Abwägung der für und
gegen diese Auffassung sprechenden Gründe. Trotz der Mängel
der Schrift wird sie so manches Vorurtheil aus der Welt schaffen.
Die typographische Ausstattung verdient, abgesehen von der
ausserordentlichen Zahl von Druckfehlern, welche auf die Her-
stellung während des Buchdruckerstrikes zurückzuführen sein
dürfte, alles Lob.
\ £ nult wörtlich liii die Redaktion: Df. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von II. .5. Hermann in Berlin,
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT
Berlin, den 14. März 1892.
Kür den Anzeigentheil sind die Redaktion und die Verlagsbuchhandlung nicht verantwortlich. Anzeigen-Annahmestelle nur bei
Dr. Otto Eysler, Berlin SW., Charlottenstrasse 11. Preis für die 3spaltige Colonelzeile 40 Pf.
©rrlag otm Bmuhrr & Bumblof in Ueipfig.
fTfrirffcm ÄrhmnlTm* 3ur bcutfdjim öuctal- itnti (i'u'nu'vhrnnlitilt ber
vtplXfXyiU <vUIllU)Uvt , ©egettitrarf. Sieben unb ytnffnite 1890. ©retS 9 SB?.
TTirrn l&renfcmn Melier bir lirfa dpm dev fjmttigni l'orialcu Bntlj. (Sin
.AH-IJU J&K vilXcltHJ^ «Beitrag 3111' 3)torV>l)olitgie ber ©tübomrtl|||l)aft. 1 1111b 2. 2litf=
läge. 1889. ©reiS 1 SOi.
Staats- unb Juc ialui t pfen Fefraf Ui dj e Beiträge, [|e™?
91. n Sütin^foiuäfi. 23 n li b T, 1. unb 2 «pft. 1892 ©reiei 9,60 99i.
I. 1. Bur Jraae bcr Braanifation bes lanbiuirttjldiat tltrijen Krebifs in Brutfrfi-
laitb mtb Belierreidi. ©011 äß. ©d)iff. ©reid 3,60 Ulf.
I, 2. Bir (Einttmnmenlteuer in Belterreirii unb iljre Reform. 2?on (£. n. giirtl).
©reid 6 5)i.
TPlffn Baittri (Bir aenievtilidie Hustiübung der lolinartieitenben Mäbtfpm.
Hslkkt ac\CI 11 ip ^ ©in Beitrag 311V beruflicljeu (gQiefjinig beo uieildid)en ©efcfjleditei. 1892.
©reis? 40 ©fg.
Iriti Kalte, ID irf ftfdf aff ti dje Xelireit. 6. Auflage, ©reis 80 Sßfg.
®erl;arf it. f> dj u h e - (!äa e uetntls , 2)ar[telüuig ber [ 03 i a t p 0 i i t i t ct) e 1 1
(Svjiefjmtg be«3 euglifdjen ©olfed im ueunjelpiten 3af)rt)unbev1. 3>rei Sättbe. 1890.
23reiö 9)3 18-
3. Qbuttentag, Berlagsbinlifjaitblumi in Berlin.
(Ühtffbuta^’plic Sammlung
Bv. 2. Biutf |t1j,pr Kctdfiuu'fi't i'- Bv. 2.
lertQIusgaben mit Ültimerfungeii.
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9iebft beit gebräuclflicfifteit 9üeid)6 = (©trafgefeiseit:
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® a i d) e n f o r m a t , r a r f n n n i r t.
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■fterber’fd)e ftkrlngelmnblmtfl, gfrdbimi int ©rei<8gau.
Soeben ift erf d)ienen mtb burrf) alle ©ndjtjanblungen 31t besiegen:
Qlatfjrein, ©., S. J., Ber ^ncialismus.
©ine llntcrfitcfniitg feiner ©rmtblagen mtb feiner ®nrd)fut)rborfeit.
Jiinfte, mit Bcnhüftd)tignntt bes tErfnrter ]3rogramma bebnttenb nermelirle Kujtage.
(9leimted unb aetjnted Saufenb.) 8". (XVI u. 198 ©•) 9)i. 1.60.
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93anb I mtb 11.
®eöiditr imii flrriiiljliiiuirii
in
Sfiiiriitger ätfunbort.
i^reiö, Ifodfeiegnnt gebuiiben,
ä «b. $m 3,-.
©orrätffg in alten Sudjljaitblimgeii.
©erlag tum
Eduard Moos
in (Evfuvf.
In nnserm Verlag erschien:
Quesnay, Fr.,
Oeuvres economiques et philosophiques, ac-
comp. des bloges et d’autres travaux biog-r. sur
Quesnay, publ. avec introd. et notes par
A. Oncken.
Pranklurt a Main 1888.
Preis Rmk. ao.-.
Em stattlicher Band in Imp. 8°. Das Werk
ist von der Fachpresse geloht und auf das Ein-
gehendste besprochen worden, u. A. schrieb die
„Revue d’Economie“:
„Quesnay est considere comme le chef de l’ecole
pbysiocratique, et cependant ses ecrits sont ä
peu pres inconiuis: ils n’ont jamais 6td l’objet
dune etude monographique; et avant cette ann6e
une seule Edition fort incomirlfete en avait 6te
publice dans la Collection des principaux 6cono-
mistes, avec une preface de M. Daire (1846). M
Oncken a voulu combler c e 1 1 e lacunede notre
^ 1 I ^.r m t u v e öconomique; i L nous donne une
edition complete et savante des oeuvres
economiques et philosophiques de F. Quesnay.
Le public franyais doit lui en gtre particulifere-
ment, reconnaissant . . .“
Joseph Baer &. Co.
Buchhändler und Antiquare.
Frau kirnt a. Main.
fui Hanti
PndpltijL'ift }\\i flröfrung mm fneiilirijm
»iunalrcfuvm.
©rgan br» Brutfitji'u Bnnbrs für Bobrit-
brftfiU'Qirm.
®rfd)eint jeben 'JWoutao.
2t b n n n e nt e n t § b e b i n g u u g e n :
©ei alten ©oftanftalten pltv. 2272
bet ©u^eitimgötifte) .... 2)if. o,80
©ei bireltev Ävveuabanbfeiibung :
in Beutfd)tanb uttb Oefterreidj . „ 1,20
im 2Bettpoftüemn .... „ 1,50
Sit ©erlitt bei freier 31Ifeubuitg . . „
Bir (ExpBbiftmi
K. tu* ries, l5fallld|vt'Uu'v|tv. 55.
Ul. Berit TdjP Beridgslmri)I)cnibhtng (Iftghar Berk) in TJlimrijen.
Sn nuferem Verlage iit erfdjieuen:
l&rflltlfftPxS:*** CliitiiHiätrdH'v U^rrdmlitaltalcittH'r. 9teuc Solge. Siebenter
^UjlUU|tz>Z> Satjrgang. 1891. (©er galten Sieilje XXXII. 93aub.) £erand»
gegeben Hon J^an* ©elbrütf, a. o. SJ3rofeff or an bev Untoerfität iöertin nnb 93fitglieb beö
IKeidjcdagd. 22 33ogen. ©ekeltet 8 501!.
Üaiit I XXXI (1860-1890 non 2dmlHiei:=3veUulurfe- (8efd)id)t«f«lenScv rotvt* l'io auf weiterem
SU tcin ermäßigten greife non 80 9.W. iic liefert.
ferner:
l»r. ID. Zeller,
größt). t)cff. SRegierimgäral:
Jmiatiftitäts- ntth BltgraBetdtdimtng&inrich dm»
22. Hunt 1889. Bmeite oollftänbig umgearbeitete
2lnl)ang,
91 nf läge mit einem Stnliang, bie
mad)u itgen beö 33unbeöratd entfjaltenb. Äart. l 93f. 80 5ßf.
aSoüiugäbefannt =
Daa HvlH'itcvlriinlnu'Vcli ffir bad beutfdje ,9teid) bom 1. Suni 1691 (9looelle
ju £it. YII ber ©eroerbeorbnung). Sejtanägabe mit Einleitung, erläuternben Slnnierfnngen
nnb fJiegifter. 8Vs Sog. fiart. 1 93?. 20 Sf-
® erlag non Qüeorg Krimer in Berlin,
bittd) alle 'öndjbanblnngen 31t besieljen:
£)a§
Urntiß X\m ©rauma
non
(Bmviie Bitruij.
Stutorifirte Ueberfeiping and bem granaofifctjeii
non
Dr. grifj 5Bifd)öff.
rfireiö 50t. 1,60, gebunben 50t. 2,20.
IDacno’a (Eruciffoe.
9t 0 ü e II e
non
J. Bknott Qlraiuförb.
Stntorifirte Ueberfetmng aus bem Englifd^en
non
©tierefe topfiter.
Sßveid 5Dt. 1,60, gebunben 50t. 2,20.
3. (gnttfentag, ©rrlagsbmhkanbluitg in Berlin.
Keirijs - ©L’fui’rfnt- Brtmniui
n c b ft 2( itafit I) r it it g § b c ft i 11t nt tt tt g c it .
Bmu'ltc -Fällung bes (i'ibfcijes.
©ir* Sfaaci
(Sine @r3Öl)Inng ans bem heutigen Sitbien
non
y. Blavton (Eramforb.
Stntorifirte Ueberfelmng ans bem (Sngtifdjen
non
2d)crcfe Spopfncr.
tßreid 93?. 1,60, gebunben 93t. 2,20
% e j t = s2l 11 § g n b e mit ill n nt e r f it tt g e 11 11 tt b 6 a d) regt ft e r
n. it
<L. pi|. Bmu'v,
^uHfievniuf ' vatlj.
Elfte Slnftiige.
SafriiEnt'ormat; ravt. 1 11! k. 25 Pf.
©erlag nun 3. C. B. Ifioftr in i'rrilmrg i. B.
Soeben erfdjieu:
ö v t c v b 11 cb
beä
f ciitfriji'u ^numltimgsri'djts.
Sn äJevbiubung mit nieten 5ßraftiferit nnb ©eieljrten
1) c v a 11 •> it c if c h c it
0011
Dr. ft. tum Stengel.
(grfter ®ant> fetter «anb
21— ft 8—8
sJDi . 19.—, i]cb. 9)f. ‘21.40. 9)1. 22—, i]cb. 9Jf. 24,40.
Aus dem Gel)iete der Socialgesetzgel) u ni; ent
luilt das Wörterbuch folgende Artikel:
Arbeiter (gewerbliche), Reichsversicherungsamt.
Bergarbeiter. Unfallversicherung.
Fabrikaufsichtsbeamte.
Fabrikgesetzgebung.
Gesindepolizei. Armen recht.
Invaliditäts- und Altersver- Armenverwaltung.
Sicherung. Notstandsgesetzgebung.
Knappschaftsvereine. Sparkassen.
Krankenversicherung. Teue ungspolizei.
Landesversicherungsamicr. Unterstütz ungs' wohn sitz.
(frftcr (frgänjungdbniib ei-fdjeint im Souuar 1892.
H. (I. BclhcnlirBd)cr'ö
Cafitieiibiidi für fUiifltutt.
20. Stuft. I. Slbtf).
9J?ünj=, 23Jaaf?= nnb @etthd)t§hinbe, SBedifeb,
©elb= unb ^onbScurfc.
— ißveid gebunben 93t. 9. —
Im Verlage von Robert Oppenheim
(Gust. Schmidt) in Berlin S.W. 46 sind
erschienen :
■•«st, J.. Prof. Dr., Musterstätten
persönlicher Fürsorge von Arbeit-
gebern für ihre Geschäftsange- '
hörigen. Bd. I. Die Kinder und
jugendlichen Arbeiter, gr. 8U. XII
u. 380 S. mit 44 Abbildungen. 1889. '
geh. M. 10. — , geb. Mb 11.50.
Patriarchalische Beziehungen in
der Grossindustrie. Fünf Briefe an
einen Arbeitgeber. (Sonderabdruck
aus „Musterstätten“ Bd. I.) gr. 8". IV
u. 86 S. 1889. geh. M. 1.50.
May, M., Zehn Arbeiter-Budgets,
deren sieben nur mit Zuschüssen des
Arbeitgebers balancieren. Ein Bei-
trag zur Frage der Arbeiterwohl-
fahrtseinrichtungen. 36 S. in gr. 8°.
gell. M. — .60.
Schneller, W., Prof. Dr., Die Un-
vereinbarkeit des sozialistischen
Zukunftstaates mit der mensch-
lichen Natur. 6. Aufl. 80 S. in gr.8°.
geh. M 1. — .
Verlag hon (f. fi. ,$irfd)felb in ^eipjtg.
Buriate 5vaium
tun* fUtctljunbni Jaljmt
(an Essay on Pro.jectsl
non
Daniel Defoe
1697.
UcbrrielU non .ö u g o y i j d) c r.
Prrts 1». 2.40.
Verantwortlich für den Anzeigentheil : Dr. Otto Kysler in Berlin.
Druck von II. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 21. März 1892.
Nummer 12.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltent
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHAL T.
Die Organ isationsbestrebun- |
gen der Gewerkschaften
auf dem Halberstädter
Kongress. Von Dr. \dolf
Braun.
Soziale Wirthschaftspolitik:
Das schweizerische Ausw anderungs-
gesetz. Von Kantonsstatistiker
E. N a e f.
Der Entwurf eines Heimstättenge-
setzes für das Deutsche Reich.
Das Höferecht in Tirol.
Arbeiterzustände :
Statistik der Arbeitslosigkeit in
England.
Löhne und Lebenshaltung der (un-
gelernten) Bauarbeiter Harburgs.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Die französischen Arbeitergewerk-
schaften. Von Leo Frankel.
Rechenschaftsbericht der General-
kommission der deutschen Ge-
werkschaften.
Der Gewerkschaftskongress zu Hal-
berstadt.
Die Kommis der Gemischtwaaren-
händler von Paris.
Handwerkerfragen :
Eine Statistik wandernder Hand-
werksgehilfen.
Verpflegung und Wohnung der
Lehrlinge im Hause des Meisters.
Untern ehmerverbände:
Verein deutscher Juteindustrieller.
Kartell der bayerischen Spiegel-
glasfabriken.
Westfälisches Koks-Syndikat.
Vereinigung niederrheinischer Stoff-
druckereien.
Einschränkung der schottischen
Tuteindustrie.
Arbeiterversicherung:
Amtliche Berichte Uber die Unfall-
versicherung in den Jahren 1890
und 1891. Von Dr. M Quarck.
Die Krankenversicherung der Ar-
beiter im Jahre 1890.
Gewerbegerichte :
Ein neues Prud’hommes-Gesetz in
Frankreich.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Organisationsbestrebungen der Gewerk-
schaften auf dem Halberstädter Kongress.
Der Halberstädter Gewerkschaftkongress war der erste
allgemeine Gewerkschaftskongress im Deutschen Reiche
und als solcher ein sozialpolitisches Ereigniss. Wenn wir
von den Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereinen absehen,
waren alle Richtungen der gewerkschaftlich organisirten
deutschen Arbeiter auf demselben vertreten. Seine Verhand-
lungen sind deshalb für die deutsche Arbeiterbewegung
und deren Beurtheilung von grosser Bedeutung.
Im Mittelpunkt des Kongresses stand die Frage der
Organisation der Gewerkschaften. In Bezug auf diese
Hessen sich drei Hauptgruppen unterscheiden, die wir
kurz als Vertreter der Unionen, der Industrieverbände und
der Lokalorganisationen mit Vertrauensmännercentralisation
bezeichnen wollen. Jede dieser Gruppen hält die Centrali-
sation der gewerkschaftlichen Organisation für nothwendig,
indess macht sich keine derselben Hoffnung, ihr Prinzip in
nächster Zeit von allen gewerkschaftlichen Organisationen
angenommen zu sehen. Die Hauptursache für die Ver-
schiedenheit in der Auffassung über die zweckentsprechendste
Organisationsform scheint uns in dem Umstande zu liegen,
dass den deutschen Gewerkschaften eine Geschichte und
Tradition fehlt, und dass sie noch immer tastend und experi-
mentirend vorgehen müssen, weil der gesetzliche Boden,
auf dem sie ruhen, kein fester, sondern ein in hohem Grade
schwankender und unsicherer ist. (Vergl. unsere Aus-
führungen über die Lage der deutschen Gewerkschaften
in No. 11 dieser Zeitschrift.) Zum Theil spielt, ähnlich wie
nunmehr auch in England, eine Differenz in der Auffassung
der Aufgaben der Gewerkschaften mit. Während die Einen
die Gewerkschaften fast ausschliesslich als politische Kampf-
organisationen ansehen, legen die anderen das Hauptgewicht
auf die eigentlichen gewerkschaftlichen Aufgaben; den
ersteren erscheinen die Gewerkschaften als überflüssig, wenn
innerhalb derselben nicht öffentliche und politische Ange-
legenheiten behandelt werden können, während die anderen
für ihre politischen Anschauungen nur ausserhalb der Ge-
werkschaften in öffentlichen Versammlungen der Berufs-
genossen, in politischen Vereinen und Volksversammlungen
eintreten wollen. Dabei ist es auffallend, dass diejenigen
Gewerkschaften, welche die Nothwendigkeit politischer
Bethätigung innerhalb der Gewerkschaften verfechten, am
meisten die bestehenden gesetzlichen Grundlagen berück-
sichtigen und mit grossem Geschick es verstanden haben,
allen Schwierigkeiten, welche die deutschen Vereinsgesetze
der Gewerkschaftsbewegung bereiten, aus dem Wege zu
gehen.
Die Organisationsform einer Centralisation durch
Vertrauensleute mit Lokalorganisationen ist mit
Rücksicht auf die Vereinsgesetzgebung Preussens, Bayerns,
Sachsens, Braunschweigs, Anhalts, Reuss j. L. und Lübecks
geschaffen worden. Früher war diese Organisationsform
verbreiteter als gegenwärtig, jetzt bedienen sich der-
selben vor Allem die Töpfer und Stukkateure. Wir theilen
hier das Wesentliche über diese ausserhalb der Arbeiter-
klasse sehr wenig bekannte Form mit.* 1) Die erste und
höchste Instanz ist der von keinem Vereine einzuberufende
Kongress mit Delegirten, die in öffentlichen, nie in
Vereinsversammlungen gewählt werden. Dieser setzt
einen Centralvorstand zum Zwecke der Geschäftsleitung
ein, sammelt und verwaltet einen Generalfonds zur Strike-
unterstützung und Agitation, regelt die Strikeangelegenheiten,
') Ein Musterstatut für diese Organisationsform findet sich
in der „Anleitung zur Benutzung des Vereins- und Versammlungs-
rechts“ (Bibliothek der Arbeiter in der Thonwaarenmdustne und
den verwandten Berufszweigen. Herausgjegeben vom General-
i Ausschuss der Töpfer Deutschlands. III. Heft\ Halle a.'S..
Ferd. Kaulich, S. 32 u. ff.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT. Nu. 12.
vertheilt die Unterstützung, kann statistische Aufnahmen
veranlassen etc.; er unterlässt Verhandlungen politischer An-
gelegenheiten, kann daher mit Centralkommissionen anderer
Gewerkschaften in Verbindung treten, ohne mit dem Ver-
einsgesetze in Konflikt zu kommen; falls er aber Petitionen
an die Regierung, den Reichstag oder Behörden richtet,
muss er wegen der Auslegung des § 8a des preussischen
Vereinsgesetzes und ähnlicher Bestimmungen anderer
deutscher Vereinsgesetze durch die Gerichte die Verbin-
dung mit anderen Centralkommissionen vermeiden. Die
Grundlage dieser Organisation bilden die von öffentlichen
Versammlungen der Gewerksgenossen einzelner Orte ge-
wählten Vertrauensmänner, je einer, höchstens zwei an
einem Orte. Diese Vertrauensmänner haben die Aufgabe,
mit dem Centralvorstande in Verbindung zu stehen, sie be-
richten ihm über die Vorkommnisse im Orte, sorgen hin-
gegen wieder für Bekanntmachungen der Anordnungen
und Erlasse des Centralvorstandes und für die Durch-
führung derselben. Sie sammeln und verwalten einen
Generalfonds am Orte, berufen öffentliche Versammlungen
der von ihnen vertretenen Arbeiter ein und haben die
Interessen derselben nach allen Richtungen zu vertreten.
Den Vertrauensmännern stehen häufig Lohnkommissionen
zur Seite, die in ihren Sitzungen die Behandlung politischer
Angelegenheiten zu vermeiden haben; ihre Aufgabe ist die,
den Vertrauensmann zu unterstützen und seine Amtsführung
zu beaufsichtigen. Auch die Lohnkommission ist ohne jeden
Zusammenhang mit einem Vereine in öffentlicher Versamm-
lung zu wählen, dasselbe gilt von den Revisoren, deren Auf-
gabe es ist, die Kassengebahr ung des Vertrauensmannes zu
beaufsichtigen und über die vorgenommenen Revisionen in
öffentlichen Versammlungen Bericht zu erstatten. Neben
diesen Vereinen bestehen lokale Fachveine oder Gewerk-
schaften, die, ohne mit den Behörden in Konflikt kommen zu
müssen, auch Angelegenheiten politischer Natur behandeln
können. In denselben kann der Vertrauensmann Mitglied
sein, dagegen soll er Aernter in denselben nicht annehmen.
Die den Vertrauensmännern zur Verfügung gestellten
Gelder, welche meist zum Theil an den Centralvorstand
abgegeben werden, werden in der Regel durch sogenannte
Sammelbons oder durch Sammellisten aufgebracht.
Der hier vorgeführte Organisationsplan wurde von
einer schwachen Minorität am Gewerkschaftskongresse ver-
treten; dieselbe schlug eine Resolution vor, in der sie das
Prinzip des Klassenkampfes scharf betonte, und ferner er-
klärte, dass die Centralorganisation in den vereinsgesetz-
lichen Bestimmungen einen grossen Hemmschuh finde und
deshalb eine Organisation geschaffen werden müsse, die den
bestehenden Vereinsgesetzen keine Handhabe biete. Diese
Form sei die Centralisation mit Vertrauensmännern. Die
Antragssteller wussten, dass der Kongress den von ihnen
vertretenen Organisationsplan nicht adoptiren werde und
schlossen deshalb ihre Resolution mit dem Satze:
„Wir erwarten von dem Kongresse, dass er jede Form
der Arbeiterorganisation als zu Recht bestehend anerkennt
und in keiner Weise eine Diktatur auszuüben sucht.“
Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass
ein Kongress, der zur Herbeiführung einer straffen cen-
tralistischen Organisation einberufen wurde, auf der sämmt-
liche grossen centralisirten Gewerkschaften vertreten waren,
den Vorschlag einer Centralisation mit Vertrauensleuten ent-
schieden bekämpfte. Es wurde u. A. eingewendet, dass die
Vertrauensmännerorganisation keine nennenswerthen Leis-
tungen aufzuweisen habe, und man selbst in Sachsen, trotz
der durch die Gesetzgebung den Arbeitern aufgedrängten
Vertrauensmännersysteme eine straffere Organisation an-
strebe, dass in vielen Bundesstaaten die Politik treibenden
Lokalorganisationen Frauen, Minderjährige und Ausländer
nicht aufnehmen können, die Vertrauensmännerbewegung
einen autoritativen Charakter habe und endlich nicht einmal
ein Kongress, wie der Halberstädter, bei Lokalorganisation
möglich gewesen wäre.
Die überwiegende Majorität konnte sich von den
Gründen der Vertreter des Vertrauensmännersystems nicht
überzeugen lassen, andererseits war sie selbst aber nicht
einig über die zu wählende Organisationsform. Zwei Haupt-
richtungen, die unter sich in manchen Punkten differirten,
standen sich in der Majorität des Kongresses gegenüber: die
Vertreter der Unionen und die der Industrieverbände..
Ueber diese beiden Organisationsformen haben sich
in dieser Zeitschrift1) Verfechter derselben eingehend ge- i
äussert, sodass wir dieselben nur kurz zu berühren brauchen.
Dagegen ist ein näheres Eingehen auf die von der General-
kommission der deutschen Gewerkschaften vorgeschlagene |
Organisationsform erforderlich, weil der ursprüngliche Vor-
schlag derselben zurückgezogen und durch einen weniger
weitgehenden ersetzt wurde, dessen Grundzüge in Folgen-
dem bestehen.
Die Verbindung der Centralvereine der verwandten Berufs-
zweige unter einheitlicher Leitung zu Gruppenorganisationen
wird nunmehr nur denjenigen Gewerben empfohlen, in deren
Organisationen dieselbe praktisch durchführbar ist, während den
übrigen Gewerkschaften blos der Rath ertheilt wird, diese Or-
ganisationsform vorzubereiten Vorerst mögen sich die Organi-
sationen der nächstverwandten Gewerbe durch Kartellverträge
verbinden. Diese Verträge wären dahin abzuschliessen , dass
die verwandten Berufe
1. bei Streiks und Aussperrungen gemeinsame Beschlüsse ,
fassen uud sich finanziell unterstützen:
2. ihre auf der Reise befindlichen Mitglieder gegenseitig ,
unterstützen;
,'i. die Agitation möglichst gleichmässig und auf gemein- .
schädliche Kosten betreiben ;
4. statistische Erhebungen gemeinsam veranstalten;
5. Herberge und Arbeitsnachweise zentralisiren, sowie
b. das Presswesen regeln.
Da angesichts des gegenwärtigen Standes der wirthschaft-
lichen Entwickelung, bei Errichtung von Industrieverbänden die
Heranziehung der den Organisationen noch indifferent gegenüber- ;
stehenden Arbeitermassen voraussichtlich sehr erschwert wird, ;
diese v, elmehr bei Organisationen in Berufsverbänden in un- ,
gleich höherem Masse zu erwarten steht, könne die Bildung !
von Industrieverbänden gegenwärtig nicht allgemein empfohlen
werden.
Als Grundlage der Organisation werden die in Verbänden
zentralisirten Berufsorganisationen betrachtet und sämmtlichen
Arbeitern empfohlen, sich den bestehenden Centralisationen an-
zuschliessen resp. solche zu bilden in Gewerken, welche bisher
lokal organisirt, oder durch ein Vertrauensmännersystem ver-
bunden waren.
Jeder dieser Centralvereine (Verbände) habe in allen Orten,
wo eine genügende Anzahl Berufsgenossen vorhanden und keine
gesetzlichen Hindernisse im Wege stehen, Zahlstellen zu er-
richten. Wo solche Hindernisse bestehen, sei den Arbeitern zu
empfehlen, als Einzelmitglieder den Centralvereinen beizutreten
und sich durch gewählte Vertrauensmänner eine stete Vertretung
und Verbindung mit der Gesammtorganisation zu schaffen.
Dieses Vertrauensmänner-System ist so zu gestalten, dass es
gleichzeitig eine V ertretung der Gesammtheit der Berufsgenossen !
an den Orten bildet, wo für die Centralvereine als solche |
Schwierigkeiten bestehen.
Ausserdem können an solchen Orten lokale Vereine j
eventuell in Verbindung mit verwandten Berufszweigen ge-
schaffen werden.
Die Verbindung der einzelnen Centralisationen zum ge-
meinsamen Handeln in Fällen, bei welchen Alle gleichmässig
interessirt sind, soll durch eine auf dem jeweilig stattfindenden
Gewerkschaftskongress zu erwählende Generalkommission her-
beigeführt werden.
Die Aufgaben dieser Generalkommission werden nunmehr
in folgender Weise umschrieben:
*) Das Programm des deutschen Gewerkschaftskongresses
von C. Legien im Sozialpol. Centralblatt, No. 5, S. 65 fg. und Zum
Programm des deutschen Gewerkschaftskongresses von M. Segitz.
ebendaselbst. No. 7, S. 92.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
153
1 No. 12.
die Betreibung der Agitation in denjenigen Gegenden,
Industrien und Berufen, deren Arbeiter noch nicht
organisirt sind;
die von den einzelnen Centralvereinen aufgenommenen
Statistiken zu einer einheitlichen für die gesammte
Arbeiterschaft zu gestalten und eventuell zusammen-
zustellen ;
statistische Aufzeichnungen über sämmtliche Strikes zu
führen und periodisch zu veröffentlichen;
ein Blatt herauszugeben, welches die Verbindung sämmt-
licher Gewerkschaften mit zu unterhalten, die nöthigen
Bekanntmachungen zu veröffentlichen und soweit ge-
boten, deren rechtzeitige Bekanntmachung in der Tages-
presse herbeizuführen hat, und
in geeigneten Fällen und unter Zustimmung der Mehr-
heit der Centralvereinsvorstände aus dem vorhandenen
Fonds Darlehen an einzelne Gewerkschaften zur ITnter-
stützung von Strikes zu gewähren.
Die einzelnen Central vereine sollen pro Mitglied und
Quartal 10 Pf. an die Generalkommission zahlen.
Aus diesen Beträgen wären zunächst die Kosten für die
Verwaltung und Agitation zu decken. Der Rest soll zur An-
sammlung der unter Zitier 5 genannten Fonds benutzt, Dar-
lehen aus diesen Fonds erst dann gegeben werden, wenn der-
selbe die Höhe von 100 000 M. erreicht hat. Der Fonds soll auf
dieser Höhe erhalten werden.
Diejenigen Gewerkschaften, welche ihren Verpflichtungen
gegenüber der Generalkommission bezw. die Zahlung der Bei-
träge nicht leisten, sollen keinerlei Anspruch auf moralische
oder pekuniäre Unterstützung haben und Sitz und Stimme auf
den von der Generalkommission einberufenen allgemeinen Ge-
werkschaftskongressen verlieren.
Ueber Beginn, Weiterentwicklung, Beendigung und Erfolg
von Strikes ist der Generalkommission regelmässig Bericht zu
erstatten — desgleichen müssen derselben die von den einzelnen
Gewerkschaften aufgenommenen statistischen Erhebungen zur
Verfügung gestellt werden.
Endlich wird den Gewerkschaften empfohlen zum Zweck
wirksamer Agitation und Ansammlung von Fonds die Beiträge
entsprechend zu erhöhen.
3.
Legien, der diesen Organisationsplan in erster Linie
vertrat, führte zu seiner Unterstützung im wesentlichen Fol-
gendes aus. Die Centralorganisationen sollen nur Fach- nicht
Parteipolitik treiben. Heute können Industrieverbände noch
nicht allgemein gegründet werden, man müsse sich deshalb
wie in England vorerst noch mit der Centralisation der
Branchen begnügen. Ein Industrieverband beispielsweise
der Holzbearbeitungsgewerbe sei schon wegen der Ver-
schiedenheit der Mitgliederbeiträge in den einzelnen
Branchenorganisationen und wegen der entsprechend ver-
schiedenen Leistungen derselben an die Mitglieder unmög-
lich. Diese Verschiedenheiten können nicht mit einem
Schlage ausgeglichen werden. Als Vortheile der Unionen
führte Legien an, dass die Agitation einheitlich und da-
mit sparsamer betrieben werden, die Unterstützung von
Strikes durch die Fonds der Unionen stattfinden, die
Aufnahme der Statistik in ein einheitliches System ge-
bracht werden könnte bei Verminderung der Kosten und
bei besserer Verwerthung der Erhebung der Statistik.
Endlich könnte auch die Organisation der Presse eine
zweckentsprechendere Gestalt erhalten.
Die Organisationsform der Industrie verbände ver-
focht Segitz. Er vertrat, zwei Resolutionen der Gewerk-
schaften Nürnbergs und Fürths und die seitens des
Vorstandes und Ausschusses des Metallarbeiterverbandes
vorgeschlagene Resolution. In diesen Resolutionen wird
die Gründung einer Generalkasse nach dem Muster der
schweizerischen Arbeiterreservekasse empfohlen, zu der
alle betheiligten Gewerkschaften, ohne dass ein Zwang
.stattfinde, einen bestimmten nach der Kopfzahl berech-
neten Beitrag zahlen sollen. Aus dieser Kasse sollen
bei aussergewöhnlichen Lohnkämpfen Unterstützungen und
unverzinsliche Darlehen bewilligt werden. Die Kasse
soll einem Verwaltungsrath unterstehen, der aus je einem
Mitgliede der betheiligten Gewerkschaften und einem
besoldeten Generalkassirer und einem fünfgliedrigen
Exekutivausschuss bestehen soll. Weder Generalkassirer
noch die Mitglieder des Exekutivausschusses sollen eine
leitende Stelle in einer Gewerkschaft bekleiden dürfen, da-
mit verhindert werde, dass sie eine oder andere Gewerk-
schaft bevorzugen. Ausserdem wird die von den meisten
Metallarbeiterbranchen adoptirte Centralvereinigung von
Industriegruppen für die Arbeiter der Grossindustrie
empfohlen. Eine örtliche Gliederung in Sektionen nach
Berufen soll möglich bleiben. Die Regelung der Wander-
unterstützung, des Herbergswesens und der Agitation soll
jeder Organisation selbst überlassen bleiben. Zur gegen-
seitigen Verständigung über Fragen, welche alle Gewerk-
schaften ohne Unterschied des Berufes interessiren, sollen
die Vorstände der verschiedenen Gewerkschaften in ge-
eigneten Zwischenräumen zur Berathung zusammen treten.
Alle drei Jahre, in gewissen Fällen auch früher, sollen zu
gleichem Zwecke allgemeine Gewerkschaftskongresse abge-
halten werden. Den bestehenden Organisationen soll bis
zum I. April 1894 Zeit gelassen werden, sich nach diesen
Vorschlägen zu organisiren.
Als Vorzüge dieser Vorschläge hob Segitz die Ein-
fachheit und leichte Beweglichkeit dieser Organisationsform
hervor, und dass sie allein sämmtlichen Arbeitern einer
Fabrik Einheitlichkeit und Planmässigkeit des Vorgehens
ermöglichen. Die praktische sofortige Durchführung der-
selben fordert er nicht, er begnügt sich vorläufig mit der
Anerkennung ihrer theoretischen Richtigkeit. Von anderer
Seite wird für die von Segitz vertretenen Grundsätze noch
ins Feld geführt, dass der nach diesem Muster zusammen-
gesetzte Metallarbeiterverband dem „Kastengeiste“ der
Arbeiter und der Verschiedenheit der lokalen Verhältnisse
in hohem Masse Rechnung trage.
Die hier charakterisirten Richtungen kämpften auf dem
Gewerkschaftskongress um Geltung in der zu schaffenden
Organisation. In dem Moment, in welchem wir diese Zeilen
abschliessen, ist die Entscheidung insofern erfolgt, als die
Mehrheit des Kongresses sich im Prinzip für die von Segitz
befürworteten Industrieverbände als Organisationsform aus-
gesprochen hat. Indess ist mit diesem prinzipiellen Votum
volle Sicherheit über die Gestalt der künftigen Organisation
nicht gewonnen, weil sehr wichtige Fragen noch unent-
schieden sind. Wir behalten uns vor, nach Beendigung des
Kongresses die auf demselben erzielten Ergebnisse einer
kritischen Prüfung zu unterziehen.
Soweit man jetzt urtheilen kann, wird eine einheit-
liche Organisation der deutschen Gewerkschaften durch den
Kongress zu Halberstadt noch nicht herbeigeführt werden.
Derselbe wird vieles zur Klärung der Meinungen beigetragen
und späteren ähnlichen Bestrebungen nützlich vorgearbeitet
haben. Vorerst werden aber die verschiedenen Organisations-
formen wohl noch weiter nebeneinander bestehen, so vor
allem die für sich centralisirten Gewerkschaften einzelner
Branchen, der Industrieverband der Metallarbeiter und die
Vertrauensmännercentralisation mit Lokalorganisationen.
Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass, wenn auch
viele Vertreter der Gewerkschaften in Halberstadt ausdrück-
lich oder stillschweigend das getrennte Marschiren vertraten,
ausnahmslos alle für das vereinte Schlagen mit Entschie-
denheit eintraten.
Z. Zt. Halberstadt. Adolf Braun.
I
154
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 12.
Soziale Wirthschaftspolitik.
Das schweizerische Auswanderungsgesetz.
Da man sich in Deutschland anschickt, die Aus-
wanderung von Reichswegen, gesetzlich zu regeln, so mag
eine kurze Darstellung der einschlägigen schweizerischen
Gesetzgebung Interesse bieten.
Die Bundesverfassung von 1874 überträgt dem Bund
die Aufsicht und Gesetzgebung über den Geschäftsbetrieb
der Auswanderungsagenturen; vorher lag die Gesetzgebung
in den Händen der Kantone, war aber sehr lückenhaft und
unzureichend. Es fehlte bei den Revisionsdebatten nicht
an Stimmen, welche weiter gehen und die gesammte
Organisation der Auswanderung verbunden mit der Koloni-
sation dem Bund übertragen wollten; allein sie blieben in
der Minderheit. Die Mehrheit und mit ihr der Bundesrath
stellten sich auf den Standpunkt, dass eine weite Aus-
dehnung der Bundesautorität über das gesammte Aus-
wanderungswesen die Grenzen überschreite, welche in dem
modernen Staat für seine Machtausübung und für den Zu-
sammenhang mit seinen ehemaligen Angehörigen gestattet
sind. Der Staatsschutz erstrecke sich im Allgemeinen über
Auswandernde wesentlich auf das Gebiet des eigenen
Landes und darüber hinaus höchstens soweit, bis der Aus-
wandernde dauernd eine neue Heimat gefunden hat, und
nach seiner Absicht oder nach den Gesetzen des neuen
Staates in eine andere Staatsangehörigkeit (Bürgerrecht
oder förmliche Niederlassung) getreten ist. Dagegen sei
dem Staat die Aufgabe zugewiesen, durch geeignete
Gesetzgebung über die Auswanderungsagenturen für
die Interessen der Auswandernden zu sorgen, den-
selben ein gehöriges Aufsuchen der Auswanderungs-
ziele und der geeigneten Mittel zur leichtesten Er-
reichung derselben durch staatlichen Rath und Belehrung
zu ermöglichen, dieselben bis zur faktischen Erreichung
dieses Zieles durch geeignete Organe und Verbindungen
auch im Auslande in Schutz zu nehmen, endlich sogar
dauernd eine gewisse entferntere Aufsicht durch diese Or-
gane weniger über die ausgewanderten Personen als über
das Auswanderungswesen selbst im Auslande auszuüben.
Nach diesen Grundsätzen wurde, gestützt auf die vor-
erwähnte Verfassungsbestimmung, im Jahre 1880 das erste
Bundesgesetz erlassen. Wie schon sein Titel besagte, ging
es über den Rahmen der staatlichen Kontrolle des Geschäfts-
betriebes von Auswanderungsagenturen nicht hinaus. Es
zeigte sich indessen bald, dass von Staates wegen tür den
Schutz der Auswanderer mehr getlian werden musste, und
so brachte die 1888 erfolgte Revision des Gesetzes gleich-
zeitig mit der Verschärfung der Kontrollmassregeln die Er-
richtung eines eigenen Biireaus für Auswanderung mit
Kommissariat zur Ueberwachung der Spedition der Aus-
wanderer und Ertheilung von Auskunft, Rath und Hilfe.
Was nun zunächst die Beaufsichtigung der Aus-
wanderungsagenturen betrifft, so erfolgt sie von Seite des
Bundes unter Mitwirkung der Kantone. Die Kantons-
regierungen prüfen die Qualifikation der Bewerber für ein
Agenturpatent; verlangt wird hierfür: guter Leumund,
bürgerliche Ehrenfähigkeit, Kenntniss des Auswanderungs-
geschäfts und Domizil in der Schweiz; die Kaution beträgt
40 000 Frcs. und dazu für jeden Unteragenten eine solche
von 3000 Frcs. Uebertretungen gegen das Gesetz und Ent-
schädigungsklagen von Auswanderern werden von den
kantonalen Gerichten beurtheilt. Die Mitwirkung der Kan-
tone kann und muss überall da eintreten, wo der Bund
nicht ausschliesslich allein zu handeln berufen oder in der
Lage ist.
Man hoffte, mit der Forderung einer Kaution für die
Unteragenten die stark angewachsene Zahl derselben zu
reduziren Wirklich ging sie in den ersten Jahren nach
Erlass des Gesetzes etwas zurück; allein seitdem wächst
sie wieder, und der gehoffte Erfolg wird illusorisch. Viel-
leicht dass man es nun mit Festsetzung einer Maximalzahl
versuchen wird, doch dürfte auch in diesem Falle der Er-
folg zweifelhaft sein. Die Zahl der öffentlichen Agenten
wird wieder abnehmen, dafür aber in gleichem Grade die-
jenige der unkontrollirbaren geheimen Zuweiser zunehmen.
Die Gefahr liegt übrigens weniger in der Zahl der Agenten,
als in der Art und Weise, in welcher die Propaganda be-
trieben wird. Verführungen und Verlockungen soll das
Gesetz mit aller .Schärfe entgegentreten; in der blossen Zu-
weisung von Auswanderern an die Hauptagentur kann da-
gegen unmöglich ein Vergehen gefunden werden.
Die Agenten haben über ihren Vertragsabschluss
Kontrolle nach einheitlichem, vom Bund festgesetztem
Formular zu führen; auch das Vertragsformular ist einheit-
lich. Sie dürfen nicht befördern: invalide Personen, sofern
nicht eine hinlängliche Versorgung derselben am Be-
stimmungsorte nachgewiesen ist; minderjährige oder unter
Vormundschaft stehende Personen ohne Einwilligung der
Inhaber der elterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt;
Kinder unter 16 Jahren müssen überdies von zuverlässigen
Personen begleitet werden, und es muss für ihre gehörige
LTnterkunft am Reiseziel gesorgt sein; ferner Personen,
welche nach Bestreitung der Reisekosten ohne Hilfsmittel
anlangen würden, und Personen, denen die Gesetze des
Einwanderungslandes den Eintritt verbieten; Personen,
welche keine Heimathsschriften besitzen oder dem Staat die
erhaltenen Militäreffekten nicht zurückerstattet haben,
Eltern, welche ohne Einwilligung der zuständigen Armen-
behörden unerzogene Kinder zurücklassen wollen. Ein
Aufgebot findet nicht statt, sondern der Agent wird ein-
fach empfindlich bestraft, wenn ihm nachgewiesen wird,
dass er das Speditionsve-rbot übertreten hat.
Den Agenturen sowohl als den Kolonisationsgesell-
schaften ist der Abschluss von Verträgen, laut welchen sie
sich zur Lieferung von einer gewissen Anzahl Personen,
sei es an Schiffsgesellschaften, Kolonisations- und andere
Unternehmungen oder Staatsregierungen verpflichten, unter-
sagt. Ferner enthält das Gesetz alle diejenigen noth-
wendigen vorsorglichen Bestimmungen, welche nothwenig
sind, um dem Auswanderer sichere und bequeme Beför-
derung, gehörige Verpflegung und Beköstigung während
der Reise zu sichern. Es sind ferner Vorschriften auf-
gestellt, welche den Auswanderer vor Uebervortheilung von
Seite des Agenten bei den Reisekosten, beim Geldwechsel
und bei Geldmandaten schützen sollen. In dieser Hinsicht
namentlich hat sich das Gesetz als eine grosse Wohlthat
erwiesen. Die Bundesbehörden ahnden Vergehen unnach-
sichtlich, finden aber leider bei den Kantonsbehörden nicht
immer die wünschenswerte Unterstützung, sei es, dass
sich diese um die ihnen übertragene Aufsicht gar nicht be-
kümmern, oder dass die Gerichte Schuldige ungestraft laufen
lassen.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Einrichtung eines
speziellen Auswanderungsbureaus. Vor 1888 wurden
die Geschäfte betreffend das Auswanderungswesen von zwei
Beamten des Landwirthschaftsdepartements besorgt. 'Nun
sollte dem Departement des Auswärtigen ein besonderes
Bureau für Auswanderung beigegeben werden, bestehend
aus einer administrativen Abtheilung und einer kom-
missarischen; der Kommissär funktionirt bereits seit
mehreren Jahren mit gutem Erfolg, leider aber sind die
beiden Abtheilungen immer noch nicht vereinigt, der Kom-
missär amtet beim Departement des Auswärtigen, der ad-
ministrative Chef beim Landwirthschaftsdepartement. Solche
Zustände sind unhaltbar. Es mag ja sehr zweckdienlich
sein, die Geschäfte zu theilen, aber das sollte in einem
gemeinschaftlichen Bureau geschehen und die Leitung dieses
Bureaus sollte in einer Hand vereinigt sein.
Nach Bundesrathsbeschluss hat der Kommissär durch
Verkehr mit den Auswanderungs- und Hafenbehörden,
Konsularbeamten, Hilfsgesellschaften und Privaten in aus-
wärtigen Staaten die allgemeinen Interessen der Auswan-
derung zu wahren; er begleitet Auswandererzüge bis zum
Hafen, inspizirt die Logirhäuser und Schiffseinrichtungen,
sammelt die auswärtigen amtlichen Erlasse betreffend das
Auswanderungswesen, die Konsularberichte und einschlägi-
gen wissenschaftlichen Berichte der Einwanderungsländer
No. 12.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALB1 .ATT.
155
die Auswanderungslitteratur, tritt in Verbindung mit inlän-
dischen Vereinen und Privaten behufs Verhütung leicht-
j sinniger Auswanderung und unzweckmässiger Ausrüstung-
dürftiger, zur zielbewussten Auswanderung entschlossenen
Personen und Familien und hält öffentliche Vorträge; ferner
| begutachtet er Kolonisationsunternehmungen und damit
zusammenhängende Fragen und ertheilt Rath, Auskunft und
Empfehlungen an Auswanderer, wo dies gewünscht wird.
Zu bedauern ist nur, dass immer noch so viele Auswanderer
! das Bureau garnicht benützen, weil sie, wie es scheint, von
der Existenz eines solchen keine Kenntniss haben. Gute
Dienste kann das Bureau bei Kolonisationsunternehmen
leisten, indem es zuverlässige Auskunft verschafft; auch ist
es am besten in der Lage, der schwindlerischen Auswan-
derungslitteratur mit Erfolg entgegenzutreten. Sehr zu
wünschen wäre, dass dem Bureau Jemand angehörte, der
wenigstens Land und Leute in den Vereinigten Staaten
gründlich kennt, denn auf die Aussagen Dritter sich ver-
lassen zu müssen, ist misslich, wenn man stets zuverlässige
Auskunft ertheilen soll. Im Uebrigen ist das Kommissariat,
an dessen Spitze ein früherer geistlicher und Regierungsrath
steht, vom besten Willen beseelt. Nächstens wird von ihm
ein gedruckter Rathgeber für Auswanderer erscheinen,
ebenso sind Vorarbeiten im Gang, um für die Auswanderer
in New-York und Buenos-Ayres besondere Logirhäuser
einzurichten und ihnen überhaupt die durch das Gesetz in
den hauptsächlichsten Ein- und Ausschiffungshäfen gewährte
Hilfe zu sichern.
Wie man sieht, geht unser Auswanderungsgesetz weit
über den Rahmen eines blossen Polizeigesetzes hinaus. Es
steuert auf ein Ziel los, welches vor 40 Jahren der Staats-
i mann Augustin Keller mit den trefflichen Worten vor-
zeichnete: ,,Der Auswanderung wird das Vaterland endlich
doch einen sicheren Stab an die Hand geben und die
| scheidenden Kinder auch über die Ozeane mit seiner Sorge
und den treuen Schutzgöttern der alten Heimath begleiten
müssen.“
Aarau. E. Naef.
Der Entwurf eines Heimstättengesetzes für das Deutsche
Reich. Der durch Beschluss des Reichstages vom 3. Februar
1892 einer Kommission von 21 Mitgliedern zugewiesene Entwurf
eines Heimstättengesetzes für das Deutsche Reich1) hat nunmehr
die Kommissionsberathungen passirt. (Bericht der XXIV. Kom-
mission, No. 99 der Drucksachen des deutschen Reichstages,
Berichterstatter Abg. Dr. Graf von Matuschka).
Der Kommission lagen zunächst zwei Resolutionsanträge
vor, von denen der erste dem leitenden Gedanken des Heim-
stättengesetzentwurfes sehr wohlwollend gegenübersteht, „in der
j Erwägung, dass die Erhaltung und Ausdehnung des bäuerlichen
Grundbesitzes, sowie die Sesshaftmachung der Arbeiter aus
wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gründen dringend ge-
boten ist“; während der zweite Antrag die zurZeit herrschende
Unklarheit über die Berechtigung und Noth wendigkeit eines
agrarischen Sonderrechtes betont. Beide Resolutionsallträge
aber kommen darin überein, dass zunächst genaue statistische
Untersuchungen über den Umfang und die Llrsachen des Rück-
ganges des bäuerlichen Grundbesitzes in den verschiedenen
Theilen des Reiches noth wendig seien. Der erste Antrag fordert
auch statistische Erhebungen: über Umfang und Erfolg der mit
der Sesshaftmachung von Arbeitern gemachten Versuche; der
zweite: über den Umfang, Reinertrag und die rechtliche Natur
des fideikommissarisch resp. durch Stammguts- oder Lehens-
qualität gebundenen, der freien Verfügung der Besitzer ent-
zogenen Grundbesitzes, da vielfach das fortwährende Anwachsen
des letzteren in Verbindung mit den blos den grösseren Be-
sitzern zu Gute kommenden Kornzöllen, als Hinderniss für den ;
Fortbestand und die Neubegründung des Kleinbesitzes be-
i zeichnet werde.
Seiner Tendenz gemäss verlangt der erste Resolutions- j
antrag: der Reichskanzler möge zugleich mit der Vorlegung der
Ergebnisse der statistischen Enquete dem Reichstage Vorschläge
über die zur Sesshaftmachung der bäuerlichen und der Arbeiter-
bevölkerung auf eigenem Grund und Boden, geeigneten Mittel er-
statten.
Zur zweiten Lesung lagen noch zwei neue Resolutions-
anträge vor: (III.) die verbündeten Regierungen seien zu er-
suchen: die Ausbildung des fakultativen Anerbenrechtes und
des Institutes der Rentengüter zu fördern, sowie die gesetz-
l) Vgl. No. 7 des Sozialpol. Centralblatts, S. 87 — 89.
liehe Einführung eines deutschen ITeimstättenrechtes zu er-
wägen; und (IV.) den Reichskanzler zu ersuchen, nach Prüfung
weiterer Mittel zur Erhaltung und Ausdehnung des bäuerlichen
Grundbesitzes, sowie zur Sesshaftmachung der Arbeiter dem
Reichstage hierüber Mittheilung zu machen.
Die Diskussion in der Kommission bot durchaus keine
neuen Momente zur Beleuchtung der Heimstättenfrage und jener
nach der Nothwendigkeit oder Berechtigung agrarischer Sonder-
rechtsbestimmungen überhaupt Für und wider wurden die be-
kannten Argumente vorgebracht, die sich in den obenangeführten
Resolutionsanträgen wiederspiegeln. Ein ganz selbständiger,. neu
eingebrachter Entwurf wurde abgelehnt. Von den Resolutions-
anträgen erledigten sich I. und III. durch die kommissionelle
Fassung des Gesetzentwurfes, II. wurde mit 13 gegen 4 Stimmen
abgelelint, IV. mit 13 gegen 5 Stimmen angenommen. Dem-
gemäss beantragt die Kommission die Annahme des Heimstätten-
gesetzentwurfes in ihrer Fassung sowie der Resolution: „den
Herrn Reichskanzler zu ersuchen, in eine nähere Prüfung darüber
einzutreten, durch welche weitere Mittel die aus wirthschaft-
lichen und sozialpolitischen Gründen dringend gebotene Erhal-
tung und weitere Ausdehnung des bäuerlichen Grundbesitzes
sowie die Sesshaftmachung der Arbeiter zu erreichen sei und
dem Reichstage über das Ergebniss dieser Prüfung Mittheilung
zu machen“.
Der Entwurf des Herrn Graf von Dönhoff-Friedrichstein
und Genossen hat in der Kommissionsberathung folgende wich-
tigeren Abänderungen erfahren.
§ 1. „Jeder Angehörige des Deutschen Reiches hat nach
vollendetem 24. Lebensjahres das Recht zur Errichtung einer
Heimstätte“, ist durch die Bestimmung ergänzt: „die Errichtung
erfolgt durch Eintragung eines nach Massgabe dieses Gesetzes
geeigneten Grundstücks in das Heimstättenbuch“.
§ 3 (erster Absatz) lautet in der neuen Fassung: der zur
Heimstätte festziilegende Besitz darf bis zur Hälfte des Werthes
und zwar nur mit Renten oder mit Annuitäten verschuldet sein.
Die Renten oder die Annuitäten müssen durch Amortisation
getilgt werden. Die Errichtung hat die Umwandlung der Hypo-
theken und Grundschulden des Grundstückes in amortisirbare
Renten oder in Annuitäten zur Voraussetzung.
§ 4 gestattet nunmehr allgemein die Eintragung von Renten-
schulden oder Annuitäten bis zur Hälfte des Ertragswerthes mit
Bewilligung der Heimstättenbehörde, welche Bewilligung bei
Missernten oder bei sonstigen Unglücksfällen, zu noth-
wendigen Meliorationen und zur Abfindung von Miterben
ertheilt werden muss
In § 5 sind die Fälle, in denen eine Zwangsvollstreckung
in die Heimstätte zugelassen wird, theils vermehrt, theils all-
gemeiner gefasst („wegen Verpflichtungen aus unerlaubten
Handlungen“, „wegen rückständiger Renten oder Annuitäten
(sowie) wegen gesetzlicher Verpflichtungen“ (statt „wegen
rückständiger Renten und Steuern).
In § 6 wird nunmehr das Niessbrauchsrecht nicht nur der
Wittwe des früheren Besitzers, sondern allgemein dem über-
lebenden Ehegatten eingeräumt, und der Umtausch von
Grundstücken nicht nur für den Fall der Zusammenlegung von
Ländereien, sondern allgemein — die Bewilligung der Heim-
stättenbehörde vorausgesetzt — gestattet
In § 7 wird die Zulässigkeit der Veräusserung der Heim-
stätte nicht, wie nach dem Entwurf, blos von der Zustimmung
der Frau, sondern des Ehegatten überhaupt, sowie vom Ueber-
gange der Heimstätte an deutsche Reichsangehörige abhängig
gemacht. .
Neu ist §7a. „Die Aufhebung der Heimstätteneigenschatt
erfolgt durch Löschung im Heimstättenbuch. Die Löschung
' kann durch Beschluss der Heimstättenbehörde auf hinreichend
begründeten Antrag des Heimstätteneigenthümers dann erfolgen,
wenn der Ehegatte und die Renten- und Annuitätenberechtigten
zustimmen“. , , ,
Die Zahl der durch § 8 des Entwurfes der landesrecht-
lichen Ordnung überlassenen Gegenstände ist durch ^die Kom-
mission noch um einen „Gewährung der Stempel und Gebühren-
freiheit bei Errichtung von Heimstätten“ vermehrt worden.
Obschon der Entwurf in der Kommissionsfassung manche
der gegen den Urentwurf erhobenen Bedenken zu beseitigen
versucht, und namentlich nach schärferer juristischer Formulirung
strebt, so kann doch dadurch das IJrtheil, das über den Antrag
des Herrn Graf von Dönhoff-Friedrichstein und Genossen gefällt
werden musste, in keinem wesentlichen Punkte eine Aenderung
erfahren.
Das Höferecht in Tirol. Bekanntlich enthält das
österreichische Reichsgesetz vom 1. April 1889 No. 52
R.-G.-Bl. betreffend die Einführung besonderer Erb-
theilungsvorschriften für landwirtschaftliche Besitzungen
mittlerer Grösse lediglich die leitenden Gesichtspunkte tiii
ein agrarisches Sonderrecht. Die Anwendung derselben
und ihre Anpassung an die gegebenen Verhältnisse in den
einzelnen Kronländern blieb den Landesgesetzgebungen
überlassen. Trotz der starken agrarischen Strömung m
Oesterreich, hat bisher kein Landtag von der ihm einge-
räumten Befugniss Gebrauch gemacht. Nunmehr hat aber
156
SOZIALPC iLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 12.
die Regierung selbst die Initiative ergriffen und dem tiroler
Landtag 2 Gesetzentwürfe zur Aktivirung des Reichs-
gesetzes vom 1. April 1889 — jedoch nur für Deutschtirol
unter Ausschluss der italienischen Landestheile — vor-
gelegt.
Arbeiterzustände.
Statistik der Arbeitslosigkeit in England.
Der bereits in dieser Zeitschrift erwähnte Bericht
Mr. Burnetts über Strikes enthält folgende Tabelle, die als
Beitrag zu der so vernachlässigten Statistik der Arbeits-
losigkeit dienen kann.
Monatliche Prozentzahlen der unbeschäftigten Mitglieder von
20 der bedeutendsten Gewerkvereine.
Monat
1887
1888
1889
1890
1891
Januar
9,9
6,8
3,3
1,75
3,05
Februar ....
10,3
7,8
3,1
1,44
3,37
März
8,5
7,0
2,8
1,40
2,6
April . .
7,7
5,7
2 2
1,70
2,85
Mai
6,8
5,2
2,0
1,96
2,69
juni . ...
8,5
4,8
2,0
1,96
2,98
Juli
8,0
4,6
1,8
1,88
2,86
August ....
8,5
3,9
1.7
2,28
3,28
September . . .
8,3
4,8
2,5
2,28
4,23
Oktober ....
7,5
4,4
2,1
2.6
4,48
November . . .
8,6
4,4
1.8
2.6
—
Dezember . . .
8,5
3,1
1,5
2,4
—
Die Zahlen beziehen sich auf eine Viertelmillion
Arbeiter. Während zu Anfang 1887 fast 10% Arbeitslose
vorhanden waren, waren 1891 nur 5% ohne Beschäftigung.
Im Jahresdurchschnitt betrug die Zahl der Arbeitslosen
1887: 8,43%,. 1888: 5,2%, 1889: 2,23%, 1890: 2,02%
und 1891 (bis November): 3,24%. Zum Verständniss
dieser Zahlen ist zu berücksichtigen, dass die Jahre 1887
bis 1890 für Grossbritannien eine Periode des grossen
wirthschattlichen Aufschwunges darstellen. Die indu-
strielle Reservearmee ist in diesen verhältnissmässig
schwach, um in den Krisenjahren desto stärker anzu-
schwellen. So hatte die Gewerkschaft der Kesselschmiede
und Schiffbauer im März 1890 nur 0,85 unbeschäftigte Mit-
glieder, während 1886 das Verhältnis^ noch 28% ge-
wesen war.
Löhne und Lebenshaltung der (ungelernten) Bauarbeiter
Harburgs. In einer öffentlichen Bauarbeiterversammlung Har-
burgs wurden folgende Mittheilungen gemacht: „Wir sind nur
Saisonarbeiter und können während unserer Arbeitszeit nicht so
viel verdienen, um in der harten Winterzeit leben zu können, im
Winter sind wir also vollständig dem Hunger preisgegeben. Die
Bauarbeiter können im Jahre höchstens nur 9 Monate arbeiten,
ln diese 9 Monate fallen 275 Tage; von diesen 275 Tagen kom-
men 40 Sonn- und 3 sonstige Feiertage in Wegfall, es verbleiben
somit nur 232 Arbeitstage" oder 2 320 Arbeitsstunden, ä Stunde
40 Pf., das macht für einen Arbeiter, der ununterbrochen gearbeitet
hat, eine jährliche Einnahme von M 928. Von diesen M. 928 geht
folgende niedrigst angesetzte Ausgabe ab: M. 180 für Miethe,
M. 52 für Feuerung, M. 5,20 für Licnt, M. 4,80 für Invalidengeld
in 40 Arbeitswochen, M. 23,40 für Krankengeld (eingeschriebene
Hilfskasse), M. 4 für Lektüre (nur das Fachorgan), M. 4,20 für
Steuern, M. 3,60 für Vereinsbeiträge (nur Gewerkverein), M. 60
für Kleidung und Schuhzeug, macht in Summa M. 337,20. Somit
verbleiben M. 590,80 jährlich zu Lebensmitteln für eine Familie
von 5 Personen oder pro Woche M. 11,36%, oder pro Woche
und Kopf M. 2,27%, oder pro Tag und Kopf 32(Vp Pf. Um blos
das Leben fristen zu können, braucht eine 5gliedrige Familie
mindestens pro Woche: Weissbrot 70 Pf. gleich M. 36,40 jährlich,
4 Schwarzbrote zu I M das Stück gleich M. 208 jährlich, 20 Liter
Kartoffeln zu 7 Pf. der Liter gleich M. 72,80 jährlich, % Pfd.
Kaffee zu 75 Pf. gleich M. 39 jährlich, 7 Pfund Fleisch zu 60 Pf.
das Pfund gleich M. 218,40 jährlich, 2 Pfund Margarine-Butter zu
M. 1 das Pfund gleich M. 104 jährlich, 2 Pfund Schmalz zu 50 Pf.
das Pfund gleich M. 52 jährlich, für 70 Pf. Milch gleich M. 36,40
jährlich, Salz für 10 Pf. gleich M. 5,20 jährlich, für 10 Pf. Zwie-
beln, Pfeffer u. s. w. gleich M 5,20 jährlich. Macht in Summa
M. 777,40. Diese M. 777,40 werden in der Familie verbraucht;
ein Bauarbeiter kann aber bei seiner anstrengenden Arbeit
damit nicht bestehen, er braucht zumindest täglich Zubrot
für 20 Pf., I Flasche Bier 20 Pf. und für 10 Pf. Schnaps,
macht in Summa in den 232 Arbeitstagen Mk. 116. M. 777,40 und
M. 116 macht M. 893,40. Diese unbedingt nothwendige Ausgabe
von M. 337,20 und die allernothwendigste von M. 893,40 macht in
Summa M. 1 230,60. Folglich müsste der Verdienst eines Familien-
vaters von 5 Personen sich auf obige Summe belaufen, er beläuft
sich aber nur auf M. 928, somit hätte derselbe ein Defizit von
M. 302,60. Noch weitere Einschränkung muss das Defizit ver-
ringern, falls dasselbe nicht durch die Arbeit der Frau und der
Kinder gedeckt wird.“
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Die französischen Arbeiter-Gewerkschaften.
Ungleich anderen Ländern, wo der Gewerkschafts-
bewegung so grosse Hindernisse in den Weg gelegt werden
und ein solcher Druck auf sie ausgeübt wird, dass, wenn es
schon nach zäher Ausdauer zur Bildung von Gewerkvereinen
kommt, dieselben keinen Moment vor einer behördlichen
Auflösung sicher sind, lässt ihr Frankreich, wenn auch keine
unbegrenzte, so doch eine recht ausgedehnte Freiheit. In
der That können, nach dem Syndikatsgesetze vom 21. März
1 884, alle in der Industrie, dem Handel und der Landwirth-
schaft beschäftigten Lohnarbeiter ein und desselben Berufes,
verwandter oder zur Herstellung bestimmter Produkte —
Gebäude, Dampfschiffe etc. — zusamnrenwirkender Gewerbe
sich frei, ohne irgend welche Genehmigung oder Beauf-
sichtigung der Behörden, zu Gewerkschaften konstituiren.
Nun kommt es allerdings bei Gesetzen, insbesondere solchen,
die den Arbeitern mehr Freiheit, Rechte oder Schutz ge-
währen, weniger auf ihre Fassung, als auf deren Durch-
führung an. Aber auch in dieser Beziehung kann man sich
hier nicht beklagen. Weit entfernt das Gesetz in der
Praxis umzustossen oder seine einzelne Bestimmungen eng-
herzig auszulegen, ist den Präfekten in einem Ministerial-
Rundschreiben (25. August 1884) empfohlen worden, das
Gesetz im liberalsten Sinne aufzufassen und die Bildung
von Gewerkschaften nach Möglichkeit zu unterstützen, ohne
sich in deren Angelegenheiten zu mischen. „Lassen Sie,“
heisst es dort — ich fasse die wichtigsten Stellen kurz zu-
sammen — „die Initiative den Betheiligten, die ihre Be-
dürfnisse besser kennen als Sie. Es genügt, wenn man
weiss, dass die Syndikate alle Sympathien der Verwaltungs-
behörde haben und ihre Gründer sicher sind, alle ge-
wünschten Auskünfte von Ihnen zu erhalten. In dieser wie
in jeder andern Sache hat die republikanische Verwaltungs-
behörde die Aufgabe, zu helfen, nicht Schwierigkeiten zu
bereiten. Dieses Gesetz hat den Arbeitern gänzlich die
Besorgung ihrer Interessen überlassen; es enthält keine
Bestimmung, die eine administrative Einmischung in ihre
Verbände rechtfertigen würde. Wo Schwierigkeiten auf-
tauchen, sind sie in dem der Entwickelung der Freiheit
günstigsten Sinne zu lösen.“
Wie sehr dieses Gesetz, das den Arbeitern volle
Koalitionsfreiheit zusichert und ihren Syndikaten (Gewerk-
schaften) die juristische Persönlichkeit verleiht, zur Bildung
und Entwickelung der Gewerkschaften beiträgt, das zeigt
das jüngst vom Handelsministerium veröffentlichte Jahrbuch:
„L’Annuaire des Syndicats professionnels“. Darnach ver-
mehrte sich die Zahl der gesetzlich konstituirten Arbeiter-
Syndikate, die am 1. Juli 1884, d. i. drei Monate nach Erlass
des zitirten Gesetzes 68 betrug, im darauffolgenden Jahre
um 153, im Jahre 1886 um 59, im Jahre 1887 um 221, im
Jahre 1888 um 224, im Jahre 1889 um 96, im Jahre 1890 um
185 und im letztverflossenen Jahr um 244. Davon ist die
Zahl der sich inswischen aufgelösten Gewerkschaften stets
in Abrechnung gebracht. So hatten sich im abgelaufenen
Berichtsjahre 313 neue Gewerkschaften gebildet, während
ihre Vermehrung nur mit 244 angegeben ist, weil sich im
selben Zeitraum 69 andere Gewerkschaften aufgelöst hatten.
Die Gesanmrtzahl der am 1 . Juli 1891 bestandenen Arbeiter-
No. 12.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
157
Syndikate beträgt somit 1250. Zu den einzelnen Jahren seil
Erlass des Gesetzes stellt sich ihr Verhältniss wie folgt. Es
bestanden im
J‘
ahre :
Syndikate:
188-1
68
1885
221
1886 1887 1888
280 501 725
1889 1890 1891
821 1006 1250
In diese Syndikate sind auch die der kaufmännischen
Angestellten, wie Buchhalter, Kommis, Handelsreisende etc.
einbezogen. Will man ihre Zahl, wie dies vom sozialstasti-
schen Standpunkte aus erforderlich ist, besonders kennen,
muss man erst — was zur Darnachachtung des Handels-
ministeriums hier hervorgehoben werden soll — das ganze
Jahrbuch eigens durchgehen. Scheut man diese Arbeit
nicht, dann findet man, dass es 36 solcher Syndikate, und
zwar 7 von Buchhaltern, 1 2 von Handelsreisenden und 1 7
von Handlungskommis und sonstigen kaufmännisch Ange-
stellten, mit einer Mitgliederzahl von ca. 10 000 gibt. Be-
merkt muss auch werden, dass sich unter den Arbeiter-
syndikaten kein einziges von Agrikulturarbeitern
gebildetes befindet, obwohl es 750 landwirthschaftliche
Syndikate gibt, die sich auf 676 Gemeinden vertheilen und
269 298 Mitglieder umfassen. Diese Syndikate verfolgen
aber nur speziell landwirthschaftliche Zwecke, „und wenn
auch einige“ — wie sich der Bericht nicht besonders präcise
ausdrückt — „nach dem Wortlaut ihrer Statuten gleich-
zeitig Agrikulturarbeiter in sich begreifen können, so ist
doch deren Zahl im allgemeinen eine äusserst geringe.“
Unter den Industrien, welche die meisten Arbeiter-
syndikate zählen, steht obenan das Baugewerbe mit 216
Syndikaten, ihm folgen die Metallindustrie mit 130, die
Buchindustrie (Schriftsetzer, Schriftgiesser, Lithographen etc.)
mit 116, die Textilindustrie mit 85, die Hutmacherei mit 50,
die Schuhmacherei mit 46, die Bäckerei mit 30 und die
Möbelindustrie mit 23 Syndikaten.
An Gewerkschafts- Verbänden zählte Frankreich
zu Ende des Berichtsjahres 27, während im Vorjahre nur
24 bestanden. Von den neuen Verbänden ist besonders die
„Federation des Travailleurs des Ardennes“ zu erwähnen,
die ihren Sitz in Charleville hat. Sie zählt 41 Gewerk-
schaften, von welchen die Mehrheit, nämlich 26, der Metall-
industrie angehören, und giebt ein eigenes Organ „L’Eman-
j cipation“, heraus, das wöchentlich erscheint und von dem
ehemaligen Mitglied der Pariser Kommune J. B. Clement
■ redigirt wird. Wie dieser Verband sind auch die meisten
anderen aus Gewerkschaften der verschiedensten Industrien
zusammengesetzt, sie erstrecken sich zum grossen Theil
bloss auf eine Stadt oder ein Departement. Nur drei Ver-
: )ände erstrecken sich über das ganze Land und das sind
gerade solche, von welchen jeder nur Gewerkschaften einer
bestimmten Industriegruppe umfasst, nämlich 1. der Buch-
arbeiter-Verband (Federation franc;aise des Travailleurs du
Livre), der 88 Gewerkschaften zählt und ein trefflich redi-
girtes Wochenblatt „La Typographie franyaise“ herausgiebt;
2 der Hutmacher-Verband (Societe generale des Ouvriers
Chapeliers de France), der 68 Gewerkschaften umfasst und
ebenfalls ein Fachblatt, „L’Ouvrier chapelier“, herausgiebt;
3. der Tabakarbeiter-Verband (Federation des Ouvriers et
1 Ouvrieres des Manufactures des Tabacs de France), der
10 Gewerkschaften zählt. Den 27 Verbänden wäre nun
noch der Verband der Eisenbahnarbeiter anzureihen, der
sich im Oktober v. J. konstituirt hat und über 27,000 Mit-
glieder zählt. Bei dieser Gelegenheit sei auch gleichzeitig
bemerkt, dass man sich gegenwärtig mit der Bildung eines
Bauarbeiter-, sowie eines Metallarbeiter-Verbandes befasst.
Viele Syndikate bezw. Syndikatsverbände haben Hilfs-
kassen, Arbeitsvermittlungs-Bureaux, Bibliotheken gegründet
! oder sonstige Institutionen ins Leben gerufen. So haben
| 300 dieser Arbeiterkörperschaften Bibliotheken geschaffen,
j 240 Krankenkassen, 144 Arbeitsvermittelungs-Bureaux, 63
j Unterstützungskassen für Arbeitslose, 47 gewerbliche Unter-
richtskurse, 31 Sparkassen, 25 Pensionskassen, 17 Konsurn-
: vereine, 13 Produktivgenossenschaften, 3 Fachschulen.
| Einige, wie z. B. das Syndikat der kaufmännisch Angestell-
! ten von Paris oder der Tabakarbeiter- Verband haben auch
einen Rechtsbeirath,- doch erwähnt der Bericht nicht den-
selben.
Was die politische Gesinnung der Gewerkschaften an-
belangt, ist sie fast durchgeh ends eine sozial republikanische,
an deren Unerschiitterlichkeit alle monarchistischen, kleri-
kalen, antisemitischen und anarchistischen Verführungs-
künste sich vergeblich versuchen. Arbeiter ohne sozial-
republikanische Gesinnung finden sich allenfalls in den
gemischten, das ist -aus Unternehmern und Arbeitern
zusammengesetzten Syndikaten. Ihr Charakter geht zum
Theil aus deren Bezeichnung hervor. Da gibt es St. Anna-
Korporationen (Schreiner und Zimmerer), St. Crispinus-
Korporationen (Schuhmacher), St. Joseph-Korporationen
(Maurer) etc. Es sind Ueberbleibsel ehemaliger Zünfte.
Die gemischten Syndikate haben übrigens last gar keine
Bedeutung und zählen im Ganzen nicht mehr als 15 773 Mit-
glieder, während die Arbeitersyndikate das Dreizehnfache,
nämlich 205 152 Mitglieder zählen.
Diese Zahl ist zwar im Verhältniss zur industriellen
Bevölkerung auch noch eine sehr geringe; wenn man
aber bedenkt, dass die Gewerkschaftsbewegung in Frank-
reich im Ganzen eine noch recht junge ist und die
Arbeitersyndikate im letzten Jahre allein — 1890 zählten
sie 139 692 Mitglieder — um 65 460 Mitglieder, das ist um
ein Drittel zugenommen haben, dann erscheint die Zahl in
einem ganz anderen Lichte und gewinnt viel an ihrer
inneren Bedeutung. Dabei muss noch bemerkt werden,
dass es ausser den" 1250 legalen Syndikaten auch noch 120
solcher Syndikate gibt, welche nicht dem Gesetze vom
21. März 1884 nachgekommen sind, weil es ihnen noch zu
„polizistisch“ erscheint. W In die Freiheit nicht schreckt, und
wem die Grenzpfähle nicht das Urtheil trüben, wird ihnen
im Prinzip kaum Unrecht geben können. Denn wogegen sie
sich auflehnen, ist besonders der Paragraph 4 des Gesetzes,
welcher vorschreibt, dass die Gründer jedes Syndikats nebst
den Statuten auch die Namen der Personen, welche mit
seiner Verwaltung oder Leitung betraut sind, bei dem
Bürgermeisteramt des betreffenden Ortes, in Paris bei der
Seinepräfektur, zu hinterlegen haben, dass dieser Vorgang
bei jeder Veränderung der Leitung oder der Statuten zu
beobachten ist und dass jedes Verwaltungs- oder Direktions-
mitglied Franzose sein muss. Sie sehen nichtein, warum
sie ein tüchtiges Mitglied, weil es zufällig in Belgien, der
Schweiz oder sonstwo ausserhalb Frankreich geboren
wurde, nicht zum Vorsitzenden, Sekretär oder Kassirer
sollen wählen dürfen und warum sie den Bürgermeistern, die
oft selbst Unternehmer oder mit solchen eng befreundet sind,
die Namen ihrer Leiter bekannt geben sollen. Fraglich
ist es nur, ob es nicht besser wäre, sich vorläufig diesen
Anordnungen zu fügen und gemeinsam mit den anderen
Syndikaten, die ja diesen Verfügungen auch nicht bei-
stimmen, auf deren Beseitigung hinzuarbeiten. Sie würden
dies sicherlich um so leichter erlangen, als ja die Behörden
auch jetzt nicht gegen die Gewerkschaften einschreiten,
welche dem Syndikatsgesetze nicht nachgekommen sind.
Rechnet man diese 102 Syndikate zu den legalen, dann
erhält man im Ganzen 1352 Arbeitergewerkschaften mit
ca. einer Viertelmillion Mitglieder, was für eine so junge
Gewerkschaftsbewegung, wie die französische, ein sehr
günstiges Resultat ist.
Paris. Leo Frankel.
Rechenschaftsbericht der General komm ission der deut-
schen Gewerkschaften. Für die Zeit vom 17. November 1890
bis zum 1. März 1892 wurde dem Halberstädter Gewerk-
schaftskongress ein Rechenschaftsbericht vorgelegt, dem wir
folgende Mittheilungen entnehmen: Die Gewerkschaftskonferenz,
welche am 16. und 17. November in Berlin tagte, gab der Kom-
mission bis zum Stattfinden des Gewerkschaftskongresses fol-
gende Aufgabe: „Die Kommission hat einen allgemeinen Gewerk-
schaftskongress einzuberufen und eine Vorlage für die Organi-
sation der deutschen Gewerkschaften auszuarbeiten. Ferner
allen Angriffen der Unternehmer auf das Örganisationsrecht der
Arbeiter, gleichviel welcher Branche, energisch entgegenzutreter
158
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 12.
bezw. jeden Widerstand der Einzelorganisationen thatkräftig zu
unterstützen. Sodann für Organisirung der wirthschaftlich zu
schwach gestellten Arbeiter einzutreten und deren Organisationen
thatkräftig zu unterstützen, sowie die Agitation zur Verbreitung
der Organisation in den unorganisirten Landestheilen zu leiten.“
Die Mittel für die Thätigkeit der Kommission sollten von allen
Gewerkschaften nach Massgabe der Mitgliederzahl aufgebracht
werden.
Während auf der einen Seite die Organisationen ihre
Verpflichtungen der Kommission gegenüber nur äusserst mangel-
haft erfüllten, wurden anderseits grosse Anforderungen an die-
selbe gestellt Schon die Berliner Gewerkschaftskonferenz
übertrug der Kommission die Verpflichtung, die Ausstände in
Kirchhain i. L., Erfurt, Bergedorf und Ottensen zu unterstützen.
Um dieses möglich machen zu können, wandte sich die Kom-
mission in verschiedenen Aufrufen an die deutschen Arbeiter,
diese zu freiwilligen Beiträgen zur Unterstützung der Strikes
auffordernd. Diese freiwilligen Leistungen ergaben bis zum
1. März 1892 wohl die Summe von 106 504,86 M., jedoch waren
die Gelder zu der Zeit, als sie gebraucht wurden, nicht zur
Stelle. Die Kommission glaubte, auf Grund der Berliner Reso-
lution ein Recht zu haben, zur Unterstützung der Ausstände
Anleihen machen zu dürfen. Es konnten diese Darlehen bei
prozentualer Vertheilung auf alle Organisationen gedeckt wer-
den. Die über die Leistungsfähigkeit der Gewerkschaften auf-
genommene Statistik zeigte jedoch, dass diese bei dem gegen-
wärtigen Stande der Kassen nicht in der Lage sein würden,
die gedachten Darlehen zu decken Einmal, um nach dieser
Richtung hin gedeckt, andererseits aber, um für spätere Kämpfe
gerüstet zu sein, schrieb die Kommission die Sammlung zum
Maifonds aus. Der Ertrag derselben blieb, trotz seiner, in An-
betracht der ungünstigen wirthschaftlichen Verhältnisse enormen
Höhe, hinter den Erwartungen, die darauf gesetzt waren, zurück.
Die eingegangenen Summen genügten nicht einmal, die Ver-
pflichtungen der Kommission erfüllen zu können, vielweniger
noch war es möglich, einen festen Fonds zu bilden.
Vom November 1890 bis September 1891 wurde von der
Kommission über 32 Ausstände Statistik geführt, 38 waren bei
ihr zur Anzeige gebracht Von diesen wurden 31 pekuniär unter-
stützt, während bei 6 Ausständen eine solche Unterstützung ab-
gelehnt wurde, weil es sich nach Ansicht der Kommission nicht
um Abwehrstrikes handelte.
Die 31 unterstützten Ausstände, an welchen insgesammt
6600 Personen 225 Wochen betheiligt waren, erforderten eine
Ausgabe von 184 396 M. In diese Summe sind nur die Beträge
eingerechnet, welche direkt als Strikeunterstützung seitens der
Kommission in Deutschland gewährt wurden. Nicht eingerechnet
sind 2000 M., die nach Bremerhaven, und 100 M., die nach Fürth
als Vorschuss gesandt und von dort wieder zurückgezahlt worden
sind. Ferner 1000 M., die zur Unterstützung des Ausstandes der
Buchdrucker in Wien bewilligt, sowie 3600 M., die zum deutschen
Buchdruckerausstand als Darlehn gegeben wurden. Sodann auch
1600 M., die während des Ausstandes der Tabakarbeiter aus
Antwerpen zur Verfügung gestellt und dann von der Kommission
zurückgezahlt wurden. Für agitatorische Zwecke konnten unter
diesen Umständen nur geringe Mittel verwandt werden. Es
wurde Agitation unter den Ziegeleiarbeitern in Lippe-Detmold
betrieben uud ein Zuschuss zu einer Agitationstour, welche die
Bauarbeitsleute nach Ost- und Westpreussen veranstalteten,
gegeben.
Lim die Meldungen von Ausständen, sowie die Mittheilungen
und Aufrufe der Kommission in die Presse zu bringen, sowie
die Leiter der Organisationen stets über alle Vorgänge unter-
richtet zu halten, wurde von der Kommission ein Blatt das
„Correspondenzblatt“, herausgegeben.
Auch auf internationalem Gebiet wurde, soweit dies unter
den schwierigen Verhältnissen möglich war, ein reger Verkehr
unterhalten. Die Mittheilungen von Ausständen sowie Berichte
über die Organisationen in anderen Ländern setzten die Kom-
mission in die Lage, eine Reihe interessanter Veröffentlichungen
zu machen.
Die Generalkommission schliesst ihren Bericht mit der
Bemerkung, dass wenn auch von einzelnen Personen die Meinung
vertreten worden ist und noch vertreten wird, dass die Einrich-
tung der Kommission, im Verhältniss zu deren Unkosten, keinen
Nutzen für die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland gebracht
hat, diese Einrichtung sich als durchaus praktisch und zweck-
mässig erwiesen habe.
Einer ausführlicheren Abrechnung der Generalkommission
entnehmen wir die folgenden Daten von allgemeinem Interesse.
Die Kommission verwaltete drei Fonds, und zwar den Gewerk-
schaftsfond mit einer Einnahme von 116058 M., den Maifond mit
einer Einnahme von 64 776 M. und den Verwaltungsfond in der
Höhe von 1208 M.; hierzu sollten noch hinzugerechnet werden
21 696 1 2 M ■ , die für den Maifond in Hamburg und Mannheim
gesammelt, aber zur Unterstützung von Strikes am Orte ver-
wandt wurden, so dass der Maifond eigentlich die Höhe von
86 472 M erreichte. Diese Einnahmen genügten nicht zur Deckung
der Ausgaben, so dass Darlehen in der Höhe von 106 950 M.
kontrahirt werden mussten; von diesen wurden bis Ende Februar
1892 75000 M zurückgezahlt. Ausserdem finden wir als Ausgaben
verrechnet 192 696 M. für Ausstände; hiervon 149 541 M für die
Tabakarbeiter Hamburgs und Umgebung und 12 556s 4 M. für j
Agitation, Prozesskosten, Reisen, Verwaltung etc. etc. Einnah- !
men und Ausgaben balanziren, wenn wir von der Summe von |
21 696 '/o M. absehen, die in Hamburg und Mannheim für Strikes
verwandt wurden, mit der Summe von 288 992 M. 16 Pf.
Der Gewerkschaftskongress zu Halberstadt. Auf dem
Kongresse waren durch über 200 Delegirte mehr als 300 000
organisirte Arbeiter vertreten. Die wichtigsten Berufsgruppen
waren folgendermassen repräsentirt: 38 200 baugewerbliche
Arbeiter durch 38 Delegirte, 28 500 Arbeiter aus den Beklei-
dungsindustrieen durch 27 Delegirte, 40 610 Metallarbeiter
durch 36 Delegirte, 35510 Arbeiter aus den Holzbearbeitungs-
industrieen durch 29 Delegirte, 20 145 Arbeiter aus den ln- '
dustrieen der Nahrungs- und Genussmittel durch 23 Dele-
girte, 10 743 Arbeiter des Seewesens durch 9 Delegirte,
83 000 Bergleute durch 6 Delegirte, 24 860 Arbeiter aus den
graphischen Gewerben durch 22 Delegirte, 6 030 Arbeiter
aus der Textilindustrie und 4 400 nicht gewerbliche Arbeiter ^
durch je 7 Delegirte. Nicht vertreten waren die Graveure,
Stellmacher, Glasarbeiter, Schlosser, Bürsten- und Stell-
macher.
Die Kommis (lei' Gemischt waarenhiimller von Paris, ■
die eine Sektion des Syndikats der kaufmännisch Angestellten
bilden, haben beschlossen, ihren Arbeitgebern folgende Forde- '
rungen zu unterbreiten: 1. der Arbeitstag darf für alle in
Gemischtwaarenhandlungen Angestellten im Sommer nicht i
mehr als 14 Stunden und im Winter nicht mehr als 13 Stunden
betragen; 2. an Sonntagen, mit Ausnahme derjenigen, die auf .
die Zeit vom 15. Dezember bis 15. Januar und auf die beiden '
Osterwochen fallen, darf die Beschäftigungszeit nicht länger
als 6 Stunden währen; 3. als Placirungsbureau hat das des
Syndikats zu dienen. Die Kommis hoffen mit ihren For- j
derungen, die in der That sehr bescheiden sind, deren Ge-
währung aller immerhin einen nicht zu unterschätzenden
Fortschritt bedeuten würde, seitens ihrer Prinzipale auf
keinen Widerstand zu stossen.
Handwerkerfragen.
Eine Statistik wandernder Hand wer ksgeliilfen. Der J
Geschäftsbericht des Armen-Unterstützungs-Vereins zu Siegen
für 1891 enthielt interessante Angaben über die Wanderung von
Handwerksgehilfen. Insgesammt wanderten durch Siegen im
Jahre 1880: 5227, dann sinkt die Zahl auf 2502 in 1888, steigt ]
dann aber wieder 1889 auf 3234, 1890: 3651, 1891: 4150. Als Ur-
sache dieser rapiden Steigerung in den letzten Jahren wird die .
Einrichtung der Verpflegstationen, die geringe Entfernung der-
selben untereinander und die volle Verpflegung angeführt, ohne ;
dass auch nur andeutungsweise der Grund des vermehrten
Wanderns tiefer gesucht wird in der allgemeinen wirthschaft-
lichen Situation, der speziellen Lage des Handwerkerstandes
und in der grenzenlosen Lehrlingszüchterei, die den jungen
Mann, sobald er Geselle geworden, zum Wandern zwingt. Was
das Alter der unterstützten Durchreisenden anbetrifft, so zeigen
die Zahlen:
Jahr 15 16—20 21—25 26—30 31—40 41—50 51—60 61—70
1890
253
198
124
224
137
50
10
.1891 15
eine Zunahme
428
347
229
290
202
62
20
von % —
69
75
84
29
48
24
100.
Die stärkste Zunahme zeigt die Altersklasse vom 26. — 30. Jahre. !
Auf dem Arbeitsnachweis wurden 1891 an Gesellen ge-
sucht 438; zugewiesen wurden aber nur 183. Daraus wird der
Schluss gezogen, dass an ein ernstes Arbeitsuchen von den
meisten Reisenden nicht gedacht wird, da bei 4150 Reisenden
nicht einmal 438 Arbeitsangebote Bewerber fanden. In ihrer
Allgemeinheit sagen diese Zahlen aber nichts, denn wenn
beispielsweise zehn Schneider verlangt werden, aber nur zehn
Schuhmacher da sind, so ergäbe das nach der Berechnung des
No. 12.
SOZIALPOLITISCHES CKNTRALBLATT.
159
Siegener Armen - Unterstützungs -Vereins zehn arbeitsscheue
Vagabunden. Ganz davon zu geschweigen, dass es längst nicht
immer Arbeitsscheu ist, welche eine Stelle ausschlagen lässt.
Es ist interessant hieraus zu ersehen, wie Zahlen für Arbeits-
scheue konstruirt werden können.
Die Unterscheidung nach Monaten ergibt, dass während
der Wintermonate am meisten gewandert werden musste.
IDie Anzahl war von Januar bis Dezember: I. 455, 11.429, III. 275,
IV. 203, V. 247, VI. 245, VII. 298, VIII. 336, IX. 297, X. 319,
XI. 451, XII. 595. Diese Zahlen zeigen, wie falsch es ist, die
Lust am Vagabondiren als einzige Ursache der Zunahme der
Wanderer zu nennen. Im Winter arbeitet selbst ein Fauler, um
von der Landstrasse zu kommen.
Verpflegung und Wohnung der Lehrlinge im Hause der
Meister. Der Landes-Direktor der Provinz Sachsen hatte der
Gewerbekammer für den Regierungsbezirk Magdeburg die Frage
gestellt: „Ist die alte gute Sitte, dass die Lehrlinge im Hause
des Lehrherrn Wohnung, Kost und Aufsicht gemessen, im Ab-
nehmen, und was ist eventuell zur Aufrechterhaltung derselben
zu thun?“ Seit Kurzem liegen die Ergebnisse der Erhebung vor.
Aus ihnen ergibt sich, dass in den grösseren Städten die ange-
zogene Sitte eine Einschränkung erfahren hat, sonst aber meist
noch besteht. Dasselbe Verhältniss besteht im Grossbetrieb und
Kleingewerbe. Die Gründe, aus denen die Lehrlinge vielfach
nicht mehr beim Meister wohnen, liegen nach den eingegangenen
Gutachten meist bei letzterem. Als solche sind anzuführen:
Bequemlichkeit des Meisters und besonders der Meisterin, Hoch-
muth, weil der Lehrling oft angeblich geringerer Abkunft, un-
zureichende Wohnung, Abneigung in Folge der Beschränkung
der Machtbefugnisse "des Lehrherrn durch die neuere Gewerbe-
gesetzgebung, Scheu vor der beliebten Nachrede des schlechten
Essens und Hungerns und endlich nicht selten das Bestreben,
durch das Zahlen eines geringen Kostgeldes die Arbeitskraft
des Lehrlings billiger zu haben. Eine Rolle spielt der Wunsch
der Eltern, dass die Kinder zu Hause wohnen; das Kostgeld ist
im Haushalt willkommen, dazu kommt die Furcht vor Ueberan-
strengung des Jungen und Heranziehung zu ungebührlichen
Arbeitern' Als ein weiteres Moment wird angeführt, dass die
Lehrlinge selbst nicht gern beim Meister wohnen, um ein unge-
bundeneres Leben führen zu können. Die Meister haben nach
diesen Angaben sehr zahlreiche Gründe für da.s Externat der
Lehrburschen. Da die Entscheidung meist bei den Meistern
steht, ist das folgende Ergebniss der Erhebungen Seitens der
Magdeburger Innungen recht verwunderlich. In der Grossstadt,
deren Verhältnisse, wie oben gesagt wurde, dem Internat un-
günstig sind, hatte Ende 1891 :
Die Innung der
Lehrlinge
Davon beim
Meister in
Kost und
Wohnung
Bäcker
161
161
Schneider
130
130
Schmiede
186
186
Stellmacher
18
18
Bottelier
8
8
Schornsteinfeger ....
25
25
Sattler
36
36
Buchbinder . ....
24
15
Tapezierer
94
45
Drechsler
37
32
Tischler
209
194
Schlosser
360
132
Danach scheinen die Magdeburger Innungsmeister und
Meisterinnen die Lehrjungen doch ganz gern um sich zu haben.
Eine Erklärung hierfür bleibt das Protokoll schuldig; sie dürfte
wohl am besten aus der „Bequemlichkeit des Meisters und be-
; sonders der Meisterin“ herzuleiten sein, die oben, merkwürdig
genug, das Auwärtswohnen des Lehrlings als wünsch enswerth
begründen musste.
Unternehmerverbände.
:
Verein deutscher Jute-Industrieller. Der Vorstand machte
1 in der kürzlich stattgefundenen Versammlung des Vereins nach
Erledigung des Rechnungsabschlusses und der Festsetzung des
Vereinsbeitrages die Mittheilung, dass die Einschränkung
der Fabrikbetriebe seit dem 1. Februar d. J. vertragsmässig
vollzogen sei.
Kartell der bayerischen Spiegelglasfabriken. Die
Vereinigung bayerischer Spiegelglasfabriken hat eine wei-
tere ßetriebseinstellung sämmtlicher Genossenschafts werkt •
bis 31. März d. J. beschlossen, da die Lagerbestände zur
Zeit noch eine Million Mark darstellen.
Westfälisches Koks-Syndikat. Die in Bochum abgehalten <•
Monatsversammlung beschloss, eine 20prozentige Erzeugungs-
Einschränkung auch für März dieses Jahres. Das Syndikat hat
also, nach früheren Berichten, im Ganzen bis jetzt eingeschränkt
im August 1891 5n/0, September 5%, Oktober 10%, November
10%, Dezember 10 %, Januar 1892 20° n, Februar 20%, März 20%.
Demnach ist also vom 1. August 1891 bis 31. März 1892 eine
ganze 100 prozentige, oder eine ganze Monatserzeugung
von rund 350000 Tonnen ausgefallen. Durch diese Pro-
duktionseinschränkungen ist das Syndikat in der Lage, die
Preise im Inlande hochzuhalten, während es aber gleichzeitig-
en Auslande die Angebote ihrer Konkurrenten trotzdem stark
unterbietet. Der „Moniteur des interets materiels“ stellt fest,
dass das westfälische Kokssyndikat die Preise in Deutschland
auf 10 — 10l/3 Mark in die Höhe treibt und gleichzeitig im Aus-
lande die nämliche Waare mit 8 Mark anbietet.
Vereinigung niederrheinischer Stottdruckereien. Die
sieben Druckereien dieses Bezirkes haben, der „Industrie“
zufolge , nach langen eingehenden Erörterungen eine
Uebereinkunft geschlossen. Die Vortheile dieser gegen-
über früher gebildeten und bald wieder zerfallenen Ver-
bindungen liegen darin, dass erstens sämmtliche Drucker
der Vereinbarung angehören, dass zweitens die Satzungen
in rechtsverbindlicher Form abgeiasst worden sind, und
dass drittens eine hohe Vertragsbruchstrafe zur Sicherung
cler strengen und einheitlichen Durchführung der getroffenen
Vereinbarungen festgesetzt worden ist. Für die Weissweber
hat die Sache hinsichtlich des laufenden Jahres geringe
Bedeutung, weil die Preise nur unwesentlich erhöht wurden,
um denjenigen, die nicht vertraglich gedeckt sind, da.s Ge-
schäft nicht besonders zu erschweren oder gar unmöglich
zu machen.
Einschränkung in der schottischen Juteindustrie.
Eine in Dundee stattgehabte Versammlung von Jute-
spinnereibesitzern und Fabrikanten beschloss nach dem
Wiener „Handels-Museum“, wegen der Knappheit des Jute-
materials die Fabriken durch sechs Monate an Samstagen
vom 25. März angefangen zu schliessen.
Arbeiterversicherung.
Amtliche Berichte über die deutsche Unfallversicherung
in den Jahren 1890 und 1891.
Schon mehrfach wurde in dieser Zeitschrift die
Unzulänglichkeit deutscher amtlicher Berichte über
sozialpolitische Dinge betont. Die amtlichen Druck-
sachen über die Wirksamkeit der deutschen Unfallver-
sicherung bestätigen die Richtigkeit jenes 1 adels von
Neuem. Dem deutschen Reichstage ging Ende vorigen
Jahres die vorgeschriebene „Nacliweisung über die
Rechnungsergebnisse der Berufsgenossenschaften im Jahre
1890“ (Drucksache No. 557), sowie vor Kurzem der Ge-
schäftsbericht des Reichsversicherungsamtes für das Ge-
schäftsjahr 1891 (Drucksache No. 655) zu. Wer sonst keine
Hilfsmittel aus Litteratur und Presse zur Kenntniss der
deutschen Unfallversicherung hätte, könnte sich aus jenen
amtlichen Aktenstücken unmöglich ein Bild von der \\ irk-
samkeit dieses Versicherungszweiges machen; die Akten-
stücke enthalten in der Hauptsache nur trockene Ziffern
über die Versicherung und auch diese wieder in so wenig
glücklicher Zusammenstellung, dass es erst einer Art Inter-
pretationskunst bedarf, um einiges Besondere aus ihnen
heraus zu lesen. Richtig ist, dass das Reichsversicherungs-
amt ausserdem noch periodische Veröffentlichungen macht;
aber dieselben gelangen nicht als parlamentarische Schrift-
stücke an die weitere Oeffentlichkeit, sondern bleiben auf
einen kleinen Kreis von Interessenten beschränkt, und sie
müssen naturgemäss vorwiegend der Technik der Unfall-
versicherung dienen. Dabei soll ausdrücklich anerkannt
werden, dass das Reichsversicherungsamt innerhalb der ihm
160
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 12.
gesetzten Schranken sehr viel zur Aufklärung durch Ver-
öffentlichungen und Bearbeitung des bei ihm einlaufenden
Materials tliut. Aber diese Schranken sind eben ziemlich
eng gezogen und es fehlt durchaus an einem amtlichen
Schriftstück, welches die Wirksamkeit der Unfallversiche-
rung alljährlich nach allen Seiten hin, auch in ihren
Mängeln, unbefangen, zusammenfassend und gemeinver-
ständlich darlegte. Litteratur und Presse müssen hier ihr
Bestes thun, und die Summe ihrer Beiträge ist auch bereits
riesengross; aber eben deshalb kaum mehr übersehbar.
Den unvollkommenen amtlichen Mittheilungen an den.
Reichstag haftet nun ausserdem ein weiterer Mangel an:
sie erscheinen sehr spät, wenigstens die Nachweisungen
über die Rechnungsergebnisse der Berufsgenossenschaften,
nämlich meist erst ungefähr ein Jahr nach Abschluss der
Berichtsperiode, welche sie betreffen. So wurden die
neuesten Nachweisungen über 1890 erst Ende 1891 ver-
öffentlicht. Ein Fachblatt, das Organ der Südwestdeutschen
Holzberufsgenossenschaft, hat in seiner Nummer vom
20. Dezember 1890 diese Verzögerung folgendermissen ent-
schuldigt. Die Centralpostbehörden hätten nach § 69 des
Unfallversicherungsgesetzes allein 8 Wochen nach Ablauf
des Rechnungsjahres Zeit, um ihre Nachweisungen der auf
Anweisung der Vorstände geleisteten Zahlungen diesen
Vorständen zuzustellen, und sie brauchten diese Zeit voll-
ständig. Dann komme die Prüfung der Nachweisung bei
der Berufsgenossenschaft; der Bedarf des abgelaufenen
Rechnungsjahres werde erst jetzt genau bekannt. Es folge
die Prüfung der Lohnnachweisung, zu deren Einreichung
dem Unternehmer auch 6 Wochen Zeit gelassen seien; dann
sei die Heberolle fertig zu stellen und die Umlegung, sowie
die Einziehung bei den Mitgliedern der Berufsgenossen-
schaft vorzunehmen, und auf diese Weise komme der
Schluss des Jahres heran. Von da ab lägen die Nachweise
beim Reichsversicherungsamt, und das Letztere pflegt aller-
dings kaum einen Monat verstreichen zu lassen, Iris es seine
Zusammenstellung abliefert — ob aber der von dem berufs-
genossenschaftlichen Blatte naturgetreu geschilderte Gang
der Sache für oder gegen die jetzige Organisation spricht,
möchten wir dem unbefangenen Urtheil festzustellen über-
lassen. Wir glauben kaum, dass das Urtheil sehr günstig
ausfällt.
Die trockene Statistik der Unfallversicherung ist, wie
schon betont, aus dem „Rechnungsergebnissen11 ziemlich
vollständig zu entnehmen. Als Organe der Versicherung
bestanden im Jahre 1890 neben 316 Ausführungsbehörden
für staatliche und kommunale Betriebe mit 60-1 380 Ver-
sicherten 1 12 Berufsgenossenschaften, und zwar 64 gewerb-
liche und 48 landwirtschaftliche, mit 13 015 370 Versicherten;
das Schwergewicht der Unfallversicherung liegt also in den
Berufsgenossenschaften, und die Ausführungsbehörden be-
sorgen nur den kleinsten Theil der Versicherungsarbeit,
allerdings in mustergiltig billiger Weise. Sie zahlten im
Jahre 1890 im Ganzen 1,8 Millionen Mark Entschädigungs-
beträge an 2444 Verletzte und benöthigten dafür 56 696 M.
Geschäftsunkosten insgesammt, wovon 21 761 M. für Unfall-
verhütungskosten stecken. Im Nachfolgenden braucht nicht
aut diesen Zweig der Versicherung zurückgekommen zu
werden; er repräsentirt offenbar den vollkommeneren Typus
einer Organisation derUnfallversicherung. Weit theurer wirt-
schafteten bereits die landwirtschaftlichen Berufsgenossen-
schaften. Sie zahlten im Jahre 1890 zusammen 1 ,8 Millionen
Mark Entschädigungsbeträge für 12 573 Verletzte, und hatten
dafür an Ausgaben 1,07 Millionen Mark für Geschäftsun-
kosten, sowie die winzige Summe von 3854 M. für Unfall-
verhütung, die hier noch völlig im Argen liegt. In den
Geschäftsunkosten stecken u. A.: 81 989 M. für Reisekosten
und Tagegelder, 474 922 M. für Gehälter, 20 003 M. für
Lokalitäten etc., nicht weniger als 151 423 M. für Schreib-
materialien, Druckkosten und Porti, sowie 1 27 204 M. für
Zinsen- und sonstigen Verwaltungsaufwand. Dabei ist es
den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften noch nicht
einmal möglich, die Zahl ihrer Versicherten für die
4,8 Millionen Betriebe, welche in Betracht kommen, anzu-
geben; die Vorbemerkungen des amtlichen Schriftstückes
sprechen einfach, ohne jede nähere Begründung, von der
unüberwindlichen „Schwierigkeit der Durchführung“ einer
solchen Statistik, welche die Genossenschaftsvorstände beim
Reichsversicherungsamt geltend machten. Wir kommen
jedoch zum Gipfel der büreaukratisch-kapitalistischen Um-
ständlichkeit, wenn wir die Organisation und die Rechnungs-
ergebnisse der gewerblich® Berufsgenossenschaften über-
blicken. Die 64 gewerblichen Berufsgenossenschaften zählten
im Jahre 1890 zusammen 4,9 Millionen Versicherte auf
390 622 Betriebe. Die Versicherten sind hier allgemein be-
trachtet, weit mehr auf eine kleinere Zahl von Betrieben
konzentrirt, wie bei der landwirthschaftlichen Unfallver-
sicherung, und diesem Umstande entspricht auch eine kleinere
Zahl ehrenamtlicher und bezahlter Funktionäre. Welche
Summen wurden aber trotzdem verbraucht, um im Jahre
1800 für 26 403 Verletzte 16,3 Millionen Mark Entschädi-
gungsbeträge festzustellen und zu gewähren! Auf diese
Leistungen kommen folgende Geschäftsunkosten: 499 662 M.
für Unfalluntersuchungen und Feststellungen, 31 1 859 M. für
schiedsgerichtliches Verfahren, nicht weniger als 3 794 687 M.
allgemeine Verwaltungskosten und 341 525 M. für Unfall-
verhütung, insgesammt 4 947 733 M., also eine Summe, die
beinahe den dritten Theil der überhaupt gezahlten Ent-
schädigungsbeträge ausmacht. Bei einzelnen Berufsge-
nossenschaften ist das Missverhältnis noch viel schlimmer.
So hatte die Bekleidungsindustriegenossenschaft im Jahre
1890 auf 56 595 M. Entschädigungsbeträge nicht weniger
als 30 446 M. Unkosten, und die Schornsteinfegergenossen-
schaft sogar 21 722 M. Unkosten auf 12 206 M. Leistungen.
Die Beispiele könnten leicht vermehrt werden. Und dabei •
stecken in den 16,3 Millionen Gesammtentschädigung alle
Rentenlasten der gewerblichen Berufsgenossenschaften, auch ,
diejenigen, welche in dem Jahre 1885 — 1889 entstanden sind. \
Für die Feststellung dieser Renten in den früheren
Rechnungsperioden sind aber bereits viele Millionen ausge- ,
geben, und man muss befremdet darüber sein, dass der l
amtliche Bericht der Gesammtsumme aller auf Grund der '
Unfallversicherung seit 1885 überhaupt erzielten Leistungen
nicht auch die Unsummen gegenüberstellt, welche in Folge
der berufsgenossenschaftlichen Organisation seit 1885 als
Unkosten notlnvendig waren. Im Augenblicke, wo wir dies
schreiben, können wir die gesammten Geschäftsunkosten
nur bis 1887 einschliesslich zurückverfolgen; sie beträgt J
nicht weniger als rund 20,6 Millionen Mark, wie man mit j
einiger Mühe aus den amtlichen Berichten zusammen-
addiren kann. Einer Gesammtleistung von rund !
52 Millionen von 1886 — 1890 gezahlter Entschädi-
gungsbeträge steht also ein Geschäftsunkosten-
konto von rund 25 Millionen Mark für dieselbe
Periode gegenüber. Auf jede Million gezahlter Ent-
schädigungen kam eine halbe Million Geschäftsunkosten.
Ausserdem ist für die gesammte Unfallversicherung ein
Reservefonds von nicht weniger als 56 Millionen Mark auf-
gesammelt; stellenweise verzeichnen einzelne Genossen-
schaften sehr bedeutende Kursverluste aus der falschen
Anlage des Reservefonds. Wir werden nun kaum in dem
Verdachte stehen, der Industrie „unerschwingliche Lasten“
ersparen oder abwälzen zu wollen und deshalb die Höhe
der Unkosten der berufsgenossenschaftlichen Unfallver-
sicherung zu beklagen. Die Zahlen müssen vielmehr immer
wieder hervorgehoben werden, weil sie zu bezeichnend für
die Plumpheit des ganzen berufsgenossenschaftlichen Me-
chanismus sind, und weil neben ihnen ausserdem alle jene
Chikanen stehen, welche die ganz unzureichend vertretenen
Arbeiter bei den Berufsgenossenschaften auszustehen haben
und noch mehr auszustehen hätten, wenn das Reichsver-
sicherungsamt nicht in seiner jetzigen, freilich ganz zufälligen
Zusammensetzung vielfach einen mildernden Einfluss auf
die berufsgenossenschaftlichen Organe übte. Man kann
eben überhaupt Zahlen, wie sie die amtlichen
Schriftstücke enthalten, nicht nackt aneinander-
reihen und sich über die schönen Summen freuen,
die da herauskommen; die statistische Betrachtung muss
stets mit Rücksicht auf die Organisationsform der Ver-
sicherung vorgenommen werden; wer dies bei den
No. 12.
SOZI AI. POLITISCHES CKNTRAI HI, ATI'.
161
1
I
„Rechnungsergebnissen“ der Berufsgenossenschaften be-
achtet, wird immer zu demjenigen Ergebniss kommen,
welches ein Praktiker bereits 1888 in der grossindustriellen
Zeitschrift „Stahl und Eisen“ zog: „Die Vielschreiberei bei
den Genossenschaften ist grenzenlos. Das verbrauchte
Papier beziffert sich nicht nach Centnern oder Tonnen,
sondern nach Waggonladungen .... Der Verfasser ist
zwei Jahre lang Vertrauensmann gewesen, dabei mit einer
Menge überflüssiger Dinge geplagt worden, hat aber
während dieser Zeit thatsächlich nur , leeres Stroh ge-
droschen' und liegt den Verdacht, dass es mit manchem
Anderen kaum besser bestellt ist. Nur wenige Berulsge-
nossenschaften erkannten die Nothwenigkeit, durch mög-
lichst einfache, sparsame Haushaltung die Klippe zu um-
schiffen, zwischen welche das Gesetz die Arbeitgeber leider
lenkte. Einzelnen ist das sogar thatsächlich durch die Ungunst
der bestehenden Verhältnisse nicht möglich gewesen, und
hier trifft die Schuld allein Gesetzgeber und Ausführungs-
behörden . . . Auf diesem Wege liegt nicht das Heil,
sondern in gründlicher Aufräumung des ungeheuer-
lichen Apparates, der bedauerlicherweise trotz viel-
seitiger Warnungen geschaffen wurden.“
Noch ein Wort über die Unfallstatistik des amtlichen
Berichts. Dass dieselbe unvollständig ist, wird alljährlich mit
folgender stereotypen Wendung in den „Vorbemerkungen“
der Rechnungsergebnisse angedeutet: „es ist anzunehmen,
dass die angegebenen Gesammtzalden der Unfälle im All-
gemeinen hinter der Wirklichkeit Zurückbleiben.“ Grund
dafür: die Unternehmergenossenschaften .können sich nicht
durchweg entschliessen, ihre Kollegen, welche Unfallanzeigen
versäumen, mit Strafe zu belegen. Auch eine Illustration,
welche die Organisation der Unfallversicherung in einem
eigenthiimlichen Lichte erscheinen lässt! Trotzdem ist dies
Mal eine ganz auffällige Steigerung der entschädigten Unfälle
gegen das Vorjahr festzustellen gewesen. Die Gesammtzahl
betrug 42 038 (gegen 31 449 im Vorjahr); davon die Zahl der
Unfälle mit tödtlichem Ausgang 6 047 (5 260) und mit der
Folge dauernder, völliger Erwerbslosigkeit 2 708 (2 908).
Das interessanteste Zahlenverhältniss freilich wird in dieser
Zusammenstellung des Berichtes nicht aus den Tabellen
herausgehoben: dass die auffälligste Steigerung offenbar bei
den landwirtschaftlichen Genossenschaften stattfand,
nämlich von 6 631 Verletzten im Vorjahre auf 12 573 im Jahre
1890, was sich allerdings theilweise daraus erklärt, dass die
landwirthschaftliche Unfallversicherung stellenweise erst
1890 in Wirksamkeit trat. Nebenbei betrug die Zahl der
verletzten jugendlichen Arbeiter bei den gewerblichen
Genossenschaften 1890 zusammen 995 gegen 785 im Jahre
1889. Es darf hier wohl vorweg genommen werden, dass
diese anormalen Steigerungen denn doch die Aufmerksam-
keit des Reichsversicherungsamtes erregten und Anlass zu
einer besonderen Umfrage gaben, die im vorliegenden
Aktenstück noch nicht erwähnt ist, deren Ergebniss aber
dieser Tage anderweit bekannt wurde. Die amtliche Ver-
öffentlichung hierüber im „Reichsanzeiger“ zeigt, dass die
Angefragten, eben wieder nur Unternehmer, Wahres stark
mit Falschem mischten. Was eine „verschärfte Kontrolle“
mit der Zunahme der Unfälle zu thun hat, ergiebt sich aus
dem Eingeständniss der Vorbemerkungen, dass eine Anzahl
Unfälle mangels einer Strafbestimmung auch im Jahre 1890
noch nicht angezeigt wurde. Die „grössere Vertrautheit
der arbeitenden Bevölkerung“ mit einem Gesetz, das bereits
seit 1885 besteht, kann doch auch unmöglich zur Erklärung-
anormaler Verhältnisse im Jahre 1890 herangezogen werden.
Ebenso will uns bedünken, dass die humane Auffassung des
Begriffs „Betriebsunfall“ durch das Reichsversicherungsamt
so neuen Datums nicht wäre, dass sie von entscheidendem
Einfluss auf das Jahr 1890 hätte sein können. Das Richtige
wird unseres Erachtens mit folgenden Gründen getroffen:
Die angespanntere Thätigkeit der Industrie, die Einstellung
nicht genügend geübter, d. h. billigerer Arbeiter, auch in
Folge von Strikes, die hier zu erwähnen sind, nicht aber
bei der „Unbesonnenheit“ der Arbeiter, die mangelhafte
Vorbildung jugendlicher Arbeiter, um deren Anlernung sich
Niemand kümmert, die Verdrängung der Handarbeit durch
die Maschine und die immer mehr um sich greifende
Arbeitsteilung — diese Ursachen hätten in die erste Reihe
gerückt werden sollen, nicht in die hinterste, wie es in der
genannten Veröffentlichung geschieht. Zum Schluss wird
mitgetheilt, dass sich im Jahre 1891 die Zahl der Unfälle
weiter auf 51 437 gesteigert hat. Damit sind die Loblieder
auf die Unfallversicherung und Unfallverhütung durch die
Unternehmer, durch die Thatsachen ad absurdum geführt,
wie es kaum vorauszusehen war. Man darf nun gespannt
darauf sein, wie lange mit Palliativmitteln auf diesem Wege
fortgearbeitet wird, ehe man sich zur gründlichen Abhilfe,
zur völligen Aenderung der Organisation entschliesst.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Die Krankenversicherung der Arbeiter im Jahre 1890,
Die Vierteljahrshefte zur Statistik des deutschen Reiches
veröffentlichen über dieselbe eine vorläufige Mittheilung,
der wir folgendes entnehmen. Im Jahre 1890 waren 21 173
Kassen in Thätigkeit, denen im Durchschnitte des Jahres
6 579 539 Mitglieder angehörten, demnach bezifferte sich die
durchschnittliche Mitgliederzahl derselben auf 319,9. Der
Anzahl der Kassen nach gruppiren sich dieselben folgender-
massen: Gemeinde - Krankenversicherung (8011), Betriebs-
(Fabriks-)kassen (6124), Ortskassen (41 19), Eingeschriebene
Hilfskassen (1869), Landesrechtliche Hilfskassen (468), In-
nungskrankenkassen (452) und Baukrankenkassen (130).
Die Gruppirung nach der Mitgliederzahl weicht hiervon
wesentlich ab. Hier stehen die Ortskrankenkassen (2 746 025)
an der Spitze, ihnen folgen die Betriebskassen (1673 531),
die Gemeinde-Krankenversicherung (I 101 364), die einge-
schriebenen Hilfskassen (810 455), die landesrechtlichen Hilfs-
kassen (144 668), die Innungskrankenkassen (74 438) und
endlich die Baukrankenkassen (29 058 Mitglieder). Die Bau-
end Innungtkrankenkassen sind in Preüssen relativ stärker
verbreitet als in den anderen Bundesstaaten. Die Gemeinde-
Krankenversicherung wird in Bayern ausserordentlich ge-
pflegt, es gehören ihr in Bayern mehr Arbeiter als in
Preüssen. Den eingeschriebenen Hilfskassen gehören in
Bayern weniger Mitglieder an als in Sachsen - Weimar und
nicht einmal die Hälfte der in Bremen in denselben ver-
sicherten Personen. Ueber ein Wertei sämmtlicher und
über zwei Drittel der preussischen Mitglieder gehören in
Hamburg allein den eingeschriebenen Hilfskassen an. Von
den 282 775 Hamburger Krankenkassenmitgliedern sind Mit-
glieder der eingeschriebenen Hilfskassen nicht weniger als
206 813, zu denen noch 25 798 Mitglieder landesrechtlicher
Hilfskassen hinzukommen. Letztere Kassenart ist in Preüssen
ganz unentwickelt, gehörten doch nur 14 893 preussische
Arbeiter diesen Kassen an, während sie in Bayern 28 262
und im Königreich Sachsen 35 989 Mitglieder zählen.
Die Ausgaben der Krankenkassen haben sich von 1885
auf 1890 von 52,6 auf 92,7 Millionen gesteigert, und zwar
bei der Gemeinde-Krankenversicherung von 4,1 auf 8,8, bei
den Ortskrankenkassen von 17,5 auf 37,5, bei den Fabrik-
kassen von 18,4 auf 29,4, bei den Baukrankenkassen von
0,3 auf 0,6, bei den Innungskrankenkassen von 0,25 aut
0,84, bei den eingeschriebenen Hilfskassen von 10,0 auf 13,2,
bei den landesrechtlichen Hilfskassen von 2,0 auf 2,5. Die
Krankheitskosten betrugen im Jahre 1890 auf je ein Mitglied
überhaupt 12,77 Mk. und bei den einzelnen Krankenkassen
nach der Höhe der Leistung geordnet: Bei den Baukranken-
kassen 18,78 Mk., bei den Betriebskassen 16,72 Mk., bei den
eingeschriebenen Hilfskassen 14,65 Mk., bei den landes-
rechtlichen Krankenkassen 14,20 Mk., kei den Ortskranken-
kassen 11,91 Mk., bei den Innungskrankenkassen 9,70 Mk.
und bei der Gemeindekrankenversicherung 7,41 Mk.
Gewerbegerichte.
Ein neues Prud’hommes-Gesetz in Frankreich.
Die französische Abgeordnetenkammer beräth gegen-
wärtig einen Gesetzentwurf, betreffend die Conseils de
Prud’üommes (Gewerbeschiedsgerichte), der, namentlich mit
den Verbesserungen, welche die Kammer bisher an ihm
162
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT,
No. 12.
vorgenommen hat, nicht nur die einschlägigen Gesetze der
übrigen Länder weit überragt, sondern auch all den lang-
gehegten Erwartungen der Arbeiterschaft theils ganz ent-
spricht, theils sehr entgegenkommt und im Ganzen einen
recht erfreulichen Fortschritt auf dem Wege der französi-
schen Sozialgesetzgebung bezeichnet. In erster Reihe wird
der Entwurf den Forderungen der kaufmännisch Angestellten
gerecht, die schon seit Jahren sowohl in Versammlungs- ;
beschlössen wie in Petitionen an die Kammern wiederholt
das Verlangen stellten, die Wirksamkeit der Prud’hommes-
Gerichte auf sie auszudehnen. Bisher waren sie der Juris-
diktion der Handelsgerichte unterworfen. Wie achtungswerth
diese Gerichte, die aus der Wahl der Kaufleute und Gross-
industriellen hervorgehen, nun auch sein mögen, so bieten
sie, da sie nur aus Unternehmern bestehen doch nicht die-
selben Garantieen einer nach allen Seiten hin gerechten
Beurtheilung der aus dem Arbeitsverhältniss entstehenden
Differenzen, wie ein zur Hälfte aus Angestellten zusammen-
gesetztes Gericht. Sieht man aber auch davon ab, dann
bleibt noch das Bedenken, dass sie viel kostspieliger und
zeitraubender als die Prud’hommes- Gerichte sind, was !
allein Viele abhält, sich gegebenen Falles an das Handels-
ericht zu wenden. Dem ist nun abgeholfen, indem künftig-
in — vorausgesetzt, dass der Senat dem Votum der Kammer
beistimmt — auch die aus dem Dienstverhältnis der Prin-
zipale und ihrer Angestellten entstehenden Differenzen vor
das Prud’hommes-Gericht gehören und die kaufmännisch
Angestellten gleich ihren Chefs sowohl das Wahlrecht wie
die Wahlfähigkeit zu den Prud’hommes besitzen.
Weit entfernt, gegen diese Bestimmung zu remonstriren,
ist die Kammer noch weiter gegangen, indem sie auch den
Verkehr und — last not least — die Landwirtschaft mit
einbezogen hat. Die Entscheidung der Prud’hommes wird
demnach angerufen werden können von den Arbeitern,
Angestellten, Kommis, Handelsreisenden, Buchhaltern, Haus-
gewerbetreibenden (Chefs d’atelier de famille), Bureau- und
Ladendienern, Hausknechten (Hommes de peine), Arbeitern
und Angestellten der Verkehrsunternehmungen, sowie im
Allgemeinen von allen in Handel, Industrie und Landwirt-
schaft beschäftigten Lohnarbeitern jeder Art. Dieselben
bilden die Klasse der Arbeiterwähler und sind wahlberech-
tigt, sofern sie das politische Wahlrecht besitzen, d. i. das
21. Lebensjahr vollendet haben, unbescholten und in einer
Wahlliste eingetragen sind , wofür ein sechsmonatlicher
Wohnaufenthalt in derjenigen Gemeinde genügt, in welcher
der Betreffende sein Wahlrecht ausüben will.
Dabei muss noch besonders hervorgehoben werden,
dass man, wie aus der Kammerdebatte hervorgeht, nicht
blos in demjenigen Bezirke Prud’homme-Wähler sein kann,
in welchem man das politische Wahlrecht besitzt, sondern
in welchem Bezirke immer, vorausgesetzt, dass man nur
überhaupt in einer politischen Wahlliste eingetragen ist
und selbstverständlich nur in einem Bezirke wählt. Diese
Bestimmung, die sowohl für die Kategorie der Unter-
nehmer wie für die Arbeiter gilt, ist besonders für die Letz-
teren sehr werthvoll, weil dieselben infolge der Arbeits-
verhältnisse nur allzu oft gezwungen werden, ihren Wohn-
ort zu wechseln. Künftighin wird also ein Arbeiter, der
beispielsweise in der Wählerliste eines Pariser Wahlbezirkes
eingetragen ist, aber durch die Verhältnisse gezwungen wird,
nach Bordeaux, Lyon oder sonstwohin zu ziehen, daselbst
gleich sein Prud’homme- Wahlrecht ausüben können, sofern
er nur durch seine Wählerkarte oder ein sonstiges Dokument
nachweisen kann, dass er in Paris wahlberechtigt ist. Dieser
Fortschritt ist ein um so bedeutenderer, als bisher sowohl
Unternehmer wie Arbeiter nur dann ihr Prud’homme-Wahl-
recht ausüben konnten, wenn sie das 25. Lebensjahr er-
reicht, mindestens fünf Jahre ihr Gewerbe ausgeübt hatten
und drei Jahre im selben Orte wohnhaft waren. Weit ent-
fernt, sich an diese Bestimmung zu halten, verleiht der neue
Entwurf sogar Denjenigen das Wahlrecht, die seit weniger
denn zehn Jahren aufgehört haben, ihr Gewerbe auszuüben.
Derselbe Fortschritt zeigt sich auch in Bezug auf die
Wählbarkeit. Jeder Wähler ist auch gleichzeitig wählbar,
nur mit dem Unterschied, dass er das 25. Lebensjahr er-
reicht haben und des Lesens sowie Schreibens kundig sein
muss, während bisher nur solche Unternehmer und Arbeiter
zu Prud’hommes-Räthen gewählt werden konnten, die ein
Alter von 30 Jahren hatten und gleich den Wählern fünf
Jahre in ihrem Gewerbe thätig und drei Jahre in ihrem
Wahlbezirke domizilirt waren. Die Wählbarkeit von dem
Empfange oder Nichtempfang einer Armenunterstützung
abhängig machen zu wollen, wie dies im deutschen Reiche
der Fall ist, wo doch der Spruch gilt, dass Armuth keine
Schande sei, ist natürlich keinem Abgeordneten eingefallen.
Als eine wesentliche Verbesserung kann auch die
Bestimmung bezeichnet werden, wonach die Werkführer
(Contre-maitres), im Gegensatz zur jetzigen Praxis, zu den
Unternehmerwählern zählen und demnach nur als Unter-
nehmer-Prud’hommes wählbar sind. Wer die Stellung der
Werkführer kennt, von deren Entscheidung nicht selten
die Aufnahme oder Entlassung der Arbeiter sowie deren
Entlohnung abhängt und die, sei es aus persönlichem
Interesse, sei es durch den Zwang der Verhältnisse, stets
auf Seite der Unternehmer stehen, kann diese Bestimmung
nur vollauf berechtigt finden. Die Werkführer zu Arbeiter-
Prud’hommes wählen, heisst dem Unternehmerthum eih
künstliches Uebergewicht verleihen.
Von grosser, prinzipieller Bedeutung ist eine Bestim-
mung, die erst die Kammer in den Entwurf eingeführt hat.
Dieselbe hat nämlich beschlossen, auch den Frauen das
Wahlrecht zu den Prud’hommes-Gerichten zu ertheilen.
Diesem Beschlüsse gemäss sind einerseits alle Arbeiterinnen,
Kassirerinnen, Ladenmädchen u. s. w., andererseits alle an
der Spitze eines Gewerbes oder Handels stehenden Frauen
wahlberechtigt, sofern sie das 21. Lebensjahr zurückgelegt
haben, unbescholten sind und einen sechsmonatlichen Wohn-
aufenthalt im Wahlbezirke des Prud’hommes-Gerichtes nach-
weisen können. Damit ist gleichzeitig ein altes Unrecht •
beseitigt. Es ist in der That nicht einzusehen, warum den
Frauen, die in vielen Industrien, wie z. B. in der Textil-
industrie, der Tabakindustrie u. s. w. die Zahl der Männer
übersteigen und in einzelnen Industriezweigen ausschliess-
lich beschäftigt werden,- während es nur wenige Erwerbs-
zweige giebt, in welchen sie keine Beschäftigung finden,
das Wahlrecht zu den Gewerbeschiedsgerichten verweigert
werden soll. Bedauerlich ist es nur, dass die Kammer den
Frauen nicht auch gleichzeitig die Wählbarkeit ertheilt hat. !
Auf die übrigen Bestimmungen des Entwurfes wird
es wohl Zeit sein, dann zurückzukommen, wenn sie die .
Kammer passirt haben werden.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
Friedenteis, Dr. Josef Freiherr von. Oesterreichisch.es ,4
Städtebuch. Statistische Berichte von grösseren öster- ,
reichischen Städten herausgegeben durch die K. K. statis- '
tische Centralkommission. IV. Jahrgang. Redigirt unter der
Leitung des Präsidenten der K. K. statistischen Central-
kommission Dr K. Th. v. Inama-Sternepp. Wien, Hof- und
Staatsdruckerei, 1892. gr. 8°. 16 und 677 S.
Gebhard, Hermann. Die" Invaliditäts- und Altersver-
sicherung der Hausgewerbetreibenden der Tabak-
fabriken. Berlin 1892. C. Heymann. 8°. 95 S.
Huber, Prof. Dr. F. C. Die Zukunft des süddeutschen
Weinbaus. Stuttgart. Kohlhammer, ohne Jahr. 8°. VI und
194 S.
IcaeBa A. A. (Issajew, A. A.) „Heypoatafi H ro,!0«B“. „(Miss-
ernte und Hunger in Russland“. (IeKIlJü BB IEUnepaTOpCKOMB
AaeKCaHUpOBCKOMT. filmet. (Vorlesungen am kaiserlichen
Alexander-Lyceum). Bb H0.TL3y nOCTpanaBmilXB 0TB He-
ypOHtäfl. (Zum Besten der von der Missernte Betroffenen'.
St Petersburg, R Golike, 1892. 8°. 45 S.
Jay, Raoul Prof. Une Corporation- moderne. Grenoble 1892.
F. Allier pere et fils. 8" 27 S.
Mayi“, G. v. Dr., Unterstaatssekretär, Dr. und Privatdocent.
Üeber Sammlung und Verwerthung des durch die
Arbeiterversicherung gebotenen sozialstastischen
Materials (S A. aus dem Allgemeinen statistischen Archiv).
Tübingen, Laupp. 8".
Statut der Haus- und Wohnungsbesitzgenossenschaft
„Wohnungs-Heimstätte“. Eingetragene Genossenschaft mit
beschränkter Haftung. Berlin-Charlottenburg. Selbstverlag.
1891. 8°. 15 S.
Stolp. Dr. Hermann. Die Lösung der Wohnungsfrage
oder ein eigenes Heim für Jedermann. Mittheilungen
über die Haus- und Wohnungsbesitzgenossenschaft
„Wohnungs-Heimstätte“. Eingetragene Genossenschaft mit
beschränkter Haftung zu Berlin-Charlottenburg. Berlin.
Rosenbaum & Hart, 1892. 8°. 8 und 2 unnummerirte Seiten.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT
Berlin, den 21. März 1892.
Für den Anzeigentheil sind die Redaktion und die Verlagsbuchhandlung nicht verantwortlich. Anzeigen-Annahmestelle nur bei
Dr. Otto Eysler, Berlin SW., Charlottenstrasse 11. Preis für die 3 spaltige Colonelzeile 40 PL
3. (üuftenfajj, DErlagaburfgjanöIung in Berlin.
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Lerh9(nsgaben mit Slnmevfungen.
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günftig. Sie t)at allezeit bent »eniünfttgen Tsorticltr itt gefpilbtßt.
Sie ift wie bte ättefte, fo and) bte größte Teuticlie sd e b e tt 6 b e rftcfjerntt g£s
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läge. 1889. fßreid 1 30t.
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51. b. 99ti:flöfoft>efi. Bnnb I, 1. 1111 b 2. dp ft. 1892- fßveid 9,60 93t.
I. 1. 3ur Jrage ber ©rganifaliou des lanbinirtblifjaftlitben Kredits in Beutfrfj-
Iaud und BeJterreidj. 33 on 59. ©dp ff. fßreiö 3,60 9Jt.
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At-'ltU AivtlUl^p @Mii Söeitvag jur oeniflirijen ©rgiegnug beb meiMidjeu ©efd)lecfytS. 1892.
Sßreiö 40 ißfg.
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(Oerijart b. ^djuße-dhaenenüß, Barfteünng ber " f'ojialpoiitiidten
©rjieljmig beb engtifdjen Boifees im lieiiii^eljiiteii Sabrljnnbert. .ßroei Stäube. 1890.
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Sluturifivte Ueberfetmng aus bem ©iiglifdjeu
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I Beschichte der leuesten Zeit
1 1815 — 1885
Prof. Constantin Bulle.
4 Bände. 1687. Preis brosch. 20 M., geb. 24 M.
-*t „Bulle’s Geschichte der Neuesten Zeit ist ;
3f durchaus vom Standpunkte der Wissenschatt :
di aus geschrieben, soweit bei Beschattenheit •
V • des Quellenmaterials eine wissenschaftliche |
> Behandlung möglich ist. Ein besonderes •
v ^ Geschick bekundet der Verfasser in der l
kj kurzen aber scharfen Chara cterisirung der ♦
iV ^ bandelnden Personen.“
: Jenaer Literaturzeitung. *
^ f ff rT .... ffffffffn tttfff ft ff ft t • «
Verantwortlich für den Anzeigentlveil: Dr. Otto Eysler in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
NtlWWH •••••••?»
Berlin, den 28. März 1892.
Nummer 13.
I. Jahrgang.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausp-eber : Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
Inhalt.
Die Novelle zum preussischen
Berggesetze. Von Dr. Leo
V erka u f.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirthscliaftsstatistik:
Die Abzahlungsgeschäfte in Raten-
loosen in der Schweiz. Von
Kantonsstatistiker E. Naef.
Die überseeische Auswanderung in
Oesterreich.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Der Ausstand der Kohlenarbeiter
in England. Von Dr. Stephan
Baue r.
Die Ergebnisse des deutschen Ge-
werkschaftskongresses. Von Dr.
Adolf Braun.
Evangelische Arbeitervereine in
Württemberg.
[ Organisation der deutschen Tabak-
I arbeiten
Französischer Schneiderkongress.
Ein Kellnerstrike.
Unternehmerverbände:
Das Kokssyndikat im Jahre 1890/91.
Die Spiegelglasfabriken in Böhmen
und Bayern.
Handwerkerfragen :
Die Genossenschaften in Oester-
reich.
Innungsbewegungen in Westphalen.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Anweisung zur Ausführung der
Gewerbeordnung in Preussen.
Arbeiterversicberung :
Die Abänderung des deutschen
Krankenversicherungs - Gesetzes.
Von Dr. Max Quarck.
Kriminalität:
Psychologische Glossen zur Straf-
gesetznovelle. Von Dr. Georg
S i m mel.
Gefängnissnrbeit in Preussen.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Novelle zum preussischen Berggesetze.
I
!
I
Der in der Thronrede angekündigte Entwurf eines
Gesetzes betreffend die Regelung der Verhältnisse zwischen
Bergarbeitern und Grubenbesitzern, ist nunmehr dem Ab-
geordnetenhause zugegangen und hat am 24. d. Mts. die
erste Lesung passirt, welche mit der Verweisung der Vorlage
an eine Kommission von 21 Mitgliedern endete. Der Inhalt
des Gesetzentwurfes wird überall Enttäuschung hervorrufen,
wo man die Hoffnung nährte, die Kämpfe der letzten Jahre
müssten auch die Regierung von der Nothwendigkeit ein-
schneidender Reformen, von der Unhaltbarkeit des gegen-
wärtigen Zustandes überzeugt haben. Keine oder nur wenige
dieser Hoffnungen finden im vorliegenden Entwürfe ihre
Verwirklichung. Dem alten Zustande soll blos ein neuer
Name gegeben, der Willkür der Bergwerksbesitzer ein
juristisch-formelles Gewand umgehängt werden.
Fast möchte man zur Annahme neigen, dass dieser
Charakter der Vorlage eine der Ursachen ist, weshalb wir
dem Entwürfe nicht im deutschen Reichstage, sondern im
i
preussischen Landtage begegnen. Hier sind die Schwierig-
keiten geringere, die Opposition eine schwächere; hier ver-
mag kein Vertreter der Arbeiter die kritische Sonde an die
Regierungsvorschläge anzulegen.
Doch sehen wir von der formellen Seite der Frage ab
und befassen wir uns mit dem Inhalt des Entwurfes. Da
fällt zuerst auf, dass derselbe auf dem Gebiete des Arbeiter-
schutzes i. e. S. Alles so ziemlich beim Alten belässt.
Weder zum Schutze der Frauen, noch auch der jugendlichen
Personen wird eine neue Bestimmung zu den von der
Gewerbeordnung bereits getroffenen hinzugefügt. Das wird
Niemanden überraschen, der die Stellung des Bundesrathes
zu den bezüglichen Vorschriften der Gewerbeordnungs-
Novelle kennt. Nur in einer Richtung weist der Entwurf
einen recht bescheidenen Fortschritt auf. Der § 192 des
Berggesetzes erfährt eine Erweiterung dahin, dass die Ober-
bergämter in Zukunft befugt sein sollen, wenn durch über-
mässige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesundheit der
Arbeiter gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der
Arbeitszeit und der zu gewährenden Pausen vorzuschreiben
und die erforderlichen Durchführungs -Verordnungen zu
erlassen.
Diese Bestimmung entspricht dem § 120 c der G.-O.
Wäre eine ernstliche Verwirklichung des darin ausgespro-
chenen Grundsatzes in der Absicht der preussischen Regie-
rung gelegen, dann hätte sie nothwendig zur gesetzlichen
Regelung der Schichtdauer gelangen müssen; sie würde
die Einführung des Normalarbeitstages nicht in einzelnen
Oberbergamtsbezirken auf dem Verwaltungswege in Aussicht
genommen haben. Es bedarf nicht erst in jedem besonderen
Falle, bei jeder einzelnen Grube der Feststellung, welche
Arbeitsdauer auf die Gesundheit schädigend einwirkt. Wenn
man von den abnormen Fällen besonders hoher l em-
peratur, übermässig starken Wasserandranges u. s. w. ab-
sieht, so lässt sich ganz wohl aussprechen, dass ohne Ge-
fährdung der Gesundheit und Arbeitskraft unter Tage nicht
länger als acht Stunden gearbeitet werden kann. Zu einem
solchen Ergebnisse ist die Vorlage nicht gelangt, und so
zeigt sich denn mit nur zu grosser Deutlichkeit, was von
der ergänzenden Bestimmung zu § 192 erwartet werden
kann. Man wird frühzeitig genug zur Ueberzeugung
kommen, dass Rücksichten auf die Konkurrenzfähigkeit
eine Verwirklichung des Grundsatzes nicht zulassen, der
ja auch in sonderbarem Gegensätze zu den Bestrebungen
nach internationaler Regelung des Arbeiterschutzes steht.
Die hauptsächliche Bedeutung des Entwurfes sucht
! die Regierung selbst in der Regelung der Frage der Ar-
beitsordnungen, mit der sich in der I hat der grösste 1 heil
der vorgeschlagenen Bestimmungen beschäftigt. Die Aul-
164
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
\o. 13.
fassung über die Natur der Arbeitsordnung kann eine zwei-
fache sein. Nimmt man an, dass dieselbe ein Theil des Ar-
beitsvertrages ist, so muss man dazu gelangen, die Mitwir-
kung beider Kompaziszenten, der Arbeiter wie der Unter-
nehmer, beim Zustandekommen der Arbeitsordnung zu for-
dern. Betrachtet man jedoch die Wirklichkeit mit freiem
Auge, unbeeinflusst durch juristische Fiktionen, so wird
man gestehen, dass in Wahrheit die unorgamsirten Arbeiter
nicht den mindesten Einfluss auf die Arbeitsordnung und
ihren Inhalt auszuüben vermögen. Vom Standpunkte des
öffentlichen Interesses muss man dann ein Eingreifen der
Gesetzgebung wie der Verwaltung fordern, soll nicht die
grösste Rücksichtslosigkeit und Willkür die Basis des Lohn-
verhältnisses bilden.
Von welchem dieser Gesichtspunkte geht der Entwurf
aus? Sucht er den Arbeitern die Theilnahme an der Ab-
fassung der Arbeitsordnung zu sichern oder lässt er ihre
Interessen in wirksamer Weise durch die öffentlichen Or-
gane vertreten? Um den Standpunkt der Regierung zu
verstehen, muss man wissen, woraus nach ihrer Auffassung
die Mängel der gegenwärtigen Verhältnisse entspringen.
Die ETnzufriedenheit der Bergleute rührt keineswegs davon
her, dass sie beim Zustandekommen des Arbeitsvertrages
nicht als gleichberechtigter Faktor mitzuwirken vermögen.
Die Erbitterung der Knappen ist auch nicht durch ihre ge-
drückte wirthschaftliche Lage zu erklären. Unzufriedenheit
und Erbitterung sind in ganz anderer Weise entstanden und
sind auch gar leicht zu bannen. Es stehe fest, wird in der
Begründung des Entwurfes ausgeführt, „dass, wo überhaupt
Arbeitsordnungen von den Werksbesitzern erlassen waren,
ein wesentlicher Theil derselben die wichtigsten Punkte
des bergmännischen Arbeitsverhältnisses nicht mit hin-
reichender Bestimmtheit klargelegt, dadurch zu irrthüm-
licher Beurtheilung der gegenseitigen Beziehungen Anlass
gegeben und eine willkürliche Handhabung der Rechte und
Pflichten aus dem Arbeitsvertrage durch die Bevollmäch-
tigten und unteren Beamten der Werksbesitzer mitunter
nicht zu hindern vermocht hat.“ Desshalb werde darauf
Bedacht zu nehmen sein, „dass die Arbeitsordnungen beim
Bergbau eine deutliche, Missverständnisse nach Möglich-
keit ausschliessende und die Einzelheiten des Arbeitsver-
trages klarlegende Fassung erhalten, dass dadurch den beiden
in Betracht kommenden Interessengruppen der Umfang
ihrer gegenseitigen Berechtigungen und Verpflichtungen in
nicht abzuweisender Form vor Augen geführt wird, und
dass Bergwerksbesitzer und Bergmann die Arbeitsordnung
als Grundlage des Arbeitsverhältnisses betrachten lernen“
(Seite 20).
Nach dieser Darstellung ist es nicht die Abhängigkeit,
der Druck und die traurige wirthschaftliche Lage, welche
die Ausstände der letzten Jahre herbeigeführt haben. Es
bedarf also auch keiner Massregel um eine Abhilfe zu
schaffen. Nur der Mangel ausführlicher Arbeitsordnungen
hat die aufregenden Ereignisse im Jahre 1889 und später
verursacht. Sie wären unterblieben, wenn man rechtzeitig
all dasjenige, was die Bergleute als Druck und Willkür
betrachteten, durch die Aufnahme in Arbeitsordnungen ge-
heiligt hätte. Die obligatorische Arbeitsordnung ist dem-
nach das Mittel zur Schaffung befriedigender Zustände.
Man möchte freilich glauben, dass so wichtig wie die
Existenz, auch wohl der Inhalt der Arbeitsordnung sei.
Der vorliegende Entwurf theilt diese Auffassung nicht. Im
Grossen und Ganzen bleibt der Inhalt der Arbeitsordnungen
auch in Zukunft dem Belieben des Grubenbesitzers über-
lassen. Er soll lediglich mit dem Gesetze nicht im Wider-
spruche stehen. Da aber das Gesetz nur sehr wenige
Grenzen zieht, so ist eine wesentliche Veränderung der
heutigen Sachlage nicht zu gewärtigen, wenn die Vorlage
in der vorliegenden Gestalt zur Annahme kommt.
Die Arbeitsordnung soll thunlichst alle Eventualitäten
vorhersehen. Sie hat insbesondere zu enthalten: Bestim-
mungen über die Schichtdauer, wie über Nebenschichten
und die Voraussetzungen, unter welchen dieselben zu ver-
fahren sind, Vorschriften über die Art der Gedingestellung,
über die Abzüge wegen ungenügender oder vorschrifts-
widriger Arbeit, über Kündigung und Entlassung, Ordnungs-
strafen u. s. w. Die Mehrzahl dieser Vorschriften bleibt
völlig dem Ermessen des Grubenbesitzers überlassen und
es tritt so an die Stelle der ungeschriebenen, in Zukunft
die geschriebene Willkür des Unternehmers. Daran wird
die Anordnung nichts ändern, dass vor Erlassung und Ab-
änderung der Arbeitsordnung die Knappen oder der etwa
bestehende Arbeiterausschuss zu hören sind. Auch diese
können, wie die Behörde, nur ungesetzliche Bestimmungen
beanstanden. Die Beseitigung unbilliger oder drückender
Vorschriften werden sie vergeblich fordern, da die Ver-
waltungsorgane keine Handhabe zu deren Untersagung
besitzen. Der Entwurf weiss eben Nichts von der Noth-
wendigkeit, den Bergleuten das Recht einzuräumen, die
Arbeitsordnung auch vom Standpunkte der Zweckmässigkeit
zu prüfen.
Die Regierung lässt sich demnach von keiner der oben
dargelegten Auffassungen leiten. Weder haben die Arbeiter
am Zustandekommen des „Vertrages“ mitzuwirken, noch ,
auch werden ihre Interessen von Seiten der behördlichen
Organe gewahrt. Die Arbeitsordnung ist schlechthin
Gegenstand der Sorge des Grubenbesitzers; von seinem,
grossem oder geringem Wohlwollen hängt es ab, ob die
bisherige unerträgliche Lage der Bergarbeiter fortbestehen ;
oder ob sie eine Milderung erfahren soll. ,
Von diesem prinzipiellen Gesichtspunkte lässt sich die
Vorlage in fast allen Fragen leiten, welche den Bergleuten
Grund zu Beschwerden gegeben haben. Prüfen wir dies .
kurz im Einzelnen.
Das auch amtlich zugestandene Uebermass von Strafen, i
die dabei herrschende Willkür, die Unvereinbarkeit der j
angemassten Disziplinargewalt mit der Gleichberechtigung '
von Unternehmer und Arbeiter, linden im Entwürfe keine \
weitergehende Abhilfe und Berücksichtigung, als in der No-
velle zur Gewerbeordnung. Auch beim Bergbau soll es
der Arbeitsordnung, das heisst also dem Unternehmer, un-
benommen bleiben, jede beliebige Handlung mit Ordnungs-
strafen zu bedrohen, die Höhe der Strafen zu flxiren, die
Art ihrer Festsetzung, sowie die dazu berufenen Personen
zu bestimmen. Ausdrücklich wird der Werksbesitzer sogar
dazu berufen, die Währung der guten Sitten, die Durch-
führung der gesetzlichen Vorschriften (sic!) durch Geld-
strafen zu erzwingen. Es fehlt nur noch, dass ihm das Recht
zuerkannt werde, statt der Geldstrafen auch Haft und Ge-
fängniss zu verhängen.
Von den zwei im Gesetze vorgesehenen Beschrän-
kungen, wonach die Strafbestimmungen das Ehrgefühl und |
die guten Sitten nicht verletzen dürfen und das Ausmass
der Geldstrafen den halben oder ganzen durchschnittlichen
Tagesverdienst nicht überschreiten soll, ist die letztere
völlig belanglos. Nicht blos die Hohe der im einzelnen
F'alle verhängten Geldstrafen bildet einen Beschwerdepunkt
der Bergarbeiter, sondern das Gesammtausmass der vom
verdienten Lohne zurückbehaltenen Beträge. Und in dieser
Richtung bleibt es beim bisherigen Zustande
Auch das „Nullen“ wird vom Entwürfe als eine be-
rechtigte Eigenthümlichkeit des Bergbaues anerkannt. Nur
hat die Arbeitsordnung, also wieder der Unternehmer, die
Voraussetzungen, unter welchen Abzüge wegen unge-
No. 13.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
165
nügender oder vorschriftswidriger Arbeit gemacht werden
dürfen, die Personen, die dazu berufen sind und der Be-
; schwerdeweg der dagegen eingeschlagen werden kann,
festzusetzen und die Art der Verwendung der in Abzug
i gebrachten Produkte oder des Geldwerthes derselben zu
bestimmen. Ist dies Alles geschehen, dann steht Nichts im
Wege, dass das „Nullen“ in eben derselben Weise wie bis-
her vor sich gehe, ein juristisches Gewissen wird daran
Nichts mehr auszusetzen finden.
Auch in der Frage der amtlichen Aichung der Förder-
gefässe ist dem Wunsche der Arbeiter nicht entsprochen
worden. Der Entwurf begnügt sich mit der Bestimmung,
dass bei Abhängigkeit des Gedinges vom Rauminhalte der
Wagen, bei jeder Grube nur Fördergefässe von gleichem
Rauminhalt benutzt werden dürfen, der überdies äusserlich
von den Grubenverwaltungen kenntlich gemacht werden
muss. Hängt das Gedinge vom Gewichte der Förderung
ab, dann sollen die Fördergefässe nach Form und Raum-
inhalt gleich sein und das Leergewicht ebenfalls äusserlich
kenntlich gemacht werden. Es hätte nur eines Schrittes
bedurft und man wäre zur amtlichen Aichung gelangt,
welche die umfangreiche Ueberwachungsthätigkeit den
Bergbehörden ersparen würde.
Die Beschwerden über die Abkehrscheine bleiben
unberücksichtigt. Auch fürderhin soll die Existenz eines
jeden Arbeiters selbst wegen der geringfügigsten Hand-
lungen gefährdet werden können. Man vermag es nicht
zu leugnen, dass der ursprüngliche sicherheitspolizeiliche
Zweck der Abkehrscheine heute weggefallen ist. Die Unter-
nehmer senden bei aufsteigender Konjunktur ganz uner-
fahrene Arbeiter in die Gruben und setzen dadurch zahl-
reiche Menschenleben auf’s Spiel. Dafür hat der Abkehr-
schein eine in den Augen unserer Sozialpolitiker weit
wichtigere Aufgabe zu erfüllen: er soll jeden Kontraktbruch
unmöglich machen oder mindestens den Vertragsbrüchigen
Bergmann von der Bergarbeit ausschkessen. Vor einer
solchen Aufgabe müssen alle Bedenken verstummen, muss
selbst unberücksichtigt bleiben, dass für die kleingewerb-
lichen und grossindustriellen Arbeiter weder der Zeugniss-
zwang noch das obligatorische Arbeitsbuch besteht.
Dem gleichen Zwecke soll neben vielen anderen auch
die Bestimmung des § 80, Absatz 2, des Entwurfes dienen,
welche dem § 134, Absatz 2, der Gewerbe-Novelle ent-
nommen ist. Der Bergwerksbesitzer hat das Recht, einen
durchschnittlichen Wochenlohn von jedem Arbeiter zurück-
zubehalten und denselben im Falle der widerrechtlichen
Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit Beschlag zu belegen.
Wir könnten noch eine Reihe weiterer Vorschriften,
die im gleichen Geiste gehalten sind, anführen. Wir glau-
ben jedoch, dass schon das bisher Gesagte zur Kennzeich-
nung der Vorlage genügt. Wir wollen nur noch auf die
wenigen Lichtblicke des Entwurfes hinweisen.
Nach § 80 c Abs. 2 ist dann, wenn auf Grund der Ar-
beitsordnung wegen ungenügender oder vorschriftswidriger
(der Entwurf bleibt beharrlich beim geschmacklosen „un-
vorschriftsmässig“) Beladung Fördergefässe nicht angerech-
net werden, den betheiligten Arbeitern Gelegenheit zu
geben, hiervon nach Schluss der Schicht Kenntniss zu
nehmen.
Der Bergwerksbesitzer ist ferner verpflichtet, zu ge-
statten, dass die Arbeiter durch einen von ihnen oder dem
Arbeiterausschus.se aus ihrer Mitte gewählten Vertrauensmann
das Verfahren bei Feststellung der Abzüge insoweit über-
wachen lassen, als dadurch eine Störung der Förderung
nicht eintritt.
Mit anerkennenswerther Entschiedenheit räumt der
Entwurf mit dem vielgenannten „Füllkohlenabzuge“ auf.
Es sollen in Hinkunft den Bergleuten für Waschabgänge,
Halden- und sonstige beim Absätze der Produkte sich er-
gebende Verluste keine Abzüge mehr gemacht werden
dürfen.
Ueberblickt man den Inhalt des Entwurfes und lauscht
man der Sprache der Begründung, so glaubt man altbe-
kannte Anschauungen, bereits gehörte Laute zu erkennen.
Es ist der Geist, der auch der „Denkschrift über die Ar-
beiter- und Betriebsverhältnisse in den Steinkohlenbezirken“
seine Signatur aufgedrückt hat, jener bureaukratisch eng-
herzige Geist, dem alles Leben, jede Bewegung ein Greuel
ist, und der vielleicht deshalb allein den Bemühungen der
Bergleute nach Besserung ihrer Lage ablehnend gegenüber-
steht. Weiss man dies, dann begreift man den Inhalt der
Novelle zum preussisc.hen Berggesetze.
Leo Verkauf.
Soziale Wirtschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Die Abzahlungsgeschäfte in Ratenloosen in der
Schweiz.
In jüngster Zeit hat in der deutschen Schweiz der
gewerbsmässige Vertrieb von sogenannten Prämienwerthen
gegen Ratenzahlungen einen solchen Umfang genommen
und sind hierbei derartig schlimme Auswüchse zu Tage
getreten, dass in einzelnen Kantonen staatliches Einschreiten
verlangt wird. Im züricherischen Kantonsrath ist bereits
ein dahinzielender Antrag vom schweizerischen Gewerbe-
sekretär angekündigt und auch im Aargau beschäftigt man
sich mit der Frage, in welcher Weise aut dem Wege der
Gesetzgebung vorzugehen sei. Schützende Massregeln sind
bei diesen Abzahlungsgeschäften weit nothwendiger als bei
den gewöhnlichen Abzahlungsgeschäften, weil der Käufer
hier meistens gar nicht in der Lage ist, den Werth des
Kaufgegenstandes richtig zu beurtheilen und daher einzig
aut die Angaben des Verkäufers sich verlassen muss, der
in Folge dessen mit seinen verlockenden Anpreisungen nur
zu leichtes Spiel hat. Dazu kommt, dass der Vertrieb
meistens durch Hausiren geschieht, wobei mit Vorliebe das
platte Land aufgesucht wird; den schlichten Dortbewohnern
sind Börsenpapiere unbekannt und so ist es nicht schwer,
unter Vorspiegelung grosser Gewinne, auf die man durch
kleine monatliche Ratenzahlungen Aussichten erlangen
kann, die Leute in's Garn zu locken.
Liest man die Prospekte der sogenannten „Banquiers“,
welche den Verkauf solcher Papiere gewerbsmässig als
Spezialität im Grossen betreiben und in alle Gegenden
ihre Hausirer schicken, so könnte man freilich glauben,
es handle sich um die solidesten Geschäfte, die es giebt.
„Ausser der grössten Sicherheit und neben eventueller
Verzinsung ist ja noch die Möglichkeit da, sehr bedeutende
Gewinne zu erzielen. Von einem Verlust kann niemals
die Rede sein; das Spiel ist hier gerade das Gegentheil
eines Wagnisses, nämlich Gratiszugabe, freie Gewinnchance
ohne Spielrisiko, weshalb der Besitz von Prämienloosen
zugleich die billigste und ungefährlichste Gelegenheit ge-
setzlich erlaubten Glücksspiels in sich begreift. Dazu
tritt noch die positive Gewissheit der beständigen Mehr-
bewerthung der Loose.“ Solche und andere Reklame wird
gemacht und hierbei nicht versäumt, darauf hinzuweisen
dass sich die Anlehensloose ganz besonders für jeden ein-
sichtigen Handwerker und Arbeiter eignen, um Erspar-
nisse anzulegen und dass sie Lebensversicherung und
Sparkassen weit in Schatten stellen. Welche Bewandtniss
es mit den „Ersparnissen“ Gei den Ratenloosen hat, zeigt
die Praxis deutlich genug. Gewöhnlich nimmt der Hausirer
oder Agent eine Anzahlung auf eine .Serie von Loosen
entgegen, deren Preis in monatlichen oder halbmonatlichen
166
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 13.
Ratenzahlungen durch Nachnahme erhoben wird. Die
Käufer erhalten bei der ersten an den Agenten zu machen-
den Zahlung, welche in der Regel dessen Provision bildet,
einen Interimsvertrag nebst Prospekt und bei später er-
folgenden Nachnahmen ein Original-Nummern-Dokument.
Die Loosnummern bleiben in Händen des Bankgeschäftes
bis alle Zahlungen geleistet sind und erst wenn dies ge-
schehen, bekommt der Käufer die Loose in seine Hände.
Wenn inzwischen ein Loos einen Treffer zieht, so soll
dieser dem Käufer zu Gute kommen.
Es handelt sich hier meistens um fremde Staats- oder
Städte-Obligationen von oft recht dubiosem Werth. Fatal
ist es nun für den Abnehmer vor Allem, dass im Original-
Nummern-Dokument die Jahreszahl der Loose nicht ange-
geben ist. In den Ziehungslisten heisst es immer: Loose
vom Jahr so und so: wie soll nun der Inhaber eines Origi-
nal-Nummern-Dokuments wissen, ob sein Loos unter den
gewinnenden sei? Der Banquier verspricht freilich pünkt-
liche Kenntnissgabe; allein wer kontrolirt ihn? Ferner hat
der Looskäufer gar keine Garantie, dass die für ihn reser-
virt sein sollenden Original-Loos-Nummern auch wirklich
vorhanden sind. Hat der Käufer während fast 3 Jahren
seine Zahlungen geleistet, so muss er erst noch abwarten,
ob er überhaupt so viele Originalloose erhält, als ihm zu-
gesichert worden sind, und wenn dies auch der Fall ist, ob
ihm nicht solche jüngeren Datums unterschoben werden.
Man darf indessen kühn behaupten, dass keine 50 Prozent
der Käufer alle Ratenzahlungen leisten. Der Eine hält
vielleicht ein Vierteljahr, der Andere ein volles Jahr aus;
wenn aber nie ein Treffer erfolgt, werden die Zahlungen
sistirt und Alles ist verloren und die Tasche des schmun-
zelnden Banquiers wird gefüllt. Der auf diese Weise erzielte
Gewinn ist weit grösser als derjenige, der aus dem hohen
Preise der Loose gezogen wird.
Dem Käufer wird natürlich vom Agenten vorgespiegelt,
wenn er keine weiteren Ratenzahlungen mehr leisten könne
oder wolle, würden ihm alle Einzahlungen wieder zurück-
erstattet; das zieht, ist aber eine plumpe Täuschung. Der
Banquier beruft sich einfach auf die gedruckten Vertrags-
bedingungen und bemerkt höhnisch, was die Agenten ver-
sprochen, gehe ihn nichts an; den Agenten wird dagegen
dieses Lockmittel angerathen. Beispiele dieser Art sind in
jüngster Zeit im Aargau mehr als ein Dutzend konstatirt
worden, in Wirklichkeit betragen die Fälle indessen in einem
einzigen Bezirke mehr als das Zehnfache! Der Schwindel
wird ärger getrieben als man glaubt, und es ist daher gesetz-
liches Einschreiten dringend nothwendig
Vorerst wird es sich darum handeln, die Ratenab-
zahlungsgeschäfte aus dem Hausirvertrieb zu entfernen und
dann den gewerbsmässigen Verkauf der Ratenloose unter
solche staatliche Kontrole zu stellen, dass die Klienten vor
Ausbeutung und Betrug wirksam geschützt werden.
Aarau. E. Naef.
Die überseeische Auswanderung aus Oesterreich. In der
„Statistischen Monatsschrift“ veröffentlicht Dr. F. Probst einen
längeren Aufsatz über die überseeische Auswanderung in Oester-
reich, dem wir folgende Angaben entnehmen. Im Jahre 1889
wanderten aus Oesterreich-Lngarn 55 667 und im Jahre 1890
74 002 Personen aus, davon entfielen 1889 über 29 000, 1890 gegen
38 000 auf Oesterreich. 1889 gehörten hiervon 65,1%, 1890 63,6%
dem männlichen Geschlechte an. Von den im Jahre 1890 aus-
wandernden standen unter je 100 im Alter von
Männer Frauen
unter 15 Jahren ... 50 50
15—40 Jahren .... 67 33
über 40 Jahren ... 77 23.
Von sämmtlichen Auswanderern standen in der Alters-
1889
1890
unter 15 Jahren . . .
. 21
20
von 15 — 40 Jahren . .
69
67
über 40 Jahren . . .
10
13.
Demnach bestand der fünfte Theil der Auswanderer aus
Kindern, während ca. 7/xo dem arbeitsfähigen Alter angehörten.
Die Berufsstatistik der österreichischen Auswanderer ist wie
die ganze österreichische Berufsstatistik ungenügend. Nach
derselben gehörten an
Prozente
1889
1890
der Land- und Forstwirthschaft . . .
7
4
den Gewerben und der Industrie . .
11
7
dem Handel und Verkehre
12
6
den liberalen Berufen
1 (0,6)
0(0,5)
anderen Berufen (einschl. der Arbeiter)
29
48
unbekannten Gewerben
40
35.
Sehr merkwürdig gestaltet sich die
Gruppirung der Ge-
schlechter innerhalb der einzelnen Berufsgruppen. Es
im Jahre 1890 aus
wanderten
auf je 100 Personen Männer
Frauen
der Land- und Forstwirthschaft . .
61
39
„ Gewerbe und der Industrie . .
81
19
des Handels und Verkehrs ....
83
17
der liberalen Berufsarten
82
18
„ Arbeiter . .
75
25
aus anderen Berufen
87
13
„ unbekannten Berufen
32
68.
LTnter den europäischen Auswanderungsstaaten, nach der j
absoluten Auswanderungsziffer geordnet, würde Oesterreich- |
Ungarn nach Grossbritannien und Irland, Italien und dem (I
deutschen Reiche die vierte Stelle, Oesterreich ohne Ungarn
nach Schweden-Norwegen die 5. Stelle einnehmen. Da der
Geburtenüberschuss in Oesterreich im Jahre 1890 172 593 Köpfe
beträgt, verliert Oesterreich durch die Auswanderung 22%, über
ein Fünftel derselben.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Der Ausstand der Kohlenarbeiter in England.
In den Tagen vom 12. bis zum 21. März 1892 ist der
grösste Ausstand in der Geschichte der europäischen Arbeit
friedlich vorübergegangen. So wenig sich zur Stunde be- '
urtheilen lässt, ob der wirthschaftliche Zweck, zu dessen j
Erzielung er in Scene gesetzt worden war, verwirklicht •
worden sei — einen Beweis hat er sicherlich erbracht: er <
hat die Stärke der Organisation der englischen Arbeiterschaft
und den Werth freier Institutionen ihres Landes der Welt
bewiesen. Kein Treubruch und keine nennenswerthen Aus-
schreitungen waren seine Begleiter.
Der Ausstand umfasste, wie durch die Miners Federation
konstatirt wurde, 405 890 Personen, also rund zwei Drittel
der gesammten Bergarbeiter des vereinigten Königreiches.1) \
Nur Schottland, mit der Ausnahme von Stirlingshire,
Northumberland und Südwales blieben der Bewegung aus ;
Ursachen, die später erörtert werden sollen, lern. Durharn
schloss sich der Bewegung im letzten Augenblicke an und
befindet sich zur Stunde noch im Ausstande.
Das Experiment der Miners’ Federation ist somit stra-
tegisch gelungen. Auf den Wink der Konferenz von Man-
chester verliess fast eine halbe Million Arbeiter, ohne jede j
Aussicht auf Zahlung von Strikegeldern, die Gruben. Sie
beugten sich dem Willen ihrer Führer, die nach resultat-
losen Besprechungen mit den Unternehmern das Preis-
experiment versuchten. Vielen Unternehmern in der Eisen-
und Textilindustrie war der Ausstand ein willkommener
Anlass zur Schliessung erträgnissarmer Fabriken; manche
gestatteten ihren Arbeiterinnen als Angehörigen von Berg-
leuten mitzufeiern und beschränkten ihre Produktion. Viele .
Kohlenbesitzer wurden aber durch die Einstellung schwer
geschädigt, und die durch die Zeitungen kolportirte Nach-
richt von einem Kartell der Kohlenarbeiter und Kohlen-
besitzer scheint auf feindseligen Kombinationen zu be-
ruhen.
Die Motive, von welchen sich die Arbeiterführer leiten
Hessen, sind bekannt. „Dies ist eine neue Kamptesweise,“
sagte Sam Woods, der Vizepräsident der Federation, am
b Nach den Summaries of the Statistical Portion of the
Reports of the Inspectors of Mines, die soeben zur Ausgabe
gelangen, betrug in den Jahren
1891 1890
die Anzahl der Arbeiter in den
Kohlenwerken 648 458 613 241.
geförderte Tonnen 185 479 126 181 614 288.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
167
No. 13.
Vorabende des Strikes, „und lediglich ein Experiment
<regenüber dem alten Vorgänge, jede Grafschaft ihre eigenen
Streitigkeiten auskämpfen zu lassen. Würde ein Bezirk
sich eine Lohnreduktion gefallen lassen, so würde diese
Bewegung gleich einer Epidemie auch über das ganze
Königreich sich ausbreiten.“ Ja, Woods behauptet, dass
das Gelingen dieses Ausstandes eine Lohnerniedrigung und
dadurch einen Massenstrike aller Arbeiterkategorien ver-
hüten solle. Die Kohlenpanik erklärte er für das Werk der
Londoner Middlemen und Kohlenhändler; und diese Be-
hauptung fand neue Nahrung in dem Ausspruche des
Präsidenten des Kohlenhandelsvereins zu Birmingham, dass
im Gegensätze zu London die Kaufleute von Birmingham
die übliche Ehrlichkeit gehabt hätten, die Preise zum Schaden
des konsumirenden Publikums nicht emporzuhetzen.
Die Vorbereitungen zum Ausstande erstreckten sich
besonders auf Bezirke, die dem Rufe der Federation hall)
widerwillig Folge leisteten. Dahin gehörte Nordwales,
wo Grubenleuten, welche ihre Kündigung nicht meldeten,
mit der Ausstossung aus der Federation gedroht wurde,
und Südwales, wo die gleitende Skala den Anschluss an
die Bewegung verhinderte. „Zwischen einer guten Orga-
nisation und gleitenden Skalen“, sagte dort der Strike-
agitator, „herrscht derselbe Unterschied, wie zwischen einem
lebenden und einem todten Fische. Dieser wird vom Strom
abwärts getrieben; der lebende Fisch schwimmt eventuell
auch gegen den Strom, wie die National-Federation gegen
die Strömung des Marktes.“ Aber die Inszenirung des Aus-
; Standes erheischte auch die Abwehr der Einfuhr auslän-
discher Kohle Die Nähe der Kohlenkrisis hatte in der dem
Strike vorhergehenden Woche für die Kohlenträger in
London einen glücklichen Ausgang ihrer Lohnstreitigkeit
zur Folge gehabt. Sie erboten sich zum Danke, keine
fremden Kohlen zu löschen, und drückten den Wunsch aus,
mit der Federation in engeren Verband zu treten. Ja es
waren selbst von Seite der belgischen Bergarbeiterführer
Vorkehrungen getroffen, die Kohlenförderung nöthigenfalls
zu verringern, und dadurch die Beschaffung ausländischer
Kohle zu verhüten.
Die ganze Bewegung, welche von Lancashire, dem Sitze
der Federation, ausging, erhielt aber ihren grössten Impuls
durch den Anschluss der Bergleute von Durham, die nach
zwei Abstimmungen am 10. März erfolgte. Diese Einstel-
lung betraf 92,588 Bergleute in 216 Gruben, die 86 Be-
sitzern gehören, und deren Förderung fast ein Fünftel der
gesammten englischen Kohlenproduktion, einen Werth von
jährlich 1 1 634 202 Lst. repräsentirt. Durham versorgte
sonst Sheffield und London mit Hauskohle; diese waren
nunmehr auf Südwales angewiesen. Aber auch hier be-
schlossen die Bergleute, keine Ueberstunden zu arbeiten.
Die Vereinigung der Bergwerkbesitzer erliess ein Manifest,
in welchem ein Rückblick auf die bisherige Lohnregelung
geworfen wird. Sie erinnern daran, dass seit 1871 An-
sprüche auf höhere Entlohnung vielfach im gegenseitigen
Einvernehmen geschlichtet worden seien. Im Jahre 1877
wurde die erste gleitende Skala mit einem Minimallohnsatze
(2s. 9d. per Tag) festgestellt. Diese wurde von den Unter-
nehmern zur Zeit der Preisdepression von 1879 (April) ge-
kündigt, was einen siebenwöchentlichen Ausstand zur
Folge hatte. Durch den definitiven Schiedsspruch
Lord Derby’s im Juli des Jahres wurde dieser beigelegt
und eine 10 procentige Lohnreduktion beschlossen.
Oktober 1879 wurde eine zweite Sliding Scale
eingeführt; die bestehenden Gedinge und Tagelöhne sollten
bei einem Kohlenpreise von 4 s. 2 d. bis 4 s. 6 d., und bei
jeder Preissteigerung von 4 d. eine Lohnsteigerung von
272°/o eintreten. Die dritte Skala vom 29. April 1882 lässt
den Standardlohn bei einem Preise 3 s. 10 d. bis 4 s. und
bei jeder Preissteigerung von 2 d. eine Lohnsteigerung
von 1V40/0 eintreten. Nur bei den Preisen von 5 s. 10 d.
bis 6 s., 6 s. bis 6 s. 2 d. beträgt die Lohnsteigerung 2 l/2 %•
Die vierte und letzte Skala (12. Juni 1884) unterschied
sich nur von der vorhergehenden in der Ermittelung
des Verkaufspreises, bei welcher ein 3 monatlicher Durch-
' schnitt zu Grunde gelegt wurde. Diese Skala wurde von
den Bergleuten, welche die Steigerung als zu gering be-
trachteten, am 31. Juli gekündigt.1) Die Kohlenpreise
stiegen; vom Frühjahr 1889 bis Januar 1891 erlangten die
Bergleute im Ganzen eine 35 proz Lohnerhöhung. Zugleich
trat eine Kürzung der Arbeitszeit in Kraft, welche im Jahre
1887 für die Häuer 39,4 bis 40,3 Stunden per Woche be-
tragen hatte. Im Januar begann die rückläufige Preisbe-
wegung; schon im April 1891 machte der Sekretär des
Kohlenbergbesitzervereins den Sekretär der Durham Asso-
ciation auf die Nothwendigkeit einer Lohnreduktion auf-
merksam, worauf sich die letztere nach gepflogener Be-
rathung einzugehen weigerte. Der Preistall nahm, wie be-
kannt, im Herbste und im Januar 1892 an Heftigkeit zu.
Am 14. Januar wurde der formelle Antrag einer 10 prozentigen
Lohnreduktion gestellt, beziehungsweise sollte einem Schieds-
gerichte die Entscheidung über die Höhe derselben über-
lassen werden. Nach neuerlicher Weigerung, in diese Be-
dingungen einzuwilligen, stellten am 20. Februar die Unter-
nehmer ihr Ultimatum: 7'/2 % sofortige Lohnreduktion, oder
zwei Reduktionen von je 5 °/0, von welchen die eine sofort,
die zweite vom 1 . Mai angefangen, eintreten sollte. Am
12. März wurde ihnen der letzte Bescheid zu theil: keine
Lohnreduktion wird angenommen. Einige Gruben streikten
bereits am 1 1 . auf die Nachricht, dass keine freie Haus-
kohle mehr zugestanden werde. In einer, durch Grund-
wasser bedrohten Grube (Sherburn House Pit), wurde
eine 5 prozentige Lohnerhöhung angeboten; aber auch
hier wurde die Arbeit eingestellt. Vielen Dörfern der Um-
gebung, die durch die Pumpwerke der Gruben mit Wasser
versehen werden, drohte schwere Wassersnoth.
Dass Schottland der Bewegung fernbleiben werde,
war vorauszusehen. Die Miners Federation besass nur in
Stirlingshire Mitglieder, und diese waren auch am Aus-
stande betheiligt. Ueber den Stand der Organisation in
den übrigen Revieren haben aber zwei Bergarbeitertührer,
Mr. William Small und Keir Hardie übereinstimmende Aus-
kunft vor der Royal Commission on Labour abgegeben.
Trotz der Führerrolle Lancashire’ s ist auch in diesem Distrikte
in Folge religiöser und Racenunterschiede die Gewerkvereins-
organisation eine verhältnissmässig lockere. (10280.) Aber
diese Bergleute "naben „das Geheimniss der Beschränkung der
Produktion herausgefunden: sie beschränken die Forderung
und verkürzen die Arbeitszeit, sobald eine Lohnreduktion
in Aussicht steht“. Die „F'ünftagepolitik“ hat tür sie nicht
nur einen physischen, sondern auch einen geschäftlichen
Zweck, nämlich den der Regelung des Marktes“. (10 166.)
Ebenso erklärt Keir Hardie, der Präsident der etwa 1000
Mitglieder zählenden Ayrshire Miners Union, dass seit ihrer
Begründung (1886) die Löhne dadurch gesteigert worden
seien, dass die Bergleute nur dreitägige Förderarbeit ver-
richteten oder dieselbe so lange einschränkten, bis die
Lohnerhöhung erfolgte (12 433). In Schottland war also
das Preisexperiment, das man in England durchzusetzen
strebte, in vollem Gange und unter ungünstigen Verhält-
nissen erfolgreich gewesen. Man beschloss daher zu Glas-
gow am 10. März, die fünftägige Arbeitswoche fortzusetzen,
und nicht zu striken.
Die Wirkungen des Strikes sind zur Stunde noch
nicht absehbar. Noch am 7. März hatten im Detailverkauie
Kohlen in London 38 s. per Tonne notirt. Auch die Holz-
preise stiegen noch zwei Tage später. Aber am 10. be-
gannen die Kohlenpreise bereits zu sinken, und erreichten
am 15. d. M. den Preis von 34 s. Dieser Preisfall erklärt
sich sowohl aus der überreichen Kohlenversorgung, die an-
gesichts des Strikes stattgefunden hatte; als Rückschlag
nach der wilden Spekulation der früheren Tage, zum Theil
wohl auch aus der durch die Einstellung vieler Unter-
nehmungen gesunkenen Nachfrage. Kupfer- und Eisen-
werke in Derbyshire und Cleveland, die Baumwollspinne-
reien in Bolton, Thonwerke in Nordstaffordshire, Maschinen-
und chemische Fabriken, Schiffbau und Eisenbahnunter-
1 ) Eine neue Lohnskala wurde von ihnen noch im August
1891 vorgeschlagen; die Sätze betrugen F/4% für jede Preis-
steigerung von 2. d. Vgl. Royal Commission on Labour, 2606.
168
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLAT I .
No. 13.
nehmungen standen stille oder reduzirten ihren Betrieb.
So beschränkte die Nord-Eastern Railway ihren Verkehr
um 178 Züge.
Auf die Einfuhr ausländischer Kohle konnte man daher
verzichten. Der Hafen von Hüll war mit Kohlen auf
l-l Tage hinaus versehen. Auch die Kohlenversorgung
solider Firmen war eine vollständige; manche städtischen
Gasanstalten, so jene von Leeds, erklärten, auf lange Zeit
mit Brennmaterial versehen zu sein, während die Gas
Company in London zum sparsamen Gasverbrauch mahnen
zu müssen glaubte. Die kleineren Unternehmer litten da-
gegen beträchtlich; und wäre nicht mildes Wetter ein-
getreten, so würde das Elend der ärmeren Bevölkerung
durch den Strike verschärft worden sein.
Die Bergleute mancher Distrikte, zum Beispiel jene
von Cumberland, hatten von vornherein beschlossen, nur
eine Woche zu feiern. Unter diesen Umständen trat am
16. im Westminster-Palace Hotel in London die Konferenz
der Miners Federation zusammen. Sie beschloss nach zwei-
tägiger Berathung auf den Antrag desselben Mr. S. S. White-
house, der zu Manchester die „Stop-week“ in Vorschlag
gebracht hatte, „allen mit der Federation in Verbindung
stehenden Bergleuten den Rath zu ertheilen, dass sie, an-
gesichts dessen, dass der Zweck der Arbeitseinstellung
erfüllt sei, denselben zur Wiederaufnahme der Arbeit am
nächsten Montag rathe.“ Am 16. traten auch die Kohlen-
bergwerksbesitzer zu Manchester zu einer Konferenz zu-
sammen, die jedoch lediglich der Wiederaufnahme der
Arbeit zuzustimmen beschloss, ohne über die bevorstehende
Lohnregelung Bestimmungen zu treffen. Am 18. beschloss ,
die Londoner Bergarbeiterkonferenz, dass vom 1 1 . April
angefangen nur fünf Tage gearbeitet werden und Montag
der Ruhetag sein solle. Den Bergleuten von Cumberland
und Durham wurde Beistandleistung versprochen, und für
die letzteren eine Umlage von wöchentlich 6 d. ausge-
schrieben, welche von jedem Mitgliede der Federation vom
April angefangen einzuheben sei. Endlich wurde den
Londoner Kohlenträgern die Verbindung mit der Federation
in Aussicht gestellt.
So endete dieser Strike, der ein doppeltes Nachspiel
haben wird: eines in Durham, wo er mit grösserer Heftig-
keit fortgesetzt wird, als in den Gebieten der radikalen
Federation; ein anderes wird voraussichtlich um die Acht-
stundenbill für Bergarbeiter sich drehen. Wenn auch die
Achtstundenbill im Unterhaus abgelehnt worden ist, so wird
ohne Zweifel nicht zuletzt unter dem Eindruck des Aus-
standes der Kohlenarbeiter die Forderung des Achtstunden-
tages der Bergleute bei der bevorstehenden Wahl des
Parlaments eine sehr einflussreiche Rolle spielen.
Stephan Bauer.
Die Ergebnisse des deutschen Gewerkschaftskongresses.
Der Zweck des deutschen Gewerkschaftskongresses
wurde insofern erreicht, als ein Organisationsplan durch
die Vertreter von mehr als 300 000 deutschen Arbeitern
festgestellt wurde. Bekanntlich erklärte sich der Kongress
für centrale Organisationen und gegen die Centralisirung
durch Vertrauensmänner. Die Vertreter dieser Organi-
sationsform verliessen in Folge dessen nach Ueber-
reichung eines Protestes den Kongress. Sie erklärten
damit, dass sie auf ihrem Standpunkte beharren und
sich den Majoritätsbeschlüssen nicht fügen, für dieselben
keine Verantwortung übernehmen wollen. Da es sich
hierbei nur um einen sehr geringen Bruchtheil der
gewerkschal dich organisirten Arbeiter handelt und eine
Spaltung von irgend welcher Tragweite nicht die Folge
sein wird, ist diesem Ereignisse besondere Bedeutung
nicht beizulegen. Mit diesem Beschlüsse war auch ausge-
sprochen, dass die in Halberstadt versammelten Vertreter
die Erörterung politischer Fragen innerhalb der gewerk-
schaftlichen Organisation wenn auch nicht alle aus prin-
zipiellen Gründen, so doch ausnahmslos mit Rücksicht auf
die Handhabung der Vereinsgesetzgebung ausgeschlossen
wissen wollten.
Infolge des Ausscheidens der Vertreter der Lokal-
organisation verblieben auf dem Kongresse bloss zwei
Richtungen, die Vertreter der Industrieverbände und die
der Unionen. Eine Abstimmung darüber, welche Organi-
sationsform die Majorität der Kongresstheilnehmer für die
beste hält, vermied man, indem man einen vom Spezial-
kongresse der Holzbearbeitungsarbeiter gestellten Kom-
promissantrag in seinen wesentlichen Punkten annahm.
Für denselben erklärten sich in einer namentlichen Ab-
stimmung 149 Stimmen, gegen den Antrag der General-
kommission, welchen wir in seinen wesentlichen Punkten
in der letzten Nummer veröffentlichten, 37 Stimmen, ausser-
dem enthielten sich 10 Kongressmitglieder der Stimme. Wir
drucken hier die zum Beschluss erhobene Resolution voll-
inhaltlich ab:
„Der Kongress erklärt sich für die Annäherung der Centra-
lisationen verwandter Berufe durch Kartell vertrage, überlässt
jedoch die Entscheidung über die Frage, ob die spätere Ver-
einigung der Branchenorganisationen zu Unionen oder Industrie-
verbänden stattzufinden hat, der weiteren Entwickelung der
Organisationen in Folge der Kartellverträge.
Der Kongress erklärt, dass in all denjenigen Berufsgruppen,
wo die Verhältnisse den Industrieverband zulassen, dieser vor-
zuziehen ist, dass jedoch in all denjenigen Berufsgruppen, wo
in Folge der grossen Verschiedenheit der Verhältnisse die Ver-
einigung in einen Industrieverband nicht durchführbar ist,
durch Bildung von Unionen diese Möglichkeit herbeigeführt
werden soll.
Der Kongress empfiehlt die Kartellverträge dahin abzu-
schliessen, dass die verwandten Berufe
1. bei Strikes und Aussperrungen sich gegenseitig finanziell
unterstützen, _ _ t
2. ihre auf der Reise befindlichen Mitglieder gegenseitig
gleichmässig unterstützen,
3. die Agitation möglichst gleichmässig und auf gemein-
schaftliche Kosten betreiben,
4. statistische Erhebungen gemeinsam veranstalten,
5. Herbergen und Arbeitsnachweise zentralisiren,
6. ein gemeinsames Organ schaffen,
7. den Liebertritt von einer Organisation in die andere bei
Ortswechsel ohne Beitrittsgeld und weitere Formalitäten ,
herbeiführen.
Der Kongress erklärt, dass die Centralorganisation, als
Grundlage der Gewerkschaftsorganisation, am besten befähigt ,
ist, die der letzteren zufallende Aufgabe zu lösen und empfiehlt ,
allen Gewerken, welche bisher lokal organisirt oder durch ein
Vertrauensmännersystem verbunden waren, sich den bestehenden
Centralverbänden anzuschliessen resp. solche zu bilden.
Jeder dieser Centralvereine (Verbände) hat in allen Orten,
wo eine genügende Anzahl Berufsgenossen vorhanden und keine i
gesetzlichen Hindernisse im Wege stehen, Zahlstellen zu er-
richten. Wo solche Hindernisse bestehen, ist den Arbeitern zu
empfehlen, als Einzelmitglieder den Centralvereinen beizutreten ■
und sich durch gewählte Vertrauensmänner eine stete Vertretung ,
und Verbindung mit der Gesammtorganisation zu schaffen. *
Dieses Vertrauensmänner-System ist so zu gestalten, dass es '
gleichzeitig eine Vertretung der Gesammtheit der Berufsgenossen
an den Orten bildet, wo für die Centralvereine als solche
Schwierigkeiten bestehen.
Ausserdem können an solchen Orten lokale Vereine
eventuell in Verbindung mit verwandten Berufszweigen ge-
schaffen werden.
Die Verbindung der einzelnen Centralisationen zum ge-
meinsamen Handeln in Fällen, bei welchen Alle^ gleichmässig
interessirt sind, wird durch eine auf jeden stattfindenden Ge-
werkschaftskongress zu erwählende Generalkommission herbei-
geführt.
Die Aufgaben der Generalkommission.
Die Generalkommission hat:
1. die Agitation in denjenigen Gegenden, Industrien und
Berufen, deren Arbeiter noch nicht organisirt sind, zu
betreiben ;
2. die von den einzelnen Centralvereinen aufgenommenen
Statistiken zu einer einheitlichen für die gesammte
Arbeiterschaft zu gestalten und eventuell zusammenzu-
stellen ;
3. statistische Aufzeichnungen über sämmtliche Strikes zu
führen und periodisch zu veröffentlichen;
4. ein Blatt herauszugeben und den Vorständen der Central-
vereine in genügender Zahl zur Versendung an deren
Zahlstellen zuzusenden, welches die Verbindung sämmt-
licher Gewerkschaften mit zu unterhalten, die nöthigen
Bekanntmachungen zu veröffentlichen und soweit ge-
boten, deren rechtzeitige Bekanntmachung in der
Tagespresse herbeizuführen hat;
5. internationale Beziehungen anzuknüpfen und zu unter-
halten.
Die Pflichten der einzelnen Central vereine der
Generalkommission gegenüber.
[ede centralisirte Gewerkschaft hat pro Mitglied und
Quartal 5 Pf. an die Generalkommission zu leisten. Diese Bei-
No. 13.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
169
träge können aus den Kassen cler Gewerkschaften gezahlt, oder
durch von der Generalkommission auszugebende Marken von
den Mitgliedern der Organisationen erhoben werden. Diese
Marken können auch an nichtorganisirte Arbeiter abgegeben
werden.
Diejenigen Gewerkschaften, welche ihren Verpflichtungen
o-egenüber der Generalkommission bez. Zahlung der Beiträge
nicht nachkommen, haben weder Sitz noch Stimme auf den von
der Generalkommission einberufenen allgemeinen Gewerkschafts-
kongressen.
Ueber Beginn, Weiterentwickelung, Beendigung und Er-
folg von Streiks ist der Generalkommission regelmässig Bericht
zu erstatten — desgleichen müssen dieselben die von den einzel-
nen Gewerkschaften aufgenommenen statistischen Erhebungen
zur Verfügung gestellt werden
Die Einberufung des nächsten Kongresses bleibt der
Generalkommission unter Zustimmung der Mehrzahl der Central-
vorstände überlassen. Die Einberufung muss erfolgen, wenn
zwei Dritttheile der Centralvereinsvorstände dieses beantragen.
Centralorganisationen bis zu 1500 Mitgliedern entsenden
zum Kongress I Delegirten, grössere Organisationen auf jede
weitere 1500 Mitgliedern ebenialls 1 Delegirten.
Lokalorganisirte Arbeiter in den Landestheilen, in welchen
die gesetzlichen Bestimmungen die Errichtung von Zahlstellen
der Centralverbände nicht zulassen, können sich auf dem Kon-
gress nach demselben Wahlmodus vertreten lassen, sofern für
den betreffenden Beruf ein Centralverband nicht besteht, ein
Anschluss an Einzelmitglieder also unmöglich war. Orte, in
denen nicht 1500 der in Frage kommenden Arbeiter organisirt
sind, haben sich mit anderen Orten zu gemeinsamer Wahl in
Verbindung zu setzen.
In Erwägung, dass thatkräftige Organisationen das beste
Mittel zur erfolgreichen Durchführung von Strikes wie zur Ver-
hinderung aussichtsloser Strikes ist, die Leistungsfähigkeit aber
in der Aufklärung der Mitglieder, der Disziplin und der Höhe
der Fonds erblickt werden muss; welche Vorbedingungen jedoch
durch die heute fast allgemein niedrigen Beiträge nicht erfüllt
werden können, empfiehlt der Kongress zum Zweck wirksamer
Agitation und Ansammlung von Fonds die Beiträge diesem
Zweck entsprechend festzusetzen.“
Es geht aus der Resolution hervor, dass die Form des
Industrieverbandes, demnach die Zusammenfassung aller
Arbeiter in graphischen Berufen, in der Metallindustrie, in
den Holzindustrien etc. in je eine Organisation als Ideal
aufgestellt wurde, dass aber mit Rücksicht auf den „Berufs-
dünkel“ der Arbeiter und auf die nicht in allen Gewerben
gleich entwickelte Akkumulation der Betriebe die Bildung
von Unionen der Fachorganisationen ermöglicht bleiben soll.
Und dies mit vollem Rechte. Der im handwerksmässigen
Betriebe arbeitende Holzschnitzer wird nicht leicht zu
überreden sein, einem Industrieverbande der Holzbearbei-
tungsarbeiter beizutreten, er wird aber viel leichter über-
zeugt werden können, dass es in seinem Interesse liegt,
einem Verbände der Holzschnitzer sich anzuschliessen; da-
gegen werden die Arbeiter grosser Maschinenwerkstätten
nicht für nöthig halten, sich als Schlosser, Spengler, Former,
Dreher, Monteure etc. etc. gesondert zu organisiren, sondern
sie werden gemeinsam arbeitend, gleichartige Forderungen
ihren Unternehmern gegenüber vertretend, viel mehr Inter-
esse an einem Industrieverbande sämmtlicher Metallarbeiter
haben. Diese Verschiedenheit der Organisation ermöglicht
bei vergrösserter Anpassungsfähigkeit an die thatsächlichen
Verhältnisse in den einzelnen Gewerben eine vollkommene
Zusammenfassung der Kräfte. In dem Industrieverbande
werden bei hochentwickelten Industrien die einzelnen Ar-
beiter direkt ohne Zwischenglied Mitglieder der die ver-
schiedenen Branchen der Industriegruppe zusammenfassenden
Organisation, während bei der Union nicht die einzelnen
Holzschnitzer, Drechsler, Schreiner etc. der Union direkt
beitreten, sondern die Verbände derselben an .Stelle der
Mitglieder Glieder der Union bilden. Hierdurch ist dann
auch für die einzelnen Branchen eine gewisse Bewegungs-
freiheit gegeben. So z. B. für die Klavierarbeiter oder die
Zimmerer; bei beiden spielt die Bearbeitung des Holzes
eine Hauptrolle, trotzdem ist es nicht a priori festzustellen,
ob sie ein Interesse haben, einem Industrieverbande der
Holzarbeiter anzugehören, die ersteren können vorziehen,
einen Kartellvertrag mit anderen Gruppen der Musikinstru-
mentenindustrie einzugehen, letztere einer Union der Bau-
arbeiter beizutreten.
Deshalb scheint es uns in den Bedürfnissen der gewerk-
schaftlichen Organisation zu liegen, dass eine gewisse Elas-
tizität durch die Halberstädter Kongressbeschlüsse den Ge-
werkschaften gewahrt blieb. Sind doch die Verhältnisse in den
einzelnen Gewerben Deutschlands trotz der starken Fort-
schritte zur Grossproduktion noch immer so verschieden,
dass man die Arbeiter nicht nach einem überall in gleicher
Weise zur Anwendung kommenden Schema organisiren
kann. Wir sprachen von einer gewissen Elastizität, und
nur von dieser kann gesprochen werden, da die elastischste,
sich am leichtesten den örtlich oft so verschiedenen Ver-
hältnissen anpassende Organisation, die der lokalen Fach-
vereine mit Vertrauensmännercentralisation vom Kongresse
nicht anerkannt wurde.
Die Aufgaben der Unionen bezw. Industrieverbände
und der von dem allgemeinen Gewerkschaftskongresse zu
wählenden Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch-
lands sind die folgenden. Die Unterstützung der Arbeiter
bei Strikes und Aussperrungen obliegt nicht mehr wie bis-
her den einzelnen Centralvereinen und der Generalkom-
mission, sondern den Unionen und natürlich auch den
Industrieverbänden. Für Reiseunterstützung, Agitation und
statistische Erhebungen soll von den vereinigten Organi-
sationen gesorgt werden, diese sollen auch das Herbergs-
wesen und die Arbeitsnachweise centralisiren, für die ver-
schiedenen Branchen ein gemeinsames Organ schaffen und
Freizügigkeit nicht nur wie bisher in den Vereinen der
einzelnen Branche, sondern auch in allen der durch Kartell-
verträge verbundenen Centralvereine gestatten. Kurz ge-
sagt: ein planmässigeres Arbeiten bei mindestens gleichen
Leistungen und erheblicher Reduzirung der Auslagen soll
erzielt werden. Nur über einen Punkt ist mehr zu sagen:
über die Strikeunterstützung. Diese ist nunmehr der General-
kommission vollständig entzogen, sie hat über Berechtigung
und Nichtberechtigung von Arbeitseinstellungen nicht mehr
zu entscheiden, dies bleibt den die Verhältnisse im einzelnen
Gewerbe leichter beurtheilenden Einzelorganisationen über-
lassen. Der Generalkommission werden dadurch sehr viele
Anfeindungen erspart und, was nicht das Liifwichtigste ist,
man wird nicht leichtfertig, auf die Fonds und die moralische
Macht derselben bauend, Strikes insceniren. Die Erfahrungen
mit der schweizerischen Arbeiterreservekasse haben gelehrt,
dass eine derartige Institution, wenn auch gegen den Willen
der Leiter derselben, das Ausbrechen von Strikes eher för-
dert als verhindert. Fehlt auch nunmehr in Deutschland
eine Centralleitung für Strikes, fehlt auch der von den
Metallarbeitern beantragte Strikefonds, so werden trotzdem
bei Strikes, die von der Masse der organisirten Arbeiter ge-
billigt werden, und bei Aussperrungen die Arbeiter reich-
liche Unterstützung finden.
Die Generalkommission, der durch Beiträge der Mit-
glieder der Centralvereine von 20 Pf. pro Jahr und Mitglied
eine Summe von mindestens 40 000 M. zur Verfügung ge-
stellt wurde, soll die Agitation in denjenigen Gegenden,
Industrien und Berufen betreiben, deren Arbeiter noch nicht
organisirt sind, sie soll eine Strikestatistik für Deutschland
führen und die Statistiken der einzelnen Centralverbände
einheitlich verarbeiten.
Die übrigen Theile der Resolution bedürfen keiner
besonderen Erläuterung.
Wird das was auf dem Kongresse beschlossen wurde,
auch verwirklicht werden? Dies wird nicht früher festge-
stellt werden können, bis die einzelnen Organisationen in
ihren Generalversammlungen zu den Beschlüssen des allge-
meinen Gewerkschaftskongresses Stellung genommen haben
werden. Wohl waren die zum Halberstädter Kongress ent-
sandten Delegirten die legitimen Vertreter der Arbeiter
ihres Gewerbes, aber sie repräsentirten zum grössten Theile
die fortgeschrittensten, geklärtesten, abgeschlossensten Ge-
dankenkreise innerhalb der Organisationen , nicht die An-
schauung des Durchschnittes. Gegen dieses Bedenken kann
man einwenden, dass der Kongress und seine Beschlüsse
starken moralischen Eindruck auf die Arbeiter üben werden
und derselbe nicht leicht durch eine Opposition innerhalb
der einzelnen Organisationen verwischt werden dürfte.
Berlin. Adolf Braun.
Evangelische Arbeitervereine in Württemberg. Nach
Mittheilungen auf cler am 20. d Mts. in Stuttgart abgehaltenen
Hauptversammlung des Landesverbandes dieser Vereine gehören
demselben gegenwärtig 15 Vereine (Stuttgart, Schramberg,
Oberndorf, Heidenheim, Aurich, Perouse, Cannstatt, Königs-
bronn, Fellbach, Hall, Wasseralfingen, Esslingen, Schorndorf,
Schwenningen, Schnaitheim) mit 1580 aktiven und 313 passiven
! oder Ehrenmitgliedern an. Den Mitgliedern wurde der Bei-
tritt zur M.-Gladbacher Hilfskranken- und Sterbekasse evange-
lischer Arbeitervereine empfohlen Der Hauptpunkt der lages-
i ordnung bildete eine vom Vorstand vorgeschlagene Erklärung
170
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 13.
über die Stellung der evangelischen Vereine zur sozialen Frage,
welche in folgender Form angenommenen wurde: „Die evan-
gelischen Arbeitervereine Württembergs erstreben t ür ihre Mit-
glieder: kürzere Arbeitszeit (im Interesse der Gesundheit
der Familie und der Industrie selbst), angemessenen Lohn,
grössere Existenzsicherheit und volle Geltung im öffentlichen
Leben; gegentheilige Behauptungen weisen sie als Verdächti-
gungen zurück. Sie erkennen aber die grossen Missstände
des Kapitalismus in seiner heutigen Ausgestaltung. Sie ver-
kennen auch nicht den Werth einer einheitlichen Organisation
für die Arbeiter. Wenn sie aber trotzdem die Sozialdemo-
kratie mit aller Entschiedenheit bekämpfen und der-
selben die Organisation der Evangelischen Arbeitervereine gegen-
überstellen, so geschieht dies, 1. weil sie wissen, dass die Sozial-
demokratie nach ihren eigenen, deutlichen Erklärungen keinewegs
bloss wirthschaftliche Ziele erstrebt, sondern eine Weltan-
schauung ist und sein will, und zwar eine christenthumsfeind-
liche, sie aber das Christenthum mit allen Kräften schützen
wollen; 2 weil sie treu zu Fürst und Vaterland stehen im Ver-
trauen, dass dabei auch die Lebensinteressen des deutschen
Arbeiterstandes am besten gewahrt werden; 3. weil sie die
nähere Gestalt der wirthschaftlichen Ziele, die nach Aeusse-
rungen der sozialdemokratischen Führer sich ergibt, nicht für
möglich und erspiesslich halten; 4. weil sie die von Klassenhass
erfüllte Agitation der Sozialdemokratie nicht billigen können,
vielmehr glauben, dass der Arbeiterstand nicht abgesondert von
den anderen Ständen, sondern nur in Fühlung mit ihnen und
im Bund mit den ihm Wohlgesinnten in der Lage sein werde,
wirklich bessere Zustände herbeizuführen. Die Nothlage der
Landwirthschaft und das Bedürfniss nach Staatshilfe für die-
selbe wird von den evangelischen Arbeitervereinen vollständig
anerkannt uud jede Bestrebung zur Hebung dieser Nothlage
nach Kräften unterstützt.“
Organisation (1er deutschen Tabakarbeiter. Einer der
grössten Hirsch-Dunker’schen Gewerkvereine ist derjenige
der deutschen Cigarren- und Tabaksarbeiter (Sitz Magde-
burg). Der Generalrath desselben veröffentlicht jetzt den
Rechenschaftsbericht für das Jahr 1891. Danach betrug die
Mitgliederzahl Ende v. J. 1198 in 26 Ortsvereinen. Die Ge-
neralrathskasse hatte ein Vermögen von 3598,91 M., in den
Ortsver einen befanden sich 5152,16 M.; das Vermögen der
Reise- und Arbeitslosen-Unterstützungskasse betrug2368,42 M.
und der Reservefond 2159,08 M., so dass sich das Gesammt-
vermögen auf 13 278,57 M. stellte. Die Einnahmen der Ge-
neralrathskasse im Jahre 1891 (mit dem Vortrag von 1890)
betrugen 9936,09 M., die Ausgaben 6337,18 M., die Ortsvereine
vereinnahmten 7463,83 M. und verausgabten 6303,60 M. Die
Unterstützungskasse für reisende und arbeitslose Mitglieder
leistete nur sehr Bescheidenes; sie zahlte an 4 Mitglieder
für 60 Tage Arbeitslosigkeit 60 M., an 22 Mitglieder Reise-
geld (für 3702 km ä 2 Pf.) 74,04 M. Der Kranken- und
Begräbnisskasse gehörten Ende v. J. 1330 Mitglieder (888
männliche, 442 weibliche) gegen 1232 Ende 1890 an. Die
Zahl der Erkrankungsfälle betrug 707 (474 bei männlichen,
233 bei weiblichen Mitgliedern), die Zahl der Krank-
heitstage 10665 (6981 bei männlichen, 3684 bei weiblichen
Mitgliedern). Das lässt auf sehr gesundheitsschädliche Ein-
flüsse des Berufs schliessen. Die Einnahmen betrugen
24 615,20 M.; verausgabt wurden 23 289,35 M. (darunter an
Krankenunterstützung 14 419,87 M. , Begräbnissgeld
1080 M.). Das Gesannut vermögen der Kasse beträgt
14 644,60 M. Die Hauptkrankenkasse hatte eine Einnahme
von 7720,13 M. und eine Ausgabe von 6593,32 M., die Haupt-
begräbnisskasse eine Einnahme von 3394,81 M. und eine
Ausgabe von 2513,38 M.; die Ausgaben dieser Hauptkassen
bestehen zum grössten Theil in Zuschüssen an die Ver-
waltungsstellen, sowie in der Deckung der Verwaltungs-
kosten.
Französischer Schneiderkongress. Vorige Woche tagte
in Montpellier, im Konferenzsaale der dortigen Arbeitsbörse,
ein Kongress von Männerschneidern, der sich u. A. mit der
Schaffung von Schneiderwerkstätten beschäftigte, die in den
verschiedensten Städten zu errichten wären, um den sich
auf der Reise befindenden Gehilfen zeitweilig lohnende Be-
schäftigung geben zu können. Der Kongress sprach sich
dahin aus, dass diese Werkstätten seitens der Gewerkschaften
mittelst Unterstützung der Gemeinderäthe zu errichten seien,
an welch’ letztere das Verlangen zu stellen sei, die hiefür
nothwendigen Fonds zu votiren und die Werkstätten mit
Arbeiten zu versehen, die auf dem Submissionswege ver-
geben werden, wie Kleidungsstücke für die städtischen
Polizeileute, Mauthwächter etc. Auch andere Arbeiten
könnten daselbst unter Einhaltung des in den bezüglichen
Städten geltenden Lohntarifs ausgeführt werden. Wo die
Gemeinderäthe nicht die nothwendigen Fonds beschaffen
könnten, sollen die Gewerkvereine sich auf andere Weise
zu behelfen suchen, um dieses Project zur Ausführung zu
Irringen. Ein weiterer, vom organisatorischen Standpunkt
aus viel wichtigerer Punkt, den der Kongress behandelte,
war der betreffs Gründung eines Nationalverbandes aller
Schneidergewerkschaften und sonstiger aus Schneidern und
Schneiderinnen bestehenden Arbeitervereine. In dem vom
Kongress angenommenen Entwurf wird als Ziel des Ver-
bandes aufgestellt; 1. Der Ausbeutung der Unternehmer
Widerstand zu leisten; 2. die Konflikte zwischen
Unternehmern und Arbeitern auf dem Vergleichs- und
schiedsrichterlichen Wege zum Austrag zu bringen; 3. die <
Fachgeschicklichkeit der Schneider durch Preisausschrei-
ungen für Lehrlinge und durch gewerbliche Unterrichts- [
kurse zu heben; 4. den reisenden Gewerkschaftsmitgliedern
Unterstützung zu verabreichen; 5. die gegenseitige Unter-
stützung in Krankheitsfällen und bei gezwungener Arbeits- |
losigkeit; 6. eine Fachstatistik in den verschiedenen Städten
Frankreichs und des Auslands zu erheben. Der Beitrag :
beträgt einen Franc pro Jahr und Mitglied und dient zur !
Bildung einer Widerstandskasse, zur Bestreitung der Bureau- |
kosten des Bundeskomitees, sowie zur Propaganda. Ein !
monatlich erscheinendes offizielles Organ wird die Mitglieder |
über alle Fortschritte im Schneidergewerbe auf dem Lau- j
fenden erhalten und statistische Daten über Angebot und
Nachfrage, über die Arbeitsbedingungen in den verschie- j
denen Städten des In- und Auslandes, sowie über die Preise
der Wohnungen, Lebensmittel etc. bringen. Als Sitz des j
Bundeskomitees, der von jedem Kongress neu zu bestimmen
ist, wurde Monpellier bestimmt.
Ein Kellnerstrike ist, wie wir in No. 1 1 des Sozialpol. Central- j
blattes berichteten in Hamburg ausgebrochen weil die Direktion der i
„Grossen Bier-Hallen“ sich weigerte, das benöthigte Personal '
wie bisher durch den Arbeitsnachweis des Vereins der Kellner
und Berufsgenossen von Hamburg vermitteln zu lassen, obgleich
die Kellner zur vollsten Zufriedenheit der Wirthe thätig ge-
wesen sind. Trotz der für jede Arbeitseinstellung überaus un- :
günstigen Zeit endete der Strike mit einem Siege der Arbeiter.
Die von den Ausständigen verlassenen Stellen konnten zwar
sofort besetzt werden, aber durch einen rasch verhängten Boy- <
cott wurden die Hamburger Bierhallen so empfindlich geschä-
digt, dass 6 Tage nach Verhängung des Boycotts der Direktor
der Bierhallen erklärte, dass er durchaus keine Antipathie
gegen den Verein der Kellner und Berufsgenossen Hamburgs
und Vororte hege und dass er mit dem kostenfreien
Stellenvermittlungsamt des Kellnervereins am Rödingsmarkt
resp. mit dem von diesem Bureau bezogenen Bedienungsper-
sonal ganz zufrieden sei. Die streikenden Kellner (ca 254 in j
der St Pauli-Bierhalle und in der Neustädter Fuhlentwiete '■
konnten bereits am nächsten Tage wieder in ihre altenStellungen
eintreten.
Unternehmerverbände.
Das Kokssyndikat im Jahre 1890/91. Dem eben er- .
schienenen Bericht der Aktiengesellschaft Westfälisches |
Kokssyndikat zu Bochum entnehmen wir folgendes: Die von i
allen Betheiligten lange gehegte Absicht, den Verkauf von |
Koks in eine Hand zu legen, gelangte durch die Beschlüsse
der General -Versammlungen vom 22. September und 16. Ok-
tober 1890 zur Ausführung, indem durch diese Beschlüsse die
Uebertragung des Alleinverkaufs an die Aktiengesellschaft j
Westfälisches Kokssyndikat erfolgte.
Die Aufstellung der Jahresgesammtstatistik über unsere
Koksindustrie ergiebt, dass die Kokserzeugung auf den
Zechen und Privatkoksanstalten des Oberbergamtsbezirks
Dortmund im Jahre 1891 betragen hat:
a) bei den Syndikatsmitgliedern .... 3 937 773 t
b) bei den ausserhalb stehenden Zechen . 62 160 „
c) auf den Zechen im Hüttenbesitz . , 388 077 „
zusammen 4 388 010 t
im Werth von rund 57,5 Millionen Mark.
Demnach sind 98,42° 0 aller selbständigen Kokszechen
und 88,58% der gesammten Kokszechen schon kartellirt.
Die Wirkung des Kartells auf die Steigerung der Produk-
tion ergiebt sich aus folgender Mittheilung: Die Zunahme
der Kokserzeugung in den seit Beginn der Koksvereinigung
verflossenen Jahren ist recht erheblich und beträgt gegen
1885 im Ganzen 55%.
No. 13.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
171
Die Spiegelglasfabrikanteil Böhmens und Bayerns hatten
sich am 21. März in Regensburg; zu einer Versammlung einge-
funden und in einer mehrstündigen Sitzung beschlossen: „im
Hinblick auf die immer mehr und mehr drohende Konkurrenz
durch die in Amerika eingeführte Krystallglasfäbrikation ihr
Produkt von 45 auf 55% herabzusetzen. Mit dieser Reduktion
sei angesichts der hohen Arbeitslöhne, die schon seit mehr als
20 Jahren Geltung haben, sowie der in letzterer Zeit in die Höhe
gegangenen Preise der Rohmaterialien, wie Glaubersalz und
So*da, und der erhöhten Preise der Kohlen der Nutzen dieser
Fabrikation so viel wie auf Null herabgesunken, und sei der
qu Beschluss nur gefasst worden, um der drohenden Gefahr
des Verdrängens der ganzen Spiegelglasfabrikation in Bayern und
Böhmen durch Amerika vorzubeugen.“ An der Versammlung,
die eine der zahlreichsten der bisher stattgehabten war, waren
sämmtliche Besitzer der 44 Spiegelglasöfen vertreten.
Dieser Versammlung war eine Einigung der bayerischen
Spiegelglasfabrikanten vorangegangen, welche konstatirten, dass
trotz der Durchführung der Beschlüsse vom Dezember vorigen
Jahres, wonach sämmtliche Spiegelglasöfen 14 Tage und sämmt-
liche Schleif- und Polirwerke 6 Wochen feiern sollten, die Lage
des Spiegelglasmarktes sich nicht gebessert hatte; es wurde
deshalb beschlossen, eine weitere Produktionseinstellung auf die
Dauer von 2 Monaten anzuordnen. Alle Spiegelglasöfen sollen
kaltgestellt und die Schleif- und Polirwerke bis 31. März d. Js.
ausser Betrieb gesetzt werden. Um die Arbeiter, für die wäh-
rend der erstmaligen Feierzeit bereits die Summe von 70 000 M.
ausgeworfen worden ist, auch für die Dauer der jetzigen Betriebs-
einstellung existenzfähig zu erhalten, wird von den Fabrikanten
die Summe von 130 000 M. aufgewendet, so dass also im Ganzen
200 000 M. Feiergelder zur Auszahlung gelangen.
Handwerkerfragen.
Die Genossenschaften in Oesterreich. Durch das Ge-
setz vom 15. März 1883 wurden in Oesterreich (Cisleithanien)
für das Handwerk Zwangsinnungen eingeführt. Als das
neue Gesetz in Kraft trat, bestanden 2870 freie Gewerbe-
genossenschaften, meist Ueberbleibsel alter Innungen. Durch
die Einführung des Zwanges, sich in Genossenschaften zu
organisiren, stieg die Zahl der Gewerbegenossenschaften bis
Ende 1891 auf 5113, von diesen sind blos 722 Gewerbe-
genossenschaften für einzelne Gewerbe (14,4"/ ), 2252 Ge-
nossenschaften für Gruppen verwandter Gewerbe (44,1 %)
und 2139 Kollektivgenossenschaften (41,8%) d h. Innungen,
welche die Handwerker aller Gewerbe an einem Orte oder
Bezirke umfassen.
Obgleich geraume Zeit seit der Einführung der Zwangs-
genossenschaft in Oesterreich verstrichen ist, scheinen die
Meister blos für die Wahrung ihrer Rechte in denselben
bedacht gewesen zu sein, da die im Gesetze vorgeschriebe-
nen Institutionen im Interesse der Arbeiter bei sehr vielen
Genossenschaften noch immer nicht ins Leben gerufen sind.
Nur 2857 Genossenschaften (55,9 %) besitzen Gehilfenver-
sammlungen, blos 2657 (52 %) genossenschaftliche Schieds-
gerichte, nicht mehr als 808 (15,8 %) halten genossenschaft-
liche Krankenkassen und nur 195 (3,8 %) Lehrlings-
krankenkassen. Ganz vereinzelte Genossenschaften, so
die der Trödler haben überhaupt keine Gehilfen. Die
geringe Zahl der genossenschaftlichen und Lehrlings-
krankenkassen erklärt sich aus der geringen Leistungs-
fähigkeit und den grossen Verwaltungsauslagen der-
selben , welche die Genossenschaften veranlassten die
Versicherung ihrer Arbeiter anderen Kassen, so insbe-
sondere den Bezirkskassen zu überlassen. Ein grosser
Theil der genossenschaftlichen Krankenkassen steht voll-
ständig unter der Verwaltung der Gehilfenschaft, so dass
den Meistern an ihrer Erhaltung nichts liegt. Die Gehilfen-
versammlungen der Genossenschaften haben sich zum 'I heil
in Organisationen der Arbeiter umgewandelt und ersetzen
diesen vielfach die Gewerkschaften, deren Thätigkeit in
Oesterreich noch mehr als im deutschen Reiche durch die
Verwaltungspraxis der Behörden und durch ein sehr eng-
herziges Vereinsgesetz unterbunden ist. Die österreichi-
schen Gewerbegenossenschaften, über deren innere 1 hätig-
keit leider in der unlängst vom österreichischen Handels-
ministerium publizirten „Darstellung des Standes des ge-
| werblichen Genossenschaftswesens“ nichts mitgetheilt wird,
haben eine Organisation des Handwerkes, aber nicht die
von derselben für das Handwerk erhoffte Wirkung zur
Folge gehabt. Sie haben von den Rechten des gemein-
samen Betriebes keinerlei Gebrauch gemacht, sondern nur
eine Reihe weiterer durchaus unerfüllbarer Wünsche zum
ausschliesslichen Heile des Handwerkes gezeitigt. Die mit
Einführung der Gehilfenversammlungen beabsichtigte Tren-
nung der Arbeiter des Kleingewerbes und der Fabriken
wurde nicht erreicht, ebensowenig gelang es, die Arbeiter
in grössere Abhängigkeit von den Meistern zu bringen.
Das Gegentheil war der Fall, die Arbeiter machten sich die
zwangsweise Organisation mehr zu Nutze als die Meister,
die Gehilfenversammlungen der österreichischen Zwangsge-
nossenschaften bilden heute vielfach die kräftigsten Organi-
sationen der Sozialdemokratie.
Innungsbewegung in Westfalen. Während mehrere
Eingaben westfälischer Innungen bekannt werden, welche
die Behörde ersuchen, ihnen das Lehrlingsprivilegium aus
§ lOOe der Gewerbeordnung wieder abzunehmen, fand in
Lethmathe am 20. d. Mts. ein XII. Westfälischer Hand-
werkertag statt, der hauptsächlich zwei Beschlüsse fasste.
Im ersten erklärte sich die Versammlung mit den auf dem
letzten berliner Innungstag gefassten Beschlüssen einver-
standen und erachtet insbesondere nach wie vor die obli-
gatorische Innung und den Befähigungsnachweis als das
Wünschens wertheste und allein Richtige. Die zweite Re-
solution richtete sich gegen das Genossenschaftswesen und
wies, unter Anerkennung der guten Absicht dem Handwerk
zu helfen, doch die Genossenschaften von der Hand, „weil
diese den Einzelerwerb gefährden, der Sozialdemokratie in
die Hände arbeiten, endlich aber eine wirkliche Hilfe für
das Handwerk nur in der Realisirung der bekannten Hand-
werkerforderungen zu finden sei.“ Nebenbei wurde die
Eröffnung der Reichsbank für die Handwerker keineswegs
als erfreulich bezeichnet, weil sich derselbe besser nicht auf
Wechselverkehr einlasse.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Anweisung zur Ausführung der Gewerbeordnung
in Preussen. Der preussische Handelsminister hat unter
dem 26. Februar für diesen Bundesstaat an alle Ortspolizei-
behörden eine Anweisung zur Ausführung derjenigen Be-
stimmungen der neuen Gewerbeordnung erlassen welche
am 1 . April in Kraft treten. Dieselbe bezieht sich auf
Arbeitsbücher und Zeugnisse, Lohnzahlungen, Anzeigen
und Aufsicht über die Beschäftigung jugendlicher und
weiblicher Arbeiter, statutarische Bestimmungen und Ar-
beitsordnungen. Nur hinsichtlich des letztgenannten
Punktes sind bisher Einzelheiten aus der ministeriellen An-
weisung durch den „Reichsanzeiger“ bekannt gegeben
worden. Diese Einzelheiten bringen theilweise recht inter-
essante Erläuterungen und Erweiterungen der gesetzlichen
Bestimmungen. Arbeitsordnungen brauchen bekanntlich
nur von Fabriken erlassen zu werden, welche in der Regel
mindestens 20 Arbeiter beschäftigen. Bei der Feststellung
dieser Zahl sollen Betriebsbeamte, Werkmeister und Tech-
niker, sowie nur vorübergehend angenommene Arbeiter
ausser Ansatz bleiben. Die untere Verwaltungsbehörde
soll je eine Ausfertigung des von den Unternehmern bei
ihr eingereichten Arbeitsordnung alsbald dem zuständigen
Gewerbeinspektor einreichen. Die behördliche^ Prüfung
soll so rasch „wie es ohne Beeinträchtigung der Gründlich-
keit möglich ist“, zunächst bei solchen Arbeitsordnungen
vorgenommen werden, zu welchen die Arbeiter des Unter-
nehmers Beschwerden eingereicht haben. Neu ist die Be-
stimmung der Anweisung, dass die Arbeiter auch „späteP ,
d. h. wohl nach der Einreichung und vor der Rückgabe
an den Unternehmer, noch Beschwerden bei der Behörde
anbringen können. Dass ist nur zu begrüssen. Sehr an-
gebracht ist ferner folgende Erläuterung des Gesetzes: „Da
die Prüfung nicht aiL eine bestimmte Frist gebunden ist,
und die untere Verwaltungsbehörde zu jeder Zeit, wenn
sie einen Mangel in der Arbeitsordnung entdeckt, die
Beseitigung desselben anordnen kann, so empfiehlt es
sich, namentlich in der ersten Zeit, mit \ orsicht vorzu-
gehen und, soweit nicht Beschwerden von Arbeitern vor-
liegen, zunächst nur wegen zweifelloser Lücken und Ge-
172
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 13.
setz y/idrigkeiten die Ersetzung oder Abänderung anzu- 1
ordnen. In dieser Anordnung kann — namentlich, wenn
die Arbeitsordnung noch andere zweifelhafte Bestim-
mungen enthält — ausdrücklich daraut hingewiesen werden,
dass ~ die Anordnung weiterer Abänderungen Vorbehalten
bleibe.“ Danach kann später noch Manches korrigirt
werden, was in der Eile der ersten Arbeit übersehen oder
von den Arbeitern noch nicht als nachtheilig erkannt
wurde. Arbeiterfreundlich und zweckentsprechend er-
scheint endlich die Vorschrift der Anweisung, dass die Pa-
ragraphen der Arbeitsordnung, welche über die Verwen- ;
düng der Strafgelder zum Besten der Arbeiter Auskunft
geben, diese Wendung des Gesetzes nicht einfach wieder-
holen dürfen, sondern genau die Art und Weise der Ver-
wendung angeben sollen, und dass dies auch für die Lohn-
einbehaltung gilt, welche aus einem Kontraktbruch fällig
werden kann; das Letztere geht aus dem Wortlaut der
Gewerbeordnung nicht klar hervor. Von dem Erlass
ähnlicher Anweisungen in anderen Bundeststaaten ver-
lautet, obgleich doch der 1. April vor der Thüre steht,
noch nichts.
Arbeiterversicherung.
Die Abänderung des deutschen Krankenversicherungs-
gesetzes.
ln der Reichstagssitzung vom 19. März d. Js. spielte
sich der Schlussakt der Revision des deutschen Kranken-
versicherungsgesetzes ab; die aus drei Lesungen verändert
hervorgegangene Fassung des Gesetzes wurde in der Ge-
sammtabstimmung mit Mehrheitsbeschluss vom Reichstage
gegen die Stimmen der Sozialdemokratie, Volkspartei und
Freisinnigen angenommen. Das alte Gesetz trägt das Datum
des 15. Juni 1883 und bedeutete den Anfang der deutschen
Versicherungsgesetzgebung. Seine Grundzüge, die Organi-
sation der Krankenversicherung in lokalen Verwaltungs-
stellen (in der Hauptsache Ortskrankenkassen), die Heran-
ziehung der Unternehmer zu den Versicherungslasten (Be-
zahlung eines Drittels der Beiträge durch dieselben), die
Mitverwaltung der Arbeiter und die geschichtlich und poli-
tisch gebotene Rücksichtnahme auf die freien Kassen der
Arbeiter, die Vorbilder der staatlich organisirten (sogenannten
Zwangs-) Kassen, machten das alte Gesetz vom 15. Juni 1883
zu demjenigen Bestandtheile der neuen deutschen .Sozial-
gesetzgebung, welcher bei den Arbeitern immer noch am
wenigsten Antipathie erweckte und als eine Basis betrachtet
wurde, auf welcher man eventuell weitere staatliche Ver-
sicherungen leicht gründen könne. Der letzteren Erwartung
wurde freilich weder beim Unfallversicherungsgesetz, noch
beim Alters- und Invaliditätsgesetze entsprochen, indem man
für jede dieser neuen Versicherungsarten einen neuen kom-
plizirten Apparat schuf, und die Freunde einer möglichst
einheitlichen und übersichtlichen Organisation der gesamm-
ten Versicherung müssen jetzt schon mit einer sehr um-
ständlichen Revision der beiden neuen Versicherungen
rechnen, wenn ihr Wunsch in Erfüllung gehen soll. In-
zwischen brachten aber die verbündeten Regierungen unter
dem 22. November 1890 auch noch eine Abänderungsvorlage
zum alten Krankenversicherungsgesetze beim Reichstage
ein, welche den früheren Bestimmungen manche oben
sympathisch erwähnte Vorzüge nahm und ihnen dafür un-
willkommene Zusätze gab. Die Berathung dieser Novelle
ist es, welche bis vor wenigen Tagen dauerte, also ungefähr
anderthalb Jahre in Anpruch nahm. In der Hauptsache
sollte das Abänderungsgesetz die Handhaben zur allmäligen
Verdrängung der freien Arbeiterkassen durch die staatlich
organisirten gesetzlich sicherstellen, Handhaben, die man
bis dahin nur in Verwaltungsmassregeln fand. Die freien
Arbeiterkassen wehrten sich gegen dieses Bestreben, so gut
sie konnten; in den Anfangstagen des Monats Dezember
1890 fand in Berlin ein eigener Kongress der freien cen-
tralisirten Hilfskassen statt, der gegen jene Tendenz der
Novelle Stellung nahm; dem Reichstage gingen zahlreiche
Petitionen der Hirsch-Duncker’schen und anderer freien
Kassen, z. B. der kaufmännischen, zu, welche um Ablehnung
des Regierungsentwurfes baten. Diese Schritte haben den
gewünschten Erfolg nur in untergeordneten Punkten gehabt.
Das Krankenversicherungsgesetz in seiner neuen, nunmehr
gütigen Fassung ist im Wesentlichen gegen die Wünsche
der Hauptbetheiligten, der versicherten Arbeiter und Ge-
hilfen, zu Stande gekommen.
Der springende Punkt ist und bleibt dabei das Ver-
hältniss der aus freier Arbeiterinitiative hervorgegangenen
Hilfskassen zu den staatlich organisirten Orts- oder Ge-
meindekrankenkassen. Das alte Gesetz war auf der Grund-
lage des blossen Versicherungszwanges aufgebaut, d. h. es
schrieb den Arbeitern und verwandten Gehilfenkategorien
die Krankenversicherung zwangsweise vor, überliess es
aller den Versicherungspflichtigen durchaus, sich die ihnen
passende Kassenart selbst auszusuchen. Die freien Hilfs-
kassen bestanden danach ohne andere behördliche Reglemen-
tirung, als die übliche Oberaufsicht, mit ihren besonderen
Einrichtungen (volle Selbstverwaltung, Centralisation, Ge-
währung der Unterstützung in Geld, freie Aerztewahl)
gleichberechtigt neben den staatlich organisirten Kassen,
die mit Behörden und Unternehmern, mit lokaler Organi-
sation und bestimmt vorgeschriebenen Aerzten arbeiteten,
und jeder Versicherungspflichtige konnte zwischen beiden i
Kassenarten frei wählen; er genügte dem Gesetze vollstän- ;
dig, wenn er seinem Arbeitgeber nachwies, dass er in einer '
freien Kasse versichert sei. Schon unter der Geltung dieser |
Bestimmungen erreichten es nun die Verwaltungen der |
staatlich organisirten Kassen durch ihr behördliches Ueber-
gewicht und durch vexatorische Massnahmen gegen die
freien Kassen, dass die Entwicklung der letzteren nicht
mehr in dem Maasse Fortschritte machte, wie früher. Es |
genüge hier, zwei Zahlen anzuführen: bei den Ortskranken-
kassen wuchs die Mitgliederzahl von 1885 auf 1890 von 1,5
auf 2,7 Millionen, bei den Eingeschriebenen Hilfskassen
dagegen nur von 730 722 auf 810 455 Personen. Die neue )
Fassung des Krankenversicherungsgesetzes legt die Regle-
mentirung der freien Kassen gesetzlich fest, geht somit vom
liberalen Prinzip des blossen Versicherungszwanges ab, |
greift direkt in die Verwaltung der freien Kassen durch die j
Vorschrift ein, dass auch diese künftig statt blosser Geld-
unterstützung Arzt und Arznei in natura liefern müssen,
und nähert sich dadurch beinahe vollständig dem Zwangs- :
kassensy stem, das den Versicherten nicht bloss die Ver-
sicherung, sondern auch die Versicherungsart vorschreibt.
Nachdem man so die Krankenversicherung schablonisirt
hat, ist es nur noch eine Frage der Zeit, dass dieselbe von
staatlich organisirten Kassen allein besorgt wird und die j
freien Hilfskassen auf hören, gleichberechtigte zu sein, viel-
mehr sich mit der Rolle von Zuschusskassen begnügen für |
solche Versicherungspflichtige, die zwar staatlich organisirten,
Kassen angehören, aber sich eine Mehrversicherung noch
ausserdem leisten wollen. In den Motiven der Novelle vom
22. November 1890 ist als Grund für diese völlige Verän-
derung des ursprünglichen gesetzlichen Standpunktes ange-
geben) dass die von den freien Kassen geleistete Geldunter-
stützung , .keinen ausreichenden Ersatz“ für die Kosten der
ärztlichen Behandlung und der Arznei bilde, vielmehr in
dieser Geldunterstützung der Anreiz für die Arbeiter liege,
„sich unter Verzicht auf die freie ärztliche Behandlung und
Arznei eine höhere Geldunterstützung“ zu sichern, wodurch
der Hauptzweck der ganzen Krankenversicherung vereitelt
werde. Die Unrichtigkeit dieser Behauptung ist im Laufe
der P/ajährigen Diskussion über die Novelle so schlagend
nachgewiesen worden, dass dieselbe von gewissenhafter Seite
nicht wiederholt werden kann. Aus einer, allerdings immer
merkwürdig versteckt geführten Rubrik der amtlichen Kran-
kenversicherungsstatistik geht hervor, dass die Eingeschrie-
benen Hilfskassen auf einen Krankheistag ihrer Versicherten
fast genau die gleiche Gesammtleistungaufzu weisen haben, wie
die bestzahlenden staatlich organisirten Ortskrankenkassen,
trotzdem sie keine Unternehmerzuschüsse erhalten; und
dabei arbeiten die freien Kassen mit wesentlich geringeren
Verwaltungskosten, obgleich sie auch hier keine Sub-
ventionen gemessen. Nunmehr hätte mit Individualfällen
eine zweckwidrige Verwendung der Geldunterstützung
durch freie Hilfskassenmitglieder nachgewiesen werden
müssen. Dieser Nachweis wurde jedoch regierungsseitig
niemals versucht. Es gelang trotzdem, die Vorschrift der
freien Arzt- und Arzneilieferung auch für die freien Kassen
beim Reichstag durchzusetzen. Damit ist diesen Kassen
eine völlige Reorganisation, bei welcher sie die freie Aerzte-
wahl beschränken müssen, vorgeschrieben, und die grossen
centralisirten Kassen können ihre Centralisation schwerlich
aufrecht erhalten, weil sie kaum an den zahlreichen Wohn-i
plätzen ihrer kleinen Mitgliedergruppen lauter vorteilhafte
No. 13.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
173
Verträge mit Aerzten und Apothekern zu schliessen ver-
mögen. Sie werden also ihren Mitgliedern vielfach selbst
rathen, lieber in die staatlich organisirten Kassen zu treten
und dort als Sauerteig in der büreaukratisch steifen und
manchmal wenig arbeiterfreundlichen Organisation zu
wirken. Dieser Uebertritt en masse sollte nach einer
anderen Bestimmung der Regierungsnovelle befördert
werden durch ein geschickt ausgedachtes Meldesystem,
welches die Arbeiter bei Versäumung gewisser Fristen zu
den staatlich organisirten Kassen hinübergezogen hätte.
Dieses Meldesystem ist in der Hauptsache vom Reichstag
beseitigt worden. Aber die oben besprochenen Neuerungen
der Novelle werden ohnedies ihre Wirkung thun. Im
Uebrigen bringt die neue Fassung des Gesetzes organi-
satorisch wenig Fortschritte. Der einzige, der besondere
Erwähnung verdient, ist eigentlich die Bestimmung nach
welcher die vielgetadelte dreitägige Karenzzeit zu Anfang
der Krankheit durch Kassenstatut beseitigt werden kann,
wenn der Reservefonds eine bestimmte Höhe erreicht hat.
Gewisse moralisirende Bestimmungen der Novelle, welche
unehelichen Wöchnerinnen und kontraktbrüchigen Arbeitern
die Unterstützung entziehen wollten, sind glücklich be-
seitigt, nicht aber die die Gesundheitspflege direkt
schädigende Vorschrift, dass jene Entziehung für Ge-
schlechtskrankheiten eintritt. Daran, die von den Arbeitern
seit Jahren dringend verlangte Centralstelle für die Kranken-
versicherung zu schaffen, damit die Entscheidungen über
zweifelhafte Fälle einheitlich für das ganze Reich getroffen
werden und nicht in jedem Bundesstaat verschieden aus-
fallen, sowie damit ein Organ zur Sammlung und Sichtung-
aller organisatorischen Erfahrungen vorhanden sei, hat gar
Niemand während der Berathung gedacht.
Der Kreis der versicherungspflichtigen Personen ist
unter schlecht motivirter Ablehnung der Dienstbotenver-
sicherung (vergl. Sozialpolitisches Centralblatt 1891, No. 7,
S. 94) im Wesentlichen nur durch Aufnahme einer be-
stimmten Kategorie von Handlungsgehilfen erweitert
worden. Die Handlungsgehilfen waren nach dem alten
Gesetz nicht allgemein versicherungspflichtig, sondern
konnten nur für den Bezirk einer einzelnen Gemeinde
durch Ortsstatut versicherungspflichtig gemacht werden.
Die Regierungsnovelle schlug vor, den Versicherungszwang
durch Reichsgesetz für alle Handlungsgehilfen auszu-
sprechen, und kam hier einmal wirklich den Wünschen
der Betheiligten entgegen, deren Organisationen wegen der
vielfach prekären Lage und der Indolenz der jungen Kauf-
leute den Zwang begrüssten. Als freilich im Laufe der
Reichstagsdebatten an den Staatssekretär des Innern die
durchaus berechtigte Frage gerichtet wurde, wie und wo
sich bisher der ortsstatutarische Zwang bewährt habe, tla
zeigte sich, wie schlecht die Regierung über die wichtigsten
Vorfragen unterrichtet war: der Regierungsvertreter konnte
keine Auskunft geben. Schreiber dieser Zeilen weiss da-
gegen aus einer von ihm mit freundlicher Unterst üygpng
der Frankfurter Ortskrankenkasse unternommenen Privat-
enquete, dass ungefähr 40 deutsche Städte den ortsstatu-
tanschen Krankenversicherungszwang für Kommis einge-
führt haben, und dass Klagen über diesen heilsamen Ver-
sicherungszwang nirgends laut geworden sind. Trotzdem
wurde die Einführung der Versicherung, spflicht für sämrnt-
liche Handlungsgehilfen durch eine wesentlich freisinniger \
Führung folgende Gruppe von Reichstagsabgeordneten
verhindert und dieselbe nur für solche Kommis ausge-
sprochen, die im Engagementsvertrag die sechswöchent-
liche Salärzahlung im Krankheitsfalle nach Art. 61 des
H G. B. nicht seitens ihrer Prinzipale zugesichert erhalten
haben. Die Urheber wollten dadurch einer angeblichen
Doppelversicherung verbeugen, für welche sie nicht den
geringsten Beleg beibringen konnten; denn nach Ansicht
der Gehilfen nehmen gerade die Engagements immer mehr
überhand, bei welchen jene sechswöchentliche Salärzahlung
nicht .stattfindet. Ausserdem ist die neue Bestimmung-
praktisch kaum brauchbar, da man bezüglich der Anzeige
jener ungünstigeren Engagementsverträge ganz auf den
j guten Willen der Prinzipale angewfiesen bleibt! Die Motive
dieser sehr bedauerlichen Verschlechterung der Regierungs-
vorlage wurzeln offenbar in dem freisinnigen Bestreben,
die Handlungsgehilfen von der Berührung mit der Sozial-
gesetzgebung, welche die Kaufleute auf die öffentliche
Wahrung ihrer Interessen mehr und mehr hinweist, mög-
lichst fernzuhalten. Die nächste Revision des Krankenver-
sicherungsgesetzes wird zweifellos die monströse Bestim-
i mung bezüglich der Handlungsgehilfen durch den allge-
meinen Versicherungszwang für diese Gehilfenkategorie er-
setzen.
So bedeutet die Neuordnung des Krankenkassen wesens
in Deutschland durch die neueste Abänderung des Gesetzes
vom 15. Juni 1883 in den meisten Beziehungen nur e in
Uebergangsstadium zu Konsequenzen, über welche sich die
heutigen Bearbeiter des Stoffes vielfach noch nicht klar
gewesen sind, die aber sehr bald mit voller Deutlichkeit
heraustreten werden.
Frankfurt a. M. Max Ouarck.
Kriminalität.
Psychologische Glossen zur Strafgesetznovelle.
Das Problem aller Strafgesetzgebung ist ein psycho-
logisches. Jede äussere Festsetzung des Gesetzgebers und
des Richters geht ebenso an der Gerechtigkeit wie an der
Zweckmässigkeit vorbei, wenn sie nicht als blosses Mittel
zur Erregung gewisser psychischer Zustände betrachtet
wird. So sehr ihr letzter Zweck ein ausschliesslich sozialer
sein mag: sie kann ihn nur durch das Medium individueller
Seelen Verfassungen hindurch erreichen. Verfehlt sie diese,
so ist jener von vornherein verfehlt.
Man kann dem deutschen Strafgesetzbuch nicht nach-
sagen, dass es besonders grosse Klarheit über die psycho-
logische Bedeutung der Strafe verriethe. Unsere krimina-
listische Rechtsprechung — freilich nicht nur die deutsche
— krankt daran, dass Vergehen und Strafe nach einem sehr
äusserlichen Schematismus gegeneinander abgemessen wer-
den, ohne dass auf die seelische Verfassung näher einge-
treten wird, auf der doch allein die Richtigkeit und Zweck-
mässigkeit des Verhältnisses zwischen beiden beruht. Die
Bestimmung über Strafverschärfung in der Novelle zum
Strafgesetzbuch § 16a scheint den psychologischen Mängeln
unserer Kriminalistik einen neuen hinzuzufügen. Es wird
daselbst bestimmt:
„Bei der Verurtheilung zu Zuchthaus- oder Gefängniss-
strafe kann, wenn die That von besonderer Roheit oder
Sittenlosigkeit des Thäters zeugt, auf Verschärfung der
Strafe bis auf die Dauer der ersten sechs Wochen er-
kannt werden. Die Verschärfung der Strafe besteht darin,
dass der Verurtheilte eine harte Lagerstätte und als Nahrung
W'asser und Brod erhält.“
Die Verschärfung der Strafe ist an sich wohl motivirt.
Der Aufenthalt in unseren Gefängnissen erregt vielen ihrer
o c~>
Insassen angesichts ihrer sonstigen Lebenshaltung keines-
wegs die Empfindungen, ohne welche die Strafe nun einmal
nicht Strafe ist; wir Menschen empfinden eben nur den
Unterschiedeines neuen Eindrucks gegen unser sonstiges
Empfindungsniveau. Die Zukunft hat zwar darauf hin noch
einen andern Weg vor sich: dem Proletarier eine erhöhte
Lebenshaltung und dadurch eine feinere Empfindlichkeit
zu verschaffen, durch die auch schon auf die milderen
Strafen hin tiefgreifende Gefühlsfolgen eintreten; man kann
die Bestrafung verschärfen entweder indem man die Strafe
erhöht oder indem man die Seelen empfindlicher macht.
Die letztere Lösung der Straffrage von den langsamen
Wirkungen sozialer Entwickelung erwartend, hat man zu-
nächst nur die erstere zur Verfügung. Was aber wird die
Folge sein, wenn bei einer Gefängnissstrafe von mehreren
Monaten die ersten Wochen in solchem wirklich pein-
vollem Zustand zugebracht werden? Nur die, dass die
übrige Zeit als eine Erquickung, jedenfalls sehr viel leichter
empfunden wird, als wenn die gesammte Strafzeit auf
dem schliesslichen Niveau verflösse. Denn gerade weil wir
nur für Unterschiede der Empfindungen empfänglich sind,
weil wir den Hintergrund nur dunkler zu machen brauch®,
um den Vordergrund um so heller erscheinen zu lassen,
darum dient der schlimme Anfang dazu, dass das Uebrige
um so weniger schmerzlich empfunden werde. Der schliess-
liche Eiirdruck aber ist der Gesammteindruck, insbesondere
für Menschen niedriger Bildung, mit ihren kurzen Vor-
174
SOZIALPOLITISCHES CENTKALRLATT.
No. 13.
stellungs- und Gefühlsreihen und ihrer Bestimmbarkeit
durch die Verfassung des Augenblicks; je ungebildeter der
Mensch ist, desto mehr gilt für ihn: Ende gut, Alles gut.
Die Stimmung, in der der Delinquent das Gefängniss ver-
lässt, ist die Grundlage seines demnächstigen Verhaltens,
und sie wird eine um so weniger zerknirschte sein, um so
weniger eine Abschreckung in sich tragen, je mehr man
ihm den letzten 1 heil der Strafe dadurch erleichtert hat,
dass man den ersten erschwerte. Die Motive der Novelle
sagen zwar mit Recht: „Eine schlaffe und unzweckmässig voll-
zogene dreimonatige Gefängnisstrafe ist im thatsächlichen
Ergebnis« für den Verurtheilten eine mildere, als eine ener-
gisch und empfindlich vollstreckte einmonatige. Dasjenige,
was er nach eingetretenem Vollzüge an seinem körperlichen
Zustand empfindet, ist für den Verbrecher „die Strafe““ -
allein jene Bestimmung handelt in genau umgekehrtem
Sinne, indem sie, bei längeren Strafen, gerade das schliess-
liche „Ergebnis«“, das schliesslich „am körperlichen Zustande
Empfundene“ besonders milde gestalten muss. Ein altes
Strafrecht verorclnete, dass die Verbrecher vor ihrer Ent-
lassung aus dem Gefängniss noch ausgepeitscht würden,
hi dieser überwundenen Barbarei steckt eine feinere Psycho-
logie und, mutatis mutanclis, eine sicherere Gewähr für den
Effekt der Strafe als Ganzes, als in der jetzt vorgeschlage-
nen, an ihren Beginn gesetzten Verschärfung.
Ein zweiter Punkt aus den Motiven, zeigt, dass die
psychologische Einsicht auch da fehlt, wo sie durch viel
weniger Glieder hindurchzugehen hätte als bei dem erster-
wähnten. Es heisst nämlich anlässlich der Strafbestim-
mungen über die Verbreitung anstosserregender Bilder etc.:
„Werden derartige Darstellungen und Abbildungen in
geschlossenen Räumen, insbesondere auch in Kunstaus-
stellungen zum Zwecke der Besichtigung oder des Verkaufs
in einer Weise ausgestellt, dass sie von öffentlichen Strassen
oder Plätzen aus nicht gesehen werden können, so erscheint
dies weniger bedenklich, da Jedermann in der Lage ist, den
Besuch solcher Räume zu vermeiden.“ Der soziale Schaden
öffentlicher Verletzung des Anstands liegt also dieser
Motivirung zufolge darin, dass Leute, die derartiges nicht
sehen wollen, die es gern vermeiden möchten, durch
die Oeffentlichkeit der Schaustellung gezwungen werden
hinzusehen! Als ob nicht die Schädigung durch Laszivitäten
so gut wie ausschliesslich die träfe, die sie suchen, und die
Präventivmassregeln nicht darauf gehen müssten, sie grade
diesen zu verschliessen ! Als ob es nicht auf diesem Gebiete
der Gemeinheit mehr als auf jedem andern gälte, dass wer
sich selbst schützen will; sich auch schützen kann ! Man hat
den Eindruck, als ob unsere Gesetzgebung, wie sie eine
Gesetzgebung in favorem der Reichen ist, so auch eine Ge-
setzgebung in favorem der Sittlichen und ästhetisch Ge-
sinnten sein sollte, nur darauf bedacht, diese in ihrem Be-
sitz zu sichern, dass nicht der leiseste Llauch der Frivolität
ihren Weg kreuze und ihre Seelen trübe: nur der soll ge-
schützt werden, der solche Dinge vermeiden will; wer sie
aufsucht, der mag sie haben! Aber umgekehrt: wenn der
Staat hier überhaupt regulirend eingreifen will, so kommt
alles darauf an, den Lüsternen, Gierigen, den Knaben mit
vorzeitig wachgekitzelten Trieben die Reize neuer Auf-
regungen zu entziehen, gegen die die „Geschlossenheit“
der Räume grade ihnen keine Barriere ist. Denen, die sie
überhaupt vermeiden wollen, droht auch bei öffentlichster
Schaustellung keine Gefahr, sondern höchstens ein Gefühl
von Gene und Chockirung. Indem die Verweisung des Un-
sittlichen in geschlossene Räume allerdings die Möglich-
keit gewährt, selbst diesem Gefühle zu entgehen, es im
Uebrigen aber in Jedermanns Belieben stellt, ob er von
dieser Möglichkeit Gebrauch machen will, zeigt sich eine
wunderliche Mischung von weitgehender Fürsorge und weit-
gehendem Liberalismus — erklärbar nur aus der Mangel-
haftigkeit einer psychologischen Grundlage, die nicht er-
kennt, dass die sittliche Schädigung nicht denen droht, die
sie vermeiden wollen, sondern denen, die sie suchen.
Wir lächeln heute über die Forderung Platos, dass
die Regierenden Philosophen sein müssten. \\ enn wir aber
statt der Philosophen überhaupt Psychologen in die Formel
einsetz em, so ist es uns sehr ernst mit ihr. Man kann sicher
sein: unsere gesammten öffentlichen Zustände wären er-
freulichere, wenn die Personen, die Andere zu lenken be-
rufen sind, mehr von dem feinen Instrument wüssten, durch
das und auf das allein sie doch schliesslich wirken können,
von der menschlichen Seele Unsere Lehrer werden zu
philologischen oder naturwissenschaftlichen Gelehrten aus-
gebildet, unsere Prediger lernen Kirchengeschichte, Exe-
gese und Dogmatik bis in ihre letzten Zuspitzungen,
unsere Juristen lernen Rechtsbestimmung über Rechtsbe-
stimmung und die schematischen Proportionen zwischen
der That und ihrer Rechtsfolge mit all ihren Aeusserlich-
keiten und Einzelheiten — aber bei keinem von ihnen wird
viel nach der Kenntniss der Menschenseele gefragt, von der
allein die Anwendung und der Segen aller Kenntnisse und
aller Institutionen abhängt. So gleichen sie dem Arzte, der
treffliche Heilmittel kennt, aber nicht den Körper, auf den
sie wirken sollen, oder dem Gärtner, der zwar guten Samen
hat, aber nichts von dem Boden weiss, in dem allein er seine
Früchte tragen kann.
Berlin Georg Simmel.
Gefängnissarbeit in Prenssen. ln den dem preussischen
Ministerium des Innern unterstellten Straf- und Gefangenen- ]
anstalten betrug während des Etatsjahres 1890/91 die Zahl der
im täglichen Durchschnitt detinirten Gefangenen mit Arbeits- |
zwang 24 523,38, von denen 6,38n/„ gegen 6,95" o im Vorjahre un-'
beschäftigt waren. Für den eigenen Bedarf der Anstalt wurden
23,34°/, gegen 23,83° o im Jahre 1889/90, für eigene Rechnung der
Anstalten zum Verkauf 1,73%, gegen 1,80° im Vorjahre, und
für Dritte gegen Lohn 74,88%, gegen 74,37% im Vorjahre, be-i
schäftigt. Von den Letztgenannten hatten 97,05% mit Industrie-
arbeiten, 2,95 % mit landwirtschaftlichen und sonstigen gewöhn-
lichen Tagelöhnerarbeiten zu thun. Der Arbeitslohn-Reinertrag (
stellte sich pro Kopf und Arbeitstag auf 40,3 Pfg. gegen 38.2 Pfg. :
in 1889/90. Die Verdienstantheile, die den Gefangenen mit ein
Sechstel des ganzen Arbeitsertrages gutgeschrieben werden, be-
trugen für den Arbeitstag 6,7 Pfg. gegen 6,4 Pfg. im Vorjahre. |
Von den Gefangenen ohne Arbeitszwang (Üntersuchungsgefan-
genen, Gefangenen in einfacher Haft, Polizeigefangenen und
Schuldgefangenen), deren Durchschnittsbestand 840.96 betrug,;
waren 247 unbeschäftigt und 593,96 beschäftigt. Der Brutto- i
Arbeitsverdienst der Untersuchungsgefangenen betrug pro Kopf)
und Arbeitstag in den einzelnen Anstalten 5.8 bis 46,2 Pfg-, der-
Verdienstantheil stellte sich auf 1,9 bis 15,5 Pfg.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
A. P. Der Sozialismus als Feind der Religion und die
Volksschule. Ein Wort zur Klärung. 11 — 20. Tausend.
Berlin 1892, O. Harnisch. 8°. 32 S.
Aureliann, D-lui Petre S. Economia nationala Revista
intereselor economice romane sub directumea. XVI. Jahr-
gang, 5. Heft- Bukarest 1892, Vointa nationala. 8". 73—96 S.
Grol». C. Jahrbuch des Unterrichtswesens in der!
Schweiz 1890 Bearbeitet und mit Bundesunterstützung
herausgegeben. Zürich, Grell Fiissli’s Verlag Art -Institut, j
1892 8"" VIII, 152 u. 143 S.
Knorr, Ferdinand Dr. jur. Entwurf einer Berufsgenossen-
schaftsordnung. Ein Votum der Reform der gesetzlichen
Arbeiterfürsorge Minden 1891, J. Schweitzer. 8°. 87 S. |
Lichtstrahlen. Blätter für volksverständliche Wissenschaft und |
atheistische Weltanschauung. Zugleich Unterhaltungsblatt
und litterarischer Wegweiser für das Volk. 2. Jahrgang I
11. und 12. Heft. Berlin 1892, O. Harnisch. 8'. S 465 —560.
Palgrave, R. H. Inglis F. R. S. Dictionary of political
economy. Second Part Beeke — Chamberlayne. London 1892,
Macmillan & C. 8Ü. 129 — 256 S.
Vierteljahrshefte zur Statistik des deutschen Reiches. Heraus-
gegeben vom Kaiserlichen statistischen Amt. Jahrgang 1892.
1 Heft. Berlin 1892, Puttkammer & Mühlbrecht. 4". 94 S.
Varlez, Louis. Les homestead exemption acts. Rapport
presentö au cercle d’etudes sociales des etudiants Brüssel
1892. H. Lamertin. 8°. 23 S.
Verantwortlich für die Redaktion: l)r. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT
Berlin, den 28. März. 1892
Für den Anzeigentheil sind die Redaktion und die Verlagsbuchhandlung nicht verantwortlich. Anzeigen-Annahmestelle nur bei
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X Marion (Eraioforb.
Slutorifirte lteberfetmng miS bem ©nglifd)en
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Preis 33i. 1,60, gebunbeu 33i. 2,20
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1t. ©uttenlag, Perlag31)ud)l)anblung in Sertin.
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giir Stjeorie uub prajid fi)fteiuatifd; bargeftellt
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Dr. j^einridj 9iofiu,
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Itnioertitcit ^rcibiivn i 33.
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Sirbcitcioerftdiermtfl.
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verfallen, oou beneu ber erfte „bie reid}Sred)t=
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Äraitfeu-, llnfa ü=, fomie bie SnoatibitätS-- uub
SllterSoer|id)erung gur ©ingetbnrftellnng bringen
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©erlag uon ©untkeu & Bumblof in Leipjig.
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St. 0 93tiaöfoiüSn Saub I, 1 1111b 2 •C'ft. 1892 PreiS 9 60 Pi.
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uietctje fid) tl)r 311m 33eften ber anfd)ließen, and) mitten olgtc
21it§ual)mc 311m Ütupen gereidjt/' Sie ftrebt itad) größter D!e=
redftigfeit unb 'Silligfeit. 'sljre Wefdidftserfotgc ftnb fteto überaus
güitfttg. Sie hat aUe3ett bem vernünftigen gortfdjritt gehutbtßi.
Sic ift lute bte ältefte, fo aitd) bie gröfde £\mtfd)c eebeneuerfidjenntgS;
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SW., Wilhelmstrasse No. 121
Verantwortlich für den Anzeigentheil : Dr. Otto Eysler in Berlin. — Druck von 11. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 4. April 1892.
Nummer 14.
SOZIALPOLITISCHES
C E NTRALB LATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
I. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis viertel,] ährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Zur L a g e der schlesischen
Hausweber. Von Prof. Dr.
Werner Sombart.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirthscliaftsstatistik :
Die Postsparkassen in Llngarn.
Aargauische Verordnung betr. Ver-
kauf von Loosen in Raten.
Bestrebungen fiir reichsgesetzliche
Regelung des Gesinderechtes.
\rbeitsnachweis in Stuttgart.
Arbeiterzustände :
Reichskommission für Arbeiter-
statistik.
Lohnfristen und Lohnzahlungstage.
Eine Statistik des Pariser Elends.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Ein neuer Kutscherstrike in Paris.
Schweizerischer Gewerkschaftskon-
gress.
Politische Arbeiterbewegung:
Sozialistische Bauernbewegung in
Oesterreich.
Kaufmännische Bewegung:
Zur Organisation der weiblichen
Angestellten in kaufmännischen
und Fabrikgeschäften. Von J.
Silbermann.
Unternehmerverbände:
Ein neuer Kupferring.
Verein anhaitischer Unternehmer.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Die Ausführung der deutschen Ge-
werbeordnung vom 1. Juni 1891.
Die achtstündige Schicht für Berg-
arbeiter im englischen Parlament.
Gewerbeinspektion :
Die Berichte der ungarischen Fabrik-
inspektoren.
Arbeiterversicherung:
Geschäftsbericht desReichsversiche-
rungsamtes für das Jahr 1891.
Von Dr. R. van der Borght.
Zur Wirksamkeit der deutschen Un-
fallversicherung.
Strengere Handhabung des Unfall-
versicherungsgesetzes in Deutsch-
land.
Die Einberufung eines Kongresses
der freien Hilfskassen.
Wohnungszustände :
Nürnberger Wohnungszustände.
Gew7erbegerichte , Einigungs-
ämter u. Arbeiterausschüsse:
Der Gesetzentwurf betreffend die
Prud’hommes-Gerichte in Frank-
reich.
Arbeiter-Prud’hommes und Impe-
rativmandate.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Zur Lage der schlesischen Hausweber.
Ihre Haltung diesen ganzen langen Winter hindurch
war musterhaft, sie haben nicht gemuckst, sie haben nicht
einmal geklagt, wie noch im vorigen Winter, sie haben nur
gehungert. O, man bekommt Uebung auch im Hungern;
anfangs hungert man und murrt dabei, dann aber hungert man
und schweigt dazu. Gerhard Hauptmann hat uns unlängst
in einem interessanten Drama ,de Waver‘ aus den 1840er
Jahren geschildert, wie sie Tumulte machten, wie sie
barbarenhaft die Salons ihrer Verleger und Ausgeber
ruinirten; das sind jetzt tempi passati. „Das nordische
Phantom ist nun nicht mehr zu schauen“; auch der schle-
Isische Hausweber ist civilisirt geworden, er respektirt das
jgute Recht der Andern und hat Lebens- und Weltweisheit
i genug erworben, um sich mit seinem bescheidenen Loose
zufrieden zu stellen. Dass es den Leuten heute wirklich
besser ginge als vor 50 Jahren, kann selbst die „Schlesische
Zeitung“ nicht behaupten und die Thatsache, dass der
Hausweber der Eulen- und anderen Gebirge ab und zu und
immer häufiger jetzt sogar seine 3 M. Wochenverdienst ent-
behren muss, weil er überhaupt keine Arbeit hat, ist zu
notorisch, um vertuscht werden zu können. Auch diesen
Winter ist das Gespenst der Arbeitslosigkeit in den arm-
seligen Hütten unserer Weber umgegangen und das will
was sagen bei der bitterlichen, unerbittlichen Kälte der
letzten langen Monate, will was sagen in einem Jahre, da
wiederum die Kartoffeln schlecht gerathen waren, da das
Brot um viele, viele Pfennige vertheuert war. Aber der
Weber klagt nicht mehr; man würde am Ende gar nichts
mehr von ihm hören, wenn man nicht selbst an Ort und
Stelle Umfrage hielte, wenn nicht hie und da auf Umwegen
die Kunde von seinem Elend in die Oeffentlichkeit dränge.
Wie grau das Elend heuer wieder war, beweist der Um-
stand, dass sogar die Handelskammern der Gegend sich
darum bekümmert haben; im Dezember beschloss die von
Schweidnitz: „Die hiesige Handelskammer fordert die
Fabrikanten auf, den zahlreichen arbeitslosen Züchen webern
der Reinerzer Gegend behufs Verhinderung eines sonst
sicheren schweren Nothstandes reichliche Arbeit zuzu-
führen.“ Das sind natürlich ganz platonische Liebesbe-
theuerungen, die den Betheiligten gar nichts nützen. Der
Fabrikant, der Verleger wird auf die Dauer nicht mehr
Hausindustrielle beschäftigen, als es die Geschäftslage er-
fordert und erlaubt; er kann es auch nicht, denn in der
frischen Luft der freien Konkurrenz kommen so zarte
Pflänzchen wie Mitleid, Menschenliebe nur schwer fort.
Der LInternehmer rechnet; das ist seine ihm von Gott be-
stimmte Mission und er wäre ein schlechter Geschäftsmann
und würde seinem Volke keinen Gefallen thun, wenn er
aus reiner Menschenfreundlichkeit auf die Dauer die Waaren
auf Handwebestühlen aus dem vorigen Jahrhundert her-
steilen Hesse, die er auf dem mechanischen Webstuhl für
die Hälfte des Preises kann fertigen lassen. Wenn heute
noch besonders wohlwollende Fabrikanten, wie Websky in
Wüste waltersdorf, Kauffmanns in Tannhausen alten Haus-
webern, entgegen ihrem Geschäftsinteresse das Gnadenbrod
geben, so ist das eben ein Akt der Wohlthätigkeit, der
aber immer die Ausnahme bilden wird, der niemals verall-
gemeinert gedacht werden kann oder soll. Was hier helfen
kann, ist allein das zielbewusste Eingreifen der Gesellschaft,
des Staates. |Es handelt sich bei den Hauswebern um
Reste, um Bodensätze, die bei dem Umformungsprozess des
Wirthschaftslebens zurückgeblieben sind [und die nur künst-
lich entfernt werden können. Die Sache liegt so sehr auf der
flachen Hand, dass das zaghafte Verhalten unserer Behörden
und Parlamente geradezu unerklärlich ist. Was geschieht
zum Besten der schlesischen Hausweber? was ist in-
176
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 14.
Sonderheit diesen Winter über wieder geschehen?
Wir wollen nicht unhöflich sein und schlankweg „Nichts“
antworten, wollen vielmehr alle Massnahmen genau re-
gistriren.
Auffällig ist es, welcher Wissensdrang die Ver-
treter unserer Regierung seit Jahrzehnten nun schon
beseelt, sobald es sich um die Frage der Hausweber
handelt! Auch diese Saison hat wieder „amtliche Unter-
suchungen“ gebracht. In Veranlassung einer Mittheilung
der Schweidnitzer Handelskammer hat der königliche Re-
gierungspräsident zu Breslau statistische Erhebungen
über die Handweberbevölkerung angeordnet. Die bezüg-
lichen Aufnahmen sollen gemeindeweise und zwar überall
im Monat Februar erfolgen, weil in diesem Monat er-
fahrungsmässig der grösste Theil der Handweber that-
sächlich mit Handweberei beschäftigt ist (oder auch nicht!).
Die Erhebungen sollen sich auf die Kreise erstrecken, in
denen die Handweberei in nennenswerthem Umfange be-
trieben wird. Was in aller Welt, muss man fragen, will
man eigentlich noch „in Erfahrung bringen“? Die Hand-
weberfrage war vor 50 Jahren schon spruchreif und jetzt
sollen erst wieder grossartige „Erhebungen“ veranstaltet
werden. Wenn man doch wichtigere Dinge, die noch
weniger klargestellt sind, von Amtswegen untersuchen
wollte! Und was wird geschehen, wenn nun die Erhebun-
gen fertig sind? Ich fürchte, nicht viel mehr, als was jetzt
schon „geschieht“. So lange die Regierung den Standpunkt
einnimmt: die Hausweberei soll thunlichst erhalten werden;
wo sie eben gar nicht mehr existenzfähig ist, sollen die
Weber oder ihre Kinder „in andere Berufsarten übergeführt
werden“ und zwar nicht zwangsweise, sondern durch Lock-
mittel; so lange wird das Elend in Permanenz erklärt
werden. Die bisherigen Massnahmen der Regierung ent-
springen dem eben gekennzeichneten Gedankengange.
Primo loco der Versuch, das Elend zu konserviren. Die
Mittel hierzu werden gesucht: 1. in dem Bau von Eisen-
bahnen, in der billigen Abfuhr der Fabrikate etc. Als ob
das der Hausweberei als solcher etwas nützte. Wird ein
Weberdistrikt „erschlossen“, wogegen sich gewiss nichts
einwenden lässt, so kommen die hierdurch erzielten Vor-
theile offenbar in gleich hohem Masse der Fabrik Weberei
zu gute, die Hausweberei bleibt verhältnissmässig gleich
konkurrenzunfähig. 2. sollen die Militärlieferungsauf-
träge den Haus webern in grösserem Maasse zugewendet
werden. Ganz schön. Nützt für den Augenblick, wirkt
aber auf die Dauer eher schädlich, denn es verewigt die
jammervolle Lage der Hausweberei. Schliesslich versagt
das Mittel und der Jammer ist um so grösser. Das
Almosen, das der Staat, also die Steuerzahler in der Form
bezahlen, dass sie den Bedarf der Armee durch eine tech-
nisch unvollkommene Gütererzeugung, also theurer als
nöthig wäre, decken, könnte viel besser zu wirksameren
Reformen verwandt werden. Nun versucht man aber 3. die
Leistungsfähigkeit der Hausweber zu heben. Man
will sie einmal mit leistungsfähigen Webstühlen ver-
sehen. Zu diesem Behufe hat der Kaiser unlängst 45 000 M.
gespendet. Dazu bemerken die eingeweihten Blätter der
Provinz: Ob zunächst nur die Zinsen der kaiserlichen
Spende oder gleich diese selbst zu dem genannten Zwecke
verwendet werden dürfen, hat nicht in Erfahrung gebracht
werden können. Jedenfalls werden wohl vor Benutzung
der Summe zunächst geeignete behördliche Organe, Sach-
verständige und mittelbar oder unmittelbar Betheiligte zu
einer nochmaligen Erörterung (!) der ganzen Handweber-
frage in Schlesien zusammentreten. Zum Zwecke der
Lösung der Weberfrage haben übrigens bereits Staat und
Provinz, beide je 2000 M., und die Kreise des Eulengebirges
und der Grafschaft ebenfalls 2000 M. bewilligt und die
Bewilligung gleicher Summen bis auf weiteres Jahr
um Jahr in mehr oder weniger sichere Aussicht gestellt.
Was heisst das: „leistungsfähigere Webstühle“? Doch nur
etwas weniger altfränkische Handwebstühle. Und mit
Summen, [wie den oben genannten, glaubt man wirklich,
den fieberhaften Fortschritten der Maschinentechnik Kon-
kurrenz machen zu können? Man wird die Summen ver-
ausgaben, man wird ein Paar „leistungsfähigere“ Webstühle
in den Hütten der Hausweber aufstellen und nach 10 Jahren
ist (man gerade so weit wie jetzt: Die „leistungsfähigen“
Webstühle sind veraltet, der Weber selbst ist genau wie
heute [konkurrenzunfähig gegenüber den rapiden Fort-
schritten der Maschinenweberei. Daneben beschreitet man
einen andern Weg, um die „Leistungsfähigkeit“ der textilen
Hausindustrie zu heben. Man schickt willfährige Haus-
weber auf Regierungskosten in die Weberschule, damit
sie hier „sich ausbilden“ (und nachher auf ihren „leistungs-
fähigen“ Handstühlen ihr Heil versuchen!). Die Landräthe
sind schon an der Arbeit, diesen neuen Gedanken der
Regierung zur Ausführung zu bringen. Der Landrath des
Kreises Landeshut hat dieser Tage folgende Bekannt-
machung erlassen:
Der Minister für Handel und Gewerbe hat sich bereit
erklärt, eine Anzahl von geeigneten, ständigen Handwebern
aus dem hiesigen Kreise vom Beginne des nächsten Lehr-
kursus an in der Webeschule zu Sorau für die Taschen-
tuchweberei ausbilden zu lassen, um durch Einführung
dieses bisher in der Textilindustrie des Kreises Landeshut
nicht heimischen Artikels den Handwebern eine weitere
lohnende Arbeitsgelegenheit zu schaffen. Die Kosten für
die Ausbildung werden auf Staatsfonds übernommen werden;:
dieselben sind bemessen auf 60 M. für den Unterhalt, 40 M.
für die etwa erforderliche Vervollständigung der Bekleidung,,
12 beziehungsweise 4 M. für die Reise, sowie Zehrung auf:
derselben; im Ganzen also 116 M. für die Person; ausser-
dem trägt der Staat das Schulgeld. Die Dauer des Lehr-
kursus beträgt einen Monat und sollen je 5 Weber immer
gleichzeitig zur einmonatlichen Ausbildung zugelassen
werden. Es wird beabsichtigt, zunächst etwa 40 Webern
diese Vortheile zu gewähren. Ich fordere solche im Kreise an-,
gesessene, jüngere und arbeitstüchtige, ständige Handweber,
welche an diesen Vortheilen theilnehmen wollen, aut, sich,
unverzüglich bei ihren Herren Arbeitgebern hierzu anzu-
melden und letztere wiederum ersuche ich, sich alsbald
gefälligst mit mir wegen Auswahl der ersten 10 auszu-
bildenden Persönlichkeiten in Verbindung setzen zu wollen.
Abgesehen von der Geringfügigkeit der Mittel, welche
hierbei zur Verwendung kommen, wird das Bestreben aus
den vorhin angedeuteten Gründen ebenfalls fruchtlos bleiben.
Wenn die 10 Weber und ihre Nachfolger gescheidt sind,
werden sie von selbst, nachdem sie einmal in die Welt
hinausgekommen sind, auf das karge Brod der Hausweberei
verzichten und ihre neu erworbenen Kenntnisse in der
Maschinenweberei verwerthen. Das wäre der glücklichste
Erfolg der gewiss gut gemeinten Massnahmen.
Wo man nun aber höheren Orts eingesehen hat, dass es
verlorene Liebesmüh ist, die Hausweberei zu erhalten , da ist
man auf ein ganz eigenthümliches Mittel verfallen, um dem
Elend ein Ende zu machen. Man versucht nämlich, die Weber
oder deren Kinder durch List aus ihrem Bau herauszulocken
dadurch, dass man ihnen Prämien ausbezahlt, wenn sie
in einen anderen Beruf übertreten. Ganz im Stillen
arbeitet dieser Betrieb schon seit einiger Zeit; man weiss
nicht, mit welchem Erfolg. Bedeutend kann dieser nicht
sein, denn die Fonds, aus denen die Prämien bezahlt
werden, sind recht bescheiden. Für das laufende Ver-
waltungsjahr sind von der Regierung 2000 M. und ebenso
viel von der Provinz für obigen Zweck ausgesetzt worden.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
177
No. 14.
Damit lässt sich natürlich nicht viel anfangen. Dazu kommt
nun aber, dass ein anderer Umstand erschwerend und
hindernd in den Weg tritt, der nämlich, dass sich die Leute
entweder gar nicht hervorlocken lassen oder wenn sie ein-
mal hervorgelockt sind, Mittel und Wege finden, zwar die
Prämie zu verzehren, dann aber zu den heimischen Penaten,
zu Spule und Webstuhl zurückzukehren. Das ist fatal, aber
den Betroffenen nicht zu verdenken. Einen andern Uebel-
stand würde das Prämienverfahren aber im Gefolge haben,
wenn es sich wirksam erwiese: es würde einen beträcht-
lichen und werthvollen Betrag unseres Nationalvermögens,
das in der Arbeitsgeschicklichkeit des Webers oder auch
nur des spulenden Kindes, aufgestapelt ist, unwiderbring-
lich zerstören, dadurch dass die weiland Weber oder
Weberaspiranten in neuen, fremden Gewerben unterge-
bracht würden. Dabei ist angenommen, dass sie körperlich
im Stande wären, als Erdarbeiter oder Bauhandwerker über-
haupt zu funktioniren, was zu bezweifeln sein dürfte.
Ist also, wenn all’ die vorhin erwähnten Massnahmen
der Regierung in den Sand gebaut sind, in der That alle
Hoffnung eitel, die Frage der Hausweber zu lösen, dem
Elend ein Ende zu machen? Nein, gewiss nicht. Es muss
nur richtig angegriffen werden. Man muss zunächst das
Bemühen aufgeben, die Hausweberei durch künstliche
Mittelchen zu erhalten; sie kann auf die Dauer neben der
Maschinenweberei, von einigen wenigen Fällen abgesehen,
nicht bestehen. Das Ziel muss also sein, sie aus der Welt
zu schaffen. Aber nicht dadurch, dass man die Weber oder
ihre Kinder in andere Berufsarten überleitet, sondern
dadurch, dass man sie zu Maschinenwebern macht.
Wenn ganz alte Wavermeester nicht mehr im Stande sind,
einen Maschinenwebstuhl zu bedienen, so mag man sie auf
den Aussterbeetat setzen und ihnen das Gnadenbrot geben.
Die bei weitem überwiegende Mehrzahl der jetzigen Hand-
weberbevölkerung, Männer, Weiber und Kinder, kann aber
sehr wohl noch in der Fabrik verwendet werden. Und
hier nun öffnet sich für den Staat ein weites Feld seiner
Thätigkeit: er soll selbst Fabriken in den Haus-
weberdistrikten bauen oder ihren Bau befördern. Es
ist das gar kein so ungeheuerlicher oder befremdlicher Ge-
danke. Der preussische Staat braucht nur seine Haus-
weberpolitik der 1840er Jahre, die viel energischer und ge-
sünder war als die jetzige, wieder aufzunehmen. Damals
sind aus Staatsmitteln, durch die preussische Seehandlung
in den hauptsächlichsten Weberdistrikten Fabriken be-
gründet worden, deren bekannteste die in Wüstegiersdorl
erbaute, jetzt von Kauffmanns geleitete grossartige mecha-
nische Weberei ist. Also es geht! Aber es gereicht auch
den Webern selbst zum Segen. Der Wanderer, der von
Reichenbach über das Eulengebirge durch die erbärmlichen
Hausweberdörfer gepilgert ist, athmet erleichtert auf, wenn
| er das Thal der Weistritz erreicht und hier den verhält-
nissmässigen Wohlstand der Bevölkerung in den Fabrik-
dörfern Wüstegiersdorf und Tannhausen beobachtet. Da
versagen alle Schwärmereien sentimentaler Naturen für die
sozialen Vorzüge der Hausindustrie. Der Fabrikarbeiter ist
unendlich viel besser gestellt; er arbeitet 10 — 11 Stunden in
der Fabrik und kann dann in derselben Fuft und in der-
selben Gegend wie früher als Hausindustrieller sein Häus-
chen bestellen und seinen Kohl bauen. Eine Reihe wirk-
licher Wohlthätigkeitsanstalten: Krankenhaus, Waisenhaus,
Kindergarten nach Fröbels System, Handfertigkeits- und
Fortbildungsschule, eine Heimstätte für unverheirathete
Fabrikarbeiterinnen, woselbst die letzteren für geringes
Entgelt anständig wohnen und tür sich kochen können,
und anderes mehr verschafft den Arbeitern eine Menge von
Annehmlichkeiten, die für den erbärmlichen Hausweber
unerreichbar sind. Also nur keine falsche Sentimentalität.
Hier muss zielbewusst und energisch eingesetzt werden.
Alles übrige ist Flickwerk und führt zu nichts. Einge-
wendet gegen das von mir vorgeschlagene Verfahren wird
wohl: der Hausweber würde doch nicht in die Fabrik
gehen, selbst wenn sie in oder bei seinem Dorfe stände.
Der Einwand ist unbegründet, wie die Erfolge, namentlich
der Giersdorfer Anlage beweisen. Wenn sich aber wirk-
lich ein Widerstreben der Hausarbeiter bemerkbar machen
sollte, so gibt es ein sehr gutes Mittel: man macht ihnen
den Betrieb zu Hause dadurch unmöglich, dass man die
Heimarbeit den Anforderungen der Arbeiterschutz-
gesetzgebung unterstellt; d. h. man räuchert die Haus-
weber aus. Das ist aber nur angängig, wenn man ihnen
gleichzeitig in der Nähe Arbeitsgelegenheit schafft. Des-
halb muss zuvor mit dem Bau von Fabriken begonnen
werden. Also unverzagt: where is a will, there is a way!
Aber mit Fatwergen und Mixturen kurirt man keinen
Todtkranken.
Breslau. Werner Sombart.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts
Statistik.
Die Postsparkassen in Ungarn. Seit dem Jahre 1885
bestehen in Ungarn Postsparkassen, doch haben sich die-
selben noch keineswegs eingelebt. Die ersten fünf Jahre
der Postsparkassengebahrung (1885 — 1890) haben 269 950 fl.
ö. W. Defizit ergeben. Dasselbe fiel zwar von Jahr zu Jahr
(1886: 100 505 fl. 35 Kr., 1887: 56 944 fl. 66 Kr., 1888: 50316 fl.
61 Kr., 1889: 39 807 fl. 92 Kr., 1890: 22 375 fl. 49 Kr.), besteht
aber bis zum letzten vorliegenden Rechnungsabschluss. Am
31. Dezember 1890 hatte die königlich ungarische Postspar-
kasse eine Bilanz aufgestellt, in der als Passiven figuriren
6 683 943 fl. 68>/2 Kr. ö. W. Einlagen der Sparer, wozu
831 739 11. 54 Kr. "auf Rentenbücher und in Depot gehaltene
Werthpapiere kommen, so dass Ersparnisse in Höhe von
7 515 683 fl. 22' j. 2 Kr. durch die Postsparkasse verwaltet
werden. Stellen wir diese Summe (in Francs1): 15 990 815)
neben das Guthaben der Einleger anderer Postsparkassen
im Jahre 1888, so sehen wir, dass die ungarische Postspar-
kasse noch in den Kinderschuhen steckt, denn in Gross-
britannien und Irland bezifferte sich das Guthaben der
Einleo-er auf 1463 909 850 Frcs., in Frankreich auf
266 788 603, in Belgien auf 260 224 438 und in Oesterreich
auf 37 494 400 Frcs.
Auf je 1 000 Einwohner entfielen im Jahre 1885 9,1,
im Jahre 1890 9,67 Einlagebücher, was nicht nur eine sehr
langsame Einbürgerung der Institution, sondern auch ein
starkes Zurückbleiben hinter anderen Bändern beweist,
kamen doch auf je 1 000 Einwohner im Jahre 1888 in
Grossbritannien und Irland 110,6 in F rankreich 29,6 in
Belgien 98,5 und in Oesterreich 29,6 Einleger. Von den
Einlegern waren im Jahre 1890 65,5 Männer, 32,9 Frauen,
der Rest juristische l^ersonen. Dem Alter nach entfielen
24,9 % der Einleger auf das Alter bis zu 10 Jahren, demnach
auf Personen, die noch nicht erwerben können, 31,8% ent-
fielen auf das Alter zwischen 10 und 20 Jahren, demnach
auf Personen, die zum weitaus grössten Theil noch nicht,
oder nur in sehr beschränktem Masse selbständig erwerben
können, so dass nur 43,3 % im Alter voller und abnehmender
Erwerbsfähigkeit standen. Der Beschäftigung nach waren
22,4 n/0 Schüler, 15,3% Handwerker, 13,2 % Kinder, 8,7 %
Beamte und Soldaten, 4,6 % Personen mit liberalen Beruls-
arten, 5,1 % Kaufleute. Leider ist in dem in deutscher
Sprache vorliegenden Berichte über die „Wirksamkeit des
königlich ungarischen Handelsministers im Jahre 1890“ die
Zahl der von Arbeitern, Taglöhnern, kaufmännischen Ge-
hilfen, Dienstboten u. s. w. besessenen Postsparkassenbücher
nicht angegeben. Wir können daher nicht beuitheilen,
welche Bewandniss es mit der Angabe des Berichtes hat,
i) Umgerechnet zum Kurse des Francs — 0,47 fl. ö. W.
178
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 14.
dass die grösste Zunahme gerade bei diesen Personen statt-
gefunden hat. Aus der Thatsache, dass für diese Gruppen
keine Zahlen angegeben sind, müssen wir schliessen, dass
in Ungarn wie in Oesterreich die Postsparkassen von nur
ganz geringer Bedeutung für die Arbeiterklasse sind.
Aargauische Verordnung betr. Verkauf von Loosen
in Raten. Der Regierungsrath des Kantons Aargau hat
am 25. März d. J. veranlasst durch Erhebungen des
statistischen Bureaus über die vielfachen Missbrauche im
Verkaufe von sogenannten Prämien- oder Ratenloosen auf
dem Wege des Hausirhandels (vgl Sozialpolitisches Cen-
tralblatt, No. 13, Seite 165 fg.) eine Vollziehungsverordnung
genehmigt, welche den Geschäftsbetrieb auswärtiger Bank-
geschäfte im Kanton unter staatliche Kontrolle stellt. Die
Verordnung soll mit 1. Mai in Kraft treten. Nach derselben
haben auswärtige Geschäfte, welche im Aargau durch eigene
Angestellte Bankgeschäfte irgend welcher Art betreiben,
im Kanton ein Rechtsdomizil zu verzeichnen und unterliegen
hinsichtlich der im Kanton betriebenen Geschäfte der gleichen
staatlichen Beaufsichtigung und Besteuerung wie die aar-
gauischen Kreditinstitute. Ferner wird der gewerbsmässige
Verkauf von Ratenloosen vom Markt- und Hausirverkehr
ausgeschlossen.
Bestrebungen für reichsgesetzliche Regelung des
Gesinderechtes. Der Landtag von Sachsen- Weimar be-
schloss die Regierung aufzufordern, im Bundesrathe aut
reichsgesetzliche Regelung des Gesinderechtes hinzuwirken
und, wenn dies thunlich, mit den anderen thüringischen
Staaten eine gemeinschaftliche Gesindeordnung zu verein-
baren.
Arbeitsnachweis in Stuttgart. Die älteste der gemein-
nützigen deutschen Arbeitsvermittelungsanstalten, das Stuttgarter
Btireau für Arbeitsnachweis hat seinen 27. Jahresbericht für
1891/92 ausgegeben. Aus demselben ist ersichtlich, dass das
Büreali im verflossenen Jahre 17 634 Gesuche erledigte, nämlich
16 506 Arbeiter-, Arbeitslehrstellen und Lehrlings- und 1128 Lhiter-
stützungsgesuche Für letzteren Zweck wurden 1977 M. 90 Pf.
verausgabt. In auswärtigen Stellen fanden 698 Arbeiter Ver-
wendung. Seit seiner Gründung wurde nun die sehr respek-
table Zahl von 463 257 Gesuchen vermittelt. Das Lehrlingsver-
mittelungsgeschäft macht immer mehr Fortschritte, gegen 504
Vermittelungen i. J.1890 haben 826 i. J. 1891 stattgefunden Dass
ein reger Geschäftsverkehr auf dem Btireau obwaltete, ist aus
dem Bericht ersichtlich, da ein Postverkehr von 6906 Aus- und
Eingängen stattfindet und noch über 12 000 Arbeitsanweisungen
auszustellen sind. Obschon das abgelaufene Geschäftsjahr kein
besonders günstiges zu nennen ist, konnte doch das Bureau
seine Jahresrechnung ohne Defizit abschliessen, was aber nur
in Folge von Unterstützungen durch Industrielle und Hand-
werke möglich war.
dadurch, dass Reichskanzler und Bundesrath sich
Vorbehalten haben, die Majorität der Mitglieder (7 von ■
13) zu ernennen, vollkommen in der Gewalt der
Regierungen ist. Aber selbst davon abgesehen sind die j
Befugnisse und die Freiheit der Bewegung der Kommission
dermassen auf das äusserste eingeschränkt, dass der letzteren
nicht einmal zu der lediglich begutachtenden Rolle, die ihr
zugewiesen ist, die Mittel zugestanden werden. Alle Merk-
male, welche die für die Arbeiterstatistik geschaffenen
Einrichtungen des Auslandes vorthei lhaft kennzeichnen,
fehlen der Reichskommission ausnahmslos, und so kann ,
man schon heute sagen: falls der unwahrscheinliche Fall
überhaupt eintreten sollte, dass die Arbeiten dieser Kom- |
mission irgend einmal ein erspriessliches Resultat haben, i
so wird dies nicht dank .sondern trotz der ihr gegebenen 1
Organisation der Fall sein.
Lohnfrist en uiul Lohnzahlungstage. Das Stuttgarter
Gewerbegericht beschloss einstimmig, an sämmtliche Fabrik-
geschäfte Stuttgarts das Ersuchen zu richten, aus freier!:
Fntschliessung die achttägige Lohnzahlung einzuführen und!
als Lohntag nicht den Samstag zu bestimmen. In den|l
meisten Etablissements wurde bisher der Lohn alle 14 Tage 1
am Samstag Abend ausgezahlt.
Eine Statistik des Pariser Elends. Einem Berichte I
des Vorsitzenden des „Oeuvre de l’hospitalite de nuit“ zu- :
folge haben die vier in Paris bestehenden Nachtasyle im
vergangenen Jahre 102 345 Personen ein Obdach während l'
276 936 Nächte gewährt. Ihrem Berufe nach zählten die
Bodenarbeiter, d. i. Wallgräber, Landarbeiter, Gärtner etc. j
die meisten Obdachlosen und zwar 37 273 Ihnen folgen | •
die Arbeiter der Nahrgngsindustrie: Fleischhauer, Bäcker} I
etc. mit 12 723, die Metallarbeiter: Schmiede, .Schlosser etjc.'l
mit 9317, die Bauarbeiter: Maurer, Anstreicher etc mit j
6386 Personen, hierauf in absteigender Linie die Holzarbeiter.
Kleidermacher, Handelsbediensteten, Lederarbeiter, Dienst- i
leute, Buchdrucker, Kunstarbeiter und sodann die soge-
nannten freien Berufe, also geistige Proletarier. Von diesen;
wurden beherbergt: 136 Professoren, 77 Lehrer, 26 Jour-
nalisten, 47 Schriftsteller, 24 Architekten, 60 dramatische ,
und 33 lyrische Künstler, 54 Musiker und 213 Advokaten-
schreiber. Der Nationalität nach waren unter den 102 345
Obdachlosen 91 866 Franzosen, während die übrige Zahl.
10 479, sich auf Deutsche, Belgier, Italiener und sonstige
Ausländer vertheilt.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Arbeiterzustände.
Reichskommission für Arbeiterstatistik. Die in der
Reichstagssitzung vom 13. Januar d. J. angekündigte Kom-
mission für Arbeiterstatistik hat nunmehr ihre Organisation
erhalten. Unter dem 24. März d. ). ist dem Reichstag ein
vom Bundesrath festgestelltes „Regulativ für die Errichtung
einer Kommission für Arbeiterstatistik“ mit der Aufforde-
rung zugegangen, gemäss dem § 2 des Regulativs sechs
Mitglieder der Kommission zu wählen. Das Letztere hat
der Reichstag in seiner Sitzung vom 31. März gethan, in-
dem derselbe die Abgeordneten Dr. Hartmann (Konserv.),
Dr. Hitze und Biehl (Centrum), Siegle (Nationalliberal),
Dr. Hirsch (Freis.) und Schippel (Soz'aldem ) mit Akkla-
mation wählte
Die Organisation, welche die nun geschaffene Reichs-
behörde für Arbeiterstatistik in dem Regulativ erhalten hat,
stimmt mit den Auszügen überein, welche der Reichsanzeiger
und andere Regierungsorgane vor der Veröffentlichung des-
selben gegeben haben. Es trifft daher die Kritik, welche wir
an der geplanten Organisation üben mussten (vgl. Sozial-
politisches Centralblatt, No. 9, S. 136) auf die nun in Wirk-
samkeit tretende genau zu, und wir können uns mit dem
Hinweis auf jene Ausführungen begnügen. In dieser Kom-
mission ist nicht eine unabhängige Behörde für Arbeiter-
statistik geschaffen worden, sondern ein Organ, welches
Ein neuei' Kutsclierstrike in Paris. Kaum ist der Strike
bei der Droschkengesellschaft „Urbaine“ beendet und schon
ist ein neuer ausgebrochen. Diesmal richtet er sich gegen
einige kleinere Unternehmungen und zwar gegen die beiden
Droschkengesellschaften „A beide“ und „Metropolitaine“,
von welchen die ersten 320, die letztere 85 Wagen besitzt,
sowie gegen fünf Einzelunternehmer, die 30 — 100 Drosch-
ken besitzen. Die Ursache der Strike ist dieselbe: die hohen
Forderungen der Unternehmer. So verlangen sie selbst
jetzt, wo es weder Bälle noch Fremde giebt, der Droschken-
verkehr also ein verhältnissmässig schwacher und minder
rentabler ist, 15 — 16 Frcs. täglich. Bei dieser Summe können i
nur die wenigsten Kutscher ihr Auskommen finden. Sie:
haben sich darum an das Syndikat der Droschkeninhaber
um Herabsetzung der geforderten Tagessumme gewendet,
doch harrten sie vergeblich auf Antwort und griffen deshalb
zum Strike. Sie verlangen einen Vertrag, der ihnen ent-i
weder einen Minimallohn von 5 Frcs. für einen zwölf-
stündigen Arbeitstag zusichert oder die Festsetzung einer!
von ihnen zu zahlenden Maximalsumme enthält, die an
keinem Tage, unter welchen Umständen immer, überschritten
werden dürfe. Ob die Kutscher diesmal siegreicher sein
werden, ist fraglich; was sollen sie aber thun, um ihre Lage
zu verbessern, da die Unternehmer weder freiwillig nach-
geben, noch sich einem Schiedssprüche unterwerfen wollen :
Sollen sie geduldig ihr Loos ertragen und sich willenlos
fügen? Wenn sie dem „Journal des Debats“ wie dem „Temps“
Gehör schenkten, könnten sie freilich nichts Besseres thun,
denn, wie sie fast gleichlautend sagen, sind nur zwei Fälle
No. 14.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
179
möglich: entweder die Unternehmer siegen gleich der
!Urbaine“ und dann werden alle E. tbehrungen der Striken-
en vergeblich gewesen sein, oder sie unterliegen und geben
ire Unternehmungen auf, dann werden die Kutscher nur
rössere Schwierigkeiten haben, einen Platz zu finden und
lr Leben zu fristen Ist aber kein anderer Fall denkbar?
Väre es den beiden Blättern ernst mit ihrer letzteren Hy-
pothese, glaubten sie wirklich, dass die Droschkeninhaber,
alls sie den Forderungen der Sinkenden nachgeben wollten,
ezwungen wären, ihre Lhiternehmungen aufzugeben, dann
/ürden sie, die ja sonst dem Schiedsamte das Wort reden,
lächerlich ein solches zur Austragung der Differenzen
mpfehlen. Was gäbe es auch in der That Einfacheres,
,1s aus den Büchern der Unternehmer nachzuweisen, dass
[s diesen unmöglich sei, den an sie gestellten Forderungen
achzukommen? Weigern sie sich aber dies zu thun, dann
jt es nur ein Zeichen, dass sie ohne Gefahr für ihre Unter-
ehmungen nachgeben könnten, wenn sie nur wollten,
ind daraus folgt, dass noch ein dritter Fall möglich ist:
lass der Gewinn der Droschkenbesitzer ein Sinken in
em Masse verträgt, der es erlaubt, den Forderungen der
Rutscher gerecht zu werden, ohne die Unternehmungen zu
efährden. Und diesen Fall haben die Strikenden im
rnge.
Schweizerischer Gewerkschaftskongress. Ein Kon-
ress des schweizerischen Gewerkschaftsbundes tritt am
7. April in Aarau zusammen, derselbe wird, von unwesent-
chen Punkten abgesehen, die Frage der obligatorischen
lerufsgenossenschaften, der Arbeits- und Lohnstatistik be-
andeln und soll ein bindendes Strikereglement feststellen.
Politische Arbeiterbewegung.
Sozialistische Bauernbewegmig in Oesterreich. In
Viener-Neustadt (Niederösterreich) fand am 20. März d. J.
ine allgemeine Bauernversammlung statt, zu welcher mehr
1s 700 Bauern aus den umliegenden Ortschaften erschienen,
lachdem Maurermeister Leitner (Wiener-Neustadt) zum
'orsitzenden gewählt worden war, ergriff der oppositionell-
pzialdemokratische Arbeiterführer Sigmund Neumann das
Vort, um die ökonomische Lage der Bauernschaft zu be-
prechen. Während einerseits der Grossgrundbesitz von
'ag zu Tag im Anwachsen begriffen sei, sinke andererseits
er Bauernstand ins Proletariat hinab; die jüngere Gene-
ition sei schon gezwungen, die Grossstadt aufzusuchen
nd dort die Zahl der Arbeitslosen zu vermehren. Die
inzelnen politischen Parteien versprechen jederzeit dem
lauernstande aufzuhelfen; in solchen Versprechungen, die
iemals gehalten werden, leiste besonders die klerikal-anti-
emitische Partei Grossartiges. Dabei drücken die christ-
ch-sozialen Feudalherren, die Lichtenstein und Schwarzen-
erg durch ihre Konkurrenz die Preise herunter, und diese
lerren, welche immer von christlicher Nächstenliebe pre-
igen, zahlen ihren schwer geplagten Arbeitern 20 Kr.
ageslohn! Neumann forderte schliesslich die Bauern
ufj sich der sozialdemokratischen Partei anzuschliessen.
lauer Schimak (Pottendorf) schilderte hierauf in drasti-
chen Worten die traurige Lage der Bauernschaft. »Es
ann,« sagte Schimak) »nicht mehr so fortgehen,
vir sind nicht mehr im Stande, die Steuerlast zu er-
ragen. Unsere Angehörigen leben nur von Erdäpfeln
nd Knödeln, und nur einmal im Jahr, am „Kirtag“, kommt
’leisch auf unsern Tisch. Die Antisemiten, ihnen voran
,nser Abgeordneter Troll, haben uns versprochen, dass
ich unsere Verhältnisse verbessern werden. Wir haben
liesen Leuten geglaubt, aber wir sind schändlich getäuscht
|vorden. Jetzt wissen wir, was wir von diesen Ver-
:prechungen und von Volksvertretern zu erwarten haben.«
Es sprach noch eine Reihe von Rednern, worauf schliess-
ich eine Resolution angenommen wurde, in welcher der
Jauernstand zum Anschlüsse an die sozialdemokratische
’artei und zur Bildung von sozialistischen Bauernvereinen
tufgefordert wird.
Kaufmännische Bewegung.
Zur Organisation der weiblichen Angestellten in
kaufmännischen und Fabrikgeschäften.
Wie in den rein industriellen Unternehmungen, so
macht sich auch im Handelsstande immer mehr das Bestreben
geltend, durch Beschaffung möglichst billiger Arbeitskräfte
den Gewinn zu vermehren oder der durch übermässige
Konkurrenz drohenden Gewinnreduktion vorzubeugen. Die
Beschäftigung weiblicher Arbeitskräfte in den Comptoirs als
Buchhalterinnen, Korrespondentinnen, in den Verkaufsläden
als Verkäuferinnen nimmt fortwährend zu. Diese Erschei-
nung hat durchaus nicht, wie hie und da behauptet wird,
ihren Grund in den physischen und den geistigen Eigen-
schaften des weiblichen Wesens, welche sie zu den ange-
führten Thätigkeiten in höherem Masse befähigt als den
Mann. Im Gegentheil wird häufig über einen bei dem
herrschenden weiblichen Erziehungssystem leicht erklär-
lichen Mangel an Gründlichkeit und positiven Kenntnissen
geklagt. Wenn dennoch die Beschäftigung weiblicher An-
gestellter in kaufmännischen Geschäften zunimmt, so hat
das eben seinen Grund in der niedrigen Bezahlung, die
alle anderen Mängel mehr als ausgleicht. Es ist nicht zu
verkennen, dass die Zulassung der Frauen zu solcher ge-
winnbringender Thätigkeit, die bisher nur dem männlichen
Geschlechte offen stand, wie die Verhältnisse nun einmal
liegen, immerhin einen Fortschritt bedeutet, trotzdem das
LTnternehmerthum diesen Schritt nicht aus wohlwollender
Absicht für das weibliche Geschlecht gethan hat. Aber
wohin müssen wir schliesslich dabei gelangen?
Je stärker die Konkurrenz der Unternehmer selbst
wird, je mehr also der Reingewinn derselben sich verringert,
desto niedriger wird auch das den Angestellten gewährte
Entgelt, und je heftiger der Wettbewerb zwischen männ-
lichen und weiblichen Handlungsgehilfen wird, auf ein
desto niedrigeres Niveau wird auch die Lebenshaltung
dieser gedrückt. Da das Angebot weiblicher Kräfte sich
stets erhöht und bei dem Ueberwiegen der weiblichen Be-
völkerung sich erhöhen muss, nachdem einmal der Kampf
eingeleitet ist, so wird die Bezahlung der männlichen Be-
werber progressiv sinken müssen. Doch auch die Bezahlung
der weiblichen Kräfte wird dasselbe Schicksal nothwendig
erfahren. Denn da man männliche Personen wegen ihrer
grösseren Leistungsfähigkeit noch immer lieber anstellt, so
werden die weiblichen Bewerber, falls sie Berücksichtigung
finden sollen, mit ihren Ansprüchen noch weiter herunter-
gehen müssen.
Die geradezu unmoralisch schlechte Bezahlung der
Verkäuferinnen in Konfektionsgeschäften ist ja bekannt. Es
kommen aber auch garnicht vereinzelt Fälle vor, in denen
z. B. Verkäuferinnen einem Gehalt beziehen, welcher kaum
zur Bestreitung der Ausgaben für Kost und Wohnung reicht,
und dabei wird oft eine Arbeitszeit von 8 Uhr früh bis 9 oder
10 Uhr abends bei nur einstündiger Mittagspause verlangt.
Dass Buchhalterinnen und Korrespondentinnen ein Monats-
gehalt von 30 bis 40 M. beziehen, ist auch nichts Seltenes.
Vielleicht erscheinen manche Gehälter in solchen Fällen er-
träglich, wo die Mädchen bei ihren Eltern wohnen. Keines-
falls aber wird man in der Mehrzahl der Fälle die Be-
zahlung als ein Aequivalent für die Leistung ansehen können,
und die Ausnutzung der Arbeitskraft in diesem Grade
bleibt weit hinter dem zurück, was unsere Gesellschaft als
das niedrigste Mass von Menschlichkeit und Sittlichkeit be-
zeichnet.
Und dazu kommt die Einbürgerung der Unsitte, für
weibliche Angestellte eine möglichst kurze Kündigungsfrist
festzusetzen. "Vielfach bildet sogar die tägliche Kündigung
die Regel. In einer Beziehung sind die Verhältnisse der
männlichen und weiblichen Handlungsgehilfen sogar
schlimmer als die der Fabrikarbeiter. Diese bekommen
nach der Arbeitszeit bezahlt, und Ueberstunden müssen also
vergütet werden. Die Handlungsgehilfen haben aber die
kontraktliche Verpflichtung, in der sogenannten Saison und
bei der Inventur oft 15 und mehr Stunden zu arbeiten, ohne
einen Anspruch auf Vergütung zu besitzen. Was für die
Mehrarbeit etwa gewährt wird, hängt lediglich von dem
Wohlwollen des Chefs ab. Freilich hängt dieser Uebelstand
mit dem Mangel einer gesetzlichen Maximalarbeitszeit zu-
sammen.
Sollen sich die Verhältnisse nicht noch weiter in dieser
Weise entwickeln, so muss eine Organisation der weiblichen
180
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 14.
Angestellten stattfinden, welche das Ziel verfolgt, zunächst
einer noch grösseren Ausnutzung der Arbeitskraft einen
Damm entgegenzusetzen und sodann bessere Existenzbe-
dingungen zu erlangen. Damit müsste ein Stellennachweis
verbunden werden, der, geschickt organisirt, eine nicht zu
unterschätzende gewerkschaftliche Waffe wäre. Selbstver-
ständlich würde ein solcher Verband auch die Direktricen,
Zuschneiderinnen, Expedientinnen in Fabrikgeschäften etc.
umfassen müssen.
Bei den weiblichen Angestellten ist das Zusammen-
gehörigkeitsgefühl bedauerlicherweise noch weit weniger
stark ausgeprägt als bei den männlichen. Nachlässigkeit,
Gleichgiltigkeit und der Mangel eines auf das Weite ge-
richteten Blickes erschweren die Bildung der oben ange-
deuteten Organisation. Man verstehe diese Organisation
nicht als eine Kampfverbindung auf jeden Fall, denn es
können viele Zugeständnisse auf friedliche Weise erlangt
werden; aber es muss eben eine Macht da sein, die durch
ihre Stärke imponirt. Sie müsste, sei es auf dem Wege
der Unterhandlung oder in offenem Kampfe die Anstellungs-
bedingungen nach der Richtung besserer Bezahlung und
geringerer Arbeitszeit vor allen Dingen zu regeln suchen.
Auch die Einwirkung auf ein unabhängiges Verhältniss
zwischen Chef und Angestellten dürfte nicht vergessen wer-
den. Hier ist ja überhaupt ein wunder Punkt, aer so rasch
als möglich geheilt werden muss. Die materielle Zwangslage
des unkundigen, leicht zu bethörenden Mädchens bringt
dieses recht häufig in ein nicht bloss geschäftliches Ab-
hängigkeitsverhältniss zum Chef, das nothwendiger Weise
am Ende zur Prostituirung führt.
Bevor eine nach der angegebenen Richtung zielbe-
wusst hinstrebende Organisation eintritt, mag wohl lange
Zeit vergehen, denn sie findet ihr Hinderniss nicht bloss in
dem engen Gesichtskreis der weiblichen Angestellten selbst
sondern auch in der philiströsen Engherzigkeit von Eltern
und Vormündern. Aber ein Anfang muss gemacht werden.
Und vielleicht ist er bereits gemacht.
Seit Oktober 1 890 besteht in Berlin der „kaufmännische
und gewerbliche Hilfsverein für weibliche Angestellte“, der
soeben seinen zweiten Jahresbericht versendet. Der Verein
zählte bei der Aufstellung des Berichtes 1672 Mitglieder,
also immerhin eine ganz respektable Ziffer. Der Jahres-
beitrag beläuft sich auf 6 M. pro Person. In dem Kalender-
jahr 1891 gingen 8820,50 M. an Beiträgen ein. Die Zwecke
des Vereins sind dieselben wie die der Vereine männlicher
Handlungsgehilfen, also: Stellungsnachweis, Krankenhilfe
und Unterstützung bei Stellenlosigkeit, Errichtung einer
kaufmännischen Fortbildungsschule, Einführung von Unter-
haltungs- und Vortragsabenden und unentgeltliche Rechts-
hilfe. Für Arzneien, Aerztehonorar, Verpflegung in Kranken-
häusern wurden rund 6930 M. verausgabt. Die Stellenver-
mittelung und die Fortbildungsschule, trotzdem die letztere
sich eines regen Besuches erfreute, erforderte Zuschüsse
von über 3000 M. Die Mehrausgaben wurden gedeckt
durch die Beiträge ausserordentlicher Mitglieder, d. h. einer
grösseren Anzahl von Firmen, welche unter Billigung der
Vereinszwecke eine nach Belieben festzusetzende Summe
zahlen. Diese Beiträge beliefen sich im Kalenderjahr 1891
auf 5532 M. Ausserdem erhält der Verein vom Aeltesten-
kollegium der Kaufmannschaft in Rücksicht auf die Auf-
wendungen für die Fortbildungsschule 500 M. Nun wird ja
jetzt für den Fortbestand des Vereins gefürchtet, da die
Krankenkassennovelle den Versicherungszwang auch auf
die kaufmännischen Angestellten ausdehnt, eine sehr grosse
Anzahl der Mädchen aber lediglich der Krankenunterstützung
wegen dem Verein angehört. Zur Illustration dieser That-
sache möge die Angabe dienen, dass 784, also fast die Hälfte
aller Mitglieder ärztliche Hilfe in Anspruch genommen
haben. Doch hofft man, der Gefahr einer Verminderung
der Vereinsmitglieder durch Gründung einer freien Hilfs-
kasse zu begegnen.
Wie viel Gutes der Verein auch jetzt leistet, zweifel-
los wird er in der gegenwärtigen Verfassung jene Aufgabe
nicht zu erfüllen im Stande sein, die wir vorher als im
Interesse der weiblichen Angestellten liegend vorgezeichnet
haben. Die Rücksicht aut die Wohlthaten der ausser-
ordentlichen Mitglieder wird immer ein gewisses Hemmnis
bedeuten. Doch mag wohl mit der Zeit auch hier eine
Besserung eintreten. Eine Erhöhung der Beiträge und eine
Einschränkung der Ausgaben namentlich für Drucksachen
würde am besten helfen. Aber von grundlegender Be-
deutung' für die zukünftige Gestaltung einer gewerkschaft-
lichen Organisation auch für die weiblichen in Handlungs-
geschäften thätigen Personen ist das Erwachen des Zu-
sammengehörigkeitsgefühls, welches die Gründung eines
Vereines überhaupt verursacht hat. Leider hat das Beispiel
Berlins noch keine Nachahmung gefunden, und doch hätte
dies nach dem geradezu glänzenden Erfolg einer wenn auch
für ihre höchste Aufgabe mangelhaften Organisation erwartet
werden dürfen. Wir stehen hier vor einem der wichtigsten
The.ile der sozialen Frage, denn die Stellung der Frau ist
ausschlaggebend für die physische und auch für die geistige
Entwickelung eines Volkes. Gerade dem in einem Berufe
ausserhalb der engen Sphäre des Hauses stehenden Weibe
fällt vor Allem die Aufgabe zu, die praktische Lösung dieser
Frage zu fördern. Hilfst du dir nicht selbst, so hilft dir
Niemand.
Berlin. J. Silber mann.
Unternehmerverbände.
Ein neuer Kupferring. Das Zustandekommen einer
freien Vereinigung aller grösseren Kupferminen der Welt
behufs Regelung der Produktion nach dem Konsum und
Festsetzung des Kupferpreises auf ein rentables Niveau ist
im Grossen und Ganzen gesichert. Die europäischen Minen
sind unter sich vollkommen einig und haben ihre Propo-
sitionen den amerikanischen Bevollmächtigten unterbreitet,
deren definitive Antwort noch aussteht. Amerika ist auf
das Zustandekommen der Konvention angewiesen, weil die
dortigen Minen sich in kapitalsschwachen Händen befinden, 1
und bei den jetzigen Kupferpreisen dort thatsächlich mit
Verlust gearbeitet wird. Es unterliegt keinem Zweifel, dass
die Kupferpreise, sobald das Zustandekommen der Kon-
vention publizirt wird, erheblich steigen werden.
Verein anhaitischer Arbeitgeber. Nach dem in seiner.
I kürzlich stattgefundenen 5. Generalversammlung in Dessau er-!
statteten Bericht hat der Verein der anhaitischen Arbeitgeber eine'
Mitgliederzahl von 58 mit 8557 Arbeitern Die Ende 1891 unter
Mitwirkung des anhaitischen Arbeitgebervereins in Berlin errich-
tete Centralstelle für Arbeiter- Wohlfahrtseinrichtungen, die vom
preussischen Staate unterstützt wird, ist nach demselben geeig-
net, die Bestrebungen des Vereins in die weitesten Kreise zu .
tragen. Desgleichen habe die Vereinigung der dessauer Mit-';
glieder zu gemeinsamer Krankenpflege ihrer Arbeiter unter
Mitwirkung von Diakonissen einen weiteren Aufschwung ge-j
nommen. Das Vermögen des Vereins belief sich am Schluss^
1891 auf 953 M. 38 Pf., und wiederum wurde ein Jahresbeitrag für
1892 von 10 Pf. für jeden beschäftigten Arbeiter festgesetzt. I
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Die Ausführung der deutschen Gewerbeordnung
vom i. Juni 1891.
Mit dem 1. d. Mts. ist der Haupttheil des reformirten
deutschen Gewerberechtes in Kraft getreten; an der behörd-
lichen Ausführung liegt es nun, die geringen Fortschritte,
welche die neue Gewerbeordnung namentlich für den
Arbeiterschutz bedeutet, so energisch zum Ausdruck zu
bringen, dass wenigstens innerhalb der leider allzu eng ge-
zogenen gesetzlichen Grenzen der volle Ernst der Sache
zur Geltung kommt; und zwar zur Geltung kommt bis in
die untersten Instanzen. Die deutsche Verwaltung wird
sich hier ein Lob zu verdienen haben , das man ihr
bisher etwas zu verschwenderisch in Oesterreich spendete.
In Oesterreich stände viel Arbeiterschutz auf dem Papiere,
so sagte man dort, aber er werde nicht ausgeführt in
Deutschland sei weniger vorgeschrieben, aber was \ or-
schrift sei, werde mit peinlicher Genauigkeit in die Praxis
' umgesetzt. Es ist den deutschen Verwaltungen sogar
einigermassen leicht gemacht, dieses Lob zu verdienen,
und zwar durch die Theilung der Arbeit, welche dadurch
herbeigeführt wird, dass die gewerbliche Sonntags-
ruhe noch gar nicht in Kraft tritt, bezüglich der kaut-
No. 14.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
181
männischen Sonntagsruhe vorläufig durch kaiserliche Ver-
ordnung mit Zustimmung des Bundesrathes nur die Be-
stimmungen in Kraft gesetzt sind, welche die Orts- und
Polizeibehörden zur Vorbereitung der nöthigen Vorschriften
ermächtigen, und auch für jugendliche Arbeiter, weh' he
vor dem 1. Juni 1891 bereits beschäftigt waren, die bis-
herigen Bestimmungen bis zum I. April 1894 bestehen
bleiben. Es gelangt also vom 1. April d. J. ab nur soviel
Neues zur Durchführung, als wirklich mit peinlicher Ge-
wissenhaftigkeit bis in das kleinste Etablissement durchge-
führt werden kann.
Die Ausführung der reformirten Gewerbeordnung be-
dingte allerdings eine Anzahl neuer Verfügungen auch in
materieller Hinsicht. Gemeint sind die Vorschriften, welche
nach § 139 a der Bundesrath über die Beschäftigung von
jugendlichen und weiblichen Arbeitern gewisser Fabri-
kationszweige erlassen kann. Die hierher gehörigen Be-
kanntmachungen wurden vom „Sozialp. Centralbl.“ in den
letzten Wochen jedes Mal sofort nach Erscheinen ihrem
wesentlichen Inhalte nach wiedergegeben; eine kurze Zu-
sammenfassung derselben mag nicht unangebracht erschei-
nen. Bei der Vergleichung mit dem bisher bestehenden Rechte
ergiebt sich zunächst, dass in Walz - und Hammerwerken
der Ausschluss der Kinder unter 14 Jahren , sowie der
Arbeiterinnen vom „unmittelbaren Betrieb“ und die Vor-
schrift eines ärztlichen Zeugnisses für erstere beibehalten
werden, ebenso die Begrenzung der täglichen effektiven
Arbeitszeit für dieselben auf 10 Stunden, der wöchent-
lichen auf 60 Stunden. Dagegen soll durch den Wegfall der
Bestimmung, dass von der Gesammtdauer der Beschäftigung
innerhalb zweier Wochen in die Nachtzeit nicht mehr als
60 Stunden fallen dürfen, die Einführung von drei je acht-
stündigen Schichten ermöglicht und die Nachtarbeit der
jungen Leute in grösserem Massstabe erlaubt worden, was
selbstverständlich einen Rückschritt im Arbeiterschutz be-
deutet. Für Glashütten sind durch Bekanntmachung vom
11. März 1892 neben einigen neuen Beschränkungen der
Frauen- und jugendlichen Arbeiter die Bestimmungen über
die Nachtarbeit der jungen Leute ähnlich nach rückwärts
revidirt, wie bei Walz- und Hammerwerken. Von einer
Abänderung der Bekanntmachung, betreffend die Beschäf-
tigung jugendlicher Arbeiter in Spinnereien (vom 20. Mai
1879) ist Nichts bekannt geworden. Durch die abgeänderte
Bekanntmachung vom 17. März 1892, Steinkohlenberg-
werke mit doppelter Arbeitsschicht betreffend, ist neu
zugelassen, dass für männliche jugendliche Arbeiter (14 bis
16 Jahren) an Tagen vor Sonn- und Feiertagen die Schicht
bereits um 4 Uhr Morgens (!!), statt 5 Uhr wie sonst, beginnen
darf. Dagegen ist auch für Steinkohlenbergwerke ohne
doppelte Arbeitsschicht die Beschäftigungsdauer jener Ar-
beitskategorie auf 6 Stunden täglich (ohne Pausen) neu
beschränkt. Aus der neuen Bekanntmachung vom 1 1 . März
1892, Drahtziehereien mit Wasserbetrieb betreffend,
fällt namentlich auf, dass die Nachtarbeit der jugendlichen
männlichen Arbeiter noch etwas mehr (auf 10 Stunden) ein-
geschränkt wird. Durchwegs neu sind schliesslich folgende
Zusatzbekanntmachungen zur Gewerbeordnung. Auf Stein-
kohlenbergwerken, Zink- und Bleierzbergwerken, sowie
Kokereien des Regierungsbezirks Oppeln gelten bis zum
I. April 1902 weder der Maximalarbeitstag noch das Verbot
der Nachtarbeit für Arbeiterinnen (Bekanntmachung vom
24. März 1892). Aehnlich sind diese Schutzbestimmungen
vorläufig ausser Kraft gesetzt für die Arbeiterinnen in
Rohrzuckerfabriken und Zuckerraffinerien durch
Bekanntmachung vom 24. März 1892, wenn auch die Be-
schäftigung von weiblichen und jugendlichen Arbeitern in
einzelnen Räumen jener Anlagen ganz verboten ist, aller-
dings wieder mit Ausnahme bis zum 1. April 1893. Endlich
enthält eine Bekanntmachung vom 17. März 1892 das Verbot
der Beschäftigung von weiblichen und jugendlichen Arbeitern
in den Darrräumen der Cichorienfabriken. Der gemein-
same Zug der meisten dieser materiellen Zusatzbestim-
mungen ist: Erhaltung der Frauenarbeit ohne die neuen
Beschränkungen, theilweise Ausdehnung der Nachtarbeit
jugendlicher Personen, aber nirgends durchgreifende
neue Beschränkungen auch nur der jugendlichen Arbeit!
Die einheitliche formale Ausführung sämmtlicher neuen
Vorschriften wird nun in Preussen gesichert durch eine An-
weisung des Handelsministers an die Unterbehörden vom
26. Februar d. J., welche bereits in der letzten Nummer
dieser Zeitschrift erwähnt und theilweise besprochen wurde.
Die dort befindliche Mittheilung, dass diese Anweisung nur
theilweise veröffentlicht sei, bezog sich auf die Veröffent-
lichung im „Reichsanzeiger“. Ganz veröffentlicht ist die
Anweisung als billige Broschüre mit Formularen bei Fr.
Kortkampf in Charlottenburg. Interessante Einzel Vorschriften
daraus über die Prüfung von Arbeitsordnungen durch die
Unterbehörden wurden bereit mitgetheilt. Bei der Lohn-
zahlung ist ausgeführt, dass die Erlaubniss zur Auszahlung
in Gastwirthschaften und Verkaufsstellen für grössere Bau-
ten und ständige Betriebe niemals zu ertheilen ist, und
auch sonst nur dann, wenn Fürsorge dafür getroffen ist,
dass die Arbeiter nicht zur Entnahme von Speisen, Ge-
tränken oder Waaren verleitet werden. Für den Erlass von
Sicherheitsvorschriften in gewerblichen Anlagen wird die
Verständigung mit dem Gewerbeaufsichtsbeamten vorge-
schrieben. Die Frist zur Erstattung der Anzeigen, dass
und wieviel Arbeiterinnen in einer Fabrik beschäftigt wer-
den, ist bis zum 16. d. M. festgesetzt. Nicht unbedenklich
sind auf Seite 22 ff. die Anweisungen, nach denen bei Ge-
stattung von Ausnahmen für gewisse Fabrikationszweige
bezüglich der Arbeitspausen für die geschützten Arbeits-
kategorien verfahren werden soll. „Rücksichten auf die Ar-
beiter“ sollten nur von selbst, nicht von den Unternehmern
geltend gemacht werden können. Im Laufe der Monate
Mai bis Juli dieses Jahres sollen die Ortspolizeibehörden
eine allgemeine Revision aller gewerblichen Anlagen vor-
nehmen, um zu sehen, wie weit die neuen Vorschriften in
der Praxis verwirklicht sind. Sehr nothwendig war die
Vorschrift, dass alle ortsstatutarischen Bestimmungen der
Centralstelle in Berlin mitzutheilen sind. Bisher hatte man
an dieser Stelle überhaupt keine Uebersicht über die vor-
handenen Ortsstatute. Engherzig erscheint die Vorschrift,
dass die Auswahl solcher Gewerbetreibenden und Arbeiter,
die nach § 145 der G.-O. über ortsstatutarische Bestimmun-
gen vorher zu hören sind, vorzugsweise „aus den Beisitzern
der Gewerbegerichte, der Schiedsgerichte der Berufsge-
nossenschaften, der Arbeiterausschüsse oder aus den Vor-
standsmitgliedern der Orts-, Betriebs-, Bau- und Innungs-
krankenkassen, sowie der Knappschaftskassen“ getroffen
werden soll. Die Uebergehung der freien Hilfskassen und
der Fachvereine in dieser Liste erscheint uns kleinlich.
Schliesslich gehen neben diesen behördlichen Mass-
nahmen zur Ausführung der neuen Gewerbeordnung eine
Reihe privaten Arbeiten, welche die Einführung der nun-
mehr obligatorischen Arbeitsordnungen in Fabriken för-
dern und erleichtern wollen. Vor uns liegen nicht weniger
als drei besondere Schriften, welche diesem Zwecke dienen.
Die weitschichtigste ist diejenige von R. Platz, kgl. Ge-
werbeinspektor: „Rathgeber für den Entwurf von Arbeits-
ordnungen“ (Berlin 1892, R. Oppenheim). Hier wird neben-
bei ein Haupttheil der neuen Gewerbevorschriften kurz er-
läutert, sowie für Arbeiterausschüsse und Betriebskranken-
kassen Propaganda gemacht. In ganz origineller V eise
sind die Bestimmungen 100 älterer „bewährter“ Arbeits-
ordnungen systematisch und statistisch zusammengestellt;
man ersieht hieraus die ungeheure Reichhaltigkeit des Straf-
gesetzbuches für Fabriken, welches die Unternehmer „durch
freie Vereinbarung“ eingeführt haben. Die Mehrzahl dieser
älteren Arbeitsordnungen enthält Strafbestimmungen, viel-
fach überschreitet die Höhe der festgesetzten Geldstrafen
das nunmehr zulässige Mass, und durchaus nicht immer war der
Verwendungszweck der Strafgelder angegeben. Der\ ertassei
dürfte Recht haben, wenn er sagt, dass „alle bestehenden
Arbeitsordnungen mit ganz wenigen Ausnahmen, eine Ab-
änderung erfahren müssen.“ Aber er hat sich durch das
Detailstudium dazu verleiten lassen, immer noch auf die
Ausführlichkeit der Arbeitsordnung einen gewissen Werth
zu legen, und seine „Muster“ sind in der Hauptsache viel
zu weitschweifig und polizeimässig. In einem dieser „Muster“
findet sich z. B. folgende Vorschrift, welche den Geist des
Verfassers verräth: § 49. „Während der Lohnauszahlung ist
die grösste Ruhe und Ordnung geboten. Den Anordnungen
der auszahlenden Beamten ist streng Folge zu leisten. Die
Auszahlung des Lohnes erfolgt nur an den empfangsberech-
tigten Arbeiter selbst. Wer sich beim Namensaufruf unbe-
fugt zur Empfangnahme der Löhne meldet, . . . hat eine
Geldstrafe zu gewärtigen.“ Das möchte von recht wenig
Fabriken nachgeahmt werden! Aehnlich breit und ausführ-
lich gehalten ist das in der zweiten uns vorliegenden
Schrift mitgetheilte Muster: „Normal- Arbeitsordnung etc.
Festgestellt vom Linksrheinischen Verein für Gemeinwohl.
Mit Einleitung und Erläuterungen von Fr. Hitze (Köln 1892,
Bachem).“ Aber hier geht die Breite nach einer anderen
Richtung: ein grosser Abschnitt enthält allgemeine (sittliche)
Bestimmungen, die sich u. A. gegen die Absingung anstössiger
182
SOZI ALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 14.
Lieder und die öffentliche Verhöhnung von Religion und guter
Sitte im Betriebe wenden, unverheirathete minderjährige
Arbeiter, die ausserhalb des elterlichen Hauses Wohnung
nehmen, mit Kündigung bedrohen u. s. w. Weit den Vor-
zug vor diesen Schriften scheint uns folgende Dritte zu
verdienen: „Wegweiser zur Aufstellung von Arbeitsord-
nungen. Zum Gebrauche für Behörden, Arbeitgeber und
Arbeiter. Von Dr. von Rüdiger, Regierungs- und Ge-
werberath (Berlin, C. Heymann).“ Die hier an letzter Stelle
mitgetheilte Arbeitsordnung für eine Maschinenfabrik, die
immer noch etwas gekürzt werden kann, entspricht billigen
Anforderungen an die gerechte Formulirung bis auf den Ab-
schnitt über Strafen noch am meisten, soweit dies nach Lage
der Sache überhaupt möglich ist. Der Verfasser sagt u. A.:
„Ueberhaupt hatten alle bisherigen Arbeitsordnungen mehr
oder weniger den Charakter von einseitigen, durch die Will-
kür des Arbeitgebers diktirten Dienstordnungen und waren
weit entfernt von einem aus freier Uebereinkunft ge-
schlossenen Arbeitsvertrage.“ Er bemüht sich, durch seine
Winke diesen hässlichen Charakter der Arbeitsordnungen
zu beseitigen, und sein „Rathgeber“ wird hoffentlich im Inter-
esse des elementarsten sozialen Friedens häutig praktisch
benutzt.
So ist ein ungeheurer behördlicher und privater Appa-
rat in Thätigkeit, um in diesen Tagen die an sich so gering-
fügigen Neuerungen der revidirten deutschen Gewerbeord-
nung in die Praxis überführen zu helfen. Vielleicht ergiebt
sich aus der Bewegung dieses grossen Apparates zu so
kleinem Zwecke wenigstens sehr bald auch für diejenigen,
welche sich ihr bisher verschlossen, die Ueberzeugung, dass
die aufgewandte Mühe doch eigentlich eines höheren Zieles
werth wäre, und dass die jetzige Reform nur eine kleine
Abschlagszahlung auf einen grossen Schuldrest bildet.
Die achtstündige Schicht für Bergarbeiter im
englischen Parlament.
Am 23. März fand im englischen Unterhause eine
Verhandlung statt, die, obwohl sie keine praktischen Resul-
tate zeitigte, doch von grösster Bedeutung für die soziale
Entwickelung des vereinigten Königreiches sein wird. Es
handelte sich um einen Antrag, die achtstündige Schicht
für alle unter Tage beschäftigten Bergarbeiter durch Ge-
setz einzuführen. Es ist dies ein alter Wunsch des über-
wiegenden Theils der englischen Bergleute.
Seit 1887 kehrt der Antrag, die Arbeitszeit der Berg-
arbeiter zu beschränken, im Hause der Gemeinen wieder.
(Vgl. hierüber Sidney Webb und Plarold Cox, The eight
hours day, p. 221.) Aber noch niemals hatte der Antrag
eine so starke Unterstützung gefunden, als bei der letzten
Verhandlung. Der Vorschlag, zur zweiten Lesung zu
schreiten, fiel mit 272 gegen 160 Stimmen.
Die Debatte bot sehr interessante Momente, ohne dass
man behaupten kann, dass die Frage erschöpfend behandelt
wurde. Hätte es sich um eine endgültige Entscheidung,
nicht um ein Schaugericht für die bevorstehenden Wahlen
gehandelt, so wären von beiden Seiten wuchtigere Argu-
mente in’s Feld geführt worden. So kämpften die Gegner
der gesetzlichen Beschränkung der Schichtdauer mit all-
gemeinen Redensarten, mit Behauptungen, dass ein der-
artiger Eingriff ökonomisch „ungesund“ sei, dass er zum
Sozialismus führe und ähnlichen, leicht zurückzuweisenden
Einwänden. Andere Mitglieder des Hauses verhielten sich
aus Opportunitätsgründen ablehnend. So erklärte der be-
kannte Mr. Mundella., dass er als Mitglied der königlichen
Untersuchungskommission über die Arbeiterverhältnisse es
nicht für angezeigt halte, ein Votum abzugeben, bevor die
Resultate der grossen Enquete vorlägen. Was sonst seitens
der Unternehmer vorgebracht wurde, beschränkte sich auf
die Befürchtung, dass die Produktion durch die vorgeschla-
gene Massregel vertheuert und die auswärtige Konkurrenz
begünstigt würde. Dem gegenüber konnte der Hauptredner
des Tages, Josef Chamberlain, darauf hinweisen, dass die
bisherigen Beschränkungen der Arbeitszeit niemals zu einer
entsprechenden Verringerung der Produktion geführt hätten.
Aus seiner eigenen Erfahrung als Industrieller konnte
er Illustrationen hierfür anführen. Das Hauptinteresse er-
regte die Haltung der Vertreter der Bergarbeiter selbst.
W ährend William Abraham, der Vertreter der wallisischen
Bergleute, den Antrag warm befürwortete und daran er-
innerte, dass 1880 in Northumberland, 1889 in Südwales die
Bergarbeiter vergeblich gesucht hätten, den Achtstundentag
von den Unternehmern durch freie Vereinbarung zu er-
langen, sprachen Thomas Burt, Mr. Fenwick und Mr. Wilson,
die Vertreter für Northumberland und Durham aufs ent-
schiedenste gegen jeden Versuch, die gesetzliche Acht-
stundenschicht durchzuführen. Die Opposition dieser
Arbeiterführer, die sich aus den besonderen Verhältnissen
der nordöstlichen Grafschaften, wo ein Theil der Bergleute
weniger als 8 Stunden arbeitet, erklärt, wird von einfluss-
reichen Stimmen aus der Mitte der Bergarbeiter gemiss-
billigt. Die „Labour Tribüne“ greift den „ehrlichen Tom“
scharf an und Mr. Woods, der stellvertretende Vorsitzende
der „Miners Federation of Great Britain“ erhebt ernste
Vorwürfe in einer Zuschrift an das „Daily Chronicle“. Er
findet die Rolle, die Mr. Fenwick gespielt, um so unbe-
greiflicher, als dieser als Sekretär des Trade Unions Con-
gresses den direkten Auftrag erhalten, für eine Achtstunden-
bill einzutreten.
Von allen Gründen, die gegen eine derartige Mass-
regel geltend gemacht werden können, war die Bemerkung
eines Redners, dass es sich nicht empfehle, ein Spezial-
gesetz für Bergleute, sondern ein allgemeines Gesetz für
alle Arbeiter zu erlassen, der stichhaltigste. Wenn man die
besondere Gesundheitsgefährlichkeit des Bergbaues betont,
so scheint dieser Hinweis nicht völlig am Platze zu sein,
wenigstens soll es wie Mr. Fenwick behauptete, 55 Industrie-
zweige geben, deren Mortalitätsziffer höher ist, als die des
Berg-baues.
Wenige Tage, nachdem das englische Parlament die
Achtstundenbill zurückgewiesen, wurde in der Kommission
des preussischen Abgeordnetenhauses für Berathung der
Berggesetznovelle ein ähnlicher Antrag verworfen. Es ist
zweifellos, dass in nicht ferner Zeit die Gesetzgebung
beider Länder sich mit der gleichen Frage neuerdings wird
beschäftigen müssen.
Gewerbeinspektion.
Die Berichte der ungarischen Fabrikinspektoren.
In früheren Jahren wurden die ungarischen Inspektorats-
berichte ziemlich ausführlich in den jetzt eingegangenen
„Mittheilungen des ungarischen Handelsministeriums“ in
deutscher Sprache veröffentlicht und eine Beurtheilung der
Einzelberichte war möglich, weil aus den Berichten jedes
Einzelnen, sowie aus dem summarischen Berichte des Cen-
tral-Inspektors das Wissenswertheste mitgetheilt wurde. Jetzt
müssen wir uns mit knapp acht Seiten begnügen") Und
dabei muss man überdies berücksichtigen, dass es sich hier-
bei um einen für das Ausland zugestutzten Bericht handelt,
von dem anzunehmen ist, dass der bei den ungarischen Be-
hörden beliebten Schönfärberei der heimischen Zustände
hier besonders freies Spiel gelassen wurde.
Aus dem Berichte heben wir folgendes hervor: Das
Ungenügen der Fabrikinspektion wird anerkannt und eine
Vermehrung der gewerblichen Aufsichtsorgane wie eine
gesetzliche Regelung der Gewerbeinspektion wird in Aus-
sicht gestellt. Ueber die Gewerbebehörden erster Instanz
wird Klage geführt; wie es in dem Berichte wörtlich heisst
sind sie „bis zum heutigen Tage mit den einschlägigen Be-
stimmungen des Gewerbegesetzes nicht im Reinen.“ Nur
ein Theil der Fabriken wurde von den Inspektoren besucht,
und ferner werden dieselben vom Minister und nicht von
den Aufsichtsbeamten ausgewählt, deren Machtbefugnisse
überhaupt geringer sind als die ihrer Kollegen in anderen
Ländern. Im Ganzen wurden besucht 942 Betriebe, von diesen
arbeiteten 1 28 ohne Motoren, in den Motorenbetrieben waren
767 Dampfmaschinen (36 273 Pferdekräfte ), 681 Wassermotoren
(5580 Pferdekräfte), 78 Gasmotoren (405 Pferdekräfte) in
Thätigkeit. In den untersuchten Fabriken arbeiteten 59 941
Personen und zwar 48 936 Fabrikarbeiter, 2776 Lehrlinge,
8729 Taglöhner, von diesen waren 46 766 Männer und 13 175
Frauen. Hiervon standen zwischen 14 — 16 Jahren 3143,
*) Mandello, Dr. Karl. Wirksamkeit des königl. ungarischen
Handelsministers im Jahre 1890. (Offizielle Ausgabe.) Berlin 1892.
S. 38-46.
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No. 14.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBI .ATT.
183
zwischen 12 — 14 Jahren 497, das 12. Jahr hatten noch nicht
erreicht 33 der in diesen Fabriken beschäftigten Personen.
Die obligatorischen Arbeitsordnungen sind nunmehr
in allen jenen Fabriken vorhanden, die schon in früheren
Jahren untersucht wurden, fehlen dagegen fast in allen
jenen Fabriken, welche zum ersten Male untersucht worden
sind, dasselbe gilt von den Arbeiterregistern, wodurch die
Kontrolle der geschützen Personen sehr erschwert wird. An
Stelle der obligatorischen Arbeitsbücher fanden, soweit
solche überhaupt vorhanden waren, die Inspektoren häufig
Dienstboten bücher.
Lehrlingsverträge sollen jetzt nur noch selten fehlen,
wie denn die Behandlung der Lehrlinge immer besser wird,
nur in zwei (!) Fällen sah sich die Behörde wegen der Be-
handlung der Lehrlinge zum Einschreiten genöthigt. Die
Bestimmungen zum Schutze der jugendlichen Arbeiter (unter
16 Jahren) werden nach dem Berichte mit Ausnahme ein-
zelner Holzindustriebetriebe, Glas- und Zuckerfabriken in
den meisten Fällen eingehalten. Gegenüber den in früheren
Jahren häufig konstatirten Fällen, dass 8 — 9jährige Kinder
für Fabrikarbeit, ja selbst für Nachtarbeit verwendet wurden,
wird behauptet, dass im vorigen Jahre nur zwei derartige
Gesetzesübertretungen vorgekommen sind
Als durchschnittliche Arbeitszeit der nicht geschützten
über 16 Jahre alten Arbeiter werden 12 effectiv 1 0l/2 Stunden
angegeben. Aber zahlreiche Ausnahmen kommen vor, so
ist in manchen Dampfmühlen und Sägewerken eine 24stündige
ununterbrochene Arbeitszeit eingeführt, auf welche eine
12 — 24stündige Rastzeit folgt, bei den Wassermühlen ist an
vielen Orten eine 36 ständige Arbeitszeit üblich. Die In-
spektoren wurden angewiesen, in solchen Fällen in wohl-
wollender Weise die LInternehmer auf die üblen Folgen
dieser übermässigen Anspannung der Arbeitskraft aufmerk-
sam zu machen, „was in den meisten Fällen auch zu einem
günstigen Resultate führte“. Die Bestimmungen über die
Arbeitspausen werden eingehalten.
Die Arbeitslöhne sollen mit Ausnahme der Spiritus-
und Mühlenindustrie, wo die Löhne seit Jahrzehnten keine
Aenderung erfahren haben, im Jahre 1890 um 5 — 8 Prozent
gegen das Vorjahr gestiegen sein. Kein einziger namhafter
Strike ereignete sich im Jahre 1890 in Ungarn, was „mit
besonderer Beruhigung“ berichtet wird. Truck in ver-
schiedensten Formen kommt noch häufig vor, so erhalten
die Arbeiter in kleineren Mühlen einen gewissen Theil der
Mahlerträgnisse und kein baares Geld; in Glas- und Eisen-
hütten, Sägewerken und anderen noch fern von Städten
liegenden Betrieben werden die Arbeiter veranlasst, Lebens-
mittel und Kleider von den Unternehmern zu kaufen. Strenge
scheint gegen diese Uebertretungen der § 118 der ungari-
schen Gewerbeordnung (Bezahlung der Arbeiter in baarem
Gelde) nicht vorgegangen zu werden, denn „der Minister
hofft“ nur, „dass diese Unzukömmlichkeiten nach und nach
abnehmen werden.“
Fälle von Decompte kommen häufig vor , in dem
Berichte wird dies nicht gerügt, sondern blos gefordert,
dass diese Abzüge im Interesse der Arbeiter zinstragend an-
gelegt werden.
Ein ziemlich grosser Theil der Arbeiter ist gegen
Krankheit nicht versichert. Die Fälle, dass die Arbeiter
einen Theil des Lohnes in Form von Wohnung, Heizung
und Beleuchtung, vereinzelt auch in Nutzniessung an Boden
erhalten, mehren sich, wie mit Genugthuung konstatirt wird.
„Indess bleibt auch auf diesem Gebiete noch vieles zu thun
übrig, weil in den meisten Spiritus-, Malz-, Zucker- und
Ziegelfabriken noch sehr verkehrte Zustände herrschen, be-
sonders an solchen Orten, wo das sogenannte Kasernen-
system herrscht. In den Spiritus- und Malzfabriken, ja selbst
in einigen Petroleumraffinerien erhalten die Arbeiter im
Innern der Fabrik Schlafstellen, welche aber oft die primi-
tivsten Ansprüche nicht befriedigen, so dass in mehreren
Fällen verfügt werden musste, dass den Arbeitern nicht
gesundheitswidrige Schlafräume zur Verfügung gestellt
werden.“
Der Mangel einer obligatorischen Unfallsanzeige wird
bedauert, „umsomehr als die meisten Unfälle verheimlicht
werden.“ Ein Gesetz über die Unfallversicherung der in-
dustriellen Arbeiter wird geplant. Aus dem Berichte ist zu
ersehen, dass so nothwendige Massregeln, wie stärkerer
Schutz der Kinder, Schutzbestimmungen für erwachsene
Frauen und Männer nicht in Aussicht genommen sind, und
dass selbst die wenigen gesetzlichen Arbeiterschutzbestim-
mungen nur lax durchgeführt werden. Man meidet Be-
strafung der Unternehmer und begnügt sich mit wohl-
wollendem Zureden.
Die Gewerbepolitik Ungarns hat als Ziel die Schaffung
und Förderung der Industrie, grosse Mittel werden zu diesem
Zwecke verwandt, man sucht den Unternehmern nach jeder
Richtung entgegen zu kommen, vergisst aber, dass zu einer
blühenden Industrie nicht nur Unternehmer mit reichen
Gewinnen, sondern auch kräftige und gesunde Ar-
beiter gehören. Hiefür könnte man jetzt, wo die Industrie
noch in langsamer Entwickelung begriffen ist, leichter und
erfolgreicher sorgen als nach Jahren, wenn die Degeneration
der Industriearbeiter noch stärkere Fortschritte gemacht
haben wird.
Arbeiterversicherung.
Geschäftsbericht des Reichs-Versicherungsamtes
für das Jahr i8gi.
Der knappe, aber inhaltreiche Geschäftsbericht des
Reichs- Versicherungsamtes für 1891 enthält nähere Mit-
theilungen auch über das erste Jahr der durch das Gesetz
vom 22. Juni 1889 begründeten Inval iditäts - und Alters-
versicherung, für die eine besondere Abtheilung im
Reichs- Versicherungsamt errichtet ist. Die umfangreichen
Arbeiten dieser Abtheilung zur Erleichterung der Durch-
führung des Gesetzes werden hier übergangen; nur die
Angaben über die thatsächliche Einwirkung des Gesetzes
seien kurz berührt.
Im Ganzen wurden 1891 im Reiche 173 668 Ansprüche
auf Altersrente erhoben; davon sind 7102 unerledigt ge-
blieben, 30 534 abgewiesen, 3115 anderweitig erledigt und
132 917 von den Versicherungsanstalten anerkannt worden.
Nach den Berechnungen des im Reichs-Versicherungsamt
gebildeten Rechnungsbüreaus, das am 1. April 1891 seine
sehr ausgedehnte Thätigkeit aufgenommen hat, haben die
anerkannten Altersrentenansprüche eine Gesammtjahres-
ausgabe von 16 625 850 Mk. (davon als Reichszuschuss
6 645 850 Mk.) zur Folge. Im Durchschnitt beträgt jede
Altersrente 125,08 Mk. jährlich. Dieser Betrag ist in so fern
bemerkenswert!!, als er auf ein starkes Ueberwiegen der
mittleren Lohnsätze hinweist. Der Normalbetrag der Alters-
rente ist in
Lohnklasse I (bis 350 Mk. Jahreslohn) 106,40 Mk.
„ II (über 350—550 Mk. „ ) 134,60 „
„ III ( „ 550—850 „ „ ) 162,80 „
„ IV ( „ 850 „ „ ) 191,00 „
Der wirkliche Betrag bleibt zwischen der Normalhöhe
der Lohnklasse I und II, steht aber hinter letzterer nur noch
um 9,52 Mk. zurück.
An Invalidenrenten sind 27 mit einem jährlichen Renten-
betrage von 3064,80 Mk. bewilligt.
Im Ganzen wurden 1891 an Renten ausbezahlt rund
15,45 Millionen Mark.
Der Kapitalwerth der ganzen im Jahre 1891 ent-
standenen Rentenlast stellt sich nach versicherungstechni-
schen Grundsätzen auf etwa 54,5 Millionen Mark. Durch
die Rücklagen in den Reservefonds und durch die auf rund
1 Mk. für den Kopf der Versicherten angenommenen Ver-
waltungskosten erhöht sich die Gesammtbelastung auf etwa
76,4 Millionen Mark. Die Einnahmen aus dem Verkauf der
Beitrags- und Doppelmarken sind überschläglich auf
88,8 Millionen Mark berechnet.
Die 631 Schiedsgerichte für die Invaliditäts- und Alters-
versicherung sind 1891 bereits in 16 581 Berufungsfällen in
Anspruch genommen wurden ; 1 6 1 23 dieser Berufungen
(~97,2 7u) sind von den Versicherten oder deren Hinter-
bliebenen ausgegangen, 457 von den Staatskommissaren.
12 087 Berufungen wurden noch 1891 erledigt, und zwar
4925 (= 40,7 (,/0) durch Bestätigung und 3243 (= 26,8 °/0)
durch Abänderung des angefochtenen Bescheides.
Der Thätigkeit der Schiedsgerichtsvorsitzenden spendet
der Bericht volle Anerkennung; auch betont er die wesent-
liche Unterstützung, die der Rechtsprechung der Schieds-
gerichte durch die Sachkenntnis der Beisitzer aus den
Kreisen der Arbeitgeber und der Versicherten zu Theil
geworden ist.
184
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 14.
Als Revisionsinstanz für die Invaliditäts- und Alters-
versicherung eröffnete das Reichs -Versicherungsamt am
11. Juni 1891 seine Thätigkeit. Im Ganzen wurden 1537
Revisionen (darunter I in Invaliditätsrentensachen) einge-
legt, und zwar von den Versicherten 632 (= 44,1 "/A, von
den Versicherungsanstalten und den zugelassenen Kassen-
einrichtungen 762 (= 48,9 %), von den Staatskommissaren
153 (= 9,9 "/„). Unerledigt blieben 944 Revisionen. Unter
den 593 erledigten Revisionen wurde 197 (= 33%) stattee-
geben. 275 (= ca. 46 '/2% unerledigter Revisionen) wurden
3urch Urtheil nach mündlicher Verhandlung, 83 (=ca. 1 4"/0)
durch Urtheil ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen
und 38 (= ca.6l/2%) auf andere Weise (Zurücknahme, Ver-
gleich u. s. w ) erledigt.
Ueber die Unfallversicherung enthält der Bericht
naturgemäss reichhaltigere Mittheilungen, von denen hier
nur die wichtigsten berührt werden können.
Nach vorläufigen Ermittelungen sind 1891 224 028 Un-
fälle angemeldet und 51 437 Unlälle (= 22,96 % der ange-
meldeten) entschädigt worden. Von den entschädigten Un-
fällen hatten 6296 den Tod, 3258 eine dauernde völlige Er-
werbsunfähigkeit, 26 428 eine dauernde theilweise Erwerbs-
unfähigkeit und 15 455 eine vorübergehende Erwerbsunfähig-
keit zur Folge. Die Wohlthaten der Unfallversicherung
flössen 1891 im Ganzen 181 173 Personen zu, nämlich:
116 936 Verletzten,
16 006 Wittwen Getödteter,
32 502 Kindern „
I 287 Ascendenten „
o qoq Eheb aueu ( von im Krankenhause
\ inc er,n t I untergebrachten Verletzten.
142 Ascendenten ' s
Die Gesammtsumme der 1891 verausgabten Entschädi-
gungen war nach vorläufigen Ermittelungen etwa 25918000
Mark gegen
20 315 320 Mk. im Jahre 1890,
14 464 303 „ „ „ 1889,
9 681 447 „ „ „ 1888,
5 932 930 „ „ „ 1887,
1 915 366 „ „ „ 1886.
In der Unfall-, Invaliden- und Altersversicherung zu-
sammen sind 1891 an etwa 314 000 Personen ca. 41,4 Millionen
Mark ausgezahlt worden.
Dass die Unfallverhütung nach wie vor von den Be-
rufsgenossenschatten eifrig gepflegt wird, geht daraus her-
vor, dass sich in der Zeit vom 1. Oktober 1890 bis 1. Okto-
ber 1891 die Zahl der „Beauftragten“-Stellen von 148 auf
155, die der Beauftragten selbst von 120 auf 146 erhöht hat.
Unter den ausschliesslich vom Reichs- Versicherungs-
amt ressortirenden gewerblichen Berufsgenossenschaften
hatten Ende 1891 51 (d. s. 86%) Unfallverhütungsvor-
schriften erlassen. Bei den landwirtschaftlichen Berufs-
genossenschaften ist naturgemäss die entsprechende Zahl
noch geringer.
Erfreulich ist es, dass sich die Zahl der Berufungen
verhältnissmässig vermindert hat. Bei den 1239 ausschliess-
lich vom Reichs- Versicherungsamt ressortirenden Schieds-
gerichten sind 18 423 Berufungen eingegangen, denen
106 423 berufsgenossenschaftliche bezw. ausführungsbehörd-
liche Bescheide gegenüberstehen; also nur etwa 1/6 der
Bescheide wurde angefochten, während im Vorjahr etwa V5
angefochten wurde.
Von den Berufungen bezogen sich 7158 aut Bescheide,
durch welche der Entschädigungsanspruch abgelehnt wurde,
und 1 1 265 auf Bescheide, durch welche Entschädigungen
festgestellt wurden. 17 617 Berufungen betrafen dauernde
Renten.
Aus 1890 wurden noch 4191 Berulungen übernommen,
sodass im Ganzen 1891 Vorlagen: 22 614 Berufungen. Davon
wurden erledigt durch Zurückweisung seitens des Vor-
sitzenden, durch Zurücknahme, Vergleich, Anerkenntniss
und auf sonstige Weise ohne Entscheidung des Schiedsge-
richts 3534; durch Entscheidung des Schiedsgerichts ohne
mündliche Verhandlung sind 24, und nach mündlicher Ver-
handlung 14 228, zusammen 14 252 Sachen an 3666 Sitzungs-
tagen erledigt. Von den 14 252 durch Schiedsgerichtsent-
scheidung erledigten Berufungen betrafen 2264 = 15,9% die
Frage, ob ein Betriebsunfall vorliegt, ein Beweis , wie
schwer es ist, eine allgemeine Richtschnur in dieser Frage
zu geben. 9285 Berufungen (=6 5,1 % der durch Schieds-
gerichtsentscheidung erledigten) bezogen sich aut den bei
der Entschädigungsfeststellung angenommenen Grund der
Erwerbsunfähigkeit, ein Punkt, über den erklärlicher Weise
die Ansichten der Beteiligten oft auseinander gehen. Die
Schiedsgerichte haben den angefochtenen Bescheid in 9265
Fällen bestätigt und in 4713 Fällen abgeändert, sodass sich
die Zahl der bestätigten zur Zahl der abgeänderten Be-
scheide verhält wie 1,97:1. 1890 standen 6631 bestätigte 1
Bescheide 3807 abgeänderten gegenüber; das Verhältnis ;
jener zu diesen war mithin 1,74:1. Darnach ist das Ver-
hältnis zwischen beiden Kategorien 1891 günstiger ge-
worden.
Von den 14 252 Schiedsgerichtsurtheilen waren 13 630
rekursfähig. Davon sind 3378 = 24,8% (1890 : 23,3%) im
Rekurswege angefochten worden. Das Verhältnis ist also
1891 um ein geringes ungünstiger geworden. Dass sich die
Versicherten ~ bei reichlich % der rekursfähigen Schieds-
gerichtsurtheile des Rekurses enthalten, ist eine Thatsache,
die der Thätigkeit der Schiedsgerichte ein günstiges Zeug-
nis ausstellt. Mit den unerledigt übernommenen Rekursen
waren 1891 im Ganzen 4566 zu bearbeiten, von denen 1234
unerledigt blieben = 27 % . 1 890 blieben 36,5 %, 1 889 :
34,5°/, 1888: 25,6%, 1887: 59,2°/, 1886: 63,3% unerledigt,
eine Zahlenfolge, die das energische Streben des Reichs-
Versicherungsamtes nach prompter Erledigung der Rekurse )
erkennen lässt. Von den genannten 4566 Rekursen sind
eingelegt von
den
Versicherten
den Berufsgenossen-
schaften bzw.
Ausführungsbehörden
beiden
Theilen
77,2 o/o
21,5 0/o
l,3o/o
dagegen
1890
77,9 %
21,0%
1,1%
1889
77,5 %
20,7%
1 ,8 %
1888
75,7 o o
22,4 0/o
1,9%
1887
74,8 o/n
23,8 o/0
1,4%
>5
1886
65,6 % .
32,6 o/o
1,9%
Gegen 1886 haben sich die Rekurse der Berufsge-
nossenschaften und Ausführungsbehörden vermindert, die
der Versicherten vermehrt; in den letzten 3 Jahren sind die
Antheile beider Gruppen nahezu unverändert geblieben..
Durch Urtheil wurden 1891 2888 Rekurse (=63,3% der an-
hängigen Rekurse) erledigt und zwar 2074 (= 45,4 % der.
anhängigen Rekurse) durch Bestätigung des Schiedsgerichts-:
urtheiles. ,■
Zu Gunsten der Versicherten bezw. gegen die Berufs-
genossenschatten und Ausführungsbehörden wurden ent-
schieden von den Rekursen
. . , der Berufsgenossenschaften
der Versicherten uncj Ausführungsbehörden
1891 23,5% 56,6 %
1890 23,5% 64,4%
1889 25,4% 61,2%
1888 22,5% 56,8 %
1887 37,3% 52,5%
1886 27,9% 74,1 %
Der Prozentsatz der ungenügend begründeten Rekurse
ist mithin auf beiden Seiten sehr gross, auf Seiten der Ver-
sicherten freilich noch grösser als aut Seiten der Berufs- 1
genossenschaften. Gegen die Antangsjahre hat sich dieser
Prozentsatz bei den Rekursen der Versicherten erhöht. Bei i
den Berufsgenossenschaften ist der Prozentsatz seit 1887
niedriger als 1886, aber von sehr ungleicher Höhe in den
einzelnen Jahren.
Von den 1891 durch Urtheil erledigten 2888 Rekursen I
bezogen sich nicht weniger als 1647, also 57% auf den
Grad der Erwerbsunfähigkeit (1890: 55,5%, 1889: 52,4%),
und 467 = 16,2 % auf die Frage, ob ein Betriebsunfall vor-
lag (1890: 27%, 1889: 21,2%). Die letztere Frage spielt
mithin hier noch eine grössere Rolle als bei den Berufungen.
Solange diese für die Entschädigungsansprüche grundsätz-
lich wichtige Frage von den Versicherungsorganen geprtut
werden muss, wird sie auch immer zu vielen und sehr
schwer zu schlichtenden Streitfällen Anlass geben. Da?'
könnte sich nur ändern, wenn es möglich würde, die ver-
schiedenen Gebiete der Arbeiterversicherung in eine ye~
sammtorganisation zusammen zu lassen. Alsdann würden
auch die Fragen, welche Genossenschaft einzutreten hat,
ob der Unfall eine versicherte Person betroffen hat, ob ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfall- und Erwerbs- 1
Unfähigkeit bezw. Tod vorliegt etc., weniger zu Streitig- ■
keiten führen. .
Eine solche Reform der gesammten Arbeiterversiche-
rung ist freilich erst nach einer viel längeren Erfahrung,
als sie heute vorhanden ist, in gesunder Weise durchführ-
bar. Sie sollte aber als Ziel festgehalten werden, weniger
wegen der unnöthig aufgebauschten Frage der Verwaltungs-
No. 14.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
185
kosten, als wegen der Nothwendigkeit, dem Versicherten so
[schnell als möglich die gesetzlich geordnete Hilfe zu ver-
schaffen. Jeder Streitfall der besprochenen Art bedingt
trotz der anerkennenswerthen Promptheit der Schiedsge-
richte und des Reichs-Versicherungsamtes eine Verzögerung,
!die für den betheiligten Arbeiter oft die bittersten Ent-
behrungen nach sich zieht.
Köln. R. van d;er Borght.
Zur Wirksamkeit (1er deutschen Unfallversicherung-. Als
Ergänzung des Artikels über die deutsche Unfallversicherung
in No. 12 dieses Blattes kann eine Aeusserung der badischen
Fabrikinspektion im mehrfach besprochenen Berichte derselben
für 1891 gelten. Es heisst dort: „Die Unfallverhütungsvorschriften
der Berufsgenossenschaften werden seitens der Beauftragten,
soweit solche überhaupt in T Tätigkeit getreten sind,
und je nach dem die Funktionen derselben durch Ingenieure
oder durch sachverständige Personen des betreffenden
Industriezweiges wahrgenommen oder je nachdem dies
nicht der Fall ist, in sehr verschiedener Weise durch-
geführt. Wo es sich um einheitliche Betriebsweise handelt, und
wo ganz bestimmte und unbestrittene Gefahrenquellen vor-
handen sind, wie z. B. bei der Holzindustrie, ist durch die
Thätigkeit der Berufsgenossenschaft für eine gleichmässige
Beseitigung der Gefahren und für die Sicherung Her betreffen-
den Maschinen Durchgreifendes geschehen, wobei besonders
auf die auch schon früher in dieser Beziehung genannte Süd-
westdeutsche Holzberufsgenossenschaft hingewiesen werden soll.
Wohlthätig hat es auch gewirkt, dass die Einwirkung solcher
Berufsgenossenschaften sich weiter erstreckte, als aut die der
Fabrikinspektion unterstellten Anlagen. Wo die Verhältnisse
mannichfaltiger sind, gehen die Beauftragten aber auch manch-
mal gegen nur mögliche, wenn auch durchaus nicht naheliegende
Gefährdungen mit einer schablonenhaften Gleichmässigkeit und
mitunter auch mit einer Pedanterie zu Wege, über welche sich
einzelne Gewerbetreibende zwar gelegentlich beklagen, die aber
doch leichter ertragen wird, als wenn staatliche Orgfane in
gleicher Weise vorgehen würden. Aber auch gegen Berufs-
genossenschaften, die auf dem Gebiete der Unfallverhütung
besonders Tüchtiges geleistet haben, werden solche Beschwer-
den laut. So werden z. B. häufige Beschwerden wegen der
obengenannten Berufsgenossenschaft darüber geführt, dass bei
Ausserachtlassung auch von solchen Unfallverhütungsvorschriften,
welche für die Sicherung der Arbeiter weniger wichtig sind,
| sofort eine namhafte prozentuale Erhöhung der Beiträge verfügt
wird, was unter Hervorhebung des LTmstandes, dass der Beauf-
tragte der Berufsgenossenschaft kein Sachverständiger,
sondern ein Kaufmann sei, um so lebhafter empfunden
wurde. Gegen schwierig zu beseitigende Mängel in
den industriellen Anlagen, und gegen solche, bei
denen man den gleichmässigen Widerstand ganzer
Industriezweige, oder mehrere derselben zu über-
winden hätte, geht man aber auch seitens der Berufs-
genossenschaft in der Regel nicht energisch genug
vor, was zunächst durch entsprechende Bestimmungen in den
Unfallverhütungsvorschriften zu geschehen hätte. Solche, etwas
heiklere Dinge überlässt man den staatlichen Aufsichtsorganen,
welche im Uebrigen durch die Thätigkeit einer Anzahl von
Berufsgenossenschaften bezüglich der Unfallverhütung merklich
entlastet sind. Bei vielen Berufsgenossenschalten merkt
man aber beim Besuche der Fabriken von der Thätig-
keit der Beauftragten überhaupt kaum etwas. Wo
anderseits während längerer Zeit auf diesem Gebiete eine ge-
nügende Thätigkeit stattfand, kann es zweckmässig sein, wenn
die äussere Thätigkeit der Beauftragten, nach Erreichung eines
bestimmten vorgesteckten Zieles einstweilen eingestellt
wird. So hat die Sektion II (Baden) der südwestdeutschen Holz-
berufsgenossenschaft vom Anfang ihres Berichtsjahres an die
Stelle eines Beauftragten eingehen lassen, nachdem die
in ihren Unfallverhütungsvorschriften vorgeschriebenen Siche-
rungen durchgeführt waren.“ Diese Mittheilungen illustriren in
treffender Weise die Behauptung unseres ausführlichen Artikels
in No. 12, dass man bei der deutschen Unfallversicherung den
Bock zum Gärtner gemacht habe, nämlich die Unternehmer zu
ihren eigenen Aufsehern. Wie sehr dieser F'ehlgrift zur Ver-
wirrung der Begriffe über die Möglichkeit der Unfallver-
hütung und die Ursachen der Betriebsunfälle führt, geht
auch aus einer Kundgebung der Knappschaftsberufsge-
nossenschaft hervor, welche dieser Tage erfolgte. Dort wird
behauptet, dass sich „seit dem grossen Bergarbeiterausstande
des Jahres 1889 in den Belegschaften vielfach ein Geist der
I Unbotmässigkeit entwickelt habe, welcher in den vermehrten
Unfällen einen betrübenden Ausdruck erhalte. In den Bergbau-
bezirken, welche von den Aufwiegeleien mehr oder weniger
verschont geblieben sind, ist theils eine nur unwesentliche Ver-
mehrung eingetreten, theils sogar eine Abnahme der Unfälle zu
verzeichnen. Allein im Bereiche der Sektion II, den Oberberg-
amtsbezirk Dortmund umfassend, sind innerhalb Jahresfrist in
Folge Zuwiderhandlungen der Arbeiter gegen bestehende Ver-
bote zur Verhütung von Entzündung schlagender Wetter 124
Bergleute verletzt, darunter 71 getödtet worden. In Folge Zu-
widerhandlungen der Arbeiter gegen sonstige Vorschriften er-
eigneten sich 141 Unfälle mit 145 Verletzten, darunter 62Todten.
Durch Nichtanwendung der vorgeschriebenen Sicherheitsvor-
richtungen kamen 37 Unfälle vor, bei welchen 37 Personen ver-
letzt wurden, von denen 17 das Leben einbüssten.“ Diese Ar-
gumentation ist nur vom einseitigsten Unternehmerstandpunkte
aus möglich. Der Unterschied in der Unfallvermehrung zwischen
den Bezirken, wo „Aufwiegeleien“ stattfanden und wo dies nicht
der Fall war, ist wohl einfach auf die Thatsache zurückzuführen,
dass selbstverständlich in den verkehrsreichsten und blühendsten
Distrikten die Strikebewegung am lebhaftesten war; und in
verkehrsreicheren und intensiver produzirenden Bezirken muss
natürlich jedes Mal bei den jetzigen Verhältnissen auch die
Unfallhäuligkeit stärker zunehmen, als in den entlegeneren
Distrikten. In der Hauptsache aber liegt das Tendenziöse der
berufsgenossenschaftlichen Darstellung darin, dass die Frage
ganz unerörtert bleibt, ob die „bestehenden Verbote“ und ihre
Befolgung allein hinreichende Sicherheit für die Arbeiter boten,
oder ob vielmehr nicht noch neben den bestehenden Verboten
sehr viel mehr (z. B. durch bessere Lüftung, bessere Lampen,
bessere Schiessstoffe) für die Betriebssicherheit seitens der
Unternehmer hätte gethan werden müssen, und ob ausserdem
die Uebertretung der „bestehenden Verbote“ nicht vielfach ver-
ursacht war durch den Zwang wirthschaftlicher Verhältnisse,
durch unzureichende Bezahlung für bestimmte Gedinge z. B.,
bei denen der Arbeiter unter Beobachtung der „bestehenden
Verbote“ zu wenig verdient hätte. Solche Aeusserungen, wie
diejenige der Knappschafts-Berufsgenossenschaft, tragen den
Stempel der Einseitigkeit so stark auf der Stirn, dass der Rück-
schluss auf die gesammte Praxis der staatlichen organisirten
Unfallversicherung in Deutschland leider kein günstiger sein
kann.
Strengere Handhabung des Unfallversicherung-
gesetzes in Deutschland. Das Reichsversicherungsamt
hat die Berufsgenossenschaften aufgefordert die wichtige
Frage der Betriebsunfälle der Arbeiter nicht nur fort-
dauernd im Auge zu behalten, sondern sich auch die Er-
mittelung der in dem Arbeiterstande über die Sache her-
vortretenden Ansichten durch entsprechende Anhörung
der Vertreter der Arbeiter nach Möglichkeit angelegen
sein zu lassen. Damit ist ein Wunsch in Erfüllung ge-
gangen, der im „Sozialpol. Centralbl.“ erst ganz kürzlich
bei Besprechung der amtlichen Berichte über die deutsche
Unfallversicherung geäussert wurde.
Der Reichstag beschloss noch vor Schluss der Session
die Ausfüllung einer Lücke im § 87 Abs. 4 des Unfallver-
sicherunggesetzes und im § 95 Abs 5 des Gesetzes betr.
die Unfall- und Krankenversicherung der in land- und forst-
wirthschaftlichen Betrieben beschäftigten Arbeiter. An den
betreffenden Stellen wird jetzt folgende am 1. Oktober d. J.
in Kraft tretende Stelle eingefügt werden: für nichtständige
Mitglieder des Reichsversicherungsamtes sind nach Be-
dürfnis (vom Bundesrathe) Stellvertreter zu bestellen,
welche die Mitglieder in Verhinderungsfällen zu vertreten
haben.
Die Einberufung eines Kongresses der freien Hilfs-
kassen wird von einem parlamentarischen Mitarbeiter des
„Vorwärts“ vorgeschlagen. Derselbe warnt die Kassenleitun-
gen vor überstürztem Vorgehen, der Auflösung der Kassen
oder Umwandlung derselben in Zuschusskassen. Nur bei
gleichmässigem und einigem Vorgehen der Kassen sei eine
allzuschwere Schädigung derselben zu verhüten. In dem
„Was ist zu thun“ überschriebenen Artikel wird empfohlen,
dass die Vorstände aller grösseren Hilfskassen eine Vertreter-
Konferenz zusammen berufen, von welcher die Grundlagen
für ein gemeinsames Vorgehen aller Hilfskassen in den
speziellen- Generalversammlungen derselben geschaffen
werden sollen.
Die Frage, ob man die freien Kassen dann ihres jetzigen
Charakters entkleiden, oder ob man den Kampf mit den
widrigen Verhältnissen, vielleicht durch Gründung grosser
Medizinalverbände, durch Aufhebung der ganz kleinen
Zahlstellen u.s.w. aufnehmen, und so die Möglichkeit weiterer
Existenz suchen will, diese Fragen mögen dann der Ent-
scheidung der mit praktischer Sachkenntnis ausgestatteten
Berufenen anheim gegeben werden.
186
SOZI AI .POLITISCHES CENTRA I /RI , ATT.
No. 14.
Wohnungszustände.
Nürnberger Wohnungsznstände. Ueber Nürnberger
Arbeiterwohnungen hat Herr Dr. Hess eine kleine Enquete
veranstaltet und zu diesem Zweck 500 Fragebogen ver-
theilt. Nur für 150 Wohnungen wurden die gestellten
Fragen beantwortet ; von diesen sind 75, darunter 29 dunkle
Räume, dicht bewohnt. Ein Abort wird durchschnittlich
von 19 Personen, in einem Fall von 23 Parteien benützt.
Ueber Flächenraum und Miethspreis giebt nachfolgende
Tabelle einigermassen
Aufschluss:
Wohnungen
Durchschnittl.
Miethspreis per
Zahl der einen
Abort benutzenden
Quadratmeter
Quadratmeter
Personen
unter 25
7,70 M.
5,79 „
27
von 25 — 36
20
„ 36 — 50
4,72 „
16
über 50
4,36 „
13
Es beträgt somit der Miethspreis der kleinen Wohnun-
gen, nach dem Quadratinhalt berechnet, nahezu nochmal
soviel als der, der grösseren Wohnungen. Nach der Kopf-
zahl berechnet, wird pro Kopf in einer Wohnung unter
25 Quadratmeter für den Quadratmeter I NI. 88 Pf., in
einer Wohnung über 50 Quadratmeter, 74 Pf. bezahlt. Der
sanitäre Zustand der kleinen Wohnungen ist nichts weniger
als günstig. Von einer in der Winklerstrasse gelegenen
Wohnung wird berichtet, dass von den Wänden das Wasser
herabträufelt und der Ofen nicht benützbar ist. Eine
Wohnung in der Vorstadt Wöhrd liegt unter dem Strassen-
niveau, hat einen Gesammtflächeninhalt von 1 7 m2 und eine
Höhe von 2 Metern; die Fenster zusammen machen
noch keinen Quadratmeter aus. Als besonders gesundheits-
schädlich werden die von der Gemeinde vermietheten
Thurm- und Mauerwohnungen bezeichnet. Als Hilfsmittel
werden befürwortet, die Niederlegung der Stadtmauer, um
Luft und Licht zu gewinnen; die Erbauung von Arbeiter-
häusern bezw. die Abgabe von Grund undBoden hierzu seitens
der Gemeinde, sowie die Aufstellung von Wohnungsinspek-
toren.
Gewerbegerichte, Einigungsämter und
Arbeiterausschüsse.
Der Gesetzentwurf, betreffend die Prud'homiues-Ge-
richte in Frankreich ist von der Abgeordnetenkammer
einstimmig angenommen worden, ein Fall, den man
in der Geschichte der Sozialgesetzgebung bisher wohl
vergeblich suchen dürfte. Die hauptsächlichsten Be-
stimmungen dieses Gesetzes, die es von den bestehenden
einschlägigen Gesetzen Frankreichs wie der übrigen Länder
so vortheilhaft unterscheidet, haben wir bereits in einer
frühem Nummer besprochen; es erübrigt somit nur noch auf
einige wichtige Bestimmungen hinzuweisen. Da ist in erster
Reihe anzuführen, dass die Prud’hommes-Gerichte, die gegen-
wärtig nur über Forderungen bis zum Betrage von 200 Frcs.
endgiltig urtheilen, künftighin dieselbe Kompetenz bei For-
derungen bis zum Betrage von 500 Frcs. haben werden,
und dass, während jetzt die Handelsgerichte als Appell-
gericht bei allen über 200 Frcs. hinausgehende Forderungen
fungiren, nach Inslebentreten dieses Gesetzes das Civil-
tribunal die Stelle der Handelsgerichte einnehmen wird,
nur mit dem Unterschied, dass es erst bei Forderungen
von mehr als 500 Frcs. zu richten haben wird. Die
Vorlage bestimmte, dass die Prud’hommes auch in
zweiter Instanz urtheilen sollen, was jedoch abgelehnt
wurde; ebenso ein Antrag, dass die höhere Instanz aus ehe-
maligen Prud’hommes oder Arbeitern und Unternehmern
im Alter von mehr als 35 Jahren, unter Vorsitz eines Frie-
densrichters, gebildet werden soll. So wünschenswerth es
nun auch wäre, dass bei allen aus dem Arbeitsvertrag ent-
springenden Streitigkeiten, um welchen Betrag es sich da-
bei auch immer handeln möge, die Prud’hommes-Gerichte
die höchste Instanz bilden, ist auf die getroffene Bestim-
mung kein besonderes Gewicht zu legen, da Streitigkeiten
über Forderungen von mehr als 500 Frcs. wohl selten zum
Austrag gebracht werden und nach der bisherigen Praxis
zu urtheilen, wohl noch seltener zu einer Berufung Anlass
geben dürften. So sind in den Jahren 1879 bis inklusive 1888
d. i. in einem Zeitraum von zehn Jahren, von 410 280 den,
Prud’hommes-Gerichten unterbreiteten Streitangelegenheiten
nur 2445 den Richtern zweiter Instanz vorgelegt worden,
also nicht einmal ein Prozent, obgleich die Prud’hommes
nur bei Beträgen bis zu 200 Frcs. endgiltig richten konnten.
Solche Berufungen dürften also künftighin verhältnissmässig
noch viel weniger Vorkommen.
Viel mehr Gewicht, weil prinzipieller Natur, wäre
darauf zu legen, dass der Entwurf keine Bestimmung ent-
hält, die den Prud’hommes-Räthen eine Entlohnung für ihre
Mühewaltung zuspricht. Ein dahin gehender Antrag wurde
mit 239 gegen 238 Stimmen, also mit nur einer Stimme Ma-
jorität verworfen. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die
Beisitzer ihr Amt unentgeltlich zu verrichten haben, sondern
dass die Bezahlung, wie bisher, den Gemeinden überlassen
bleibt, in welchen Prud’hommes - Gerichte bestehen, ln
Paris z. B. erhalten die Beisitzer, sowohl Arbeiter wie Unter-
nehmer, 1200 Frcs. jährlich, und gedenkt der Gemeinderath
diese Summe auf 1800 Frcs. zu erhöhen. In minder grossen
Gemeinden erhalten sie Präsenzgelder oder es werden bloss
die Arbeiter-Prud’hommes für ihre Mühewaltung entlohnt.
Dass die Gemeinden auch weiterhin ihren diesbezüglichen
Pflichten nachkommen werden, darüber kann kein Zweifel
sein, aber richtiger und zugleich demokratischer wäre es
gewesen, die Entlohnung im Gesetze auszusprechen, anstatt
sie von dem guten Willen der Gemeinderäthe abhängen zu
lassen.
Nichtsdestoweniger bedeutet dieses Gesetz nach vielen
Richtungen hin und besonders dadurch, dass es die Wirk-
samkeit der Prud’hommes-Gerichte auf Industrie, Handel,
Verkehr zu Lande und zu Wasser, sowie auf die Land-
wirtschaft ausdehnt, einen ungemeinen Fortschritt auf
diesem Gebiete. Dies hat auch der sozialistische Abgeord-
nete Antide Boyer, der mit mehreren seiner Kollegen viel-
fach in die Debatte eingriff, dadurch zu erkennen gegeben,
dass er am Schlüsse derselben erklärte: „Ich, sowie viele
meiner Kollegen sind von verschiedenen im Gesetze einge-
führten Verfügungen sicherlich nicht sehr befriedigt, nichts-
destoweniger werden wir, indem wir uns für die Folge weitere ;
Vorschläge behufs Durchführung einzelner Verbesserungen '
Vorbehalten, welche die Erfahrung als gut und nützlich
erkennen lassen wird, für den gegenwärtigen Entwurf,
stimmen und bitten die Kammer das Gleiche zu thun.“
Zu wünschen bliebe jetzt nur noch, dass auch der Senat
dem vorliegenden Gesetzentwurf seine Zustimmung gebe.
Arbeiter PnuVlioninies uiul Imperativmandate. Die
wegen Annullirung von vier Wahlen erfolgte Massende-
mission der Pariser Arbeiter- Prud’hommes, worüber wir
bereits in No. 9 des „S. C.“ berichtet haben, ist auch
vor dem Munizipalrath zu Sprache gelangt und damit;
zugleich die Frage der Imperativmandate. Auf einei
Anfrage, wann der Seinepräfekt die durch Demissionirung
sowie Annullirung nothwendig gewordenen Prud’hommes-
wahlen ausschreiben werde, antwortete dieser nämlich, dass
die Wahlen im Monat Mai stattfinden sollen, aber nur be-
hufs Ersatzes jener Beiräthe, deren Wahl annullirt wurde
oder die mit Tod abgegangen sind, nicht aber der De-
missionäre, da er deren Demission, die zum grössten Theil
nicht von ihnen selbst, sondern von einem Komitee, das sich
Ueberwachungskomitee nenne, eingeschickt wurde, nicht
anerkennen könne, und zwar um so weniger, als er durch
die Entscheidung des Staatsraths in Bezug auf die Imperativ-
mandate in seiner Auffassung nur bestärkt werde. Darauf-
hin wurde dem Präfekten u. A. erwidert, dass wenn das
Gesetz auch nicht das Imperativmandat schütze, so doch
auch kein Gesetz dasselbe verbiete. Es stehe jedem Kan-
didaten frei, seine Demission im vorhinein zu unterzeichnen
oder diese Forderung zurückzuweisen; habe er sie aber
unterzeichnet und damit seinen Wählern gegenüber eine
Verbindlichkeit übernommen, dann dürfe die Unterschritt
unter keinem Vorwand verleugnet werden. Es sei sehr be- ,
dauerlich, ja selbst wenig moralisch, wenn ein Beamter der
Republik sich weigere, eine unter solchen Umständen ge-
gebene Demission anzunehmen. Dem Rechte der Gewählten
stehe das Recht der Wähler gegenüber. Schliesslich nahm
der Gemeinderath einen Antrag an, der dahin ging, dass
die Arbeiterwähler jener Prud’hommesgerichte, deren Sitze
sei es durch Wahlannullirung, sei es durch Demissionirung
frei geworden sind, unverzüglich einzuberufen seien Der
Antrag ging von dem bekannten Munizipalrath Ed. Vaillant
aus und war von seinen Kollegen Chauviere, Longuet —
einem Schwiegersohn von Karl Marx — , Faillet, Bertliaut,
Prudent-DerviTlers und Rouanet unterzeichnet, die den ver-
schiedenen, im Pariser Gemeinderath vertretenen sozialisti-
schen Fraktionen angehören.
Verantwortlich für die Redaktion: l)r. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 11. April 1892
Nummer 15.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber :
Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostamter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf,
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
M
|
!
1
1
INHALT.
Die neueste sächsische Fabrik-
arbeit er auf nähme und ihre
sozialstatistischen Ergeb-
nisse. Von Dr. Max Quarck.
Soziale Wirtschaftspolitik 11.
Wirthschaftsstatistik :
Statistik der in deutschen Fabriken
beschäftigten Arbeiterinnen.
Maschinelle Vervollkommnung in
Folge von Lohnbewegungen.
Arbeiterzustände:
Die Kinderarbeit in der russischen
Fabrikindustrie. Von Dr.Sophie
Daszynska.
Vertreter des Hundesraths in der
Kommission für Arbeiterstatistik.
Arbeitslöhne in der preussischen
Staatseisenbahnverwaltung.
Zur Lage der Flisenbahnbedienste-
ten in den Vereinigten Staaten.
Statistische Erhebungen aus dem
Steinmetzgewerbe von Dresden
und L'mgegeml.
Arbeiterzustände in Ziegeleien.
Der Nothstand unter den ost-
schweizerischen Stickern.
Lohnverhältnisse in der ostindi-
schen Eisen- und Stahlindustrie.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Ausstands - Versicherungs - Vereine
in Preusscn.
Unternehmerverbände :
Der Deutsche Schienenverband.
Die Gesetzgebung gegen die Trusts
und der Standard Oil Trust.
Arbeiterschutzgesetzgebung :
l eher die Beschäftigung jugend-
licher Arbeiter in Hechelräumen.
Sonntagsruhe im Cigarrenhandel.
Zur Beseitigung der Nachtarbeit in
den Kammgarnspinnereien.
Arbeiterversicherung:
Die statistischen Ergebnisse der Ar-
beiter-Unfallversicherung in Oes-
terreich. Von I )r. Er nst Fürs ch-
berg.
Knappschaftsvereine deutscher
Bergleute.
Wohnungszustände und Woli-
nungsgesetzgebung :
Wohnungsgesetzgebung in Braun-
schweig.
Wohnungsverhältnisse der ober-
schlesischen I ndustriearbeiter.
Geschlechtsvermischung in Ar-
beiterwohnungen.
Arbeiterwohnungeil in Russland.
Soziale Hygiene:
I )ie Trunksucht als Todesursache
in den 15 grösseren städtischen
Gemeinden der Schweiz.
Kriminalität:
Arbeitsverdienst der Gefangenen.
Litteratur:
L a u t e n s c h 1 a g e r , Ernst, Er-
hebungen für die Sonntagsruhe
in Stuttgart.
Somogyi, Email., Die Lage der
Arbeiter in Ungarn vom hygie-
nischen Standpunkt.
Biirkli, Karl, der Ursprung der
Eidgenossenschaft aus der Mark-
genossenschaft und die Schlacht
am Moorgarten.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die neueste sächsische Fabrikarbeiteraufnahme
und ihre sozialstatistischen Ergebnisse.
Bin bundesstaatliches Unikum ist es, dass im Deutschen
Reiche die regelmässige jährliche Arbeiterstatistik, welche
sich aut alle Arbeiterkategorien erstreckt, abgesehen von
ein paar kleinen Fabrikinspektionsbezirken und dem bayeri-
schen Bergbau, der eine solche Statistik besitzt1), nur in
einem einzigen Bundestaate gepflegt wird: im Königreich
Sachsen, das gewissermassen eine sozialstatistische Oase in
der preussischen und bayerischen Wüste bildet, von der es
) Aergl. meine Abhandlung: „Die Entwicklung der bayeri-
schen Bergwerksindustrie in den letzen acht Jahren“ (Bayerische
Handelszeitung, München, XXII. Jahrgang, No. 7 bis 9).
umgeben ist. Die soeben erschienenen „Jahresberichte
der Königlich Sächsischen Gewerbeinspektoren
für 1891. Zusammengestellt im Königl. Sächs. Ministerium
des Innern“ (Dresden, F. Lomatzsch, 1892, 232 Seiten) mit
ihrer Fortsetzung der sächsischen Arbeiterstatistik für das
verflossene Jahr geben erneuten Anlass, diese Thatsache
hervorzuheben; und sie laden auf der anderen Seite zu dem
unseres Wissens noch von keiner Seite in Angriff ge-
nommenen \ ersuch ein, die wichtigen und aktuellen Er-
hebungsresultate einmal sozialstatistisch zu bearbeiten.
Doppelt interessant ist diese Aufgabe jetzt, wo die Behör-
den im gesammten Deutschen Reich an der Ausführung
der neuen Gewerbeordnung sind, ohne sich ausserhalb
Sachsens von der Ausdehnung der in Betracht kommenden
Kreise irgend eine genaue Vorstellung machen zu können.
Und doch ist die Kenntniss von den merkwürdigen Ver-
schiebungen, die sich innerhalb der Arbeiterbevölkerung
der verschiedensten Industriezweige in wenigen Jahren voll-
ziehen, nahezu unentbehrlich für die Anpassung gewerbe-
rechtlicher Vorschriften an die praktische Entwicklung, wie
unsere Betrachtung zeigen wird, ganz abgesehen von dem
Werth dieser Kenntniss für die gesetzgeberische Arbeit.
Geht man in diesem Sinne und im Hinblick auf sozial-
politische Verwendungszwecke an eine Bearbeitung der
neuesten und früheren sächsischen Arbeiterstatistik, so er-
giebt sich freilich auch gleich eine Beschränkung des an-
scheinend reichhaltig vorliegenden Materials. Die sächsische
Gewerbeinspektion macht seit 1883 regelmässige jährliche
arbeitsstatische Massnahmen; aber erst die Ergebnisse seit
1888 sind wissenschaftlich verwerth- und vergleichbar. Von
1883 bis 1887 befand sich die Arbeiterstatistik der sächsi-
schen Gewerbeinspektion in der Versuchsperiode. Die
Ministerial Verordnung vom 4. Dezember 1882 führte unter
Zifter 3 die jährliche Fabrikarbeiterzählung so ein, dass sie
die Gewerbepolizeibehörden anwies, vorgeschriebene Zähl-
formulare „denjenigen Gewerbeunternehmern, welche Fabrik-
arbeiter im Sinne der Gewerbeordnung beschäftigen, mit
der Veranlassung zuzufertigen, die Formulare am 1. Mai . . .
auszufüllen. Die ausgefüllten Formulare sind ungesäumt
an die Behörden zurückzugeben und von Letzterer im Laufe
des Monat Mai bei der Kreishauptmannschaft einzureichen,
welche sodann die gesammelten Listen der Fabriken-Inspek-
tion zutertigt.“ Eine weitere Ministerialverordnung vom
6. Dezember 1883 sagt in ihrer Einleitung, dass bei der
ersten Zählung vom Mai 1883 „die Gewerbepolizeibehörden
im Mangel einer Begriffsdefinition der Fabriken bei Aus-
theilung der Zählformulare von sehr verschiedenen Gesichts-
punkten ausgegangen“ seien. „Um für die Folge gleich-
artige Ergebnisse zu gewinnen,“ werden in dieser Verord-
nung vier Merkmale für den Begriff „Fabrik“ gegeben (min-
188
SOZIALPOLITISCHES CENTRA1 .BLATT.
Nu. 15.
destens 10 Arbeiter, Dampfkessel, sonstige Motoren, Ge-
nehmigungspflicht nach § 16 der G. O.). Aber eine Ver-
ordnung vom 1. Juni 1886 stellt von Neuem fest, dass die
Ergebnisse der Zählung „noch nicht die befriedigende Voll-
ständigkeit gewonnen haben“. Sie vertilgt deshalb, dass
die Gewerbepolizeibehörden bereits im März jeden Jahres
ein Verzeichniss der Fabriken aufstellen sollen; dieses Ver-
zeichniss ist der Gewerbeinspektion zur Durchsicht und
Berichtigung einzureichen, und erst aut Grund des berich-
tigten Verzeichnisses ist die Vertheilung der Zählformulare
für den 1. Mai vorzunehmen. Jedoch führte auch diese
Massnahme noch nicht zu einwandsfreien Ergebnissen. In
der „Vorbemerkung“ zu den Jahresberichten der sächsischen
Gewerbeinspektion für 1888 heisst es nämlich, dass auch bei
dem Berichtigungsverfahren noch „seitens der Gewerbe-
inspektionen verschiedene Grundsätze eingehalten“ worden
seien. Man habe deshalb zu einer Massregel gegriffen, die
sich in der umgekehrten Richtung bewegte, als die bisher
getroffenen. Man habe gewisse Betriebskategorien (folgt
unter a) bis i) eine Liste) als Nichtfabriken von der Zählung
bezw. Zusammenstellung ausgeschlossen, also die Begriffs-
detinition von der negativen Seite vervollständigt. Die
amtliche „Vorbemerkung“ schliesst: „hierdurch, wie durch
Einhaltung bestimmter Grundsätze bei der Verarbeitung
der Zählergebnisse wurde eine für den Vergleich dieser
Zählergebnisse mit dem künftigen Berichtsjahre möglichst
zuverlässige Unterlage erlangt“, und damit ist die Versuchs-
periode der sächsischen Arbeiterstatistik, deren Lehren
hoffentlich von der neugeschaffenen Reichskommission
für Arbeitsstatistik beachtet werden, abgeschlossen. ;
Vom Jahre 1888 ab dürfen die Resultate der einzigen fort-
laufenden Arbeiterstatistik in Deutschland, eben die sächsi-
schen, sozialstatistisch und sozialpolitisch benutzt werden,
und das geschieht in den nachfolgenden Zeilen unter Ver-
werthung des neuesten, oben zitirten Berichtsbandes:
Beginnen wir mit der Uebersicht der Fabrikanlagen.
Die Zahl derselben betrug:
Davon wurden betrieben
im Jahre
ms-
gesammt
1888
1889
1890
1891
12 931
12 963
13 386
13 706
mit mit
ugendlich.
Aibeitern I
Dampf
5 495 4 571
5 641 4 750
6 042 5 039
6 069 5 222
mit
sonstigen
Motoren
4 784
4 757
4 855
4 980
ohne
Motoren
3 576
3 456
3 492
3 504
Schon diese Tabelle zeigt uns die kapitalistische Ent-
wickelung auf dem Gebiete der Fabrikindustrie mit grosser
Deutlichkeit. Während die Fabrikanlagen überhaupt in
den 4 Jahren nur um ca. 6"/0 Zunahmen, vermehrten sich
die Etablissements mit Dampfbetrieb um 14, diejenigen mit
jugendlichen Arbeitern um 10%, und die Anlagen mit sonsti-
gen Motoren blieben entsprechend in der Vermehrung zu-
rück, während sich diejenigen ohne Motoren sogar ver-
minderten. Dem entspricht die ziffermässige Entwicklung
der verschiedenen, in den sächsischen Fabriken beschäf-
tigten Arbeiterkategorien. Dieselbe giebt für die Jahre
1888 bis 1891 folgendes Bild:
Jahr
Erwachsene
Arbeiter
Jugendliche
Arbeiter
Kindliche
Arbeiter
mann- j
lieh |
weih- zusam-
lich men
m ä n n - !
lieh |
weih- zusam-
lich men
männ-
lich
weib-
1 lieh
zusam-
men
1888
191 434
92 134 283 568
15141
1 1 91 1 27 052
6 865
4 144
11 009
1889
204 108
97 878 301 986
15 391
1 1 752 27 143
7 203
4 166
1 1 369
1890
220 706
105 492 326 198
17 344
13 268 30 612
7 846
i 4 602
12 448
1891
222 716
107 756 330 472
17 568
12 833 30 401
6 770
3 898
10 668
Diese Uebersicht lehrt Folgendes: Die Gesammtzahl
aller Arbeiter wuchs in unserer Berichtsperiode von 321 629
auf 371 541 Köpfe, also um rund 1 5 %. I )iese t lesammt-
zunahme vertheilt sich aber durchaus nicht gleichmässig
auf alle Arbeiter kategorien. Bei den einzelnen Klassen
fanden vielmehr die mannigfaltigsten Verschiebungen statt.
Am stärksten nahm die Ziffer der erwachsenen weiblichen
Arbeiter zu, nämlich von 1888 auf 1889 um 17 "/n; dann
folgen die erwachsenen und die jugendlichen männlichen
Arbeiter mit einer Vermehrung um 16n/oi die weiblichen
jugendlichen Arbeiter dagegen zeigen insgesammt nur eine
Zunahme um rund 8%, zwischen den Jahren 1890 und 1891
sogar eine kleine Abnahme, und die kindlichen Arbeiter
verminderten sich, nachdem sie bis 1890 eine 13prozentige
Vermehrung aufzuweisen hatten, im Laufe des Krisenjahres
1891 sogar unter ihren Stand von 1888. Man könnte in den
letztgenannten Ziffern, wenn sie nicht hauptsächlich eine
Wirkung der Produktionsstockung und der antizipirten
Anpassung an die neuen Vorschriften der Gewerbeordnung
wären, vielleicht gesunde Symptome erblicken. Aber
Zweierlei belehrt uns eines Anderen: die ganz anormale
Zunahme der Beschäftigung weiblicher erwachsener Ar-
beiter, die der Bericht für 1891 an verschiedenen Stellen
ausdrücklich mit der kapitalistischen, schonungslos über das
Familienleben hinwegschreitenden Rücksicht auf die grössere
Billigkeit dieser Kräfte erklärt, und weiter die Sprache der
Statistik, wenn man sie in die einzelnen Industriezweige
hinein verfolgt. An dieser Stelle können nicht sämmtliche
Gewerbegruppen Sachsens in der Entwickelung ihrer Ar-
beiterbevölkerung vorgeführt werden; wir greifen deshalb
die industriell am meisten entwickelten und die durch ihre .
Arbeiterzahl numerisch überwiegenden heraus, indem wir ,
ihre Ziffern aus den neuesten und früheren Berichtsbänden
herausschälen. An der Spitze steht die Textilindustrie. ;
Dieselbe beschäftigte: ,
im
Erwachsene
Arbeiter
J ugendliche
Arbeiter
Kindliche
Arbeiter
Jahre
mann- weib- zusam-
lich lieh | men
mä n n-
lich
weib-
lich
zusam-
men
männ- weib- zusara- f
lieh , lieh men >, ■
i
1888
53 218 59 160 112 370
4 778
8 171
12 949
■1 !
2 998 2 764 5 762 j
1889
60 696 68 120 128 816
4 840
8 452
13 292
2 782 2 499 5 281 <
6
\
Hier kommt noch eine ähnliche Erscheinung zum |
Durchbruch, wie in der Hauptübersicht. Ein Nachlassen
der Kinderarbeit und eine relativ geringe Zunahme der
jugendlichen Arbeit, welches ebenfalls aut die ausschliess-
liche Rechnung des Krisenjahres 1890 zu setzen ist Aber
eine Zusatzziffer zeigt bereits, dass die Ausnutzung jugend-
licher Arbeitskräfte daneben doch in die Breite ging. Die
Zunahme der Anlagen mit jugendlichen Arbeitern von 1732
im Jahre 1888 auf 1852 im Jahre 1891, und die Abnahme der
Textiletablissements ohne Motoren von 546 auf 492. Ausser-
dem schreitet die Exploitation der Frau unaufhaltsam vor-
wärts. Das weibliche Geschlecht stellt 1888 erst 52, 1891
trotz der Krise bereits 53 Prozent aller erwachsenen Ar-
beiter, aber noch tiefer in die kapitalistische Entwicklung
lassen folgende Zahlenreihen blicken. In der sächsischen
Industrie der Maschinen und Werkzeuge wurden gezählt
Arbeiter:
im Jahre
Erwachsene
männl. weibl.
Jugendliche
männl. weibl
Kindliche
männl. weibl.
1888
33 127 907
2 524 128
224 26
1890
41 414 1 236
3 741 189
367 1 43
1891
38 929 1 335
3 734 169
308 22
1
Hier hat gerade im Krisenjahre die Exploitation der
Frau diejenige des Mannes geschlagen. Das Heer der
männlichen erwachsenen Kräfte wurde vermindert, das-
No. 15.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
160
jenige der weiblichen vermehrt, und dies in der Maschinen-
industrie mit ihren schweren Verrichtungen. Freilich
. zeigen die Zahlen von 1888 und 1890, dass die schweren
Verrichtungen nicht einmal das Vordringen der Kinder-
j arbeit hindere. Die Maschine hilft eben nach, und die
j »Billigkeit« geht über Alles. Und noch ausgesprochener
weisen folgende Gewerbegruppen die Heranziehung jugend-
licher, sowie erwachsener weiblicher Kräfte aui Unkosten
der erwachsenen männlichen auf:
Mepall v era r b e i tu n g
im Jahre
Erwachs.
männl.
Arbeiter
weibl.
J ugendl.
männl.
Arbeiter
weibl
Kindl.
männl.
Arbeiter
weibl.
1888
12 930
1 635
1 411
242
432
43
1891
15 035
2 408
1 890
380
483
71
Papier- u n
d L e d e r i n d u s t r
ie:
1888
14 970
6 177
931
602
412
159
1891
16615
6 966
1 075
664
459
161
Holz-
und Sc
hnitzstoffindustrie:
1888
12 875
1 764
965
198
421
103
1891
17 990
2 232
1 207
235
596
120
Be
k 1 e i d u n g und R e i n i g u r
g:
1888
5 540
8 054
239
1 161
255
341
1891
7 173
10 308
399
1 442
309
429
Gewiss diese Gruppen sind herausgesucht, und es
fehlt daneben der kleine Rest derjenigen in welchen sich
die kapitalistische Entwicklung entweder überhaupt noch
weniger ‘ausgesprochen äussert, oder deren Natur vorläufig
die Verwendung billiger Kräfte verbietet, oder bei denen
das Krisenjahr wirksam mit der »billigen« Arbeit aufräumte.
Aber es war einmal nothwendig, die Kehrseite besonders
stark zu beleuchten, nachdem mit den grossen, verallge-
meinerten Ziffern der Frauen- und Kinderbeschäftigung aus
den Berichten der sächsischen Fabrikinspektoren schon so
oft schönfärberischer Missbrauch getrieben worden ist und
sicher auch jetzt wieder getrieben werden wird, da sich
eine kleine Abnahme der Frauen- und Kinderausnutzung,
aber lediglich gegen 1890 und lediglich in vereinzelten Ge-
werbegruppen zeigt. Demgegenüber kann der kapitalistische
Zug der sächsischen Industrieentwicklung in den Haupt-
branchen nicht entschieden genug betont werden an der
Hand der Einzelheiten aus den neuesten Inspektoren-
berichten und ihrer in Deutschland einzig dastehenden
Arbeiterstatistik.
Vielleicht trägt die häufigere Hervorhebung des Vor-
sprungs, den das Königreich Sachsen in Sachen dieser
: Sozialstatistik vor allen anderen deutschen Staaten hat,
doch nach und nach dazu bei, ein lebhafteres Gefühl der
Beschämung und die noth wendigen Folgen desselben an
denjenigen Stellen hervorzurufen, die es angeht. Alle
sonstigen deutschen Inspektionsberichte ohne fortlaufende
Arbeiterstatistik sind bedauerliches Stückwerk.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Soziale Wirtschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
haft erscheinen, ob auch diejenigen Arbeitgeber verpflichtet
sind, der Ortspolizeibehörde eine schriftliche Anzeige über
die Beschäftigung von Arbeiterinnen über 16 Jahre zu er-
statten, welche bereits vor dem 1. April 1892 solche Ar-
beiterinnen in Fabriken und die gleichstehenden Anlagen
(§§ 154 Absatz 2 und 154 a) beschäftigt haben. Hiervon ab-
gesehen, bezieht sich aber auch diese Verpflichtung ledig-
lich auf die Mittheilung, dass Arbeiterinnen überhaupt be-
schäftigt werden, dagegen nicht auf die Angabe ihrer Zahl.
Für die Durchführung des Gesetzes und die Beurtheilung
seiner Wirkung dürfte indessen die Kenntniss dieser Zahlen
unerlässlich sein. Einen besonderen Werth würden dieselben
erhalten, wenn dabei die minderjährigen und die gross-
jährigen Arbeiterinnen unterschieden würden. Hiernach
wird es sich, wie eine dem Bundesrath zugegangene Denk-
schrift ausführt, empfehlen, zum Zweck der Ermittelung
dieser Zahlen von der im § 139b Absatz 5 der Novelle vor-
gesehenen Bestimmung Gebrauch zu machen, wonach die
Arbeitgeber verpflichtet sind, der Polizeibehörde diejenigen
statistischen Mittheilungen über die Verhältnisse ihrer Ar-
beiter zu machen, welche vom Bundesrath oder von der
Landeszentralbehörde unter Festsetzung der dabei zu beob-
achtenden Fristen und Formen vorgeschrieben werden.
Die hier in Frage stehenden Ermittelungen werden ihrem
Zweck gemäss für das ganze Reichsgebiet angestellt werden
müssen. Es ist deshalb soeben dem Bundesrath der Ent-
wurf einer Verordnung, betreffend die Verpflichtung der
Arbeitgeber zur Mittheilung der Zahl der in Fabriken und
diesen gleichstehenden Anlagen am 1. April 1892 beschäf-
tigten Arbeiterinnen, zur schleunigen Beschlussfassung zu-
»■egangen.
o o o
Maschinelle Vervollkommnung in Folge von Lohnbewe-
gungen. Eine der interessantesten Stellen in dem soeben er-
schienenen Jahresberichte der Königlich sächsischen Gewerbe-
inspektion für 1891 ist folgende Mittheilung des Aufsichtsbeamten
für den Bezirk Leipzig, die den unmittelbaren Einfluss der
Lohnbewegungen vielleicht etwas überschätzt, im Fiebrigen aber
ein anschauliches Bild der in Folge vervollkommneter Technik
sich zuspitzenden industriellen Gegensätze bietet. Sie lautet
(S.88a.a.O.):„ Die fortwährende Beunruhigung der Industrie durch
Lohnbewegungen in neuerer Zeit, wo der Geschäftsgang ein
unbefriedigender ist, zwingt die Arbeitgeber, ihre Interessen
thunlichst gemeinsam nach allen Seiten hin zu wahren, wodurch
sich aber die Gegensätze zum Nachtheil der Arbeiter in bekla-
genswerther Weise verschärfen. Man darf sich nicht wundern,
wenn der Unternehmer sein Augenmerk auf die Beschaffung
von Einrichtungen lenkt, welche ihn in die Lage bringen, der
drückend werdenden Begehrlichkeit und Massregelung durch
die Arbeiterschaft möglichst entgegen zu treten. In dieser Be-
ziehung sind als neue Erscheinung die automatisch arbeitenden
Spezialmaschinen einer Maschinenfabrik zu erwähnen, von denen
eine ganze Reihe bei fortwährendem Gange nur von einer Per-
son bedient zu werden braucht. Weiter hat sich der Besitzer
einer Feilenhauerei in Folge der wiederholten Ausstände der
Feilenhauer veranlasst gesehen, eine nur von einem Tagelöhner
bediente Feilenhau-Maschine zu beschaffen, welche die Arbeit
von vier bis sechs gelernten Feilenhauern ersetzt und dabei
angeblich noch sorgfältiger arbeitet, als es mit der Hand möglich
ist. Es wird beabsichtigt, noch mehr dergleichen Maschinen in
Betrieb zu setzen, um auf diese Weise noch mehr gelernte Ar-
beiter entbehrlich zu machen. Hierbei ist hervorzuheben, dass
sich die in der fraglichen Feilenhauerei unausgesetzt beschäf-
tigten Schleifer und Schmiede niemals dem Vorgehen der Feilen-
hauer angeschlossen haben. In einer grösseren Maschinenfabrik,
deren Arbeiterstand rund 600 Köpfe zählt und in welcher sich
der höchste Jahresverdienst der Arbeiter auf 1600 bis 1800 M.,
der Durchschnittsverdienst eines Arbeiters aber auf 38 Pf. für
die Stunde stellt, erklärten die Schmiede, nicht mehr im Akkord,
sondern nur im Tagelohn mit einem Lohnsatz von 60 Pf. für die
Stunde arbeiten zu wollen. Die nicht erfüllbare Forderung hatte
zur Folge, dass die bisher in der Fabrik geschmiedeten Arbeits-
stücke zum grössten Theil von auswärtigen Stahlschmiedereien
bezogen würden, welche die Gewichtseinheit des verarbeiteten
Stahles bei gleicher Güte der Arbeit nahezu zu demselben Preise
abgeben, zu welchem sich bisher der Bezug des zu verarbeitenden
Stahles gestellt hat.“ Der richtige Kapitalist wird hierzu sagen:
merkwürdig genug, dass der betreffende Unternehmer erst durch
die Lohnbewegung auf den neuen Vortheil in der Produktion
aufmerksam wurde. Die Produktionsverschiebung zuungunsten
der Arbeiter hätte sich über Kurz oder Lang doch ohnedies
vollzogen.
Statistik der in deutschen Fabriken beschäftigten Ar-
beiterinnen. Auf einem merkwürdigen Umwege will man
i jetzt im Deutschen Reiche zum Bruchtheil einer Arbeiter-
statistik kommen. Der Wortlaut des § 138 Absatz I der
( u:\verbeordnungsnovelle vom I. |uni 1891 lässt es zweitel-
190
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 15.
Arbeiterzustände.
Die Kinderarbeit in der russischen Fabrikindustrie.
Es ist den Lesern des Sozialpolitischen (_ entralblattes
(vergl. No. 6 S. 83 ff.) bekannt, dass auch die russische Fabrik-
gesetzgebung von dem Schutze der Kinderarbeit ausge-
gangen ist. In den barbarischen Zuständen einer sich
selbst überlassenen Industrie war die Regelung der Zustände
erwachsener Arbeiter eine Sisyphusarbeit, welche bei dei
enormen Ausdehnung des Reiches und dem Mangel an
statistischen Angaben fast nicht zu ermessen war. Man
überliess also zunächst die erwachsenen Arbeiter ihrem frühe-
ren Schicksale, und beschränkte sich darauf, das heran-
wachsende Geschlecht vor übermässiger Ausbeutung in
den ersten zwölf Lebensjahren zu schützen.
Das Gesetz betreffend die Arbeit Minderjähriger, wel-
ches schon im Jahre 1882 erlassen worden war, wurde jedoch
bis zu seiner Vervollständigung im Jahrs 1884 kaum be-
achtet, ja es blieb fast unbekannt. Die meisten L nter-
nehmer erklärten den Fabrikinspektoren, dass sie allerdings
ein gedrucktes Exemplar des Gesetzes über die Arbeit der
Minderjährigen erhalten haben, aber sie hätten immer darauf
gewartet, dass man es erkläre und vervollständige. Die L n-
vollständigkeit des Gesetzes benutzend , Hessen sie die
Kinder, gleich den Erwachsenen 12—15 Stunden lang
arbeiten, und beachteten das vorgeschriebene Alter bei der
Annahme ihrer kleinen Arbeiter nicht. Ja manche, sagt
der Fabrikinspektor des Moskauer Kreises (Prof. Janschul),
haben sich sogar nicht die Mühe gegeben, das Schriftstück
zu lesen und sich irgend welche Meinung darüber zu bilden.
Die fernere Nichtbeachtung des Gesetzes wurde durch die
Aufsicht der Fabrikinspektion unmöglich gemacht. Die
Arbeit der Kinder wurde auf 8 oder sogar 6 Stunden redu-
zirt und Kinder unter zwölf Jahren entlassen. Nur ganz
ausnahmsweise durften Kinder im Alter von 10 — 12 Jahren,
die schon in der Fabrik thätig waren, als das Gesetz er-
schien, ihre Arbeit fortsetzen, die Annahme anderer in
diesem Alter stehender Kinder war nunmehr untersagt
Allerdings sucht man auf jede Weise, insbesondere durch
Fälschung der Geburtszeugnisse der Strenge des Gesetzes
sich zu entziehen. Die Inspektion klagt oft vergebens, dass
zu junge Kinder zur Arbeit herangezogen werden. Eine
Abhülfe ist hier schwer möglich, da die Eltern selbst um
die Annahme ihrer Kinder flehen und irrige Angaben über
ihr Alter machen.
Die Zahl der in der Fabrikindustrie arbeitenden
Kinder ist nicht bekannt, da die Berichte der Fabrikinspek-
toren nur bis in das Jahr 1886 reichen und bis dahin nur
18,9 70 aller Betriebe von der Fabrikinspektion untersucht
werden konnten. Da die Fabrikinspektion in Russland ihre
Aufmerksamkeit in erster Linie den grössten Betrieben zu-
wandte, besitzen wir dennochAngaben über 486370 Arbeiter ’).
Von diesen waren minderjährige, also Arbeiter bis zum
17. fahre, 26 896 oder 5,53%.
Der Zahl nach wäre also die Arbeit der Kinder (von
12resp. 10 — I5jahren) und junger Leute (von 15 17Jahren)
verhältnissmässig geringer vertreten, als in anderen Ländern,
jedoch ist die angeführte Zahl, die dem Berichte des
Hauptinspektors entnommen ist, eine so niedrige, weil es
sich nur um grosse Betriebe dabei handelt. Die Anwendung
des Gesetzes hat sehr viele Industrielle veranlasst, auf die
Arbeit der Kinder zu verzichten. Da das Gesetz zur Zeit
eines Rückganges in der Textilindustrie eingeführt wurde,
konnten die Industriellen einen Theil ihrer Arbeiter leicht
entbehren. Ueberdies galten, wie schon erwähnt, die ersten
Besuche der Fabrikinspektoren den grössten Betrieben, und
in diesen ist die verhältnissmässige Zahl der arbeitenden
Kinder geringer, als in den mittleren und kleineren Be-
trieben. Die grösste Verwendung der Kinderarbeit findet
nicht in der Fabrikindustrie, sondern im Handwerk und der
Kleinindustrie statt, also in denjenigen Zweigen über die
i) Nach Ürlow betrug; die Zahl der Fabrikarbeiter in Russ-
land 1 1884i 826 794, im Königreich Polen 139 652.
I man für Russland keine allgemeinen Angaben besitzt. Der
Unterschied in der Verwendung der Kinderarbeit in den
grossen Fabriken und den kleineren Betrieben erhellt schon
aus dem Umstande, dass im Moskauer Kreise in den 450
| von Prof. Janschul besuchten grössten Betrieben dies
I Verhältnis der Minderjährigen zur Gesammtarbeiterzahl
I sich wie 3,2 zu Hundert stellte, während in den kleineren
(vom Gehilfen des Fabrikinspektors besuchten) 5,3 /,,
Minderjährige sich befanden. Die \ erminderung der Zahl
der arbeitenden Kinder nach der Einführung des Gesetzes
vom fahre 1882 konstatiren die Berichte aus allen Kreisen.
So waren in der Textilindustrie des Moskauei Kreises im
Jahre 1882/83 9,6 "/0 Minderjährige, im Jahre 1885, 7 Monate
nachdem die Beachtung des Gesetzes durchgesetzt worden
war, nur 2,3 %. In 25 Spinnereien des Warschauer Kreises
wurden die Kinder vollständig entlassen, von ^en
15 Webereien desselben Kreises entliessen 9 alle Kinder.
Der Bericht des Hauptinspektors spricht es direkt aus, dass
die Zahl der Kinder in den ersten Monaten des Jahres 1885
sich auf den dritten Theil der früheren Zahl reduzirte Aut
diese Weise hätte also das Gesetz die Kinderarbeit nicht
blos beschränkt, sondern beinahe beseitigt, was keineswegs
beabsichtigt war.
Diese Erscheinung war jedoch nur eine momentane.
Spätere Nachrichten lauten, dass die Kinder wieder im er-
höhten Maasse zur Fabrikarbeit verwendet wurden, dass
sich die Industriellen den Bestimmungen über die verminderte
Stundenzahl angepasst haben. Die Arbeit der Kinder be-
trägt also 8 Stunden .mit einer Unterbrechung, oder
6 Stunden ohne Pausen. Letzterer Modus hat sich für die
Kinder viel praktischer erwiesen, da der ganze Nachmittag
für die Schule und Schularbeit frei bleibt. Daneben er-
laubt die ununterbrochene Arbeit keine Missbräuche,
während bei der achtstündigen Arbeitszeit diese sich aut :
den ganzen l ag von 5 Uhr früh bis aut 7 Uhr Abends aus-
dehnen Hess. Die Methode besteht darin, dass man die Zahl ^
von 8 Stunden in vier Arbeitszeiten von je 2 Stunden
theilt, und auf diese Weise die Kinder den ganzen Tag in
der Fabrik behält.
Abgesehen von solchen Ausschreitungen, die von der
Fabrikinspektion nicht übersehen werden, hat das Gesetz
über die Kinderarbeit die besten Folgen nach sich gezogen. '
Die Löhne der Minderjährigen sind um nicht mehr als 1
'/•< gefallen; dort wo Stücklohn eingeführt ist, verdienen .
die Kinder nicht weniger als die jungen Leute. In den
Fabriken, wo der Frage der Kinderarbeit eine grössere j
Aufmerksamkeit gewidmet wurde, also z. B. in der Lein-
wandfabrik Zyrardow in der Nähe von V arschau und in
der Maschinenfabrik Struve in Südosten der Provinz Moskau
wurde statistisch nachgewiesen, dass die \ erkürzung der
Arbeitszeit fast keine Verminderung der Leistungen herbei-
geführt hat. Bei Struve, wo Stücklohn gezahlt wird, erwies
sich, dass beim Vergleich desselben Monats, in Jahren vor
und nach der Einführung des Gesetzes die Lohnsummen,
also auch die Leistungen gleich waren. In Zyrardow hei
der Lohn nur um 20 %. Der Erwerb der Kinder, der heute
in den meisten Arbeiterfamilien nicht zu entbehren wäre,
ist daher beinahe derselbe geblieben, und die Gesundheit
der Kinder dabei einigermassen geschont worden.
Die allergrösste Zahl der Kinder, absolut gerechnet,
ist in der Textilindustrie thätig, im Verhältnisse aber zu
der in einem Industriezweige überhaupt beschäftigten
Arbeiterzahl variirt die Zahl der Kinder je nach der in
dem betreffenden Fabrikinspektionskreise herrschenden Sitte.
So war im Kreise Wilno die Beschäftigung von Kindern
am Häufigsten in der Zündholz-1) und Holzindustrie (27
und 25%). Im Moskauer Kreise in den Glas-, Möbel-,
Tabak- und Tapetenfabriken. Dort jedoch, wo die Industrie
sich ähnlich wie im Westen entwickelt, absorbirt die Textil-
industrie die Hauptmasse der Kinderkräfte, so waren im
Warschauer Kreise 80,7% aller Kinder in der Textilindustrie
i) Jetzt ist die Kinderarbeit in dieser Industrie verboten
der Bericht für den Kreis Wilno ist vom Jahre 1886.
No. 15.
SOZI Al ,l'OI ITISC1 u:s CENTRALK1 ,A TT.
191
thätig (9,2 °/n der in dieser Industrie beschäftigten Er-
wachsenen).
Nach den Angaben des Hauptinspektors vertheilten
sich die im fahre 1886 beobachteten 26 896 Kinder in
folgender Weise auf die einzelnen Produktionszweige:
Textilindustrie 14828 5,1 % aller Arbeiter
Bearbeitung von Holz ... • . 482 4,6 % » v
Metallindustrie . . . ... . 1 54J 3,6% „ „
Industrie der mineralischen Produkte 3 587 10 2'’/o » »
Industrie der Nahrungs- und Genuss-
mittel 4 584 5,5 "/n „ „
Industrie der animalischen Produkte 258 2,3n(] „ „
Uebrige Industrien ...... 1616 14,1% „ „
Von den 4897 von den Fabrikinspektoren besuchten
Betrieben haben nur 1976 Kinder beschäftigt Im Durch-
schnitte entfielen Minderjährige auf eine Fabrik:
In der Textilindustrie 29%
Industrie der Mineralien ■ 18%
Industrie der Nahrungs- und Genussmittel 1 1 %
Holzindustrie 7,6%
Metallindustrie ■ • 7 %
Uebrige Industrien .... 5%
Wenn diese Ziffern sich auch in den letzten 6 Jahren
geändert haben können, so behalten sie doch ihre relative
Gültigkeit.
Bei der Beschränkung der Stundenzahl für die Arbeit
der Minderjährigen waren Rücksichten aut Gesundheit und
Schulbesuch bestimmend. Es ist den Fabrikbesitzern zur
Pflicht gemacht worden, entweder selbst Schulen zu gründen
oder für die schulmässige Ausbildung der Minderjährigen
in anderer Weise zu sorgen. Fabrikschulen sind allerdings
eine seltene Erscheinung und der schon erwähnte Betrieb
Zyrardow, in dem bei einer Arbeiterzahl von circa 12 000,
8 Schulen bestehen, wird von den Fabrikinspektoren als
ein seltener Fall zitirt. Die städtischen Schulen wurden
bis zur Einführung des Gesetzes nur von wenig minder-
jährigen Fabrikarbeitern besucht und sogar die niedrigen
Anforderungen des Gesetzes: lesen und schreiben zu können,
oder das Vorweisen eines Zeugnisses einer einklassigen
Normalschule, werden nur von einem kleinen Theil erfüllt.
Von den ca. 15 000 Kindern, welche bis zum Jahre 1886 von
der Fabrikinspektion geprüft wurden, konnten nur 34,4%
lesen und schreiben und von diesen hatten nur 9,4 % Schul-
zeugnisse.
Die meisten Analphabeten sind unter den in Fabriken
beschäftigten Bauernkindern zu suchen, die wenigsten
dort, w'O das nicht-russische Element überwiegt und der
Stand der Bildung ein weit höherer ist als im übrigen
Russland.
Ueberhaupt darf man von der Fabrikinspektion eine
weitgehende Regelung der Kinderarbeit erwarten, weil die
Vorschriften des Gesetzes streng zur Durchführung gebracht
werden. So wurden z. B. in der Provinz Czernigow
600 Kinder aus den Zündholzfabriken entlassen, als das
Gesetz die Kinderarbeit in diesem Fabrikationszweige ver-
bot. Auch ist hier das Eingreifen viel leichter, weil es
weniger Widerstand hervorruft wie die Regelung der Arbeit
Erwachsener.
Warschau. Sophie Daszynska.
Zu Vertretern cles Bundesraths in der Kommission für
Arbeiterstatistik sind folgende Beamte gewählt worden: Der
Ministerialdirektor im preussischen Ministerium für Handel und
Gewerbe Loh mann, der Regierungsrath im bayerischen Mi-
nisterium des Innern und Vorstand des K. Statistischen Bureaus in
München Rasp, der Regierungsrath im sächsichen Ministerium
des Innern Morgenstern, der Ober-Regierungsrath im württem-
bergischen Ministerium des Innern v. Schicker und der badi-
sche Regierungsrath Dr. Wörishoffer, Vorstand der badischen
Fabrikinspektion
Arbeitslöhne in der preussischen Staatseisenbahuver-
waltung. Nach einer der Rechnungskommission des Abge-
ordnetenhauses mitgetheilten Uebersicht über die Erhöhung
der Durchschnittslöhne der Arbeiter der Staatseisenbahn-
verwaltung von 1885/86 bis 1890/91 ergeben sich folgende
Erhöhungen des täglichen Lohnsatzes innerhalb des genann-
ten Zeitraums von 5 Jahren: Hilfsbilletdrucker von 2,35 auf
2,60 M., Hilfsbureau- und Hilfskassendiener von 2,30 auf
2,51 M., Hilfstelegraphisten von 2,14 auf 2,38 M., Frauen im
Telegraphendienste von 2,74 auf 3,04 M., Hilfsrangirmeister
von 2,25 auf 2,29 M., Hilfswagenmeister von 2,54 auf 2,86 M ,
Hilfsweichensteller von 1,93 auf 2,18 M., Hilfskrahnmeister
von 3,19 auf 3,60 M., Hilfsportiers und Hilfsbilletschaffner
von 1,98 auf 2,32 M., Hilf.sbahnwärter von 1,72 auf 1,78 M.
und von 2,63 auf 3,25 M., Wegeschrankenwärterinnen
von 0,56 auf 0,73 M., Hilfsnachtwächter von 1,76 auf
2,00 M., Hilfslademeister von 2,22 auf 2,55 M., Hilfsheizer
von 2,19 auf 2,33 M., Hilfsmaschinenwärter von 2,27 aut
2.57 M., Hilfsbremser von 1,68 auf 1,83 M., Hilfsmagazin-
aufseher von 2,29 auf 2,70 M., Arbeiter der Allgemeinen
Verwaltung von 2,13 auf 2,32 M., Bahnhofsarbeiter von 1,81
auf 1,99 M., Kohlenlader von 2,15 auf 2,54 M., Rangirarbeiter
von 2,08 auf 2,33 M., Güterbodenarbeiter von 2,01 auf 2,19 M.,
Gepäckträger von 0,99 auf 1,15 M., Wagenputzer von 1,89
auf 2,19 M.j Magazinarbeiter von 2,16 auf 2,31 M., Scheuer-
frauen von 1,31 auf 1,58 M., Bahnunterhaltungsarbeiter von
1.58 auf 1,87 M., Werkstättenarbeiter von 2,58 auf 3,38 M.
Dagegen ist der tägliche Durchschnittslohn der Wasser-
pumper für den oben genannten Zeitraum von 1,76 auf
1,73 M. und der Hilfsbrückenwärter von 2,31 auf 2,30 M.
zurückgegangen.
Die Niedrigkeit dieser Lohnsätze ist in die Augen
springend. Sie würde noch augenfälliger sein, wenn das
Gesammtbild der Lage der Arbeiter in der Staatseisen-
bahnverwaltung vor Augen getiihrt werden könnte: Ar-
beitszeit, Arbeitspausen, Üeberarbeit, Nachtarbeit, häufiges
Schlafen und Essen ausser Hause, militärische Disziplin,
Unmöglichkeit der gewerkschaftlichen Organisation u. dgl.
Und all’ diesen Nachtheilen steht nur bei einem sehr kleinen
Bruchtheile dieser Arbeiter die Aussicht auf kärgliche Pen-
sion gegenüber.
Zur Lage (1er Eisenbahnbeiliensteten in den Ver-
einigten Staaten. 60 Eisenbahngesellschaften beschäftigen
circa 241 000 Personen, von denen 17 330 im Akkord-, die
anderen im Monats- und Taglohne stehen. Letztere arbeiten
im Durchschnitte nur 147 Tage im Jahre. Unter einem
Dollar im Tage verdienen 16271 (7,22%), 1 — 2 Dollar 177 351
(78,987 ), 2—3 Dollars 35 892 (11,54%), 3—4 Dollars 4 265
(1,91%), 4—5 Dollars 674 (0,3%,), 5—9,60 Dollars 157 Per-
sonen (0,05 %).
Statistische Erhebungen aus dem Steinmetzgewerbe
von Dresden und Umgebung Seit einer Reihe von Jahren
nehmen die Steinmetzen von Dresden und Umgebung
statistische Erhebungen vor. Die letzte Erhebung wurde
im Oktober 1891 für das dem 30. September 1891 voran-
gegangene Jahr veröffentlicht. Dem „Bauhandwerker“ ent-
nehmen wir hierüber die folgenden Angaben:
Die im Oktober 1891 ausgegebenen statistischen Frage-
bogen sind von 356 Mann benützt worden. (1889 wurden
dieselben von 376 Mann und 1890 von 438 Mann benützt.)
Von obigen 356 Mann sind 234 Mann verheirathet und 122
Mann unverheirathet. 305 Mann gehören dem Verein der
Steinmetzen und Berufsgenossen von Dresden und Um-
gegend an; es fehlen 51, davon sind 43 minderjährig.
58 Mann sind nicht Mitglieder des Verbandes der deutschen
Steinmetzen.
Das Durchschnittsalter der Steinmetzen war für die drei
Jahre 1889—1891 berechnet 29 Jahre 10 Monate 12 Tage.
Im Jahre 1891 standen im Alter
bis zu 20 Jahren
40
Mann oder
1 1,23 %
von 20 — 25
j)
76
5) 55
21,67 %
„ 25—30
))
81
55
22,75 %
19,10%
9,55%
„ 30—35
68
55 55
„ 35—40
5)
34
55 55
„ 40—45
29
55 55
8,14 %
„ 45 50
55
17
55 55
4,75 %
,, über 50
55
11
55 ’5
3 %
älteste Steinmetze
war 57 Jahre
alt.
Entsprechend seiner kurzen Lebensdauer kann ein
Steinmetz auch nur wenige Jahre seinem Berufe nach-
gehen. Die Krankheits- und Sterbestatistik beweist, dass
die Mehrzahl der Steinmetzen 3, 4 bis 5 Jahre langsam an
der Berufskrankheit, der Lungenschwindsucht, dahin siechen
und in der letzten Zeit ihres Lebens ihrem Berufe bei
weitem nicht vollständig genügen können.
337 Mann haben angegeben, wie lange sie in ihrem
Berufe thätig sind.
192
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 15.
Die Aufzeichnungen
ergeben,
dass gegenwärtig in
hrem Berufe thätig sind:
Bis zu 5 fahren
48 Mann
oder 14,25%
„ „ 10 ‘ „
87
.. 25,80%
.. „15 .,
74
•• 22,-%
., „ 20 „
70
.. 20,80%
„ „ 25 „
25
7,45 %
„ „ 30 „
24
„ 0,15%
Ueber 30—36 ,.
9
2, o/o.
Arbeiterzustände in Ziegeleien.
Dass die soziale Lage
der Ziegeleiarbeiter eine ganz besonders schlimme und schutz-
bedürftige ist, bestätigen wieder die neuesten, an anderer Stelle
dieses Blattes ausführlich zitirten Berichte der sächsischen Ge-
werbeinspektoren, sowie die „Jahresberichte der Kgl. Bayerischen
Fabrikeninspektoren für das Jahr 1891" (München, lh. Acker-
mann) So schreibt der Aufsichtsbeamte des Bezirkes Dresden :
„Durch Aufnahme der Ziegeleien in die Klasse der gewerblichen
Anlagen, auf welche in Zukunft die Bestimmungen über die
Beschäftigung der jugendlichen Arbeiter Anwendung finden
sollen, wird einem für die Dauer unhaltbaren Zustande ein Ende
gemacht. Verschiedene Gerichte haben es bisher abgelehnt, die
fraglichen Bestimmungen auf die ohne Dampfkraft arbeitenden
Ziegeleien auszudehnen, und doch ist vielleicht in keinem
anderen I n d ust r iez w e ige gegen die gedachten Bestimmungen
so arg gefehlt worden, als gerade in den ohne Damptkraft
arbeitenden Ziegeleien. Tagesschichten oft von Sonnen-
a ufgang bis Sonnenuntergang, selten unter 13 bis 14 Stunden,
unterbrochen durch je eine Pause von 10— 15 Minuten am Vor-
mittag und Nachmittag und eine im günstigsten Falle einstün-
dige Mittagspause sind nichts Seltenes in den Ziegeleien mit
Handbetrieb. Und auf derartige Vorgänge blickten neidisch die
Ziegeleien, die ihre jugendlichen Arbeiter nur 10 Stunden be-
schäftigen durften, weil sie mit Dampfkraft arbeiteten. Für viele
der Handziegeleien dürfte das augenblickliche Darniederliegen
des Geschäftes den Uebergang zu manchen der neueren Be-
stimmungen weniger schwierig machen, als dies bei gutem
Geschäftsgang der Fall wäre." Diese Erfahrung sollte den
Gesetzgebern zeigen, dass man auch allzu zaghaft in der Ein-
beziehung neuer Betriebskategorien unter den Arbeiterschutz
sein kann Wie die Frauenarbeit in den Ziegeleien ausgenutzt
wird, zeigt folgende Notiz desselben Beamten: „In einer Ziegelei
war die Beschäftigungsweise weiblicher Arbeitskräfte zu ver-
bieten. Daselbst befinden sich auf und über dem Ziegelofen
sehr hohe Trockenhorden, in welche die Arbeiterinnen die an-
gefahrenen nassen Ziegel einzusetzen hatten und aus Mangel an
Setztreppen zu den oberen Fächern dergestalt hinaufstiegen,
dass sie die unteren Fächer zweier benachbarter Horden als
Leitersprossen benutzten, während unten Männer und jugend-
liche Arbeiter die frischgepressten Steine anfuhren und hinauf-
reichten.11 Hier wie bei der folgenden Mittheilung des Dresdener
Inspektors ist nicht ersichtlich, ob es sich um Dampf- oder
Handziegeleien handelt: „Bei Revision der Ziegeleien des Bezirks
war mehrfach zu bemerken, dass auf dem Brennofen Steine
gestrichen wurden. Die Besitzer derartiger Anlagen sind auf
das Unstatthafte dieses Gebahrens aufmerksam gemacht und
zur Unterlassung dieser auf dem Ofen stattfindenden Arbeit an-
gehalten worden. Die aus dem Ofen austretenden Gase, welche
zwar eine angenehme Temperaturerhöhung veranlassen, führen
viel Stickluft mit sich, welche stark betäubend und ausserdem
nachtheilig auf die Athmungsorgane wirkt. Auch die LUiter-
kunftsräume für Ziegeleiarbeiter gaben mehrfach zu Anord-
nungen Veranlassung. So bestanden die Schlafräume lippischer
Arbeiter einer Ziegelei aus einem Bretter sc huppen ohne
jedwede Dielung Es war nur eine Strohschicht auf dem
Erdboden ausgebreitet, worauf die Leute Nachts schliefen;
Waschgelegenheiten und Aborte kannte man überhaupt in der
fraglichen Ziegelei nicht. Die bessere Unterbringung der Leute
wurde hier durchgesetzt und die Beschaffung von Abortanlagen,
die den sittlichen Ansprüchen genügen, verlangt. Soll das „hier
durchgesetzt" heissen, dass anderswo nicht der gleiche Erfolg
erzielt werden konnte? Ergänzendes berichtet der Inspektor
des Bezirkes Bautzen: „In einem Falle war die Entfernung einer
Schlafstelle von dem Ziegelofen anzuordnen, in einem anderen
Falle die sofortige Räumung eines mit 16 Arbeitern belegten, in
unmittelbarer Verbindung mit der Ofenoberfläche stehenden und
auch sonst gänzlich ungeeigneten Schlafraumes zu verfügen.“
Soweit sächsische Berichtsstellen aus den neuesten amtlichen
Referaten; stellen wir nunmehr einige Notizen aus dem neuen
Jahresbericht für Bayern zusammen. Von einem krassen Truck-
untug, demUebel, das sich besonders hartnäckig in den Ziegeleien
auch preussischer Bezirke hält, weiss der Fabrikinspektor für
Mittel- und Oberfranken zu erzählen. Erbemerkt (S.80a a.O.u
„Die Wirthschaften, welche auf den in der Nähe der Stadt
Fürth gelegenen Ziegeleien bestehen, und von welchen schon
im vorjährigen Berichte gesprochen wurde, gaben neuerdings
Veranlassung, sich mit ihnen zu beschäftigen ; dort ist, nachdem
im vorigen Jahre die meisten Wirthschaftsinhaber, welche
mit wenigen Ausnahmen gleichzeitig die Ziegelmeister
sind, wegen Abgabe von Speise und Trank gegen Zahlungs-
'marken gestraft worden waren, die Sitte eingerissen, dass den
Arbeitern täglich, so oft sie wünschen, banrer Vorschuss zur
Entnahme von Speise und Trank aus der Wirthschaft verabfolgt
wird. Da nun Wirth und Vorschussgeber eine und dieselbe
Person sind, so ist klar, dass dadurch der Lüderlichkeit jener
Arbeiter, welche zum Trünke geneigt sind, der grösste Vorschub
geleistet wird; Aenderung scheint nur durch Aufhebung der 1
sämmtlichen Wirthschaften auf den einzelnen Ziegeleien er
reichbar; ob dieselbe durchführbar ist, wird die Zukunft lehren.“
Neben der Verleitung zur „Liederlichkeit“ kommt hier doch,
was der Aufsichtsbeamte nicht hervorhebt, vor Allem die Lohn-
schmälerung in Betracht; die wenig zuversichtliche Aeusserung
am Schlüsse der Notiz entspricht der beklagenswerthen Macht-
losigkeit deutscher Inspektoren. Der Beamte für die Pfalz, 1
Lmferfranken und Aschaffenburg theilt mit (S. 100 a a. O ): Jn ]
einer Ziegelei wurde ein 1 1jähriges Mädchen mit Steinetragen
beschäftigt. 1 Damit ist jedenfalls nur ein kleiner Zipfel von der
schändlichen Kinderausnützung aufgehoben, die in den Ziegeleien
betrieben wird. Davon geben folgende weitere Berichtsstellen I
desselben Beamten einen Begriff (S. 101 a. a O. : ..Eine zu bean- I
standende Beschäftigung eines Mädchens fand sich in einer
Ziegelei; dasselbe wurde zur Bedienung der Ringofenfeuerung
stundenlang an Stelle des Brenners verwendet. In 2 Ziegeleien
fanden sich einige Knaben und Mädchen in den Ringöfen mit
Steinzulangen beschäftigt, auf deren Ersetzung durch ältere I
männliche Arbeiter hingewirkt wurde.“ Nach alledem ist zu
wünschen, dass sich die Aufmerksamkeit der Inspektoren wie I
der Geset-geber immer intensiver den Ziegeleien und der Lage j
ihrer Arbeiterbevölkerung zuwendet, bei der rohe Veranlagung |
und verrohende Wirkung der Betriebszustände vorläufig in |
trauriger Wechselwirkung stehen.
Der Notlistaml unter den ostscliweizerischen Stickern.
Einem Aufrufe des Hilfskomitees des Stickereiverbandes ent-
nehmen wir, „dass im Ganzen ca. 3000 Sticker mit 9 - 10 000
Kindern Hilfe beanspruchen. Und in diesen Zahlen sind nur j
die Aermsten der Armen eingeschlossen.“
Wie gross die Noth, mag am besten ein einziger amtlich 1
beglaubigter Sektionsbericht zeigen. Nach diesem Bericht ver-
dienten seit Neujahr 4 Familien mit 22 Personen überhaupt
nichts, 11 Familien mit 59 Personen 15 — 40 Rp. iiff Tag, II Fa-
milien mit 49 Personen 50 Rp., 4 Familien mit 23 Personen 70 Rp..
10 Familien mit 44 Personen 80 Rp. und 7 Familien mit 31 Per-
sonen 90 Rp. im Tag! LTnter diesen Familien finden sich solche
mit 7, 8, 9, eine sogar mit 11 Kindern. „Die eingegangenen :
Frageschema für Einzelsticker entrollen aller Orten ein so
trauriges, so düsteres Bild, dass man sich Vorwürfe machen
muss, der Noth nicht eher gesteuert zu haben. Hunderte klagen?
dass sie wochenlang arbeitslos waren, dass sie keine Lebensmittel1
mehr bekommen, weil sie zu viel schuldig seien, und doch bitten
die hungernden Kleinen täglich um Brod. In einem Sektions-
bericht finden wir in 19 Familien 9 kranke oder kränkliche Per-
sonen. und an einem anderen Ort lesen wir die traurige Klage:
überhaupt habe ich bald keine Kraft mehr zum Sticken. Meh-
rere Wöchnerinnen, darunter eine mit Zwillingen, liegen sozu-j
sagen ohne Pflege im Bett; doch genug hiervon! Es zersprengt;
Einem schier das Herz, wenn man alle die Eingaben durch-t 1
geht.“
Lohn Verhältnisse in (1er ostindischen Eisen- und Stahl-
industrie. Der Ingenieur Cecil Ritter von Schwarz, der
jahrelang in Indien thätig war, hielt im Oesterreichischen
Ingenieur- und Architektenverein einen Vortrag über die
Eisen- und Stahlindustrie Ostindiens, in dem er über die
indischen Arbeiter folgendes mittheilte: „Dieselben sind
schwächlich aber sonst gelehrig, nüchtern und ungemein
billig. Ein gewöhnlicher Tagelöhner kostet ungefähr 30 Pf.
per Tag, eine Frau 20 Pf, ein Junge 10 — 15 Pf., während
jeder Schichtmeister 25 Mk. Monatslohn, einen weissen An-
zug, ein Paar Schuhe und eine rothe Mütze erhält.“
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Ausstands-Versiclierungs-Vereine in Preussen. Die
Minister für Handel und Gewerbe und des Innern haben in
einem vom 14. März d.J. datirten Erlasse an den Oberpräsiden-
ten der Rheinprovinz aus Anlass des Genehmigungsgesuches
des Ausstandsversicherungsvereins der niederrheinisch-west-
fälischen Zechen die grundsätzliche Stellung der Staatsbe-
hörden Ausstandsversicherungsvereinen gegenüber präzisirt.
Wir heben aus diesem bedeutsamen Erlasse Folgendes hervor:
Die staatliche Genehmigung des genannten Versicherungs-
verbandes erscheint so lange nicht unbedenklich, als die Ent-
scheidung über die Anerkennung der Entschädigungsansprüche
lediglich einem Organe des Verbandes überlassen bleibt, um so
mehr als die ursprünglichen Satzungen des Verbandes infolge
der Nachgiebigkeit einer Zeche während des Ausstandes im
No. 15.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
103
Frühjahr 1890 späterhin durch Absatz 4 im Art. 2 eine Ergänzung
gefunden haben, durch welche der Anspruch auf Schaden-
ersatz für den Fall ausgeschlossen wird, dass die Zeche
die Forderungen der Belegschaft, deren Ablehnung den Aus-
stand veranlasste, nachträglich bewilligt oder die Beendi-
gung des Ausstandes durch Massnahmen herbeigeführt, welche
im regelmässigen Betriebe nicht stattgefunden haben würden.
Durch diese Bestimmung soll ein übereinstimmendes Verhalten
der Zechen in der Richtung gesichert werden, dass bei Aus-
ständen die Nachgiebigkeit gegen die Forderungen der Arbeiter
erschwert wird. Haben die Yerhanclsorgane einmal den gegen
den Ausstand geleisteten Widerstand als berechtigt anerkannt,
so sollen die ausständigen Zechen verpflichtet sein, bei ihrem
Widerstand zu beharren und im Falle der Nachgiebigkeit durch
Verlust ihrer Ansprüche auf Schadensersatz für die ganze Aus-
standszeit bestraft werden. Dieses Abkommen befördert also
nicht die Beendigung, sondern die Fortdauer des Ausstandes
und widerspricht zwar nicht dem Wortlaut und Sinne des § 152
Abs. 2 der Gewerbeordnung, wohl aber der Absicht dieser
Gesetzesbestimmung, welche den Rücktritt von solchen
Verabredungen möglichst erleichtern will Die Gefahren
einer solchen Vereinbarung wie überhaupt einer Ausstandsunter-
stützung, deren Eintritt ausschliesslich in das Ermessen der
Yerbandsorgane gestellt wird, mögen von geringerer Bedeutung
sein, wenn es sich um Ausstandsversicherungen der Arbeitgeber
als wenn es sich um Versicherungs- oder Strikekassen der Arbeiter
handelt. Nichtsdestoweniger führt die Nothwendigkeit,
Arbeitgeber und Arbeiter nach gleichen Grundsätzen
zu behandeln, dahin, dass einem Ausstandsversicherungs-
verbande von Arbeitgebern die staatliche Genehmigung nicht
unter Bedingungen ertheilt werden kann, unter denen einem
gleichartigen Vereine von Arbeitern diese Genehmigung würde
versagt werden müssen.
Die staatliche Genehmigung von Ausstandsversicherungs-
kassen ist gleichmässig gegenüber Arbeitgebern und Arbeitern
an folgende Bedingungen zu knüpfen:
a) Die Satzungen müssen Fürsorge treffen, dass Entschä-
digungen oder Unterstützungen nur an solche Theilnehmer ge-
zahlt werden, welche nachweisen, dass sie über die Streitig-
keiten, durch welche der Ausstand veranlasst worden ist, ein
Einigungsverfahren vor dem zuständigen Gewerbegericht bean-
tragt haben, dieses Verfahren aber infolge der Weigerung des
Gegners nicht zu Stande gekommen ist oder ohne Verschulden
des den Anspruch Erhebenden zur Beilegung des Strikes nicht
geführt hat. In Fällen, in denen ein zuständiges Gewerbegericht
nicht vorhanden ist, muss der Nachweis geführt werden, dass
der Versuch, ein Einigungsverfahren auf einem anderen, näher
zu bezeichnenden Wege herbeizuführen, gemacht worden und
ohne Verschulden des den Anspruch Erhebenden erfolglos ge-
blieben ist;
b) der Aufsichtsbehörde muss die Befugniss eingeräumt
werden, von allen Verhandlungen, Büchern und Rechnungen
der Kasse selbst oder durch einen Kommissar Einsicht zju
nehmen. Die Kasse hat jährlich einen Rechnungsabschluss vor-
zulegen, aus welchem die Zahl der Mitglieder, die vereinnahmten
Beiträge und die geleisteten Unterstützungen zu ersehen sind.
Dem Ausstands versieh erungsverbande zu Essen kann daher
und mit Rücksicht darauf, dass die Errichtung eines Berggewerbe-
gerichts für die Steinkohlenzechen des Oberbergamtsbezirks
Dortmund in nächster Zeit erfolgen wird, die staatliche Ge-
nehmigung erst ertheilt werden, wenn in seinen Satzungen nach-
folgende Bestimmungen Aufnahme gefunden haben.
1. Ein Entschädigungsanspruch darf nur anerkannt werden
(Art. 7 und 9), wenn die ihn erhebende Zechenverwaltung nach-
weist entweder, dass sie zur Beseitigung der Streitigkeiten,
welche den Ausstand herbeigeführt haben, das Berggewerbe-
gericht als Einigungsamt angerufen, ein Einigungsverfahren vor
diesem aber in Folge der Ablehnung der Arbeiter nicht statt-
gefunden hat (§§ 61 und 62 des Reichsgesetzes, betreffend die
Gewerbegerichte vom 29. Juli 1890) — oder, dass ein Einigungs-
verfahren zwar stattgefunden, aber weder zu einer Einigung
(§ 66 a a. O.) noch zu einem Schiedsspruch (§ 67 a. a. O ) ge-
führt habe — oder, dass die Unterwerfung unter einen von dem
Einigungsamte abgegebenen Schiedsspruch nicht von der Zechen-
verwaltung verweigert worden sei (§ 68 a. a. O.).
2. Der Verband muss dem Oberpräsidenten jährlich einen
Rechnungsabschluss vorlegen, aus welchem die Mitglieder, die
vereinnahmten Beträge und die geleisteten Unterstützungen zu
ersehen sind. Der Oberpräsident ist befugt, selbst oder durch
einen Kommissar von den Verhandlungen, Büchern und
Rechnungen des Verbandes Kenntniss und Einsicht zu nehmen.
Die Bedeutung dieses Erlasses liegt vorzüglich in der
Anweisung der Unterbehörden, Arbeitgeber und Arbeiter
nach gleichen Grundsätzen zu behandeln, wogegen bisnun
in nicht seltenen Fällen gefehlt wurde, ferner in der Siche-
rung einiger Kontrolle der gegen die Ausübung des Koali-
tionsrechtes der Arbeiter gerichteten Bestrebungen der
Unternehmer und in der Anweisung, die Gewerbegerichte
als Einigungsämter zu verwenden. Die §§ 61 —69 des Reichs-
gesetzes betreffend die Gewerbegerichte, die bis jetzt viel-
fach lediglich als Dekoration des Gesetzes betrachtet wur-
den, gewinnen durch den preussischen Erlass erhöhte Be-
deutung. Es entsteht nun die Frage, ob durch den Erlass
den Arbeitern eine neue Möglichkeit der Organisation von
Ausständen geboten wird. Die Antwort darauf kann nur
die Praxis geben.
Unternehmer verbände.
Der deutsche Schienenverband, eines der ältesten und
kapitalkräftigsten Kartelle scheint einer Krisis entgegen-
zu gehen, ln der letzten am 2. April stattgefundenen Ver-
sammlung der Betheiligten, in der die Bedingungen
des neuen Verbandsvertrages behufs Verlängerung des
Kartells auf weitere 5 Jahre festgesetzt werden sollten,
ergaben sich derartige Differenzen mit einigen Werken,
welche neu hinzutreten sollten, dass die Versammlung nach
dem Berichte der »Kölnischen Volks-Zeitung« ohne Ergeb-
niss aus einander gehen musste. Auf den 21. April wurde
eine neue Versammlung anberaumt, jedoch wird die Mög-
lichkeit einer Verständigung von den betheiligten Firmen
für fraglich gehalten.
Die Gesetzgebung gegen die Trusts und der Standard
Oil Trust. Der bekannteste und wohl auch mächtigste
Trust der Standard Oil Trust wurde vom obersten Gerichts-
höfe des Staates Ohio für ungesetzlich erklärt. In Folge
dessen löste man den Trust formell auf, und vertheilte sein
Vermögen unter die Inhaber der Trust-Zertificate. Ueber
die Grösse des Trustvermögens gehen die Schätzungen
weit auseinander Dem Gerüchte gegenüber, dass vor der
Vertheilung 26,000 000 Dollars in baarem Gelde und Staats-
papieren vorhanden waren, erklärte der Sachwalter des
Standard Oil Trust, dass sich nur ein Ueberschuss von
2,000,000 Dollars in den Kassen befand. Dass die Bethei-
ligten an eine faktische Auflösung dieses übermächtigen
Unternehmerverbandes nicht denken, geht daraus hervor,
dass erklärt wurde, die Interessen der Besitzer der Certi-
ficate würden dieselben bleiben wie bisher, indem die ver-
schiedenen zum Trust gehörenden Korporationen ihre Ge-
schäfte in der gleichen Weise fortsetzen und die Zertificats-
Besitzer als Aktionäre ihren Antheil an dem Gewinne der
Korporationen erhalten würden. Wie es heisst, werden die
dreissig Korporationen aus denen der Trust besteht, auf
18 bis 20 reduzirt werden, während das Kapital der übrig
bleibenden vergrössert werden soll. Die riesige Korporation
wird nach der New-Yorker Handels Zeitung unter anderem
Namen fortbestehen, und damit die Wirkungslosigkeit der
Antitrustgesetzgebung auf’s Klarste beweisen.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
lieber die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in
Hechelräumen ist dem Bundesrath der Entwurf einer Ver-
ordnung zugegangen, welcher die bisherige Verordnung über
die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Spinnereien er-
setzen soll. Die hauptsächlichste Aenderung, welche der
Entwurf bezweckt, ist die, dass das Verbot der Beschäfti-
gung und des Aufenthaltes jugendlicher Arbeiter in Hechel-
räumen (statt wie bisher Hechelsälen) und in Räumen, in
welchen Reisswölfe im Betriebe sind, nicht blos für Spinne-
reien, sondern für alle Fabriken gelten soll, in welchen sich
derartige Räume befinden. Sodann wird das Verbot auch
auf andere Räume ausgedehnt, sodass von ihm nunmehr
alle Diejenigen betroffen sind, in welchen Maschinen zum
Oelfnen, Lockern, Zerkleinern, Entstäuben, Anfetten oder
Mengen von rohen oder abgenutzten Faserstoffen, von Ab-
fällen oder Lumpen im Betriebe sind- Nach dem gegen-
wärtigen Stande der Technik sind als solche Maschinen ins-
besondere anzusehen: die sogenannten „Oeffner“, Ballen-
brecher, Willows, die Schlagmaschinen, Britingmaschinen,
die Reisswölfe, Klettenwölfe, Endenreisser, Expresskarden,
Lumpenschneider, W'hipper, Handreiben, die Staubwölfe,
Klopfwölfe, Shaker, Lumpendrescher, Filzfachmaschinen,
Haar-Sortirmaschinen, die Del- und Fettwölfe und die Meng-
194
SOZIALPOLITISCHES CENTRAT, BI, ATT.
wölfe. Die Karden (Krempel) für Wolle und Baumwolle
sind jedoch ausgenommen. Mit diesen Aenderungen haben
sich, wie die „Nordd. Allg. Ztg.“ mittheilt, die befragten
Unternehmer und Arbeiter der Textilindustrie einverstanden
erklärt. Die neuen Bestimmungen sollen am 1. Oktober 1892
in Kraft treten und auf 10 Jahre Giltigkeit haben.
Sonntagsruhe i m Cigarrenhandel. Der „Verein deut-
scher Tabakfabrikanten und Cigarrenhändler“ bat in einer an
den Bundesrath gerichteten Petition, ihren Geschäften auch
am Sonntage das Offenhalten der Läden bis zum Abend zu
gestatten. Im Aufträge der „freien Vereinigung der Kauf-
leute“ richtete der Vorsitzende derselben ebenfalls eine Ein-
gabe an den Bundesrath mit der Bitte um Abweisung der
Petition der Tabakfabrikanten und Cigarrenhändler. Aus
der vom „Vorwärts“ veröffentlichen Antwort des Unter-
Staatssekretärs von Rottenburg geht hervor, dass der Bundes-
rath Ausnahmebestimmungen für den Cigarrenhandel nicht
für gut fand, so dass vom" 1 . Juli ab höchstens fünf Stunden
Cigarrenläden offen gehalten werden dürfen.
Zur Beseitigung »lei1 Nachtarbeit in den Kammgarn-
spinnereien geht dem „Wochenberichte der Leipziger Mo-
natsschrift für Textilindustrie“ eine Zuschrift zu, der wir
folgende bemerkenswerthe Stellen entnehmen:
„Es hat in den Kreisen der Kammgarnspinnerei auf
das Allerpeinlichste berührt, dass, wie neuerdings behauptet
wird, einigen wenigen Kammgarnspinnereien Deutschlands
die Erlaubnisl ertheilt worden ist, auch nach dem 1. April
d. J. weibliche Arbeiter über 16 Jahren während der Nacht
zu beschäftigen.
Seit Jahren schon bemüht sich die Gesammtheit der
Kammgarnspinnerei, diesen Krebsschaden ihrer Industrie
zu beseitigen. In wiederholten Versammlungen ist die Er-
wartung ausgesprochen worden, der Einzelne möge die
Nachtarbeit endlich aufgeben, und nachdem dies nicht all-
seitig durchgeführt wurde, hoffte man mit aller Zuversicht,
der 1. April d. J. werde nun endlich den Abschluss der
Nachtarbeit durch Gesetz herbeiführen, und dies um so
zuversichtlicher, als bei dem bestehenden trostlosen Ge-
schäftsgang, wie ihn die Kammgarnspinnerei in solcher
Erbärmlichkeit noch niemals aufzuweisen hatte, fast alle
Spinnereien Deutschlands zu den aller weitgehendsten Ein-
schränkungen der Tages- Arbeitszeit bereits verschritten
sind; in sehr vielen Spinnereien wird nur noch 5 Tage
wöchentlich und vielfach nur 8 -9 Stunden täglich gear-
beitet.
Alle diejenigen Spinnereien muss es naturgemäss auf
das Allerpeinlichste berühren, solchen eigenen Einschrän-
kungen gegenüber zu sehen, wie einzelnen Wenigen Aus-
nahmen eingeräumt und bewusst oder unbewusst Bevor-
zugungen und Begünstigungen gestattet werden, die sich
nicht rechtfertigen lassen, zumal die sichere Aussicht der
baldigen gesetzlichen Regelung dieser Frage den hier in
Betracht kommenden Etablissements mehr als ausreichende
Zeit liess, sich in aller Ruhe auf diese allseitig wahrhaft
herbeigesehnte Beendigung jener Nachtarbeit einrichten zu
können.“
Arbeiterversicherung.
Die statistischen Ergebnisse der Arbeiter-Unfall-
versicherung in Oesterreich.
Die amtlichen Nachrichten des österreichischen Mi-
nisteriums des Innern über die Unfallversicherung und die
Krankenversicherung der Arbeiter vom I. Februar 1892
(No. 3) publiziren die Resultate der Unfallversicherungs-
statistik, zum ersten Male für ein ganzes Jahr, für 1890.
Die Uebersichten zeichnen sich vor denen des Deut-
schen Reichs dadurch aus, dass sie in einer längeren Ein-
leitung die hauptsächlichsten Zahlen des Tabellenwerkes
nach statistischen Grundsätzen zusammenstellen und die
Tabellen nach weiteren, nicht nur durch die engen Grenzen
der Spezialverwaltung gegebenen Gesichtspunkten auf-
bauen. Man wird diesen Umstand vor Allem anerkennen
No. 15.
Die österreichische Arbeiter-Unfallversicherung unter-
scheidet sich u. a. materiell dadurch von der deutschen,
dass die Entschädigungspflicht dort von einer vierwöchent-
lichen, hier von einer dreizehnwöchentlichen durch die
Krankenversicherung zu entschädigenden Karenzzeit ah-
hängt, formell dadurch, dass dort die ganze Versicherung
in 8 Anstalten (zu Wien, Salzburg, Prag, Brünn, Graz,
Triest, Lemberg und der berufsgenossenschaftlichen Anstalt
der Eisenbahnen) erfolgt, hier durch eine grosse Zahl von
berufsgenossenschaftlich gegliederten Anstalten mit nicht
bestimmt geregelter territorialer Begrenzung.
Jedoch hat die österreichische Statistik keineswegs aut
die beruflichen Unterscheidungen Verzicht geleistet, da die
Zuweisung jedes einzelnen Betrieb.es zu einer bestimmten
Gefahrenklasse gesetzliches Erforderniss ist, und dies hin-
wiederum von der Betriebsgattung abhängt.
So ist die statistische Unterscheidung der Betriebe
und der Versicherten nach der Betriebsgattung von Inter-
esse und in der hier beigefügten Tabelle mitgetheilt. Dar-
Art des Betriebes
triebe
Ver-
sicherte
Beamte
und Ar-
beiter
Von iooo
Arbeitern
jugend- weib-
lich lieh
Mühlen ....
12 173
23 194
101
16
Eisenbahnbau
475
20 373
16
4
Nebenanlagen der Eisenbahnen . .
893
5 354
2
2
Hüttenwerke
110
15 684
60
33
Steinbrüche
26 562
35
58
Gruben
594
4 323
28
145
Verarbeitung von Steinen
717
4 965
170
56
Verarbeitung von Erden
3 910
48 955
78
247
Erzeugung und Verarbeitung von Glas
66b
18 791
162
187
Edelmetall Verarbeitung
67
1 938
222
251
Verarbeitung von Eisen und Stahl .
1 462
30 083
100
86
Unedle Metalle und Legirungen . .
Erzeugung von Maschinen, Werk-
406
13 897
115
341
zeug etc
631
35 710
126
11
Transportmittelerzeugung
116
9 976
74
11 r
3
Erzeugung von Schusswaffen . . .
Erzeugung von phvsik. -chirurgischen
32
10 698
6
Apparaten etc
137
5 308
94
104
Erzeugung von Musikinstrumenten .
Betrieb von Motoren für Transport-
40
975
119
40
zwecke etc. .
91
880
51
118
Chemische Grossindustrie
Erzeugung von ehern, und pharmac.
73
4 188
14
75
Präparaten
58
1 084
17
117
Erzeugung von Farben etc
131
2 093
28
399
Erzeugung von Theer und Harzen .
54
841
38
156
Erzeugung von Explosionsstoffen . .
127
6 113
18
569
Verarbeitung von Abfällen, Dünger .
92
1 893
4
235
Erzeugungvon Heiz-und Leuchtstoffen
277
7 432
6
123
Erzeugung von Oelen und Fetten
207
2 896
24
223
Betrieb für Beheizung u. Beleuchtung
92
617
9
94
Seidenindustrie
Verarbeitung von Schafwolle und
131
16 287
75
707
Thierhaaren
Verarbeitung von Flachs, Hanf,
615
51 271
54
455
Werg etc
Verarbeitung von Baumwolle und
233
30 624
47
570
Halbwolle
595
86 773
60
564
Bleichereien, Färbereien etc
Erzeugung von Wirk-, Klöppel-
722
22 618
35
268
waaren etc
182
9 525
51
b33
Papier- und Pappenfabrikation . . .
384
22 296
35
337
Sonstige Papierverarbeitung ....
125
6 152
64-
632
Leder- u. Ledersurrogatenfabrikation
770
9 730
52
105
Verarbeitung von Leder und Surrogat
Erzeugung von Gummi, Gutta-
19
629
99
204
percha etc
20
1 419
51
427
Holzverarbeitung
Erzeugung von Flechtwaaren und
5 644
32 646
42
140
Bürsten
24
471
109
350
Bearbeitung von Horn u. Meerschaum
78
4 409
154
377
Erzeugung von Genussmitteln . • .
771
51 151
42
218
Erzeugung von Getränken ....
2 727
33 564
25
43
Tabakfabriken
28
33 141
9
896
Erzeugung von Bekleidungsstücken .
183
16 020
49
51 1
Reinigungsanstalten
191
1 247
8
526
Bauunternehmungen
2 184
102 464
60
126
Baugewerbe
4 956
32 890
132
61
Bauliche Nebengewerbe
5 428
9 143
226
ii
Polygraphische Gewerbe
409
14 031
166
220
Zusammen . . .
53 193
893 324
66
266
in iissen.
No. 15.
SOZIA I l'< M.ITTSCHKS ( ICNTR ALBL ATT.
195
nach ragt das Baugewerbe durch die Zahl der Personen
hervor, welche es beschäftigt, 194 497 Personen von 893 324
im Gewerbe überhaupt, ein ähnliches Verhältniss wie im
Deutschen Reich, wo von den 4 888 790 Versicherten der
gewerblichen Berufsgenossenschaften I 016 584 aut das Bau-
gewerbe entfielen.
Von Wichtigkeit sind auch die Nachrichten über die
Betheiligung der jugendlichen und weiblichen Arbeiter.
Die Verwendung der ersteren war besonders zahlreich in
.len baulichen Nebengewerben und der Kdehnetall Ver-
arbeitung mit 226 bis 222 von 1000 versicherten Arbeitern
gegenüber von nur 66 im Durchschnitt. Das Vorkommen weib-
licher Artpitskräfte war weitaus am stärksten in der Tabak-
industrie mit 896 pro Mille aller Arbeiter, dann in der
Seidenindustrie (707 pro* Mille), ferner bei der Papierver-
irbeitung (632), in der weiblichen Handarbeit wie Wirkerei,
Klöppelei u. s. w., der Verarbeitung von Flachs, Baum-
wolle u. s. w. Aber auch in der chemischen Industrie
kommt die Verwendung von Frauen häufig vor, so bei den
Explosivstoffen mit 569 pro Mille aller Arbeiter, bei den
Farbstoffen, Metallen, Papierfabriken u. s. w.
Von besonderem Interesse ist auch die statistische
Gliederung der Betriebe nach der Verwendung von Motoren
and die prozentuale Angabe der Personen, welche an den
Motoren, bei Arbeitsmaschinen, im Handbetrieb, im Magazin
beschäftigt oder einer Explosionsgefahr ausgesetzt waren ;
lies ist für jede der mitgetheilten Betriebsgattungen ange-
l'ührt. Im Allgemeinen waren von sämmtliehen 53 193 ge-
werblichen Betrieben 28 679 mit Motoren versehen; und
zwar wurden verwendet:
12 745 Dampfmotoren,
890 Gasmotoren,
30 646 Wasserkraftmotoren,
987 Thierkraftmotoren,
583 andere Motoren,
2 451 Dampfkessel ohne Motoren,
342 Elektrizität,
I 421 explodirende Stoffe (Verwendung oder Erzeugung).
Die Zahl der Pferdekräfte dieser Motoren beziffert sich
uff 556 778.
In den 78 133 land- und forstwirthschaftlichen Betrieben
wurden nur 102 ohne Motoren betrieben, 71 690 mit Thier-
kraft, 5280 mit Dampf- und 1536 mit Wasserkraft. Die Zahl
ler verwendeten Pferdekräfte belief sich hier auf 158 302.
Nach Angabe des Betriebsunternehmers waren von je
1000 versicherten Arbeitern ausgesetzt den
Gefahren
im
Gewerbe
in der Land-
und Forst-
wirthschaft
des Motors
24
228
der Arbeitsmaschinen . .
326
340
der Explosion
11
0
der Handbetriebe ....
599
425
des Transport- u. Magazin-
wesens
40
7
Der Explosionsgefahr waren hiernach im Durchschnitt
1 1 Arbeiter unter 1000 besonders ausgesetzt, dies Verhält-
uiss betrug bei der Industrie der Steine und Erden 54, der
Heiz- und Leuchtstoffe 41, der chemischen Industrie 34.
Hinsichtlich der weiter mitgetheilten Tabelle nach
ler Betriebszeit der Betriebe wird angeführt, dass die-
selbe noch nicht zuverlässig ermittelt und daher nur aus-
zugsweise veröffentlicht sei. Bei korrekten Zahlen wird
fiese Tabelle von hohem Werthe sein. Es sind Klassen
luach der Betriebszeit im Rechnungsjahre nach Tagen
bis 12, 13/25, 26/50 u. s. w.) aufgeführt und gleichzeitig die
furchschnittliche Dauer nach Monaten. Die letztere ist bei
len Steinbrüchen auf 8,4 Monate, bei der Eisgewinnung auf
|i,7, beim Hochbau auf 8,5, bei den Dachdeckern 6,1, den
Maurern 6,3, den Zimmerern 6,9 u. s. w. angegeben.
Dass diese Zahlen von unendlichem Werthe sein
können, bedarf kaum des Beweises, namentlich wenn es
gelingen sollte, die Lohnstatistik hier mit hinzuzuziehen.
Dies scheint allerdings noch nicht ins Auge gefasst zu sein.
Einstweilen ist in dieser Hinsicht die österreichische
Statistik ebenso werthlos wie die deutsche, indem die an-
geführten Lohnbeträge nur den zur Anrechnung kommenden
Lohn in Rücksicht ziehen. Vielleicht entschliesst man
sich auch hierin, über die Bedürfnisse der unmittelbaren
Verwaltungsstatistik hinausgehend, den Versuch einer Lohn-
statistik zu unternehmen.
Mehr dem eigentlichen Zwecke des Gesetzes ent-
sprechen die Daten über die Unfälle, welche ebenfalls be-
ruflich gegliedert sind. Im Ganzen wurden 15 508 Unfälle
zur Anzeige gebracht, das sind 174 auf 10 000 Versicherte.
Die Maxima lagen bei der Transportmittelerzeugung (665
auf 10 000), den Hüttenwerken (608), der Maschinenindustrie
(554). Die kleinste Unfallgefahr wiesen mit 4 auf 10 000 die
Tabak- und mit 14 die Seidenfabriken auf. ‘Die Ver-
schiedenheit der Betriebsdauer, welche natürlich von wesent-
lichem Einfluss auf die Unfallgefahr ist, konnte noch nicht
mit in Rücksicht gezogen werden.
Für die Unfall Versicherungsanstalten in Betracht
kamen nur die entschädigungspflichtigen mit mehr als
4 Wochen Erwerbsunfähigkeit oder Tod verbundenen
Unfälle.
Es entfielen auf je 10 000 Versicherte:
männl. weibl.
7,7 1,3 Unfälle, mit tödtlichem Ausgang,
64,5 14,4 Unfälle mit vorübergehender Erwerbsunfähigkeit
von mehr als 4 Wochen,
20,1 6,6 Unfälle- mit dauernder Erwerbsunfähigkeit,
92.3 22,3 entschädigungspflichtige Unfälle überhaupt.
Von 1000 Unfällen hatten 81 Tod, 682 vorübergehende
und 237 dauernde Erwerbsunfähigkeit zur Folge und es
wurden von 1000 31 I durch Arbeitsmaschinen, 140 durch
Fallen von Gegenständen, 133 durch herabfallen von
Leitern u. dergl. veranlasst. In den meisten Fällen (33 %)
wurden die Finger, bei 22 % Beine und Füsse, bei 17%
Arme und Hände verletzt.
Die Gesammtausgaben der österreichischen Unfallver-
sicherungsanstalten betrugen vom I. November 1889 bis
Ende des Jahres 1890: 3 854 832 fl., von welchen 2 874 510 fl.
auf Entschädigungen, Deckungskapitalien für Renten, Prämien
an Privat-Unfallversicherungen und solche eigentlich im
Sinne des Gesetzes liegende Zwecke entfielen; 21 186 fl
entfielen auf die Kosten der Unfallerhebung.
Wir haben uns begnügt, aus dem reichhaltigen Detail
des Berichtes nur wichtigere Thatsachen hervorzuheben.
Nach der ganzen Anlage desselben, welche die ent-
sprechenden U ebersich ten des Deutschen Reichs an statisti-
schem Werth und Inhalt weitaus übertrifft, ist eine
Quelle wichtiger sozialer Kenntnisse erschlossen worden.
Berlin. Ernst Hirschberg.
Knappschaftsverelhe deutscher Bergleute. Im Jahre
1890 waren in Preussen, wie eine Zusammenstellung im
„Compass“ ergibt, 77 Knappschafts vereine thätig; nach Ver-
schmelzung der Märkischen Knappschaftskasse mit der
Essener und Mühlheimer sowie nach Auflösung des Oeseder
Vereins blieben noch 74. Die Vereine umfassten 2036 Berg-,
Hütten- und Salzwerke mit 208 628 ständigen und 180 407
unständigen Mitgliedern. Es wurden invalide 3340 Mit-
glieder, 10 070 schieden aus und 3347 starben. Durch Un-
fälle starben 780, durch andere Todesursachen 2567. Das
Durchschnittsalter der Ganzinvaliden war 49,6 Jahre, gegen
47,7 Jahre in 1889, der Halbinvaliden 46,3 Jahre gegen 43,6
Jahre in 1889. Unterstützungsberechtigt waren 3o 805 In-
validen, 33 929 Wittwen und 56 447 Waisen. Unfallrenten
bezogen 10597 Invalide, Wittwen und Waisen. Schulgeld wurde
für 32 390 Kinder bezahlt. Im Laufe des Jahres wurden krank
212 756 beitragende Mitglieder. Krankengelder erhielten
179 587 Mitglieder auf 2 458 482 Tage oder durchschnittlich
ein Kranker auf 13,7 Tage. Das schuldenfreie Vermögen
der Knappschaftsvereine belief sich am Schlüsse des Jahres
1890 auf 38 000 000 Mk. gegen 34 000 000 Mk. am Anfänge
des Jahres. Die Einnahmen beliefen sich auf 25,6, die Aus-
gaben auf 21,9 Millionen Mark.
1%
SOZIALPOLITISCHES CKNTRALHLATT.
Vo. 15.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung.
W»liuungsgesetz$pebutig in Bi*aiiuschweig. Das Staats-
ministerium hat, wie wir den „Veröffentlichungen des König-
lichen Gesundheitsamtes“ vom 6. April entnehmen, unter
dem 29. Januar der Landesversammlung' zwei Gesetzent-
würfe, betr. das Halten von Schlafgängern und die Unter-
bringung von Arbeitern in Arbeiterkasernen und sonstigen
zur Aufnahme einer grösseren Anzahl von Arbeitern be-
stimmten Räumlichkeiten, zur verfassungsmässigenBeschluss-
nahme übersandt. Es wird beabsichtigt, das Halten von
Schlafgängern von einer ortspolizeilichen Erlaubniss ab-
hängig zu machen, welche unter Berücksichtigung der zu
verwendenden Räumlichkeiten hinsichtlich ihrer Grösse und
Tauglichkeit zu genanntem Zwecke ertheilt werden soll.
Zur Kontrolle des Wechsels der Schlafgänger ist die Melde-
pflicht seitens der Vermiether in Aussicht genommen. Dies
gilt auch für die Aufnahme von Arbeitern in Arbeiter-
kasernen oder anderen derartigen Räumlichkeiten. In
beiden letzteren dürfen Familien nur dann aufgenommen
werden, wenn ihnen besondere Wohn- und Schlafräume
gewährt werden; die übrigen Bewohner sollen nach Ge-
schlechtern getrennt gehalten werden. Die Grösse und
Brauchbarkeit der Wohn- und Schlafräume untersteht der
polizeibehördlichen Begutachtung. Behufs Aufrechterhal-
tung der Ordnung etc. ist in Anwesen, in welchem mehr
als 20 Arbeiter zusammenwohnen, die Bestellung eines be-
sonderen Aufsehers in Aussicht genommen.
Wohnnngs Verhältnisse der oberschlesisehen Industrie-
arbeiter. Bergrath Dr Sättig in Beuthen hat in der Zeitschrift
des „Oberschlesisehen Berg- und Hütten Vereins“ Bericht über
die von der dortigen „Arbeiterwohlfahrtskommission“ über die
Wohnungsverhältnisse angestellten Erhebungen erstattet Im
äusseren, dem Centrum der Industrie ferner liegenden Bezirk,
namentlich im Kreise Tarnowitz, in welchem vorzugsweise Erz-
bergbau getrieben wird und der Bergmann gleichzeitig Acker-
bauer ist habe ein „grosser Theil“ der Arbeiter von Alters her
sein eigenes Besitzthum. Infolge der Gewährung von freiem
oder billigem Baugrund, von Bauprämien, von Baumaterialien
zum Selbstkostenpreise, von zinsfreien oder billigen Darlehen
seitens der Gewerkschaften habe sich in den letzten Jahrzehnten
eine „grosse Zahl“ von Arbeitern, namentlich auch im inneren
Bezirk, eigene Häuser errichtet. Damit stimmt freilich nicht
recht die nachfolgende zahlenmässige Angabe. Im ganzen
wohnten 1890 nacli den Angaben der Magistrate und Amtsvor-
steher in dem Untersuchungsbezirk in eigenen Häusern
8 830 männliche Arbeiter oder nur 12,4 "/0 aller der berg- und
hüttenmännischen Bevölkerung angehörigen männlichen Arbeiter.
Mit Beihilfe der Werke wurden von Arbeitern I 769 Häuser mit
zusammen 1 1 135 Familienwohnungen (im Durchschnitt 6,3) er-
baut. Die Bedeutung und der Werth der Gewährung von Haus-
baubeihilfen für die Ansiedelung von Arbeitern sei nicht zu
verkennen. Die in grossem Massstabe erfolgte Herrichtung
gewerkschaftlicher Familienhäuser habe sich indessen als weit
segensreicher herausgestellt. Sie seien zumeist besser gebaut,
die Wohnungen selbst seien geräumiger und gesünder, auch die
von den Gewerkschaften geforderten “Miethen erheblich geringer,
als die von den Besitzern der Beihilfehäuser. Der durchschnitt-
liche Rauminhalt einer Arbeiterwohnung beträgt in den Kreisen
Tarnowitz, Gleiwitz, Pless und Rybnik im grossen Durchschnitt
40 bis 54, in den nördlichen Theilen der Kreise Kattowitz und
Zabrze, sowie im Kreise Beuthen (Land 75 cbm. Der Prozent-
satz derjenigen Arbeiter, welche in Häusern wohnen, die weder
einem Werke noch industriellen Arbeitern gehören, ist sehr
mässig. Er wäre noch geringer, wenn nicht ein Theil der Bei-
hilfehäuser in fremde Hände übergegangen wäre. Der monat-
liche Miethzins der gewerkschaftlichen Wohnungen schwankt
zwischen 0 (Friedenshütte) und 10 M. (Borsigwerk), der nicht
gewerkschaftlichen zwischen 1,5 und 12 M. Am geringsten (1,5
bis 2 M.) ist er in den kleinen, an der Peripherie des Industrie-
bezirks gelegenen Ortschaften, am höchsten in Rossberg, Königs-
hütte, Lipine, Dorotheendorf, Ruda, Zabrze, Laurahütte, Hohen-
lohehütte, Zalenze, Rosdzin, Schoppinitz, Gleiwitz, Petersdorl
(bis 10 M.) und namentlich in Beuthen und Kattowitz (bis 12. M.)
Die Miethzinse im inneren Industriebezirke sind im allgemeinen
zwei bis drei Mal so hoch als die im äusseren. Der durch-
schnittliche Miethzins der Wohnung eines industriellen Arbeiters
wird im inneren Bezirk zur Zeit etwa 80 M. betragen. Unter
dieser Annahme sei von dem „durchschnittlichen“ reinen Jahres-
arbeitsverdienst der sämmtlichen Häuer, Maschinenwärter,
Maurer und Anschläger auf den Steinkohlengruben des Beuthener
Bergreviers (33,5% der Gesammtbelegschaft auf denselben),
welcher im Jahre 1888: 706 M., 1889: 770 M., 1890: 926 M. betrug,
daher gegenwärtig 8,6% für die Wohnung zu zahlen.
Geschlechtsvenniscluing in Arbeiterwohnungen. Aus
einem Berichte des Komitee de patronage der belgischen
Kantone Mons, Lens und eines Theiles des Kantons de
Paturages theilt „la Flandre liberale“ folgende Daten mit.
Auf dem kleinen Orte Masnuy-St.-Jean, der kaum 1500
Seelen zählt, kommen 255 Arbeiterwohnungen, in 70 der-
selben schlafen Raummangels wegen junge Burschen und
Mädchen im selben Raume, in Maisieres ist dies in 65 von
192 Arbeiterwohnungen, demnach in 34 u/o derselben der
Fall, ln Flenn kommt dies in 50 von 500 Arbeiterwohnungen
vor, ja in 10 derselben schlafen Burschen und Mädchen (
im gleichen Bette. Tn dem kleinen Flecken Nouvelles,
der kaum 64 Arbeiterwohnungen zählt, wurde in vier Fällen
das gleiche konstatirt und in Mons hatte man in 21 Familien
das Zusammenschlafen von B rschen und Mädchen in
mannbarem Alter angetroffen.
Arbeiterwohnungeil in Russland, ln den Zuständen
der russischen Fabrikarbeiter waren bis auf die Gegenwart
Verhältnisse zu beobachten, die uns lebhaft an die Natural-
wirthschaft, welcher dieses Land kaum entwachsen ist, er-
innern konnten. Allmählich weichen die Ueberreste des
persönlichen Dienstverhältnisses vor Einrichtungen im west-
europäischen Sinne. Die Idee des Arbeiter-Cottage, welche
vornehmlich dazu bestimmt ist, die Arbeiter in ein an-
sässiges Element und ein gefügiges Werkzeug zu Gunsten
der nächst liegenden Fabrik zu verwandeln und die sporadisch
in allen westeuropäischen Ländern auftaucht, wird auch in 1
Russland ventilirt. L'nter den Summen, welche für öffent-
liche Arbeiten zu Gunsten der nothleiclenden Bevölkerung
ausgeschrieben worden sind, wurden 50 000 Rubel vom
Generaldirektor dieser Arbeiten, General Annenkow, für
Arbeiterhäuser bestimmt. Solche Arbeiterhäuser, die ersten
in Russland, sind an der neu gebauten Eisenbahnlinie im
Kaukasus errichtet worden; jedes besteht aus zwei Zimmern,
nebst Küche und Kammer. Das Haus ist mit einem Hofe j
und einem Wirtschaftsgebäude versehen und für Arbeiter-
familien bestimmt, die es für den Preis von 550 Rubel im
Laufe von zehn Jahren erwerben sollen. Das ausgelegte, 1
Kapital soll mit 10% verzinst werden. Die Gründung von
Arbeiterhäusern wäre also keine üble kapitalistische Anlage.
Zurückgezahlt, soll das Kapital wieder zum Bau von Arbeiter-
häusern dienen. Zu diesem Zwecke will General Annenkow
mit den Industriellen in Beziehungen treten, um von ihrer
Seite Grund und Boden und den Beistand der Arbeiter-
kassen zu erlangen.
Die Noth der Bevölkerung bringt auf diese Weise die
Regierung zu Neuerungen, die ein Symptom dafür sind,;
dass Russland der kapitalistischen Aera mit grossen Schrit-
ten zustrebt.
Soziale Hygiene.
Die Trunksucht als Todesursache in den 15 grösseren
städtischen Gemeinden der Schweiz. Das „Schweizerische
Bundesblatt“ veröffentlicht eine Statistik der Sterbefälle im
letzten Quartale des Jahres 1891 für die 15 grösseren Städte
des Landes, bei denen die Trunksucht als Grund oder als
mitw'irkende Ursache angegeben war. Bei einer Gesammt-
zahl von 1633 Sterbefällen von Personen von 20 und mehr
Jahren (811 männliche und 822 weibliche) wurde bei 27
(22 männl. und 5 weibl.) die Trunksucht als primäre, bei 69
(64 männl. und 5 weibl.) die Trunksucht als mitwirkende
Ursache angegeben. Nach dem Alter vertheilen sich diese
Todesfälle folgendermassen : 20 — 30 Jahre 22 (20 männl. und
2 weibl.), 40— 59 Jahre 51 (44 männl. und 7 weibl.), 60 und
mehr Jahr 23 (22 männl. und I weibl.). Hiervon waren 15
ledig (15 männl.), 62 verheirathet (60 männl. und 2 weibl.),
13 verwittwet (1 1 männl. und 2 weibl.), 3 geschieden (2 männl.
und I weibl.), 3 unbekannten Civilstandes (2 männl. und I
weibl.). Unter den 86 verstorbenen Männern waren 40 Hand-
werker und Fabrikarbeiter, 15 Handelsleute, 12 Wirthe, je
4 Rentiers, Dienstboten und Tagelöhner, je 2 gehörten den
Gruppen der liberalen Berufsarten, der Studenten, Land-
wirthe, Fuhr- und Schiffsleute und der Weibel, Wächter und
Kirchendiener an; bei einem fehlt die Angabe des Berutes.
!
| Ko. 15. SOZIALPOLITISCH!
Die Todesfälle infolge Säuferwahnsinns betragen 2,7 % der
Todesfälle überhaupt; die Todesfälle, bei denen Trunksucht
als primäre oder mitwirkende Ursache angegeben war, be-
tragen 10,6% der Todesfälle in den 15 grösseren schwei-
zerischen Städten überhaupt.
Kriminalität.
Arbeitsverdienst der Gefangenen in LTenssen. Nach
einer der Rechnungskommission des Abgeordnetenhauses mit-
o-etheilten Uebersicht betrug die Tagesdurchschnittszahl der
gerichtlichen Gefangenen im Jahre 1890/91 29 498. Es waren nicht-
beschäftigt 6244, mit Hausarbeit beschäftigt 2280, und für Dritte
gegen Lohn 20 974. An Arbeitsverdienst sind aufgekommen im
Ganzen 2 461,347 M. Das macht auf den Kopf der für Dritte gegen
Lohn beschäftigten Gefangenen 112,58 M. oder 38% Pf. pro dag,
das Jahr zu 300 Arbeitstagen gerechnet. Dass da Unternehmer und
Arbeiter über die Konkurrenz der Gefängnissarbeit klagen, ist wohl
berechtigt. Der Kampf gegen die heutige Form der Gefängniss-
arbeit gewinnt an Berechtigung, wenn man erwägt, dass von den
38%, Pf . per Tag den Gefangenen nur knapp 12%} Pt. direkt zu Gute
kommen. Von der Einnahme aus dem Arbeitsverdienst wurden
nämlich den Gefangenen bewilligt nur 744 746 M. und zur Ge-
richtskasse abgeliefert 1716 601 M. Hiervon sind der Staatskasse
verblieben 82ÖA49 M , als Remuneration der Beamten 348 742 M.
und an den Provinzial-Waisenfond überwiesen 547 410 M Im
Ressort des Ministers des Innern betrug in zusammen 60 An-
stalten die Einnahme aus dem Arbeitsverdienst der Gefangenen
3 776 415 M.
Litteratur.
IS CENTRALBLATT. 197
Vergleiche herangezogen worden wäre und an die Leistungs-
fähigkeit der Organisation und an die thatsächlichen Lei-
stungen der Inspektoren vom Verfasser der kritische Mass-
stab gelegt worden wäre. Der Verfasser scheint, und hierbei
müssen wir ihm widersprechen, zu glauben, dass in Ungarn
von sozialer Pathologie und von der Nothwendigkeit sozialer
Therapie noch nicht gesprochen werden muss, denn seine
Arbeit klingt in dem Wunsche nach einer sozialen Prophy-
laxis aus. Doch wir wollen uns nicht um Worte streiten.
Mag das, was der Verfasser will, soziale Prophylaxis oder
soziale Therapie genannt werden, sicher ist, dass die De-
generirung der ungarischen Arbeiter nur durch eine ehr-
liche, energische und einschneidende Arbeiterschutzpolitik
aufgehalten werden kann,, und dass das ungarische Arbeiter-
schutzgesetz nach keiner Richtung den Bedürfnissen auch
nur einigermassen entspricht.
Biirkli, Karl. Der Ursprung der Eidgenossenschaft aus der
Markgenossenschaft und die Schlacht am Morgarten. Zur
600jährigen Feier des Bundes vom 1. August 1291 (Erweiterter
■ Sonderabdruck aus der Züricher Post). Zürich, Buchhandlung
des Griitli Vereins.
Das Schriftchen zerfällt in sechs Abschnitte, von denen
fünf in erster Linie den Historiker interessiren werden, während
das dritte, aus technischen Gründen den Schluss bildende Kapitel
(S. 54 — 69) den Wirthschaftshistorikern und Interessenten für die
Fragen der schweizerischen Agrarpolitik so manches Neue und
vieles thatsächlich schon Bekannte in neuer Beleuchtung bietet.
Vor Allem finden wir die Beziehungen der schweizerischen Mark-
genossenschaft zu der von Morgan entdeckten Form der ursprüng-
lichen Gentilverfassung dargelegt; der Verfasser vertritt die An-
schauung, dass die Schweiz geschlechterweise besiedelt wurde,
und bringt hierfür einleuchtende Beweise bei. Wer die Bedeu-
tung des Gemeineigenthums für einzelne Theile der Schweiz,
insbesondere für die Innerschweiz kennt, wird mit Interesse den
besprochenen Abschnitt lesen und vielleicht auch Lust bekom-
men, die übrigen Kapitel sich näher anzusehen. Durch den
eigenartigen, mit Dialekt- und Kraftausdrücken vermischten Styl
soll man sich bei der Lektüre nicht stören lassen.
Ernst Lantensclilagev, Erhebungen für die Sonntagsruhe in
Stuttgart. Stuttgart, Stähle & Friedei.
Der eifrige und sachkundige Vorsitzende des Stuttgarter
Gewerbegerichts veröffentlicht in dieser kleinen Schrift die sehr
interessanten Erhebungen über die Sonntagsruhe in Stuttgart.
Die Verarbeitung des Materials wird in übersichtlicher, durch
zahlreiche Tabellen illustrirter Form vorgelegt. Man lernt aus
der Schrift den thatsächlichen Zustand bezüglich der Sonntags-
ruhe und die Wünsche der Betheiligten kennen. Neben direkter
Befragung der Unternehmer wurden auch kontrollirende polizei-
liche Recherchen gepflogen, die Stimmen der Arbeiter und der
an der Sonntagsruhe interessirten kirchlichen Behörden sowie
der Aerzte werden wiedergegeben. Das Schriftchen ist für die
Frage der Sonntagsruhe von bleibendem Werthe und kann als
Muster für ähnliche Erhebungen wohl empfohlen werden.
Somogyi, Emanuel, Dr. der Staatswissenschaften, Die
Lage der Arbeiter in Ungarn vom hygienischen Stand-
punkte. (Sonderabdruck aus der „Buclapester hygieni-
schen Zeitung1.) Budapest 1891, J. Schlesinger.
Da die Fabrikinspektorenberichte Ungarns nicht mehr
wie früher in deutscher und ungarischer Sprache, sondern
nur in letzterer, die in Westeuropa ausser Sprachforschern
Niemand versteht, veröffentlicht werden, müssen wir dem
Verfasser für seine kleine Schrift, welche eine systematische
Zusammenstellung aus den ungarischen Fabrikinspektoren-
berichten enthält, dankbar sein. Der Verfasser besitzt sozial-
politisches Verständniss und ist auch im Gegensätze zu vielen
seiner Landsleute nicht blind für die sozialen Schäden in
seinem Vaterlande. Am besten wird man den Werth des
Schriftchens aus den Kapitelüberschriften erkennen. Einer
kurzen Einleitung folgen Abschnitte über die Arbeitszeit,
die Arbeitspausen, die Sonntags-, Kinder- und Frauenarbeit,
über Luft, Licht, Wasser, Ankleide- und Speiseräume, die
Ernährungsverhältnisse, Wohnungszustände, Schutzvorrich-
tungen und Unfälle. Eine Reihe von Vergleichen mit den
Arbeiterverhältnissen anderer Länder macht das Schriftchen
auch dem magyarischen Leser nützlich. Für diese Leser
wäre der Werth der Arbeit noch gestiegen, wenn auch die
Arbeiterschutzgesetzgebung der anderen Länder mehr zum
1 ■
Eingesendete Schritten.
(Besprechung Vorbehalten.)
A Democratic Budget, Published by the Fabian Society (Fabian
Tracts No. 39). London 1892, Selbstverlag. 8°. 15 S.
Blodig- jun., Dr. Hermann, Der Wucher und seine Gesetz-
gebung historisch und dogmatisch bearbeitet. Eine
sozialpolitische Studie. Wien 1892, Alfred Holder. 8°. VI
und 79 S.
Fehling, Professor Dr. H., z. Z. Rector der Universität, Die
Bestimmung der Frau. Ihre Stellung zu Familie
und Beruf. Rektoratsrede, gehalten am Jahresfeste der
Universität Basel den 12 November 1891. Zweite unver-
änderte Auflage. Stuttgart 1892, Ferd. Enke. 8°. 31 S.
Hellen, Dr. Eduard von der, Das rothe Programm. Leitfaden
für Agitatoren sowie zum Selbstunterricht in der Sozial-
demokratie. Weimar 1892, H. Weissbach. 8". 64 S.
Llix, Dr. H. Die Prostitution, ihre Ursachen, ihre
Folgen und ihre Bekämpfung. (Schippel’s Berliner
Arbeiterbibliothek, III. Serie, 4. Hett.) Berlin 1892, Verlag
des Vorwärts. 8°. 38 S.
Mandello, Dr. Karl, Wirksamkeit des Königlich-un-
garischen Handelsministers im Jahre 1890. (Handel,
Industrie, Verkehrswesen.) Amtlich überprüfter Auszug aus
dem jahresberichte des Handelsministers. Berlin 1892,
Puttkammer & Mühlbrecht, gr. 8". VIII und 171 S.
Neumann. Hermann, Die Ursachen der gedrückten Lage
der Scheibenarbeiter im Töpfergewerbe und Vor-
schläge zu deren Abhilfe. Herausgegeben im Aufträge
des General-Ausschusses und der Vertrauensmänner der
Töpfer Deutschlands von Ferd. Kaulich. Giebichenstein,
Ferd. Kaulich. 8°. 62 S.
Rossmann, Dr. jur. Wilhelm. Ist die Aufforderung zum
Streik strafbar? Zur Auslegung des § 110 des deutschen
Strafgesetzbuchs. München, J. Schweitzer, 1892. 8°. 87 S.
Schloss, David F., Methods of Industrial Remuneration.
London und Edinburgh 1892, Williams and Norgate. 8r'.
XX und 287 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin
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lid) babin gerichtet, bie Streitigfeiteu siuifdien
2trbeitgeberii mtb Slrb ci 1 11 eljm er u 31t «ertjüten, ;
bie 2tfbeitö«eri)ättitiffe fotiber unb bauertjafter \
311 geftatteu unb Ijierburd) jur .perfteUinig be$ ,
foaiaten griebettö beantragen
ebnarb «oljl’ö «erlag tu 2>lüwf)e».
3. ©uffEltfag, «evlagsbudfljanblung in «erlitt.
(Das Steidjsgefelj
betreffen b
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«out 29- 3«n 1890.
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Klters-BerJuijmingsniEfi'n int Bcntfrlren mEtcfjE. ©efeh über bie 2lu$bef)nung ber Unfalls
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IX. 3«t)rgang. fütonatlid) 3 9htmineru J — 1‘/2 «ogett ftarf. igreiö balbjätjrlid) 6 SDlarf. uont 28. 3)tai 1885.
91 11 c '«oftiimtcv mtb sBudiijaiibluitgctt nehmen 'iicftcUungeit an. 2vjt=2lu3gabe mit 9(utnevfuttgett
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fammten 2lrbeiter=«erficherung, (Sntfcbeibungen mtb Verfügungen ber oberen uttb unteren 23er= Äfli{CV(. 06er.:«egicvungdvatt), oortra«. iRatfi im 9?eid)«=
n»altungebe!)ßrben, ber Cieridjte beb 9teid)b= 1111b ber 8anbebüerfid)eriiugeämter u. f. 1«., 23eant= amt bcf. Smtcvn.
Wartung mm Anfragen im «rieffafteu. su«cvtc9litflttgc.
HG“ ^rabenuuintcnt portofrei, £afd)enforntat; cart. 2 ÜJt.
.{tucitc norittelH'le 'Uttggabe.
S£afd)eiifürntat; cart. 1 93h 25 «f.
lt itfa l in i' vluh mut 11 0 atfRh
mmi 6. 3»d 1884
nnb »nb
Verantwortlich fiir den Anzeigentheil: O. Schuchardt in Berlin. — Druck von H. 8. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 18. April 1892.
Nummer 16.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Die freien H i 1 f s k a s s e n und
ihre Au f gab e gegenüber
dem Kranken - Versiche-
rungsgesetz. Von Dr. Adolf
B raun.
Soziale Wirtlischaftspolitik u.
Wirthscliaftsstatistik :
Zur Frage des Wasserrechts. Von
Dr. Leo Arons.
Kommunale Arbeitsnachweis-
bureaus.
I >ie überseeische Auswanderung
aus der Schweiz im Jahre 1891.
Arbeiterzustände :
Frauenarbeit in der Maschinen-
industrie.
Statistische Erhebungen aus dem
Steinmetzgewerbe von Dresden
und Umgegend.
Haushalt einer Arbeiterfamilie in
Bayern.
Gewerk s cha f tl i cli e A rb e i ter-
bewegung:
Folgen des Durhamer Kohlen-
arbei terausstandes.
Französisches Arbeitersekretariat.
Die ungarische Regierung und die
gewerkschaftliche Organisation
der Arbeiter.
Die Einführung der Arbeiterschutz-
marke für die Cigarrenindustrie.
Unternehmerverbände:
Organisation der ländlichen Unter-
nehmer in Braunschweig und
Thüringen.
Kohlenkartelle und Eisenwerke.
Kartell der bayerischen Spiegel-
glasschleif- und Polierwerke.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Die preussische Berggesetznovelle.
Von Dr. Leo Verkauf.
Die Bergarbeiter und die preussi-
sche Berggesetznovelle.
Kinderschutz in Baden.
Festtage im Sinne des Arbeiter-
schutzgesetzes.
Sonntagsruhe der Automaten.
Trucksystem in Belgien.
Gewerbeinspektion :
Der Ausbau der preussischen Ge-
werbeinspektion.
Arbeiterversicherung:
Krankenkassennovelle und die
Hirsch-Duncker'sehen Hilfskassen.
Konferenz der Vorstände der ein-
geschriebenen Hilfskassen.
Aus der Praxis der deutschen Un-
fallversicherung.
Gewerbegerichte , Einigungs-
ämter u. Arbeiterausscnüsse:
1 )ie deutschen Gewerbegerichts-
wahlen.
Der belgische conseil superieur
du travail (Oberster Arbeitsrath).
Londoner Versöhnungsrath.
Litteratur:
Das Mühlhauser Arbeiterviertel,
seine Badeanstalten und Wasch-
küchen. (FI. FI er kn er.)
Lux, Dr. FL Die Prostitution, ihre
Ursachen, ihre Folgen und ihre
Bekämpfung.
Eingesemlete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die freien Hilfskassen und ihre Aufgabe
gegenüber dem Krankenversicherungsgesetz.
Eine tiefgehende Erregung hat sich der Mitglieder
-der freien Hilfskassen in Folge der Umänderung des § 75
des Krankenkassengesetzes bemächtigt, und einen Augen-
blick schien die Fortexistenz dieser Kassen und damit des
letzten Stückes sozialer Selbstverwaltung Hei der Arbeiter-
Versicherung in Frage gestellt. Der Untergang dieser
Kassen oder ihre Umwandlung in Zuschusskassen wäre
nicht blos eine Angelegenheit der Mitglieder der freien Hilfs-
kassen, sondern ein sozialpolitisches Ereigniss ersten Ranges.
Das lehrt schon die Thatsache, dass es sich hierbei um
fast eine Million Arbeiter und um den siebenten Theil aller
1 dem Krankenkassengesetze unterstellten Personen handelt;
waren doch im Jahre 1890 810 455 Arbeiter Mitglieder ein.
geschriebener und 144 668 Mitglieder landesrechtlicher Hilfs-
kassen demnach 955 1 23 Arbeiter in ausschliesslich von Ar-
beitern verwalteten Kassen gegen Krankheit versichert.
Der grosse Prinzipienstreit zwischen Zwangskassen
und Kassenzwang, der seit Erlass der kaiserlichen Bot-
schaft vom 17. November 1881 die weitesten Kreise des
deutschen Volkes und keineswegs nur die nationalökono-
mischen Fachkreise beschäftigte, sollte durch die letzte
Novelle zum Krankenkassengesetz, wenn auch nicht formell,
so doch thatsächlich zu Gunsten der Zwangskassen ent-
schieden werden: dies geht unbestreitbar aus dem ersten
Entwürfe der Regierung hervor. Dass die Absichten der
Reichsregierung vorerst wenigstens nicht vollkommen zur
Ausführung gebracht werden konnten, ist erfreulich, wenn
auch die Hindernisse, welche die Novelle der Fortexistenz
der eingeschriebenen Hilfskassen bereitet, alle Gegner der
Zwangskassen, die gleichzeitig Freunde des Kassenzwanges
sind, mit grosser Besorgniss erfüllen muss.
Als an der Annahme des neugefassten § 75 des Kran-
kenkassengesetzes nicht mehr gezweifelt werden konnte,
wurde die Auflösung der freien Kassen bezw. ihre Um-
wandlung in Zuschusskassen, welche der Bestimmung des
Krankenversicherungsgesetzes in seiner Fassung von 1892
nicht mehr unterstellt wären, in Erwägung gezogen. Es
ist lebhaft zu begrüssen, dass die Muthlosigkeit bei den
massgebenden Personen in der Verwaltung der freien
Hilfskassen wieder gewichen ist, und nun statt an den
Abbruch der durch fast ein Dezennium unter den schwierig-
sten Verhältnissen und mit grössten Opfern auferbauten
Kassen, an die Erhaltung und die Neueinrichtung der-
selben den geänderten Gesetzesbestimungen gemäss ge-
dacht wird.
Bekanntlich waren die freien Hilfskassen auch schon
durch die Bestimmungen des Krankenversicherungsgesetzes
in seiner ursprünglichen Fassung gegen die übrigen Kassen
in Nachtheil gesetzt, so u. A. durch den Fortfall der Unter-
nehmerbeiträge, die Tragung der Kosten der Selbst-
verwaltung seitens der Mitglieder, den Verlust ihrer
Rechte bei der Wahl der Arbeiter Vertreter in die Aus-
schüsse der Invaliditäts- und Alfersversicherungsanstalten
und der Berufsgenossenschaften und bei den für die Unfall-,
Invaliditäts- und Altersversicherung eingerichteten Schieds-
gerichten. Dem standen Vortheile gegenüber in der Selbst-
verwaltung der Kassen, in dem Bewusstsein, den Rückhalt
für die Tage der Noth der eigenen Kraft zu verdanken U,
l) Schmoller, Ueber die Entwicklung des Grossbetriebs
und die soziale Klassenbildung in den „Preussischen Jahrbüchern“,
69. Band, Seite 479.
200
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 16.
ferner in der Ausdehnung der Kassen über das ganze Reich,
in den grösseren Leistungen derselben, in der Freiheit
der Wahl des Arztes und der Art der ärztlichen Behand-
lung. All’ dies sollte in Frage gestellt werden durch die
gänzliche Umgestaltung des § 75. Nach demselben müssen
die freien Flilfskassen vom 1. Januar 1893 ab ihren Mit-
gliedern freie ärztliche Behandlung und Arznei in natura
gewähren, während sie früher an Stelle dessen ein erhöhtes
Krankengeld zahlen konnten, ferner dürfen sie das Kranken-
geld nicht mehr nach dem ortsüblichen Tagelohn ihres
Kassensitzes, sondern sie müssen dasselbe nach dem ortsüb-
lichen Tagelohn derjenigen verschiedenen Orte, an denen
ihre einzelnen Mitglieder beschäftigt sind, bemessen.
Die Folgen dieser Bestimmungen sind schon so oft
und auch im Sozialpolitischen Centralblatte (vgl. Nr. 13)
besprochen worden, dass wir sie nicht des Breiteren zu er-
örtern brauchen. Es sei nur bemerkt, dass die Bestellung
von Aerzten selbst in grossen Städten bei der Zerstreutheit
des Wohnens der Mitglieder mit erheblichen Schwierig-
keiten verknüpft sein wird, dass diese Schwierigkeiten in
Orten mit wenigen Mitgliedern in umgekehrter Progression
zur Mitgliederzahl sich steigern werden, besonders da die
Aerzte die Zwangslage der Kassen wohl auszunützen ver-
stehen werden, wie die schon jetzt sich bildenden Kartelle
der Aerzte den Kassen gegenüber aufs unzweifelhafteste
beweisen. Endlich werden die Kassen zu einer bedeutend
komplizirteren Geschäftsführung durch die Schäftung einer
grösseren Zahl von Mitgliederkategorien mit verschiedenen
Beitrittsquoten gezwungen sein.
Wenn sich nun die eingeschriebenen Hiltskassen ent-
schliessen, die Flinte nicht ins Korn zu werfen, so müssen
sie ihre Organisationen den neuen gesetzlichen Bestim-
mungen anpassen.
Bis jetzt ist blos der Vorschlag gemacht worden, die
kleinen Mitgliedschaften aufzugeben und die grösseren Mit-
gliedschaften der verschiedenen Kassen an einem Orte zu
Sanitätsverbänden zum Zwecke gemeinsamer Anstellung
von Aerzten etc. zu verbinden. Wir wollen uns gestatten,
einen anderen Weg zur Erwägung zu stellen, und zwar
die Vereinigung sämmtlicher oder einer möglichst
grossen Zahl von eingeschriebenen Hilfskassen
auf Grund des § 35 des Hilfskassengesetzes.
Würden nur die Kassen, welche in Hamburg ihre Central-
verwaltung haben, diesen Vorschlag acceptiren, so würden
am Verwaltungssitze den Kassen alle Vorzüge und Erspar-
nisse des Grossbetriebes zu Gute kommen, ln den grossen
Städten könnten und müssten mehrere Aerzte angestellt wer-
den, wodurch die Folgen des zerstreuten Wohnens der Mit-
glieder einer Kasse wegfielen und in den mittelgrossen wie
mittleren Städten und in nicht wenigen der kleineren Orte
wären so viele Mitglieder aller verbundenen Kassen vorhanden,
dass die Schwierigkeiten der Bestellung von ärztlicher
Behandlung und Arznei sehr vermindert würden. Bei einer
so grossen, gegen eine Million Mitglieder umfassenden Or-
ganisation liessen sich die lokalen Verwaltungsstellen viel
besser einrichten, das Schreibwerk würde in denselben
wesentlich vereinfacht, eine Reihe grosser für einzelne
Kassen unerschwinglicher Vortheile für die Mitglieder, wie
Schaffung von Badegelegenheit, Stätten für Rekonvales-
centen etc. etc. würden geschaffen werden können.
Mit Unrecht würde man gegen diesen Vorschlag den
Einwand erheben, dass der „Berufsdünkel der Arbeiter“, |
von dem auf dem Halberstädter Kongresse so viel die Rede
war, einer solchen Zusammenfassung der eingeschriebenen
Hilfskassen entgegenstehe. Dies war bei letzteren nie der
Fall, und es wäre ein Irrthum, zu glauben, dass etwa der
Centralkranken- und Sterbekasse der Tischler nur Tischler
und verwandte Berufsgenossen angehören; in München z. B.
gehören dieser Kasse fast sämmtliche Handschuhmacher an.
Die Berufsscheidung verliert bei den Krankenkassen an
Bedeutung, weil in denselben keine Berufsinteressen auf
dem Spiele stehen. Wohl aber lag für die Scheidung bisher
ein triftiger Grund vor, weil die verschiedenen Lohnstufen
der Arbeiter die Schaffung von Krankenkassen mit verschie-
denen Beitrags- und Leistungssätzen zur nothwendigen Folge
hatten. Jetzt ist dagegen den Krankenkassen die Abstufung
der Leistungen und damit auch der Beiträge aufgenöthigt,
infolgedessen würde einer allgemeinen Kasse aller deutschen
Arbeiter bezw. einem Verbände der eingeschriebenen Hilfs-
kassen die Möglichkeit geboten sein, die verschiedenen Lolm-
stufen mehr als bisnun zu berücksichtigen. Ein ernsthafterer
Einwand wäre der, dass die verschiedene Krankheitshäufig-
keit und Krankheitsdauer in den verschiedenen Berufen es
von Vortheil erscheinen lasse, dass die Versicherung gegen
Krankheit weiter im Wesentlichen nach Berufen innerhalb
der eingeschriebenen Hilfskassen geschieden bleibe. Dies
war auch bis jetzt bei der Gemeindekrankenversicherung
und, von den grossen Städten abgesehen, auch bei den
Ortskrankenkassen nicht der Fall. Indessen könnte die
Morbidität in den einzelnen Berufen durch das Statut, das
ja ohnedies verschiedene Stufen vorsieht, berücksichtigt
werden z. B. in der Weise, dass Berufe mit häufiger und
langer Erkrankung ihrer Mitglieder zur Erlangung der
Leistungen einer Stufe, die Beiträge der nächst höheren
Stufe zu zahlen hätten. Endlich könnte noch der Einwand
gemacht werden, dass die Vorstände der einzelnen Kassen
der Zusammenfassung derselben sich entgegenstellen '
könnten. Dem ist nicht allzuviel Bedeutung beizumessen, |
denn, angenommen dieser Widerstand würde thatsächlich
vorhanden sein, so entscheiden doch über die Zukunft der ,
Kassen nicht die Beamten, sondern die Interessen der Mit- '
glieder der Kassen.
Wir glauben, dass unserem Plane alle V ortheile des
von anderer Seite ausgehenden V orschlages auf allge-
meine Errichtung von Medizinalverbänden und Aufgabe der 1
kleinen Mitgliedschaften innewohnen, dass er aber vor?
jenem wegen der Vereinfachung der Verwaltung und der j
daraus entspringenden grossen Kraft- und Zeitersparniss ;
einen weiteren Vorzug gewinnt. Durch die Centralisirung
der einen Versicherungsform giebt er vielleicht auch den r
Anstoss zu der von vielen Seiten gewünschten Vereinheit-
lichung des Krankenkassen- und Versicherungswesens über-
haupt und durch die vielen Vortheile, die er im Gefolge
hat, scheint er uns im Stande zu sein, möglicherweise alle aus
der Umgestaltung des § 75 des Krankenkassengesetzes den
freien Hilfskassen erwachsenden Nachtheile wett zu machen.
Wir wissen wohl, dass, ganz abgesehen von der
nicht ins Gewicht fallenden gegenseitigen Abneigung der
Hirsch-Duncker'schen und aller übrigen Hilfskassen sich
miteinander zu vereinigen, eine Zusammenfassung aller
eingeschriebenen Hilfskassen nicht über Nacht möglich
sein wird. Vielleicht wird man zuerst Medizinalverbände in
einzelnen Orten gründen und damit bei Erhaltung der
Eigenart der Kassen und freilich unausbleiblichen Verlusten
an Mitgliedern in kleineren und mittleren Orten dem Ge-
setze genügen wollen. Wählt man aber auch diesen \\ eg,
so wird sich, wie wir glauben, gerade hieraus erst recht
die Noth wendigkeit der Annahme unseres Vorschlages er-
geben.
Berlin. Adolf Braun.
No. 16
SOZIALPOLITISCHES CENTRAL BLATT.
201
Soziale Wirtschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Zur Frage des Wasserrechts.
Im Jahr 1879 schloss Werner Siemens einen Vortrag
auf der deutschen Naturforscherversammlung in Baden-
Baden mit den Worten:
„Es gehört sogar kein allzu kühner Flug der Phantasie
dazu, um sich eine Zukunft auszumalen, in der die Mensch-
heit die lebendige Kraft, welche die Sonnenstrahlen der Erde
in ungemessenem Betrage zuführen, und die sich uns zum
Theil im Wind und in den Wasserfällen zur Verfügung
stellt, mit Hilfe des elektrischen Stromes zur Herstellung
alles nöthigen Brennstoffes verwendet und die für ihre
Kindheit von der Natur vorsichtig aufgestapelten Kohlen-
lager ohne Nachtheil zu entbehren lehrt.“
Ein grosses Wort, welches unser hochentwickeltes
Zeitalter der Kohle als in die Kindheit des Menschenge-
schlechts fallend betrachtet, und doch beweisen die ge-
waltigen Fortschritte der Elektrotechnik, dass seine Ver-
wirklichung in absehbarer Zeit zu erwarten ist!
Siemens dachte bei seinen Ausführungen wesentlich
an die auf elektrischem Wege mögliche Zerlegung des
Wassers in Wasserstoff und Sauerstoff; der auf diese Weise
gewonnene Wasserstoff würde das Brennmaterial der Zukunft
bilden. In der That ist es bereits in den sog. Akkumulatoren
gelungen, elektrochemische Vorgänge von ähnlicher Art
wie die Wasserzersetzung technischen Zwecken dienstbar
zu machen. Während aber auf diesem Wege die Entwick-
lung erst beginnt und mit bedeutenden Schwierigkeiten zu
kämpfen hat, ist in ganz unmittelbarer Weise die Aus-
nutzung der Wasserkräfte für alle Zwecke der Industrie
und des gewerblichen Lebens durch die elektrische Kraft-
übertragung ermöglicht worden. Schon bisher benutzte
man ja die Wasserläufe für industrielle Zwecke in Mühlen,
Spinnereien etc. etc., aber selbst in der an starken Wasser-
gefällen reichen Schweiz, die andrerseits mit ihrem Kohlen-
konsum völlig auf das Ausland angewiesen ist, betrug die
Zahl der durch Wasser gewonnenen Pferdekräfte nur
wenige Prozent der in der Industrie verwendeten. Die
Ursache dieser Erscheinung ist leicht einzusehen: die aus-
giebigsten Wasserkräfte finden sich in Gegenden, die aus
den mannigfachsten Gründen der Anlage industrieller
Unternehmungen ungünstig sind. Durch die Fortschritte
der Elektrotechnik ist es jetzt ermöglicht, die Wasserkraft
an Ort und Stelle mittelst verhältnissmässig einfacher An-
lagen in elektrischen Strom zu verwandeln, diesen ohne
namhaften Verlust auf viele Meilen hin nach einem Platz
industrieller Thätigkeit zu leiten, und hier von einer Cen-
trale aus durch ein vielverzweigtes Netz vertheilt je nach
Bedarf zu Beleuchtungszwecken, zur Bewegung der gewal-
tigen Arbeitsmaschinen der Grossindustrie oder der Dreh-
bänke etc. des Kleingewerbes, oder zum Betriebe von
Strassenbahnen zu verwerthen.
Die letztjährige elektrotechnische Ausstellung in Frank-
furt a/M. hat die Ausführbarkeit derartiger Unternehmungen
durgethan.
Noch vor 25 Jahren galt es fast als unumstössliche
Wahrheit, dass die Elektrizität nur die feine Arbeit der
Telegraphie, des Signalwesens etc. zu leisten im Stande
wäre. Seit jener Zeit haben sich die elektrischen Maschinen
mächtig entwickelt, namentlich im Anschluss an die elek-
trische Beleuchtung, die ihren Siegeszug begann. Noch
auf der Pariser Ausstellung im Jahre 1881 wurde die
80 pferdige elektrische Maschine, die Edison für Beleuch-
tungszwecke verwerthete, als ein Koloss angestaunt. Auf
der Frankfurter Ausstellung im Jahre 1891 dagegen hatten
neben einer Unzahl lOOpferdiger Maschinen solche von
300, 500 und 600 Pferdekräften Aufstellung und Verwerthung
gefunden.
Die Münchener Ausstellung im Jahre 1882 hatte zum
ersten Mal eine elektrische Kraftübertragung vorgeführt;
die Kostspieligkeit der Anlage und der geringe Nutzeffekt
Hessen dieselbe noch wenig praktisch erscheinen. Die
Frankfurter Ausstellung brachte die Ausführung einer elek-
trischen Kraftübertragung auf 175 Kilometer, von Lauffen
am Neckar nach Frankfurt a/M. Mittelst dreier Kupfer-
drähte von der Stärke gewöhnlicher Telegraphendrähte
wurde ohne wesentlichen Verlust die Kraft übertragen,
| welche in Frankfurt 1000 Glühlichtlampen erglänzen Hess
1
und gleichzeitig das Wasser für einen mächtigen, 10 Meter
hohen Wasserfall in die Höhe schaffte. Der Beweis war
erbracht, dass man nunmehr an die Ausbeutung der Wasser-
läufe für die Industrie gehen könne. Und der Beweis wurde
als vollgültig anerkannt: auf allen Seiten hörte und hört
man von Plänen einzelner Kapitalisten und Aktiengesell-
schaften, Wasserläufe resp. das Nutzungsrecht an denselben
aufzukaufen 1).
Es erhebt sich die Frage: Sollen die Wasser-
läufe2) als Kraftquellen ein Ausbeutungsobjekt für
das Grosskapital werden oder soll man alsbald
durch staatliche Enteignung der bisherigen Rechte
an ihnen den durch die Fortschritte von Wissen-
schaft und Technik geschaffenen Gewinn der
Allgemeinheit erhalten? Im letzteren Fall sollte der
Staat (resp. unter seiner Oberleitung die Gemeinden) die
Gewinnung der Wasserkräfte selbst in die Hand nehmen
und die Kraft gegen mässige Gebühren zu Beleuchtungs-
oder industriellen Zwecken abgeben, wie es heute in der
Mehrzahl der Gemeinden mit dem Gas geschieht. Die
obige Frage stellen, heisst sie beantworten — wenigstens
für den Sozialpolitiker. Mit ängstlichem Blick folgt die
Industrie heutzutage den Vorgängen in den Kohlenbezirken;
ruht die Arbeit in den Kohlenbergwerken, so wird ein
Zweig der Industrie nach dem andern zum Feiern ge-
zwungen. Sehr treffend sagte die „Workmen Times“ ge-
legentlich des jüngsten englischen Kohlenarbeiterausstandes:
Hunderttausende' Heissiger Arbeiter sind gewillt für den
nicht unbescheidenen Lohn von 25 sh. die Woche Kohlen
zu fördern, Millionen von Konsumenten sind bereit ihnen
denselben zu bewilligen. Wer hindert das Zustandekommen?
Jene Männer, welchen das öffentliche Recht erlaubt sich
„Besitzer der Kohlen unter der Erde“ zu nennen. — Soll
eine ähnliche Abhängigkeit der Industrie von den Besitzern
der Wasserkräfte Platz greifen?
Auch rein technische Gründe sprechen gegen die
Ausbeutung der Wasserkräfte durch Private.. Bedenken
wir, dass die in Frankfurt vorgeführte Kraftübertragung
auf 175 Kilometer durchaus nicht die Grenze auch nur des
bisher möglichen ist, so ergiebt sich sofort, dass auch die
mächtigsten Aktiengesellschaften nicht ein so grosses Gebiet
beherrschen können, dass eine rationelle Ausbeutung und
Verwerthung der Kraft gesichert wäre. Andererseits wären
derartige Gesellschaften wieder durch ihre Monopolmacht
bedenklich. Dazu kommt, dass die Starkstromleitungen, de-
ren die Kraftübertragungsanlagen bedürfen, einen störenden
Einfluss auf die Telegraphenleitungen ausüben können. In
der That ist die Reichspostverwaltung schon jetzt darauf
bedacht3) generelle Garantien zu schaffen, durch welche
Interessenten an Starkstromleitungen erheblich gehemmt
werden könnten. Auch von dieser Seite ist eine gedeih-
liche Entwicklung, eine dauernde gerechte Berücksichtigung
der beiderseitigen Interessen nur denkbar, wenn auch die
Kraftübertragungsanlagen sich in den Händen des Staates
befinden. Schliesslich ist das eminente Interesse der Land-
wirthschaft an den Wasser läufen zu berücksichtigen. Bei
einer einheitlichen Anlage braucht das zur Kraftgewinnung
benutzte Wasser seinen landwirtschaftlichen Zwecken
nicht entzogen zu werden. Im Fall der privaten Aus-
1) Selbstverständlich werden diese grosskapitalistischen
Pläne nicht an die grosse Glocke gehängt; das Publikum ver-
nimmt von denselben bis kurz vor der Ausführung nur durch
Gerüchte. Schon während der Frankfurter Ausstellung wusste,
um nur ein Beispiel anzuführen, ein Korrespondent der „Strass-
burger Post“ zu melden, „dass eine Gesellschaft sich gebildet
hat, im Badischen möglichst alle Wasserkräfte zu ermitteln und
aufzukaufen, die für die elektrische Kraftübertragung der nahen
Zukunft verwendbar wären. So werden mir namentlich in
Seitenthälern des Kinzigthaies bestimmte, bereits angekaufte
Wasserkräfte bezeichnet. Unser Hochgebirge bietet eine Menge
von Sturzbächen, die dem grossen Publikum so unbekannt sind,
wie z. B. die s'o schnell berühmt gewordenen Gertelbachfälle
beim Bühlerthal, die bis vor 3 — 4 Jahren nur dem Forstmanne
bekannt waren Solche Seitenbäche, die dutzendweise be-
zeichnet werden könnten, durchlaufen lange Strecken mit Gefall
von 30—50 Prozent. . .“ .
2) Die nicht schiffbaren Flüsse, wozu auch die Oberläufe
der weiter unterhalb schiffbaren Flüsse gehören, sind nach dem
Wasserrecht der meisten deutschen Staaten im Privatbesitz.
Grade diese Wasserläufe aber sind wegen ihres meist starken
Gefälles für die Industrie von der grössten Bedeutung.
3) Vergl. die Verhandlungen des Reichstags über_ den
Gesetzentwurf betr. das Telegraphenwesen. Sitzung vom 25. Fe-
bruar 1892.
202
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 16.
beutung dürfte es an beständigen Konflikten nicht fehlen.
Selbstverständlich ist, wenn überhaupt etwas geleistet
werden soll, ein rasches Vorgehen der Gesetzgebung er-
forderlich; in der Schweiz, wo das Interesse aus den oben
erwähnten Gründen ein noch grösseres ist, als wenigstens
im Augenblick noch in Deutschland, macht sich denn auch
eine Agitation bemerklich, welche auf die gesetzgebenden
Faktoren einzuwirken sucht. Dieselbe geht vom schwei-
zerischen Bund für Bodenbesitzreform aus; ein frisch
geschriebener Aufruf dieses Bundes fand in der schweizer
Presse aller Parteirichtungen Aufnahme und eine günstige
Besprechung. Der Vorstand wendete sich darauf mit einer
ausführlich begründeten Petition an den Schweizer Bundes-
rath. Die Petition gipfelt in dem Gesetzvorschlag: „Sämmt-
liche noch unbenutzte Wasserkräfte der Schweiz sind Eigen-
thum des Bundes. Die Gewinnung und Ausbeutung der-
selben, sowie deren Fortleitung durch Elektrizität, Druck-
luft u. s. w. sind Bundessache. Ueber die Durchführung
dieses Monopols, sowie über die Verthei lung des Reinertrags
aus demselben wird ein Bundesgesetz das Nöthige be-
stimmen.“ Wird, so führen die Petenten aus, die Aus-
beutung der Wasserkräfte der privaten Spekulation über-
lassen, so kann der durch die neuesten technischen Er-
rungenschaften bedingte Unterschied gegen jetzt nur sein,
„dass der Gewerbetreibende per Pferdekraft, welche er in
seiner Fabrik oder Werkstätte benützt, eine Kleinigkeit
weniger bezahlen müsste, als jetzt bei Dampfbetrieb, und
dass die gewaltigen Summen, welche wir heute für Stein-
kohlen ins Ausland schicken, am Ende des Jahres nur in
Form von Aktiendividenden nach Berlin, Frankfurt, Paris
und London flössen.“
Der schweizerische Bundesrath hat nicht versäumt,
dieser Anregung Rechnung zu tragen, zunächst durch Ver-
anlassung einer Enquete, indem er an die einzelnen Kantöns-
regierungen folgendes Frageschema erliess:
„1. Wem kommt das unbeschränkte Eigenthumsrecht
über die in Ihrem Kanton vorhandenen Wasserkräfte zu?
(Dem Kanton, den Gemeinden oder einzelnen Privaten?)
2. Bestehen Vorschriften, betreffend industrielle Nutz-
machung von Gewässern? Wenn ja, worin bestehen diese
Vorschriften? Wenn nein, welches ist das in solchen Fällen
eintretende thatsächliche Verfahren?
3. Wie viele Wasserkräfte sind auf dem Wege der
Konzession oder anderswie an Privatunternehmer über-
gegangen?
4. Ist zu befürchten, dass bei dem bestehenden Zu-
stande eine volle und rationelle Nutzbarmachung unserer
Gewässer nicht möglich sei, oder, namentlich mit Rücksicht
auf die Fortleitung gewonnener elektrischer Kräfte über
die Kantonsgrenzen hinaus, grossen Schwierigkeiten be-
gegne? oder auch, dass der durch die neuesten technischen
Erfindungen erhöhte Werth der Wasserkräfte auf Kosten
der allgemeinen Wohlfahrt und deren Förderung der pri-
vaten Spekulation und Bereicherung anheimfalle?
5. Würde die Nutzbarmachung der Wasserkräfte er-
folgreicher sein und für das Allgemeinwohl bessere Resul-
tate zu Tage fördern, wenn sie gleichmässig für die ganze
Schweiz im Sinne der Monopolisirung durchgeführt würde?
6. Stellungnahme des Kantons zur Frage der Ab-
tretung seiner Rechte an den Bund und Bedingungen (recht-
liche, finanzielle u. s. w.), unter welchen letztere eventuell
zugestanden wird.
7. Ist für den Fall der Verneinung der Monopolfrage
eine einheitliche Regelung der Materie durch Bundesgesetz
anzustreben?
8. Welches sollen die leitenden Gesichtspunkte des
letzteren sein?“
Es ist im höchsten Grade wünschenswerth, dass auch
bei uns in Deutschland die öffentliche Meinung zu diesen
wichtigen Fragen Stellung nehme. Selten geschieht der
technische Fortschritt so zielbewusst und mit solchen Riesen-
schritten, wie augenblicklich auf dem Gebiet der Elektro-
technik. Und gerade dieser Umstand ermöglicht bei einiger-
massen gutem Willen ein sachgemässes sozialpolitisches
Vorgehen, ehe ein allmäliges Hineinwachsen in neue privat-
rechtliche Verhältnisse wenigstens den Vorwand allzu
grosser Schwierigkeit durch Eingriffe in bestehende Rechte
zulässt.
Dazu kommt, dass die Entscheidung über den einzu-
schlagenden Weg in Deutschland nahe bevorsteht. Noch
für den Verlauf dieses Jahres hat der preussische Land-
wirthschaftsminister die Vorlage eines Gesetzentwurfes be-
treffs des Wasserrechts im deutschen Reichstag angekündigt;
gleichzeitig beschäftigt sich nach Angaben vom Bundes-
rathstisch die Reichsregierung mit der Ausarbeitung eines
Gesetzentwurfes betreffs elektrischer Anlagen, dem schon
jetzt viel berufenen „Elektrizitätsgesetz“.
Bisher freilich scheint man in Deutschland die grosse
Tragweite unserer Frage zu ignoriren. Um so dringender
wäre es deshalb, dass unsere Gesetzgeber sich in ähnlicher
Richtung informiren, wie es der Schweizer Bundesrath ver-
sucht hat; aber auch die Industriellen im Gross- und Klein-
betrieb sollten als Nächstbetheiligte nicht verfehlen, sich
eine Meinung zu bilden und auszusprechen. Sie dürfen bei
der grossen Masse der Bevölkerung um so eher auf Unter-
stützung rechnen, als diese in ihrem Interesse als Steuer-
zahler stark mitengagirt ist.
Berlin. Leo Arons.
Koimmmale Arbeitsnachweisbureaus. Für die Er-
richtung kommunaler Arbeitsnachweisbureaus, die unter
Aufsicht einer unter der Leitung des Vorsitzenden des
Gewerbegerichts stehenden zu gleichen Theilen aus Unter-
nehmern und Arbeiter zusammengesetzten Arbeitsnachweis-
Commission, treten die Gewerkschaften Stuttgarts ein.
Dieselben haben einen Entwurf für einen gewerblichen
städtischen Arbeitsnachweis ausgearbeitet. In demselben
wird als Aufgabe des Institutes angegeben, Stellensuchenden
Arbeit zu vermitteln und wenn möglich allmonatlich eine
Arbeitslosen-Statistik aufzunehmen. Die Stellenvermittlung
soll unentgeltlich sein, das Bureau für den Arbeitsnachweis
soll von der Gemeindeverwaltung zur Verfügung gestellt
werden. Die Geschäfte sollen von zwei von der Gemeinde-
behörde besoldeten Verwaltern geführt werden, welche der
Arbeitsnachweis-Kommission unterstellt sein sollen. Im
Vergleich zu den Arbeitsbörsen der französischen Arbeiter '
sind diese Forderungen höchst bescheidene zu nennen. Es
würde sich empfehlen, dass auch ausserhalb Stuttgarts,
ähnliche Anregungen gemacht bez. wiederholt werden, da
man in Stuttgart wohl mit dem Hinweis auf das Bureau
für Arbeitsnachweis (s. Sozialpolitisches Centralblatt, No. 14)
das Project begraben wird. In Berlin und München wurden
übrigens, bisher leider erfolglos, ähnliche Anregungen auch
schon gemacht.
Die überseeische Auswanderung ans der Schweiz im
Jahre 1891. Auf Grund der Mittheilungen der schweizerischen;
Auswanderungsagenturen veröffentlicht das eidgenössische sta- ,
tistische Bureau vier Tabellen, denen wir die folgenden Daten
entnehmen.
Im Jahre 1891 war die überseeische Auswanderung aus
der Schweiz etwas geringer, als in den vorausgegangenen
Jahren. Es wanderten nach anderen Welttheilen aus: 7516 Per-
sonen (1890: 7712; 1889: 8430; 1888: 8346; 1887: 7558). Nur in
5 Kantonen überstieg die Auswandererzahl des Jahres 1891 alle
vier vorangegangenen Jahre, und zwar war dies der Fall in
St. Gallen und den beiden Appenzell, den Hauptsitzen der
Stickereiindustrie, und in wenig erheblicher Weise in den Kan-
tonen Luzern und Nidwalden. Von den Auswanderern des
Jahres 1891 waren 6521 Schweizerbürger und 995 Ausländer.
Das Reiseziel des überwiegenden Theiles waren die Vereinigten
Staaten von Amerika, in denen sich fest zusammen haltende
Schweizerkolonien befinden. Von den 6920 nach der nord-
amerikanischen Union Auswandernden schifften sich 6841 in
Newyork aus. Als Reiseziel der aus der Schweiz Auswan-
dernden kommen noch in Betracht Argentinien mit 282, Brasilien
mit 184, Australien mit 47 schweizer Einwanderern. Nach
anderen amerikanischen Staaten und Colonien wanderten nur
58, nach Afrika nur 17 und nach Asien nur 8 Personen aus der
Schweiz aus. 5599 schweizer Auswanderer schifften sich in
Havre, 413 in anderen französischen Häfen, 1201 in Antwerpen,
78 in niederländischen, 74 in englischen, 42 in italienischen und
nur 9 in deutschen Häfen ein.
Die Auswanderung wechselt sehr nach der Jahreszeit.
Sie war am schwächsten im December (316) und Januar (325).
am stärksten im März (1032), April (990), Oktober (988) und
Mai (846). In den übrigen Monaten schwankte sie zwischen
431 und 569.
4564 der Auswanderer waren männlichen ( 3675 ledig,
812 verh., 62 verw., 15 geschieden) und 2952 weiblichen (2110
ledig, 698 verh., 122 verw., 22 geschieden) Geschlechtes.
Die Altersgruppe 20—29 Jahre stellte die meisten Aus-
wanderer: 1861 Männer und 1084 Weiber, hieran schliessen sich
die Gruppen 15 — 19 Jahre: 929 Männer und 455 Frauen und
30 — 39 Jahre: 614 Männer und 381 Frauen. Im Alter von 40 bis
60 Jahren standen 409 Männer und 304 Frauen, im Alter von 60
No. 16.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
203
| bis 79 Jahren 55 Männer und 47 Frauen. Das 15 Jahr hatten
noch nicht erreicht 696 Knaben und 682 Mädchen.
Von den Auswanderern waren 3858 männliche und 1869
I weibliche Erwerbende, 1298 Kinder unter 15 Jahren und 371 weib-
liche, nicht erwerbende Angehörige
Dem Berufe nach wanderten am meisten aus 3406 der
Land-, Vieh- und Milchwirthschaft angehörige Personen, zu denen
noch 60 in anderen Zweigen der Urproduktion thätige Personen
und Angehörige hinzukommen. Aus den Industriegruppen der
Nahrungs- und Genussmittel wanderten 345, aus der Bekleidungs-
industrie 297, aus der Bau- und verwandten Industrien 474, aus
den graphischen Gewerben 16, aus der Textilindustrie 227
(Stickerei 136), aus der Uhren-, Maschinen- und verwandten
Industrien 284 (Uhrmacherei 133) aus. Die Gruppe der Handels-
berufe stellte 368, die des Gastwirthschaftswesens 134, die des
Verkehrswesens 56, die liberalen Berufe 140, die persönlichen
Dienstleistungen, Arbeiter und Taglöhner ohne nähere Bezeich-
nung 1026 (häusliche und persönliche Bedienung 908). Ausserdem
wanderten 304 Rentner, 5 Studenten, 120 Personen ohne Berufs-
angabe, darunter 79 Kinder und 221 Personen anderer Berufe aus.
Arbeiterzustände.
Frauenarbeit in der Maschineiiindustrie. Eine höchst
bemerkenswerthe Erscheinung, das Vordringen der Frauen-
arbeit in die Maschinenindustrie und die technischen Gründe
dieser Erscheinung werden in den„Jahresberichten der bayri-
schen Fabrikinspektoren für das Jahr 1891u klargestellt. Schon
aus den früheren Referaten sächsischer Beamten wusste
Iman von einer steigenden Verwendung der Frauen bei der
Blechwaarenfabrikation, und der Gewerbeinspektor für den
Bezirk Meissen bemerkt auch für 1891 wieder, dass „die
Verwendung billigerer weiblicher Arbeitskräfte ... in Blech-
waarenfabriken gegenüber der Annahme männlicher Ar-
beitskräfte andauernd zunimmt.“ Aus Bayern erhält man
jedoch noch interessantere Belege. Es ist von hohem
sozialpolitischen Werth durch den Beamten für Mittel- und
Oberfranken (S. 68 seines Berichtes) zu erfahren, dass „die
zunehmende Einführung kleiner Spezialmaschinchen in die
Metallverarbeitung zum Drehen, Schraubenschneiden, Pressen
u. s. w. die Beschäftigung weiblicher Arbeitskräfte in diesen
Betrieben mehr und mehr begünstigt und ermöglicht.“ Und
ganz dasselbe traf der Beamte für die Pfalz (S. 104 seines
Berichtes): „Ausserdem fanden sich, als neue Erscheinung,
einige weibliche Arbeiter an Spezialmaschinen für kleine
Fraisearbeit in einer Maschinenfabrik. Dieselben sollen
wegen Mangel an geeigneten jugendlichen männlichen Ar-
beitern eingestellt worden sein und sich hiefür sehr brauchbar
erweisen. Der Direktor erklärte jedoch in der bezüglichen
Besprechung, für diese wohl nicht gefährliche noch an-
strengende, doch für Mädchen nicht zu billigende Beschäf-
tigung fernerhin wieder männliche Arbeiter verwenden zu
wollen “ Wir glauben, die kapitalistischen Gründe für die
Beibehaltung dieser Frauenarbeit werden stärker wirken,
als die humanitären für deren Abschaffung. Dann erhält
aber die industrielle Reservearmee in Folge der technischen
Entwickelung und deren kapitalistischer Ausnutzung neuen
mächtigen Zuwachs aus dem Heer der männlichenMaschinen-
arbeiter.
Statistische Erhebungen aus dem Stemmetzgewerbe von
Dresden und Umgebung. Der „Bauhandwerker11 veröffentlicht in
seiner letzten Nummer weitere Daten über diese Erhebung, denen
wir zur Ergänzung des von uns in No. 15 des Sozialpolitischen
Centralblattes mitgetheilten noch folgendes entnehmen. Das Ak-
kordsystem ist vorherrschend, im Tagelohn wird nur ganz aus-
nahmsweise gearbeitet. Der Stundenlohn ist auf 55—60 Pf. fest-
gesetzt, was einem Tagesverdienste von M. 4,95—5,40 entsprechen
würde. 251 Arbeiter (174 verheirathet, 77 ledig) gaben im Jahre
1891 (1890 : 266; 1889: 97) gewissenhaft ihren Lohn an. Diese ver-
dienten im Durchschnitte M. 1 135,82 (1890: M 1187,12), was einem
Tagesverdienste von M. 3,64 entspricht. Der Durchschnittsver-
dienst der Verheiratheten betrug M. 1214,41 (1890: M. 1243,93),
das ist pro Tag M 3,89 Im Winterhalbjahr (1. X. 1890 bis 31. III.
1891) betrug der Durchschnittsverdienst der Verheiratheten
M. 419,98 = M. 2,67 pro Arbeitstag, im Sommerhalbjahr M. 774,42
= M. 5,09 pro Arbeitstag. Der Durchschnittsverdienst der
Ledigen betrug M. 956,3 pro Jahr (1890: M. 1069) = M. 18,39 pro
Woche und zwar im Winterhalbjahr M. 319,78 = M. 2,05 pro Tag
und im Sommerhalbjahr M. 636,52 = M. 4,06 pro Arbeitstag.
Das Lohneinkommen von 62% (44 % im Jahre 1890) "der
Dresdner Steinmetze erreicht den Durchschnittsverdienst nicht.
In 27 Fällen muss die Frau durch Waschen, Handel u. s w. zum
Unterhalt der Familie beitragen.
Im Winterhalbjahr waren 222 Steinmetze durchschnittlich
5P/2 Tage (1890 : 20,8, 1889 : 24,33) arbeitslos. Auf die 149 ver-
heiratheten entfielen im Durchschnitte 47'% Tage (1890: 17Vs,
1889: 16,0) der Arbeitslosigkeit. Die unverheiratheten hatten
607g (1890: 20, 1889: 39) Tage der Arbeitslosigkeit aufzuweisen.
Im Sommerhai bj ahr hatten 129 Steinmetze 12,6 (1890: 11%, 1889:
5,5) arbeitslose ‘Tage, die 83 verheiratheten hatten 1276 (1890:
1 1 1/3, 1889: 5), die 46 unverheiratheten 13% (1890: 11, 1889: 9)
arbeitslose Tage im Durchschnitte. Nur 77 (59 verheirathet,
18 ledig) von den 356 Steinmetzen, die sich an der Statistik
betheiligten, hatten über Arbeitslosigkeit nicht zu klagen, da
aber von diesen 10 längere Zeit krank waren, verblieben nur
67 oder 18,8%, welche stets Arbeit hatten; bis zu einem Monat
waren ca. 40%, ein bis zwei Monate ca. 34%, über 2 — 3 Monate
ca. 13%, 3—4 Monate über 8% arbeitslos
24,5% der 356 Steinmetze erkrankten im Berichtsjahre.
57% aller Krankheitstage verursachten die Berufskrankheiten
Lungenschwindsucht und Rheumatismus, sowie Verletzungen
im Berufe. 23 Mitglieder starben, das Durchschnittsalter der-
selben war 37 Jahre 3 Monate und 19 Tage, die Verstorbenen
waren durchschnittlich 20 Jahre (12—20: 12, 20 — 30: 8, 30 — 34: 3)
in ihrem Berufe thätig.
Auf den 16 Dresdner Werkplätzen waren auch 104 Lehr-
linge, demnach auf 100 Gehilfen 29 Lehrlinge thätig, 27 der-
selben standen im Tagelohn mit 372— 9 M. Wochenverdienst, 66
arbeiteten im Akkord, der um 20—30% gegen den der Gehilfen
gekürzt wurde. 70 Lehrlinge standen im Alter von 14—19, 17
im Alter von 20—23, 8 im Alter von 24—30 Jahren, 2 waren 31,
einer 41 Jahre alt.
Haushalt einer Arbeiterfamilie in Bayern. Ueber die
noth wendigsten Ausgaben einer Arbeiterfamilie in seinem Be-
zirk hat der Fabrikinspektor in Oberbayern in seinem neuesten
Bericht (Seite 16 ff.) besondere Erhebungen gemacht. Nachdem
er die blossen Ernährungskosten einer Münchener Arbeiter-
familie mit 16 M. 92 Pf. pro Woche beziffert hat, fährt er fort:
„Zum Vergleiche mögen die Ernährungskosten einer normal
ländlichen Arbeiterfamilie im südlichen Oberbayern, bestehend
aus Mann, Frau und drei 1 bis 3 Jahre alten Kindern, Aufnahme
finden, wie sie sich nach eigens für den vorliegenden Zweck
während längerer Zeit vorgenommenen Aufzeichnungen ergeben
haben. Das erste Frühstück besteht bei derselben aus Brenn-
suppe (aus Wasser, Mehl, sog. Rollfett, Brod und Salz), hin und
wieder aus Kaffee und Brod. Das zweite Frühstück für den
Mann aus 7 2 1 Bier mit Brod, für die übrige Familie aus Ueber-
bleibseln vom ersten Frühstück. Das Mittagessen hie und da
Sonntags aus 7 2 kg Rindfleisch mit Kraut oder Kartoffeln, sonst
ausschliesslich aus Mehlspeisen wie Suppe und Nudeln (aus
Mehl, Schmalz, Hefe, Wasser) oder Kraut und Eierschmarrn u s w.;
das Vesperbrot für den Mann im Winter aus Brod, im Sommer
aus 7 2 1 bis 1 1 Bier mit Brod, für die übrige Familie aus Ueber-
bleibseln vom Frühstück oder Mittagessen; endlich das Abend-
essen aus Suppe (Brennsuppe, verschiedene Einlagen u. s. w.)
oder Kaffee mit Brod. Bier wird, vom zweiten Frühstück und
Vesperbrod des Mannes abgesehen, nur am Sonntage getrunken.
Gebraucht werden durchschnittlich in der Woche 115 g Kaffee
(dazu noch Mandel- und Feigenkaffee), 14 1 Milch, 1,6 kg Zucker,
2,9 kg Mehl, circa 72 kg Rindfleisch, 115 g Erbsen, 575 g Roll-
gerste (oder entsprechend Kartoffeln u. s. w.), 115 g Gries, 230 g
Salz, 920 g Butter, 345 g Rollfett, 18 bis 14 1 Bier (im Sommer),
um 2,26 M. Schwarz- und Weissbrod, 0,23 M. Eier, circa 1 M.
Sonstiges.
Nach den ortsüblichen Preisen berechnen sich die wöchent-
lichen Ernährungskosten dieser Familie im Jahre 1891 auf 14,47 M.
gegenüber 14,25' M. im Jahre 1890, mithin um etwa 1°/o im Be-
richtsjahre „höher“. Das Dürftige und Unrationelle dieser Er-
nährung sticht zu sehr ins Auge, als dass es besonders hervor-
gehoben zu werden brauchte. Die stickstoffhaltigen Speisen
überwiegen ausserordentlich, und jede Abwechslung fehlt. Wenn
man bedenkt, dass auch drei 1- 3jährige Kinder von dieser
Kost jahraus, jahrein leben, so braucht man sich über eine
Degeneration der Arbeiterbevölkerung nicht zu wundern. W ie-
viel Mehr und Besseres und relativ Billigeres durch eine Zube-
reitung der Speisen im Grossen erreicht werden kann, geht aus
einer anderen Stelle desselben amtlichen Berichtes hervor. Da-
nach konnte eine Münchener Fabrik ihren Arbeitern pro Kopf
und Tag ein gutes Frühstück (Kaffee mit Weissbrod), sowie em
Mittagessen, "bestehend Wochentags aus Suppe, Rindfleisch
(450 g:) und Gemüse, Sonntags aus Braten u. s. w für 89 Pf.
liefern. Das macht die Woche 6 M. 23 Pf., bei einer Doppel-
portion 12 M. 46 Pf*, und es ist sicher, dass die oben beschrie-
bene ländliche Arbeiterfamilie von einer solchen Doppelportion
für 12 M. 46 Pf. besser leben würde, als von ihrer erbärmlichen
Hauskost für 14 M. 25 Pf.
204
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 16.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Folgen des Durhamer Kolilenarbeiteraiisstandes. Die
bedeutende Clevelander Eisenindustrie ist in Folge des
Durhamer Kolilenarbeiteraiisstandes völlig zum Stillstand
ekommen. 70 Hochöfen sind ausgeblasen, und es heisst,
ass vor Ende der Woche die Liste um weitere sechs ver-
grössert werden wird. Was dies sagen will, lässt sich am
besten ermessen, wenn man bedenkt, dass an einem einzigen
Hochofen durchschnittlich gegen 300 Mann in Thätigkeit
sind. Von den 6000 Bergleuten in den Eisenminen Cleve-
lands sind 5000 miissig. In Eston wurden die grössten
Stahlwerke Englands geschlossen und mehr als 2000 Arbeiter,
welche in den letzten zwei Jahren nur halbe Zeit zu thun
hatten, sind jetzt gänzlich mittel- und brotlos. Andere grosse
Fabriken befinden sich in der gleichen Lage. In Middles-
borough und Cleveland allein sind mindestens 1 2 000 in der
Eisen- und Stahlindustrie thätige Männer ausser Arbeit.
Mit dem Tee-Gebiet steigt diese Zahl auf das Doppelte,
ohne die ausständischen Grubenarbeiter einzuschliessen.
Französisches Arbeitersekretariat. Endlich scheint das
französische Arbeitersekretariat auch eine ernste Thätigkeit
entfalten zu wollen. Während es bis nun lediglich interne An-
gelegenheiten erledigt hat, soll in der nächsten Sitzung zur
Wahl einer statistischen Kommission geschritten werden.
Die ungarische Regierung und die gewerkschaftliche
Organisation der Arbeiter. Obgleich alle ungarischen Ver-
waltungsrechtslehrer erklären, dass den Staatsbürgern Ungarns
das Vereinigungs- und Versammlungsrecht gewährleistet ist
und kein Gesetz existirt, welches ihnen dasselbe versagen
würde, wird die Genehmigung von Statuten gewerkschaft-
licher Vereinigungen von den Behörden nicht nur hmausgezogen,
sondern häufig überhaupt verweigert. Kennzeichnend für die
Politik der ungarischen Regierung gegenüber den Arbeiter-
organisationen ist folgender Erlass des königlich-ungarischen
Ministeriums, der soeben zur allgemeinen Kenntniss gelangt:
„Die unter Z. 47790 am 18. Dezember v.J. durch den städt.
Magistrat eingereichten Statuten des in Gründung begriffenen
Vereines der Werkmeister in Ungarn versehe ich nicht mit
der Genehmigungs-Klausel: weil ich es nicht für zulässig er-
achte, dass Fachvereinigungen ausschliesslich für
Arbeiter, die sich auf das ganze Land ausdehnen
sollen, zustande kommen, nachdem solche Organi-
sationen erfahrungsgemäss nicht zur Förderung der
Interessen ihrer Mitglieder benützt werden
Hiervon wird der hauptstädtische Magistrat unter Bei-
schluss und Zurücksendung der betr. Schriftstücke mit dem
Bemerken verständigt, dass bis zum Inslebentreten des G.-A.
XIV. 1891 die Einreichung ähnlicher Statuten nicht berücksichtigt
werden.
Budapest, 16. Jänner 1892. Für den Minister:
Georg Lukacs, Staatssekretär.“
Die Einführung der Arbeiterschutzmarke für die
Cigarrenindustrie wird auf der nächsten Generalversammlung
des Unterstützungsvereins deutscher Tabakarbeiter von den
Berliner Cigarrenmachern beantragt werden. Die Einführung,
Leitung und Kontrolle der Schutzmarke (= Kontrollmarke,
Union Label) soll dem Vorstande obliegen. Das Nähere soll eine
spezielle Geschäftsordnung bestimmen. Dieselbe liegt nun auch
in einem Entwürfe vor. Wir entnehmen derselben folgendes:
Nur diejenigen Fabrikanten sollen die Schutzmarke erhalten
dürfen, welche ausschiesslich Mitglieder des Unterstützungs-
vereins der Tabakarbeiter Deutschlands beschäftigen, die vom
Vereine festgesetzen Arbeitslöhne bezahlen, keine Hausarbeit
ausgeben und deren Fabrikräume mindestens den bundesräth-
lichen Bestimmungen entsprechen.
Unternehmerverbände.
Organisation der ländlichen Unternehmer in Braun-
schweig und Thüringen. Anlässlich des bevorstehenden
offiziellen Anschlusses der Braunschweioer Landwirthe an
den „Verband zur Besserung der ländlichen Arbeiterver-
hältnisse in der Provinz Sachsen“ beginnt der Vorstand des
landwirthschaftlichen Centralvereins auch in Braunschweig
selbst mit der Organisation derjenigen Gutsbesitzer, welche
dem Verein beitreten wollen. Es ist in Aussicht genommen,
für jeden Kreis einen Bezirksvorsteher nebst Stellvertreter
später durch Wahl zu ernennen, zuvörderst aber für jeden
Amtsgerichtsbezirk die Vorsitzenden der Amtsvereine als
Vertrauensmänner zu wählen, welchen die Gewinnung von
Mitgliedern zufallen würde. Der Verband selbst tagte am
27. v. M. in Weimar. In den Kreis der Berathungen wurden,
abgesehen von organisatorischen Angelegenheiten, nament-
lich Massnahmen gegen die sozialdemokratische Agitation
auf dem Lande und Vorschläge über weitere Mittel und
Wege zur Hebung des Verbandes gezogen.
Kohlenkartelle und Eisenwerke. Der Gedanke der
Unternehmervereinigungen gewinnt immer grössere Aus-
dehnung. Nachdem in Rheinland -Westfalen die meisten
Kohlenzechen unter einheitlicher Leitung organisirt sind,
wird in verwandten Gewerben immer wieder der Plan eines ;
Anschlusses an jene Organisation zur Diskussion gestellt.
So schreibt ein Vertreter der Interessen der Kleineisenzeug-
fabrikanten an die „Köln. Ztg.“: „Wir möchten wiederholen,
dass der nächste Schritt zu einer Besserung der gesammten
wirthschaftlichen Lage in einer Anlehnung an die j
Kohlen Vereinigungen gesucht werden muss; dieselben i
werden vernünftigen Vorschlägen gewiss Rechnung tragen, j
besonders bei heutiger Lage <Jer Dinge. Wird die Kohlen- j
Vereinigung heute gelockert, wozu schon Anzeichen vor-
handen sind (? ) und verlieren wir den einzigen noch einiger- J
massen festen Punkt, den wir im wirthschaftlichen Leben
noch haben, dann ist nicht abzusehen, wohin wir kommen
werden. Es mag möglich sein, dass der Preis des Eisens :
auf dem Weltmarkt durch eine Ermässigung der deutschen
Kohlenpreise nicht weiter sinken wird, sicher ist das keines-
wegs, wohl aber dass der Preis im Inlande in solchem
Falle weiter sinken wird, und dadurch kann die allgemeine
Lage nur verschlechtert werden. Es ist gewiss schwer, dem ,
Gedanken Geltung zu verschaffen, dass das Interesse Aller
das Interesse des Einzelnen ist, um so weniger ist es 4
gerathen, für den Kampf Aller gegen Alle einzu- t
treten. Kann die Industrie sich zu dem Gedanken einer-
Interessengemeinschaft aufschwingen und diesen Ge-
danken nach und nach verwirklichen, so wird sie auch nicht
länger nöthig haben, die Kastanien für den Zwischenhandel
aus dem Feuer zu holen.“ So arbeiten die Industriellen
selbst einer gemeinschaftlichen Neuregelung der Produk- ,
tion vor.
1
Kartell der bayerischen Spiegelglasschleif- und Polir-
werke. Die Regelung der Produktion durch Unternehmer- !
verbände erstreckt sich bereits bis herunter auf die Versorgung ;
der Arbeiter im Falle einer zeitweisen Betriebseinstellung. So
berichtet der bayerische Fabrikinspektor für Mittel- und Ober-
franken S. 36 und 44 seines Referates für 1891 folgende inter-
essante Einzelheiten: „Die Spiegelglasindustrie allein hatte
andere weniger günstige Verhältnisse im abgelaufenen Jahre
durchzumachen. Durch den günstigen Geschäftsgang der Vor-
jahre und den besonders günstigen Wasserstand des Jahres 1890
wurde auf den Spiegelglasschleif- und Polirwerken zu viel pro- [
duzirt. Die Vereinigung bayerischer Spiegelglasindustriellen
musste sich entschliessen, alle Schleif- und Polirwerke von |
Dienstag, den 19. Mai, an beginnend, bis Montag, den 29. Juni 1891,
ausser Thätigkeit zu setzen und auf allen Spiegelglashütten den
Betrieb 14 Tage lang zu unterbrechen Während dieser Betriebs-
einstellung wurden Polirmeister mit 10 bis 15 Mk, Schleif-
meister mit 8 Mk., Schleif- und P olirgesellen mit je 5 Mk
und Doucirerinnen mit 3 Mk. per Woche entschädigt.
Ausserdem wurde noch von den einzelnen Werkbesitzern Sorge j
getragen, dass Reparaturen am Werke, an den Radanlagen, G e-
rinnen u. s. w. in dieser Feierzeit zur Ausführung kamen, wobei
die Arbeiter Verwendung fanden und extra hierfür entlohnt
wurden. Leider sind durch diese Betriebseinstellung der Werke
die Verhältnisse bis zum Jahresschluss nicht gebessert worden,
die Produktion von Ende Juni bis Ende Dezember stand in !
keinem Verhältnisse zum Absatz in Amerika. Die Genossen-
schaft musste noch vor Jahresschluss eine abermalige, sechs-
wöchige Betriebseinstellung mit denselben Entschädigungs-
gebtinren und mit Beginn am 7. Januar 1892 in’s Auge fassen.1.
Und an einer späteren Stelle seines Jahresberichtes führt der
Fabrikinspektor noch Näheres über die Arbeiterentschädigung
aus. Er schreibt: „Zu der in Kapitel I besprochenen zeitweisen
Betriebseinstellung der Spiegelglasschleif- und Polirwerke ist
noch anzuführen, dass die den Meistern und Arbeitern gezahlten
wöchentlichen Entschädigungen ziemlich genau, bei Schleif-
meistern und Schleifgesellen sogar etwas mehr als die Hälfte
eines durchschnittlichen Wochenverdienstes betrugen. Die Mit-
hülfe bei Reparaturen, Wasserbauten u. s. w. wurde per Tag
No. 16.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
205
mit 1 Mk bis 1,50 Mk. gelohnt, wodurch sich der Ausfall für
jene Arbeiter, die sich gerne diesen Arbeiten unterzogen, sehr
[verringerte. Da alle Arbeiter und Arbeiterinnen freie Woh-
nuno- auf den Werken haben, was bei Eintritt solcher, durch
ungünstigen Geschäftsgang veranlassten Betriebsunterbrechungen
besonders hoch zu schätzen ist, so war für die Arbeiter dieser
Werke doch im grossen Ganzen ziemlich gut gesorgt. Arbeiter,
welche freiwillig während der Betriebsein st el lung das
Werk verliessen, erhielten keine Entschädigung; es
wurde dies Allen vorher bekannt gegeben; nur einige Wenige
waren so unklug, während der Feierzeit vom Werke abzu-
ziehen, wodurch sie ihren Anspruch auf Entschädigung ver-
wirkten.“ In diesen Sätzen treten die Schattenseiten der
kapitalistischen Art und Weise dieser Produktionsregulirung
scharf hervor.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Die preussische Berggesetznovelle.
Mit ungewöhnlicher Raschheit ist die Regierungsvor-
lage betreffend die Abänderung einzelner Bestimmungen
des Allgemeinen Berggesetzes vom 24. Juni 1865 in der
Kommission des Abgeordnetenhauses zur Durchberathung
und Annahme gelangt. Das Ergebniss lässt sich dahin zu-
sammenfassen, dass die vereinzelten Verbesserungsvor-
schläge verworfen worden sind, dass dagegen die Ver-
schlechterungsanträge eine Majorität gefunden haben.
Nach der heutigen Sachlage scheint es ausgeschlossen,
dass eine Kritik auf die Berathungen des Abgeordneten-
hauses auch nur den geringsten Einfluss ausüben wird: der
Gesetzentwurf wird in der von der Kommission vorge-
ischlagenen Gestalt Gesetz werden. Trotzdem darf und soll
mit der Erörterung der Mängel der V orlage nicht innege-
halten werden. Die Bewegung, welche zur Novelle geführt
hat, wird einen Stillstand durch dieselbe gewiss nicht er-
fahren. So wenig die Gewerbeordnung auch nur für längere
Zeit von weiteren Abänderungen bewahrt bleiben wird, so
wenig wird dies mit der Regierungsvorlage, die jetzt das
Abgeordnetenhaus beschäftigt, der Fall sein. Im Nachfol-
genden soll deshalb, zur Ergänzung des in Nummer 13 des
Sozialpolitischen Centralblattes Vorgebrachten, in eine wei-
tere Prüfung der einzelnen Bestimmungen des Gesetzent-
wurfes eingegangen und dabei auf die Aenderungen in der
Kommission Bedacht genommen worden.
Die amtliche „Denkschrift über die Untersuchung der
Arbeiter- und Betriebsverhältnisse in den Steinkohlenbe-
zirken“ bezeichnet als „nicht übertrieben“ die Wünsche der
Arbeiter, „dass das Gedinge von vornherein endgiltig (von
besonderen Ausnahmen abgesehen) festgestellt werde, dass
: sie vom Anfang bis zum Ende des Monats genau übersehen
können, was sie verdienen, dass ein immerhin mögliches
ispäteres Abbrechen bei günstiger Gestaltung der Arbeit
ausgeschlossen werde“ (Seite 1 1).
Wie sucht die Vorlage diesen „nicht übertriebenen“
Wünschen der Bergleute gerecht zu werden?
Wollte man jede Verschleppung bei Feststellung des
Gedinges verhüten, dann musste gesetzlich normirt wer-
den, dass in Gruben mit einer grösseren Belegschaft der
Abtheilungssteiger als ermächtigt gilt, den Gedingesatz zu
vereinbaren. Es musste ferner die Frist genau bestimmt
werden, innerhalb welcher der Abschluss des Gedinges zu
erfolgen habe. Statt dessen überlässt es § 80 b dem Be-
triebsunternehmer, nicht nur die Art der Gedingestellung,
! sondern auch die zum Abschluss des Gedinges ermächtigten
Personen sowie den Zeitpunkt zu fixiren, bis zu welchem
nach Uebernahme der Arbeit das Gedinge abgeschlossen
sein müsse.
Wer kann nun den Bergwerksbesitzer daran hindern,
auch in Zukunft von der Ansicht auszugehen, und dieselbe
rechtsgiltig in der Arbeitsordnung feslzulegen, dass nur der
Betriebsführer zur Vertretung des Unternehmers befugt sei
und dass die Vereinbarungen der Abtheilungsteiger mit
den Bergleuten bloss eine vorläufige Regelung des Ge-
dinges bezwecken? Wer vermag auf das Werk einen
Zwang auszuüben, dass der Zeitpunkt, bis zu welchem das
Gedinge festgestellt wird, sich innerhalb angemessener
Grenzen bewege? Dem Ermessen der Unternehmer ist
Alles überlassen, den Behörden steht das Recht der Ein-
mischung nicht zu und so bleibt einer der „nicht über-
triebenen“ Wünsche der Bergleute unerfüllt.
Dem Verlangen, dass ein Abbrechen vom Gedinge bei
günstiger Gestaltung der Arbeit ausgeschlossen werde, hätte
man durch die Bestimmung entsprochen, dass das „Ab-
reissen“ unzulässig ist, sobald die Verhältnisse, wie sie bei
der Gedingestellung waren, eine Veränderung nicht erfah-
ren haben. Statt dessen begnügt man sich wieder mit der
Arbeitsordnung und überlässt es dem Unternehmer, festzu-
setzen, unter welchen Voraussetzungen eine Veränderung
oder Aufhebung des Gedinges von dem einen oder anderen
Vertragstheile gefordert werden könne. Wenn nun auch
die „Begründung“ auf Seite 26 erklärt: „die fraglichen Vor-
aussetzungen dürften vorhanden sein, wenn die örtlichen
Verhältnisse der verdungenen Arbeit sich wesentlich ändern,
und wenn Wasser-, Wetter- oder sonstige Gefahren der
Fortsetzung der Arbeit in dem bisherigen Umfange ent-
gegenstehen,“ so gewährt die Novelle keinerlei Handhabe,
um dieser Auffassung zum Durchbruche zu verhelfen.
Die Unklarheit der Lohnwirthschaft wird in nicht un-
bedeutendem Maasse durch das „Nullen“ verursacht. Nach
der Denkschrift klagten die Arbeiter vornehmlich darüber:
„1. dass zu viel genullt werde, beziehungsweise die Strafe
für die unreine Ladung zu gross sei; 2. dass auf einzelnen
Gruben die genullten Wagen lediglich im Interesse des
Arbeitgebers Verwendung finden, ohne dass derselbe die
Arbeitsleistung bezahlt; 3. dass den Arbeitern jede Gelegen-
heit fehle, sich zu überzeugen, ob auch wirklich nur unreine
Wagen genullt werden“ (Seite 27).
Das Nullen erfolgt entweder wegen ungenügender
Füllung der Wagenkasten oder wegen Verunreinigung der
Förderung. Bei letzterer ist es schwerer zu entbehren,
wohl aber im erstgedachten Falle. Es bedarf dazu nur des
Ueberganges von der Berechnung des Gedinges nach
Rauminhalt zur Festsetzung desselben nach dem Gewichte
der Förderung. Dieser Schritt ist schon vor Jahren mit
bestem Erfolge in England erfolgt. Der Widerspruch der
Bergwerksbesitzer genügt, um ihn in Preussen zu verhindern.
Nach der Regierungsvorlage sollte statt dessen die Arbeits-
ordnung die Voraussetzungen festsetzen, unter welchen
Abzüge wegen ungenügender oder vorschriftswidriger Ar-
beit gemacht werden dürfen. Die Unternehmer hätten so
die Möglichkeit behalten, ganz nach ihrem Gutdünken An-
ordnungen über das Nullen zu treffen. Aber selbst dies
scheint den Bergwerksbesitzern schon zu weit zu gehen.
Wenigstens ist nicht zu ersehen, aus welchem Grunde sonst
die Kommission die zahme Bestimmung des § 80b Ziffer 3
gestrichen hat. Der Unternehmer braucht also nicht einmal
bekannt m zu geben, ob er nach bestimmten Grundsätzen und
nach welchen er beim Nullen vorgeht, oder ob von Fall zu
Fall und nach der Konjunktur sein Verhalten wechselt.
Der Beschwerde, betreffend die Art der Verwendung
der genullten Fördergefässe wird § 80 d Abs. 2 in der
Fassung der Kommission gerecht. Die wegen ungenügender
oder vorschriftswidriger Beladung der Fördergefässe der
Arbeiter abgezogenen Lohnbeträge sollen der Knapp-
schafts- oder der Unterstützungskasse des Bergwerkes über-
wiesen werden. Einem weiteren Uebelstande sucht § 80c
theilweise abzuhelfen, indem er die Ueberwachung des
Vorgehens beim Nullen den Arbeitern ermöglichen will.
Sollen die Vertreter der Arbeiter, die § 80c vorsieht, auch
das Vertrauen ihrer Mandanten besitzen und behaupten, so
muss die Verquickung mit den Arbeiterausschüssen beseitigt
werden. Es ist nur Selbsttäuschung, wenn man meint,
dass die Arbeiterausschüsse das Vertrauen ihrer Genossen
206
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 16.
überall besitzen. Wo dies nicht der Fall ist, untergräbt
man von vornherein die Stellung des Arbeiterdelegirten,
wenn man ihn nicht durch Wahl aus der Mitte der Arbeiter
hervorgehen lässt.
Wenn irgendwo, dann konnte in der Frage der Kün-
digung ohne Beeinträchtigung der Interessen der Werk-
besitzer der Schein der Gleichberechtigung gewahrt
werden. Nicht einmal dies thut die Vorlage. Die Zahl der
Gründe, aus welchen die sofortige Entlassung eines Ar-
beiters erfolgen kann, ist doppelt so gross, als jene, welche
den Bergmann zum sofortigen Austritte aus der Arbeit
berechtigen. Und nicht nur die Quantität ist es, die unsere
Behauptung rechtfertigt. Gewiss hat Jedermann ein Inter-
esse daran, thunlichst mit rechtlich unbescholtenen Men-
schen in einem Vertragsverhältniss zu stehen. Sehen wir
davon ab, dass die strenge Durchführung dieses Grund-
satzes zu zahlreichen Calamitäten, zur Brotlosigkeit Vieler
führen musste, die gerichtlich wegen bestimmter Delikte
bestraft worden sind. Aber das Eine wird nicht geleugnet
werden können, dass bei Unternehmern und Arbeitern das
Interesse ein gleichartiges ist: wie dem erstem, so muss
auch dem letztem daran liegen, einen ehrlichen Menschen
zum Gegenkontrahenten zu haben. Die Vorlage ist jedoch,
ganz analog der Gewerbeordnung, abweichender Ansicht.
Dem Werkbesitzer bleibt es unbenommen, sich einem un-
angenehmen Vertragsverhältnisse zu entziehen, der Arbeiter,
der sich eines Diebstahls, einer Entwendung, einer Unter-
schlagung oder eines Betruges schuldig macht, kann sofoit
entlassen werden. Ihm steht jedoch das Recht des Aus-
trittes im analogen Falle nicht zu, trotzdem dasselbe eine
recht feste materielle Unterlage unter Umständen besitzen
kann.
Dasselbe was von gemeinen Delikten, gilt vom Falle
des liederlichen Lebenswandels. Hier ist in erster Reihe
hervorzuheben, dass das Verhalten ausserhalb der Arbeit
mit dem Lohnvertrage nichts zu schaffen hat. Will man
aber um jeden Preis einen Zusammenhang herstellen, dann
ist Einseitigkeit unter keinen Umständen zu rechtfertigen.
Ist der liederliche Lebenswandel des Arbeiters Grund zur
vorzeitigen Auflösung des Vertrages, dann muss es auch
der des Unternehmers sein.
Es ist einer der primitivsten Rechtsgrundsätze, dass
die Vertragsbedingungen von beiden Vertragstheilen genau
eingehalten werden müssen und dass die Nichteinhaltung
derselben gewisse Folgen nach sich zieht. Im vorliegenden
Falle berechtigt sie den Unternehmer zur sofortigen Auf-
lösung des Vertrages. Anders den Arbeiter, der nur in be-
stimmten Fällen des Vertragsbruches seitens des Gegners zum
Austritte befugt ist und zwar bei vertragswidriger Art der
Lohnzahlung, widerrechtlicher Uebervortheilung u. s. w.
Gerade die wichtigsten Vertragsbestimmungen dürfen vom
Werksbesitzer ungestraft verletzt werden. Der Sachlage
entsprechend wäre es, wenn den Bergleuten der sofortige
Austritt in jedem Falle gestattet würde, in welchem die
Unternehmer „den nach dem Arbeitsvertrage ihnen oblie-
genden Verpflichtungen nachzukommen beharrlich ver-
weigern.“ Was dem Einen recht, ist dem Andern billig!
Auch die Uebertretung einer sicherheitspolizeilichen
Vorschrift kann Grund zur sofortigen Entlassung eines Ar-
beiters werden, eine Bestimmung die uns überaus hart zu
sein dünkt. Wird sie einmal aufgestellt, dann muss sie noth-
gedrungen ein Analogon im § 83 der Novelle finden. Für
den Fall, dass der Werkbesitzer im Gesetzes- oder Verord-
nungswege erlassene Vorschriften zum Schutze der Arbeiter
unausgeführt lässt, muss es den letztem zustehen, ohne Kün-
digung die Arbeit zu verlassen. Es geht nicht an, die Ar-
beiter dem Leichtsinn und der Habsucht der Unternehmer
wehrlos preiszugeben. Wenigstens die Möglichkeit muss
ihnen gewahrt bleiben, bei offenkundiger Gesetzes Verletzung
und hiedurch herbeigeführter Gefährdung von Leben und
Gesundheit das Vertragsverhältniss als aufgelöst zu be-
trachten. Die Regierung hat ebensowenig als die Kom-
mission daran gedacht, diesen Grundsätzen zur Wirksam-
keit zu verhelfen.
Vielleicht wird es wenigstens im Abgeordneten-
hause gelingen, eine sehr gefährliche Unklarheit und Un-
bestimmtheit im § 82 zu beseitigen. Es heisst unter Ziffer 2
und 6, dass die Entlassung erfolgen kann, wenn sich Jemand
der daselbst erwähnten Delikte „schuldig mache“. Hier ist
nicht einmal eine gerichtliche Aburtheilung zur Voraus- I
Setzung gemacht. Durch einseitiges Erkenntniss des Berg-
werksbesitzers oder seiner Beamten kann man zum Diel), j
Betrüger etc. gestempelt werden. Das Eine wenigstens
kann wohl gefordert werden, dass ohne vorausgegangenes i
richterliches Urtheil die Bedingungen von Ziffer 2 und 6
des § 82 nicht als erfüllt betrachtet werden sollen.
In einer früheren Besprechung der Vorlage wurde be-
reits auf die vollständige Werthlosigkeit des Art. V hinge-
wiesen. Die Kommission des Abgeordnetenhauses hat das
ihre dazu beigetragen, um die Situation vollständig zu
klären. In der bekannten Denkschrift fordert der Verein
für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirke 1
Dortmund gleiche Behandlung für den Bergbau wie für die I
andern Industriezweige. In sonderbarer Inkonsequenz wird j
gleichzeitig gegen die Ergänzung des § 197 des Berggesetzes
Stellung genommen, der ein Analogon im § 120 c G.-O. be-
sitzt. In diesem Sinne wurde an der Regierungsvorlage in
der Kommission eine Aenderung vorgenommen, die nun-
mehr jeden Zweifel über Bedeutung und Tragweite der
Vorschrift beseitigt. Nicht für den ganzen Amtsbezirk oder
für einzelne Reviere, sondern nur für bestimmte Betriebe
können Dauer, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit
und die zu gewährenden Pausen vorgeschrieben werden,
wenn durch übermässige Dauer der täglichen Arbeitszeit
die Gesundheit der Arbeiter gefährdet wird. Dies ist eine
vollständige Beiseiteschiebung des kaiserlichen Erlasses
vom 4. Februar 1890, in dem es noch hiess, „dass es eine
der Aufgaben der Staatsgewalt ist, die Zeit, die Dauer und
die Art der Arbeit so zu regeln, dass die Erhaltung der Ge-! i
sundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirthschaftlichen
Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch aut gesetzlich^
Gleichberechtigung gewahrt bleiben.“ <
Eine der unbegreiflichsten Bestimmungen ist die des
Art. III, wonach die Revierbeamten für den Bergbau die
Aufgaben der Inspektoren zu übernehmen haben. Die Er-
fahrungen eines halben Jahrhunderts werden damit kühl
bei Seite geschoben, welche überall gelehrt haben, dass die
Vereinigung von Verwaltungs- und Inspektionsthätigkei',
insbesondere die letztere gefährdet und damit die Durch'
führung der Arbeiterschutzbestimmungen vom Willen de;
Unternehmer abhängig macht. Welche Gründe gegen die
Einrichtung eines besonderen Berginspektorates vorliegen
ist unerfindlich, es sei denn, dass das Widerstreben der
Bergwerksbesitzer als Argument aufgefasst werden kann
Was wir in No. 13 des Sozialpolitischen Centralblatte."
von der Vorlage gesagt haben, müssen wir auch nach dei
heutigen Prüfung wiederholen. Die Enttäuschung über den
Gesetzentwurf wird überall platzgreifen, wo man von dem-'
selben eine Besserung der Lage der Bergarbeiter erwartet
hat. Er bringt eine solche nicht. „Dem alten Zustande sol
bloss ein neuer Name gegeben, der Willkür der Bergwerks-
besitzer ein juristisch-formelles Gewand umgehängt werden.'
Leo Verkauf.
Die Bergarbeiter und die preussische Berggesetz
novelle. Sonntag, den 10. d. M, fanden im rheinisch-west I
fälischen Kohlenrevier eine grosse Anzahl von Bergarbeiterl
Versammlungen statt, in welchen diese Betheiligten nun.
mehr auch Stellung zu dem Regierungsentwurfe eines neuei1
preussischen Berggesetzes nahmen. Die von dem sogenannter
„alten“ Verbände, d. h. von der grossen, zirka 25 000 Mit
glieder umfassenden und sozialistisch angehauchten Bern
arbeitervereinigung veranstalteten Versammlungen nahmen nacl
eingehender Besprechung der Novelle nachstehende Resolution
an: „In Anbetracht der Thatsache, dass durch die maschi
nelle oder technische Verbesserung des Arbeitsprozesses zahl
reiche Menschenkräfte überflüssig gemacht worden, in weiteren
Betracht, dass bei beschleunigtem Herstellungsprozess an siel
eine Abkürzung der Arbeitszeit bedingt sein sollte, und in end
lichem Anbetracht, dass die Verkürzung der Arbeitszeit ii
No. 16.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
207
gesundheitlicher, sittlicher und anderer Beziehung eine Hebung
t!es Arbeiterstandes bedeutet, erklärt sich die heutige Bergarbeiter-
versammlung für eine mit Ein- und Ausfahrt acht Stunden be-
tragende Schicht und ersucht den preussischen Landtag, bei
Berathung des Berggesetzes eine diesbezügliche Bestimmung in
dasselbe aufzunehmen.“ Der sogenannte ,, neue“ Verband,
d h. die weit kleinere, von Mitgliedern der Centrumspartei ge-
gründete Bergarbeitervereinigung brachte in ihren Versamm-
lungen, die oft an demselben Orte tagten wie diejenigen des
grossen Verbandes folgende Resolution zur Annahme: ,,Die
heutige Versammlung schliesst sich den Bestrebungen des
christlich -patriotischen Bergarbeiterverbandes an, spricht dem
Herrn Minister v. Berlepsch iür sein mannhaftes Eintreten für
die berechtigten Interessen des Bergarbeiterverbandes den besten
Dank aus und bedauert auf das Tiefste, dass durch die aus
Nationalliberalen, Freikonservativen und Konserv tiven gebildete
Mehrheit der Berggesetzkommission die wohlwo nden Reform-
vorschläge der Regierung in den wichtigsten Punkten eine
Aenderung erfahren haben, welche den so sehnlichst erwünschten
sozialen Frieden auf das Bedenklichste gefährden. Wir halten
die in dem Gesetzentwurf niedergelegten Zugeständnisse, um
deren Einführung wir wiederholt dringend gebeten, für das
Mindeste von dem, was die Bergleute beanspruchen müssen und
hegen die bestimmte Erwartung, dass das hohe Haus der Ab-
geordneten die Vorlage der Regierung wieder hersteilen und
annehmen wird. Sollte wider alles Erwarten letzteres nicht der
Fall sein, so richten wir die Bitte an das Herrenhaus, einem
Gesetzentwurf die Zustimmung zu versagen, der unsere als
berechtigt anerkannten Beschwerden ignorirt und keinem
dauernden Frieden dient.“
Kiinlersclmtz in Baden. Die zweite badische Kammer
hat in der letzten Woche den Regierungsentwurf eines
Volksschulgesetzes in einer wichtigen Beziehung abgeändert,
die nicht ohne ungünstigen Einfluss auf den Schutz der Kinder
vor gewerblicher Ausnützung wäre. § 2 des Gesetzes wurde
nach dem Regierungsentwurf wie folgt umgeändert: „Das
schulpflichtige Alter dauert vom sechsten bis zum vierzehnten
Jahre. Es beginnt und endigt um Ostern, gleichzeitig mit
dem Anfang, bezw. Schluss des Schuljahres, für Knaben,
wenn sie bis zum nächstfolgenden 30. Juni (einschliesslich),
für Mädchen, wenn sie bis zum nächstfolgenden 31. Dezem-
ber (einschliesslich) ihr sechstes, bezw. vierzehntes Lebens-
jahr zurücklegen. Für Kinder, welche schwächlich oder in
ihrer Entwicklung zurückgeblieben sind, kann hinsichtlich
des Anfangtermins ihrer Schulpflicht Nachsicht ertheilt wer-
den. Durch die Bestimmung, dass Mädchen schon dann
die Schule verlassen dürfen, wenn sie erst am Schluss des-
selben Kalenderjahres ihr 14. Lebensjahr erreichen, sind
vielfach schon 1 3 ’/j-jährige Mädchen nicht mehr schulpflichtig
und fallen dann der Ausnützung in Gewerbe und Landwirth-
j Schaft frühzeitiger anheim, als bisher.
Festtage im Sinne des Arbeiterschutzgesetzes. Das
königlich sächsiche Ministerium des Innern hat in einer, die
Ausführung der Bestimmungen der neuen Gewerbeordnung
betreffenden Verordnung diejenigen Tage bestimmt, welche
als Festtage im Sinne des Gesetzes anzusehen sind. Es sind
dies: 1. der Neujahrstag, 1. Januar; 2. das sog. Hohe Neujahr,
6. Januar; 3. die Busstage der evangelisch-lutherischen Lan-
deskirche; 4. der Charfreitag; 5. das Osterfest mit Einschluss
des 2. Feiertages; 6. das Fest der Himmelfahrt; 7. das Pfingst-
fest mit Einschluss des 2. Feiertages; 8. das Reformations-
test, 31. Oktober; 9. das Weihnachtsfest, 25. und 26. De-
zember.
Sonntagsruhe der Automaten. In der „Freisinnigen
Zeitung“ wird angeregt, die neuen Bestimmungen der Sonntags-
ruhe auf die Handhabung und Selbsthätigkeit der Automaten
auzuwenden. § 41 a der G -O. kann hierbei herangezogen werden.
Darnach darf, soweit Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter im
Handelsgewerbe an Sonn- und Festtagen im Handelsgewerbe
nicht beschäftigt werden dürfen, in offenen Verkaufsstellen, auch
ein Gewerbebetrieb an diesen Tagen nicht stattfinden. Auto-
maten aber stellen einen Gewerbebetrieb in offenen Verkaufs-
: stellen dar.
Da die Automaten den zur Schliessung gezwungenen Ge-
schäften unzweifelhaft, wenn auch bisher in geringem Umfange
Konkurrenz machen, kann es im Interesse der dem Gesetze
unterstellten Ladeninhaber liegen, auch die Unterstellung der
Automaten unter § 41a der G -O. zu fordern.
Trucksystem in Belgien. In Belgien wurde bekannt-
lich erst durch Gesetz vom 16. August 1887, das am 31. De-
zember 1887 in Kraft trat, jede andere Bezahlung der in-
dustriellen Arbeiter als in landesüblichem Gelde unter
^Strafe gestellt. Obgleich das Gesetz nun schon über vier
|Jahre in Kraft ist, so ist die Bezahlung der Arbeiter in
Waaren noch lange nicht beseitigt, das beweisen die an
einem der letzten Gerichtstage vorgekommenen Verurthei-
lungen wegen Trucks durch den Strafgerichtshof von Ter-
monde; derselbe verurtheilte 20 Fabrikanten der kleinen
Stadt Zele zu Geldstrafen von 50 — 800 Frcs. und gleich-
zeitig eine grössere Anzahl von Fabrikanten von .St. Nicolas
zu Strafen von 50 - -500 Francs.
Gewerbeinspektion.
Der Ausbau der preussischen Gewerbeinspektion.
Nachdem im verflossenen Etatsjahre gemäss der in dem Dreus-
sischen Etat für das Rechnungsjahr 1891/92 beigegebenen Denk-
schrift, betreffend die künftige Regelung der Gewerbeinspek-
tion in der . Bezirksinstanz 17 Regierungs- und Gewerberäthe
angestellt worden sind und an einer Anzahl anderer Bezirks-
regierungen Gewerbeinspektoren mit der vertretungsweisen
Wahrnehmung der Stellung der Regierungs- und Gewerberäthe
beauftragt wurden, hat mit dem 1 . April d. J. die Reorganisation
der Gewerbeinspektion wiederum einen grossen Schritt vorwärts
gethan. Dieselbe ist in der Rheinprovinz, den Provinzen West-
falen und Hessen-Nassau, dem Regierungsbezirk Potsdam und
der Stadt Berlin im Wesentlichen zur Durchführung gelangt.
Alle diese Verwaltungsbezirke sind in Gewerbe-Inspektionen
getheilt worden, deren Besetzung mit Gewerbeinspektoren und
Assistenten am 1. April erfolgt ist. Das Nähere ergiebt die
nachstehende Uebersicht, in welcher die bei den Bezfrksregie-
rungen angestellten Regierungs- und Gewerberäthe und Ge-
werbeinspektoren nicht berücksichtigt sind: Die Rheinprovinz
hat 14 Gewerbeinspektionen erhalten; davon sind mit je einem
Gewerbeinspektor und je einem Assistenten besetzt die Gewerbe-
inspektionen Koblenz, Düsseldorf, Duisburg, Barmen, Solingen,
M -Gladbach, Krefeld, Köln, Saarbrücken und Aachen; nur einen
Gewerbeinspektor erhielten die Inspektionen Bonn, Mülheima. Rh.,
Trier und Düren. — Auf Westfalen fallen neun Gewerbeinspek-
tionen: mit je einem Inspektor und je zwei Assistenten die In-
soektionen Iserlohn und Hagen, mit je einem Inspektor und je
einem Assistenten Münster, Bielefeld, Bochum und Dortmund,
mit je einem Inspektor Dorsten, Minden und Unna. Hessen-
Nassau ist in 4 Gewerbeinspektionen getheilt: Kassel; Fulda und
Frankfurt a. M. mit je einem Inspektor, Wiesbaden hingegen mit
einem Inspektor und einem Assistenten. Der Regierungsbezirk
Potsdam theilt sich in 4 Inspektionen. Zwei davon haben ihren
Sitz in Berlin; die Gewerbeinspektion zu Berlin I für die Kreise
Teltow, Beeskow und Jüterbock, die zu Berlin II für die Kreise
Ober- und Nieder-Barnim, Angermünde, Prenzlau und Templin,
beide mit je einem Inspektor und je einem Assistenten. Die
Gewerbeinspektion in Potsdam, die sich über die Stadtkreise
Potsdam, Brandenburg, Spandau und die Landkreise Zauch-
Belzig, Ost- und Westhavelland erstreckt, hat einen Inspektor
und zwei Assistenten; die vierte Gewerbeinspektion zu Pritz-
walk, die die Kreise Ruppin, West- und Ost-Priegnitz umfasst,
verwaltet ein Inspektor allein. Die Stadt Berlin endlich ist nach
Polizeihauptmannschaften in drei Gewerbeinspektionen, Berlin I.,
II. und III. zerlegt, mit je einem Inspektor und je einem Assi-
stenten. Der den westlichen Theil der Stadt umfassenden
Gewerbeinspektion Berlin III. ist die Stadt Charlottenburg an-
geschlossen. Die Weiterführung der Reorganisation der Ge-
werbeaufsicht wird mit dem nächsten Etatsjahre erfolgen, in
welchem das Inspektorenpersonal um 3 Regierungsgewerberäthe,
25 Inspektoren und 9 Assistenten vermehrt werden soll, für das
Jahr 1894/95 ist die Ernennung von 3 weiteren Regierungs-
gewerberäthen und 27 Gewerbeinspektoren in Aussicht genommen,
so dass dann Preussen 163 der Gewerbeinspektion sich widmende
Beamte im Dienste haben wird. So erfreulich dieser Ausbau der
Gewerbeinspektion ist, dem, indess nur was die Ausdehnung
anlangt, kein anderer Staat Gleiches an die Seite setzen kann,
so sehr ist es zu bedauern, dass den Inspektoren nicht lediglich
die dem Amte zukommende Kontrolle der Durchführung der
Arbeiterschutzbestimmungen und damit in Beziehung ste-
hende sozialstatistische Aufnahmen übertragen, sondern ihnen
auch die Dampfkesselkontrolle überwiesen wurde. Dadurch
wird ihren eigentlichen Aufgaben nicht nur viel Zeit und Kraft
geraubt, und die Auswahl der Inspektoren fast ausschliesslich
auf Techniker beschränkt werden, und, was nicht unwesentlich ist,
die technischen Beamten werden von der richtigen Auffassung
ihres Berufes abgelenkt, jedenfalls nicht vollständig durch-
drungen. So manche werden die Unfallsverhütung als ihre
Hauptaufgabe betrachten lernen, für die die Unfallberufsgenossen-
schaften im eigenen Interesse schon genügend Sorge tragen.
Dies gilt vor Allem von dem Nachwuchse der Inspektoren, den
Gewerbeinspektoren und ihren Assistenten, denen die Dampf-
kesselkontrolle übertragen wird, während die Regierungs- und
Gewerberäthe durch ihre Bureauarbeiten mehr, als es gut sein
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 16.
208
wird, dem direkten Verkehre mit den Unternehmern und Ar-
beitern und den eigentlichen Aufgaben der Inspektoren ent-
zogen werden dürften. Die soeben publizirte vom 23. März
datirte neue Dienstanweisung für die Gewerbeaufsichtsbeamten
reorganisirt die Gewerbeaufsicht von Grund aus; neben einer
Reihe von Verbesserungen muss das Verbleiben vieler Mängel
konstatirt werden. Wir werden demnächst in eingehender Weise
diese Reorganisation beleuchten und dabei zeigen müssen, dass
mit der Vermehrung des Gewerbeaufsichtspersonals allein noch
lange nicht Alles gethan ist, was die Durchführung der Arbeiter-
schutzbestimmungen zu garantiren vermag, ganz abgesehen von
den anderen Aufgaben, die dem Fabrikaufsichtspersonale ob-
liegen.
Arbeiterversicherung.
Krankenkasseniiovelle und Hirsch-Duncker’sclie Hilfs-
kassen. Anfangs ds. Mts. tagte in Berlin eine Versammlung
der Vertreter fast sämmtlicher Hirsch-Duncker’scher Ge-
werkvereins-Hilfskassen. Nicht vertreten waren nur
die Hilfskassen der Gewerkvereine der Maschinenbau- und
Metallarbeiter, der Bildhauer, der Bergarbeiter und der
Schiffszimmerer. Den Bericht über die durch die neue
Novelle zum Reichs - Krankenversicherungsgesetz vom
15. Juni 1883 geschaffene Lage der freien Hilfskassen hatte
der Verbandsanwalt, Reichstagsabgeordneter Dr. Max Hirsch,
übernommen. Dieser führte aus, dass die neue Novelle
schwere Schädigungen für die freien Hilfskassen mit sich
bringe, trotzdem habe die dritte Lesung der Novelle die
Möglichkeit des Weiterbestehens der freien Hilfskassen mit
der Unterstellung unter § 75 des Krankenkassengesetzes
gegeben. Die Pflichten der freien Kassen, Arzt und Medizin
in natura zu liefern, sei auch in der dritten Lesung beibe-
halten worden. Dagegen wurden den freien Kassen jetzt
auch dieselben Rechte gewährt, die bisher nur die Ge-
meinde-Krankenkassen (§ 6'a) besessen hätten. Auch liege
eine wesentliche Besserung darin, dass Mitgliedern, die
neben der freien Hilfskasse noch einer Zwangskasse ange-
hören, statt Arzt und Medizin, die dann von der Zwangs-
kasse geliefert werde, wie bisher ein erhöhtes Krankengeld
gewährt werden könne. Die Leistung von Arzt und Medizin
würde auch den freien Kassen nicht unmöglich sein. Das
von der Hilfskasse des Gewerkvereins der deutschen
Schneider eingeholte Gutachten des praktischen Arztes
Dr. Neumann in Potsdam halte einen Satz von 3 M. auf
das Mitglied und Jahr für Arzt und Medizin für ausreichend.
Die Reichsstatistik habe ein ähnliches Ergebniss gehabt;
nach diesem hätten die Ortskrankenkassen von ganz Deutsch-
land 4,40 M. für Arzt und Medizin auf das Mitglied und
Jahr verbraucht. Auch die Medizinalverbände der Gewerk-
vereine gewährten für 8 — 10 Pf. wöchentlichen Beitrag
(4 — 5 M. jährlich) freien Arzt und freie Medizin. An diesen
Vortrag knüpfte sich eine lebhafte Besprechung, in der die
Ansichten über die Möglichkeit des Weiterbestehens der
Kassen auseinandergingen. Für Beibehaltung der Hilfs-
kassen als gleichberechtigte Kassen traten namentlich die
Vertreter der Gewerkvereine der Schneider, der Fabrik-
und Handarbeiter, der Cigarren- und Tabakarbeiter, der
Tischler, der Kaufleute ein, während die Vertreter der
Hilfskassen der Gewerkvereine der Schuhmacher und
Lederarbeiter und der Stuhlarbeiter sich für Umwandlung
der Kassen in Zuschuss-Kranken- und Begräbnisskassen
aussprachen. Ein förmlicher Beschluss wurde, soweit die
Berichte ersehen lassen, nicht gefasst.
Konferenz der Vorstände der eingeschriebenen
Hilfskassen. Die Vorstände der eingeschriebenen Hilfs-
kassen Hamburg-Altonas einigten sich in einer Sitzung, die
Kassen als dem § 75 des Gesetzes entsprechend aufrecht-
zuerhalten, ein der Novelle zum Gesetze Rechnung tragen-
des Statut auszuarbeiten und eine Konferenz der Vorstände
der centralisirten Kassen auf den 19. d. M. nach Hamburg
einzuberufen.
Aus der Praxis der deutschen Unfallversicherung. Ein
höchst merkwürdiger Bescheid des bayerischen Landes-Ver-
sicherungsamtes wird durch die Tagesblätter bekannt. Danach
hat eine Berufsgenossenschaft für die Kosten der Anschaffung
einer künstlichen Hand nicht aufzukommen, „es kann in einer
solchen nicht ein Heilmittel, sondern nur eine selbstständige
Vorrichtung zum Ersätze der dauernd fehlenden Hand erblickt
werden, durch welche der Arm nicht geheilt und sein Zustand
nicht gebessert wird, sondern ihm nur im Interesse des besseren
Aussehens oder der Unterstützung der anderen Hand eine
andere Gestaltung gegeben wird.“ Durch solche juridische
Tüfteleien, die dein Geist und Zweck sozialreformatorischer Ge- j
setze sicher nicht entsprechen, können die letzteren an Sym-
pathien bei der arbeitenden Bevölkerung wahrlich nicht ge-
winnen.
Gewerbegerichte, Einigungsämter und
Arbeiterausschüsse.
Die deutschen Gewerbegerichtswahlen haben nun fast
überall dort, wo Gewerbegerichte eingeführt wurden, statt-
gefunden. Mit ganz verschwindenden Ausnahmen sind bei der
Wahl der Arbeitnehmer die Kandidaten der Sozialdemokratie
durchgedrungen, auffallenderweise auch in denjenigen Orten,
wo die Arbeiter konfessionell organisirt sind und die Sozial-
demokratie bei den Reichstagswahlen noch auf starke Gegner-
schaft in der Arbeiterbevölkerung stiess, so in Aachen,
Mühlheim a. Rh., Freiburg in Baden, Passau a. D. und vielen
anderen Orten Bayerns. Selbst in der Klasse der Arbeit-
geber drangen mehrfach die sozialdemokratischen Listen
durch, so in Nürnberg,. Hamburg und Bremen, ausserdem
waren die überaus starken Minoritäten der sozialdemokra-
tischen Kandidaten bei den Arbeitgeberwahlen, wie z. B. in
Frankfurt a. M., sehr bemerkenswerth, was auf eine starke
Zuneigung der kleingewerblichen Meister zur Sozialdemo-
kratie schliessen lässt.
Der belgische conseil superieur du truvail (Oberster
Arbeitsrath), ist durch königliche Erlasse, welche im „Mo-,
niteur“ vom 10. April veröffentlicht wurden, organisirt.
worden. Er hat die Leistungen der verschiedenen Sektionen
des conseil de l’industrie et du travail zusammenzufassen
und die Vorarbeiten zu treffen für die Fragen, die ihnen
unterbreitet werden sollen. Die Aufgaben der conseils de
l’industrie et du travail (Gesetz vom 16. August 1887) sind
in al. 2 des Art. 1 folgendermassen bestimmt: Ihnen fällt
die Aufgabe zu, über die gemeinschaftlichen Interessen der
Arbeitgeber und Arbeiter zu berathen, entstehenden Diffe-',
renzen vorzubeugen und, wo es nöthig ist, solche zu
schlichten. Geleistet haben diese conseils bis nun noch,
nichts; nach der Zusammensetzung des conseils superieur
ist auch für die Zukunft kaum viel von dieser Institution zu
erwarten, die übrigens nichts weiteres zu leisten hat, als
das was unseren Gewerbegerichten in den §§ 61 — 70 facul-
tativ zusteht. Ueber die Zusammensetzung des conseil su-
perieur wird in den königlichen Verordnungen bestimmt,
dass derselbe aus 48 Mitgliedern mit vierjähriger Mandats-
dauer zusammengesetzt sein soll; durch je 16 von der
Regierung ernannte Mitglieder sollen die Unternehmer, die
Arbeiter und die Autoritäten in den sozialen Fragen ver-
treten werden. Nach Ablauf der vierjährigen Mandatsdauer
beabsichtigt die Regierung die Vertreter der Unternehmer
und Arbeiter nicht mehr zu ernennen, sondern direkt von
den Interessenten wählen zu lassen. Unter den Vertretern
der Arbeiter finden wTir auffallenderweise auch einige Werk-
führer, unter den „Autoritäten in den sozialen Fragen“
sehr viele Vertreter der Manchestertheorie und Staats-
beamte, welche den Staat in seiner Eigenschaft als Unter-
nehmer zu vertreten haben. Es kann somit kaum viel Nütz-
liches für die Entwicklung der Sozialreform von dem
belgischen conseil superieur du travail erhofft werden.
Londoner Versöhnungsratli. Im Gebäude der Londoner
Handelskammer pflog am 6. April der von derselben gegründete
Versöhnungsrath eine Berathung mit Vertretern der Gewerk-
vereine. Die „Allg. Ztg.“ berichtet hierüber: 70 Gewerkvereine
haben bis jetzt erklärt, die guten Dienste des Rathes bei Lohn-
streitigkeiten zu benützen. Während des einjährigen Bestehens
des Rathes ist es ihm gelungen, eine stattliche Anzahl von
Streitigkeiten zu verhüten und zu schlichten. Der Vorsitzende,
Boulton, meinte gestern Abend, dass es hoffentlich in Zukunft
weder von Arbeitgebern noch von Arbeitern als Zeichen der
Schwäche angesehen werde, sich an den V ersöhnungsrath zu
wenden. Gut wäre es jedenfalls, wenn der Rath die Befugniss
No. 16.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
209
erhielte, eidlieh Zeugen zu vernehmen, und wenn die Ent-
scheidungen nach der Annahme seitens beider Parteien lür
gesetzlich bindend erklärt würden. Sir John Lubbock glaubte
dem Rath aus dem Grunde eine gedeihliche Wirksamkeit pro-
phezeien zu können, weil ebenso viel Arbeiter, wie Arbeitgeber,
m denselben sitzen.
Litteratur.
Das Mülhauser Arbeiterviertel, seine Badeanstalten und Wasc h-
küchen. Historischer Ueberblick. Auszug aus dem Jahres-
berichte 1891. Industrielle Gesellschaft von Mülhausen.
Kommissionsverlag von C. Detloff’s Buchhandlung. Mül-
hausen i. E. 1891. 39 S. Tafel 1 — III Preis 1,60 M.
Würde die vorliegende Broschüre nichts als die bis zum
Ueberdrusse wiederholte, einseitig dargestellte Entstehungs-
geschichte des Mülhauser Arbeiterquartieres enthalten, fürwahr,
wir würden es dann nicht auf uns nehmen, an dieser Stelle eine
über den Spruch Ben Akiba’s hinausgehende Anzeige derselben
zu liefern. Neben der herkömmlichen Erzählung bietet sie indess
auch das offene Geständniss, dass die mit der Cite ouvriere ver-
suchte Lösung der Arbeiterwohnungsfrage missglückt ist. Die
diesbezüglichen Ausführungen, die übrigens wörtlich aus der
„Zehnjährigen Erhebung über die gemeinnützigen Einrichtungen
des Ober-Elsass, der Industriellen Gesellschaft durch ihr Komitee
für gemeinnützige Zwecke vorgelegt“ Mülhausen 1890, S. 45 u. ff.
herübergenommen worden sind, stimmen nun ganz mit dem
überein, was ich vor Jahren in meinem Buche über die ober-
elsässische Baumwollindustrie ausgeführt habe. Es wird zuge-
geben, dass die Arbeiter, welche Eigenthümer der Häuser ge-
worden sind, das Eigenthum nicht so sehr durch Lohnersparnisse,
als durch Aftervermiethung und somit durch Ausbeutung der
Mülhauser Wohnungsnoth errungen haben. Es wird zugegeben,
dass die Häuser nunmehr bereits vielfach in den Besitz von
Spekulanten gerathen sind. Es wird zugegeben, dass die Woh-
nungsdichtigkeit im Arbeiterquartiere um 50% zu hoch ist. Es
wird zugegeben, dass auch die bautechnische Anlage nicht ent-
sprochen hat, und daher die ursprüngliche Form des Citehauses
durch alle möglichen und unmöglichen Zubauten verunstaltet
worden ist. „Aber die Käufer, welche immer eilig sind, sich
ihrer Schuld zu entledigen, strebten zu oft, durch Vermiethen
j eines Zimmers oder einer kleinen Wohnung sich Einkünfte zu
verschaffen; daher rühren alle diese verschrobenen Anbauten,
welche die Gesellschaft nicht zu verhindern vermochte, und dem
aus Häusern ohne Stockwerk bestehenden Theile der Arbeiter-
stadt ein so wunderliches und oft unästhetisches Aussehen ver-
leihen. Als der Arbeiter einmal diesen Weg eingeschlagen hatte,
j sah er ein, dass das Haus mit Stockwerk sich zu seinem Han-
del (!) besser eignete und verlangte nur noch solche Häuser. Es
wurde die Genugthuung verschafft etc.“ Es wird weiter zuge-
geben, dass die Gesellschaft die „grosse Idee“, welche sie zur
Ausführung bringen wollte, besser erreicht hätte, wenn sie Eigen-
thümerin der Häuser geblieben wäre und letztere blos vermiethet
hätte. Zur Entschuldigung der immer noch weiter befolgten
alten Methode werden nur die Fragen aufgeworfen: „Wie kann
man aber zur Liquidation einer Gesellschaft schreiten, die nicht
realisirt? Und womit dieses moralisch anregende Mittel zur
Sparsamkeit, welches jeden Besitzer des kleinsten Erdfleckens
beseelt, ersetzen? Auf dem Lande besitzt Jeder, in Ermangelung
eines Hauses einen Acker, den er ausnutzt, eine Kuh, eine Ziege”,
Hühner, welche ihm eigen sind und an welchen er seine Freude
hat, nehmt in der Stadt dem Arbeiter sein Haus, so bleibt ihm
Nichts übrig, als das Wirthshaus und die Vergnügungslust.“
Wirklich? Ist das der schliessliche Erfolg der berühmten
„Wohlfahrtseinrichtungen“ Mülhausens und der Lösung der Ar-
beiterfrage durch die 'Arbeitgeber ? Uebrigens liegen die Dinge
nach unserer Kenntniss der Verhältnisse denn doch nicht ganz
so schlimm. Auch in Mülhausen gibt es Arbeiter — und ihre
Zahl ist in erfreulicher Zunahme begriffen — welche ihre paar
überschüssigen Groschen, auch wenn sie keine Hausraten zu
zahlen haben oder Ziegen und Hühner besitzen, noch lange nicht
im Wirthshause oder für niedrige Vergnügungen vergeuden,
sondern dieselben vielmehr zur Förderung ihrer Bildung, zur
geistigen und wirthschaftlichen Emancipation ihrer Klasse be-
stimmen.— Bemerkenswerth sind die der Broschüre beigefügten
sehr genauen Pläne der Arbeiterhäuser und der Arbeiterstaclt.
Freiburg i. B. H. Herkner.
Lux, Dr. H., Die Prostitution, ihre Ursachen, ihre Folgen und
ihre Bekämpfung. (Berliner Arbeiter-Bibliothek, herausge-
| geben von Max Schippel. III. Serie, 4. Heft.) Berlin 1892.
Verlagsbuchhandlung des „Vorwärts“.
Wer den Standpunkt der Sozialdemokratie in der Prosti-
I tutionsfrage kennen lernen will, muss dieses Schriftchen lesen,
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Brau
I
in dem in geschickter Weise die leicht zugängliche Literatur
verarbeitet wird. Die Brochure zeichnet sich durch frischen
Ton und geschickten Aufbau aus. Die Unmasse zum Theil leicht
vermeidlicher Fremdwörter berührt auch den Leser unangenehm,
der das Fremdwörterverzeichniss, das dem Schriftchen vorgesetzt
ist, nicht benöthigt.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
Men ger, Dr. Anton, Professor an der Universität Wien, Das
Recht auf den vollen Arbeitsertrag in geschicht-
licher Darstellung. Zweite verbesserte Auflage. Stutt-
gart, 1891, J. G. Cotta’s Nachfolger. 8°. X und 178 S.
Morf. Rudolf, Adjunkt des schweizerischen Arbeitersekretariats,
Die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit. Ihre
Ursachen, Wirkungen und Folgen. Erfahrungen und Ur-
theile von Geschäftsleuten. Populäre Darstellung. Zürich
1892, Buchhandlung des schweizerischen Grütlivereins. 8°.
32 S.
Pliilippovich. Dr. Eugen von, Professor an der Universität Frei-
burg, Wirthschaftlicher Fortschritt und Kulturent-
wicklung. Freiburg i. B., 1892, J. C. B. Mohr 8°. 56 S.
Preussisclie Ausführungs-Anweisung zum Reichs-Gesetz vom
I. Juni 1891 betreffend Abänderung der Gewerbeordnung.
Charlottenburg, Fr. Kortkampf gr. 8°. 52 S.
Sassen, Armand P. Th., Directeur der Bank. Rijkspostspaarbank.
Statistisch-Historisch Overzicht, betrekkelijk het
eerste tienjarig tijdvak van haar bestaan (1. April
1881 bis 1. April” 1891). Franeker F. Kosma ohne Jahr.
Folio. IV, Tabellen A-V, 23 S. und ein Diagramm.
Extrait du rapport ä la reine-regente concernant
le Service de la caisse d’epargne postale des pays-
bas en 1890. Franeker F. Kosma ohne Jahr 4°. 9 S.
Schiffner, Dr. Ludwig, Professor an der Universität Innsbruck,
Die geplanten Höfebücher für Deutschtirol. Berlin
1892, C. Heymanns Verlag. 81. VIII und 76 S.
Schmollet’. Gustav, Lieber die Entwicklung des Gross-
betriebes und die soziale K lass enbil düng (S.-A. aus
den „Preussischen Jahrbüchern“ Band 69 Heft 4 :. Berlin,
Georg Reimer, 1892. 8". 457—480 S.
Scott, Jean Thomson B. A. The conditio ns of female
Labotir in Ontario. (Toronto University Studies in Poli-
tical Science W J. Ashley, Editor. First Series No. III.)
Toronto, Warwick & Sons 1891. 4°. 31 S.
Steinert, D, Hamburgischer Fabrik-Inspektor, Neue Normen
zur Benutzung b e i A u f s t e 1 1 u n g v o n Arbeitsordnun-
gen (Fabrik- Ordnungen) in Gemäss heit des Ge-
setzes vom I.Juni 1891 betreffend Abänderung der
Gewerbeordnung (Arbeiterschutzgesetz). Hamburg
1892, L. Friedrichsen & Co. 8n. 48 S.
Verslagen aan de Konigin-Weduwe, Regentes van het Konin-
krijk bet rekkelijk den dienst der Posterijen, der Ryks-
postspaai bank en der Telegraphen in Nederland, iS90.
II. Rijkspostspaarbank, ’S-Gravenhage, 1889, Gebroders
van Cleet. 4". 89 S. und 7 Diagramme.
Voltz, Dr. H., Statistik der Ober.schlesischen Berg- und
Hüttenwerke für das Jahr 1891. Herausgegeben vom
Oberschlesischen berg- und hüttenmännischen Verein. Zu-
sammengestellt und bearbeitet von dem Geschäftsführer des
Vereins. Kattowitz 1892, Selbstverlag. 4". 84 S.
Wagner, Adolf, Grundbesitz. (Sonderabdruck aus dem Hand-
wörterbuch der Staatswissenschaften, herausgegeben von
Conrad, Elster, Lexis, Loening. IV. Band.) Jena 1892j G. Fischer.
80. S. 112—139.
Zacharias, Dr. Otto, Die Bevölkerungsfrage in ihrer Be-
ziehung zu den sozialen Nothständen der Gegen-
wart. Fünfte vom Verfasser revidirte Auflage. Jena 1892.
Ferd. Mauke’s Verlag. VI und 76 S.
Zweigert, Erich. Einkommensteuer-Gesetz vom 24. Juni
1891 nebst Ausführungsanweisung des Finanz-
ministers vom 5. August 1891. Textausgabe mit Ein-
leitung, Anmerkungen, Sachregister und einem Anhang, ent-
haltend die Gesetze betr. Erwerbung und Verlust der
Bundes- und Staatsangehörigkeit, das Nothkommunalsteuer-
Gesetz, das Wahlgesetz und der Steuertarif. Zweite umge-
arbeitete und vervollständigte Auflage. Essen, Bädecker
1892. 80. 12 und 460 S.
n in Berlin. — Druck von II. S. Hermann in Berlin.
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No. 16.
Verlag von Leonhard Simion, Berlin SW., W ilhelmstrasse 121
Volkswirtschaftliche Zeitfragen,
Vorträge und Abhandlungen
herausgegeben von
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Die amtliche Statistik
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die Arbeiterfrage im Deutschen Reich.
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Dr. E. Hirschberg.
Der gegenwärtige Stand der Elektrotechnik
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bev Arbeiter, ob biefelben (Sotbnt waren, wie
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Skalieren oertreten tinb itfro.
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Siertac; non 21). Seipart ,,gadBtg. f. laecfielcr"
£amburg=St. ©corg, Stil ber .(toppet 79.
^Utgufi (Tvnmvdmautt,
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tßreiö 25 SJJf., 20 (S^cmplarc für 5 SM«, lOOßjrpl.
für 15 3JL, 100t) 6jpl. für 10J 3«.
£cr 2bctüogiid)c eitcvntur=ilci«d)t Mjreibt: ,,©tc
allgemeine Verbreitung Öicfcr iBrufduirc ift
llödn't luitlifdicnsiucrt. fVI) vntc bcn Herren Slmts-
briiberu, fie m läiitoltiijcu äJcviammlmiflcn 3111- Slerlepuui
1111b Söefprcdjiuig 311 bringen mi® »evfpvcdjc bcnioit guten I
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ihre Bedeutung für das Wirtlischaftsleben.
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presse. — Stellung der Regierungen zu den socialen Parteien. —
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Russland. China, Indien, Rumänien, Serbien und England. Hrsg, mit einleit, und erläuternden Ab-
handlungen von Dr. Rudolf Meyer. 1883. 632 S. gr. s°. 16 Mark.
A. Sartorius Frlir. v. H’altershausen. Die nordamerikan. Gewerkschaften unter d. Einilus» der
fortschreitenden Productionstechnik. 1886. 352 S. gr. 8°. 7 Mark 60 Pf.
Derselbe. Der moderne Socialismus in den Vereinigten Staaten v. Amerika. 1890. 422 s gr. 8°. 8 Mark.
Ursachen der amerikanischen Concurrena. Ergebnisse einer Studienreise der Herren Grafen Geza
Andrassy, Geza und Imre Szechenyi, Ernst Hoyos, Baron G. Gudenus und Dr. Rudolf Meyer
durch die Vereinigten Staaten. Mit einer Karte. 1883. 825 S. gr. 8°. 13 Mark 50 Pf.
Rodbertus-Jagetzow. Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen Creditnoth des Grundbesitzes.
2 Thle. 1868. 544 S. kl. 8°. 6 Mark.
Zeller, .T. Zur Erkenntniss unserer staatswirtlisehaftlichen Zustände. 2- Aufl. mit Anhg. : Rodhertus-
Jagetzow. Die soziale Bedeutung der Staatsvirthschaft. Erster sozialer Brief an von Kirchmann. Der
Normalarbeitstag. 1885. 305 S. gr. 8°. 6 Mark.
Knies, C. O. Ad. Die Statistik als selbstständige Wissenschaft. 1850. 175 S. kl. 8°. 2 Mark 25 Pf.
(Parthieartikel. Vorräthe nur noch gering.)
TI, (ButtEnlag, 3)erlaqsbud)I)anblitng in ^Berlin.
Unmittelbar und) (Smanatiou bev Sonette 31111t $ranfenoerfid)erung§gefel$ erfdjeint bie oolfftnnbig
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Mai). 6>ef). Dber'DlegieniitgSdftatf), uortv. Staff) int 9(eid)§amt beo gniievtt.
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Hugo Frankel,
Antiquariat fürRechts-u. Staatswissenschaft,
Berlin N. 24, Elsasserstr. 36,
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Specialfach einschlagender Literatur.
Verantwortlich für den Anzeigentheil: O. Schuchardt in Berlin. — Druck von II. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 25. April 1892.
Nummer 17.
SOZIALPOLITISCHES
C E NTRALBL
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltenc
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Eine moderne Arbeiter-Pro-
d 11 ktivgenosse n schaft. Von
Prof. Dr. Heinrich II er kn er.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirthschaftsstatistik :
Der 3. evangelisch-soziale Kongress.
Die deutsche Kommission für
Arbeiterstatistik.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Schweizerischer Gewerkschafts-
Kongress.
Die schweizerische Reservekasse.
Zahl der Lohnkämpfe in der
Schweiz.
Der Pariser Gemeinderath und die
neue Arbeitsbörse.
Die Pariser Omnibusgesellschaft.
Unternehmerverbände:
Westphälisches Kokessyndikat.
Produktionskartelle der Brtixer
Kohlenwerke.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Der französische Senat und die
Beschränkung der Arbeitszeit.
Von Leo Frankel.
Möglichkeit des Maximalarbeits-
tages in der deutschen Industrie.
Preussische Polizeiverordnung über j
die äussere Heilighaltung der
Sonn- und Festtage.
Sonntagsruhe für deutsche Bahn-
arbeiter.
Arbeiterschutz für diePIausindustrie.
Arbeiterversicherung:
Die Konferenz der eingeschriebenen
Hilfskassen.
Infektiöse Krankheiten und die
österreichische Krankenversiche-
rung.
Zur organisatorischen Reform der
deutschen Arbeiter Versicherung.
Krankenversicherung der Dienst-
boten in Baden.
Bestrebungen zur Abschaffung des
Invaliditäts- und Altersversiche-
rungsgesetzes.
Gewerbegerichte :
Rechtsmittel gegen die Entschei-
dungen der Gewerbegerichte.
Wohnungszustände und W0I1-
mmgsgesetzgebung :
Wohnungs- und Haushaltsverhält-
nisse der Stadt Plalle a. S.
Wohnungszustände in Worms.
Litteratur:
Allgemeiner Schweiz.er Gewerk-
schaftsbund.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
f Bpr \ v
Eine moderne Arbeiter-Produktiv-
genossenschaft.
Am 5. Februar d. J. sind vor der Königlichen Arbeits-
kommission in London über die Verhältnisse einer Schuh-
waaren-Produktivgenossenschaft von deren Geschäftsführer
Aussagen1) abgegeben worden, die uns der Beachtung
weiterer Kreise werth zu sein scheinen.
Die Antheile der genannten Genossenschaft, der
»Kettering Cooperative Boot and Shoe Manufacturers’
Society“, lauten aut 1 Lstr. Jeder von der Genossenschaft
beschäftigte Arbeiter muss mindestens 5 Antheile erwerben.
Niemand darf mehr als 25 besitzen. Das gesammte Antheils-
kapital beträgt 2582 Lstr. Hiervon gehören ungefähr
1500 Lstr. den 100 von der Genossenschaft beschäftigten
Arbeitern. Im Ganzen giebt es 300 Antheilseigner. Es
arbeitet also nur ein Drittel in der Genossenschaft. Da
Labour Commission. Minutes of Evidence. Group C.
Lighteenth day. London. Eyre and Spottiswoode. 1892.
aber die 200 nicht in der Genossenschaft arbeitenden An-
theilseigner insgesammt nur über etwas mehr als 1000 Lstr.
verfügen, ergiebt sich, dass die arbeitenden Genossen-
schafter öfters den erlaubten Maximalbetrag der Antheile
erreichen mögen, während die nicht für die Genossenschaft
arbeitenden Mitglieder sich mit dem Minimalbetrage be-
gnügen. Indess auch die nicht von der Genossenschaft be-
schäftigten Mitglieder gehören der Arbeiterklasse an.
Die arbeitenden Genossenschafter erhalten den von
dem Gewerkverein festgestellten Lohnsatz. Ist man bezüg-
lich eines neuen Artikels über denselben im Zweifel, so
giebt der Präsident des Gewerkvereins den Ausschlag.
Die Arbeitszeit beträgt 54 Stunden pro Woche. Jeder
Arbeiter muss, wie bereits bemerkt, auch Antheilseigner
sein. Um nun auch Arbeitern den Eintritt zu ermöglichen,
welche noch nicht 5 Lstr. besitzen, wird von eintretenden
Arbeitern zunächst nur ein Eintrittsgeld von 1 sh. 6 d. ver-
langt. Dieselben müssen sich aber für 5 Lstr. der Genossen-
schaft gegenüber verpflichten. Der Betrag wird allmählig
durch die auf die Arbeiter entfallende und später noch ein-
gehender zu besprechende Gewinnbetheiligung angesammelt.
Die Arbeiter arbeiten tbeils in der Genossenschaftsfabrik,
theils in ihrer eigenen Wohnung. Auch Arbeiterinnen ge-
hören mit völlig gleichen Rechten der Unternehmung an.
Die Leitung der Genossenschaft ist einem Präsidenten,
einem Geschäftsführer und Sekretär, einem Schatzmeister
und 12 Ausschussmitgliedern übertragen. Alle Direktions-
mitglieder werden jährlich von den Antheilseignern neu
gewählt und erhalten mit Ausnahme des Geschäftsführers,
keinen festen Gehalt, sondern nur eine überaus niedrig be-
messene Tantieme (5%) vom Reingewinne, d. h. nicht jedes
Direktionsmitglied erhält 5 %i sondern insgesammt unter die
ganze Direktion werden nur 5 % des Reingewinnes ver-
theilt. Die eigentliche Seele des Geschäftes dürfte der Ge-
schäftsführer sein. Er war früher selbst Schuhwaaren-
arbeiter und hatte mit kaufmännischen Angelegenheiten
nichts zu schaffen. Trotzdem scheint ihm die Geschäfts-
führung keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten. Jedenfalls
sind die Erfolge glänzende. So hatte die Genossenschaft,
die erst vor 2 '/2 Jahren begründet worden ist, im ersten
Halbjahre einen Lfmsatz von 1 700 Lstr., im letzten bereits
einen solchen von 7222 Lstr. Der erzielte Gewinn belief
sich auf 33 % des eingezahlten Kapitales. Der Grund dieses
auffallenden Gedeihens dürfte, abgesehen von der augen-
scheinlich grossen moralischen Tüchtigkeit dieser Genossen-
schafter, in folgenden Umständen zu suchen sein. Die Ge-
nossenschaft verkauft ihre Produkte nicht auf offenem
Markte, sondern sie liefert lediglich an Arbeiterkonsumver-
eine; besitzt also durchaus sichere, zahlungsfähige Kunden
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
mit ziemlich normalen Bedürfnissen. Der ganze Geschäfts-
verkehr erfolgt ferner gegen unmittelbare Baarzahlung.
Regeln die Abnehmer nicht innerhalb zwei Wochen ihre
Rechnung, so verlieren sie die sonst nach Massgabe der
Einkäufe zu gewährende, ansehnliche Prämie. Diese Ge-
pflogenheit setzt dann auch die Genossenschaft in den Stand,
immer gegen baar einzukaufen und der damit verknüpften
Vortheile theilhaftig zu werden. Die Genossenschaft hält
für den Verkehr mit den Kunden auch zwei Reisende, eben-
falls Arbeiter. Die Reisespesen sind ziemlich niedrig:
78 Lstr. in einem Halbjahre für beide.
Besonderes Interesse verdient die Art und Weise, in
welcher der Gewinn vertheilt wird. Zunächst erhalten die
Antheilseigner eine 5 prozentige Verzinsung ihres einge-
zahlten Kapitals. Sodann werden die nothwendigen Air-
schreibungen für Abnutzung der Gebäude, der Maschinen
u. s. w. vorgenommen. Von dem noch verbleibenden Reste
erhalten 40 % die Arbeiter nach Massgabe des verdienten
Lohnes, 40 % die Kunden nach Massgabe ihrer Einkäufe.
So empfingen die Arbeiter pro I Lstr. Lohn 1 sh. 6 d., die
Kunden pro 1 Lstr. Einkäufe 4 d. Es verbleiben also noch
20 % des Reingewinnes. Diese werden in der Weise ver-
theilt, dass 7 1/2 % dem Antheilskapital, 2'/2 % der Propa-
ganda für Genossenschaftswesen und gemeinnützige Zwecke,
5% einem Unterstützungsfond für Mitglieder und 5% als
Tantieme an die Direktion zugewendet werden.
Schwierigkeiten und Zwistigkeiten zwischen der
Leitung und den Arbeitern haben sich bis jetzt nicht er-
geben. Es herrscht das beste Einvernehmen. Wohl aber
sind die Arbeiter sehr darauf bedacht, nur durchaus
tüchtige und bewährte Genossen in den Vorstand zu
wählen. Bei dem grossen Interesse, das namentlich die
arbeitenden Mitglieder der Genossenschaft an deren Ge-
deihen haben, wird die Arbeit vorzüglich ausgeführt. Bei
der Aufnahme werden Mitglieder des Gewerkvereins be-
vorzugt. Insofern Genossenschafter dem Gewerkverein
noch nicht angehören, werden sie vom Vorstände zum Ein-
tritt in denselben aufgefordert.
Eine der hier geschilderten ganz ähnliche Produktiv-
genossenschaft besteht auch und zwar schon seit 6 Jahren
in Leicester mit demselben Erfolge. Die Ketteringgenossen-
schaft arbeitet nur Herrenschuhe, die letztere ausschliess-
lich Damenschuhe.
Was diesen modernen Typus der englischen Pro-
duktivgenossenschaft von den älteren Gründungen unter-
scheidet, das ist die Sorgfalt, mit welcher hier darnach ge-
strebt wird, eine kapitalistische Entartung des Unternehmens
hintan zu halten. Das Kapital erhält zwar eine feste Ver-
zinsung, aber nur eine sehr mässige Gewinnbetheiligung,
der Gewinn kommt hauptsächlich den Arbeitern und den
Konsumenten, die ja auch Arbeiter sind, zu statten, kein
Mitglied darf mehr wie 25 Antheile besitzen, und jeder
Arbeiter, der von der Genossenschaft beschäftigt v'ird, muss
Antheile erwerben.
Der Geschäftsführer der Genossenschaft erklärte vor
der Untersuchungskommission, dass dieses System einer
weiten Verbreitung fähig sei und schliesslich zur Lösung
des Arbeitsproblems führen müsse.
Wir sind in Bezug auf den letztgenannten Punkt
skeptischer gestimmt. Glauben wir also auch nicht daran,
dass diese Entwicklung den Weg schlechthin bedeute,
so halten wir es doch für einen der Wege, auf denen die
allmälige Befreiung der Arbeit gefördert werden kann.
Abgesehen von den nicht zu unterschätzenden wirthschaft-
lichen Vortheilen gewähren Vereinigungen wie die genannte
dem Arbeiter volle Unabhängigkeit, sie fördern seine
Intelligenz und seine Einsicht in das Wirthschaftsleben, sie
erhöhen sein Solidaritätsbewusstsein und trainiren ihn, wenn
wir so sagen dürfen, überhaupt für höhere Ziele. Be-
merkenswerth bleibt ferner, wie die grossartige Organi-
sation, welche der Arbeiterkonsum durch die über eine
Million Mitglieder zählenden Konsumvereine in England er-
halten hat, nun auch für die Entwicklung von Arbeiter-
Produktivvereinen eine solide Grundlage abgiebt. Mag der
Geschäftsführer der Genossenschaft immerhin versichern,
dass seiner Ansicht nach dieselbe auch im vollständig freien
Wettbewerbe sich bewähren würde, so giebt er doch offen
zu, dass die sichere Kundschaft, die sie an den Konsum-
vereinen besitzt, die Geschäftsführung ungemein erleichtert.
Man sieht so deutlich, welch beträchtlichen Einfluss die
Arbeiter auf die Besserung der sozialen Zustände auch da-
durch auszuüben befähigt sind, dass sie für dieses Ziel ihre
Macht als organisirte Konsumenten in die Wagschale werfen.
Und wir glauben in der That, dass eine bessere Organi-
sation der Produktion sich nur wird aufbauen können aut
einer vollkommeneren Organisation des Konsums. Letztere
ist in England im erfreulichsten Wachsthume begriffen.
Hoffen wir, dass eine den Konsumvereinen entsprechende
Organisation von Produktivereinen sich bald ebenbürtig
entwickeln möge, und dass diese Entwicklung, welche unter
fortschreitendem Ausschlüsse des kapitalistischen Unter- ,
nehmers und Händlers den Arbeiter produzenten dem Aibeiter-
konsumenten die Hand reichen lässt, nicht auf England be-
schränkt bleibe!
Freiburg i. B. Heinrich Herkner. .
Soziale Wirtschaftspolitik und Wirthschafts- :
Statistik.
Der dritte Evangelisch-Soziale Kongress.
Am 20. und 21. d. M. fanden im Berliner Stadtmissions- :
hause die Verhandlungen des Evangelisch-Sozialen Kon-
gresses statt. Nach den Berichten der Tagespresse,.;
der wir hier folgen, war die Theilnahme an dem-,
selben eine geringere, als gegenüber den beiden vor-
hergehenden Kongressen. Aus dem Bericht des General-
sekretärs Göhre war Folgendes zu entnehmen. Der
Kongress zählt 350 ständige Mitglieder, die einen festen
Beitrag von je 15-200 M. zahlen; an regelmässigen Bei-
t rügen5 sind im vergangenen Jahre 2 500 M. und ein minder
hoher Beitrag an einmaligen Beiträgen eingegangen. Durch
den Druck der Kongressverhandlungen ist im \ orjahr ein
ziemlich beträchtliches Deficit entstanden: die Ausgabe der
Broschüren-Sammlung „Evangelisch-soziale Zeittragen is
bis zum 15. Heft gediehen, ein neues literarisches Unter-
nehmen bilden die „Mittheilungen des evangelisch-sozialen
Kongresses“, von dem bisher vier Nummern erschienen sind.
Die neu eingerichtete Auskunftsstelle für evangelisch-soziale
Angelegenheiten ist zahlreich benutzt worden.
Nach dem Berichte des General-Sekretärs folgte als
1. Gegenstand der Tagesordnung das Referat Pastor Nau-
manns (Frankfurt a/M.) über Christenthum und Familie. Dei
Redner entwarf zunächst ein geschichtliches Bild von der
Entwickelung des Familienlebens und führte aus, dass es
durchaus kein christlicher Grundsatz sei: es müsse im Harne
gewaschen und gekocht werden. Die Kirche wolle die in-
dustrielle Entwickelung nicht aufhalten und sage: die Frau
habe dasselbe Recht wie der Mann. „Die Frau gehör ins
Haus“ sei keineswegs ein Dogma der christlichen Kn che,
und es müsse ausgesprochen werden, dass die evangelisc i
Kirche es durchaus für berechtigt halte, wenn die 1 i au an
der Industriearbeit theilnehme. Der Hauptzweck der um
sei die Kindererziehung. Die Ehe sei eine Gottesstittung,
sie solle Glaubens- und Himmelserben, nicht aber, wie BeDei
meine, Gelderben schaffen. Es sei nothwendig, offen un
volksthümlich über das Eheleben zu sprechen und zu be-
tonen, dass der Hauptzweck der Ehe die christliche Kinae '
erziehung sei. Voraussetzung sei, dass jeder junge Mann
17.
Sozialpolitisches centralblatt.
213
und jedes junge Mädchen bis zum achtzehnten Lebensjahre
einen Erzieher habe. Ausserdem könne die Gemeinschalt
verlangen, dass die Eltern die nothwendigen geistigen und
sittlichen Eigenschaften zur Kindererziehung besitzen Dazu
Gehöre vor allem, dass die Eltern selbst erzogen seien. Viel
i könne hierbei die Kirche helfen, die etwas mehr thun müsse,
als Predigten halten. Geistige und sittliche Erziehung habe
aber viele Bedingungen zur Voraussetzung. Es müsse dahin
gestrebt werden, dass den Eltern genügend Zeit übrig bleibe
zur Kindererziehung. Es sei ferner dahin zu streben, dass
i allgemein gute, gesunde und geräumige Wohnungen ge-
schaffen werden. Diese Forderung grenze an die Verstaat-
lichung des Wohnungswesens. Die Erhaltung der christ-
lichen Familie sei das Fundament des christlichen Staats,
und es gehe deshalb in dieser Beziehung keine Forderung
zu weit. Es müssten dann aber auch den Eltern die nöthi-
gen ökonomischen Mittel zur Seite stehen. Es könne nicht
gebilligt werden, dass infolge einer verkehrten \V irthschafts-
ordnung die Sorge des Vaters mit der Zunahme der Kinder
wachse. Er schliesse daher mit einem Appell an das christ-
liche Volk, in dieser Beziehung mitzuarbeiten und sobald
als möglich Wandel zu schaffen.
An den Vortrag des Referenten knüpfte sich eine
längere Verhandlung, an welcher sich Licentiat Weber, Plof-
prediger a. D. Stöcker und Professor Dr. Adolph Wagner
zustimmend betheiligten. Auf das Referat des Pastors
Naumann folgte der Vortrag des Regierungsraths Dr. Wollt
über die „erziehliche Bedeutung des Ärbeiterschutzge-
setzes“. Das Arbeiterschutzgesetz — so führte der Redner
aus — rufe alle Wohlmeinenden zur Hilfe aut, und das sei
einer seiner wesentlichsten Vorzüge; der Schwerpunkt aber
liege bei den unteren Behörden und bei den Betheiligten
selbst. Die ethische Seite des Arbeitsvertrags und des
Gewerbebetriebs müsse nach diesem Gesetze in höherem
Masse zur Geltung kommen. Die sittlichen Ziele des Ge-
setzes seien von grosser Bedeutung; wer sechs läge hart
gearbeitet habe, bedürfe der Erholung und der Freude an
seiner Familie, des Genusses von Gottes Natur. Aut
gleicher Höhe, wie die Bestimmungen über die Sonntags-
ruhe ständen die Bestimmungen über den Schutz der Ar-
beiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit und die
der Sittlichkeit dienenden Vorschriften. Die Durchführung
dieser Aufgaben aber sei nur möglich durch die Mit-
wirkung hochstehender sittlicher Werkmeister, Aerzte,
Geistlicher und Behörden. Ein weiteres Mittel zur Er-
ziehung der Arbeiter sei den Arbeitgebern an die Hand
gegeben durch die Betheiligung der Arbeiter^ an Wohl-
thätigkeitseinrichtungen Leider aber seien die Vorschriften
darüber nicht recht klar, sodass sie weder von den Arbeit-
gebern noch von den Arbeitern richtig verstanden würden.
Durch die Vorschriften über die Arbeitsbücher tür die
jugendlichen Arbeiter und über die Lohnzahlung an diese
werde der Unternehmer der Familie seines Arbeiters näher
geführt. Der darin enthaltene grosse Gedanke sei geeignet,
das Familienleben zu erhalten und die sozialen Zustände
zu verbessern. Die Arbeitgeber müssten auch in der zu-
nehmenden Erkenntniss ihrer Verpflichtungen gegen ihre
Arbeiter bemüht sein, die Ausbildung ihrer Arbeiter durch
Förderung der Haushaltungsschulen für Mädchen zu unter-
stützen. Das Verbot der Nachtarbeit für die Frauen und
der dadurch verhinderte zerstörende Einfluss aut die Fami-
lien müsse in sittlicher Beziehung wohlthätig wirken, und
auch in dieser Beziehung trete die sittliche Erziehungs-
absicht des Gesetzes klar hervor, welche nur dankbar an-
erkannt werden könne. Ganz besondere erziehliche Grund-
sätze habe die Novelle aufgestellt für Fabriken mit min-
destens zwanzig Arbeitern durch die Bestimmungen über
die Arbeitsordnungen. Diese Bestimmungen enthalten er-
hebliche Einschränkungen des früheren Uebergewichts des
Arbeitgebers. Nun regeln diese Bestimmungen die ein-
schlägigen Verhältnisse nicht vollständig, allein trotzdem
müssten sie als ein grosser Fortschritt bezeichnet werden.
Eine wesentliche Mitwirkung sei von der Novelle für die
von ihr gestellten Aufgaben den Aufsichtsbeamten zuge-
wiesen; diese würden indessen ihre Aufgabe in weit höherem
Masse erfüllen können, wenn die Arbeiter mehr von ihrer
Thätigkeit erführen. Dies werde bei weiterer Ausbildung
der Arbeiterausschüsse möglich sein. Der Referent empfahl
schliesslich folgende Thesen: 1. Die Gewerbenovelle steht
dem von ihr beherrschten Erwerbsleben gegenüber aut dem
Standpunkt des Erziehers; 2. ihre Erziehungsgrundsätze
entsprechen der christlichen Ethik; 3. ihr Erziehungsziel
ist weit gesteckt, aber nur theilweise ausgesprochen; 4. ihre
Erziehungsmittel bedürfen der Ausgestaltung. Die auf-
gestellten Thesen wurden einstimmig angenommen.
Der übrige Theil des ersten Sitzungstages wurde zu
Spezialkonferenzen verwendet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung des 2. Verhandlungs-
tao-es berichteten die Leiter der Spezialkonferenzen über die
gestrigen Verhandlungen der letzteren. Pastor Warth theilt
aus der 1. Konferenz mit, dass die Zahl der evangelischen
Arbeitervereine 1 73 beträgt und diese zusammen 50 000 Mit-
plieder haben. In einer 2. Konferenz hat Prof. Baumgarten-
Jena über die Erziehung der gewerblichen Jugend ge-
sprochen. Es ist zur Sprache gekommen und bedauert
worden, dass Vieles im Wege ist, was der Arbeiterschutz-
Gesetzgebung ihre Wirkung rauben möchte. Besondere
Aufmerksamkeit will man der Frage der Sonntagsruhe der
jugendlichen Arbeiter, der Erziehung der Lehrlinge, der
Fabrikordnung bezüglich der gewerblichen Jugend, der
Erholung derselben und ihrer Beaufsichtigung zuwenden.
Eine 3. Konferenz, über die der General-Sekretär Göhre
referirte, ventilirte die Frage der volkswirthschaftlichen
Studien der Geistlichen, die diese in ihrer Gemeinde machen
sollen. Zu bestimmten Entschliessungen ist man nicht ge-
kommen, doch sind „Viele gefestigt worden in dem Gedan-
ken, diese Bestrebungen weiter zu verfolgen; dabei wurden
die Schwierigkeiten, die vorhanden sind, nicht verkannt.
Sodann nahm Prof. Dr. Adolph Wagner das Wort zu
einem Vortrage über das neue sozialdemokratische Programm
und führte im Wesentlichen Folgendes aus: Das neue sozial-
demokratische Programm sei in seinem theoretischen
und prinzipiellen Theile nach Form und Inhalt nur eine
knappe Zusammenfassung der Marx’schen I heorie. Das
Programm leide daher an dein wissenschaftlichen Grund-
fehler der genannten Theorie, welche das verwickelte
Problem der Entwickelung der Volkswirtschaft und Ge-
sellschaft nach einer mechanischen, a priori konstruirten
Formel lösen wolle. Hiernach wäre diese Entwickelung im
Wesentlichen — streng genommen allein — abhängig von
der Entwickelung der Technik in der materiellen Produktion
und von der Gestaltung der Rechtsordnung für die sach-
lichen Produktionsmittel; demnach sei die gegenwärtige
Entwickelung lediglich abhängig von dem Prinzip des
Privateigenthums an diesen Produktionsmitteln. Da.s sei
indessen in dieser Allgemeinheit weder von Marx, noch von
einem anderen wissenschaftlichen Sozialisten, noch in dem
Programm bewiesen und auch nicht beweisbar. Es sei eine
These, eine Behauptung, die als Glaubenssatz verkündigt
und angenommen werde. Durch die blosse These, welche
die Socialdemokratie in ihrem Programm aufstelle, und
durch die einseitige Kritik, welche sie am Bestehenden und
an dem daraus weiter sich Entwickelnden übe, werde dahei
auch der praktische Schluss des Programms, die unbedingte
und allgemeine Nothwendigkeit der Umwandlung des Pn-
vateigenthums an den sachlichen Produktionsmitteln in gesell -
schaftliches ( Gemein-) Eigenthum, derW aarenproduktion m so-
cialistische Produktionsweise nicht begründet. Jede nüchterne,
nur etwas tiefer gehende Untersuchung des Problems ei -
o-ebe aber nicht nur die ungeheuren technischen Schwierig-
keiten einer Erfüllung des sozialistischen Postulats, sondem
lasse auch mit grösster psychologischer Wahrscheinlichkeit
diese Erfüllung als unmöglich erscheinen. Wenn sie aber
gleichwohl selbst möglich sein sollte: die wirtschaftlichen,
sozialen, sittlichen Folgen einer solchen Erfüllung würden
sich wahrscheinlich im höchsten Masse für die ganze Ge-
sellschaft, die bisherige Arbeiterklasse selbst in ihrer heu-
tigen Lage inbegriffen, überaus unheilvoll erweisen. Dies
folge aus jeder unbefangenen Betrachtung der menschlichen
Natur, ihrer Triebe, ihrer Motive, mit psychologischer Noth-
wendigkeit, möge man auch den Einfluss äusserer Umstände,
der Erziehung u. s. w., den der Sozialismus immer betone,
für noch so bedeutsam halten. Indem der Sozialismus
der Sozialdemokratie nicht einmal die Anforderung zur
eigenen sittlichen Selbstzucht eines jeden stelle, den Ein-
fluss von Religion und christlichem Glauben nicht würdige,
ja ihn zurückzudrängen oder ganz zu verdrängen suche,
die sittlichen Faktoren vernachlässige, verzichte er auch
noch auf die einzigen Mittel, durch welche die Menschen
für das sozialistische Wirthschaftssystem zwar auch noch
lanoe nicht geeignet, aber vielleicht um ein Kleines wenigei
ungeeignet würden, für dieses Wirthschaftssystem ein pas-
sendes Personal zu bilden. Die Erfüllung der sozialistischen
Forderungen des Programms könnte nur zur unendlichen
Zerrüttung der Gesellschaft führen, ohne die letztere der
Erreichung der sozialistischen Ziele näher zu führen. Die
214
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 17,
einzelnen positiven „nächsten“ Forderungen stehen auf dem
Boden der heutigen Wirthschafts- und Gesellschaftsord-
nung und seien in so fern alle diskutabel. In den „nächsten“
Forderungen sei manches einer Prüfung werth. Diese
Forderungen sollten um der materiellen Opfer, die sie den
besitzenden Klassen auf legen, nicht ohne Weiteres abge-
lehnt werden. Vielmehr trete gerade hier an diese Klassen
und an alle Höherstehenden die sittliche Anforderung heran,
ihr eigenes materielles Interesse zurückzustellen und auch
gesetzgeberische Massnahmen zu Gunsten der unteren ar-
beitenden Klassen zu erleichtern, aber auch vom sittlichen,
religiösen und christlichen Standpunkte aus eine Verbesse-
rung der wirtschaftlichen Zustände auf das Ernstlichste
zu erstreben. Festzuhalten sei vor allem: die soziale Frage
ist nicht allein, aber zumeist und zuerst eine sittliche Frage.
Als solche sei sie von Staat, Gesellschaft, Klasse, Familie,
Einzelnen und auch von der Kirche zu behandeln. Daher
bleibe die Hauptaufgabe: sittliche Selbstzucht des Einzelnen
und Förderung eines Jeden dabei durch die Liebe unter-
einander und durch Religion und christlichen Glauben, um
auch im wirtschaftlichen Leben die schlechteren Motive
leichter zu überwinden, die besseren zu grösserer Wirk-
samkeit bringen zu können.
Den letzten Gegenstand der Verhandlungen bildet
das Referat des Pastor Baltzer über moderne Wirthschafts-
genossenschaften. Nach Erledigung dieses Gegenstandes
wurde der Kongress mit Gesang und einem vom Hof-
prediger a. D. Stöcker gesprochenen Gebet geschlossen.
Die deutsche Kommission für Arbeiterstatistik kann
sich nunmehr konstituiren, da der Reichskanzler, Bundesrath
und Reichstag die von ihnen zu ernennenden bez. zu wählen-
den Mitglieder bestimmt haben. Als Vorsitzender wird der
Unterstaatssecretär im Reichsamte des Jnnern, Dr. von Rot-
tenburg fungiren, ausserdem wurde vom Reichskanzler der
Director des Kaiserlichen Statistischen Amtes, Geheime Ober-
regierungsrath Prof. Dr. v. Scheel zum Mitglied designirt.
Vom Bundesrath wurden, wie wir bereits mitgetheiit haben,
gewählt: der Director im königlich preussischen Ministe-
rium für Handel und Gewerbe, Wirkliche Geheime Ober-
Regierungsrath Lohmann, der Regierungsrath im königlich
bayrischen Ministerium des Innern und Vorstand des Statis-
tischen Büreaus in München Rasp, der Regierungsrath im
königlich sächsischen Ministerium des Innern Morgenstern,
der Oberregierungsrath im königlich württembergischen
Ministerium des Innern von Schicker und der Vorstand der
Grossherzoglich badischen Fabrikinspektion, Ober-Regie-
rungsrath Dr. Wörishoffer; vom Reichstag: die Mitglieder
des Reichstags Dr. Hartmann, Biehl, Hitze, Siegle, Dr. Hirsch,
Schippel.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Schweizerischer Gewerkschafts-Kongress. Zu dem
am 17. und 18. d. M. stattgefundenen Kongress des schwei-
zerischen Gewerkschaftbundes in Aarau fanden sich, wie
wir dem „Grütlianer“ entnehmen, 105 Delegirte ein. Conzett
wurde zum ersten, Beck von Zürich zum zweiten Vor-
sitzenden ernannt. Nach Erledigung einer Geschäftsord-
nungsvorlage wurden zunächst zwei Vorträge von Arbeiter-
sekretär Greulich über die Frage der obligatorischen Berufs-
genossenschaften und über Arbeitsstatistik angehört.
Die erstere Frage ist auch für Herrn Greulich noch
zu wenig abgeklärt und er beschränkte sich deshalb auf
eine orientirende Beleuchtung der Sache. Werthvolle An-
fänge zur gesetzlichen Ordnung der Berufsorganisationen
werden zunächst das Kranken- und Unfallversicherungs-
gesetz bringen; zu sorgen habe, wie Greulich hervorhob,
die Arbeiterschaft dabei nur, dass sie in den gemischten
Verwaltungsbehörden etc. den ihr gebührenden Einfluss
erlange. Was die Arbeitsstatistik angeht, so zeigte Greulich
den hohen Werth einer solchen, die aber, wenn sie gut und
praktisch sein soll, von den Arbeitern selbst, d. h. von den
Gewerkschaften an die Hand genommen werden muss. Sie
müssen der Wissenschaft durch Beschaffung von gutem
Material an die Hand gehen.
Die Berufsorganisationen gaben keinen Anlass zu
Beschlüssen. Man will die Frage weiter studiren und ab-
warten, was die Behandlung des Antrags Favon im National-
rath für Vorschläge zu Tage fördert. In Betreff einer
Arbeitsstatistik dagegen wurde beschlossen, in allen Ver-
bänden eine Statistik über Lohn- und Arbeitsverhältnisse
aufzunehmen. Das Bundeskomitee wird mit dem Arbeiter-
sekretariat ein leichtfassliches, kurzes und praktisches
Schema hierfür ausarbeiten.
Der Jahresbericht des Bundeskomites fand seine Wür-
digung durch den Beschluss, dass derselbe, ergänzt durch
das Protokoll über den Kongress, in 5000 Exemplaren ge-
druckt werden soll.
Neben dem allgemeinen Kongress haben in Aarau
noch eine Reihe von Delegirtenkonferenzen der centralen
Fachverbände stattgefunden. Der Holzarbeiter verband
beschloss die Einberufung eines internationalen Holz-
arbeiterkongresses nach Zürich und auch der Malerverband
will auf nächsten Sommer eine internationale Konferenz
nach Zürich einberufen. Die Delegirtenversammlung der
schweizerischen Arbeiterinnen beschloss, eine Enquete
über die Lage der Arbeiterinnen einzuleiten und der Metall-
arbeiterverband will die obligatorische Wanderunterstützung
eintühren. Die Buchbinder und die Zigarren- und Tabak-
arbeiter endlich beschlossen die Gründung von Central-
verbänden.
Die schweizerische Reservekasse. Seit ihrer orga-
nischen Eingliederung in den schweizerischen Gewerk-
schaftsbund flat sich die Reservekasse gekräftigt. Ueber
ihre Bedeutung äussert sich der Jahresbericht des schweize-
rischen Gewerkschaftsbundes folgendermassen: „Ihre Macht
besteht absolut nicht in dem Gelde allein; sobald dieses
angegriffen werden muss, erlahmt dieselbe, sie besteht in-
dem festeren Zusammenhalt, den eine gefüllte Kasse der
Arbeiterbewegung gibt, im Gefühle der Kraft, die dieselbe,
der Organisation verleiht und im Eindruck, den sie auf den
Gegner macht. Stark ist die Reservekasse nur, wenn man
ihr Geld nicht braucht; in grossen Kämpfen würde dieser
Fonds noch ungenügend sein, wie die Ereignisse der letzten!
Jahre im In- und Auslande lehrten.“
Bei der am 1. April 1891 erfolgten Uebergabe der
Reservekasse an den Gewerkschaftsbund betrug der Fonds
Frcs. 14 166,92 und am I. April 1892 ca. Frcs. 22 000. In
den drei letzten Quartalen des Jahres 1891 wurden für
Unterstützungen Frcs. 1 933,95, für Delegationen in Strike-
angelegenheiten, wodurch viele kassenschädigende Strikes
vermieden wurden, Frcs. 473,50, für die Verwaltung und
Diverses Frcs. 193,80 verausgabt.
Ausser der Reservekasse besitzt der schweizerische
Gewerkschaftsbund eine Verwaltung^- und Agitations-,
kasse, dieselbe vereinnahmte im Jahre 1891 Frcs. 3 841,04,
denen fast gleich hohe Ausgaben gegenüberstehen. Aus
, denselben heben wir folgende Posten hervor: Frcs. 993,96
für Agitation und Delegation, Frcs. 861 für Verwaltung und
dergl., Frcs. 252,60 für Unterstützungen und Frcs. 62,50 für
Gerichtskosten.
Zahl der Lohukämpfe in der Schweiz. Von Juli 1890
bis Ende Februar 1892 wurden 50 Strikes gezählt. Die
meisten ( 18) kamen bei den Bauhandwerkern und verwandten
Berufsarten vor; hieran reihten sich die Textilarbeiter (9),
Metallarbeiter (6), Schneider und Cigarrenmacher (je 4),
Schuhmacher und Uhrenarbeiter (je 3), die Schmiede und
Wagner, Gärtner, Sattler (je 1). Verursacht wurden die
Arbeitseinstellungen durch die Forderung kürzerer Arbeits-
zeit (28), von Lohnerhöhungen (16), in Folge Verletzung des
Vereinsrechtes (2), in Folge anderer Ursachen (4); durch
Strikes kamen 18, durch Vermittlung 32 zum Austrag; 34
Arbeitseinstellungen verliefen günstig für die Arbeiter, 16
günstig für die Unternehmer.
Der Pariser Gemeinderath und die neue Arbeitsbörse.
Dem Vorgehen anderer Verwaltungsorgane gegenüber ist
es erfreulich, zu konstatiren, mit welcher Fürsorge der
Pariser Gemeinderath die soziale Frage behandelt und
welchen Antheil er an den Emanzipationsbestrebungen der
Arbeiterklasse nimmt. So hat er bekanntlich nicht nur die
bestehende Arbeitsbörse errichtet und ihr eine jährliche
Subvention von 20 000 Frcs. gewährt, sondern auch die
neue „Central-Arbeitsbörse“ mit einem Kostenaufwand von
rund 3 Millionen erbauen lassen. Nicht genug an dem hat
er nun in einer seiner jüngsten Sitzungen, in Voraussicht
No. 17.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
215
einer baldigen Eröffnung der Centralbörse, auf Antrag seiner
Arbeitskommission beschlossen: 1. der Arbeitsbörse eine
Jahressubvention von 50 000Frcs. zu gewähren; 2 die Kosten
für das Aufsichts-, Ueberwachungs- und Reinigungspersonal,
die auf 63 400 Frcs. veranschlagt worden sind, zu sichern;
3. die für Beleuchtung, Heizung und Erhaltung des Ge-
bäudes erforderliche Summe von 55 000 Frcs., im Ganzen
jährlich 168 400 Frcs. auszuwerfen. Indem der Gemeinde-
rath dieses Arbeitsbörsen-Budget votirte, ist er übrigens
nur seiner bisherigen Anschauungsweise treu geblieben.
Der Berichterstatter seiner Arbeitskommission, Herr Cham-
poudry, konnte eingangs seines Referats mit Recht sagen:
,,Der 'Pariser Gemeinderath hat nicht erst gewartet, bis
der Sozialismus in Mode kam und die Regierungen der
ganzen Welt mehr oder minder aufrichtig beschäftigte, um
sein Interesse für Diejenigen zu bekunden, welche die
Reichthümer schaffen, ohne jemals eine andere Hoffnung
zu haben, als ein Spitalbett für ihre alten Tage oder die ;
mageren Unterstützungen der Wohlthätigkeitsbureaux.“
Und indem der Gemeinderath den Anträgen seiner Arbeits-
kommission beigestimmt hat, hat er nicht nur seine Für-
sorge um die Arbeiterklasse aufs Neue bekundet, sondern
ist auch den übrigen Stadtvertretungen mit gutem Beispiel
vorangegangen.
Die Pariser Omnibnsgesellschaft ist, wie der Leser
dieser Zeitschrift aus früheren Mittheilungen weiss, vom
Handelsgerichte verhalten worden, ihre Bediensteten, nach
Ablauf eines Monats vom Tage der Urtheilszustellung,
nicht länger als 12 Stunden täglich zu beschäftigen und
für jeden Tag Verspätung 100 Frcs. an das Syndikat der
Omnibusbediensteten zu zahlen. Da nun die Frist ab-
gelaufen war, ohne dass die Gesellschaft ihren Verpflich-
tungen in der einen oder andern Weise nachgekommen
wäre, hat das Syndikat eine Pfändung vornehmen lassen,
doch weniger der ihm zugesprochenen Entschädigung
halber, als um zu erfahren, ob die Gesellschaft den zwölf-
stiindigen Arbeitstag durchzuführen oder gegen das Urtheil
zu appelliren gedenke. Die Direktion wollte die Ent-
scheidung der Generalversammlung überlassen, die denn
nun, wenn auch nichts weniger als einhellig, beschlossen
hat, nicht zu appelliren, sondern alle Vorkehrungen zur
Durchführung des zwölfstündigen Arbeitstages zu treffen
und bis dahin die dem Syndikat zugesprochene Entschädi-
gung zu zahlen. Damit dürfte wohl der lange Streit zwi-
schen der Omnibusgesellschaft und ihren Bediensteten end-
gültig beigelegt sein.
Unternehmerverbände.
Westphälisches Kokessyndikat. ZudemWestphälischen
Kokessyndikat gehören jetzt 54 Kokereien. Der auf die Beein-
flussung der Preise bezügliche § 3 des Vertrages bestimmt,
dass die Preise sowie die Lieferungsbedingungen in der Ver-
sammlung der Zechen- und Kokereibesitzer festgesetzt werden
und zwar bestimmt dieselbe die Mindestpreise. Diese dürfen
beim Verkaufe im Inlande nicht unterschritten werden.
Ausnahmsfälle in Folge Auftretens einer fremden Konkur-
renz oder seitens nicht syndicierter Werke, durch welche
das Geschäft für das Syndicat verloren gehen könnte, sind
vorgesehen, das Kokessyndikat kann dann auf das Risiko
der einzelnen Kokerei den Verkauf zu niedrigeren Preisen
gestatten. Bei Erzielung höherer als der festgesetzten
Mindestpreise wird der Extragewinn zur Hälfte zwischen
der liefernden Zeche und dem Syndicat getheilt.
Produktionskartell der Brüxer Kohlenwerke. Seit einiger
Zeit schweben im Brüxer Braunkohlenrevier (Böhmen) Verhand-
lungen über den Abschluss einer Förder-Convention, welche alle
Werke dieses Reviers verpflichten soll, für eine bestimmte Zeit
eine gleichmässige Reduction der Förderung eintreten zu lassen,
um auf diese Weise der Ueberproduction und dem daraus ent-
springenden Preisrückgänge vorzubeugen. Unter den mass-
gebenden Unternehmungen des Reviers befindet sich auch das
Äckerbauministerium, beziehungsweise die k. k. Bergdirektion in
Brüx, mit einer Jahresproduktion von mehr als 4,5 Millionen
Meterzentnern. Obenan mit der Förderung steht die Brüxer
Kohlenbergbaugesellschaft, welche 13V2 Millionen Meterzentner
erzeugt, sodann folgen die Nordböhmische Kohlenwerksgesell-
schaft mit 8,6 Millionen, der Duxer Kohlenverein mit rund
6 Millionen, die Juliusschächte des Staates mit 4,5 Millionen, die
Tiefbaugewerkschaft , Viktoria“ mit 4,2 Millionen, endlich die
Dux-Bodenbacher Bahn mit 3 Millionen Meterzentner, das Brüxer
Revier, dessen gesammte Produktion sich auf 74 Millionen Meter-
zentner beläuft, zählt aber noch eine lange Reihe kleinerer Werke,
und an der Unmöglichkeit, alle diese Werke unter einen Hut zu
bringen, sind die Versuche, welche schon zu wiederholten Malen
unternommen wurden, bisher immer gescheitert. Diesmal ist der
Abschluss der Convention zwar nicht an die Bedingung geknüpft,
dass alle Werke beitreten, es ist aber doch vorausgesetzt dass
mindestens 90 Prozent der Jahresproduktion vertreten seien. Vor
Allem wurde aber die Bedingung gesetzt, dass auch die staatlichen
Werke sich anschliessen. Das Zustandekommen der Convention
hängt daher on der Haltung des Ackerbauministeriums ab, über
welche noch nichts Sicheres bekannt ist.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Der französische Senat und die Beschränkung der
Arbeitszeit.
Seit mehr denn einem Jahrzehnt ist die französische
Abgeordnetenkammer bemüht, den in der Industrie be-
schäftigten Frauen und Kindern einen grösseren Schutz zu
gewähren, als er ihnen durch die Fabrikgesetze vom
9. September 1848 und 19. Mai 1874 zugesichert wird, ohne
indess bisher zu einem Resultate gelangt zu sein, weil der
Senat nur widerwillig folgte und stets neue Konzessionen
verlangte. Endlich hat derselbe, wenigstens im Prinzipe, in
allen Stücken nachgegeben, jedoch in einer Weise, dass,
wenn die Vorlage, so wie sie aus den jüngsten Verhand-
lungen des Senats hervorgegangen ist, zum Gesetz erhoben
wird, dieses nicht nur weit hinter dem Kommissionsentwurf
der Kammer vom Jahre 1880 zurückbliebe, sondern auch
hinter dem am 19. Dezember v. J. von der Kammer votirten
Entwurf, welcher dem Senate bereits mehr als zweckdienlich
entgegen kam. Die Kammer hatte nämlich dem Amende-
ment des Senats beigestimmt, das die Arbeitszeit von
! 4 PThr Morgens bis 10 Uhr Abends, d. i. volle achtzehn
Stunden gestattet, wenn zwei Arbeiterschichten ver-
wendet werden, von denen jede nicht länger als neun
! Stunden beschäftigt würde. Dieses Zugeständnis ist umso
' beklagenswerther, als dadurch die Bestimmung, wonach
| Personen unter achtzehn Jahren sowie die minderjährigen
Mädchen und die Frauen nicht zur Nachtarbeit zugelassen
werden dürfen, zum grossen Theil wieder aufgehoben wird.
Dies war umso unnöthiger, als ein Theil der Textilfabri-
kanten — die einzigen Unternehmer, die bei dieser Frage
in Betracht kommen — sich bereits mit der gänzlichen Ab-
schaffung der Nachtarbeit vertraut gemacht und ent-
sprechende Vorkehrungen, wie Erweiterung der Fabriks-
anlagen etc. getroffen hatte. Viele Fabrikanten wollen über-
haupt nichts von einer Nachtarbeit wissen. Wird nun die-
selbe aber in irgend einer Weise vom Staate geschützt,
dann werden sie sich, wohl oder übel, durch die Konkurrenz
gezwungen sehen, von ihrer bisherigen Gepflogenheit ab-
I zugehen.
Dies ergiebt sich wenigstens ganz deutlich aus der
vor zwei Jahren veranstalteten parlamentarischen Enquete
über die Nachtarbeit, in der vielfach auf die Vortheile hin-
gewiesen wird, welche die Fabrikanten, die Tag und Nacht
arbeiten lassen, den anderen Unternehmern gegenüber
haben, nämlich: verhältnissmässig geringere Steuern und
Generalunkosten, sowie raschere Amortisation der in Ge-
bäuden, Maschinen und sonstigen Produktionsmitteln ange-
legten Kapitalien. Es sei hier auf eine, auch in sonstiger
Beziehung interessante Erklärung hingewiesen, die ein in
Roubaix etablirter Textilfabrikant abgegeben hat. „Habe
es nicht den Anschein, führte er aus, als ob die Ent-
deckungen der modernen Wissenschaft und die wunderbaren
Fortschritte der Mechanik eine bessere, angenehmere Lage
der industriellen Arbeiter zur Folge haben müssten.’' Stehen
216
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 17.
wir nun aber nicht einer ganz entgegengesetzten sozialen
Erscheinung gegenüber? Nie war die Lage des Arbeiters
eine peinlichere! . . . Die Nachtarbeit mit ihren beklagens-
werthen Folgen ist eine gerechte Beschwerde der Arbeiter
gegen die Gesellschaft; sie verallgemeinern, hiesse eine neue
soziale Gefahr schaffen. . . Möge der Staat auf seiner Hut
sein! Wenn die Nachtarbeit nicht unverzüglich abgeschabt
wird, dann wird sie sich unvermeidlich zum Schaden Aller,
der Fabrikanten wie der Arbeiter, sowie zum Schaden des
Fiskus verallgemeinern, der ihr eine wahre Anspornung und
Prämie giebt, indem er zwei gleiche Fabriken, von denen
die eine nur tagsüber und die andere 1 ag und Nacht
arbeitet, dieselben Steuern zahlen lässt. Wie soll es einem
Fabrikanten, der nur tagüber arbeiten lassen möchte, mög-
lich sein, die Konkurrenz gegen den zu behaupten, dem
das Loos seiner Arbeiter weniger Bedenken macht und der
Tag und Nacht arbeiten lässt? Ausser der Steuerprämie,
die dieser vom Staate erhält, macht er nicht noch die für
grosse Unternehmungen ungeheure Ersparnis? der Hälfte
der Zinsen des angewandten Kapitals und des Amortisations-
fonds? Mehr noch; wohin werden die Aufträge gehen?
Augenscheinlich dorthin, wo sie in um die Hältte kürzerer
Zeit ausgeführt werden. Folglich Ruin für den Einen, Reich-
thum für den Andern, d. h. die Nachtarbeit verallgemeinert. . .
Bei dem Gedanken, dass ich selber, bei Strafe des Unter-
gangs für mich und meine Arbeiter, gezwungen werden
könnte, Tag und Nacht arbeiten zu lassen, fühle ich mich
von einer tiefen Trauer erfüllt.“1)
Es braucht hier wohl nicht erst einer besondern Aus-
führung, um darzulegen, dass dieselben Gründe, die gegen
die Nachtarbeit ins Feld geführt werden, auch gegen das
oberwähnte Amendement sprechen , wie dies übrigens
bereits die Handelskammern von Tourcoing, Lille, Amiens*
St. Quentin und Reims selbst dargethan haben. So erklärt
die erstere, dass sie nicht all die kräftigen Argumente, die
für eine vollständige Beseitigung der Nachtarbeit sprechen,
anführe, jedoch müsse sie gegen das Amendement pro-
testiren, da ihres Dafürhaltens die Gestattung einer Ver-
längerung der Arbeitszeit ebenso verderblich vom wirth-
schaftlichen wie vom humanitären Standpunkt aus sei. Ge-
statte man achtzehn Stunden zu arbeiten, dann landen die
Fabrikanten in Zeiten flotteren Geschäftsganges alles Inter-
esse daran, eine zweite Arbeiterschicht einzustellen. Nun
sei es aber klar, dass wenn die Arbeiter eine Verkürzung
der Arbeitszeit verlangen, ihr Streben dahin gehe, die
Arbeit gleiclnnässiger zu vertheilen und die Arbeits-
stockungen zu vermindern. „Was nützt es uns, sagen sie,
sieben oder acht Monate im Jahre Löhne zu erhalten, die
hoch erscheinen, wenn die vollständige oder theilweise
Arbeitslosigkeit während der vier oder fünf folgenden
Monate den vordem empfangenen Lohn derart vermindert,
dass nur ein ungenügendes Auskommen auf das Jahr ent-
fällt?“
Hält man sich dabei noch vor Augen, dass die Arbeiter
nicht selten eine Stunde und oft noch weiter von der
Fabrik entfernt wohnen, dass also eine Arbeiterin, deren
Tagwerk um 4 Uhr beginnt, mindestens schon um 3 Uhr
aufstehen muss oder falls sie zur Nachmittagsschicht zählt,
erst um 1 1 Uhr Nachts nach Hause gelangt, dann ergiebt
sich von selbst, dass bei Aufrechterhaltung solcher Arbeits-
verhältnisse die von Kammer und Senat beschlossene Ab-
schaffung der Nachtarbeit einen sehr problematischen
Werth besitzt. Ja man muss sich selbst fragen, ob es ins-
besondere für Mädchen und Frauen in gewisser Hinsicht
nicht noch besser sei, sich während derNacht in der Fabrik als
um 3 Uhr oder 1 1 Uhr Nachts auf der Strasse zu befinden.
Wenn indess die Kammer diesem Amendement ihre
Zustimmung gab, so hat sie doch wenigstens an der Be-
stimmung festgehalten, dass Kinder, junge Personen und
Frauen nicht länger als 10 Stunden täglich beschäftigt
werden dürfen. Welcher Milderungsgrund spricht aber für
*■) Enquete sur le travail des femmes et notamment le tra-
vail de nuit (No. 649 der Drucksachen der Abgeordnetenkammer),
S. 82—84.
den Senat? Es hat schon einen heftigen Kampf gekostet
ehe man ihn dazu brachte, die Arbeitszeit der Frauen über-
haupt gesetzlich regeln zu wollen. Wie er dies bisher ab-
gelehnt hatte, wollte er es auch jetzt wieder, und natürlich
im Namen der Freiheit und im Interesse der Arbeiter,
wie dies ja überall üblich ist, wenn es sich um den
Schutz der Arbeiter handelt. Wer die Parlamentsberichte
auch nur eines Landes über diesen Gegenstand kennt, kennt
auch gleichzeitig die aller anderen Länder. Ueberall die-
selben Argumente, dieselben Trugschlüsse, dieselbe Heuche-
lei und dieselben manchesterlichen Phrasen, gleichgiltig, ob
man nun die belgischen, deutschen, englischen, öster-
reichischen oder andere Verhandlungen vor sich habe, i
Auch die Verhandlungen des Senats unterscheiden sich in
nichts darin. Hier nur in Kürze einige Sätze zur Beleuch-
tung des Ganzen. Wenn die Beschränkung der Arbeitszeit
in einem Lande eingeführt werde, ohne dass sie es in den
konkurrirenden Ländern sei, zieht sie die Schliessung von
Fabriken, die Herabsetzung der Löhne nach sich, erklärte j
der eine Senator, um dann weiter zu folgern, dass wenn !
der Arbeitstag gesetzlich fixirt werde, man dann auch einen j
gesetzlich bestimmten Minimallohn verlangen werde. Er j
wäre der Erste, der geplanten Reform beizustimmen, sagte
wieder ein anderer Senator, wenn er hinter ihr nicht die
Verkürzung der Arbeitslöhne sähe, um darauf zu dem ^
Schlüsse zu gelangen, dass er keine geheiligtere Freiheit
als die der Arbeit kenne, welche die höchste Freiheit des
Armen, desjenigen sei, der nichts als seine Hände zum
Leben habe, denn sie' sei das Recht, arbeitend zu leben.
Ein Dritter wieder, dass man den Frauen alle Freiheiten !
lasse; sie könnten sich der Ausschweifung, der Trunkenheit,
der Faulheit, dem Vergessen aller ihrer Pflichten hingeben,
nur die eine Freiheit wolle man ihr nehmen, sich den,
Ihrigen zu opfern und ihre Pflicht nach ihrer Einsicht zu
erfüllen etc. Alle stimmten Lobgesänge auf die Freiheit
der Arbeit an und gaben wiederholt der Befürchtung einer 1
Lohn Verminderung Ausdruck, aber die Doppelschichten, [
von denen jede nur neun Stunden täglich beschäftigt ;
werden dürfe, Hessen sie sich gefallen ; da vergassen sie Alle
über die Lohnverminderung zu jammern.
Wenn der Senat schliesslich dennoch der Beschrän-
kung der Arbeitszeit der Frauen seine Zustimmung gab, so1'
dürfte dies zu nicht geringem Theile dem Handelsminister j I
zu danken sein, der, wie dies unverhohlen anerkannt' I
werden soll, in einer höchst beachtenswerthen Weise in die
Debatte eingriff. Gestützt auf ein reiches Material, das siclv
insbesondere auf die englische Fabrikgesetzgebung bezog,
von der er ein anschauliches Bild entwarf, hat er
seine Gegner glänzend ad absurdum geführt. „Dieselben
Einwürfe, die von den Gegnern des Gesetzes hier erhoben
wurden“, sagte er unter Anderem, "„sind auch in England
gemacht worden und wenn auch in weniger beredter
Weise, so doch aus denselben Motiven, mit denselben Un-
glücks- und Katastrophen-Prophezeiungen für die Arbeit-
geber, die man dem Ruin entgegentreibe, und für die
Arbeiter, die man zur Arbeitslosigkeit, zur Hungersnoth
verurtheile. Die englische Ausfuhr, hiess es, sei verloren,
der Kampf der englischen Industrie gegen die konkurrirenden
Industrien des Auslandes werde unmöglich. Wie wollen
Sie, sagte man, dass England Ländern gegenüber, die nicht
der strengen Gesetzgebung unterworfen sein werden, die
man Ihnen heute - 1 833 und 1 844 — vorschlägt, dass Eng-
land mit den rivalisirenden Nationen, Frankreich, Deutsch-
land, Belgien, der Schweiz auf dem Weltmärkte kämpfe,!
wenn solche Gesetze votirt werden? Ihr, Mitglieder des
Unterhauses, und Ihr, Mitglieder des Oberhauses, begreitt
Ihr nicht, dass Ihr Euren Rivalen ein unstreitiges in-
dustrielles Uebergewicht verleiht und den Ruin Gross-
britanniens beschliesst? Die Arbeitslosigkeit, Herabsetzung
der Löhne sei da unausbleiblich und folglich müsst Ihr Ge-
setze zurückweisen, deren Resultate verderblich wären und
die, ohne der Lage der arbeitenden Klassen irgend welche
Verbesserung zu bringen, den Untergang der englischen
Industrie unvermeidlich nach sich ziehen würden.“ Gleich-
zeitig wies er nach, dass das gerade Gegentheil von all
No. 17.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
217
diesen düsteren Prophezeiungen eingetreten war und dass !
von 1830 bis 1878 der Fortschritt der Produktion gleichen
Schritt mit den legislativen Abänderungen gehalten hatte.
Hätte übrigens die Erfahrung die Fabrikgesetze von 1833,
1844, 1850 und 1867 verurtheilt, dann hätte man diese Ge-
setzgebung sicherlich nicht weiter ausgebaut.
Es würde zu weit führen, wollte man hier auf all' die
trefflichen Argumente hinweisen, die der Handelsminister
für die so sehr bekämpfte Bestimmung des Gesetzentwurfes
ins Feld führte, so beispielsweise darauf, dass in den Staats-
fabriken, in welchen der Arbeitstag nur zehn Stunden be-
trägt, die Produktion gleich geblieben, wenn nicht gestiegen
sei, während die Qualität des Produkts sich gleichzeitig
verbessert habe. Nur auf Eines, auf das, was er gegen
die so viel erwähnte Freiheit der Arbeit vorbrachte, sei
hier noch aufmerksam gemacht. „Die Freiheit der Arbeit!“
rief er; „Ich möchte wissen, ob es im Einklang mit der
wahren Natur der Dinge stehe, sie unter den gegenwärtigen
Existenzbedingungen der Industrie, in Mitte der jeden Tag
sich vergrössernden Errungenschaften der Wissenschaft an-
zurufen. Muss man nicht nothwendiger Weise auf jene
riesenhaften Werkstätten Rücksicht nehmen, die durch
die Massen Jener, welche an der für die Bedürfnisse
der Menschheit nöthigen Produktion mitwirken, Städten
gleichen ? Der Stoff wird da bewältigt, umgestaltet von
neuen Kräften, die unsere Väter — sie, welche die Prin-
zipien von 1789 proklamirt haben — nicht einmal geahnt
haben und die sie heute als fürchterliche Mysterien be-
trachten würden. Diese Arbeitermasse ist diesem mächtigen
Mechanismus so sehr unterworfen, dass die Arbeiter nicht
einmal mehr der Mitarbeiter der Maschine, sondern bloss
dessen Werkzeug ist. Er scheint einzig geschaffen zu sein,
das Werk zu betrachten, das sie verrichtet, und er ist der
Sklave des Dampfes, der Elektrizität, der Triebkraft, welche
die Welt umgestaltet und die ihre Macht selbst auf die
Seelen, auf das Gewissen, auf all’ das ausübt, was ehemals
dem Bereiche der individuellen Freiheit angehörte.“
Aber all’ dies nützte nichts. Konnte der Minister den
Senat auch bewegen, die Frauen mit Bezug auf deren
Arbeitszeit nicht ausserhalb des Schutzgesetzes zu stellen,
so vermochte er doch nicht, ihn zur Annahme des zehn-
stündigen Arbeitstages zu bringen, trotzdem er auch darauf
hinwies, dass man, als es sich um die Erhöhung der In-
dustriezölle handelte, besonders den vorliegenden Gesetz-
entwurf in’s Feld führte, den man als schon angenommen
betrachtete. Die einzige Konzession, zu der sich der Senat
herbeiliess, war, für die Frauen den elfstündigen Arbeitstag
zu votiren. h reilich darf man annehmen, dass wenn der
Minister sein Portefeuille an den zehnstündigen Arbeitstag
geknüpft hätte, auch dieser durchgedrungen wäre, weil der
Senat unter solchen Umständen wohl schwerlich die Ver-
antwortlichkeit für eine Ministerkrise übernommen hätte.
Er hat dies jedoch nicht gethan, und so wird denn der
Kampf der Arbeiterschaft um eine Verkürzung der Arbeits-
zeit in der alten Stärke fortgeführt werden müssen.
Paris- Leo Frankel.
Möglichkeit des Maximalarbeitstages für die deutsche
Industrie. Immer mehr häufen sich auch die Stimmen aus
Unternehmerkreisen, die für eine gesetzliche Beschränkung der
Arbeitszeit in den Fabriken plaidiren. So theilt der württem-
bergische Fabrikinspektor für den Donau- und Schwarzwald-
kreis in seinem neuen Jahresbericht für 1891 Folgendes mit:
„Von Interesse dürfte auch die mir von einigen einsichtsvollen
und tüchtigen Fabrikanten mitgetheilte Beobachtung sein, dass
bei verkürzter Arbeitszeit, besonders bei Akkordarbeit, verhält-
nissmässig mehr und keineswegs geringere Waare gefertigt
wurde, als bei der früheren längeren; nach deren Ansicht wäre
z. B. bei Baumwollwebereien eine lOstündige Arbeitszeit nicht
von so nachtheiligen Einfluss auf die Produktion, wie von vielen
Fabrikanten befürchtet wird. Bemerkenswerthe Aeusserungen
über die Arbeitszeit enthält u. a. auch der V. Jahresbericht
1 (1890/91) des Wohlfahrts-Vereins der Württembergischen Metall -
waarenfabrik Geislingen. Diese Fabrik beschäftigt gegenwärtig
ca. 1750 Personen, worunter ca. 1430 männliche und ca. 320 weib-
liche, und hat genannten Verein zum Wohl ihrer Arbeiter vor
5 Jahren in’s Leben gerufen. Da in dem aus 20 Mitgliedern
bestehenden Vorstand 5 Vertreter der Firma, darunter 2 Pro-
kuristen, sich befinden, so darf diesen Aeusserungen Gewicht
beigelegt werden, weshalb von dem auf die Arbeitsverhältnisse
sich beziehenden Inhalt derselben Nachstehendes angeführt
wird: „Unsere gewöhnliche Arbeitszeit ist von Morgens 7 bis
Abends f/47 Uhr mit einer Pause von ;7412 Uhr bis 1 Uhr. Die
durchschnittliche Arbeitszeit in der Glashütte ist 8 Stunden.
Eine eigentliche Vesperzeit haben wir nicht, aber es steht Jedem
frei, während der Arbeitszeit ein Vesperbrot einzunehmen. Nur
in einzelnen Betrieben, wie in der Metall- und Glasschleiferei,
wird Vormittags 3 49 Uhr und Nachmittags 3/44 Uhr eine viertel-
stündige Pause gemacht. Die Arbeitszeit wechselt mit der
Jahres^ bezw. Geschäftszeit. Im Anfang des Jahres 1890 bis
Mitte Februar war die Arbeitszeit 9*/2 .Stunden, dann bis Ende
Juni 10 Stunden, vom Juli bis September 11 Stunden, Oktober
und November IIV2 Stunden und im Dezember 10 '/2 Stunden.
Es ist in unserem Betriebe nicht möglich, alle Werkstätten stets
gleich lang zu beschäftigen. Einerseits technische Umstände,
andererseits der wechselnde Geschmack und die Mode führen
Schwankungen im Bedarf herbei, welche man hin und wieder aus-
gleichen muss durch Abkürzungen und Verlängerungen der Ar-
beitszeit einzelner Werkstätten. Schon aus dieser Erfahrung und
Nothwendigkeit in einem einzelnen Geschäftsbetrieb ergiebt sich,
dass die Forderung eines allgemeinen und gleichen gesetzlichen
Normalarbeitstages undurchführbar ist. Wenn z. B. unsere
Flaschnerei und Gürtlerei ausnahmsweise nicht länger arbeiten
dürfte, dann müsste die Arbeitszeit der Versilberung und des
Polirsaales je nach Umständen um mehrere Stunden verkürzt
werden. Dagegen halten wir es in Uebereinstimmung mit
unserer Geschäftsleitung in Anbetracht der in vielen In-
dustriezweigen herrschenden Ueberproduktion und des
Ueberflusses an Arbeitskräften wie auch gesundheit-
licher und sittlicher Verpflichtungen für ein dringendes
Gebot der Zeit, dass eine gesetzliche Regelung der Arbeits-
zeit angestrebt werde. Nach den Bedürfnissen der einzelnen
Arbeitszweige sollte die Tagesarbeit begrenzt werden (Maxi-
malarbeitstag) derart, dass z B. Gruben- und schwere
Feuerarbeit nicht über 8 u. s. w., leichtere Arbeit nicht
über 10 und 11 Stunden in der Regel dauern darf. Aus-
nahmen müssten in begrenzter Weise behördlich gestattet wer-
den können.“ Bekanntlich hat aber die preussische Berggesetz-
novelle noch nicht einmal für Bergleute einen Maximalarbeitstag
vorgesehen. Hier zeigen sich Privatunternehmer einsichtsvoller
als der Staat.
Preussische Polizeiverordnung über die äussere Hei-
lighaltung der Sonn- und Festtage. Betreffs der Heilig-
haltung der Sonn- und Festtage veröffentlicht der „Reichs-
anzeiger“ einen Erlass des Handelsministers an die Ober-
präsidenten, den Polizeipräsidenten zu Berlin, und den Re-
gierungspräsidenten von Hohenzollern.
Dem Erlass ist gleichzeitig ein „vorläufiger Ent-
wurf“ zur Prüfung und Begutachtung beigelegt. Abgesehen
von den durch die reichsgesetzliche Regelung der gewerb-
lichen Sonntagsarbeit bedingten Aenderungen enthält der
Entwurf im wesentlichen nur eine Kodification der bis-
herigen Bestimmungen. Die Milderungen einiger in der
Praxis hervorgetretenen Härten ist, so heisst es im „Reichs-
anzeiger“, erfolgt, um die Vorschriften der äusseren Heilig-
haltung der Sonn- und Festtage mit den Anforderungen
des täglichen Lebens besser in Einklang zu bringen und
ihre völlige Durchführung zu sichern. Erfreulich ist, dass
auch der Land- und Forstwirthschaftsb etrieb in diese
Verordnung einbegriffen ist, leider dürfte aber praktischer
Nutzen sich hieraus nicht ziehen lassen, da von dem Ver-
bote aller öffentlich bemerkbaren und geräuschvollen Ar-
beiten ausgenommen sind: „diejenigen Arbeiten, welche zur
Fortsetzung des häuslichen Lebens und des Landwirth-
schaftsbetriebes erforderlich sind und keinen Aufschub
erleiden können“.
Erläuternd bemerkt der Handelsminister in dem Erlass,
dass die fünf Stunden, an welchen die Beschäftigung und
der Betrieb im Handelsgewerbe an Sonn- und Festtagen
stattlinden darf, durchweg voraussichtlich so werden gelegt
werden, dass sie um 7 Uhr Vormittags (eventuell im Sommer
um 6 Uhr) beginnen und um 2 Uhr (eventuell 1 Uhr) schliessen
und dass eine zweistündige Unterbrechung für den Haupt-
gottesdienst und die Vorbereitung zu demselben stattfindet.
Die Prüfung des Entwurfs ist darauf zu richten, ob ein-
zelne seiner Bestimmungen zu Bedenken namentlich auch
wirtschaftlicher Art Anlass geben, und inwieweit Be-
sonderheiten der Provinz eine Abänderung oder Ergänzung
des Entwurfs erfordern. In dem Entwurf sind auch alle
gesetzlichen Festtage aufzunehmen. Den Berichten der
Oberpräsidenten mit den Aeusserungen des Provinzialraths
und der kirchlichen Behörden sieht der Minister bis zum
15. Mai d. Js. entgegen.
218
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 17.
Sonntagsruhe für deutsche Bahnarbeiter. In „einzelnen
Direktionsbezirken“ der preussischen Staatsbahnen sollte vom
1 April ab der Güterverkehr versuchsweise an Sonntagen
eingestellt werden. Aus den Erfahrungen, die man bei
dieser Einschränkung des Verkehrs machen wird, will man
später beurtheilen, ob sich diese neue Einrichtung ohne
Nachtheil für den Handel und die Industrie auf den ge-
sammten Eisenbahnverkehr wird ausdehnen lassen.
Die erste praktische Anwendung dieser Massregel wird
letzt in folgender Form bekannt: „Um dem Lokomotiv- und
Zugbegleitungs-Personal so viel Sonntagsruhe wie irgend
möglich zu gewähren, hat die Eisenbahndirektion Köln,
linksrheinisch, durch Verfügung vom 9. d. M. angeordnet,
an Sonntagen den Güterzugverkehr thunlichst einzuschran-
ken: diese Einschränkung findet besonders auf Leerzüge
und Massengüterzüge Anwendung, während der Stuckguter-
verkehr nur insoweit aufrecht erhalten werden soll, als dies
unbedingt nothwendig ist.“ Auf diesem Gebiete muss noch
weit energischer vorgegangen werden, wenn nur halbwegs
befriedigende Arbeiterzustände geschaffen werden sollen.
Wie gut dies möglich ist, beweist folgende Aeusserung einer
württembergischen Fabrik, die einen sehr grossen Ein-
bahnverkehr hat und die nach dem neuesten Bericht der
Stuttgarter Handels- und Gewerbekammer wörtlich schrieb .
Wir sind für gänzliche Abschaffung des Güterverkehres
auf der Bahn an Sonntagen, und zwar zunächst aus huma-
nen Gründen; denn bei dem ohnehin sehr anstrengenden
Dienst darf dem Eisenbahnpersonal eine regelmassige Sonn-
tagsruhe so gut wie anderen Arbeitern, für welche das
Gesetz in so weitgehendem Maasse Sorge trägt, wohl ge-
gönnt werden. Die Abschaffung empfiehlt sich aber auch
aus geschäftlichen Gründen. Wir haben die Wahr-
nehmung gemacht, dass der Schwerpunkt des Güten ei e irs
an Sonntagen hauptsächlich auf die Spedition ganzer Wag-
gons gelegt wird, naturgemäss, weil der Eilgüterverkehr an
Sen Sonntagen eingestellt ist. Aus dem letzteien Grün e
kommt es nicht selten vor, und diese Beobachtung machen
wir nicht nur in unserem Geschäft, sondern auch bei den
Güterbestellern, dass am Montag jeweils eine doppelte, ja
dreifache und oft noch grössere Anzahl von ganzen W agen-
ladungen zur Entlastung gebracht werden soll. Danach, ob
oder wie dies, wenn das nöthige vermehrte Personal nie i
immer zur Hand ist, rechtzeitig geschehen kann, tragt die
Bahnverwaltung nicht, und „Strafezahlen“ ist jeweils das
Ende vom Lied. Warum sollte nun, wie auch uns das
Ausladen der Güter an Sonntagen verboten ist, nicht auch
der Bahn die Spedition derselben untersagt werden können.
Abhilfe Hesse sich gewiss treffen, vielleicht m der Art, dass
die Güterzüge an einem beliebigen Orte 24 Stunden stehen
bleiben. Durch diese Pause würde zugleich dem Personal
die ihm nöthige Erholung verschafft und vermittelt. Dass
eine derartige Aenderung der bestehenden \ erhaltmsse mit
nicht unerheblichen Opfern verknüpft wäre, ist uns ebenso
klar, wie uns andererseits der Gegenstand auch des
Ojifers würdig erscheint.“ .
Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass ein treilich
sehr kleiner Theil der deutschen Staatseisenbahnbediensteten
unter einem Eisenbahnarbeiterschutzgesetze, dem schweize-
rischen, steht. Dies gilt für die Beamten der elsass-loth-
ringischen und badischen Staatseisenbahnen, soweit deren
Linien auf schweizer Gebiete liegen. So kurz diese Strec en
sind, so fallen sie bez. der Zahl der diesem Gesetze unter-
stellten Personen doch nicht ganz ausser Betracht. m
klein wenig wird auch der Sonntagsgüterdienst dieser Hahnen
auf deutschem Gebiete beeinflusst, da von ihren wichtigsten
südlichen Kopfstationen Basel Centralbahnhot und Base
badischer Bahnhot Güterzüge am Sonntag nicht abgehen
und dieselben nicht erreichen dürlen. Dem Personal dieser
Bahnen, soweit sich deren Dienst auf schweizerischem Ge-
biete ganz vollzieht, ist ein Maximaiarbeitstag, 52 Kuhetage
im Tahre, darunter 13 Freisonntage, bestimmte Arbeitspausen
etc', garantirt. Die Möglichkeit, in der Schweiz und m einem
\s0 wichtigen internationalen Verkehrsknotenpunkte wie Hasel
Arbeiterschutzbestimmungen für das Verkehrspersonal an-
zuwenden, wird hoffentlich die Uebertragung des schweize-
rischen Gesetzes auf deutschen Boden beschleunigen, was
ebenso im Interesse des Personals, als der sozialen Pflichten
des Staates als Arbeitgeber und der \ erkehrssicherheit
liegen würde.
Arbeiterschutz für die Hausindustrie. Die Dringlich-
keit dieser alten Forderung der fortgeschrittenen Sozial-
politik wird von Neuem stark betont durch den kgl. Le-
werbeinspektor für den Bezirk Plauen i. W in seinem
jahresberichte für 1891. Dort heisst es: „Der durch die ab-
geänderte Gewerbeordnung bedingte Wegfall der Beschäf-
tigung von schul jiflichtigen Kindern in den Fabriken wird
im Königreich Sachsen und insbesondere im Voigtlande
wegen der hier vorherrschenden Textil-lndustrie mehr als
in solchen Industrie-Bezirken, in denen die schuljiflichtige
Zeit der Kinder eine kürzere ist als in Sachsen, nachtheilig
empfunden werden und an der böhmischen Grenze, be-
sonders in der Musikinstrumenten-Industrie, zur stärkeren
Heranziehung fremder Kinder führen. Diese Einschränkung
der Kinderarbeit wird schon jetzt sowohl von Arbeitgebern,
insbesondere Stickerei-Fabrikanten, welche der Meinung
sind, dass die deutsche Stickerei gegenüber der schweize-
rischen nicht konkurrenzfähig bleiben wird, sowie von vielen
Familienvätern beklagt, die eine Schmälerung ihrer Ein-
nahmen befürchten. Sie wird ferner bewürben, dass manche
fabrikmässig betriebenen Stickereien mit Handstickmaschinen
in kleinere, in denen die Beschäftigung von Kindern ge-
stattet ist, übergehen, dass die Kinder in diesem Industrie-
zweige, ebenso wie auch in der Harmonika-Fabrikation, in
die Hausindustrie gedrängt und dort unter ungünsti-
geren Verhältnissen als in den Fabriken ausgenutzt
werden.“ An Mahnungen zur Ergänzung der Gewerbe-
ordnung fehlt es also nicht.
Arbeiterversicherung.
Die Konferenz der eingeschriebenen Hilfskassen.
Am 19. und 20. April fand in Hamburg eine von dem
Vorstande der Tischlerkrankenkasse einberufene Konferenz
statt, um über die Stellung der eingeschriebenen Hilfskassen ,
zu den durch die Umänderung des § 75 des Krankenkassen-
gesetzes wesentlich veränderten Grundlagen ihrer Existenz
schlüssig zu werden.
Im allgemeinen trat die pessimistische Stimmung, die
dem Entwürfe des Gesetzes und den Beschlüssen des
Reichstags gegenüber in der Arbeiterpresse zum Ausdruck .
kam, wenig zu Tage. Die grosse Majorität sprach sich für
die Erhaltung der Kassen trotz der veränderten Grundlagen ;
derselben aus, einzelne Redner, z. B. der Vertreter der Tape-
ziererkasse, meinten sogar, dass die Lage der freien Kassen
o-erade durch die Novelle zum Krankenkassengesetze besser
geworden wäre. Diesen Anschauungen stand eine Minorität
gegenüber, welche von der Ansicht ausging, dass die No-
velle zum Krankenkassengesetze nur der Anfang, nicht aber
der Abschluss einer auf die Umgestaltung der Arbeiterver-
sicherung hinzielenden Politik der Reichsregierung sei, als
deren Ziel ihr eine einheitliche Organisation des gesammten
Arbeiterversicherungswesens erschiene, die durch die Existenz
der freien Hilfskassen naturgemäss behindert werde.
Die Vertreter dieser Richtung konstatirten, dass nun
nach Ablauf des Sozialistengesetzes die Arbeiter als Partei
kein nennenswerthes Interesse an der Existenz der freien
Hilfskassen hätten, wofür mannigfache Momente sprechen,
so der schlechte Besuch aller seitens der Kassenverwal-
tungen einberufenen Versammlungen, der Mangel fast jeder
Stellungnahme der Arbeiter selbst zur Krankenkassen-
novelle, der in Anbetracht des entschiedenen Eintretens der
Arbeiterabgeordneten für die freien Kassen im Reichstage
und der schroffen Stellungnahme der Arbeiterpresse gegen
das Gesetz doppelt auffällig sei. Diese Minorität bedauerte
es auch lebhaft, dass die organisirten Arbeiter durch ihren
Beitritt zu den freien Hilfskassen sich jeder Einflussnahme
auf die Vertretung der Arbeiterinteressen bei der Unfall-,
Invaliditäts- und Altersversicherung begeben. Die Vertreter
dieser Anschauungen traten deshalb im Prinzipe für die
Auflösung der freien Hilfskassen, ihre Umgestaltung in Zu-
schusskassen und den Eintritt sämmtlicher Mitglieder in die
Ortskrankenkassen ein, auf deren Verwaltung sie dann
leicht den massgebenden Einfluss nehmen könnten. Die
Minorität warnte vor jedem Experimentiren mit dem neuen
Gesetze, das ohne Aussicht auf endgiltigen Erfolg doch zur
Aufgabe der Kassen nach grossen Geldverlusten führen
müsse. Würde man aber vor Inkrafttreten des Kranken-
kassengesetzes die Umwandlung der freien Hilfskassen in
No. 17.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
219
Zuschusskassen vornehmen, so erzielte man ausgezeichnet
fundirte, sehr leistungsfähige Kassen dieser Art, was später
nach grossen Verlusten dieser Kassen jedenfalls nicht mehr
in gleich vortheilhafter Weise möglich sein dürfte. Hier-
gegen wurde eingewandt, dass bei Auflösung der Kassen
viele alte Mitglieder ihrer wohlerworbenen Rechte verlustig
gehen würden, dass vielen damit die Möglichkeit jeder Ver-
sicherung gegen Krankheit genommen werden würde, so
der grossen Anzahl von Handwerksmeistern und den vielen
im Berufe nicht mehr thätigen Arbeitern. Die strengen
Bestimmungen der Ortskrankenkassen hätten zur Folge,
dass in Zeiten der Arbeitslosigkeit Zehntausende von Ar-
beitern, die ihr Krankengeld länger als drei Wochen nicht
bezahlten, der Vortheile der Krankenversicherung verlustig
gehen, die ihnen bisnun in liberaler Weise von den freien
Hilfskassen gewährleistet wurden. Bei Auflösung der freien
Hilfskassen würden die Ortskrankenkassen die vorwärts-
treibende Konkurrenz der höhere Leistungen bietenden
freien Hilfskassen verlieren.
Von mehreren Seiten wurde ein Antrag vertreten, der
im Wesentlichen dem in Nr. 16 des Sozialpolitischen Cen-
tralblattes gemachten entspricht, sämmtliche Kassen zu
Gunsten einer einzigen aufzulösen, demselben trat aber die
Majorität des Kongresses nicht bei. Ferner wurde gewünscht,
die zu bildenden Zuschusskassen den gewerkschaftlichen
Organisationen einzugliedern. Dieser Vorschlag, der die
Unterordnung der Gewerkschaften unter die Versicherungs-
gesetzgebnng und die Erschwerung der freien Bewegung
der Gewerkschaften wegen der nothwendigen Rücksicht-
nahme auf die Kassen zur Folge gehabt hätte, fand auch
nicht den Beifall des Kongresses.
Gegen den Vorschlag des Zusammenschlusses einzelner
Kassen wurde eingewandt, dass die schlecht arbeitenden
Kassen ohne oder mit ungenügendem Reservefond wohl, die
besser situirten aber kaum hiezu bereit sein würden.
Einen Vermittiungsvorschlag zwischen den Richtungen
der Centralisirung aller Kassen und der weiteren Berufs-
scheidung der Kassen machte, nachdem der auch von ihm
vertretene Vorschlag der Centralisirung abgelehnt war, Herr
Legien in folgender Resolution:
„Die Konferenz der Vorstände der freien Hilfskassen
erkennt an, dass die neuen gesetzlichen Bestimmungen die
Centralkassen mehr belasten werden, als dieses bisher der
Fall war. Diese Mehrbelastung kann jedoch dadurch auf-
gehoben werden, dass die einzelnen Kassen mit einander
m nähere Beziehung treten und in Form eines Verbandes
oder von Kartellverträgen gemeinsame Einrichtungen treffen.
Diese Kartellverträge sind dahin abzuschliessen, dass
I) die Mitglieder der freien Kassen an einem Orte den
Vertrauensarzt gemeinsam wählen, resp. Vereinbarungen
mit den Apotheken treffen.
2J allmählich eine gleiche Verwaltung und eine
gleiche Einrichtung der Verwaltungsmaterialien herbeigeführt
werden;
3 ) die Beiträge und Leistungen der Kasse nach gleichen
Grundsätzen bemessen werden;
4) die Mitglieder der einen Kasse bei Ortswechsel in
eine andere Kasse eintreten können, ohne dass es weiterer
Formalitäten bedarf.
Die Ausarbeitung von Bestimmungen in diesem Sinne
ist unverzüglich von der vom Kongress gewählten Kom-
mission zu besorgen und den einzelnen Kassen zu unterbreiten.
Die anwesenden Vertreter verpflichten sich, auf den
Generalversammlungen der resp. Kassen für Durchführung
dieser Kartellverträge einzutreten.“
Nachdem auch dieser Vorschlag abgelehnt war, wurde
ein Antrag des Vertreters der Tapezirerkrankenkasse, Grün-
waldt, angenommen, dass ein Verbandsstatut der freien
Hiltskassen ausgearbeitet werde, welches vor Allem den
Zweck verfolgen soll, dass für Arzt und Medicamente von
allen Kassen gemeinsam für alle Mitglieder gesorgt wer-
den soll.
Nach Annahme dieses Antrages hielt man eine Be-
sprechung des vorgelegten Statutenentwurfes nicht mehr
für noth wendig und schloss die Verhandlungen, welche wohl
in der Folge zu einem stärkeren Aneinanderschliessen der
Ireien Hilfskassen führen dürften. Eine Besprechung dieses
Statutes scheint vorerst nicht nöthig, da demnächst schon
Statutenentwürfe der grossen Krankenkassen publizirt
werden dürften, deren Besprechung dann nicht bloss von
theoretischem, sondern von wesentlich praktischem Interesse
sein wird.
Infektiöse Krankheiten und die österreichische
Krankenversicherung.
An die niederösterreichischen Krankenkassen erging
kürzlich der nachfolgende amtliche Erlass:
„Das Auftreten von Trachom unter den Arbeitern
einer der grössten Spinnfabriken Niederösterreichs, in
welche diese Krankheit nachweislich durch auswärtige (sic.!)
Arbeiter zu wiederholten Malen eingeschleppt worden war,
hat die k. k. Statthalterei verlasst, der betreffenden politi-
schen Behörde die Einführung einer regelmässigen ärzt-
lichen Untersuchung der zur Fabriksarbeit sich meldenden
Individuen auf Trachom, Syphilis, Krätze und andere über-
tragbare Krankheiten zu empfehlen.
Bei der Erhebung der bezüglichen Verhältnisse hat
sich nun gezeigt, dass diese Einrichtung bei mehreren
Fabriken zum Schutze ihrer Arbeiterschaft gegen eine Ein-
schleppung infektiöser Krankheiten durch auswärtige (!)
Elemente schon seit längerer Zeit besteht und derart
durchgeführt wird, dass Arbeiter nur dann in die betreffen-
den Etablissements aufgenommen werden, wenn sie vorher
vom Fabriksarzte untersucht und gesund befunden worden
sind. Ferner hat sich ergeben, dass von einer grossen
Zahl der ein vernommenen Fabriksleitungen die ärztliche
Untersuchung neu aufzunehmender Arbeiter schon mit
Rücksicht auf die gesetzliche Krankenversicherung (!) für
nothwendig und im Interesse der Krankenkassen gelegen
erklärt würde, so dass angenommen werden darf, dass eine
solche Massregel, deren Wichtigkeit für die Unterdrückung
der übertragbaren Krankheiten sich von selbst ergiebt, weder
bei den Fabriksbesitzern noch bei den Arbeitern aut
Schwierigkeiten stossen diirlte . . . .“
Die Kassenleitungen werden nun aufgefordert, sich
über die Durchführbarkeit der angeführten Massregel zu
äussern. Die zahlreichen Bedenken, welche gegen dieselbe
sprechen, finden wir in einem vom Verbände der Ge-
nossenschaftskrankenkassen in Wien, der Allgemeinen Ar-
beiterkranken-Kasse etc. erstatteten Gutachten so glücklich
zusammengefasst, dass wir uns damit begnügen können,
dasselbe hier auszugsweise wiederzugeben.
Es unterliege keinem Zweifel, dass durch den Eintritt
von mit infektiösen Krankheiten behatteten Individuen in
Werkstätten und Fabriken die Gesundheit anderer xVrbeiter
stark gefährdet werde. Die gleiche Gefahr werde aber
auch durch die Erkrankung von in Arbeit stehenden Perso-
nen hervorgerufen, welche die Geringfügigkeit der Kranken-
unterstützung nöthige, bei der Arbeit so lange als möglich
auszuharren. Die Konsequenz würde deshalb fordern,
nicht nur „auswärtige“ Arbeiter auf übertragbare Krank-
heiten zu untersuchen, sondern regelmässig wiederkehrende
ärztliche Untersuchungen in allen Arbeitsstätten und für
das gesammte Personal einzuführen.
Was bedeutet nun der Ausschluss aller an infektiösen
Krankheiten Leidenden von der Arbeit? Die statistischen
Daten des Verbandes der Genossenschaftskrankenkassen in
Wien zeigen folgendes Bild. Im Jahre 1890 wurden von
den rund 70 000 Mitgliedern behandelt an
1. infektiösen Krankheiten und bezogen
Unterstützung 4 195
infektiösen Krankheiten und bezogen
keine Unterstützung . . . . • • •
2. venerischen und syphilitischen Leiden
und bezogen Unterstützung . . . .
venerischen und syphilitischen Leiden
und bezogen keine Unterstützung . .
3. Kranheiten der Haut und bezogen
Unterstützung
Krankheiten der Haut und bezogen
keine Unterstützung
426
909
038
808
I 164
zusammen 5 530 und 3 010
Personen. Dabei bleiben übertragbare Krankheiten des
Auges und anderer Organe ausser Betracht. Zu den
3000 Kranken, um welche sich die Zahl der Unterstützten
durch die Bekämpfung der infektiösen Leiden vermehren
würden, kommt jene weit grössere Masse von Personen, die
heute nicht einmal die Hilte des Arztes anzurufen pflegt.
Gering angeschlagen, würde die Zahl der unterstützten
Kranken, erklärt das Gutachten, sich um 50 % erhöhen.
Wer aber soll die dadurch enorm gesteigerten Lasten auf-
bringen? Weder die arbeitende Bevölkerung noch die
Kleingewerbetreibenden wären dazu im Stande. „Die hohe
Statthalterei muss, wenn sie die Durchführung ihres ausser-
ordentlich glücklichen Gedankens ernst nimmt, der hohen
Regierung den Antrag unterbreiten, die zur Durchführung
220
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 17.
der Massregel erforderlichen, mit wenigen Millionen zu be-
ziffernden Mittel, aus dem Staatsfonde eventuell mit Unter-
stützung von Land und Gemeinde aufzubringen.“
Perhorrescirt man einen solchen \\ eg, „dann dürfen
wir uns die bescheidene Frage erlauben, was denn mit
jenen Tausenden geschehen soll, die durch die angeregte
Massreo-el von aller Arbeit entfernt werden. Insolange ein-
zelne Fabriken den Vorgang befolgen, dass sie die schlech-
testen Risken von den Petri ebskrankenkassen ab- und aut
die Bezirks- und Genossenschaftskrankenkassen übersalzen,
ist ja die Sachlage noch nicht bedenklich. Das wird sie
aber, sobald Personen, die mit übertragbaren Krankheiten
behaftet sind, aus allen Werkstätten und Fabriken zuiiick-
gewiesen werden. Dann tritt die Nothwendigkeit ein, für
diese aus höhern Rücksichten um ihr Brod Gebrachten
Sorge zu tragen . . .“
Die vorgeschlagene Massregel sei übrigens repressiver
Natur. Der Staat könne aber auf dem Wege der Arbeiter-
schutzoesetzgebung durch Verhütung von Ueberanstren-
o-ung vorbeugend wirken. ja selbst durch anscheinend
belanglose Anordnungen könne der Verbreitung infektiöser
Leiden vorgebaut werden. So sei z. B. bekannt, dass che
Krätze bei der Schuhmacherei durch das Schlafen und Zu-
sammenschlafen in den Werkstätten verbreitet werde. Die
Gehilfen kämpfen seit Jahren für die Beseitigung der Na-
turalwohnungen, ohne bisher die Unterstützung der Be-
hörden gefunden zu haben. Die Statthaltern möge es doch
versuchen, die Krätze dadurch zu beseitigen, dass strenge
auf Beistellung gesunder Schlafstätten gesehen oder die
Gewährung von Naturalwohnungen gänzlich verboten |
werde. .
Ueberdies werde besonders im Kleingewerbe der An-
und Abmeldepflicht nur wenig genügt. Bekannt sei auch, ;
dass in zahlreichen Gewerben die Fluktuation dei Ai beiter
eine riesi°re genannt werden müsse. „V ie soll nun eine
Krankenkasse rechtzeitig zur Kenntniss gelangen, dass
ein „auswärtiger“ Arbeiter eingetreten ist? Erfährt sie das
aber nicht, ja erfährt sie das auch nur nicht rechtzeitig,
so ist sie ausser Stande eine Untersuchung anzuordnen und
das erstrebte Resultat bleibt aus.“
Auf Grund dieser Ausführungen gelangen die begut-
achtenden Kassen zu der Konklusion, dass die vorgeschla-
o-ene Massregel sehr human sei, aber eine weitgehende
Inanspruchnahme staatlicher Mittel, ein entschiedenes \ or-
gehen auf dem Gebiete der Arbeiterschutzgesetzgebung
und Hygiene und endlich eine strengere Durchführung des
Krankenversicherungsgesetzes erfordere.
„Ist die hohe Staatsverwaltung ernstlich gewillt, diese
Wege zu besehreiten, dann Würden die gefertigten Kranken-
kassen, eingedenk der Aufgaben, die ihnen die Gesetz-
gebung und die Natur der Sache auferlegt, mit aller Energie
die hohen Behörden in ihren Bemühungen zu unterstützen
trachten.“
Zur organisatorischen Reform der deutschen Arbeiter-
Versicherung. Wie dem Jahresberichte der Stuttgaiter
Handels- und Gewerbekammer zu entnehmen ist, äussert
sich eine Stuttgarter Fabrik tolgendermassen über die Ar-
beiterversicherung: „Wir bezahlen unseren Arbeitern den
oesammten Versicherungsbeitrag; das Abziehen eines 1 heiles
desselben macht die Leute gegen die staatliche Fürsorge
so erbittert und für ihre Vortheile so unempfindlich, dass
es den ganzen Segen dieses Gesetzes auf hebt. Nachdem ja
jetzt genügendes statistisches Material vorliegt, sollten die
drei bestehenden Versicherungen in eine zusam-
mengezogen werden; bei der derzeitigen Zersplitterung
verschlingen die Betriebskosten den grössten i heil der
Einnahmen.“ Das ist ganz der Standpunkt, welcher auch
an dieser Stelle bezüglich einer Reorganisation der deut-
schen Arbeiterversicherung vertreten wurde.
Krankenversicherung der Dienstboten in Baden. Als
im Jahre 1888 die landesgesetzliche Krankenversicherung
der häuslichen Dienstboten in Baden eingeführt wurde,
wirkte für die Trennung dieser Versicherung von der allge-
meinen Versicherungspflicht namentlich der Zweifel, ob die
Unterordnung der Dienstboten unter diese allgemeine 1 flicht
o'esetzlich zulässig sei. Diese Zweifel sind durch die Be-
rathuno-en der Novelle zum Krankenversicherungsgesetz
o-ehoben worden und dies war der Anlass, dass neuer-
dings das Ministerium des Innern zur Einbringung einei
entsprechenden Vorlage schritt, nachdem auch praktische
Gründe die Aufhebung dieser besonderen Versiche-
rung rathsam erscheinen dessen. Mit der Genehmigung
der Vorlage wird eine Entlastung der Verwaltungsorgane
eintreten ; einzelne Städte machen übrigens darauf auf-
merksam, dass in ihren Anstalten jetzt die Versicherung
wesentlich billiger ist, als bei der allgemeinen reichsgesetz-
lichen Krankenversicherung. Am Schluss des Jahres 1890
bestanden im Grossherzogthum 62 Versicherungen dieser
Art mit einem Durchschnittsbestand von 31 934 Versicherten,
einer Gesammteinnahme von rund 291 000 M. und einer
Ausgabe von 269 000 M., darunter 152 600 M. für Kranken-
hauspflege.
Bestrebungen zur Abschaffung des Invaliditäts- und
Alters Versicherungsgesetzes. Die deutsch-freisinnige Partei
Bayerns hat bekanntlich eine Petitionsbewegung gegen das In-
validitäts- und Altersversicherungsgesetz inscenirt, die bayrische
Centrumspartei nahm dieser Bewegung gegenüber eine wohl-
wollend neutrale Stellung ein, während die Sozialdemokraten
für die Aufrechterhaltung" des Gesetzes bei Betonung der Noth-
wendigkeit seiner Amendirung eintraten. Ueber das Ergebniss
der anscheinend jetzt abgeschlossenen Petitionsbewegung liegen
jetzt Angaben vor.
Danach beträgt die Gesammtzahl der bis zum 6. April
eingelaufenen Unterschriften 245 745 und zwrar aus Oberbayern
51861, Niederbayern 32 146, Oberpfalz 18 450, Oberfranken 25 124,
Mittelfranken 64 496, Unterfranken 24 618, Schwaben 24 240, aus
ausserbayrischen Ortschaften und aus solchen bayrischen, von
denen nicht mit Bestimmtheit festgestellt werden konnte, zu
welchem Bezirksamte sie gehören, 4810 Unterschriften.
Gewerbegerichte.
Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Gewerbe-
gerichtc. Eine allgemeine Verfügung des preussischen
justizministers vom II. April d. J. ordnet die geschäftliche
Behandlung der gegen Entscheidungen der Gewerbegerichte
eingelegten Rechtsmittel. Danach unterliegen Berufungen
und Beschwerden in Rechtsstreitigkeiten, welche in erster
Instanz zur Zuständigkeit der Gewerbegerichte gehören,
derselben geschäftlichen Behandlung wie die entsprechen-
den Rechtsmittel in den zur Zuständigkeit der Amtsgerichte:
gehörten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und werden
auch m die für die letzteren bestimmten Register einge-
tragen.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung.
Wohnungs- und Haushaltungsverhältnisse der Stadt
Halle a S. bei der Volkszählung des Jahres 1S90. Nach 15
verschiedenen Kategorien wurden die Wohnungen der Stadt
Halle a. S. gelegentlich der Aufnahme im Jahre 1890 gruppirt,
wodurch man ein anschauliches Bild der Wohnungszustände
dieser Stadt erhält. 22 081 Wohnungen wurden bewohnt, von
diesen lagen im Keller oder Souterrain 905 (mit 3827 Bewohnern),
Erdgeschosse 3854 (16 954 Bewohner), im Zwischenstocke
im
(Entresöl) 1025 (4824 Bewohner), im 1. Stocke 6667 (28 82 1 Be- '
WuimcTT iiTT u. otuvxCC ^i,.
(10 448 Bewohner), im 4. Stocke 191 (7o8 Bewohner), im 5. Stocke
6 (31 Bewohner), 13-16 (8708 Bewohner) Wohnungen lagen m
ohner), im 2. Stocke 5558 (23 088 Bewohner), im 3. Stocke -o 19
_ . „ , • 4 -1- im /HZ O 13 A„ml-mQr \ vrr» S StflPCP
mehreren Stockwerken, 10 (71 Bewohner) umfassten das ganze
Haus. Bedauerlich ist, dass nicht auch angegeben war, wie
viele Wohnungen unter dem Dache waren.
Es kamen auf die Wohnung
im
Keller
4,23
Bewohner
Paterre
4,39
r>
Entresöl
U7
1. Stocke
4,32
55
2. Stocke
4,15
>>
3. Stocke
4,15
55
4. Stocke . .
3,97
5?
5. Stocke
5,17
in
verschiedenen Stockwerken
6,47
55
>)
ganzes Haus
7,1
5)
Xo. 17.
SO/,1 Al .POLITISCHES CENTRAEBLATT.
Wären die Wohnungen in allen Stockwerken gleich gross,
so wäre das Verhältnis! ein recht günstiges, da aber in der
Re"-el in den höheren Stockwerken mehr Wohnungen sind, als
in 'clen niedrigeren des gleichen Hauses, so stellt sich das Ver-
hältniss natürlich für die höheren Stockwerke bedeutend un-
günstiger. Es wurden 22 081 bewohnte Wohnungen gezählt,
hiervon waren ohne heizbare Zimmer 28 (68 Bewohner), es be-
standen aus einem Zimmer ohne Zubehör 1914 Wohnungen mit
5323 Bewohnern, aus einem Zimmer mit Zubehör 9149 Wohnungen
bewohnt von 36 753 Personen, in den 4936 Wohnungen mit zwei
heizbaren Zimmern wohnten 22 854, in den 2624 Wohnungen
mit drei heizbaren Zimmern 12 727, in den 1367 Wohnungen mit
vier heizbaren Zimmern 7207, in den 895 Wohnungen mit füllt
heizbaren Zimmern 4763, in den 471 Wohnungen mit sechs heiz-
baren Zimmern 2676, in den 282 Wohnungen mit sieben heiz-
baren Zimmern 1820 Personen und in den 415 Wohnungen mit
acht und mehr Zimmern 3339 Personen.
Auf je ein Zimmer der Wohnungen
mit 0 heizbaren Zimmern
„ I heizbarem Zimmer ohne Zubehör
„1 „ . » mit
„ 2 heizbaren Zimmern
5! 3 ,, ,,
)) f !) >’
V ^ 55 ”
55 6 ,, 55
” 8 und mehr (angenommener Durch-
schnitt 9) heizbaren Zimmern . .
kamen 2,43 Bewohner,
2 78
5, "5/0 55
4 02
5) ,,
„ 2,32
!> 1,62 „
„ 1,32
„ 1,06
„ 0,95
,. 0,92
0,90
Diese Tabelle belegt nur die allgemeine Annahme, dass
die Grösse der Wohnungen keineswegs mit der Bewohnerzahl
steigt, dies ist nur der Fall bis und ausschliesslich der Wohnun-
gen mit 2 heizbaren Zimmern, von da an zeigt sich eine ganz
auffallend regelmässige Gleichmässigkeit der Abnahme der Be-
wohnerzahl mit dem Grösserwerden der Wohnungen.
Es wurden gezählt 1727 Wohnungen mit 1, 3431 mit 2, 3955
mit 3, 3688 mit 4, 3105 mit 5, 2328 mit 6, 1528 mit 7, 1006 mit 8,
531 mit 9, 322 mit 10 und 460 mit mehr als 10 Bewohnern. Da
die durchschnittliche Bewohnerzahl der Wohnungen der Stadt
Halle 4,42 war, so waren unter dem Durchschnitte 12 801 und
über dem Durchschnitte 9280 Wohnungen bewohnt. Als
übervölkerte Wohnungen wurden die Wohnungen von weniger
als 2 heizbaren Zimmern mit 6 und mehr und die zwei-
zimmrigen Wohnungen mit 11 und mehr Bewohnern betrachtet.
Nach diesem Massstabe waren 2 Wohnungen ohne heizbares
Zimmer, 104 lediglich einzimmrige, und 2079 Wohnungen mit
einem Zimmer und Zubehör, ferner 86 zweizimmrige Wohnungen
übervölkert, in 4 Wohnungen hausten 2 Haushaltungen. Von
den 22C81 bewohnten Wohnungen hatten blos 17 387 Kochküchen
und 15 380 Wasserleitung. 1138 besassen Badezimmer. Auf die
Vorderwohnungen kamen im Durchschnitte 4,40, auf die Hinter-
wohnungen 4,21, und auf die Vorder- und Hinterwohnungen
6,39 Bewohner. Der Durchschnittsmiethpreis einer Mieth-
wohnung betrug M. 283, der der Mietwohnungen mit gewerb-
licher Nebenbenutzung M. 503, und der ohne derartige Neben-
benützung M. 251. In der letzteren Kategorie war der Miet-
preis eines Zimmers am höchsten im 5. (!) Stockwerke (M. 149).
Hierauf folgen Zimmer im Zwischenstocke (M. 143), im I. (M. 141),
II. (M. 131), IV. (M. 113), III. (M. 112) Stocke und im Keller
; (M. 92).
Nach Miethzinsstufen gruppiren sich die Wohnungen in
folgender Regelmässigkeit:
hatten 3684 Dienstboten, 1407 Gewerbsgehilfen, 718 Pensionäre
oder Pfleglinge, 1946 Altermiether und 1654 Schlafleute.
Der Grösse nach gruppirten sich
olgendermassen :
die Haushaltungen
mit 1 Mitgliede
1750
• 2
j) ^ )5
3444
„3 „
3966
„4 „
3701
„5 „
3108
„6 „
2331
„7 „
1523
„8
999
„9 „
527
„ 10 „ ......
322
„ 10 und mehr Mitgliedern .
462.
Wohnungszustände in Worms. In
dem V erwaltungs-
bericht für 1891 der Grossherzogi. Bürgermeisterei Worms wird
j auf Grund umfangreicher Erhebungen der Polizeiverwaltung
1 Folgendes mitgetheilt: „Unter Berücksichtigung des Umstandes,
dass 14% aller Wohnungen als feucht und ungesund ermittelt
i und 4% derselben als in hohem Maasse überfüllt erscheinen,
muss man zu 'dem Schlüsse kommen, dass gesetzliche Mass-
nahmen unbedingt geboten erscheinen, um hier Abhilfe zu
schaffen.“ Die Erhebungen erstreckten sich auf 1604 vor-
handene Arbeiterwohnungen, die von ca. 10 400 Personen be-
wohnt waren. Zu der Frage der Regierung, ob sich für die
hiesigen Verhältnisse der Erlass von Bestimmungen über Ab-
stellung der Wohnungsmissstände empfehle, hat man sich, wie
in dem Berichte hervorgehoben wird, wie folgt aussprechen zu
j müssen geglaubt: „Die allgemeine Bauordnung giebt nur Vor-
j Schriften, welche die Neuerrichtung von ungesunden Bauten
und Wohnungen verhindern, dagegen bietet die Bauordnung
| auch gar keine Handhabe, um gegen bestehende missständige
| Wohnungen einschreiten zu können. Es darf wohl kein An-
stand genommen werden, auszusprechen, dass in keiner Form
; der Wucher die Nothlage seiner Opfer so schonungslos aus-
i beutet, als der Wohnungswucher.“ Wenn auch zugestanden
werden müsse, dass weder Staat noch Gemeinde im Stande
seien, auf die Preisgestaltung der Wohnungen dauernd wirksam
einzuwirken, so dürfte es umsomehr als eine Pflicht der Gesetz-
gebung anerkannt werden, dagegen Massregeln zu treffen, dass
i Unbemittelte, welche kein Unterkommen finden können, ge-
radezu gezwungen sind, Wohnungen zu beziehen und zu be-
zahlen, die das körperliche und sittliche Wohl der Bewohner
untergraben. Denn die Gesundheit der Bewohner der 14%
feuchten und ungesunden Arbeiterwohnungen in Worms werde
| schwer geschädigt und der skrophulose und rachitische Kinder-
nachwuchs, der uns leider überall entgegentrete, gebe dafür
lautes Zeugniss. Der Schluss des betreffenden Berichtes lautet
wörtlich: „Wohnungen, die auf den Wohnraum rund 5 Per-
sonen über 6 Jahre, also mit den kleinen Kindern mindestens
8 Seelen beherbergen, zerstören durch die mit dieser Menschen-
anhäufung unvermeidlich verbundene Unreinlichkeit und
schlechte Luft nicht allein die Gesundheit, sondern auch alle
Scham und Sitte, ganz abgesehen davon, dass ein Familienleben
in solchen Wohnungen undenkbar ist. Es muss deshalb der
Erlass von Bestimmungen zur Verhütung ungesunden Wohnens
als ein unerlässliches Bedürfhiss angesehen werden.“
Preis
Wohnungen
0 250 ... .
12 230
251 500 ... ■
3814
501 1000 . . . .
1 738
1001 1500 . . .
444
1501—2000 .
2001 2500 . . ■
33
2501-3000 . . .
20
über 3000 . • .
38
Die Sesshaftigkeit ist in Halle a. S. verhältnissmässig gross,
was folgende Zusammenstellung zeigt:
Bezugdauer
0 — 6 Monate
7—12
3— 4
4— 5
5— 10
über 10
55
Jahre
55
55
55
55
55
Zahl der Wohnungen
4023
2611
3586
2337
1467
982
3025
2206
Bewohnt wurden die Wohnungen von 1750 Einzelhaus-
haltungen, 12 676 aus Familienangehörigen und Verwandten zu-
sammengesetzten Haushaltungen und aus 7707 aus Familienan-
gehörigen und Fremden bestehenden Haushaltungen, und zwar
Litteratur.
Allgemeiner Schweizer Gewerkschaftsbund. Jahresbericht des
Bundeskomitees an die Sektionen, umfassend den Zeitraum
vom 1. Januar 1891 bis 1 März 1892, erstattet an den in Aarau
am 17. und 18. April 1892 stattfindenden Gewerkschafts-
kongress. Zürich 1892. Buchdruckerei des Schweizer Griitli-
vereines.
Dieses kleine Schriftchen wird für jeden unentbehrlich
sein, der die Gewerkschaftsbewegung der Schweiz verfolgen
will. Man lernt aus derselben die Tendenzen der Organisationen,
die Wichtigkeit des Bundeskomitees, die finanziellen Leistungen
des Gewerkschaftsbundes kennen und erhält eine Uebersicht
über sämmtliche in der besprochenen Zeit stattgefundenen Lohn-
kämpfe. Da fast stets die Forderungen der Arbeiter bez.
anderweitige Ursachen der Arbeitseinstellung angegeben werden,
so kann das Schriftchen auch dem Sozialstatistiker manches
nützliche bieten.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin
222
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No. 17.
Verlag von Leonhard Simion, Berlin SW., Wilhelmstrasse 121
Volkswirtschaftliche Zeitfragen,
Vorträge und Abhandlungen
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«Soeben evf d}ien :
ftanknii)ctfid)etunp0efc§
turnt 15. dntti 188B,
IPF“ in ber gnffunß ber 9t ob eite botn 10. Steril 189*2.
fol]ii- tiitü Irtrits-ilerlinltiiillt
int
bentfdjcn $h*cdj5ler-©eniedir.
(Sine $ufaiumenftellung ftntiftifdjer (Sri) eb tut gen
aus* 83 ©teibten $eutfd)tanb3, über bie ößlpte,
Slvbeitöäeit, Sllter, $ranff)eit, 2lrbeitßtofigfeit
ber airbeiter, ob biefelben ©otbat waren, wie
bie 2lrl>eit3räuine, SBerl^enge befd)affeu, welche
23rattd)en bertreteh finb uftu.
flirciS 50 fpfg. pro (^jrmplav.
Sßerlag «on Jfj- Scipart „jSrfldjjtß. f. ^recfj^Iet"
£nmbttrß=2t. ©eorjj, 2ln ber Doppel 79.
jfrei llanö j
podjenlitjrift jur prümmn riner frieölidjen !
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(frfdjcint jebeit ättontag.
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23ei alten tßoftanftalteii (9tr. 2272
ber fßofbteitungälifte) ....
23ei birefter Äreujltaubfenbung:
in 2)eutfd)Ianb unb Oefterreiclj .
im 2Bettpoftüerein
Sn ISerlin bet freier gufenbung . .
Bie ffixpEbifirm
K. luadtö, SfaUfct|mhrr|fr. 55.
ÜJlf. 0,80
„ 1 ,20 ■
„ 1,50
„ ;
Auguft (nnmpclmiinu,
Ittfkts fjaf ber Eanbntanrt non bpr
^opat^rint1hEaltE |u ErroarlEn?
IJJreiö 25 fj}f., 20 (fpetnplarc für 5 5Dt., lüOgrpl.
für 15 3R., 1009 6jpl. für 10J Söt.
2er Sficologtfcfje £itcratur=23erid)t fd)veibt: ,,2ic
allgemeine Hcrbreitung Sieter törofcfnire ift
Itudttt tuunfebenemert. 3dj rate Sen Werren ilintä-;
brübern, fie in tänbtietjen SSerfammlimgcit jur älertejiMifl'
nnb Sejprejung ju bringen mib Dertpredjc barcat guten!
Crfotg.
SSerlrtci ooit ütfctiiljolh 2ßertl)er in SfeipjigJ
®ic öffeutlidje ^ürforge
für bie
muierrdjulbrteit Arbcitslofeit.
©rnnbtinien eitteb ©efetjeutiöitrfs.
Hireiö 1 2Wf.
S)ie Senbett^ biefes (SntumrfeS ift tumtefjm*
tid) balfin gerietet, bie ©treitigfeiten jroifdien
2trbeitgebern unb 2trbeitnelpnern 311 uerljiiten,
bie 2trbeitsüert)ültniffe foliber unb bauerbafter
311 geftatten unb Ifierburd) 3111* ^erftetluug bee
f Opiaten griebend behutragen.
(Jbuarb Sctlag in ililündien.
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Verantwortlich für den Anzeigentheil: O. Schuchardt in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 2. Mai 1892.
Nummer 18.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
alle
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHAL T.
Die Umgestaltung der Ge- ! Centralverband der österreichi-
werbe-Inspektion in Preus- scheu Grossindustrie,
sen. Von Dr. Heinrich Braun. Handwerkerfragen:
Arbeiterzustände: Untergang des Kleingewerbes in
Die Arbeitslöhne in der ober- Württemberg.
schlesischen Montanindustrie. I landwerkerorganisationen für die
Von Prof. Dr. Werner Sombart. Gewerbefreiheit.
Statistik der Lohn- und Arbeits- Arbeiterschntzgesetzgebung :
Verhältnisse der Maurer von Zur preussischen Berggesetznovelle.
Lauenburg a. Elbe im Jahre 1891. Regelung der Sonntagsruhe in der
Gewerkschaftliche Arbeiter- Industrie Berlins,
beweguilg: Ruhezeiten für österreichische
Die Tarifgemeinschaft im Buch- Staatsbeamte.
druckerge werbe. Ausdehnung des Arbeiterschutzes
Verband deutscher Textilarbeiter. in Oesterreich.
Hirsch- Duncker’sche Gcwerkver- Arbeiterschutz in Schweden.
eine in Bayern. Gewerbeinspektion:
Eine Gewerkschaft der Mühlen- Vermehrung der Fabrikinspektoren
arbeiter Niederösterreichs. im Kgr. Sachsen.
Die Forderungen der schweize- Fabrikinspektion in den Reichs-
rischen Arbeiter. landen.
Unternehmer verbände: Arbeiterversicherung:
Neues Kartell der russischen Organisation der staatlichen Kran-
Zuckerfabrikanten. Von E. kenversicherung in Oesterreich.
Sch.olko w. W ohlfahrtseinriclitungen :
Ländlicher Unternehmerverband in Konferenz der Centralstelle für
Schlesien. Wohlfahrtseinrichtungen.
I *
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
wendung eine der inneren Bedingungen jedes Arbeiter-
schutzgesetzes ist, und dass Einheitlichkeit der Massnahmen
des Inspektorats zu den wesentlichen Voraussetzungen ge-
deihlicher Wirksamkeit des letzteren gehört. .Allein diese
wohlbegründeten Anschauungen fanden keine Beachtung,
und wir haben zum Nachtheil des Gesetzes sowohl wie der
davon Betroffenen eine in jedem deutschen Bundesstaate
seinen Eigentümlichkeiten wechselnd sich anpassende, in
Folge dessen im ganzen Reiche sehr ungleichartige Hand-
habung des Arbeiterschutzgesetzes zu konstatiren. Diese
Verhältnisse sind auch durch die Novelle zur Gewerbe-
ordnung, die in ihrem weitaus grössten Theil am 1. April
in Kraft getreten ist, nicht geändert worden.
An dem Massstab der Garantien seiner Durchführung-
gemessen, lässt sich über das neue Arbeiterschutzgesetz
noch kein Urtheil fällen, weil in vielen Bundesstaaten die
für das Inspektorat angesichts der veränderten Verhältnisse
neu zu erlassenden Verordnungen noch nicht erschienen
sind. Für Preussen , welches auch nach dieser Hin-
sicht auf die übrigen Bundesstaaten bisher schon einen
massgebenden Einfluss geübt hat und vermuthlich auch
künftighin üben dürfte, ist eine „Dienstanweisung für die
Gewerbe-Aufsichtsbeamten“ unter dem 23. März 1892 seitens
des Ministers für Handel und Gewerbe erlassen worden.1)
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Umgestaltung der Gewerbe-Inspektion
in Preussen.
Aus dem Gegensatz der gesellschaftlichen Interessen
hervorgegangen und von dem Konflikt derselben -unaus-
gesetzt bedrängt, kann die Arbeiterschutzgesetzgebung zur
Geltung nur gelangen, wenn ein wohlorganisirtes Inspektorat
ihre Verwirklichung erzwingt. Um sich über den Werth
dieser Gesetzgebung ein zutreffendes Urtheil zu verschaffen,
bedarf es darum insbesondere einer sorgfältigen Betrachtung
der zu ihrer Durchführung geschaffenen Garantien. Wenn
wir daraufhin die deutsche Gewerbe-Ordnung in’s Auge
fassen, so tritt uns zunächst die Thatsache entgegen, dass
dieses für das ganze Reich einheitlich geordnete Gesetz für
die Inspektion nur die allgemeinsten Grundzüge festsetzt
und im Uebrigen eine vpllkommen zersplitterte, nach der
Seite ihrer speziellen Ausgestaltung jedem der 26 Bundes-
staaten besonders überlassene Gewerbeaufsicht gestattet.
Der partikularistische Charakter der deutschen Inspektion
gehört zu ihren schlimmsten Gebrechen. Es ist oft genug
hervorgehoben worden, dass die Gleichmässigkeit der An-
Bis zum 1. April d. J. beruhte die preussische Ge-
werbe-Inspektion, abgesehen vom § 139b der Gewerbe-
ordnung auf der Dienstanweisung für die Gewerberäthe vom
24. Mai 1879 und auf den für die Regierungsbezirke Düsseldorf
und Arnsberg erlassenen Dienstanweisungen für die Ge-
werbe-Inspektoren vom 23. Juni 1891. Mit den erweiterten
Aufgaben des neuen Arbeiterschutzgesetzes ergab sich die
Nothwendigkeit einer Reorganisation, und die preussische
Regierung musste zum Ersatz der alten Dienstanweisung
umso eher schreiten, als sie den neu erwachsenen Obliegen-
heiten der Inspektion auch noch die Kesselrevision hinzu-
fügte und zum Theil mit Rücksicht auf letztere die Zahl
der Beamten bedeutend vergrösserte.
Nach der Dienstanweisung vom 23. März 1892 umfasst
der Wirkungskreis der Inspektionsbeamten die Aufsicht
über die Durchführung der Vorschriften betreffend die
Sonntagsruhe, die Einrichtung der Betriebsanlagen, die
Arbeitsordnungen, die Beschäftigung der Arbeiterinnen und
i) Abgedruckt u. A. in der „Ersten Extra -Beilage zum
15. Stück des Amtsblatts der K. Regierung zu Potsdam und der
Stadt Berlin“ vom 8, April 1892. — Es ist schwer verständlich,
warum für eine derartige wichtige Verordnung nicht der
„Deutsche Reichs- und Königlich Preussische Staatsanzeiger“
zur Veröffentlichung gewählt wird, und man in Hinsicht dieses
wichtigen Aktenstücks auf die schwer zugänglichen Amtsblätter
der Regierungsbezirke angewiesen ist.
224
SOZI AI POLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 18.
jugendlichen Arbeiter, die genehmigungspflichtigen Anlagen,
die Arbeitsbücher, Zeugnisse und die Lohnzahlung. End-
lich wird, wie erwähnt, den Gewerbeaufsichtsbeamten auch
die Kesselrevision übertragen. Die Gewerbeaufsicht wird
durch Regierungs- und Gewerberäthe, durch Gewerbe-
Inspektoren und durch Hilfsarbeiter (Assistenten ausgeübt.
Zur Durchführung der Gewerbe- Aufsicht werden Geweibe-
Inspektionsbezirke gebildet, deren Verwaltung je einem
Gewerbe-Inspektor übertragen wird. Die Gewerbe-Inspek-
toren unterstehen den Gewerberäthen. Die Aufgabe der
letzteren besteht wesentlich in ihrer 1 hätigkeit als tech-
nische Mitglieder der Regierungen und in ihrer Ueber-
wachung der Gewerbe-Inspektoren. Die Gewerbe-Aufsichts-
beamten sollen in Ergänzung der den ordentlichen Polizei-
behörden obliegenden Aufgaben zunächst für eine möglichst
vollständige und gleichmässige Durchführung der Bestim-
mungen der Gewerbeordnung und der aut Grund ihrer er-
lassenen Vorschriften Sorge tragen. „Dabei sollen sie“
iso bestimmt § 6 der Dienstanweisung) „ihre Aufgabe vor-
nehmlich darin suchen, gestützt auf ihre Vertrautheit mit
den gesetzlichen Bestimmungen, ihre technischen Kennt-
nisse und amtlichen Erfahrungen, durch sachverständige
Berathung und wohlwollende Vermittelung eine Regelung
der Betriebs- und Arbeitsverhältnisse herbeizuführen, welche
ohne dem Gewerbeunternehmer unnöthige Opfer oder zweck-
lose Beschränkungen aufzuerlegen, den Arbeitern den vollen
durch das Gesetz ihnen zugedachten Schutz gewährt und
das Publikum gegen gefährdende und belästigende Ein-
wirkungen sicher stellt.“ Wenn sie Gesetzwidrigkeiten und
Uebelstände vorflnden, sollen sie deren Abstellung durch
gütliche Vorstellungen herbeizuführen suchen und nur,
wenn dies nicht gelingt, die Hilfe der Polizeibehörden in
Anspruch nehmen. Nach den Bestimmungen der Gewerbe-
ordnung haben die Gewerbe-Aufsichtsbeamten zwar selbst
polizeiliche Befugnisse. Indessen sind sie angewiesen (§ 8
der Dienstanweisung), von diesen Befugnissen keinen Ge-
brauch zu machen, ausgenommen in Fällen, in denen Ge-
fahr im Verzüge ist.
Zur Erfüllung ihrer Aufgaben sollen die Aufsichts-
beamten fortlaufend die industriellen Betriebe besuchen und
sich ein Urtheil über deren Zustand und die Frage, ob es
des Erlasses neuer Vorschriften zur Beseitigung von Miss-
ständen bedürfe, verschaffen. Die Inhaber und Leiter der
Anlagen sind verpflichtet, die Besichtigungen zu jeder Zeit
speziell auch des Nachts zu gestatten.
Die Ortspolizeibehörden haben den Gewerbeaufsichts-
beamten bei Ausübung ihrer Amtsthätigkeit behilflich zu
sein. Alljährlich haben die Regierungs- und Gewerberäthe
einen Jahresbericht über ihre amtliche Thätigkeit bis zum
1. März dem Handelsminister, einen ebensolchen die Gewerbe-
inspektoren bis zum I5.januar dem Regierungs- und Gewerbe-
rath ihres Bezirkes vorzulegen.
Was die Vermehrung der Aufsichtsbeamten anlangt,
so soll das Personal der Inspektion nach der dem vorjährigen
Etat des preussischen Handelsministeriums beigegebenen
Denkschrift, betr. die künftige Regelung der Gewerbe-
Inspektion künftighin aus 163 Beamten bestehen, und zwar
aus 26 Regierungs- und Gewerberäthen, 97 Gewerbeinspek-
toren und 40 Assistenten. Die Vermehrung des Aufsichtsper-
sonals soll auf vier Jahre vertheilt werden. Ueber den ersten
Schritt dieser Reorganisation, welche in der Rheinprovinz,
den Provinzen Westphalen und Hessen-Nassau, dem Regie-
rungsbezirk Potsdam und der Stadt Berlin im Wesentlichen
bereits zur Durchführung gelangte, ist in No. 16, S. 207
dieser Zeitschrift berichtet worden.
Wenn wir zur Beurtheilung der Reorganisation der
Gewerbeaufsicht in Preussen auf die hier mitgetheilten
wichtigsten Züge derselben einen Blick werfen, so bietet
sich vor Allem die Erhöhung der Zahl der Inspektions-
beamten als ein bestechendes Moment dar. In der
That wird Preussen in wenigen Jahren einen der absoluten
Zahl nach alle anderen Staaten weit übertreffenden
Stab von gewerblichen Aufsichtsbeamten besitzen. Bei
näherer Betrachtung büsst indessen das Bild von seiner
glänzenden Erscheinung sehr Vieles ein. Der Umstand,
dass die Kesselrevision künftig zu den Obliegenheiten der
preussischen Aufsichtsbeamten zählen wird, muss zur Folge
haben, dass dieAufgaben der eigentlichen Gewerbeinspektion
trotz der scheinbar ausserordentlichen Vermehrung der Be-
amten eine noch unzulänglichere Besorgung als bisher er-
fahren werden. Wie jene Denkschrift berechnet, wird ein
Beamter im Jahr durchschnittlich 300 Revisionen gewerblicher
Anlagen und 200 Kesselrevisionen ausführen können. Im Jahre
1890 entfielen dagegen bei dem bisherigen Beamtenstatus
372 Revisionen gewerblicher Anlagen im Durchschnitt auf
einen Inspektor in Preussen. Künftighin würde diese Ziffer
für die gewerblichen Revisionen kaum erreicht werden.
Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass durch die Fortbil-
dung der Arbeiterschutz-Gesetzgebung der Inspektion weit
grössere Aufgaben zugefallen sind, und unter diesem Ge-
sichtspunkt die Vermehrung der Inspektoren sich noch un-
genügender darstellt. Nicht weniger unerfreulich erscheint
die Situation, wenn man die nach der Reorganisation vor-
handene Zahl der preussischen Aufsichtsbeamten mit der
Anzahl der zu revidirenden Betriebe vergleicht. Nach der,
Berufszählung von 1882 gab es in Preussen 451 453 Betriebe,
die unter die Gewerbeinspektion fallen. Bei der Annahme
von 163 Aufsichtsbeamten mit je 500 Inspektionen im Jahr,
würde daher jeder Betrieb etwa einmal in fünf Jahren
revidirt werden können.
Man sieht, die Verquickung der Dampfkesselrevision,
mit der Fabrikinspektion macht den Werth der Vermehrung
der Aufsichtsbeamten zum grossen Theile zu nichte. Es em-
pfiehlt sich deshalb auf das Dringendste, die Kesselrevision von
der Gewerbeaufsicht loszulösen und dieselbe wie bisher
den durchaus befriedigend fungirenden staatlichen Revi-
soren und freiwilligen Revisionsvereinen auch ferner zu,:
überlassen. <
Zu den zahlreichen Gründen, welche dies wünschens-'
werth erscheinen lassen, gehört auch der, dass in jenem'
Fall die Wahl der Aufsichtsbeamten nicht wie jetzt vor-
wiegend auf den Kreis von „geprüften Baumeistern des
Maschinen- und Ingenieurfaches und der Bergassessoren“
beschränkt bleiben müsste , (vergl. Rede des Ministers
v. Berlepsch in der Sitzung des preussischen Abgeord-
netenhauses vom 13. März 1891, Stenographisches Protokoll,
S. 1459). Wenn die mannigfachen und immer komplizirter
sich gestaltenden Aufgaben der Gewerbe-Inspektion glück-
lich gelöst werden sollen , dann können sie unmöglich
vorzugsweise Technikern übertragen werden, die über
einen, wenn auch sehr wichtigen, I heil die hygienischen,
ökonomischen und sozialen Seiten der Aufgabe nothwendig
vernachlässigen müssen.
Die Uebertragung der Kesselrevision auf die Inspek-
toren ist gewiss ein sehr schlimmer Fehler, allein noch tief-
greifender und für die Institution verderblicher ist die
Stellung und Machtfülle, die einerseits den unteren Polizei-
behörden hinsichtlich der Gewerbeaufsicht eingeräumt
worden ist, andererseits die völlige Einflusslosigkeit, zu
welcher die Aufsichtsbeamten selbst verurtheilt sind.
Der § 139b der Gewerbeordnung überträgt den In-
spektionsbeamten „bei Ausübung dieser Aufsicht alle amt-
lichen Befugnisse der Ortspolizeibehörden“; demgegenüber
erklärt die Dienstanweisung wie wir schon oben erwähnten:
„von dem Rechte, polizeiliche Straffestsetzungen zu treffen,
sollen die Gewerbe-Aufsichtsbeamten keinen Gebrauch
No. iß, SOZIALPOLITISCHES CKNTRALBLATT. 225
machen“ und von dem Rechte, polizeiliche Verfügungen
zu erlassen, nur ausnahmsweise, wenn Gefahr im Verzug
ist. Die Gewerbc-Aufsichtsbeamten werden zur Abstellung
ihnen begegnender Gesetzwidrigkeiten und Uebelstände
auf den Weg „gütlicher Vorstellungen und geeigneter
Rathschläge“ verwiesen, und wenn sie auf diesem Wege
die Erfüllung gesetzlicher Anforderungen nicht erreichen,
sollen sie sich an die Polizeibehörden wenden und diese
zum Einschreiten veranlassen. Während den englischen
Fabrikinspektoren das Recht zusteht, selbständig Anord-
nungen zu treffen und Uebertretungen gerichtlich zu
verfolgen, stehen die deutschen Aufsichtsbeamten dem
renitenten Unternehmer mit gelähmtem Arm gegen-
Iüber und bedürfen, um dem Gesetz Achtung zu ver-
schaffen eines, — in zahllosen von den Inspektoren
selbst amtlich konstatirten Fällen fruchtlosen, — Appells an
die Ortspolizeibehörden. Es bedarf darnach nicht erst
einer näheren Darlegung, wie sehr unter solchen Verhält-
nissen die Autorität des Aufsichtsbeamten aber in noch
höherem Mass die des Arbeiterschutzgesetzes leidet. Die
klägliche Stellung, welche den Gewerbe-Inspektoren zuge-
muthet wird, findet u. E. ihre Erklärung in der offiziellen Auf-
fassung der ganzen Institution. „Sachverständige Berathung,
wohlwollende Vermittlung“ scheint man in den Kreisen der
Regierung für die eigentliche Aufgabe der Gewerbeinspek-
tion zu halten. Demgegenüber möchten wir an das Wort
Lorenz v. Stein’s erinnern, welches das Wesen des In-
spektorats treffend bezeichnet: „Die grosse Mission des
Arbeitsinspektorats ist es, der Anwalt aller einzelnen Ar-
beiter zu sein, welche als solche hilflos den Forderungen
der Unternehmer gegenüberstehen und zwar in der Weise,
dass es die Beobachtung der allgemeinen Grundsätze und
Gesetze des Arbeiterrechts von jedem Unternehmer über-
wacht und dieselbe nöthigenfalls erzwingt.“ (Vgl. Hand-
buch der Verwaltungslehre, Stuttgart, 1888, 3. Auf!., 3. Theil,
S. 184). Erst wenn diese Auffassung zur Geltung gelangt
sein wird, werden die deutschen Gewerbe-Inspektoren das
Ansehen und den Einfluss gewinnen, welcher dem Ernst
ihres Berufes entspricht.
Am schwersten zu begreifen ist die Stellung, welche
den Polizeibehörden in Bezug auf die Durchführung des
Arbeiterschutzgesetzes eingeräumt worden ist. Auch ohne
dass die Untauglichkeit und Indolenz dieser Behörden gegen-
über der Gewerbeaufsicht von den Inspektoren immer und
immer wieder aktenmässig bekundet worden wäre, müsste man
von vornherein annehmen, dass sie der schwierigen Aufgabe
nicht gewachsen sein können. Die vieljährigen Erfahrungen
sind aber auf die Regierung nicht nur ohne Eindruck ge-
blieben, sondern sie hat es sogar durchgesetzt, dass den
Polizeibehörden im § 120d der Gewerbeordnung noch viel
weiter gehende Rechte verliehen wurden. Und dies fällt
für die Durchführung des Gesetzes um so mehr ins Ge-
wicht, als die Erweiterung der Pflichten der Inspektion,
wie sie sich aus der Entwicklung des Arbeiterschutzes er-
gibt, noch mit der ihr übertragenen Kesselrevision zusam-
mentrifft. Die Folge wird sein, dass die Geltendmachung
der Anforderungen des Gesetzes mehr noch als bisher
von den Polizeibehörden abhängen wird. Das heisst aber
nichts Anderes, als dass der Arbeiterschutz im deutschen
Reich zum grossen Theil dazu verurtheilt sein wird, todter
Buchstabe zu bleiben.
Wir haben hier die wesentlichsten Gebrechen, die sich
aus der Neuorganisation der preussischen Gewerbe-Inspektion
ergeben, gestreift. Es blieben noch eine ganze Reihe kri-
tischer Einwände übrig, beispielsweise der Mangel der Cen-
tralisation, die sehr wenig glückliche Art, in welcher die Be-
richte der Inspektoren mehrere Censurstellen passiren, ehe
sie zur Veröffentlichung gelangen u. A. m. Allein diese
|
Mängel treten zurück gegenüber den schwerer wiegenden
Fehlern, welche wir erwähnt haben, und die geeignet sind,
die Bedeutung der Institution auf das schlimmste zu beein-
trächtigen.
Die eigentliche Gefahr, welche aus der Sachlage sich
ergiebt, — und was für Preussen gilt, dürfte mit wenigen Aus-
nahmen für ganz Deutschland gelten — , besteht aber darin,
dass selbst die dürftigen Fortschritte, welche für die Ar-
beiterschutzgesetzgebung nach unendlichen Anstrengungen
erkämpft worden sind, vollkommen verloren gehen können.
Soll diese Gefahr beschworen und nicht jeder neue Fort-
schritt von vornherein zur Unfruchtbarkeit verdammt sein,
dann bedarf es vor Allem eines Gesetzes, das die Ge-
werbe-Inspektion nicht nur Preussens sondern des Deut-
schen Reiches einheitlich und von Grund aus neu gestaltet:
einer Reform an Haupt und Gliedern.
Berlin. Heinrich Braun.
Arbeiterzustände.
Arbeitslöhne in der oberschlesischen Montanindustrie.
Die unlängst erschienene „Statistik der oberschle-
sischen Berg- und Hüttenwerke für das Jahr 1891“1) ent-
hält wiederum eine grosse Anzahl auch sozialpolitisch
interessanter Angaben, deren wichtigste wir im Folgenden
mittheilen. Die Statistik bezieht sich auf die Steinkohlen-
gruben, die Eisengruben, die Zink- und Bleierzgruben, die
Hochöfen, die Eisengiessereien, die Walzwerke, die Frisch-
hütten, die Zinkhütten, die Blei- und Silberhütten, die
Koks- und Cinderfabriken, die Schwefelsäurefabriken und
die Fabriken schwefliger Säuren.
Was die Gesammtlage der Montanindustrie im
Berichtsjahre anbetrifft, so erfreute sich der Steinkohlen-
bergbau am ehesten steigenden Absatzes und guter Preise ;
die übrigen Zweige der Montanindustrie, insbesondere die
Eisenhüttenindustrie befanden sich in weniger günstiger
Lage; der Absatz liess vielfach zu wünschen übrig, auch
saidren in wichtigen Branchen die Preise, so dass die Pro-
duktion entsprechend eingeschränkt werden musste. Eine
Zunahme sowohl des erzeugten Quantums wie des erzielten
Verkaufspreises der abgesetzten Produkte erfuhren von
wichtigeren Betriebszweigen nur: der Steinkohlenbergbau,
die Zink- und Bleierzgruben. Die Eisen- und Stahlt abri-
kation steigerte zwar das Quantum der Produktion von
387 290 auf 415 018 t; der Geldwerth der Produktion sank
jedoch von 59,4 Mill. M. auf 51,5 Milk M.
Die Anzahl der beschäftigten Arbeiter, wie die Be-
wegung der verdienten Löhne entspricht nicht überall der
eben skizzirten Geschäftslage; in einzelnen Branchen steigt
die Anzahl der beschäftigten Arbeiter, steigen die Arbeits-
löhne, obwohl die Produktionsmenge oder der Produktions-
werth sinken. In diesen Fällen muss also eine Verschie-
bung des Verhältnisses zwischen Arbeitslohn und Unter-
nehmergewinn zu Gunsten des ersteren stattgefunden
haben. "Ein ander Mal steigt der Verkaufswerth der Pro-
dukte rascher als der bezahlte Arbeitslohn: Verschiebung
jenes Verhältnisses zu Gunsten des Unternehmergewinns
(Steinkohlenbergbau). Die Arbeitslöhne, für welche die
Statistik besonders reiches Material erhebt, können, wie
soeben schon angedeutet wurde, in verschiedener B.eziehung
betrachtet werden: in ihrem absoluten Betrage, in ihrem
Verhältnisse zu den Arbeitslöhnen früherer Arbeitsperioden
(Zunahme oder Abnahme), in ihrem Verhältnisse zum
Verkaufspreise des Produkts, zum Quantum des Produkts,
zur Arbeitsleistung, zum Unternehmergewinn. Wir ver-
suchen, das statistische Material im Folgenden nach diesen
Gesichtspunkten zu gruppiren.
i) Herausgegeben vom Oberschlesischen Berg- und Hütten-
männischen Verein. Zusammengestellt und bearbeitet vom Ge-
schäftsführer des Vereins Dr. H. Voltz. Kattowitz, 1892.
226
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
1. Steinkohlengruben. Die Gesammtzahl der Ar-
beiter betrug 54 746 , wovon 5 009 weibliche Arbeiter. Die j
Zunahme gegenüber dem Vorjahre beträgt 10,1 0 , , obwohl
erst im Jahre 1890 gegenüber 1889 eine Steigerung um 12,5"/o
stattgefunden hatte; im Jahre 1886 waren nur 40 586 Ar-
beiter im Steinkohlenbergbau beschäftigt. Der Gesammt-
jahresbetrag der auf den Steinkohlengruben gezahlten
Arbeitslöhne belief sich im Jahre 1891 auf 41 792 443 M.
gegen 36,5 Mill. M. im Vorjahre und 28,0 Mill. M. im Jahre
1889. Also eine beträchtliche Steigerung wiederum! Und
zwar wie ersichtlich auch pro Kopf des Arbeiters. Der
Jahresdurchschnittslohn eines männlichen Arbeiters über
16 Jahre betrug 1891 = 821,1 M. gegen 790,4 M. im Vor-
jahre, was eine Steigerung um 3,9 " n bedeutet. Die stei-
fende Bewegung der Löhne, wie sie seit einer Reihe von
Jahren im Steinkohlenbergbau sich bemerkbar macht, hat
also angehalten; freilich nicht in gleichem Tempo wie
bisher. Die Jahre 1889, 1890 hatten die Löhne in viel
energischerer Weise in die Höhe getrieben, um 10,7 bezw.
16,1 1 1 /o ; der Durchschnittslohn, der 1888 erst 615,1 M. be-
tragen hatte, war 1889 auf 680,7 M., 1890 aut 790,4 M. ge-
stiegen. Verglichen mit den Löhnen der Bergarbeiter in
den" westlichen Revieren sind diese Beträge absolut freilich
noch gering; aber auch die Arbeiterschaft steht tiefer und
die Lebensbedingungen sind wohlfeiler. Dazu kommt, dass
ein Vergleich zwischen den westlichen und den oberschle-
sischen durchschnittlichen Bergarbeiterlöhnen nicht ohne
Weiteres angängig ist und zwar deshalb nicht, weil in
Oberschlesien der prozentuale Antheil der Häuer, als der
eigentlichen, ausgelernten Bergleute an der Gesammt-
arbeiterzahl ein viel geringerer ist als im Westen: bei den
günstigen Abbauverhältnissen der oberschlesischen Flötze
entfallen in Oberschlesien auf I Häuer bis zu 2 Füller
und erste Wagenstösser, während in den übrigen Revieren
umgekehrt für einen dieser Arbeiter bis zu 2 Häuer nöthig
sind. Ganz besonders interessant ist ein Vergleich zwischen
der Bewegung der Arbeitslöhne und derjenigen der Pro-
duktion und ihres Geldwerthes. Er zeigt uns wie die Ver-
theuerung des Produkts um vieles rascher sich vollzogen
hat, als die Steigerung des Arbeitslohnes, wie also trotz
dieser der Unternehmerantheil am Gesammtertrage verhält-
nissmässig gestiegen ist; mit andern Worten: wie die
Grubenbesitzer die Mehrausgabe an Arbeitslöhnen und mehr
als diese auf die Konsumenten abzuwälzen im Stande ge-
wesen sind. Während das Produktionsquantum ungefähr
im Verhältniss zu der Vermehrung der Arbeiter gestiegen
ist, die Arbeitsleistung also dieselbe geblieben ist, jetzt
demnach dieselbe Leistung besser gelohnt wird, hat sich
der Geldwerth der Produktion seit 1886 mehr als verdoppelt;
er betrug 1886 47,4 Milk M., 1891 96,0 Milk M., da der Durch-
schnittspreis einer Tonne Kohlen 1886 = 3,6 M., 1891 =
5,4 M. war Die Preissteigerung gehört, wie bekannt, vor-
nehmlich den letzten 3 Jahren an: Pro Tonne wurden ge-
zahlt: 1889 3,7, 1890 4,8, 1891 5,4 M. So bezifferte sich
denn der Antheil der gesammten Arbeitslöhne an dem
Gesammtwerth der Produktion auf:
1889 = 47,67 %
1890 = 45,18%
1891 = 43,53 n/0-
Das Jahr 1892 dürfte eine rückläufige Bewegung der Kohlen-
preise und somit eine Abnahme des Produktionswerths
bringen; die Arbeitslöhne brauchen jedoch darunter keines-
wegs zu leiden, da, wie die obigen Zahlen lehren, der
Spielraum für ihren Antheil am Gesammtwerth der Pro-
duktion beträchtlich ist.
2. Eisen zuck er. Hier hat entsprechend der Ab-
nahme der Produktion (um 15%) und ihres Werthes (um
17,3%) gegenüber dem Vorjahre eine Verringerung der
Arbeiterzahl von 4288 im Jahre 1890 auf 3977 im Jahre 1891
stattgefunden. Gleichwohl ist der Gesannntbetrag der be-
zahlten Arbeitslöhne gestiegen (von 1549 251 M. auf
1 612 054 M.J. Der absolut tiefe Stand des Arbeitsverdienstes
lässt eine solche Steigerung: von 361,3 M. pro Kopf auf
405,3 M., des Verdienstes der männlichen Arbeiter über
16 Jahre von 491,9 M. auf 544,09 M., im Interesse des Ar-
beiters wohl gerechtfertigt erscheinen. Auffallend ist es je-
doch, dass parallel mit der Erhöhung des Arbeitslohnes
eine Arbeitsleistung des einzelnen Arbeiters sich nach-
weisen lässt. Die durchschnittliche Leistung pro Arbeiter-
kopf beträgt nämlich in den letzten 6 Jahren:
1886 = 197 t, 1887 = 190 t, 1888 = 185 t, 1889 = 181 t,
1890 = 176 t, 1891 = 162 t.
No. 18.
Diese Abnahme, die mit den Abbauverhältnissen im
Zusammenhänge stehen wird, war für den Unternehmer so
lange irrelevant, als die Löhne annähernd gleich niedrig
bleiben, die Verkaufspreise des Erzes aber; stiegen: bis
1889 ungefähr, jetzt liegt die Sachlage anders und die
Arbeiterschaft wird nicht ohne schwere Kämpfe ihre heute
errungenen Lohnsätze vertheidigen müssen.
3. Zink- und Bleierzgruben 7960 männliche,
2883 weibliche Arbeiter; 170 Dampfmaschinen mit 7777
Pferdekräften. Lohnsätze niedrig, aber langsam steigend.
Die Löhne der männlichen Arbeiter über 16 jahre be-
trugen: 1887 505 M. , 1888 507 M. , 1889 549 M.,
1890 622 M., 1881 655 M. Viel rascher aber als die
Steigerung der Löhne hat sich die Steigerung der Verkaufs-
preise der Gesammtprodukte — Dank der Aufbesserung
des Zinkmarktes — seit 1887 vollzogen. Während noch im :
jahre 1886 einem Gesammtwerth der gewonnenen Pro-
dukte von 6 399 142 M. ein Gesammtlohnbetrag von
4 148 405 M. gegenüberstand, ist inzwischen jener Betrag im ;
jahre 1891 auf 19 506 918 M., dieser nur auf 5 807 290 M. ge- J
stiegen, d. h. von der Vermehrung der Grubenerträgnisse
während der letzten 5 Jahre um ca. 13 Milk M. ist der Ar-
beiterschaft ein Betrag von ca. 1,7 Milk M. zugetallen. Mit ;
anderen Worten: Während vor 5 Jahren die sämmtlichen J
Arbeitslöhne von dem Gesammtwerth der gewonnenen
Produkte ca. 64°/, ausmachten, betragen sie jetzt nur ca.
30%. Halten sich die Verkaufspreise annähernd auf ihrer
jetzigen Höhe, so kann die zahlreiche Arbeiterschaft der
oberschlesischen Zink- und Bleierzgruben, ohne den Lmter-
nehmergewinn allzusehr einzuschränken, noch beträchtliche |
Lohnerhöhungen durchsetzen, was ihr zu wünschen
wäre.
4. Hochofenbetrieb. Die Roheisenproduktion hat
im fahre 1891 einen Rückgang erlitten; nachdem die Eisen- i
preise bis 1890 wacker in die Höhe geklettert waren, trat-
1891 im Preise, ebenso dementsprechend in der Produktion
ein Rückschlag ein, sodass sich der Gesammtwerth der ge-,
wonnenen Produkte auf 27,2 gegen 30,6 Milk M. im Vor- !
jahre berechnete. Gleichwohl sind die Arbeitslöhne ge-
stiegen. Die an den Hochöfen beschäftigten Arbeiter sind < i
vorwiegend männliche (3186 gegen 961 weibliche); ihr1
Arbeitsverdienst nimmt der . Höhe nach eine mittlere
Stellung unter den Arbeitseinkommen in der Montan-
industrie ein; es betrug 1891 für den männlichen Arbeiter j
über 16 fahre durchschnittlich pro Jahr 763,72 M. und ist,
gegen das Vorjahr um 4% gestiegen. Das bedeutsamste,
Stück haben die Löhne der Hochofenarbeiter von 1889 zu;
1890 vorwärts gethan: Die Reflexbewegung der Berg-!
arbeiterstrikes. Während 1889 der durchschnittliche Jahres- ;
lohn für männliche Arbeiter über 16 Jahren 647,13 M. be-
trug, bezifferte er sich 1890 auf 735,08 M.; das bedeutet eine;!
Steigerung um 13,6%. Entsprechend haben sich die Löhne I
der jugendlichen und weiblichen Arbeiter entwickelt. Die j
Hochofenindustrie wird nie ein geeignetes Gebiet zur Er-
kämpfung besserer Arbeitsbedingungen sein. Sie ist zu
wenig selbstständig, steht zu fest eingekeilt zwischen den
Rohstoff liefernden und Roheisen verbrauchenden In-
dustrien, um führend sein zu können; mit der Industrie
sind aber auch ihre Arbeiter wesentlich abhängig von den j
Vorgängen unter und über ihnen.
5. Die Eisengiessereien beschäftigten 1891 1819 last j
ausschliesslich männliche Arbeiter, deren Durchschnitts- j
verdienst sich seit einer Reihe von Jahren bereits auf einer
mittleren Höhe erhält, langsam, schrittweise steigend, er
betrug in den Jahren seit 1886 bezw. 592,8, 604,0, 636,4, 696,4,
722,7, 732,0 M. Auch in der Eisengiesserei sind die Preise i
der Produkte und somit die Löhne allzusehr bedingt durch
die Gestaltung der Absatzverhältnisse, als dass die Arbeiter
sehr temperamentvoll vorgehen könnten, selbst wenn sie |
dazu entschlossen wären. Man möchte für die Gestaltung |
der Arbeitsbedingungen, insonderheit der Lohnverhältnisse j
primäre und sekundäre Industrien unterscheiden, solche, die
die Preise selbst gestalten und solche, denen sie von anderen
gestaltet werden. Zu ersteren gehört z. B. das Baugewerbe,
auch der Steinkohlenbergbau, zu letzteren die meisten
Branchen der Eisenindustrie.
6. Walzwerksbetriebe für Eisen und Stahl. Ver-
glichen mit den bösen Zeiten, welche die Walzwerke Ober-
schlesiens und ihre Arbeiter zu Beginn der 80iger Jahre zu
überstehen gehabt haben, erscheint ihre Lage jetzt fast
günstig. Freilich war das Jahr sonst 1882 — 86 allzu trüb ge-
wesen, als dass es in gleicher Weise hätte weitergehen kön-
nen. Die Produktion war ganz bedeutend eingeschränkt, die
No. 18.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBI ATT.
227
Preise waren gesunken und die Löhne bewegten sich in
absteigender Linie. Während in der Schweisseisenfabrika-
tion 1 882 der Durchschnittsjahreslohn pro Arbeiterkopf noch
679,59 M. betragen hatte, war er 1886 auf 613,59 M. gesunken,
in der Flusseisenfabrikation gar von 1127,91 auf 676,80 M.
in demselben Zeitraum! Seit dem Jahre 1887 beginnt dann
wieder eine langsame Aufbesserung sich fühlbar zu machen,
die leider im letzten Jahre nicht angehalten hat. Derjahres-
durchschnittslohn eines männlichen Arbeiters über 16 Jahre
(Schweiss- und Flusseisenfabrikation), der noch 1887 erst
684,34 M. betrug, kletterte in 1890 auf 811,46 M. wieder
hinauf. Die Steigerung scheint sich jedoch zu rapid voll-
zogen zu haben, denn es ist seit dem Vorjahre ein leiser
Rückschlag eingetreten; der Durchschnittslohn ist von
811,46 M. auf 786,99 M. abermals gesunken. Die Lohnbeträge
sind in der Walzwerkindustrie von besonderer Wichtigkeit
in Anbetracht der grossen Zahl beschäftigter Personen, die
sich 1891 auf 12 487 Männer und 625 Weiber bezifferten.
Den schwer und mühselig Arbeitenden in dieser Branche
ist ein Hochhalten und Höherbringen ihres, im Vergleich
zu Lohnsätzen primärer Industrien gewiss bescheidenen
Verdienstes, von Herzen zu gönnen.
7. Zinkhüttenbetrieb. Sowohl die Gewinnung von
Rohzink wie die Zinkblechfabrikation haben in den letzten
5—6 Jahren sich niedriger Absatz- und Preisgestaltungen
zu erfreuen gehabt. Viel haben hierzu die Kartelle ver-
holten, welche den Zinkmarkt beherrschten. Die Produktion
von Rohzink ist ausgedehnt worden (Gesammtproduktion
an Rohzink, Cadmium und Blei 1886 = 83,383 t, 1891 =
89,195 t); entsprechend ist die Arbeiterschaft im gleichen
Zeitraum von 6174 auf 7083 Köpfe gestiegen; von diesen
7083 sind 1906 Frauen; das Verhältniss zwischen männlichen
und weiblichen Arbeitern ist sich gleich geblieben. Vor
allem aber sind die Preise in die Höhe getrieben von (1886)
256,49 M. pro t auf (1891) 441,37 M., was einer Erhöhung
des gesammten Produktionswerthes von 21,3 auf 39,3 Mill. M.
bedeutet. Von diesem Goldregen ist ein Theil, aber nur
ein bescheidener, den Arbeitern in den Schoos getallen.
Der Durchschnittslohn des männlichen Arbeiters über
16 Jahre, der sich 1887 auf 677,45 M. bezifferte, ist 1891 er-
freulicherweise bis auf 841,18 M., also auf eine für Ober-
schlesische Verhältnisse ganz respectable Flöhe gestiegen;
die Weiber- und Kinderlöhne haben versucht, Schritt zu
halten. Gleichwohl machen die gesammten Arbeiterlöhne
vom Gesammtwerthe des Produkts 1886 noch ca. 17 /0, 1891
nur noch ca. 12% aus. Ob der Mehrertrag ausschliesslich
der Unternehmergewinn in dieser oder einer früheren Pro-
duktionsphase oder auch den Verdienst der Arbeiter früherer
Produktionsphasen vergrössert hat, entzieht sich der Be-
urtheilung. Immerhin dürfen die Zinkarbeiter vertrauens-
voll in die Zukunft blicken. — Die Zinkb lechfabrikation
mit 663 (davon 14 weiblichen) Arbeitern hat geringer Be-
deutung. Die Löhne waren hoch und sind nocn gestiegen;
1890 — 91 von 797,24 auf 907,97 M. für die erwachsenen männ-
lichen Arbeiter. Bei der Hochwerthigkeit des Fabrikats
lässt sich wohl behaupten, dass die Höhe der Arbeitslöhne
fast ohne Einfluss ist auf die Gestaltung des Produkten-
preises. Wurden doch 1891, um für 1 7,21 1 ,765 M. Produkte
berzustellen nicht mehr als 493,319 M. Arbeitslöhne veraus-
gabt. Und während seit 1886 die Löhne von 304,408 M. nur
auf 493,319 M. gestiegen sind, hat sich der Gesammtwerth
der Produktion mehr als verdoppelt; er betrug 1886 =
7,472,970 M., 1891 = 17,211,765 M.
8. Der Blei- und Silberhüttenbetrieb Oberschle-
siens ist im Rückgänge begriffen. Auch im Berichtsjahr ist
gegen das Vorjahr die Produktion wiederum gefallen; an
Blei und Glätte um 8,0 %, an Silber um 16,8 "J, der Ge-
sammtwerth um 1,020,270 M. oder 16,8 "/0. Gleichwohl haben
sich Arbeiterzahl und Arbeitsverdienst einstweilen noch auf
der Höhe gehalten. Die Anzahl der beschäftigten Arbeiter
ist seit 1886 stabil geblieben, (662 M., 7 W. gegen 662 M.,
13 W.), der Jahresbetrag sämmtlicher Arbeiterlöhne ist
sogar noch ein wenig gestiegen: von 435,930 M. auf
476,099 M.
9. Die Koks- und Cinderfabrikation dehnt sich
hingegen merklich aus, wenn auch auf die Lage des Koks-
geschäftes in letzter Zeit die gedrückte Lage der Eisen-
hütten-Industrie nicht ohne Einfluss geblieben ist. Immerhin
S würde die Zahl der beschäftigten Arbeiter (ca. Vs Frauen)
1886 — 1891 von 1832 auf 4108 erhöht und auch die Durch-
| Schnittsarbeitslöhne sind in diesem Zeitraum gestiegen; für
.männliche Arbeiter über 16 Jahre 1887 — 91 von 581,56 auf
750,40 M., für Frauen von 267,48 M. auf 291,32 M Karg
genug sind die Verdienste freilich noch.
10. Die Schwefelsäurefabrikation beschäftigte
1891 = 515 Arbeiter (wovon 65 weibliche) mit guten Arbeits-
verdiensten für Männer: 983,98 M. im Jahresdurchschnitt.
Das etwa lässt sich zur Erkenntniss und Beurtheilung der
Lohnverhältnisse in der oberschlesischen Montanindustrie
unserer Statistik entnehmen. Mir scheint, als ob eine Reihe
wichtiger Thatsachen schon aus den mitgetheilten Zahlen
sich ergäbe; sie konnten naturgemäss nur hie und da ange-
deutet werden.
An weiterem sozial-politisch interessantem Material
ertheilt die Statistik dann nur noch eine Uebersicht über
die Verunglückungen; die wichtigsten darauf bezüglichen
Daten sind jedoch aus der Unfallversicherungsstatistik be-
kannt.
Um unsere Kenntniss zu vervollständigen sind wir auf
andere Quellen angewiesen. Ich hoffe demnächst einen
oder den andern weiteren Beitrag zur Beurtheilung ober-
sclilesischer Arbeiterverhältnisse den Lesern dieser Zeit-
schrift mittheilen zu können.
Breslau. Werner Sombart.
Statist ils der Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Maurer
von Lauenburg a. Elbe im Jahre 1891. An dieser Statistik be-
theiligten sich 23 Maurer, von welchen 20 verheirathet und 3
unverheirathet waren. Das durchschnittliche Lebensalter war
42% Jahre. Auf 20 Familien kamen 53 Kinder, in 7 Fällen trug
die Frau durch gewerbliche Arbeit zum Unterhalte der Familie
! bei. Gefeiert wurde im Ganzen wegen Mangel an Arbeit,
i Krankheit, ungünstiger Witterung u. s. w. 7322'/2 Stunden oder
| durchschnittlich 318 Stunden Das gesammte Jahreseinkommen
| betrug bei einem Stundenlohn von 35 Pf. 18 130,75 M. oder
863,25 M durchschnittlich, also täglich 2,62 M. Wegen Arbeits-
mangel mussten 13, wegen Krankheit 12 und wegen ungünstiger
Witterung 18 Maurer feiern. Die Wohnungsmiethe betrug im
Jahre 1890 durchschnittlich 79,06 M. im Jahre 1891 dagegen
80,64 M. Der Haushaltungsplan eines verheiratheten Maurers
mit 4 Kindern, demnach mit einer grösseren als der durch-
schnittlichen Zahl, ergab an wöchentlichen Ausgaben für
Nahrungsmittel, Bier (20 Pf.), Schnaps (70 Pf.), Tabak (10 Pf.),
| Seife, Schuhwichse und Schmiere 19,28 M. und an jährlichen
Ausgaben 461,66 M., so dass insgesammt 1424,24 M. ausgegeben
wurden. Unrichtigerweise ist dieser Ausgabensumme die durch-
schnittliche Einnahme der 23 Lauenburger Maurer entgegen-
gestellt.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Die Tarifgemeinschaft im Buchdruckergewerbe wurde im
letzten Strike in Frage gestellt Sämmtliche Gehilfenvertreter in
der Tarifkommission haben ihre Mandate niedergelegt. Ueber
die Art einer Wahlausschreibung in einem solchen Falle war
in den Statuten der Kommission keine Vorsorge getroffen worden.
Der Vorsitzende der Kommission, Buchdruckereibesitzer Bruno
Klinkhardt, entschied sich dafür, die in den tarifzahlenden Buch-
druckereien Deutschlands beschäftigten Gehilfen direct zur Wahl
von Vertretern zur Berathung und Beschlussfassung über die
künftige Gestaltung der Tarifverhältnisse aufzufordern. Der
Vorstand des Unterstützungsvereins deutscher Buchdrucker
( Gehilfenverein) empfahl, dort, wo von Prinzipalen oder deren
Vertrauensleuten auf diese Wahl bestanden wird, die früheren
Gehilfenvertreter zu wählen. Dies wurde auch vom Vorsitzenden
des Vereins, Herrn Döblin, in einer von 2000 Berliner Buchdruckern
besuchten Versammlung empfohlen. Diese Versammlung lehnte
aber die Wahl von Gehilfenvertretern zum Ersatz der Aus-
geschiedenen ab und nahm folgende Resolution an:
,,In Erwägung, dass die Prinzipale in ihrer Mehrheit durch
ihr den Gehilfen gegenüber gezeigtes Verhalten nach dem Strike
bewiesen, dass sie ein friedliches Zusammenarbeiten nicht wollen;
in fernerer Erwägung, dass die letzte Tarifkommissionssitzung
den Beweis geliefert, dass an ein Entgegenkommen der Prinzipale
auf Grund der von den Gehilfen geforderten Verkürzung der
Arbeitszeit auf neun Stunden nicht zu denken; in endlicher Er-
wägung, dass die bisher bestehenden Tarife stets nur durch die
Gehilfenschaft mit schweren Opfern durchgeführt werden mussten,
während die Prinzipalität auch nicht die geringste Garantie für
die Durchführung resp. Einhaltung auch nur einer Bestimmung
des Tarifs zu übernehmen in der Lage war, erklärt die heute, am
24. April 1892, in der Berliner Bockbrauerei tagende Allgemeine
228
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 18.
Buchdruckergehilfen Versammlung, dass sie es ablehnt, an der
von Leipziger Prinzipalen ausgeschriebenen Wahl von Vertretern
zu einer angeblichen Tarifkommission sich zu betheiligen und
beschliesst demgemäss: keinen Kandidaten aufzustellen. Gleich-
zeitig erwartet die heutige Versammlung von allen Buchdrucker-
gehilfen Berlins und der Provinz Brandenburg, dass sie jede ihnen
von Seiten einer gewissen Prinzipalität oder ihren Helfershelfern
aufgedrungene Wahl entschieden zurückweisen.“
Findet das Beispiel der Berliner Buchdrucker Nachahmung,
und dies ist nach der Haltung des „Correspondenten“ sehr wahr-
scheinlich, so hat vorerst wenigstens die Tarifgemeinschatt der
deutschen Buchdrucker aufgehört zu existiren. Möglicherweise
werden die Buchdruckerprinzipale die dem Vereine nicht an-
gehörenden und ihrem Einflüsse leicht zugänglichen Gehilfen |
veranlassen, die Wahl von Gehilfenvertretern vorzunehmen. Eine
auf diesem Wege zusammengesetzte I aritkommission würde aber
naturgemäss einflusslos bleiben, da die auf diese Weise erwählten
Gehilfenvertreter wohl den Unternehmern zu Willen sein, aber
für ihre Abstimmungen die Danachachtung der Gehilien nicht er-
zwingen könnten. Eine auf diese Art zusammengesetzte Tarifkom-
mission wäre nach jeder Richtung bedeutungslos, weil sie ausser
Stande wäre, den Aufgaben der früheren Tarifkommissionen zu
entsprechen. Sie würde nicht einigend wirken, sondern im
Gegentheile die Kluft zwischen Unternehmern und Arbeitern im
Buchdruckergewerbe vergrössern.
Verband der deutschen Textilarbeiter. In Elberfeld wurde
in der letzten Woche die erste Hauptversammlung des im vorigen
Jahre gegründeten Verbandes der Textilarbeiter und-Arbeiterinnen
Deutschlands abgehalten. Es waren 41 Vertreter aus 20 Orten
erschienen. Nach dem Rechenschaftsbericht, den der Vorsitzende
Petersdorf aus Berlin erstattete, beträgt die Mitgliederzahl 5000.
Der grösste Zuwachs war in Rheinland und Westfalen zu ver-
zeichnen. Zum Theil gelang es auch, Arbeiterinnen heranzu-
ziehen. „Der Textilarbeiter“ wurde als Fachorgan obligatorisch
eingeführt. Nach dem § 1 der Satzungen, deren Berathung die
meiste Zeit in Anspruch nahm, hat der Verband den Zweck, durch
eine Vereinigung aller in der Textilindustrie beschäftigten Ar-
beiter und Arbeiterinnen nach Massgabe des §152 der Gewerbe-
ordnung möglichst günstige Lohn- und Arbeitsbedingungen zu
erzielen. Zur Förderung dieses Zweckes dienen eine geregelte,
der modernen Technik entsprechende Verkürzung der Arbeits-
zeit, Abschaffung der Sonn- und Feiertag- sowie der Ueberstunden-
Arbeit, Vornahme statistischer Ermittelungen über Lohn- und
Arbeitsverhältnisse u.s.w., Regelung des Verkehrs- und Herbergs-
wesens sowie des Arbeitsnachweises, Anstrebung gleicher Löhne
für gleiche Leistungen. Ferner können die Ortsverwaltungen je
nach ihren Mitteln gewähren: Reiseunterstützung, unentgeltlichen
Rechtschutz bei gewerblichen Streitigkeiten. Lebhaft wurden
die Ausstände besprochen. Es wurde mehrfach beantragt, dass
man nicht leichtsinnig und ohne Rücksicht auf die ganze Ge-
schäftslage in einen Ausstand treten solle. Der Ausstand sei
allerdings eine zweischneidige Waffe: aber „wir dürfen“, wie sich
ein Redner ausdrückte, „nicht den Knüppel wegwerfen, den wir
noch haben, wenn man mit Säbeln gegen uns kämpft“. In die
Satzungen wurde folgender Paragraph für den Fall von Arbeits-
einstellungen aufgenommen: „Bei einer geplanten Arbeitsein-
stellung ist ein Ausschuss aus fünf Personen am betreffenden
Orte zu wählen, der die Angelegenheit zu untersuchen und mit
dem Vorstand und Ausschuss des Verbandes zu prüfen hat. Erst
nach Zustimmung des Vorstandes des Verbandsausschusses und
des Ortsausschusses kann die geplante Arbeitseinstellung statt-
finden.“ Zum Sitz des Verbandes und des Ausschusses wurde
wieder Berlin bestimmt.
Hirsch - Duncker'sclie Gewerkvereine in Bayern. Der
zweite Delegirtentag dieser Vereine fand am 18. d. M in Augs-
burg statt. Vertreten waren die Ortsvereine der Kaufleute, der
Tischler, der Maschinenarbeiter von Nürnberg, der Lederarbeiter
von Hot und Fürth, der Schreiner, der Fabrik- und Hand-
arbeiter von Fürth, der Bauhandwerker, der Tischler, der Stuhl-
arbeiter von Erlangen, der Stuhlarbeiter von Kirchenlamitz,
ferner die Ortsverbände von Ansbach und Augsburg. Im Ganzen
zählte die Versammlung etwa 80 Theilnehmer. Neue Ortsvereine
sind im vergangenen Jahre in Ansbach, Burgoberbach, Leuters-
ausen, Erlangen, Bayreuth, Gunzenhausen, Weissenburg, Fürth
und Kempten gegründet worden, womit deren Anzahl im rechts-
rheinischen Bayern auf 173 mit 1569 Mitgliedern angewachsen
ist. Ein Antrag des Fürther Ortsvereins der Kaufleute, den
Delegirtentag künftig nur alle drei Jahre abzuhalten, wurde ab-
gelehnt. Die bisherige in Nürnberg wohnhafte Vorstandschaft
wurde wiedergewählt, desgleichen bleibt Nürnberg Vorort.
Eine Gewerkschaft der Mühlenarbeiter Niederöster-
reichs wurde im verflossenen Monate in Wien gegründet.
Der statutarische Zweck des Verbandes ist die Förderung
uncl Wahrung der geistigen und materiellen Interessen der
Mitglieder, Gewährung von Rechtsschutz in gewerblichen
Streitfällen, Arbeitsvermittlung sowie die Unterstützung-
arbeitsloser und reisender Genossen.
Damit wurde in Oesterreich die erste Organisation
von Arbeitern geschaffen, welche mit den Landarbeitern in
steter Fühlung stehen.
Die Forderungen der schweizerischen Arbeiter. Den Mai-
versammlungen der schweizerischen Arbeiterschaft wird vom
Centralkomite der Maifeier folgende Eingabe an die Bundesver-
sammlung vorgelegt: „Die unterfertigte Volksversammlung hat
nach angehörtem Referate beschlossen, Sie zu ersuchen, Sie
möchten auf dem Wege der Gesetzgebung, so weit möglich,
Massnahmen treffen: _ _ 1
1. Für die Verkürzung der Arbeitszeit bis auf acht Stunden
in allen Berufsarten, besondere zwingend entstehende Verhält-
nisse Vorbehalten; 2. für Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und
Verhütung ihrer ökonomischen Folgen für die besitzlose Arbeiter-
klasse; 3. für gesetzliche Förderung der gewerkschaftlichen
Arbeiterorganisationen; 4. für wirksamen Schutz der Vereins-
freiheit der im Dienste von Unternehmern jeder Art stehenden
Lohnarbeiter und Lohnarbeiterinnen; 5. für Wiederaufhebung der
in den letzten Jahren eingeführten politischen Polizei.
Zur Begründung dieser unserer Wünsche berufen wir uns
auf Alles, was seit Jahren in Wort und Schrift im Volke und in
den Behörden dafür angeführt worden und Ihnen bestens bekannt
ist. Insbesondere erlauben wir uns hier noch darauf hinzuweisen,
dass die Erfüllung dieser Forderungen im höchsten Maasse im
Interesse unserer schweizerischen physischen und moralischen
Volkskraft liegt. Das Vaterland verlangt ein gesundes, starkes I
und freies Volk, kein gedrücktes und geknechtetes Proletariat,
soll es den kommenden Stürmen des heutigen Völkerlebens ge-
wachsen sein.
Wir sind aus allen Kräften bestrebt, an dieser hohen Aufgabe
in jeder uns möglichen Weise zu arbeiten und die organisirte
schweizerische Arbeiterschaft bringt hiefür Mann iiir Mann tag-
täglich ihre ungezählten Opfer. Wir hoffen daher, dass auch die
Behörden das Ihrige thun und uns helfen werden, zum Wohl und ,
Heil des ganzen Schweizervolkes.“
Die den Versammlungen vorzulegende einheitlich gefasste
Resolution verlangt:
„1. dass mit allen gesetzlich zu Gebote stehenden Mitteln
dahin gewirkt werde dass in allen Berufsarten, besondere Ver- j
hältnisse Vorbehalten, in stufenweisem Vorgehen bis auf höchstens ■
acht Stunden täglich abgekürzt werde; 2. zu diesem Zwecke i
insbesondere die Organisation der Lohnarbeiterschaft aller Berufs-
zweige und deren soziale Reformbestrebungen aus allen Kräften
zu fördern und zu unterstützen; 3. in diesen Bestrebungen sich
mit der Arbeiterschaft aller Länder solidarisch zu erklären und
den hieraus entspringenden internationalen Verpflichtungen je-
weilen nach besten Kräften freudig gerecht zu werden“.
Unternehmerverbände.
Neues Kartell der russischen Zuckerfabrikanten.
Schon im Jahre 1876 bemühten sich die russischen
Zuckerfabrikanten, ein allgemeines Kartell zu Stande zu
bringen, und suchten hierzu die Sanktion und Unterstützung
der russischen Regierung. Wenn Letzteres auch ohne Er-
folg blieb, so gelang es doch einem Theile der Zucker-
industriellen, nämlich den Farinzuckertabrikanten im Jahre
1886 ein Kartell in ihrer Branche zu gründen. Unter
den Raffinadefabrikanten dagegen war die Uneinigkeit so
gross, dass sie bis jetzt ein Kartell nicht zu Stande zu bringen
vermochten. Aber auch für die Raffinadefabrikanten bleibt
die Gründung eines solchen das Ziel ihrer ununterbrochenen
Bemühungen.
Die in Folge der jüngsten Nothlage hervorgerufene |
Abnahme der Konsumfähigkeit der Bevölkerung Russlands
musste unbedingt auch auf die Zuckerindustrie ihre Wirkung
ausüben. Die Zuckerkrisis verschärfte sich während des
letzten Jahres noch mehr, als es früher der Fall war. Dieser
Umstand veranlasste die Zuckerfabrikanten, alle Hebel in
Bewegung zu setzen, um das gewünschte Kartell ins Leben
zu rufen; für dasselbe wird seit dem letzten Jahre in allen j
Kreisen der Zuckerfabrikanten lebhaft agitirt Verschiedene
Gruppen von Zuckerfabrikanten treiben zwar zur Zeit so i
scharfe Konkurrenz, dass sie in ihrem Bestreben, sich des J
inneren Marktes vollständig zu bemächtigen, bis jetzt nicht
zum Ziel gelangten. Indess ist die Beendigung dieses häus-
lichen Streites nur noch eine Frage der Zeit. Die grossen
Profite der Farinzuckerfabrikanten reizen die Raffinade-
fabrikanten zur Nachahmung.
Zur Schöpfung des Kartells ist ein neues Projekt aus-
gearbeitet und den Zuckerindustriellen unterbreitet worden.
Umdem Leserein klaresBild von der Lage der russischen
Zuckerindustrie, wie auch von den in den Kreisen der
russischen Fabrikanten herrschenden Strömungen zu geben,
No. 18.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
229
müssen wir, bevor wir das neue Projekt besprechen, zwei
andere früher in Vorschlag gebrachte beleuchten.
Das erste Projekt stellt sich in seinen wesentlichen
Zügen folgendennassen dar. Von der Ansicht ausgehend,
dass der innere Markt Russlands mit Zucker überschwemmt
werde, sollten sich die Raffinadefabrikanten verpflichten ein
entsprechend grösseres Quantum Farinzucker als bisher zu
exportiren. Gegenwärtig besteht unter den Raffinade- und
Farinfabrikanten (oder wie sie in Russland kurz genannt
werden: „Raffinadlern“ und „Farinirern“) ein Vertrag,
durch welchen die ersteren verpflichtet werden bei den
letzteren etwa 17 Millionen Pud Farin zur Raffinirung an-
zukaufen. Nun hat aber die Umarbeitung dieser ungeheuer
grossen Quantität zur Folge, dass von Jahr zu Jahr immer
grössere Mengen von Raffinaderesten sich anhäufen, was
selbstverständlich ein Fallen des Zuckerpreises nach sich
ziehen muss. Da nun unter solchen Umständen nicht der
Zuckerfabrikant dem Markte seine Bedingungen diktirt,
sondern gerade das Entgegengesetzte stattfindet, so muss
man dahin wirken, dass der Markt, resp. die Festsetzung
der Preise in volle Abhängigkeit von den Zuckerfabrikanten
gebracht werde. Zu diesem Behüte empfiehlt _ sich vor
Allem eine derartige Umgestaltung der Produktions- und
Handelsbedingungen, dass nicht nur keinerlei Raffinadereste
auf dem Markte verbleiben, sondern im Gegentheil Mangel an
Zucker sich fühlbar macht. Dies lässt sich aber lediglich
durch Einschränkung der Raffinadeproduktion erreichen.
Da aber die Raffinadefabrikanten, wie schon eingangs er-
wähnt wurde, ihrer Verpflichtung, d. h. der jährlichen Er-
werbung von 17 Millionen Pud Farin bei den Farinfabri-
kanten nachkommen müssen, so bleibt den ersteren nichts
anderes übrig, als ihrerseits von dem bereits angekauften
Farin so viel als möglich in das Ausland zu exportiren; da-
mit das Raffinadeangebot auf dem inneren Markte nach-
lässt. Sobald nun die Quantität des angebotenen Zuckers
kleiner geworden, verschwinden nach und nach diejenigen
Raffinadereste, welche jetzt auf den Preis drücken, und
schliesslich werden sich die Ratfinadelabrikanten vollständig
des inneren Marktes bemächtigen.
Das war der Inhalt des ersten Projektes. Das zweite,
das für eine kurze Zeit realisirt wurde, hatte der kürzlich
verstorbene Zuckerfabrikant Charitonenko in Vorschlag ge-
bracht. Nach diesem Projekte sollte die Bestimmung der
jährlich zu produzirenden Zuckermenge dem Syndikate
übertragen werden. Statt des Zuckerexportes nach dem
Auslande sollte nur soviel Zucker verarbeitet werden, dass
überhaupt keine Reste ins nächste Produktionsjahr verschleppt
werden könnten. Das in jeder Fabrik zu produzirende Zucker-
quantum sollte von dem Syndikate für jede einzelne Fabrik
entsprechend ihrem durchschnittlichen Produktionsumfange
fixirt werden. Sollte aber die Menge des umgearbeiteten
Zuckers das vomSyndikate vorgeschriebene Mass übersteigen,
so sollen die Fabrikanten diesen Ueberschuss an Zucker in
ihren Lagerräumen aufstapeln. Der Verkauf dieser Ueber-
schüsse sollte nur mit Erlaubniss des Syndikats vor sich
gehen.
Das zweite der von uns in Kürze skizzirten Projekte
wurde, wie schon gesagt, acceptirt. Aber die Mitglieder
des neugegründeten Syndikates behielten keineswegs ihre
Raffinadereste auf Lager, sondern beeilten sich dieselben
auf dem Markte loszuschlagen, indem sie förmlich unterein-
ander wetteiferten, die Zuckerpreise herabzudrücken. Das
zweite Projekt machte somit ein glänzendes Fiasco.
In Folge dieses Misserfolges kehrte man in letzterer
Zeit neuerdings zum ersten der von uns erwähnten Ent-
würfe, d. h. zu dem obligatorischen Zuckerexport nach dem
Auslande, zurück. Aber in seiner neueren Gestalt ist das
Projekt etwas verändert. Den Zuckerfabrikanten beider
Gruppen wird nunmehr zur Pflicht gemacht, ausser des
seit Jahren von den „Farinirern“ exportirten Zuckers noch
1 200 000 Pud Farinzucker zu exportiren. Zum Export der einen
Hälfte dieser Quantität mussten sich die „Raffinadler“ ver-
pflichten, während die „Farinirer“ die andere Hälfte ihrem
zu exportirenden Farinzucker beizufügen haben. Ein
grösserer Theil der Raffinadefabrikanten hat sich diesem
neuen Projekte bereits angeschlossen, und es steht zu er-
warten, dass auch die Uebrigen dem Projekte beistimmen,
wodurch das Kartell der Raffinadefabrikanten sich verwirk-
lichen würde. Sollte dies thatsächlich geschehen, so müssen
die Zuckerpreise in Russland bedeutend steigen.
Das Kartell der Raffinadefabrikanten wäre schon
gegenwärtig eine vollendete Thatsache, wenn nur die
Zuckerfabrikanten selbst in der Durchführung ihres Projek-
tes nicht durch ihren Konkurrenzkampf behindert würden.
Ein häuslicher Streit spielt sich nämlich zwischen den
Raffinade- und den Farinfabrikanten ab: in letzteren findet
das zu gründende Kartell die ausgesprochensten Gegner.
Die Farinzuckerfabrikanten klagen darüber, dass sie zur
Zeit in volle Abhängigkeit von den „Raffinadlern“ gerathen
sind, da die letzteren bei ihnen den Farin nicht nur zu
niedrigen, sondern für sie direct nachtheiligen Preisen er-
werben. Ferner beklagen sich die „Farinirer“, dass die
seit einigen Jahren von den „Raffinadlern“ eingeführte Pro-
duktionsweise für die letzteren sehr profitabel, für sie selbst
jedoch mit Nachtheilen verbunden sei. Diese neue Produk-
tionsweise besteht darin, dass der Farin von den Raffinade-
fabrikanten nicht gekauft, sondern nur zur Umarbeitung
übernommen wird, für welch’ letztere ihnen von den
„Farinirern“ I Rubel per Pud gezahlt wird. Nach dieser
Umarbeitung wird die Raffinade zum Marktpreise verkauft
und vom erzielten Betrag bekommt vor allem der Raffinade-
fabrikant seinen Rubel per Pud. Mit dem nun, was nach
diesem Abzüge übrig bleibt, muss sich der Farinzucker-
fabrikant begnügen. Da aber bei einem derartigen Pro-
duktions- und Handelsverfahren die „Raffinadler“ gar kein
Interesse an der Steigerung der Marktpreise hegen, so er-
gibt sich in der That, dass nach Abzug des für die Raffi-
nirung zu entrichtenden Betrages den Farinzuckerfabrikanten
nicht viel verbleibt. Da nun hauptsächlich die Raffinade-
fabrikanten über das Kapital verfügen, so falle es den
„Farinirern“ sehr schwer, sich vom Einflüsse der Ersteren
frei zu machen. Auch wäre dies nicht rathsam; vielmehr
dürfte es sogar angezeigt sein, die Farinzucker- mit der
Raffinadeindustrie zu verbinden. Es bedarf hiebei kaum
der Erwähnung, dass, wie auch das Resultat dieses häus-
lichen Streites sich gestalten mag, — d. h. ob es den Farin-
zuckerfabrikanten gelingen wird, sich von dem Einflüsse
der Raffinadefabrikanten zu befreien, oder nicht, — der
russische Konsument davon keinen Nutzen haben dürfte.
Bemerkt muss werden, dass die Gründung eines Kartells
nicht bei allen russischen Zuckerfabrikanten Anklang findet.
In Russland existirt nämlich eine kleine Anzahl von babri-
kanten, die sich gegen das Kartell in jeder Form aus-
sprechen, dieses mit allen ihnen zu Gebote stehenden
Mitteln bekämpfen und vor Allem „Produktionsfreiheit“
verlangen, — selbstverständlich nur desshalb, weil diese
„Freiheit“ in ihrem eigenen Interesse liegt. Dies sind die
wenigen Zuckerfabrikanten, welche Zuckersiederei mit
Landwirthschaft verbinden und für ihren Absatz ausschliess-
lich auf den inneren Markt angewiesen sind. Einer dieser
Landwirthe, der zugleich Zuckerfabrikant ist, — ein in
Centralrussland häufig vorkommender Fall — Fürst Schtsche-
batow legte in einer Brochüre die Nachtheile der Kartelle
dar. Der Verfasser erlässt einen Mahnruf an die Zucker-
fabrikanten Centralrusslands, in welchem hervorgehoben
wird, dass „der hauptsächliche Beweggrund _ der Kartell-
vertreter darin liegt, unter dem Anschein einer Heilung
der Krisis den Wohlstand der landwirthschaftlichen Fabriken
zu vernichten und dadurch nur für den Vortheil ihrer
eigenen, auf Spekulation basirenden und mit der Urproduk-
tion in keiner Verbindung stehenden Fabriken zu sorgen“.
Unter diesen beiden Kategorien von Zuckerfabriken
findet nunmehr ein Kampf ums Dasein statt Mit Bestimmt-
heit kann behauptet werden, dass die landwirthschaftlichen
Fabrikanten keineswegs den Sieg davon tragen werden.
Dafür spricht, dass unter den Zuckerfabrikanten 199 An-
hänger und nur 27 Gegner des Kartells sind und dass ferner
auch unter dieser Minderzahl die Idee des Kartells immer
neue Anhänger findet. Letzteres nennt Fürst Schtschebatow
„eine beispiellose Ignorirung der Lebensinteressen der
Zuckerfabrikanten“. Er irrt aber darin gewaltig, denn das
Kartell steht keineswegs im Widerspruche mit den Inte-
ressen der nicht Landwirthschaft treibenden Zuckerfabri-
kanten; die Tendenz der Kartellgründungen, die bereits
überall in kapitalistischen Staaten Platz greitt, wird sich
nothwendigerweise auch auf Russland erstrecken.
Obzwar das allgemeine Kartell bis jetzt noch nicht
zu Stande kam, üben die lokalen Syndikate dennoch bereits
einen gewaltigen Einfluss auf die Landwirthschaft mit
Zuckersiederei verbindenden Fabriken aus. Als Illustration
hiezu möge folgende der russischen „Nowosti“ entnommene
Notiz dienen: „Aus Kalisch wird berichtet, dass im Sep-
tember des Jahres 1891 die Nachfolger eines Fabrikanten,
Namens Stemjokowsky, ihre Zuckerfabrik einer anderen
Firma verkauft haben. Die Landwirthe, deren Anwesen
diese Fabrik begrenzen, waren mit diesem Besitzwechsel
230
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 18.
sehr zufrieden, in der Vermuthung, dass die Fabrik ihre
Produktionstätigkeit ausdehnen und somit die Rübenkultur
beträchtlich heben würde. Aber das Syndikat der Zucker-
fabrikanten verbot vorläufig das Sieden von Zucker in
diesem Etablissement, so dass der Betrieb dieser Fabrik für
diese Saison gänzlich still steht. Diese aus gänzlich zuver-
lässiger Quelle stammende Mittheilung stellt die Beziehungen
des Syndikates zu den Interessen der Landwirthschalt voll-
ständig ms Klare.“
Wenn auch die russische Presse die Nachricht bringt,
dass in den Regierungssphären das neue Kartell der Zucker-
fabrikanten wenig Anklang findet, so ist doch anzunehmen,
dass die Regierung, die so viel lür die Entwickelung der
russischen Grossindustrie schon gethan hat, auch jetzt ihre
Meinung zu Gunsten der Fabrikanten behufs staatlicher
„Produktionsregulirung“ ändern wird. Sollte dies aber nicht
der Fall sein, so sind die Zuckerfabrikanten gegenwärtig
schon kapitalkräftig und einflussreich genug, um auch ohne
Regierungsimterstiitzung das geplante Kartell zu Stande zu
brilien- E. Scholkow.
Ländlicher Unternehmerverband in Schlesien Der
Vorstand des landwirthschaftlichen Zentralvereins für Schle-
sien hat an die landwirthschaftlichen Vereine der Provinz
ein Rundschreiben gerichtet, worin er in Ausführung eines
in der Jahressitzung des Centralkollegiums am 7. und
8. März gefassten Beschlusses die Vereine auffordert, der
Gründung eines „Verbandes zur Besserung der
ländlichen Arbeiterverhältnisse“ ihre Unterstützung
zu Theil werden zu lassen. Das Unternehmen stellt sich,
wie in der Provinz und im Königreich Sachsen, sowohl den
Schutz des Arbeitgebers gegen dolosen Kontraktbruch, als
auch die Förderung des Wohls der redlich denkenden Ar-
beitnehmer auf dem Wege der Selbsthülfe zur Aufgabe.
„Der Kontraktbruch der Arbeiter“, so heisst es in dem
Rundschreiben, „ist ein Uebel, von dem jeder Berufsgenosse,
möge er eine grössere oder kleinere Scholle bewirthschaf-
ten, in gleicher Weise betroffen wird; möchten deshalb
alle Landwirthe zur Bekämpfung desselben sich die Hände
reichen und fest zusammenstehen, um Recht und Sitte zu
schützen. Der zu begründende Verband muss seine Auf-
gaben damit beginnen, dass er durch die Satzungen allen
seinen Mitgliedern zur unverbrüchlichen Pflicht macht, Per-
sonen, welche bei einem anderen Mitgliede des Verbandes
ohne ordnungsmässige Entlassung die Arbeit aufgegeben
haben, nicht anzunehmen. Damit aber die Wirkung dieser
Bestimmung eine thunlichst durchgreifende werde, damit
die Arbeiter die Folgen des Kontraktbruches
fürchten lernen, ist es erforderlich, dass der Verband
sich über die ganze Provinz erstreckt und die Zahl seiner
Mitglieder möglichst gross ist. Was in dieser Hinsicht er-
reicht werden kann, das zeigt der erwähnte sächsische
Verband, der schon in seinem ersten Jahresbericht hervor-
heben konnte, wie die Arbeitgeber in der Provinz Sachsen
seine Autorität und seine Legitimation auf dem in Rede
stehenden Gebiete ausnahmslos anerkannt haben.“ Die An-
forderungen, die der schlesische Verband hinsichtlich des
Beitrages stellt, werden 1 Pf für den Morgen landwirth-
schaftlich benutzter Fläche betragen. Die Vortheile des
Verbandes sollen namentlich im unentgeltlichen Rechtsbei-
stand und in dem Anrecht auf die Dienste des Arbeits-
nachweises bestehen.
Centralverband der österreichischen Grossindustriellen.
Die Bildung von Kartellen und anderen Unternehmerverbänden
hat in den letzten Jahren in Oesterreich starke Fortschritte ge-
macht Ein weiterer Schritt der Entwicklung geschah unlängst,
indem an die Zusammenfassung dieser Organisationen ge-
schritten wurde. Am 20. April fand in den Räumen des öster-
reichischen Handelsmuseums in Wien der erste Verbandstag
österreichischer Industrieller statt, bei welchem die gesammte
Grossindustrie Oesterreichs, soweit dieselbe bereits Fachver-
bände gebildet hat, mit Ausnahme eines einzigen Vereins, re-
präsentirt war. Auf diesem Verbandstag wurde eine ständige
Organisation der österreichischen Grossindustrie angeregt und
einstimmig der vorgelegte Entwurf eines „Statuts für den
Centralverband der Industriellen Oesterreichs“ provisorisch an-
genommen. Der Verband der Baumwollindustrielien wurde in !
Gemeinschaft mit dem Verein der Montan-, Eisen- und Maschinen-
industriellen und dem Verein der österreichisch-ungarischen'
Papierfabrikanten damit betraut, die behördliche Genehmigung
des Statuts zu erwirken und die definitive Konstituirung des
Central verbandes vorzubereiten.
Handwerkerfragen.
Untergang- des Kleingewerbes in Württemberg. Der
kürzlich ausgegebene Jahresbericht der Handels- und Gewerbe-
kammer in Stuttgart für 189! schreibt in seinem allgemeinen
Th eile : „Noch haben wir des Kleingewerbes und der Landwirt-
schaft hier zu gedenken: auf dem Lande kehrte auch 1891 eine
Erfahrung wieder, die man. wenigstens in unserem Handels-
kammerbezirk, seit mehr als einem Jahrzehnt machen kann: all-
jährlich wird nämlich durch das jeweilige Ernteergebniss, sowie
durch den hohen Stand der Viehpreise und der landwirthschaft-
lichen Nebenprodukte die Hoftm ng auf eine Stärkung der
Kaufkraft belebt, und dann im Herbst, trotz des befriedigenden
Ernteertrags, wieder enttäuscht So fehlt es dem Handwerk
überall auf dem Lande an Aufträgen bezw. Absatz. Für manche
Kleingewerbe verschärft sich zudem — als Folge der allgemeinen
Stockung — die Konkurrenz des Grossbetriebs, so nament-
lich für die Gerber, Hutnracher, Kleinbrauer, Tuch- und Strumpf-
weber. Färber, Kupferschmiede, Seiler, Ziegeleien, welche Gewerbe
in der Verdichtung zum Grossbetrieb weiter voranschreiten.
Die Schneider und Schuhmacher sehen sich durch die fast in
allen grösseren Orten errichteten Fabrikniederlagen mehr und
meljr auf die blosse Flickarbeit zurückgedrängt. Für die Kolonial-
und Kurzwaarengeschäfte bildet die Konkurrenz des Hausier-
handels, der Detailreisenden und derauswärtigenVersandgeschäfte
eine steigende Gefahr; dieser Existenzkampf wird noch dadurch
verschärft, dass immer neue Geschäfte wie Pilze aus dem
Boden schiessen, welche, um gegen die älteren Geschäfte
aufzukommen, schleudern müssen. Das Anwachsen einer zer-
splitterten vielköpfigen Konkurrenz welche den LImsatz und den
Geschäftsgewinn des einzelnen fortwährend herabdrückt ist eine
allgemeine Erscheinung und für den Detaillistenstand in Stadt
und Land seit Jahren eine ernste Gefahr; (auch in Stuttgart
z. B- konnte man in den letzten Jahren die baldige Einstellung
neueröffneter Geschäfte seitens solcher Anfänger verfolgen,
welchen die nöthigen Mittel und Kenntnisse ermangelten, um .
sich auf die Dauer halten zu könnenh So wird für die grossen
Magazine der Boden bereitet. y
Hnndwerkerorganisationeii für die Gewerbefreiheit.
Der Centralvorstand des schweizerischen Bäcker- und Con- !
ditorenvereins petitionirt bei den schweizerischen gesetz- ;
gebenden Körpern um Erlass eines Bundesgesetzes über
den Brodverkauf. Mannigfache Klagen werden in dieser
Petition erhoben über die seitens einzelner Kantons-
behörden zur Einführung gebrachten Gewichtstaxen für
Brod, welche gemäss der Petition in Widerspruch stehen
„mit der, auch unserem Stande gewährleisteten Handels- und
Gewerbefreiheit.“
Der Bundesrath schlägt dem National- und Stände- j
rathe vor, falls diese dem Begehren der Petenten grund- '
setzlich beistimmen, den Bundesrath einzuladen, künftighin ,
Beschwerden gegen kantonale Verordnungen, die ein be-
stimmtes Brodgewicht vorschreiben, als begründet zu er-
klären.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Zur preussischen Berggesetznovelle. Die technischen
Grubenbeamten der rheinisch-westfälischen Zechen haben
eine Petition um Abänderung verschiedener Bestimmungen
der Berggesetznovelle an den Handelsminister von Berlepsch
abgesandt. In derselben heisst es u. A. „Eines unserer
Bedenken bezieht sich auf die Bestimmung des § 89 Abs. 5,
dass die Grubenbeamten aus ihrem Dienstverhältniss ent-
lassen werden können, wenn sie durch eine längere Ab-
wesenheit an der Verrichtung ihrer Dienste _ verhindert
werden.“ Wir nehmen den Fall an, dass ein Gruben-
beamter zur Erfüllung der Heerespflicht aut längere Zeit,
beispielsweise 4 Wochen eingezogen würde. Nach unserer
Auffassung würde bei einer strikten Auslegung der ange-
zogenen Bestimmung der Bergwerksbesitzer befugt sein,
den Grubenbeamten ohne Kündigung zu entlassen. V ir
können nicht annehmen, dass der Gesetzgeber den Be-
amten so unsicher in seinen Dienstverhältnissen stellen
will, dass die Erfüllung einer Staatspflicht die Veranlassung
geben könnte, ihn aus seinem Dienstverhältniss zu ent-
lassen. Ausser dem obigen Falle lassen sich wohl noch
andere aufstellen, welche zu ähnlichen Bedenken \ eranlas-
No. 18.
SOZIALPOLITISCHES CENT R A LBL ATT.
231
sung geben (z. B. Berufung als Geschworene).“ Dann
heisst es weiter: „In § 89 des Entwurfs ist unter Abs. 4
die Aufhebung des Dienstverhältnisses ohne Kündigung-
vorgesehen, wenn der Grubenbeamte „eine sicherheitspolizei-
liche Vorschrift bei der Leitung oder Beaufsichtigung der
Bergarbeit Übertritt“. Es scheint uns sehr hart, dass ein
Grubenbeamter ohne Weiteres von dem Bergwerksbesitzer
entlassen werden kann, wenn er eine weniger erhebliche
Vorschrift der Sicherheitspolizei Übertritt, denn zur Sühnung
dieser Uebertretung ist zunächst die Polizeistrafe vorge-
sehen. Der Grubenbeamte, der einer solchen Uebertretung
beschuldigt würde, verwirkte nicht nur die Polizeistrafe,
sondern würde auch privatrechtlich erheblich geschädigt,
was wohl nicht Absicht des Gesetzgebers sein dürfte. V ir
meinen, dass der Gesetzentwurf eine Abänderung dahin zu-
lassen würde, dass die Entlassung nur erfolgen könnte,
wenn die Uebertretung der polizeilichen Vorschriften eine
gemeinschädliche wäre.“ Der letzte Wunsch ist sehr be-
zeichnend. Eine Streichung derselben Vorschrift für die
Arbeiter ward nicht beantragt, ebensowenig die Aufnahme
eines Paragraphen, die den Zechenbesitzern spezielle Vor-
schriften über Sicherheitsvorkehrungen macht, was doch
das einzig Richtige sein würde.
Regelung der Sonntagsruhe in der Industrie Berlins. Die
Aeltesten der Berliner Kaufmannschaft haben dem Polizei-
präsidenten mitgetheilt, dass sie, abgesehen vom Handels-
gewerbe, für folgende Gewerbe eine besondere Regelung
der Sonntagsruhe für erforderlich halten: für das Bauge-
werbe, die Wasserwerke, die Fabrikation von Mineralwasser,
die Chokoladenfabrikation und verwandte Industrien, die
chemischen Industrien und andere (im Monat Mai), die Fa-
brikation von Thonwaaren, die Gerberei, die Wäschefabri-
kation (in je 8 Wochen vor den grossen Festen), die Gärt-
nerei, die Maschinenfabrikation (bei den Arbeiten zur In-
standhaltung der eigenen und fremden Betriebe). Ausser-
dem wird in dem Bericht der Aeltesten auch noch die
Zeitungsdruckerei im Interesse der Herstellung von Montags-
blättern erwähnt. Man werde nicht umhin können, den
ganzen Nachmittag des Sonntags zur Arbeit freizulassen. -
Es ist nicht abzusehen, warum die Aeltesten der Berliner
Kaufmannschaft nicht die völlige Abschaffung der gesetz-
lichen Bestimmungen über die Sonntagsruhe auf dem Ver-
ordnungswege empfohlen haben.
Ruhezeiten für österreichische Staatsbeamte. Dem
österreichischen Abgeordnetenhause ging eine mit 20 000
Unterschriften versehene Petition zu, in welcher neben Ge-
haltserhöhungen und Regelungen von Fragen des Standes-
interesses auch Folgendes erbeten wurde:
Einführung der allgemeinen Sonntagsruhe in allen
Aemtern unter Feststellung eines besonderen Dienstturnus
bei jenen Berufszweigen im Staatsdienste, bei welchen die
allgemeine Sonntagsruhe aus öffentlichen Rücksichten un-
thunlic.h erscheint, und Normirung eines jährlich einmal zu
ertheilenden vierzehntägigen und nach Massgabe der Dienst-
jahre bis zu sechs Wochen steigenden Urlaubes, welcher
nach einem für jedes Amt besonders festzustellenden Urlaubs-
turnus anzutreten ist.
Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Oesterreich. Einer
Anregung der organisirten Bauarbeiterschaft Wiens folgend,
stellte der Abgeordnete Baernreither Namens der deutsch-libe-
ralen Partei in einer Sitzung des zur Berathung der Wiener
Verkehrsanlagen eingesetzten Ausschusses die Einbringung eines
Gesetzentwurfes in Aussicht, welcher die Frage der Ausdehnung
der Arbeiterschutzgesetzgebung auf die Erdarbeiter und Hand-
langer grundsätzlich regeln sollte (s. Sozialpolitisches Central-
blatt Nr. 11 S 142). Bei dem eben stattgefundenen Zusammentritte
des österreichisches Reichsrathes kam die jungtschechische Partei
der deutsch-liberalen zuvor, indem sie durch Prof. Kaizl einen
Gesetzentwurf, betr. die Ausdehnung des Arbeiterschutzes, der
Beschlussfassung des Hauses unterbreitete. Derselbe lautet:
§ 1. Die Bestimmungen des sechsten Hauptstückes der
Gewerbeordnung (Gesetz vom 8. März 1885, Z. 22, R. G. Bl.,
Arbeiterschutzgesetz) haben auch Geltung für jene Arbeits-
personen, welche beim Gewerbe zur Lohnarbeit der gemeinsten
Art (Tagelöhnerarbeit u. s. w.) verwendet werden.
§ 2. Die politische Landesbehörde ist ermächtigt, nach
Anhörung der zuständigen Handels- und Gewerbekammer die
Bestimmungen der §§ 96a (11 ständiger Maximalarbeitstag) und
96b (Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren in Fabriken)
der Gewerbeordnung (Gesetz vom 8. März 1885, Z. 22, R. G. Bl.)
auf die Hilfsarbeiter und die im § 1 genannten Arbeitspersonen
I nicht fabriksmässig betriebener Gewerbsunternehmungen, bei
I
denen mehr als 20 Hilfsarbeiter oder Arbeitspersonen beschäftigt
werden, auszudehnen.
« Wird dieser Entwurf Gesetz, so gelten die für die hand-
werksmässigen Betriebe in Kraft stehenden Arbeiterschutzbestim-
mungen auch für die Taglöhnerarbeit und können im Verord-
nungswege die weiter gehenden für die Fabrikarbeiter geltenden
Bestimmungen auf diese Arbeiterkategorien angewandt werden.
Arbeiterschutz in Schweden. Die Arbeiterschutzgesetz-
gebung Schwedens soll endlich einer Reform unterzogen werden.
Am 13. März 1891 hatte der König die Bildung einer Kommission
angeordnet mit dem Aufträge, in Erwägung zu ziehen, inwie-
weit die von der Berliner Arbeiterschutzkonferenz angenommenen
Grundsätze in Schweden anzuwenden seien, und zugleich Vor-
schläge zur Aenderung der bestehenden Gesetzgebung zu
machen. Die Kommission hat, wie das „Handels-Museum“ be-
richtet, der Regierung nunmehr einen Bericht über ihre Arbeiten
und einen Gesetzesvorschlag über die Verwendung von Minder-
jährigen und Frauen zur Arbeit unterbreitet. In dem Entwurf
lässt die Kommission die Frage der Begrenzung der Arbeitszeit
Erwachsener unberührt. Bezüglich der Sonntagsarbeit hält sie
besondere gesetzliche Bestimmungen unter Hinweis auf die Be-
stimmungen des Strafgesetzes für nicht erforderlich. Ferner
beantragt die Kommission: Minderjährige dürfen vor vollende-
tem 13. Lebensjahre nicht beschäftigt werden, auch dann nicht,
wenn sie vor dem Abgänge aus der Volksschule nicht die ge-
ringsten gesetzlich nothwendigen Kenntnisse erworben haben,
oder wenn sie zu der fraglichen Arbeit körperlich zu schwach
sind. Die Grenze der Minderjährigkeit ist das 18. Lebensjahr.
Minderjährige unter 15 Jahren dürfen höchstens 6 Stunden (jetzt
10 Stunden) und solche über 15 Jahre höchstens 11 Stunden
täglich beschäftigt werden. Die Arbeit darf nicht vor 5 Uhr
Morgens beginnen und nicht nach 9 Uhr Abends dauern. Für
Arbeiterinnen wird das Verbot der Nachtarbeit bis zum
21. Lebensjahre ausgedehnt. Minderjährige dürfen zum Warten
von Dampfkesseln, zum Reinigen oder Schmieren von im Gange
befindlichen Transmissionen, zur Arbeit unter der Erde m
Gruben oder Steinbrüchen nicht verwendet werden; männliche
nicht unter 15 Jahre alt, weibliche nicht unter 21 Jahre alt.
Arbeiterinnen dürfen im Allgemeinen erst vier Wochen nach
ihrer Entbindung in Arbeit treten. Minderjährige sollen mit
Arbeitsbüchern versehen sein, in welche jeder Arbeitgeber die
erforderlichen Bescheinigungen einzutragen hat. Die Kontrolle
soll von Staatsgewerbeinspektoren ausgeübt werden. Zum
Schluss werden noch besondere Bestimmungen für die Be-
schäftigung Minderjähriger in Phosphor-Zündholzfabriken in
Vorschlag gebracht.
Gewerbeinspektion.
Vermehrung der Fabrikinspektoren im Königreich
Sachsen. Die schon seit einiger Zeit vorbereitete Vermeh-
rung der sächsischen Gewerbe-Inspektions-Bezirke von 7
auf 13 gelangt, wie eine Verordnung des Ministeriums des
Innern besagt, am 1. Juli d. J. zur Verwirklichung. Die bis-
herigen Aufsichtsbezirke Dresden, Chemnitz, Zwickau,
Leipzig, Bautzen, Meissen und Plauen werden auch in Zu-
kunft, allerdings in wesentlich geringerer Ausdehnung fort-
bestehen, während die Inspektions-Bezirke Freiberg, Anna-
berg, Aue, Wurzen, Döbeln und Zittau neu eingerichtet
werden. Jedem Gewerbe-Inspektor sind auch in Zukunft
ein oder mehrere Assistenten zur Aushilfe und Stellver-
tretung beigegeben.
Fabrikinspektion in den Reichslanden. Mit dem In-
krafttreten des neuen Arbeiterschutzgesetzes soll auch die
Fabrikinspektion in Eisass - Lothringen reorganisirt oder
richtiger erweitert werden. Statt dass bisher ein einziger
Inspektor für die drei Bezirke Ober- und Untereisass und
Lothringen angestellt war, sind von jetzt ab drei, je einer
für jeden Bezirk, in Thätigkeit getreten; auch soll ihnen die
nöthigeZahl von Assistenten beigegeben werden. Der im Lan-
desausschuss ausgesprochene Wunsch, die Jahresberichte
dieser Inspektoren möchten im Sonderabdruck ausgegeben
werden, dürfte voraussichtlich berücksichtigt werden.
232
SOZIALE! JÜTISCHES CENTRALBLATT,
No. 18.
Arbeiterversicherung.
Organisation der staatlichen Krankenversicherung in
Oesterreich. Der Verband der niederösterreichischen Bezirks-
Krankenkassen hielt kürzlich in Wien seine (3 ) Delegirten-Ver-
sammlung, an welcher in Vertretung von 43 Bezirks-Kranken-
kassen 57 Delegirte theilnahmen Den Vorsitz führte der Vor-
stands-Obmann der zur Verwaltung des Verbandes gesetzlich
berufenen Arbeiter-Unfall Versicherungsanstalt für Niederöster-
seich, Direktor Rudolph Klang-Egger. Dem Rechenschaftsberichte
der Verbandsverwaltung ist zu entnehmen, dass der Verband
seit I. Januar 1892 nach erfolgter Vereinigung der Vorortekassen
mit der Wiener Bezirks-Krankenkasse 44 Krankenkassen — 41
Bezirks- und 3 Betriebs-Krankenkassen — ■ umfasst. Der Verbands-
fonds, dessen Zweck statutarisch in der Bedeckung der Verbands-
auslagen und insbesondere in Ertheilung on Vor- und Zuschüssen
an nuthleidende Verbandsmitglieder besteht, hat sich im Laufe
des verflossenen Jahres von 6 554 fl. auf 24-387 fl. erhöht; die
Kassen-Reservefonds betrugen Ende 1890 bei einem Stande von
98 605 versicherten Arbeitern zusammen 218 276 fl., womit nach
anderthalbjähriger Thätigkeit der Verbandskassen schon ein
Fünftel der statutarischen Minimalhöhe des Reservefonds erreicht
erscheint. Im Jahre 1890 gaben 28 026 Erkrankungen mit 458 306
Krankheitstagen zu Unterstützüngen Anlass; im Jahresdurch-
schnitte waren von je 100 Kassenmitgliedern 25 erkrankt. Mit j
Tod gingen 796 Personen, d. i.s/io% des durchschnittlichen Mit-
o-liederstandes, ab. Für die Krankheits- und Sterbefälle wurden
msgesammt 443 573 fl., d. i. 61 % der Versicherungsbeiträge als
gesetzliche Unterstützungen verausgabt. Die 'Verwaltungskosten
haben um 8,2% der Versicherungsbeiträge, d. i. um ein Drittel
abgenommen Der Bericht wurde zur Kenntniss genommen.
Die Beitragsleistung der Verbands-Krankenkassen zu dem Ver-
bandsfonds wurde pro 1891 wie für das Vorjahr mit 10% der
Reservefonds-Vermehrung bei den einzelnen Verbands-Kranken-
kassen festgesetzt. Aus Anlass eines bezüglichen Antrages
wurde es in' der Versammlung allseitig als wünschenswert!! er-
kannt, dass eine Lostrennung des Verbandes von der
Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt und dessen Verwal-
tung durch die Verbands-Krankenkassen durch die Legislative
festgesetzt werde, und betraute die Versammlung ein Komitee
mit der Einleitung der erforderlichen Schritte.
W ohlfahrtseinrichtungen.
Die Berliner Konferenz der Centralstelle für Wohlfahrts-
einrichtungen.
In der verflossenen Woche tagte in Berlin unter dem
Vorsitze des Unterstaatssekretärs Herzog eine Konferenz
zur Erörterung des Nutzens von Wohlfahrtseinrichtungen
für Arbeiter. Ihr Interesse an den Verhandlungen bezeigten
durch ihre Anwesenheit hohe Staatsbeamte, eine grosse
Anzahl von Unternehmern, einige Geistliche und National-
ökonomen.
Auf der Tagesordnung der Konferenz standen zwei
Gegenstände: 1. die Verbesserung der Wohnungen und
2. &die zweckmässige Verwendung der Sonntags- und
Feierzeit.
Von Beschlüssen wurde Abstand genommen, so dass
über Anträge, wie z. B. den Böhmert’s, einen „Volksbund
zur Förderung der Volkswohlfahrt“ zu gründen, ohne Ab-
stimmung zur Tagesordnung übergegangen wurde Mit der
Konferenz war im Architektenhause eine Ausstellung von
Wohlfahrtseinrichtungen verbunden. Neben einer Reihe
von Mittheilungen über die Arbeiterwohnungen einzelner
Fabriken und Werke wurden drei allgemein gehaltene Vor-
träge über die Arbeiterwohnungsfrage gehalten und zwar
vom Fabriksbesitzer F. Kalle (Wiesbaden) über „die Für-
sorge der Arbeitgeber für die Wohnungen ihrer Arbeiter“,
voir’ Dr. Albrecht über die „Mitwirkung der Arbeitnehmer
bei der Lösung der Wohnungsfrage“ und vom Dozenten
an der technischen Hochschule in Hannover Nussbaum
über „allgemeine Grundsätze für den Bau und die Errich-
tung von Arbeiterwohnungen“.
Wesentlich Neues, was nicht schon aus der stark an-
geschwollenen Litteratur über die Arbeiterwohnungsfrage
bekannt wäre, brachte keiner der drei Referenten vor.
Im Allgemeinen war der Standpunkt der Redner der opti-
mistische der Selbsthilfe. Während, wenn auch nicht mit
der nöthigen Schärfe, die Vortheile der Unternehmer beim
Baue der Arbeiterwohnungen hervorgehoben wurden, unter-
liess man, die den Arbeitern aus denselben erwachsenen
Nachtheile, wie grössere Abhängigkeit vom Unternehmer,
so bezüglich der Kündigung, der Bedingungen des Arbeits-
vertrages und der Freizügigkeit hervorzuheben. Die De-
batten wären erspriesslicher geworden, hätte man durch
Korreferenten auch einen entgegengesetzten Standpunkt zu
Worte kommen lassen.
Ein Bediirfniss nach völliger Aufhellung der Wohnungs-
zustände durch eine Enquete oder allgemeine Statistik, die
doch die erste Grundlage eines planmässigen Vorgehens in
der Arbeiterwohnungsfrage sein müsste, zeigte sich auf der
Konferenz nicht, ebensowenig wurde die Nothwendigkeit
einer regelmässigen Wohnungsinspektion betont und auf
die Wohnungsverhältnisse der ländlichen Arbeiter ein-
gegangen.
Der Standpunkt der Redner war im Allgemeinen der,
dass die Arbeiter bevormundet werden müssen und dass
die Regelung der Arbeiterwohnungsfrage nicht eine Auf-
gabe des Staates oder der Kommunen, sondern lediglich,
zum mindesten vornehmlich der Unternehmer sei, wobei
über 'die Art der meist nicht freiwilligen finanziellen
Leistungen der Arbeiter verschiedene Vorschläge gemacht
wurden.
Der Standpunkt Kalle’s, des ersten Redners, dessen
Referat am breitesten angelegt war, lässt sich folgender-
massen kennzeichnen: Die bedeutungsvollste soziale Auf-
gabe des Unternehmers ist die Fürsorge für die Wohnungen
der Arbeiter, weil durch sie die Gesundung des Familien-
lebens der Arbeiter und damit die Zufriedenheit der Ar-
beiter angebahnt werde. Die Fürsorge für die Wohnungen
seiner Arbeiter gereicht dem Werkbesitzer, wenn auch
nicht unmittelbar, so doch beinahe immer mittelbar zu
grossem Vortheile. Kalle beklagt es, dass die Arbeiter zu
wenig Sinn für gute Wohnungen haben und dass sie nicht
gewillt sind, einer guten Wohnung wegen sich irgend
welche Beschränkungen in ihren sonstigen Lebensanlor-
derungen aufzuerlegen. Aus der Fürsorge der Arbeitgeber
für die Arbeitnehmer, aus dem Rechte der Arbeitgeber, aut !
die Arbeitnehmer erziehlich einzuwirken und der damit
verbundenen persönlichen Annäherung an Arbeiter ergebe 1
sich die Möglichkeit, die mehr und mehr gewachsene,
Spannung zwischen den verschiedenen Ständen zu be-
seitigen und die Arbeiterschaft mit der bestehenden Ord-
nung der Dinge auszusöhnen. Und dies lasse sich nament-
lich auch auf dem Gebiete des Arbeiterwohnungswesens,
erreichen. Aufgabe des Arbeitgebers sei es hier allgemein,
dafür Sorge zu tragen, dass seine Leute zu Preisen, die imi
richtigen Verhältniss zum Lohn stehen, Wohnungen zu finden,
vermögen, wie sie zu einem gesunden glücklichen Familien- j
leben erforderlich sind. Die Frage ist nur, wie sich diese*
Aufgabe im Einzelnen lösen lässt. Kalle zieht drei Wege,
in Betracht: I. der Arbeitgeber hat den Bau von Woh-
nungen durch die Arbeiter zu unterstützen; 2. er baut
seinerseits Arbeiterhäuser; 3. er erleichtert den etwa in
umliegenden Ortschaften wohnenden Arbeitern die Bei-
behaltung ihrer guten Wohnungen durch billigen oder
kostenlosen Transport der Arbeiter nach und von der
Werkstätte. 1
Kalle erörterte hierauf die einzelnen Wege, und schlug
am Schlüsse seiner Ausführungen vor, durch ein Prämien-
system die gute Instandhaltung der Wohnung und des
Mobiliars zu erreichen. • —
Dr. Albrecht besprach im Anschlüsse an Kalle’s Referat
die Frage der Mitwirkung der Arbeitnehmer bei der Lösung
der Arbeiterwohnungsfrage. Er meint, dass in den Gross-
städten die Unternehmer für Arbeiterwohnungen nicht sorgen
könnten, dass hier die Arbeiter durch Gründung von Woh-
nungsgenossenschaften die Lösung der Arbeiterwohnungs-
frage in die Hand zu nehmen hätten. Erfolg bei derartigen
Bestrebungen versprach auch Referent nur dann, wenn die
Unternehmer die Baugenossenschaften der Arbeiter theilsj
durch Rath theils durch Creditgewährimg unterstützen wiir- !
den. In eingehender W7eise besprach der Referent die Bau-
genossenschaften Englands (die bekannten Building societies),
Amerika’s, Dänemarks und die vereinzelten deutschen Be-
strebungen gleicher Alt. Uns scheint es, dass gerade die
seit einer Reihe von Jahrzehnten in England mit den Bau-
genossenschaften gemachten Erfahrungen aufs klarste be-
weisen, dass auf diesem W’ege niemals eine Lösung der
Arbeiterwohnungslrage in grossem Stile herbeigeführt wer-
den wird, wenn auch vielleicht einzelne Arbeiter aus der
Betheiligung an Baugenossenschaften hie und da Vortheile
gezogen haben können.
No. 18.
SOZIALPOT .1 TISCHES CENTRALBLATT.
233
Den dritten Vortrag hielt Herr Clr r. Mussbaum, Docent
an der Technischen Hochschule in Hannover, über allge-
meine Grundsätze für den Bau und die Einrichtung von
Arbeiterwohnungen; als solche hob er hervor: Raum für
ein o-eniigendes Quantum Luft, Trockenheit, Wärmeregu-
lirung und Einrichtungen, welche die Reinlichkeit der Woh-
nungen fördern.
Lieber das geringe Interesse der Unternehmer an der
Errichtung von Arbeiterhäusern wurde lebhaft geklagt.
Einer der Redner bezeichnete als Grund dafür den Egois-
mus der Unternehmer, die, wie er meint, für Arbeiterwoh-
nungen nur da etwas thun, wo ihr Vortheil es erheischt,
siclTaber um die Wohnungsverhältnisse des Arbeiters nicht
kümmern , wo jenes selbstsüchtige Interesse nicht vor-
handen ist. In Arbeiterkreisen ist man, wie die „Frankf.
Ztg.“ treffend bemerkt, bekanntlich vielfach der gleichen
Airsicht und hat daher für die Wohlfahrtsbestrebungen der
Unternehmer auf diesem speziellen Gebiete, wie überhaupt
für die Wohlfahrtseinrichtungen im Allgemeinen herzlich
wenig Sympathien. Dass ein gewisses Misstrauen der Ar-
beiter auch gegenüber den staatlichen Wohlfahrtseinrich-
tungen nicht unberechtigt ist, dafür legte auch der Eisen-
bahndirektor Thiele-Hannover Zeugniss ab, der in seinen
Mittheilungen über die staatliche Arbeiterkolonie Leinhausen
hervorhob, dass in Hinsicht auf die „Erziehung der Arbeiter
zu patriotischer Gesinnung die günstigsten Residtate er-
zielt“ worden seien. Die weitere Erklärung desselben, dass
die „meisten Arbeiter, um den Wünschen nach Verbesse-
rung ihrer materiellen Lage Ausdruck zu geben, im Sinne
der Sozialdemokratie wählen“, lässt einen Einblick in die
Art und den Werth dieser „Erziehung zu patriotischer Ge-
sinnung“ thun. So lange die „Wohlfahrtseinrichtungen“
mit solchen Nebenabsichten verquickt werden, kann man
allerdings nicht erwarten, dass die Arbeiter dieselben mit
freundlichen Augen ansehen sollen.
Ueber die „zweckmässige Verwendung der
Sonntags- und Feierzeit“ referirte Prof. V. Böhmert.
Von grossem Interesse war seine Schilderung der Schick-
sale, welche der von ihm verfasste und von der Centralstelle
für Wohlfahrtseinrichtungen versandte Fragebogen bei vielen
Fabrikanten hatte. Der Fragebogen wünschte Aufklärung
darüber, in welcher Weise und in welchem Maasse die
Fabrikanten für die Erholung ihrer Arbeiter Sorge tragen.
Herr Prof. Böhmert bemerkte, dass ihm die Aufwerfung
dieser Frage verschiedene Grobheiten eingetragen habe, ein
Beweis, dass noch viele Fabrikanten ihre wirthschaftliche
Aufgabe ihren Arbeitern gegenüber nicht begreifen. So
sind ihm aus Fabrikantenkreisen anonyme Postkarten zuge-
gangen, in welchen er in höhnischer Weise befragt wird,
ob er die Badereisen der Arbeiter aus seiner Tasche be-
zahlen wolle und wie oft denn der Fabrikant nach seiner
(des Referenten) Ansicht verpflichtet sei, seine Equipage
den Arbeitern zur Verfügung zu stellen. Diese Grobheiten
können ihn indessen in seiner Ueberzeugung, dass es Pflicht
der Fabrikanten bezw. Arbeitgeber sei, nach Möglichkeit
das Wohl ihrer Arbeiter zu fördern, nicht irre machen. Die
sozialdemokratische Bewegung unsere Tage drohe ja das
gute Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
zu stören; gleichwohl dürfen sich die Arbeitgeber dadurch
nicht abhalten lassen, für das Wohl ihrer Arbeiter einzu-
treten. jeder Unternehmer sollte, unbekümmert um Dank
oder Undank, nicht nur das materielle, sondern auch das
! geistige und sittliche Wohl, sowie eine edle Geselligkeit und
gesunde Lebensfreude unter seinen Arbeitern zu fördern
suchen. Böhmert will nicht Vermehrung, sondern Verede-
lung der Lmterhaltungen anstreben. Die Arbeiter wünschen
in erster Linie nicht Unterhaltung, sondern Unterhalt. Die
Gewährung ausreichenden Lohnes gelte ihnen als die nö-
thigste und wirksamste Gegenleistung des Arbeitgebers für
die von ihnen gethane Arbeit. Es seien daher alle Ver-
kürzungen des Lohnes zu Gunsten von Wohlfahrtseinrich-
tungen oder Erholungen der Arbeiter zu vermeiden. Bei
den Erholungen der Arbeiter sei jeder Zwang zu vermeiden
und darauf Bedacht zu nehmen, dass die Arbeiter durch
eigene Vertreter für ihre Vergnügungen sorgen. Der Lürter-
nehmer solle an den Erholungen seiner Arbeiter nicht nur
mit Gaben, sondern mit seiner Person, aber nicht als Herr,
sondern als Genosse theilnehmen. Bei Fabrikfesten seien
Veranlassungen vorzuziehen, welche die Arbeiter unmittelbar
j berühren, wie Dienstjubiläen von Arbeitern. Das politische
und kirchliche Parteiwesen sollte bei den Erstlingen mög-
lichst bei Seite gelassen und nur die Förderung der rein
menschlichen Beziehungen und eines heiteren Verkehrs im
Auge behalten werden. Böhmert befürwortete schliesslich
eine Resolution, welche sich für die Bildung eines Volks-
bundes behufs Schaffung besserer Arbeiterwohnungen und
edler Arbeitervergnügungen ausspricht.
Als nächster Redner sprach Abg. Kaplan Hitze (M.-
Gladbach) über die materielle und sittliche Hebung, Festigung
und Veredlung des Familienlebens. Als speziellere Mittel,
die häusliche Erholung undUnterhaltung zu pflegen, empfiehlt
der Referent: I. die Pflege der häuslichen Lektüre durch
Anlegung kleiner Familienbibliotheken und gute öffentliche
Bibliotheken, durch Vereine, Fabriken u. s. w., Pflege des
Gesanges und der Musik, 2. Pflege der Handarbeit, 3. Pflege
der Bienen- und Obstbaumzucht und der Zimmerpflanzen,
4. Erholung durch Spaziergänge in Wald und Flur zur
Entwickelung des Sinnes für die Natur- und ihre Schönheit,
5. Jugend- und Familienspiele.
Hiernach berichtete Abg. von Schenckendorff über die
Ausbreitung und Nützlichkeit der Jugend- und Volksspiele.
Dem Referenten erscheint es erforderlich:
„1. Dass jeder einzelne Arbeitgeber sich strenge der
Pflicht und der Verantwortung bewusst werde, die er zugleich
für die Erziehung der ihm anvertrauten Jugend hat; 2. dass
Staat und Gemeinde und Gesellschaft in wesentlich erwei-
tertem Umfange als seither dem Bildungsbedürfnisse der
jugendlichen Arbeiter durch Errichtung von Fortbildungs-,
Fach- und Haushalts- wie Handfertigkeitsschulen Rechnung
tragen; 3. dass allerorts, in den Städten wie auf dem Lande,
gemeinnützige Vereine die Aufgabe übernehmen, diesem
jugendlichen Kreise durch Pflege der Volksspiele, durch
turnerische Uebungen sowie durch belehrende und anre-
gende Vorträge an den Sonntag-Nachmittagen und Aben-
den Gelegenheit zu guter Unterhaltung zu geben, um diese
Kreise von frühzeitigen und verderblichen Genüssen abzu-
lenken und volkserziehlich auf sie einzuwirken; 4. dass die
Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen a) den-
jenigen Stellen, welche diese Bestrebungen aufnehmen
wollen, berathend zur Seite steht und b) jährlich eine Sta-
tistik aufnimmt Tmd veröffentlicht, welche die Fortschritte
und den Stand dieser Bestrebungen darlegt.“ Von den
übrigen Rednern wollen wir nur noch Oberpfarrer Schmitz-
Crefeld hervorheben. Derselbe verweist auf seine Erfah-
rungen in den katholischen Arbeitervereinen. Die Arbeiter
seien sehr auf ihre Selbstständigkeit bedacht, wolle man
dieselben für sich gewinnen, so dürfe man durchaus ihre
Selbstständigkeit nicht antasten. Es sei also zweckmässig
und praktisch, die Arbeiter sich durch sich selbst leiten zu
lassen. Man bilde Fachvereine unter Leitung der Arbeiter
und schaffe einen auf christlicher Grundlage ruhenden
Stamm als Arbeiter gegen die Einflüsse der Sozialdemo-
kratie, welche sich in jeden Arbeiterverein einschleichen.
Auf diese Weise könne man Erfolge erreichen; im Westen
seien auf diese Weise gegen 400 katholische Arbeiterver-
eine entstanden.
Kenner der deutschen Arbeiterbevölkerung werden an
praktische Folgen der Konferenz für Wohlfahrtseinrichtungen
kaum glauben können Die Arbeiter sehen in den Wohlfahrts-
bestrebungen keine zum Nutzen der Arbeiter freiwillig über-
nommene Lasten der Unternehmer, sondern Mittel um sie zu
Gunsten desUnternehmerthums in wirthschaftliche, politische
und geistige Abhängigkeit zu bringen. Die deutschen Arbeiter
sind dem Systeme der Bevormundung entwachsen, sie fühlen
sich als Klasse und deshalb wird man ihnen nur als Klasse
nicht aber nach Fabrikpersonalen gesondert nützen können.
Nur unter freier Mitbethätigung und Selbstverwaltung der Ar-
beiter werden Wohlfahrtseinrichtungen für die Arbeiter von
Nutzen sein. Verfolgt man aber mit ihnen Nebenzwecke,
wie Entziehung der Freizügigkeit, über die Arbeitszeit hin-
ausgehende Beeinflussung und politische Bekehrungsver-
suche, so werden die Wohlfahrtseinrichtungen nicht nur
den sozialen Frieden nicht anbahnen, sondern steigende
Verbitterung und Misstrauen erzeugen. Dies wurde auf der
Wohlfahrtskonferenz zwar nicht vollständig übersehen, aber
nicht genug entschieden betont und die warnenden Bemer-
kungen gingen verloren unter den optimistischen Hoffnungen
der Freunde des Patronagesystems.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
234
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Gebiete des österreichischen Verwaltungsrechtes nicht nur in Kreisen der Studiienden, sondern
auch aller derjenigen, die am öffentlichen Leben theilnehmen, fühlbar gemacht. Es sei nur
darauf hingewiesen, dass seit den jüngsten Neuregelungen des Militärrechtes, des Gewerberechtes,
des Arbeiterschutzrechtes noch keine Gesammtdarstellung des österreichischen Staatsrechtes, welche
dieselben berücksichtigen würde, erschienen ist und dürfte daher obiges Werk den interessirenden
Kreisen gewiss willkommen sein.
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Der 2lrbciterfi*eunb.
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JBeüfeJloe Dr. Bubulf timt (lintcitf in Berlin,
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XXX. 3aI)f(lail9- 4 dpefte.
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in $eutfd)lanb nnb Oefterreid) . „ 1,20
im äBeltpoftoerein „ 1,50.
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Ausführung der neuen Gewerbe-
ordnung für das Deutsche Reich.
Enquete Uber die Sonntagsruhe im
Deutschen Reich.
Zweite Berathung der Berggesetz-
novelle im preussischen Abgeord-
netenhause.
Der Maximalarbeitstag für Berg-
arbeiter in der Berggesetzkom-
mission des preussischen Ab-
geordnetenhauses.
Missbrauch mit Strafgeldern im
preussischen Bergbau.
Zechenverbände und Berggesetz-
novelle in Preussen.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Zur Steuerreform in Preussen.
Unter den Steuerplänen des preussischenFinanzministers,
welche durch den Reichsanzeiger der öffentlichen Be-
sprechung unterbreitet worden sind, ist der sozialpolitisch
bedeutungsvollste jedenfalls der, neben der Einkommen-
steuer eine Ergänzungssteuer des fundirten Vermögens ein-
zuführen und zwar unter Aufhebung der bestehenden
Grund- Gebäude- und Gewerbesteuer, sowie (eventuell) der
Bergwerkssteuer. Das grosse Gewicht, das gerade diesem
Plane zugeschrieben wird, ist noch besonders daran zu
erkennen, dass im Reichsanzeiger eine derartige ergänzende
Besteuerung des fundirten Vermögens geradezu als das
letzte Ziel der staatlichen Steuerreform bezeichnet wurde.
Die bisherigen staatlichen Realsteuern, bezw. ihre Objekte
würden dann die Grundlage der Kommunalbesteuerung
bilden und es wäre damit eine klare Scheidung zwischen
der staatlichen und der Gemeindebesteuerung vorgenommen.
Ueber die Art und Form dieser Vermögenssteuer spricht
sich der Reichsanzeiger nicht aus, er bezeichnet sie nur als
eine Ergänzungssteuer, „welche Werthobjekte nach Abzug
der Schulden mit einer im Verhältniss zum ermittelten
Werthe nur sehr geringen Quote direkt trifft.“ Es wäre
daher an eine allgemeine Vermögenssteuer zu denken, die
nicht nach den Kategorien des Vermögens scheidet, sondern
die im Besitze des einzelnen Steuersubjekts zusammen-
treffenden, z. B. aus Haus und Hot, Grund und Boden,
Werthpapieren, und Gebrauchsgegenständen bestehenden
Werthe als eine Einheit behandelt und belastet.
Gegen die Durchführung einer solchen Vermögens-
steuer scheinen mir schwere Bedenken vorzuliegen. Nicht
als ob ich in das Horn derer stossen wollte, die sie für un-
gerecht halten oder über allzu grosse Belastung der Be-
sitzenden klagen. Ich Hielte es im Gegentheil für Preussens
unwürdig, wenn es in dem gegenwärtigen halben Zustande
seiner Steuerreform stehen bliebe. Aber die hier geplante
Einheitlichkeit der Vermögenssteuer wird berechtigte
Interessen verletzen und auf praktische Schwierigkeiten
stossen, so dass sie im Interesse einer wirklich erfolgreichen
Vermögensbesteuerung eine andere als die im Reichsan-
zeiger angedeutete Form wird annehmen müssen. Der
Reichsanzeiger beruft sich merkwürdiger Weise auf Amerika
zum Beweise, dass eine solche Vermögenssteuer mit sehr
gutem Erfolge eingerichtet werden könne. Gerade die
jüngsten Schriften über amerikanische Steuern sprechen
sich aber gegen sie aus. „Eine reine Vermögenssteuer,
welche die gleichmässige Besteuerung alles Vermögens be-
zweckt, ist unter den jetzigen Verhältnissen in New- York
undurchführbar,“ sagt ein Schriftsteller1) „sie (die Ver-
mögenssteuer) ist die Ursache so schreiender Ungerechtig-
keiten, dass ihre Abschaffung der Kriegsruf jedes Staats-
mannes und Reformers werden muss,2)“ schreibt ein
anderer. Die Einwendungen, welche in Amerika gegen die
allgemeine Vermögenssteuer erhoben wurden, liegen theils
auf theoretischem theils auf praktischem Gebiet. In ersterer
Hinsicht wird hervorgehoben, dass das Vermögen nicht
mehr ein Kriterium der wirthschaftlichen Leistungsfähigkeit
des Steuerzahlers sei. Nicht der Besitz, sondern der Ertrag
bezw. das Einkommen, das er aus dem Besitze durch seine
wirthschaftliche Geschicklichkeit zu erzielen vermag, sei
der Massstab der Steuerfähigkeit. Zudem schaffe der moderne
Verkehr mit seinen verwickelten Kreditverhältnissen gerade
bei den wirtschaftlich leistungsfähigsten Klassen so schwie-
rige und in jeden Augenblick sich verschiebende Schuld-
verhältnisse, dass die Konstruirung eines reinen, für die
b folin Christ. Schwab, Die Entwicklung der Ver-
mögenssteuer im Staate New-York, Jena, 1890, S. 40.
2) Edw. R. A. Seligman, The General Property Tax im
Political Science Quarterly. Vol. V, No. 1, S. 62.
236
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 19.
Steuerleistung massgebenden Vermögens theils unmöglich,
theils, weil nur auf die Lage eines bestimmten Zeitpunktes
aufgebaut, ungerecht werden müsse. In praktischer Be-
ziehung aber sei gegen die Thatsache nicht aufzukommen,
dass der grösste Theil des beweglichen \ ermögens sich
dieser Besteuerung entziehen könne. In New-York soll nach
der Schätzung einer Sachverständigen-Kommission höchstens
der fünfte Theil des beweglichen Vermögens versteuert wer-
den. Der Staat erreiche daher seinen Zweck nicht und
„setzt eine Prämie auf die Unehrlichkeit, verdirbt das öffent-
liche Gewissen, und führt dazu, dass die Täuschung System
und die Hinterziehung Wissenschaft wird.“
Dem praktischen Theil dieser Einwendung wird, da
er sich auf Erfahrungen gründet, Bedeutung nicht abzu-
sprechen sein. Die theoretischen Argumente sind in dieser
Allgemeinheit nicht beweisend, weil es sich nicht darum
handelt, ob das Vermögen der Ausdruck der wirtschaft-
lichen Leistungsfähigkeit ist, sondern ob es eines der
Momente ist, welche die Steuerkraft bestimmen. Darüber
aber kann ein Zweifel nicht bestehen. Das Vermögen
stellt eine vom Besitzenden unabhängige Steuerkratt dar,
weil es durch Verpachtung, Vermietung, Darlehensge-
währung, Verkauf u. s. w. ohne Arbeit des Besitzers Ein-
kommen geben kann, weil es das Leben des Besitzers
überdauert, weil es ihm die Kapitalbildung erspart bezw .
erleichtert, weil es ihm wirtschaftliche Macht und die
Möglichkeit der selbständigen Unternehmung gewährt. Die
wirtschaftliche Bedeutung des Vermögens erschöpft sich
nicht in dem Einkommen, das mit seiner Hilfe gewonnen
wird, denn es überdauert dieses Einkommen, ohne sich da-
bei, wie die Arbeitskraft, zu verbrauchen und allmählich zu
Grunde zu gehen. Der Einwand eines mangelhaften Aus-
druckes der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist daher
nicht stichhaltig. Es handelt sich aber für die Besteuerung
nicht darum, überhaupt einen Ausdruck wirtschaftlicher
Leistungsfähigkeit zu finden , sondern einen solchen, der
messbar ist und für jeden Steuerpflichtigen nach gleichem
Masse gemessen wird. Ist dies bei der allgemeinen \ er-
mögenssteuer der Fall? Man wird zugeben können, dass
die hervorgehobene selbständige wirtschaftliche Bedeutung
des Vermögens annähernd ihr richtiges Mass in seinem
Geldwerte findet, da dieser für alle wirtschaftlichen
Transaktionen mit dem Vermögen entscheidend wird und
sich ändert mit dem Sinken oder Steigen der wirtschaft-
lichen Bedeutung des zu schätzenden Gutes. Aber der
Geldwerth drückt jeweils nur die im Augenblick der
Schätzung gegebene wirtschaftliche Kraft des Vermögens
aus und seine Höhe wird schwanken, je nach den be-
sonderen Umständen und Beziehungen unter welchen das
Vermögen der Schätzung unterworfen wird. Durch wen
und wie soll daher bei der allgemeinen Vermögenssteuer
die Werthgrösse der Vermögen festgestellt werden? In
Basel, wo die allgemeine Vermögenssteuer seit dem Jahre
1866 besteht, hatte man bis zum Jahre 1887 Einschätzungen
in bestimmte Vermögensklassen durch die Steuerbehörde.
Diese konnte bei ihren Schätzungen keine anderen Anhalts-
punkte benutzen, als die Selbsttaxationen bei der Ein-
kommensteuer und in Folge dessen „war eine genaue Fest-
stellung ausgeschlossen.“1) Von vier zu vier jahren wurden
Neueinschätzungen vorgenommen. „Allein offenbar war es
doch eine schier verzweifelte Aufgabe, von vier zu vier
jahren auch den Veränderungen nachzugehen, welche im
Vermögen der Pflichtigen eingetreten sein konnten. Bei
der Möglichkeit, den Vermögenszuwachs einer leicht ver-
bergbaren Anlageform zuzuführen und ihn so der steuer-
i) Bücher, Basels Staatseinnahmen und Steuervertheilung,
1878—1887. Basel, 1888, S. 38.
liehen Würdigung zu entziehen, blieb die Zuweisung eines
Steuerpflichtigen zu einer höheren Klasse immer ein Tast-
versuch und konnte deshalb nur auf einigermassen sichere
Indizien hin unternommen werden.“1) Im Jahre 1887 wurde
dann auch für die Vermögenssteuer die Selbsteinschätzung
eingeführt, und in der That schnellte mit einem Schlage
das steuerbare Vermögen um 106 Millionen Franken (22,6 °/0
der bisherigen Grösse) in die Höhe. Die behördliche Ein-
schätzung ist demnach offenbar unzureichend. Wird aber
die Selbsteinschätzung auf diesem Gebiete auch in einem
grossen Staate, wo die nachbarliche Kontrole aller Angaben
nicht in dem Masse möglich ist, wie in einer kleinen Stadt,
zu einem gleichen Ergebniss führen? Und wird die Er-
ziehung des Steuergewissens in Preussen weit genug vor-
geschritten sein, um das Publikum ruhig der Versuchung
aussetzen zu können?
Ich wage es nicht, diese Frage zu bejahen. Dazu
kommt aber noch Eines. Die einheitliche Vermögenssteuer
muss einen einheitlichen Steuersatz haben. Sie muss daher j
den im Augenblicke gleichen Werth von landwirtschaft-
lichen Gütern, von Häusern, von gewerblichen Betriebs-
kapitalien, von Gebrauchsvermögen auch in gleichem Masse
belasten. Die tatsächliche wirthschaftliche Bedeutung des |
Vermögens in den oben gekennzeichneten Richtungen ist J
aber trotz des in einem gegebenen Zeitpunkte gleichen j
Geldwertes der Vermögen eine verschiedene. Ein Posten
argentinischer Schuldverschreibungen, ein Lager von Mode-
waaren, ein solches von einen Stapelartikel, etwa von Ge- j
treide und ein Haus sind sehr verschieden zu beurteilende j
Vermögen von weit auseinandergehender wirthschaftlicher
Bedeutung, wenn auch jedes der Objekte im Augenblick
1 Million Mark wert sein d. h. unter bestimmten Bedingungen
zu diesem Preise verkäuflich sein mag. Jede Bank weiss,
das und setzt daher die Belehnungsbedingungen für die j
einzelnen Waaren verschieden an. Und solche grundlegende
Unterschiede, die den wirtschaftlichen Verkehr beherrschen,
sollte die Steuer ignoriren? Möglich ist es ja und man
wird sich damit darüber hinwegsetzen, dass man den,
Steuerfuss der Vermögenssteuer recht niedrig ansetzt und
belässt, damit auch das unsicherste, dem grössten Risiko!
ausgesetzte Vermögen nicht zu schwer belastet ist. Dann
schafft man aber nur eine Gelegenheitssteuer, die finanz- i
politisch vielleicht wichtig, sozialpolitisch aber gleichgültig
ist. Soll die Vermögenssteuer in der That der Schlussstein
der preussischen Steuerreform im Sinne der gerechten
Steuervertheilung sein, dann wird man sie nicht von vorn-
herein zur Entwicklungslosigkeit verurtheilen und nicht so
organisiren dürfen, dass die Vermögensbesitzer Grund
haben über ungleichmässige Belastung zu klagen, weil man
Verschiedenes mit gleichem Drucke trifft. Dass dies dann
zu einem billigen Vorwände gegen die Einführung einer
Vermögenssteuer überhaupt genommen werden dürfte,
ist klar.
Es ist aber nicht nothwendig, die Vermögenssteuer
diesem Angriff und diesem Nachtheil auszusetzen, wenn
man nur darauf verzichtet, eine allgemeine Vermögens-
steuer als einheitliche Steuer einzuführen. Der ange-
strebte Zweck einer stärkeren Belastung des fundirten Ein-
kommens kann in besserer Weise durch Einrichtung einer!
Reihe individualisirender Vermögenssteuern erreicht werden.
Es handelt sich darum, den bestehenden Realsteuern, die ja
die gegebene Grundlage dafür bilden, den Charakter reiner
Vermögenssteuern zu geben und eine Form der Besteue-
rung des Rentenkapitales und des Gebrauchvermögens — j
soweit letzteres der Vermögenssteuer unterworfen werden
soll — Zu finden. Dass dies durchführbar ist, beweist die
>) Bücher a. a. O.
No. 19.
sozialpolitisches centralblatt.
237
Organisation der direkten Stenern in Baden, welche neben
einer allgemeinen Einkommensteuer Grund-, Gebäude- und
Gewerbesteuern und eine Kapitalrentensteuer aufweist, die
nichts anderes als die ergänzende Belastung des fundirten
'
1
;
Vermögens bezwecken. Eine Gebrauchsvermögenssteuer
fehlt allerdings. Eine erhebliche Bedeutung vermag ich
ihr auch nicht zuzuerkennen. Für die Belastung des immo-
bilen Luxusbesitzes: Villen, Parks u. s. w. ist durch die
Grund- bezw. Gebäudesteuer gesorgt. Will man auch das
bewegliche Gebrauchsvermögen treffen und nicht etwa be-
sondere Luxussteuern, wie in England einführen, so mag
immerhin dafür eine eigene Besitzsteuer gerechtfertigt sein.
Das Wesentliche ist, dass die wirklich leistungsfähigen Ver-
mögen in Baden in ihrer besonderen Form erfasst und be-
steuert werden. Das Steuerkapital ist hier für den Grund-
und Gebäudebesitz nicht der Ertrag, sondern der Werth
des Ackers, des Waldes, des Gebäudes selbst. Desgleichen
wird die Gebäudesteuer nicht nach einem künstlich be-
rechneten Ertrag des Betriebes, sondern nach dem mittleren
Jahreswerthe des Betriebskapitales, also des im Erwerbe
angelegten Vermögens eingehoben. Die Steuer beträgt
z. B. für Waldbesitz 10 Pf. für 100 M. Steuerkapital, d. h.
ermittelten Vermögenswerth des Waldes, für die übrigen
liegenden Vermögensobjekte bezw. für gewerbliches Be-
triebskapital 18,5 Pf. für dieselbe Einheit. Bei der Kapital-
rentensteuer geht die Ermittlung nicht unmittelbar auf den
Vermögenswerth — der gerade hier bekanntlich äusserst
schwierig festzustellen ist — , sondern auf den jährlichen
Rentenertrag, der durch Selbsteinschätzung bekannt ge-,
geben wird. Dieser wird dann für die Steuerhebung ver-
vielfacht und zwar in den meisten Fällen mit zwanzig, bei
gewissen Bezügen: Leibrenten, Wittwen- und Waisen-
benefizien mit acht bezw. vier und von dem so künstlich
gebildeten Vermögenswerth werden dann pro 100 M. 11 Pt.
eingehoben. Man sieht leicht, wie sehr es dadurch möglich
ist, in der Form der Vermögenssteuer Individualisirungen
eintreten zu lassen und wie der Verschiedenartigkeit der
Formen, in welchen der Vermögenswerth auftritt, durch
die Beibehaltung verschiedener Steuerarten in natürlicher
Weise Rechnung getragen wird. Die Werthe landwirth-
schaftlichen Grund und Bodens ändern sich in längeren
Perioden, hier ist eine alle paar Jahre vor sich gehende
Feststellung nicht nöthig. Die Häuserwerthe ändern sich
rascher, hier wird man daher öftere Katastrirungen vor-
nehmen müssen. Die gewerblichen Vermögen, wie die
Kapitalrenten abwerfenden Vermögen sind dem stärksten,
oft einem jähen Wechsel unterworfen, sie werden daher
auch in jedem Jahre von Neuem aufgenommen. Dieses
badische Steuersystem mit der gesonderten Besteuerung der
Hauptkategorien des Vermögens, die dann alle von der all-
gemeinen Einkommensteuer nochmals umklammert und in
ihrer einkommenbildenden Kraft getroffen sind, stellt
meiner Ueberzeugung nach die beste Organisation der
direkten Steuern dar, die dem Stande unserer Steuer-
technik und staatsbürgerlichen Erziehung entspricht.1)
Eine eingehendere Darstellung des badischen Steuer-
systems und die Erörterung einzelner Fragen über die
Stellung der erwähnten gesonderten Steuern zu dem Ge-
danken der Vermögensbesteuerung muss hier unterbleiben.2)
Nur das Eine möchte ich noch hervorheben, dass auch für
eine Regelung des Kommunalsteuerwesens in der Weise,
b Dass eine gewisse Arten und Grössen des Gebrauchs-
vermögens treffende Besitzsteuer noch hinzugefügt werden
könnte, habe ich schon hervorgehoben. Sie würde aber bei dem
mittleren Wohlstände Badens keine grosse Rolle spielen.
2) Eine eingehende Darstellung des badischen Steuer-
systems findet man in meinem Buche „Der badische Staatshaus-
halt in den Jahren 1868—1889“. Freiburg 1889, insbesondere
S. 187 ft. und 236 ff.
dass dieses sich wesentlich oder vielleicht auch ausschliess-
lich auf die Realsteuern stütze, die badische Ordnung dem
Steuern durchaus ausreicht. Ein Vergleich zwischen den
Gemeindeabgaben in Preussen und Baden mag dies in
Kürze darthun.1)
V on dem Gesammtbetrage der Gemeindeabgaben ent-
fallen auf:
die Zuschläge
in Preussen
M.
% der
Summe
in Baden
M.
% der
Summe
zur Staats-, Grund- und
Gebäudesteuer . . .
32 705 000
28,3
8 21 1 000
65,5
zur Gewerbesteuer . . .
2 570 000
2,2
1 878 000
15,1
zur Einkommensteuer .
80 074 000
69,5
2 429 000
19,4
Summa . . .
115 349 000
12 518 000
Wie diese Uebersicht zeigt, tragen Grund und Boden
und Gebäude in Baden gerade in demselben Verhältnisse
die direkten Gemeindeabgaben, wie in Preussen das Ein-
kommen. Und diese Umkehrung ist es ja, die man in
Preussen wünscht. Führe man daher doch das badische
System daselbst ein! Durch die Umwandlung der Grund-,
Gebäude- und Gewerbesteuern aus unzulänglichen Ertrags-
steuern in Vermögenssteuern, durch Eingliederung einer
Kapitalrentensteuer in das direkte Steuersystem werden die
beiden Ziele der Steuerreform, der sozialpolitische der Er-
gänzungsbesteuerung des fundirten Einkommens und der
finanzpolitische der zweckmässigen Trennung zwischen
staatlichen und kommunalen Lasten mit einem Schlage er-
reicht werden können. Der Staat behielte die Steuer-
quellen in der Hand, könnte aber auf eine weitgehende
Ausnützung der Besteuerung der realen Objekte zu Gunsten
der Gemeinden verzichten; für die ergänzende Vermögens-
besteuerung wären statt unzureichender allgemeiner Ein-
schätzungen oder unzuverlässiger Selbstbekenntnisse sichere
katastrale Grundlagen vorhanden; diese Steuer könnte der
Art der Vermögensobjekte nach individualisirt werden und
endlich wäre statt der zweifachen Arbeit der Steuerver-
waltung — Vermögensfeststellung im Staate, Feststellung
der Grundlagen der Realbesteuerung in den Gemeinden -
für Staat und Gemeinden das gleiche Substrat benützbar.
Dass die Gemeinden den wesentlichen Theil ihrer direkten
Steuereinnahmen durch eine Vermögenssteuer decken sollen,
wird wohl Niemanden erschrecken, da es ja klar ist, dass
diese Steuer wohl nach dem Vermögen — hier nach den
Liegenschaften und Gebäuden — bemessen, aber doch aus
dem Einkommen gezahlt würde.
Freiburg i. B. Eugen v. Philippovich.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Der Fall Dankwardt und die preussische Agrarpolitik.
Die Agrargeschichte des nördlichen Deutschland und
die Agrarpolitik der preussischen Könige ist in den letzten
Jahren Gegenstand eingehender wissenschaftlicher For-
schung gewesen. Die Resultate derselben sind naturgemäss
nur langsam in weitere Kreise gedrungen, aber sie haben
nun mit einem Mal durch die Debatten des Abgeordneten-
hauses vom 7. und 27. April ein aktuelles Interesse ge-
wonnen, und dies giebt den Anlass, sie auch hier zur
Sprache zu bringen. Zunächst ist die sogenannte „Bauern-
1 i Die Angaben für Preussen sind dem Statistischen Hand-
buch für den preussischen Staat Bd. I entnommen und beziehen
sich auf die Jahre 1883/84, die für Baden giebt das Statistische
Jahrbuch 1889 und sie entsprechen dem Voranschlag für 1890.
238
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 19.
befreiung“, d. h. die Aufhebung der Erbunterthänkeit und
die Verwandlung' des mit ihr so vieliach verbundenen
„lassitischen“ Besitzrechtes, d. h. eines beschränkten theils
erblichen, theils unerblichen Nutzungsrechtes an frem-
dem Grund und Boden, in Eigenthum — die sogenannte
„Regulirung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse“ —
unparteiisch nach den Akten dargestellt worden, wodurch
die bisherigen Ansichten über diese That der preussischen
Könige vielfache Berichtigung erfuhren.1) Es hat sich zu-
nächst gezeigt, welch’ grosse Bedeutung dem von F riedrich
dem Grossen durchgeführten „Bauernschutz“ zukommt,
d. h. dem gesetzlichen Verbot des Einziehens der Bauern-
stellen ohne Schutz des jeweiligen Besitzers. Dagegen
zeigte sich weiterhin zur Evidenz, dass die vielgerühmte
Stein-Hardenbergische Gesetzgebung diesen Ruhm nur zum
Theil verdient, da sie die Eigenthumsverleihung nur für
einen Theil der lassitischen Bauern, die katastrirten und
spannfähigen durchgeführt hat und auch hier nur gegen
Landabtretung, so dass sie schon dadurch selbst die weitere
Vergrösserung der herrschaftlichen Güter bewirkte, wäh-
rend sie durch die theilweise Aulhebung des Bauern-
schutzes die grosse Masse der nicht spannfähigen, also
der kleinen lassitischen Bauern den Gutsherren preisgab,
welche damals eben für die vergrösserten Güter mehr
Arbeitskräfte nöthig hatten und dieselben daher zum
grössten Theil in besitzlose Taglöhner verwandelten. Die
abschliessende Gesetzgebung von 1850, welche diese Lücken
ausfüllen sollte und auch die nicht spannfähigen und nicht
katastrirten Bauern für regulirbar erklärte, fand daher nur
noch einen kleinen Theil derselben vor.
So hat die preussische Bauernbefreiung in Folge der
1811 und namentlich 1816 bewiesenen Schwäche gegen die
gutsherrlichen Interessen ihre Aufgabe nur zum Theil ge-
löst. Es lag nahe, dass nach dieser Erkenntniss Unter-
schätzung an die Stelle der bisherigen Ueberschätzung
treten würde. Davor bewahrt jedoch die Betrachtung
eines heute preussischen Landestheils, welcher in Folge
seiner politischen Geschichte bei einer gleichen geschicht-
lichen Entwickelung der geschilderten preussischen Bauern-
befreiung nicht theilhaftig geworden ist. Es ist dies das
heutige Neuvorpommern und Rügen, das bekanntlich bis
1815 schwedisch war. Die Geschichte des Bauernstandes
in diesem Lande zeigt, wohin es auch in den älteren
Theilen Preussens ohne die Agrarpolitik seiner Könige ge-
kommen wäreA)
Hier war in Folge der Schwäche der schwedischen
Regierung — abgesehen von den Domänen und den so-
genannten Tertialgütern kein Bauernschutz zur Durch-
o ö
führung gekommen, vielmehr war durch die pommersche
Bauernordnung von 1616, welche allerdings auf einen
Theil des Landes, das frühere Herzogthum Pommern-
Wolgast von der schwedischen Regierung nur irrthümlich
und aus Versehen ausgedehnt wurde, das „Bauernlegen“,
das Einziehen der Bauernstellen ausdrücklich gestattet und
so hier gerade in dem Zeitraum der Umgestaltung der
landwirthschaftlichen Technik in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts, welche zum Bauernlegen antrieb, der
Bauernstand den Gutsherren preisgegeben, während in
Preussen gerade damals der Bauernschutz einsetzte. So
begann hier damals ein systematisches Bauernlegen nament-
lich auf den Gütern der Städte und Korporationen, später
des Adels, zum Zweck der Steigerung des Ertrags aus dem
Grund und Boden. Ein anderer Theil der lassitischen
Bauern wurde zu demselben Zweck in Zeitpächter ver-
wandelt. Die noch zu schwedischer Zeit erfolgte Auf-
hebung der Leibeigenschaft ohne gleichzeitige Regelung
der Besitzverhältnisse gab diesem Prozess einen weiteren
Anstoss. So waren die lassitischen Besitzverhältnisse, als
das Land an Preussen kam, schon sehr zusammengeschmol-
zen; aber doch hätte ein Eingreifen damals noch viel ge-
x) Vgl. Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung
der Landarbeiter in den älteren Theilen Preussens. Leipzig, 1887.
2) Vgl Fuchs, Der Untergang des Bauernstandes und das
Aufkommen der Gutsherrschalten, nach archivalischen Quellen
aus Neuvorpommern und Rügen. Strassburg, 1888.
rettet. Freilich fehlte hier meist das rechtliche Fundament
der Stein - Hardenbergischen Gesetzgebung, der Bauern-
schutz, aber theilweise war er doch auch da, und dann
zeigt das Beispiel Posens, wo die Regulirung sogar sehr
streng durchgeführt wurde, dass man darin unter anderen
Umständen kein Flinderniss erblickte. Aber hier wurde
von der damals gegen die Interessen deutscher Guts-
herren sehr schwachen Regierung kein solcher Versuch
gemacht.
So ging das Bauernlegen ungestört weiter bis zum
Jahr 1850 und als man nunmehr auch diese Lücke der
früheren Gesetzgebung nachträglich auszufüllen gedachte,
da berichtete die königl. Regierung zu Stralsund, dass es
in Neuvorpommern und Rügen überhaupt keine lassitischen
Besitzrechte mehr gebe. Und so kam es, dass von dem
Gesetz vom 2. März 1850 der III. Abschnitt, betr. die Re-
gulirung der gutsherrlich - bäuerlichen Verhältnisse auf
Schwediseh-Pommern nicht ausgedehnt wurde.
Nach einiger Zeit aber zeigte sich, dass dieser Be-
richt falsch gewesen war, ob bona oder mala fide wissen
wir nicht und ist heute auch gleichgiltig. Es stellte sich
nämlich Ende der 50 er Jahre heraus, dass doch noch eine
Anzahl Lassiten in Neuvorpommern und Rügen vorhanden
waren, auf welche die Voraussetzungen des Abschnitts III
des Gesetzes von 1850 anwendbar gewesen wären. Nach-
dem sich ein Theil von diesen, die 35 Bauern der Insel
Ummanz und die beiden Kossäthen Dober und Dank-
wardt zu Mönkwitz auf Rügen, mit Petitionen an das
Abgeordnetenhaus gewandt hatten, brachte die Regierung
trotz des Widerstands des Landwirthschaftsministers Grafen
Plickler einen Gesetzentwurf zur Ausdehnung des Gesetzes
von 1850 ein. Das Abgeordnetenhaus nahm denselben an,
das Herrenhaus beschloss, zuerst das Gutachten des pom-
merschen Provinziallandtags einzuholen, und lehnte ein :
gleichzeitig eingebrachtes Sistirungsgesetz zur Erhaltung
der noch bestehenden Stellen ab. Der Provinziallandtag' ,
sprach sich in seinem Gutachten vom 20. August 1861 gegen .
die Ausdehnung aus, und daraufhin liess die Regierung
dieselbe fallen.
Inzwischen aber hatte die Gutsherrschaft der Um-
manzer Bauern, das Heiliggeistkloster zu Stralsund, sich
beeilt, das Rechtsverhältniss derselben in reine Zeitpacht
ohne alle Merkmale lassitischen Besitzes zu verwandeln,
und beim Ablauf der ersten reinen Zeitpachtkontrakte 24 ‘
derselben, die noch auf ihr früheres besseres Besitzrecht
sich beriefen, gewaltsam exmittirt. So glaubte ich mich ;
1888 zu der Annahme berechtigt, dass heute keine Reste
lassitischen Besitzes mehr vorhanden seien.
Aber dem war nicht so. An den Rechtsverhältnissen
der beiden Kossäthen zu Mönkwitz hatte sich nichts ge-
ändert, und der eine von diesen, August Dankwardt, ver-
suchte nun Ende 1889 noch einmal durch eine Petition an
beide Häuser des Landtags, die nachträgliche Ausdehnung
von Abschnitt III des Gesetzes von 1850 zu erlangen. Die
Petition wurde im Herrenhaus durch Uebergang zur Tages-
ordnung erledigt, vom Abgeordnetenhaus aber der Re-
gierung zur Berücksichtigung überwiesen. Hierauf wurden
durch die Generalkommission Ermittelungen über die Be-
dürfnissfrage angestellt, welche ergaben, dass ausser den
beiden Stellen zu Mönkwitz doch noch eine kleine Anzahl
anderer vorhanden seien, bei welchen die Besitzverhältnisse
zweifelhaft und möglicherweise auch Regulirbarkeit vor-
handen sei.
Inzwischen hatten auch die früheren Ummanzer
Bauern Bliese und Genossen wieder eine Petition an den
Landtag gerichtet und Dankwardt sich auch noch mit einer
Immediatvorstellung an den König gewandt. Diese hatte
zur Folge, dass Anfang dieses Jahres der pommersche
Provinziallandtag, an dessen Widerstand die Ausdehnung
1861 gescheitert war, aufs Neue darüber befragt wurde.
Diesmal sprach sich derselbe nun aber mit grosser Ma-
jorität für die Ausdehnung aus, nachdem nur der Rechts-
anwalt der Gutsherrschaft des Dankwardt, v. Esbeck-Platen
und ein Herr v. Koller dagegen gesprochen hatten, wäh-
rend die beiden Referenten, Stadtsyndikus Dr. Schultze
No. 19.
SOZIA I.I'OI TUSCHES CENTRALBI .ATT.
239
und Justizraih v. Vahl aus Greifswald, unbedingt dafür ein-
getreten waren, mit der richtigen Motivirung dass es sich
bei Ausdehnung des Regulirungsgesetzes auf Neuvorpom-
mern und Rügen ja gar nicht um Entscheidung der ein-
zelnen streitigen Fälle handele, welche der Generalkommis-
sion obliegen werden, sondern nur darum, den betreffenden
Leuten endlich einmal diesen Rechtsweg zur Klarstellung
ihrer zweifelhaften Besitzverhältnisse zu eröffnen.
Um die Tragik seines Schicksals voll zu machen, ist
acht Tage vor diesem Beschluss August Dankwardt, der
unermüdliche Kämpfer für sein Recht, im Alter von
82 Jahren gestorben, und daraufhin hat die Gutsherrschaft,
da es sich hier nur um lebenslänglichen, nicht um erb-
lichen Lassbesitz handelt, obwohl der Hof thatsächlich fast
2 Jahrhunderte im Besitz der Familie Dankwardt war, sofort
den Sohn aufgefordert, den Hof bis zum I. Juli d. J. zu
räumen.
Nun wäre es wohl an der Regierung gewesen, einen
entsprechenden Gesetzentwurf wieder vorzulegen. Da sie
es nicht that, erwarben sich die freisinnigen Abgeordneten
Neukirch und Drawe das Verdienst, einen solchen einzu-
bringen, nebst dem eines Sistirungsgesetzes zur Erhaltung
der Dankwardt’schen Stelle. In der ersten am 7. April statt-
gefundenen Lesung der beiden Entwürfe, welche sich eng
an die von 1861 anschliessen, wurden von dem Abgeordneten
v. Rauchhaupt Bedenken geltend gemacht gegen § 3, wel-
cher ebenso wie das Gesetz von 1861 den früheren lassi-
tischen Bauern von Lhumanz ein Vorzugsrecht auf Eigen-
thumsverleihung an den Stellen gegenüber den jetzigen
Pächtern verleihen würde — nach so langer Zeit in der
That vielleicht nicht ohne Bedenken. Sehr eigenthümlich
aber war das Verhalten des Landwirthschaftsministers, der,
nur in seinem Namen sprechend, zwar die Nothwendigkeit
betonte, eventuell auch nur für einen Mann das Gesetz zu
erlassen, aber dieses Bedtirfniss bezweifelte und über die
Verhandlungen des Provinziallandtags merkwürdig schlecht
unterrichtet war. In der zweiten Lesung des Sistirungs-
gesetzes am 27. April sprach sich derselbe jedoch namens
der Staatsregierung wesentlich anders aus, verlangte zwar
Verweisung auch dieses Gesetzes an die Justizkommission,
verhiess aber thunlichste Beschleunigung und Unterstützung
der Sache durch die Regierung. Die Justizkommission be-
rieth noch an demselben Abend über beide Gesetze und
nahm sie mit kleineren Verbesserungen an und es ist
dringend zu wünschen, dass dies nun auch durch das Ab-
geordnetenhaus und durch das Herrenhaus rechtzeitig und
ohne weitere Schwierigkeiten geschieht.
Wenn wir die geschilderte Entwicklung des „Falls
Dankw'ardt“ betrachten, so bildet sie allerdings eine traurige
Kette von Missgriffen und Versäumnissen seitens der Re-
gierung wie seitens des Parlaments; und daraus ergiebt
sich für beide gleichmässig die Verpflichtung, die leidige
Angelegenheit so rasch und glatt wie möglich aus der
Welt zu schaffen und die früheren Fehler, wenigstens so-
weit es noch angeht, gutzumachen.
Dagegen ist es auf der anderen Seite meines Er-
achtens durchaus miissig, heute darüber zu streiten, wem
die Hauptschuld an den früheren Fehlgriffen zuzuschreiben
ist, und unangebracht, diese Angelegenheit zu einer Prin-
zipienfrage aufzubauschen. Wer damals die Haupt-
schuld trug, ist heute nicht mehr mit Sicherheit festzu-
stellen. So war bei der Ablehnung des Ausdehnungs-
gesetzes von 1861 durch den Provinziallandtag offenbar die
Stadt Stralsund wegen ihrer Ummanzer Bauern am meisten
interessirt, das ablehnende Gutachten wurde von dem da-
maligen Bürgermeister von Greifswald ausgearbeitet. Es
ist ja bekannt, wie überhaupt in diesem Landestheil die
Städte und Korporationen — so namentlich auch die Uni-
versität Greifswald — in der Ausbeutung ihrer unter-
thänigen Bauern wie im Bauernlegen den adligen Gutsherr-
schaften nicht nachgestanden haben, sondern vielfach voran-
gegangen sind. Also lassen wir die Todten ruhen! Heute
besteht auch auf agrarischer Seite der gute Wille, das
früher Versäumte soweit möglich nachzuholen, und es ist
| am wenigsten im Interesse der Nächstbetheiligten selbst
gelegen, wenn dieser gute Wille durch eine unangebrachte
Polemik beeinträchtigt wird. Phrasen, wie „ein Stück
Mittelalter in Deutschland“, sind im Hinblicke auf die prak-
tische Bedeutung der Angelegenheit lächerlich, um so
lächerlicher, wenn man weiss, dass die fraglichen Zu-
stände gar nicht aus dem Mittelalter, sondern aus viel spä-
terer Zeit stammen.
Die ganze Angelegenheit ist, im Provinziallandtag
wurde dies mit Recht betont, keine Parteifrage, sondern
eine Frage der Gerechtigkeit. Die Ausdehnung der Regu-
lirung auf Neuvorpommern und Rügen ist, wie ich schon
vor vier Jahren schrieb, einfach eine Forderung der Ge-
rechtigkeit, der Konsequenz, der staatlichen Würde.
Greifswald. Carl Johannes Fuchs.
Die Errichtung von Rentengütern in Ost-, Westpreussen
und Posen. Der Reichsanzeiger veröffentlicht einen Bericht der
für die Provinzen Ost-, Westpreussen und Posen zuständigen
Generalkommission über die Errichtung von Rentengütern in
diesen drei Provinzen. Mit den Rentengütern wird bekanntlich
ein doppelter Zweck verfolgt: die Förderung der Germanisirung
polnischer Landestheile und die Probe darauf, ob sich die Wieder-
einführung eines Erbpachtsystems, das durch das Gesetz vom
2. März 1850 für unzulässig erklärt wurde, empfehle. Ferner
sollten durch das Gesetz mit der Sesshaftmachung landwirth-
schaftlicher Arbeiter Versuche gemacht werden und die Neu-
bildung eines Bauernstandes in den Gebieten des Grossgrund-
besitzes angebahnt werden.
Dabei war stets die Absicht, nur Güter von polnischen
Besitzern anzukaufen, bezw. solche, welche durch Verkauf in
polnische Hände übergehen könnten; dieselben sollten aber nur
an Deutsche in Form von Rentengütern übergehen können.
Aus dem Reichsanzeiger ersehen wir, dass che Nachfrage
nach Rentengütern relativ sehr gross war, relativ freilich nur
in Hinsicht auf die Möglichkeit der Befriedigung der Wünsche,
nicht aber mit Rücksicht auf die national-populationistischen
Ziele des Gesetzes.
Es sind Anträge auf Errichtung von Rentengütern gestellt
worden :
in in in Summa
Ostpreussen Westpreussen Posen
A. bis zum Schlüsse des Jahres 1891:
105 92 64 261
B. im Jahre 1892 bis einschliesslich 15. März:
97 57 46_ 200
zusammen 202 149 110 461.
Die Grundstücke, welche zufolge dieser Anträge zu Renten-
gütern eingerichtet werden sollen, umfassen und zwar:
1. soweit die Anträge im Jahre 1891 gestellt
sind 57 883 ha
2 soweit solche im Jahre 1892 bis 15. März
gestellt sind ■ ■ ■ 31 576 ha
Summa . . 89 459 ha
Das Verfahren auf Errichtung von Rentengütern zufolge
vorstehender Anträge hat bisher in den nachstehend angegebenen
Fällen nicht eingeleitet werden können, weil zunächst die Noth-
wendigkeit der Vervollständigung der Anträge vorlag:
in Ostpreussen in Westpreussen in Posen
Anträge Fläche Anträge Fläche Anträge Fläche
1. bez. der im Jahre 1891 gestellten Anträge:
45 9 718 ha 22 2 744 ha 18 2 554 ha
2. bez. der Anträge aus dem Jahre 1892:
33 3 092 ha 21 " 2 721 ha~ 14 2 162 ha
"Sa. 78 " 12 810 ha ~ 43 5 495 ha 32 4 716 ha.
Dagegen ist der Auftrag zur Einleitung des Verfahrens
den Spezialkommissaren ertheilt worden:
in Ostpreussen in Westpreussen in Posen
Anträge Fläche Anträge Fläche Anträge Fläche
1. bez. der Anträge aus 1891:
60 9 539 ha 70 22 755 ha 46 10 543 ha
2. bez. der Anträge aus 1892:
64 7 683 ha 36 8 058 ha 32 7 860 ha
" Sa. 124 17 222 ha ~K)6 30 813 ha 78 18 403 ha.
Nach den Anträgen der betheiligten Gutsbesitzer, soweit
solche nach eingeleitetem Verfahren nicht inzwischen zurück-
genommen oder das Verfahren aus anderen Gründen hat ein-
gestellt werden müssen, sollen zu Rentengütern eingerichtet
werden:
I. in der Provinz Ostpreussen:
ganze Güter Theile von Gütern
Reg. -Bez. Königsberg ... 52 35
„ Gumbinnen . ._ . 26 12
Summa .
78
240
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 19.
Reg.-Bez. Danzig . . .
,, Marienwerder
II. in der Provinz Westpreussen:
Ganze Güter Theile von Gütern
19 23
51 22
Summa . . 70
III. in der Provinz Posen:
45
26
21
Reg.-Bez. Posen 11
„ Bromberg . - ■ ■ 24
Summa . . 35 47.
Das Bedürfniss und Bestreben der Grundbesitzer, ihren
gesammten Grundbesitz zu Rentengütern einzurichten, ist hier-
nach verhältnissmässig am dringendsten in dem Regierungs-
bezirk Königsberg — hier in den Kreisen Wehlau (11:3) und
Labiau (16:2), — Im Regierungsbezirk Gumbinnen — hier in' den
Kreisen Goldap (4:1), Lötzen (5:0) und Lyck (4:0) — und im
Regierungsbezirk Marienwerder — hier in den Kreisen Stuhm
(7:1), Strasburg (6:2), Marienwerder (6:1) und Graudenz (5:0)
hervorgetreten.
Bei der überaus grossen Anzahl der Anträge hat in den
eingeleiteten Sachen das Verfahren mit Rücksicht auf das zur
Verfügung stehende Beamtenpersonal sowie darauf, dass die
erst kurze Geltungsdauer des Gesetzes in die zur Ausführung
von Messungsarbeiten nicht geeignete Jahreszeit fällt, nur in
einer verhältnissmässig geringen Anzahl wesentlich gefördert
werden können; es sind aber immerhin schon erfreuliche Resul-
tate erzielt.
Die örtliche Eintheilung der Grundstücke in Rentengüter
ist nämlich ausgeführt:
I. Provinz Ostpreussen:
Ganze
Güter:
Reg.-Bez. Königsberg .... 2 mit 45 ha
"" „ Gumbinnen .... —
II. Provinz Westpreussen:
Reg.-Bez. Danzig 3 mit 1198 ha
„ Marienwerder . . . 6 „ 2198 „
III. Provinz Posen:
Reg.-Bez. Posen 3 mit 607 ha 3 mit 688 ha
Bromberg .... 2 „ 443 „ —
Theile
von Gütern:
3 mit 389 ha
1 „ 56 „
5
3
mit 79 1 ha
„ 335 „
16 mit 4491 ha 15 mit 2259 ha
im ganzen 31 Sachen mit 6750 ha.
Mit der Eintheilung hat dagegen bisher noch nicht be-
gonnen werden können:
in 119 in der Provinz Ostpreussen anhängigen Sachen,
in 98 in der Provinz Westpreussen anhängigen Sachen,
in 74 in der Provinz Posen anhängigen Sachen.
An Bewerbern um Rentengüter aus den einzelnen Pro-
vinzen haben sich bei der Generalkommission gemeldet:
A. aus Ostpreussen: 1140 und zwar die grösste Anzahl aus
den Kreisen Orteisburg (202), Johannisburg (178), Lyck (175),
Sensburg (142), Allenstein (106).
B. aus Westpreussen: 33 und zwar der grösste Theil aus
dem Kreise Scblochau (11).
C. aus Posen: 56 und zwar der grösste Theil aus dem
Kreise Inowrazlaw (24).
Zur Frage des Wasserrechts. Der Deutsche Bund
für Bodenbesitzreform hat an den preussischen Landwirth-
schaftsminister eine Petition (datirt vom 25. April) betreffs
Neuregelung des Wasserrechts gerichtet. Die Petition
wünscht, dass in Anbetracht der hohen Bedeutung; welche
die Wasserläufe durch die Fortschritte der Electrotechnik
für die Industrie, sowohl im Klein- wie im Grossbetriebe
erlangt haben, bei der bevorstehenden Berathung über eine
Neuregelung des Wasserrechtes in Erwägung gezogen
werde, ob es sich nicht empfiehlt, die genannten Wasser-
läufe in den Besitz des Reiches oder doch wenigstens der
Einzelstaaten zu nehmen, um auf diese Weise eine möglichst
rationelle Ausbeutung derselben zu ermöglichen und den
durch die Fortschritte der Technik gewonnenen Zuwachs
des Nationalreichthums nicht einzelnen zufälligen Besitzern
oder ohnehin kapitalkräftigen Personen, sondern der Ge-
sammtheit der Nation zu Gute kommen zu lassen.“ Den
begründenden Ausführungen ist das Frageschema des
Schweizer Bundesrath an die Cantonsregieruimen bezüglich
des nämlichen Gegenstandes (vergl. Sozialpolitisches Cen-
tralblatt No. 16) beigefügt. Gleichlautende Petitionen sollen
den parlamentarischen Körperschaften zugehen.
Der berliner Centralverein für Arbeitsnachweis hat seinen
Geschäftsbericht für 1891 herausgegeben. Nach demselben zählt
der Verein jetzt 520 Mitglieder; bei einer Einnahme von rund
25 400 M. und einer Ausgabe von 22 800 M betrug der Kassen-
bestand am Jahresschlüsse ca. 8000 M. Die dem Verein zuge-
wandten Geschenke belaufen sich auf über 16 000 M. Was die
Zahl der besetzten Stellen betrifft, so ist ein Aufschwung des
Unternehmens zu verzeichnen: von 13 459 Stellensuchenden er-
hielten bei 8011 gemeldeten Vakanzen 7376 Personen Arbeit.
Fast die Hälfte der Leute bestand aus ungelernten Arbeitern;
das grösste Kontingent stellten junge Leute im Alter von 16 bis
20 Jahren, nach ihnen solche von 21—25 und dann von 26 bis
30 Jahren. Der Versuch, Arbeiter nach ausserhalb zu senden,
ist als wohlgelungen zu betrachten. Interessant ist die Fest-
stellung, dass von 25 nach auswärts gesandten Arbeitern nur
zwei in Berlin eine Wohnung hatten: 17 nächtigten im Asyl für
Obdachlose und 6 waren an demselben Tage zugereist. Das
scheint darauf hinzudeuten, dass die Bestrebungen nach Unter-
bringung in auswärtige Arbeitsstellen nur bei solchen Arbeitern
Erfolg haben werden, welche in Berlin noch nicht heimisch ge-
worden sind. Auch der seit Juni v. J. eingerichtete Arbeits-
nachweis für weibliche Personen weist erfreuliche Resultate auf,
von 888 sich Meldenden sind 596 junge Mädchen in Stellungen
gebracht worden. Ein grosser Prozentsatz derselben trat in
Buchdruckereien ein, nachdem der Bund der Buchdruckereibe-
sitzer ein dahingehendes Abkommen mit dem Arbeitsnachweise
getroffen hatte. In gleicher Weise haben sich auch die „Wärme-
hallen“ bewährt, von denen am meisten die Centralwärmehalle
am Alexanderplatz frequentirt wurde. Um den Ueberschuss an
Arbeitskräften von Berlin abzulenken, beabsichtigt der Verein
eine Verbindung mit den Arbeitsnachweisen in der Provinz.
Arbeitsnachweis in Freiburg i. B. In Freiburg i. B.
haben 14 Vereine, an deren Spitze der Gewerbeverein steht,
(Arbeiterbildungsverein , Frauenverein, Kaufmännischer
Verein u. s. w.) unter Mitwirkung der Stadt ein Bureau
für allgemeinen Arbeitsnachweis in’s Leben gerufen, das
in den nächsten Tagen seine Thätigkeit beginnt. Vorerst
in beschränkten Räumen untergebracht, steht ein besseres
Lokal durch Vermittelung der Stadtverwaltung in Aussicht
und man hat zur Leitung eine tüchtige Kraft gewonnen.
Man erhofft von dieser Einrichtung einen günstigen
Erfolg für die arbeitende Klasse und zwar um so mehr
als man Verbindungen mit den ähnlichen und gleichen
Veranstaltungen in Basel, Mülhausen, Kolmar, Strassburg,
Karlsruhe und Stuttgart angeknüpft hat und voraussichtlich
die anderen grösseren Städte im Südwesten des Reiches
auch bald solche Bureaus in’s Leben rufen dürften. Einigen
sich diese Arbeitsnachweisebureaus zu einem Verbände, so
dürfte derselbe dem Sozialpolitiker und dem Statistiker, der
sich mit Arbeiterstatistik befasst, bald brauchbares Material
beibringen und namentlich ein Bild gewähren, wie es im
Südwesten des deutschen Reiches hinsichtlich der Arbeiter-
reservearmee aussieht.
Vergebung von Staatsarbeiten in der Schweiz. Die
Abtheilung Bekleidungswesen des eidgenössischen Kriegs-
kommissariats schreibt die Lieferung von 200 000 Beutelchen
für die „eiserne Ration“ aus. In der Konkurrenzausschrei-
bung sind folgende Punkte bemerkenswerth: Die Arbeit
wird nur direkt an Arbeiterinnen und solche Lieferanten
vergeben, die Garantie dafür bieten, dass die Arbeiter ent-
sprechend bezahlt werden. Werthvoller als die eventuelle
direkte Vergebung an die Arbeiterinnen ist die gewünschte
Garantie der entsprechenden Bezahlung der Arbeiter, da wohl
auch nur ausnahmsweise einzelne Arbeiterinnen in der Lage
sein werden, „die Stoffe und Zuthaten selbst zu liefern“. So
wenig vorerst diese Art der Konkurrenzausschreibung
praktischen Werth für die Arbeiterinnen haben mag, so
bedeutsam ist sie für die in letzter Zeit sich vollständig
ändernde sozialpolitische Auffassung staatlicher Verwal-
tungsstellen in der Schweiz.
Politische Arbeiterbewegung.
Die Maifeier.
Die Maifeier des Jahres 1892 unterschied sich von der
Feier im vorangegangenen Jahre durch die Gleichzeitig-
keit derselben in allen Ländern. Feierte das Gros der
deutschen und englischen Arbeiter im Gegensätze zu den
Arbeitern der anderen Länder im Jahre 1891 den 3. statt
des I.Mai, so fiel in diesem Jahre ganz abgesehen von den
Beschlüssen des internationalen Sozialistenkongresses_ zu
Brüssel die Maifeier durchaus einheitlich auf den 1. Mai, da
derselbe ein Sonntag war.
Der Zweck der Maifeier: die Bekundung gleicher
Ziele seitens der organisirten Arbeiter aller zivilisirten
No. 19.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
241
Länder wurde vollkommen erreicht. Aus allen europäi-
schen Staaten, von Russland und der Balkanhalbinsel ab-
gesehen, liegen Berichte über grossartige Manifestationen
(ier Arbeiter für die Forderungen des Achtstundentages
vor. Auch in den Vereinigten Staaten von Amerika im
Kapland und in Australien wurde entsprechend den Be-
schlüssen des Pariser Kongresses demonstrirt. Wenn aus
Russland keine Berichte über die Maifeier vorliegen, so
liegt dies an den dortigen staatlichen Verhältnissen, nicht
aber an der Abwesenheit einer Arbeiterbewegung. Erfuhr
man doch jüngst erst aus einer Abhandlung Paul Axelrods
in der „Neuen Zeit“, dass im vorigen Jahre auch von
Arbeitern in Russland die Maifeier begangen worden war.
Ebenso wurde im vorigen Jahre in Russisch-Polen seitens
vieler Arbeiter durch Ruhenlassen der Arbeit am 1. Mai
bewiesen, dass die Ideen der sozialistischen Arbeiterbewe-
gung nicht an den russischen Grenzpfählen Halt gemacht
haben. Wenn die jährlich wiederkehrenden Maifeiern auch
kein neues Moment aufweisen, so sind sie doch als Zeug-
niss für die Stärke der Arbeiterbewegung beachtenswerth,
bedeutsam durch die Gleichartigkeit der Forderungen und
vor Allem durch den Beweis des Einflusses der inter-
nationalen Arbeiterkongresse auf die Arbeitermassen in
allen Ländern.
Wenn auch nicht für den Kenner der Bewegung, so
doch für diejenigen, welche sich ausschliesslich aus geg-
nerischen Urtheilen über die sozialistische Arbeiterbewegung
unterrichten, war die entschiedene Stellungnahme der
Sozialisten gegen den Anarchismus beachtenswerth. Die
Grundprinzipien, die Taktik, die Ziele des Sozialismus
sind, wie mit Recht auf vielen Versammlungen am 1. Mai
betont wurde, grundverschieden von jenem, es giebt keine
Gemeinsamkeit dieser Parteien. Dies sollte, da Selbsttäu-
schung das stärkste Hinderniss richtigen politischen Handelns
ist, von den herrschenden Klassen anerkannt werden, wenn
auch aus keinem anderen Grunde, als weil die Sozialdemo-
kratie nur desto grössere Siegeszuversicht gewinnen muss,
je deutlicher sie erkennt, dass ihre Gegner sich über die
inneren Verhältnisse und die Gedankenrichtungen der Ar-
beiterpartei aufs Gröblichste täuschen.
Ist die Maifeier auch kein statistischer Massstab für
die Verbreitung und Intensität der sozialistischen Arbeiter-
bewegung, so ist doch sicherlich aus der Gesammtheit der
Berichte zu schliessen, dass die Stärke der Arbeiterbewe-
gung in keiner Weise abgenommen hat. Berücksichtigt
man die ungünstigen äusseren Verhältnisse der diesjährigen
Maifeier, die derselben vorangegangenen Dynamitatten-
tate, die Spaltungsbestrebungen innerhalb der deutschen,
deutsch -österreichischen, tschechischen und ungarischen
Arbeiterbewegung, das allerorts ungünstige Wetter und
die schwere Krisis, unter der keine Bevölkerungsschicht
mehr leidet, als die gewerblichen Arbeiter, so muss die
gleiche Stärke der Arbeiterdemonstration in diesem und
dem vorangegangenen Jahre den Schluss nahelegen, dass
die Entwicklung der Arbeiterbewegung gegen das voran-
gegangene Jahr eher Fortschritte als Rückschritte gemacht hat.
Noch immer scheint man sich nicht klar zu sein, dass
die Erkenntniss der Stärke dieser Bewegung eine der wich-
tigsten Vorbedingungen jeder planmässigen Politik in unseren
Tagen sein muss, welches auch das Ziel dieser Politik sein
mag. Vielfach suchte man diese Demonstration zu verhin-
dern und zu stören, so im deutschen Reiche durch Verbot
von Aufzügen, obgleich doch die Aufzüge, die stattfinden
konnten, in der grössten Ruhe und Ordnung vor sich gingen,
wie in Hamburg, wo die Theilnehmerzahl auf über 120 000,
wie in London, wo sie auf 500 000, und in Wien, wo sie
auf 80000 geschätzt wurde. Man kann doch nicht annehmen,
dass durch derartige Verbote die Arbeitermassen etwa über
ihre Stärke getäuscht werden können. Das Gegentheil Hesse
sich eher annehmen. In Deutschland wurden auch, so in
Sachsen, *Hn® der Umgebung Berlin’s und anderwärts am
1. Mai Tanzunterhaltungen untersagt. Da wir nicht anneh-
men wollen, dass man dadurch die Erbitterung der Arbeiter-
massen steigern wollte, glauben wir das Verbot so auslegen
zu dürfen, dass die betreffenden Behörden meinten, die
Arbeiter betheiligen sich nur wegen der mit der Demon-
stration verbundenen J LTnterhaltungen an derselben. Die
rosse Zahl der Theilnehmer an der Feier, auch dort, wo
er Tanz verboten war, werden die Behörden eines besseren
belehrt haben.
In Budapest verbot man- alle Versammlungen am
1 . Mai und auch sonst ging man in Massregelungen gegen
die Demonstration vor.
Bei Beurtheilung dieser polizeilichen Massnahmen darf
nicht ausser Auge gelassen werden, dass die Pariser Con-
gressbeschlüsse durchaus nicht revolutionärer Natur sind,
und ihre Durchführung in jedem Staatswesen möglich ist.
Würde man dies prinzipiell anerkennen, und kein staat-
liches Interesse steht dem im Wege, so würde die Maifeier
ihren ganzen Schrecken verlieren.
Uns erscheint die Maifeier als Beweis des Beharrens
der Arbeiter auf ihrer Forderung eines weitgehenden Ar-
beiterschutzes. Die stete Verbreitung dieser Idee sollte die
herrschenden Klassen dazu ermuntern, durch vernünftiges
Entgegenkommen die grosse soziale Bewegung in ruhigere
Bahnen zu drängen, statt durch polizeiliche Massregelungen
die Arbeitermassen zu verbittern und ihnen jede Hoffnung
auf eine Bessergestaltung ihrer Verhältnisse in der heutigen
Wirtschaftsordnung zu entziehen.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Der Stickereiverband der Ostschweiz und des Vorarl-
bergs. Am 1. Mai wurde eine Urabstimmung der Mitglieder
des Stickereiverbandes vorgenommen, in der über die Fort-
existenz dieser eigenartigsten Berufsorganisation der Gegenwart
abgestimmt werden sollte. 9 555 Mitglieder betheiligten sich an
der Abstimmung, von denen sich 6502 für die Aufrechterhaltung
der Organisation und bloss 3053 sich dagegen aussprachen,
die Majorität war besonders in der Ostschweiz sehr gross,
während im Vorarlberg sich die Maschinenbesitzer mit Drei-
viertelmehrheit für die Auflösung aussprachen.
Somit bleibt für einen bedeutenden Produktionszweig die
Möglichkeit gewahrt, die Produktion zu regeln, übermässige
Arbeitszeit zu verhindern, das Lehrlingswesen zu beschränken,
die Ausbeutung der Hausindustriellen durch die Faktore zu
verhindern, die Leistungen des die Industrie und die Lage der
Hausindustriellen befördernden Industriefonds fortdauern zu
lassen und die Arbeiter in der Hausindustrie zu Organismen-
Eine Auflösung des Stickereiverbandes hätte die Pro-
duktionsanarchie und damit bald, ganz abgesehen von den
vielen anderen sozialen Schäden, die äusserste Verschärfung, ja
vielleicht die Unheilbarkeit der Krisis herbeigeführt.
Kongress der französischen Eisenbahnarbeiter. In der
Osterwoche hielt der Verband der französischen Eisenbahn-
arbeiter und Angestellten, der über 30 000 Mitglieder zählt,
in der Pariser Arbeitsbörse einen Kongress ab, dessen
Sitzungen drei Tage in Anspruch nahmen. Einzelne Eisen-
bahnverwaltungen versagten den Delegirten den für die
Kongresszeit nöthigen Urlaub, wohl in der Hoffnung den
Kongress unmöglich zu machen. Dieses Vorgehen ist ein
Verstoss gegen aas Syndikatsgesetz vom 21. März 1884, das
den Arbeitern das Recht giebt, sowohl Gewerkschaften wie
Gewerkschaftsverbände zu bilden, denn wie sollten sie \ er-
bände bilden können, wenn die Delegirten der einzelnen
Gewerkschaften verhindert werden, zu einer Konferenz oder
einem Kongress zusammenzutreten? Allerdings sagten die
Verwaltungen nicht, dass sie den Kongress verhindern
wollen, sondern gaben als Grund der Urlaubsverweigeruno-
den grossem Verkehr während der Osterwoche an, obwohl
der Kongress erst am Donnerstag den 21. April, d. i. drei
Tage nach dem Osterfeste, begann. Nun abgesehen davon,
dass es für Jeden einleuchtend ist, dass der Dienst einer
Eisenbahngesellschaft nicht mehr darunter leiden kann,
wenn ein paar Mann einen Kongress besuchen als wenn
ein Dutzend oder mehr krank werden, wie dies ja so oft
der Fall ist, haben die Verwaltungen, indem sie den Urlaub
anderen Delegirten ertheilten, die ihn nicht des Kongresses
halber verlangt hatten, selbst den Beweis erbracht, dass ihr
angegebener Verweigerungsgrund nur ein Vorwand war,
um den Kongress unmöglich zu machen, was indessen ver-
eitelt wurde. Nichtsdestoweniger hat der Kongress mit
Recht gegen dieses Vorgehen protestirt und eine Dele-
gation an den Ministerpräsidenten entsendet, um gegen die
Verletzung des Syndikatsgesetzes Verwahrung emzulegen.
Von den auf dem Kongress behandelten Fragen, die
zum grossen Theil Statutenänderungen und sonstige innere
Angelegenheiten betrafen, wären für auswärtige Kreise nur
zwei hervorzuheben: 1. die betreffs einer Pensionskasse,
2. die betreffs der Eisenbahn-Konsumvereine. In Bezug
auf erstere Frage wurde , anschliessend an einen vom
Abgeordneten Maurice Faure vor Kurzem eingebrachten
242
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 19.
Gesetzentwurf, betreffend die Entlassung und Pensionirung
von Eisenbahnbediensteten, ein Entwurf zum Beschluss er-
hoben, wonach die Regierung im Verlaufe eines Jahres,
nachdem der Entwurf Gesetzeskraft erhalten, eine Verord-
nung zu erlassen hat, welche die Zeit bestimmt, die nie
ein Jahr übersteigen darf, binnen welcher ein Eisenbahn-
bediensteter fix angestellt werden muss, und die Gründe,
unter welchen dieselben entlassen oder in eine niedrigere
Klasse versetzt werden dürfen. Ob nun ein Angestellter
entlassen wird oder ob er freiwillig den Dienst verlässt,
soll er ein Anrecht auf eine im Verhältniss zu seinen
Dienstjahren berechnete Pension haben. Nach fünfund-
zwanzigjährigem, an einen bestimmten Ort gebundenen
Dienst soll jeder Angestellte, ohne Rücksicht auf sein Alter
und ohne Gehaltsabzüge, seine volle Pension erhalten,
während alle sonstigen Bediensteten, wie Lokomotivführer,
Heizer etc. diese Pension schon nach zwanzigjährigem
Dienst erhalten sollen. Im Falle eingetretener Arbeitsun-
tauglichkeit soll die Pension, nach den zurückgelegten Dienst-
jahren berechnet, allsogleich ausgefolgt werden, unbeschadet
der Entschädigung, auf die der Angestellte wegen Arbeits-
unfalls sonst noch Anspruch hat; und träte der Tod ein,
soll diese Pension seiner Wittwe wie seinen unmündigen
Kindern gebühren. Der Schlussparagraph des Entwurfes,
der nun dem Abgeordnetenhause unterbreitet werden soll,
besagt, dass die Verwaltung der Pensionskassen einer
Kommission anvertraut werden, die zu einer Hälfte von den
Eisenbahnverwaltungen, zur anderen von den Bediensteten
zu ernennen sei und dass der Staat den Kassenfonds zu
kontrolliren und zu garantiren habe.
In Bezug auf die Konsummagazine hatten sich die
meisten Redner gegen dieselben ausgesprochen, weil die
Waaren daselbst theurer wären als anderwärts, während
die Delegirten der Südbahn behaupteten, dass sie ihre Be-
darfsartikel dort bis zu 30% billiger als anderwärts be-
zögen. Der Verbandsausschuss hinwieder sprach sich da-
für aus, dass es am besten wäre, wenn in jeder Sektion
ein eigener Konsumverein gegründet würde, weil dadurch
der Nutzen allen gleichmässig zu Theil würde. Er befür-
wortete indess vorläufig um so weniger Stellung gegen die
von den Eisenbahnverwaltungen errichteten Konsumver-
eine zu nehmen, als es Jedem freistehe, denselben beizu-
treten oder nicht, in welchem Sinne denn auch der Kon-
gress schliesslich entschieden hatte.
Nicht unbemerkt bleibe, dass der Verband, der sich
sehr rührig zeigt, seit Kurzem ein eigenes Organ heraus-
giebt: „Le Reveil des Travailleurs de la Voie ferree“,
das vorläufig alle vierzehn Tage erscheint, aber sobald es
die Verhältnisse gestatten, in ein Wochenblatt umgestaltet
werden soll.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Ausführung: der neuen Gewerbe-Ordnung für das deutsche
Reich. Die Durchführung der G.-O. ist eben im vollen Gange;
interessant zu beobachten ist dabei die Bewährung der Arbeits-
ordnungen in der Praxis. Nachdem am 28. April derjenige
Termin abgelaufen ist. bis zu welchem nach der neuen Gewerbe-
ordnung Fabrik- und ihnen gleichstehende Betriebe dem Gesetz
entsprechende Arbeitsordnungen „nach Anhörung der Arbeiter“
erlassen müssen, dringen bereits Nachrichten über offene oder
versteckte Differenzen in die Oeffentlichkeit, welche zwischen
Unternehmern und Arbeitern aus diesem Anlass entstanden
sind. So in Hanau in der Schmucksachenbranche, namentlich
wegen zu kurz bemessener Arbeitspausen und wegen einer
Klausel, welche dem Unternehmer das Recht beliebiger Arbeits-
und Verdienstverkürzung gegen einen gekündigten Arbeiter
sichern soll; in Schloss-Chemnitz wegen überlanger Arbeits-
zeit (von 4 Uhr Morg. bis 7 Uhr Ab.), welche sich eine Brauerei
ausbedang; in Berlin bei der Stockfabrikation wegen Aus-
dehnung des Arbeitstages von 9 auf 10 Stunden, und in einer
Gewehrfabrik, die lange Lohnfristen und lästige Visitations-
bestimmungen für die Arbeiter einführen will; ferner sind in
der Porzellanfabrik zu Altwasser Differenzen entstanden, in
Folge deren ein Theil der weiblichen Kräfte die Arbeit ein-
stellte; sie wurden sämmtlich entlassen; in Grossenhain, weü
sich eine Fabrik die sofortige Entlassung der Arbeiter vor-
behielt, wenn ein Theil derselben oder die Arbeiterschaft
anderer Fabriken strikt; in Döhlen bei Dresden, weil die neue
Arbeitsordnung einer Maschinenfabrik die Beschäftigten zur
Denunziation ihrer Kollegen veranlassen und die politische
Bewegungsfreiheit derselben durch die Drohung mit der Ent-
lassung beeinträchtigen will. Nur in zwei Fällen kam es bis
jetzt zu ernsten Konflikten, in Aachen und in Eupen be-
gannen Weber ebenso wie die Arbeiterinnen in Altwasser
wegen einer neuen Arbeitsordnung einen Ausstand In den
meisten übrigen Fällen appellirten die Arbeiter vorläufig an die
Behörden, welchen die Prüfung der Arbeitsordnungen obliegt
und von denen die Streichung der ungesetzlichen Vorschriften
erwartet wird Aus dieser Prüfung dürfte den Behörden eine
ganz erkleckliche Arbeit erwachsen. Das ergiebt sich auch aus
einem Bescheid der Aachener Behörde, der bekannt ge-
worden ist. Gegen die von der Handelskammer für Aachen
und Burtscheid vorgeschlagene „Normal- Arbeitsordnung“ hat
nämlich die dortige Polizeibehörde folgende Einwendungen er-
hoben: 1. gegen § 6. Der Absatz 2 verpflichtet den Arbeiter
einseitig zu verdienstlosem Verbleiben im Arbeitsverhältniss für
zwei Tage hinter einander, eventuell drei Tage innerhalb vier-
zehntägiger Lohnperiode, während der Arbeitgeber den Arbeiter
unter den an anderen Orten angegebenen Voraussetzungen so-
fort ausser Lohn und Arbeit setzen kann. Nach § 122 der Ge-
werbeordnung müssen die Aufkündigungsfristen für beide
Theile gleiche sein. 2. gegen § 25. Dieser § 25 verletzt inso-
fern das Ehrgefühl der Arbeiter bezw. die guten Sitten (§ 144b
Abs 2 der Gewerbeordnung), als er das Anzeigen aller Be-
schädigungen, auch der unbeabsichtigten, am Eigenthum der
Fabrik oder der Mitarbeiter unter Strafandrohung fordert. Die
Behörde schlägt Streichung des § 25 oder etwa folgende Fassung
vor: „Allen Arbeitern wird es strengstens zur Pflicht gemacht,
die zu ihrer Kenntniss gelangenden Veruntreuungen, Diebstähle
und böswilligen Beschädigungen am Eigenthum der Fabrik als-
bald anzuzeigen. Das Gleiche gilt von den innerhalb der Fabrik
verübten Veruntreuungen, Diebstählen und böswilligen Be-
schädigungen am Eigenthum der Mitarbeiter“ u. s. w. 3 gegen
§ 31 Abs. 2 und Abs. 5 Bei Absatz 2 Linie 4 wünscht die Be-
hörde vor Verstössen das Wort „erheblichen“ eingeschaltet, und
bei Absatz 5 soll angegeben werden, ob die Geldstrafe der
Krankenkasse oder der Unterstützungskasse zufliessen soll.
Auch soll bestimmt angegeben werden, für welche Zwecke dje
Strafgelder Verwendung finden. Sonstige Meldungen über die
Durchführung der neuen Gewerbeordnung beziehen sich nament-
lich auf den elfstündigen Maximalarbeitstag der
Frauen, die dort, wo sich Mann und Frau in die Llände ;
arbeiten, also namentlich in Textilfabriken, den Arbeitstag der
Männer direkt beeinflusst. So werden dem Vernehmen nach in
verschiedenen Geraer Fabriken Frauen seit dem 1. April (
nicht mehr angenommen, die bisher beschäftigten nach und ,
nach entlassen. „Auch eine Folge des Arbeiterschutzgesetzes“,
wie aus Gera, die Nachricht erläuternd, hinzugefügt wird.
Ferner ist in mehreren Grünberger Tuchfabriken den nicht
in Akkordarbeit stehenden Arbeitern auf Grund der Verkürzung
der Arbeitszeit durch das Arbeiterschutzgesetz der Wochenlohn
herabgesetzt worden Eine der Bestätigung bedürftige Mel- j
düng, welche sich auf die N a c h t a r b e i t der Frauen be-
zieht, bringt der „Confektionär“. Demnach sei eine generelle l
Ausnahme von dem Verbot der Nachtarbeit sämmtlichen Woll- ;
kämmereien ertheilt worden, während die Spinnereien, welche ;
daneben Kämmereien unterhalten, für die fragliche Abtheilung .
ihres Betriebes die gleiche Bevorzugung nicht erlangen konnten.
Die Spinnereien, deren Bedürfnisse durch die eigenen Käm-
mereien nicht gedeckt werden können, müssen, da ihnen Nacht-
arbeit nicht gestattet worden ist, ihren Bedarf von den Woll-
kämmereien decken, welche die Nachtarbeit ruhig fortführen
dürfen. In der letzten Plenarsitzung der Handelskammer von
Lüdenscheid endlich wurde über die gesetzlich vor-
geschriebene frühere Entlassung der Arbeiterinnen am Samstag
Abend '5'2 Uhr) verhandelt. Diese Vorschrift werde von den
Unternehmern „übel empfunden“. Unter Bezugnahme auf einen
früheren gutachtlichen Bericht hat in einer Eingabe an den
Reichskanzler die Kammer gebeten, für die dortige Industrie,
nach Massgabe des § 139 der Gewerbeordnung Ausnahmen zu
gestatten und zwar nicht nur im Interesse des Betriebes, „son-
dern auch der Arbeiter“. Der Reichskanzler erklärte, dass Aus-
nahmen wohl für einzelne Fabriken, nicht aber für ganze
Fabrikationszweige gestattet werden könnten, womit die Sache j
ihre Erledigung gefunden zu haben scheint Jedenfalls ist es i
sehr bezeichnend für die deutschen Unternehmer, dass die
Durchführung so überaus milder Abeiterschutzvorschriften be-
reits so viele Umstände macht.
Enquete über die Sonntagsruhe im Deutschen Reiche. Es
giebt, heisst es in einer offiziösen Kundgebung der „Berliner Politi-
schen Nachrichten“, eine ganze Anzahl von Gewerben, in denen
die verschiedensten Arbeiten nicht unterbrochen oder aufge-
schoben werden können. Für diese ist der § 105d der Ge-
werbeordnungsnovelle geschaffen. Es kommt nun jedoch da-
rauf an, die Arbeiten, welche die angegebene Natur haben, im
Einzelnen festzustellen, um zu übersehen, welche Ausnahmen
seitens des Bundesrathes gemacht werden müssen. Zur Prü-
fung dieser Angelegenheit liegt in den Eingaben der verschie-
densten industriellen und gewerblichen Vereinigungen, die bis-
her an den Bundesrath gelangt sind, umfassendes Material vor.
Da hierbei jedoch gerade technische Erwägungen eine grosse
Rolle spielen werden und diese sich im mündlichen Gedanken-
austausch besser als im schriftlichen Vorbringen lassen, so hatte
No. 19.
SOZI AI .POLITISCHES CENTRAT .BLATT.
243
man schon vor einiger Zeit die Berufung einer Konferenz von
Vertretern der für den § 105 d in Betracht kommenden Gewerbs-
zweige in Aussicht genommen Die Vorbereitungen hierfür sind
im Gange. Erst wenn die Arbeiten nach dieser Richtung zu
einem Abschluss gediehen sein werden, wird man übersehen
können, zu welchem Zeitpunkte die Festsetzung des Inkraft-
tretens der Sonntagsruhevorschriften für Industrie und Hand-
werk ins Auge gefasst werden kann.
Zweite Berathung der Berggesetznovelle im
preussischen Abgeordnetenhause.
Die sozialpolitische Signatur dieser seit dem 3. Mai,
gerade drei Jahre nach Ausbruch des grossen rheinisch-
westfälischen Bergarbeiterausstandes, begonnenen Berathung
ist genau dieselbe, wie diejenige der Kommissionsberathun-
gen, aus welchen wir an anderer Stelle zwei Stichproben
geben: äusserste Einschränkung der von der Regierung vor-
geschlagenen und ohnedies kärglich genug ausgefallenen Berg-
arbeiterschutzvorschriften. Die zwei ersten Sitzungen sind
in Folge dieses Bestrebens der zechenfreundlichen Mehrheit,
zu welcher die Regierung durchaus keine ablehnende oder
gegnerische Haltung einnahm, fast ausschliesslich ausgefüllt
worden mit langwierigen Debatten über die blosse Beurkun-
dung des Arbeitsvertrages zwischen Zeche und Bergmann in
der Arbeitsordnung. Es dreht sich dabei zunächst nirgends
um irgendwelche materielle Arbeiterschutzbestimmungen,
sondern nur um das Ausmaass dessen, was dem Arbeiter vom
Grubenunternehmar vor Beginn der Arbeit schriftlich und bin-
dend als Arbeitsbedingung bekannt gegeben werden soll.
Einige wenige Abgeordnete wollten unter Verzicht auf jeden
anderen Verbesserungsantrag lediglich jenes Ausmaass so ge-
stalten, wie es die bescheidene Regierungsvorlage vorschlug,
während die Mehrheit der Abgeordneten dasselbe so viel wie
möglich zu beschränken suchten, und zwar meist mit Erfolg.
Ohne jede Debatte genehmigte das Plenum zunächst den Zu-
satz der Kommission zu § 80b, Ziffer 1, dass die Bestimmung
der Arbeitsordnung über das Maass der von den Arbeitern zu
leistenden Ueberschichten nicht gilt für „Fälle der Aus-
führung von Nothar beite n“. Diese Abweichung von der
Regierungsvorlage wurde gutgeheissen, ohne dass der Ausdruck
„Notharbeiten“ irgendwie gesetzlich definirt worden wäre.
Ziffer 2 desselben Paragraphen enthielt in der Regierungs-
vorlage die Vorschrift, dass die Arbeitsordnung nicht bloss die
zu Lohnabmachungen ermächtigten Personen und die Beurkun-
dung und Bekanntmachung des Lohnvertragsabschlusses aus-
drücklich bestimmen, sondern auch die Art der Lohnbemes-
sung und die Maass- oder Gewichtseinheit, welche dem
Vertrag zu Grunde gelegt wird, angeben sollte. Letzteres hatte
die Kommission gestrichen. Das Plenum bestätigte diese Strei-
chung in der Hauptsache und beschloss nur eine Vorschrift, wo-
nach die Art der Lohnberechnung für den besonderen Fall in
der Arbeitsordnung angegeben sein muss, in welchem eine
Vereinbarung nicht zu Stande kam und doch fortgearbeitet
wurde Der Abgeordnete Schmieding wiederholte in der De-
batte den bequemen Grundsatz der Zechenvereinigungen, alle
diejenigen Gesetzesneuerimgen „gutzuheissen“, welche lediglich
Bestimmungen der Gewerbeordnung nachgeschrieben sind, und
hätte von diesem Standpunkte aus folgerichtig eigentlich die
Nothwendigkeit eines besonderen Berggesetzes überhaupt ver-
neinen müssen. Deshalb erklärte der Abgeordnete Ritter, Werk-
direktor des schlesischen Fürsten Pless, die ablehnende Hal-
tung wohl richtiger damit, „dass die Autorität der Arbeitgeber
und Beamten aufrecht erhalten bleiben solle zum Wohle (!' der
Arbeiter“, wobei er freilich wiederum jeden Nachweis dafür
schuldig blieb, dass die von der Regierung für den Inhalt der
Arbeitsordnung vorgeschlagene Vorschrift die genannte „Auto-
rität“ erschüttere, namentlich erschüttere „zum Schaden der
Arbeiter“. In Ziffer 3 desselben Paragraphen wollte die Re-
gierung vorschreiben, dass die Arbeitsordnung bestimmen solle
auch über die Voraussetzungen, unter welchen Ab-
züge wegen ungenügender oder unvorschriftsmässiger Ar-
beit gemacht werden dürfen, sowie über die Verwen-
dung der in Folge solcher Anordnungen bei der Ab-
rechnung in Abzug gebrachten , unmittelbar verwendbaren
Produkte oder der dafür berechneten Geldbeträge“. Die Be-
gründung der Regierungsvorlage beruft sich hierfür auf die
amtliche Denkschrift über die Bergarbeiterverhältnisse etc. von
1889 (S. 26 — 30), welche dort trotz ihrer grossen Lückenhaftigkeit
das Misstrauen der Arbeiter über das bis jetzt beliebte Abzugs-
verfahren für sehr begreiflich erklärt und zu dem Schlüsse
kommt, „dass zur Vermeidung jeglicher Willkür die Voraus-
setzungen des Nullens, sowie dessen Formen in den Arbeits-
ordnungen aufs Genaueste festgele gt werden“ müssen. Die
Kommission des Abgeordnetenhauses strich diese Bestimmungen
völlig aus der Novelle, und zwar aus vier auf den ersten Blick
als gänzlich unstichhaltig erscheinenden Gründen: weil die
Reichsgewerbeordnung nichts Aehnliches enthalte, obgleich solche
Abzüge in anderen Gewerben „in noch viel härterer Weise
gemacht würden“, womit sich also der Bergbau hinter den
Missbräuchen anderer Gewerbe zu verschanzen nicht verschmähte ;
zweitens, weil damit „ein nicht zu rechtfertigendes Misstrauen
gegen die Ehrenhaftigkeit der Bergwerksbesitzer und ihrer Ver-
treter ausgesprochen werde“, als ob die „Ehrenhaftigkeit“ irgend-
welche bindende Vorschrift zu scheuen hätte; drittens, weil die
Novelle dadurch „mit Einzelheiten überlastet“ werde, was natür-
lich gegen die materielle Nothwendigkeit der Vorschrift nicht
das Geringste besagt; und viertens, weil es ein „fehlsames
Bestreben sei, auf der zu schmalen Unterlage der Denkschrift-
ergebnisse allgemein verbindliche Gesetzesvorschritten aufzu-
bauen“, was der Wahrheit entsprechend dahin zu berichtigen
ist, dass die Denkschrift viel zu „schmale Ergebnisse“ bezüglich
des Umfangs der vorhandenen Missstände lieferte, so dass die
wenigen, welche sie feststellt, ganz sicher im weitesten Maasse
vorhanden sind und empfunden werden, also auch sehr gründ-
licher Abhilfe bedürften. Von diesen zutreffenden Gesichtspunkten
liessen sich offenbar auch die Abgeordneten Hitze und Eberty
leiten, deren Anträge zusammengenommen weiter nichts als den
Text der Regierungsvorlage wieder hergestellt hätten; freilich
kompromittirte der Abg. Hitze von vornherein diese Anträge
dadurch, dass er den Antrag Eberty auf Herstellung des letzten
Theils der Ziffer 3 der Regierungsvorlage im Streben nach einem
Kompromiss bekämpfte, worauf dieser Antrag zurückgezogen
wurde. Es blieb also von vornherein nur die Entscheidung
darüber zu treffen, ob die „Voraussetzungen“ für Abzüge (Nullen)
in der schriftlichen Arbeitsordnung angegeben werden sollen.
Obgleich nun der Abgeordnete von Bockeiberg feststellte, dass
das Nullen bei Weitem nicht in allen preussischen Bergwerken
geübt wird, also keine unbedingte Nothwendigkeit des Betriebes
sein kann, setzte das Plenum in die von der Kommission ge-
schaffene Lücke doch lediglich nach Antrag des Abg. Ham-
macher eine halbe Vorschrift ein, nach welcher statt der „Vor-
aussetzungen“ für das Nullen, wie die Regierungsvorlage wollte,
lediglich „die Fälle, in denen“ das Nullen vorgenommen wird,
in der schriftlichen Arbeitsordnung anzugeben sind, womit die
Feststellung und Kontrolle des Maasses von vorschriftswidriger
und Abzüge rechtfertigender Arbeit, wie sie der Abg. Dasbach
für nothwendig bezeichnete, entgültig abgelehnt waren. Und
dieses Amendement wurde aufs Lebhafteste unterstützt vom
preussischen Handelsminister, der damit nicht einmal an den
„schmalen“ Ergebnissen der Denkschrift und an seiner eigenen
Vorlage in vollem Umfange festhielt. Zu § 80c wurde ein An-
trag Hitze und Genossen mit 130 gegen 100 Stimmen abgelehnt,
der die Abschi üs se über bergmänrische Akkordarbeiten in
einem allen Arbeitergruppen zur gegenseitigen Kontrolle zu-
gänglichen Gedingebuch verzeichnet haben wollte, wobei
der Abg. Stötzel, der bekanntlich praktischer Bergmann war,
vergeblich hervorhob, „dass fast in jeder kleinen Fabrik der
Arbeiter seinen Akkordschein bekommt, und so genau weiss,
was er verdient“. Die Mehrheit begründete ihre Ablehnung da-
mit, dass die mündliche Vereinbarung genüge und das Ver-
langen der Schriftlichkeit „zu weit ginge“; der Regierungsver-
treter liess sogar die eventuelle Stempelpflichtigkeit schriftlicher
Abmachungen, aus welcher „eine unerwünschte Belastung ent-
stehen“ würde, als Schreckgespenst im Hintergründe aufsteigen.
In § 80d hatte die Regierungsvorlage die eigentlich selbstver-
ständliche Vorschrift gehabt, dass Strafgelder und Lohn-
abzüge ausser an die Knappschaftskassen an Unterstützungs-
kassen der einzelnen Werke nur abgeführt werden dürften,
„wenn bei ihrer Verwaltung die Arbeiter mitbetheiligt
sind, wenn sie dem Oberbergamte in einer von diesem vorge-
schriebenen Form eine jährliche Uebersicht ihrer Einnahmen,
Ausgaben und des Vermögensstandes einreichen und dieselbe
auch zur Kenntniss der Arbeiter bringen“. In einer besonderen
Notiz dieses Blattes sind die wenig stichhaltigen Gründe mit-
getheilt, aus welchem die Kommission diese durch die amtliche
Denkschrift wohlbegründeten Vorschriften streichen zu müssen
glaubte. Im Plenum wurde von dem Abgeordneten Hitze und
Genossen nur der erste Theil der gestrichenen Vorschrift
als Antrag wieder aufgenommen, die oberbergamtliche Auf-
sicht aber von vornherein fallen gelassen. Aber selbst
dieser Antrag fand die Genehmigung der Mehrheit nicht,
nachdem wiederum der Handelsminister seine eigene Vor-
lage auch in diesem Theile preisgab, „weil die Gewerbe-
ordnung eine solche Bestimmung nicht enthält.“ Die Debatte
244
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 19.
endigte vielmehr mit der Annahme eines Antrages des Abge-
ordneten Hammacher, nach welchem sowohl Regierungsvorlage
als Kommissionsbeschlüsse noch ein weiteres Stück dahin ver-
schlechtert werden, dass allein die Betriebskassen der Gruben, nicht
einmal mehr die Knappschaftskassen mit ihren Knappschaftsälte-
sten, die Strafgelder erhalten, und zwar ohne dass die Gruben-
verwaltungen den Arbeitern irgendwelches Mitverwaltungsrecht
einzuräumen brauchen. Danach müsste es Wunder nehmen, dass
die folgenden Paragraphen, namentlich § 80 f, welcher von einer
bestimmten Frist an die Anhörung der Arbeiter bezüglich
der Arbeitsordnung vorschreibt, im Plenum unverändert nach
der Regierungsvorlage genehmigt wurden, wenn man nicht wüsste,
dass die meisten Gruben bereits vor dieser Frist mit Umgehung
der Arbeiter Arbeitsordnungen erlassen haben bezw. erlassen
werden. Zu einer längeren Debatte gab dann wieder § 80 k
Anlass, der in der Regierungsvorlage u. A. vorgeschrieben hatte,
dass gleiche Fördergefässe benutzt werden müssen, wenn
die Arbeiterleistung aus Zahl und Rauminhalt dieser Gefässe be-
stimmt wird, sowie dass die letzteren gleiche Form und gleichen
Inhalt haben müssen, wenn die Förderungsleistung nach dem
Gewicht bestimmt und nicht jedes einzelne Gefäss gewogen wird.
Auch diese Bestimmungen hatte die Kommission gestrichen und
dies mit der Gefahr einer „Erschütterung des Arbeitervertrauens“,
mit der Misslichkeit eines „lästigen Eindringens in die Einzel-
heiten des Betriebes“ und mit der technischen Unmöglichkeit
„begründet“, bei der Verschiedenheit der Fördergänge nur einerlei
Gefässe zu führen. Im Plenum wurde von derselben Seite als
vierter „gewichtiger“ Grund gegen die Vorschriften vom Abge-
ordneten Ritter die „Entwerthung des in die verschiedenartigen
Fördergefässe hineingesteckten Anlagekapitals“ erwähnt. Es ist
schwer, diese „Gründe“ ernst zu nehmen. Vom einzigen „Kapital“
des Arbeiters und der regelrechten Bezahlung seiner Ausnutzung
war niemals die Rede. Ausserdem widerlegte der Abgeordnete
Hammacher denEinwand der „Entwerthung“ unfreiwillig dadurch,
dass er mittheilte, die Gruben entschlössen sich häufig dazu, an
Stelle des vorhandenen Betriebsmateriales neues von anderem
Umfange zu setzen, womit er bewies, dass es den Gruben auf
die „Entwerthung“ garnicht ankommt, sobald nur ihr Interesse
allein im Spiele ist. Was die technische Unmöglichkeit betrifft,
so th eilte Oberberghauptmann Freund unter allgemeiner Bewe-
gung des Hauses mit, dass auf den staatlichen Saarkohlengruben
ohne jeden Anstand im Betriebe stets nur Fördergefässe von
gleichem Rauminhalt verwendet würden. Aber Handelsminister
von Berlepsch betonte das unbegrenzte Vertrauen, welches die
Regierung auf die Redlichkeit im Betriebe der preussischen
Privatgruben habe, anlässlich einer Bemerkung des Abgeordneten
Dr. Meyer so stark und äusserte dabei ganz im Sinne der Unter-
nehmereingaben gegen das Gesetz so lebhaft seine Ueberzeugung,
dass „Betrug im Handel und Gewerbe an anderen Stellen sehr
viel häufiger vorkomme, als bei den Bergwerksbesitzern gegen-
über ihren Arbeitern“, dass es bei der Streichung der Regierungs-
vorlage blieb und die Anträge der Abgeordneten Hitze und
Genossen auf Wiederherstellung derselben mit 179 gegen 99
Stimmen abgelehnt wurden. Der Abgeordnete Hitze hatte vorher
erklärt, dass seine Partei (Centrum) gegen das ganze Gesetz
stimmen müsse, wenn diese Anträge nicht angenommen
würden. Es bleibt also nach dem Willen der Zechen dabei,
dass die verschiedenartigsten Gefässe benutzt werden und nur
ihr Rauminhalt bezw. Leergewicht ersichtlich gemacht werden
muss. In den §§ 81 ff. genehmigte sodann das Plenum unver-
ändert den Wortlaut der Regierungsvorlage, welche die Gründe
zur sofortigen Entlassung bezw. zum sofortigen Austritt
in einer für die Arbeiter höchst unbilligen Weise regeln, ebenso
die Beibehaltung des obligatorischen Arbeitszeugnisses
auch für erwachsene Bergleute, obgleich der einzige für diese
Beibehaltung ins Feld geführte Grund, die technische Sicherheit
des Betriebes, die durch eine Kontrolle des Vorlebens der Ar-
beiter garantirt werde, in der Schlussdebatte des zweiten Bera-
thungstages (4. Mai) gleich wieder preisgegeben wurde. Hier
bemerkte u. A. Handelsminister von Berlepsch persönlich, dass
im Oberbergamtsbezirk Dortmund allein während des Jahres 1890
nicht weniger als 10 800 Arbeiter beim Bergbau neu eingestellt
worden seien, die „dazu in keiner Weise angelernt waren“, die
„aus Provinzen stammen, wo sie Nichts mit Bergbau zu thun
gehabt haben“. Aus dieser beredten Thatsache wollten die Ab-
geordneten Hitze und Genossen noch einen anderen Schluss
gezogen haben, indem sie beantragten: „Bergwerksbesitzer oder
deren Stellvertreter dürfen mit der selbständigen Ausführung
von Arbeiten, welche Leben und Gesundheit der Mitarbeiter
gefährden können, nur solche grossjährige Arbeiter betrauen,
welche den Nachweis erbringen, dass sie für die bezüglichen
Arbeiten befähigt sind. In Steinkohlen-Bergwerken dürfen als
Vollhäuer nur solche Bergarbeiter beschäftigt werden, welche
im Steinkohlen-Bergbau mindestens drei Jahre als Lehrhäuer
thätig sind. Die näheren Vorschriften erlässt das Oberbergamt.“
Unter platonischen Versicherungen des Wohlwollens für diesen
Antrag wurde derselbe als nicht genügend vorbereitet abgelehnt,
obgleich der Abgeordnete von Erffa seine agrarische Sympathie
für das Amendement deshalb kundgab, weil dem Gutsbesitzer
„Nichts damit gedient sei, dass die westfälischen Gruben-
besitzer Arbeiter aus den östlichen ländlichen Bezirken heran-
gezogen haben.“
In der Verhandlung des dritten Berathungstages (5. Mai)
wurden die §§ 85a -h, welche das Arbeitsbuch betreffen, sowie
§ 86, welcher die Verleitung zur unrechtmässigen Aufgabe der
Arbeit, § 87, welcher den Besuch der Fortbildungsschulen
betrifft, und §§ 88—93, welche die Verhältnisse der Aufsichts-
beamten regeln werden, ohne Debatte angenommen, ebenso die |
Aenderung der §§ 77, 189 und 196 des Berggesetzes, betreffend
die Befugnisse der Bergbehörden.
Die Debatte bewegte sich hauptsächlich um § 197 und die
zu demselben beantragte Resolution der Abgeordneten Hitze |
und Genossen. § 197 soll nach dem Anträge der Kommission
folgende Fassung erhalten: „Für solche Betriebe, in welchen
durch übermässige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesund-
heit der Arbeiter gefährdet wird, können die Oberbergämter
Dauer, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit und der zu
gewährenden Pausen vorschreiben und die zur Durchführung
dieser Vorschriften erforderlichen Anordnungen erlassen.“
Die Vorlage lautete: „Insbesondere können die Ober-
Bergämter, wenn durch übermässige Dauer“ u. s. w. wie im
Kommissionsbeschlusse.
Die Abgeordneten Hitze und Genossen beantragen: a) Die
Regierungsvorlage wieder herzustellen; b) folgende Resolution
anzunehmen: Die Staatsregierung zu ersuchen, möglichst bald
eine eingehende Untersuchung darüber anzustellen: inwieweit
eine Herabsetzung der Arbeitszeit in den Bergwerken der ver- 1
schiedenen Oberbergamtsbezirke aus Rücksicht auf Leben und
Gesundheit der Arbeiter erforderlich erscheint, und das Resultat
derselben, sowie die auf Grund des § 197 des Allgemeinen Berg-
gesetzes getroffenen, beziehungsweise beabsichtigten Massnahmen ■
dem Landtage mitzutheilen.
Der § 197 der Vorlage und die Resolution Hitze’s ge-,
wannen nach der Ablehnung eines Maximalarbeitstags für die.
Bergwerke eine erhöhte Bedeutung, allein die Fassung der
Vorlage wurde zu Gunsten des Kommissionsbeschlusses und
ebenso die Resolution gegen die Stimmen des Centrums, der
Polen und des Abgeordneten v. Meyer- Arnswalde abgelehnt
und darnach der Rest des Gesetzes ohne Debatte angenommen. ,
Gegen die Resolution Hitze’s und Genossen wurde ein-
gewendet, dass sie in die Arbeiterkreise Unruhe zu tragen ge-,
eignet sei. Uns will scheinen, dass diese Resolution zu einem
Mittel der Beruhigung hätte werden können, wenn man sie zur*
Handhabe einer unparteiischen und gründlichen Untersuchung,
der thatsächlichen Verhältnisse und zum Ausgangspunkt für
entsprechende Massnahmen gemacht hätte. Dagegen ist es
sicher, dass eine auch über das Mindestmaass der berechtigten
Anforderungen der Bergarbeiter sich hinwegsetzende gesetz-
geberische Aktion, als welche sich die des preussischen Ab-
geordnetenhauses in Betreff der Reform des Berggesetzes dar-
stellt, geeignet ist, die tiefe Verbitterung der Grubenarbeiter
auf das Gefährlichste zu steigern und eine nur allzu begründete
Unruhe in den weitesten Kreisen des Volkes zu verbreiten.
Der Maximalarbeitstag für Bergarbeiter in der Berg-
gesetz-Kommission des preussischen Abgeordnetenhauses.
Nach dem nunmehr im Druck vorliegenden Bericht dieser
Kommission (No. 146 der Drucksachen des Hauses der Ab-
geordneten, 1 7. Legislaturperiode, IV. Session 1 892, S. 1 2 ff. j
war von mehreren Kommissionsmitgliedern der Antrag ge-
stellt worden, einen neuen Paragraphen einzuschieben^ wie
folgt: „Die Dauer der Beschäftigung unter Tag darf 8 Stun-
den für die einzelne Schicht, 48 Stunden in der Woche nicht
überschreiten. Soweit aus besonderen Rücksichten Aus- ,
nahmen erforderlich sind, setzt das Oberbergamt dieselben
fest.“ Die Begründung dieses Antrages war, wenn sie der
Bericht vollständig wiedergiebt, sehr dürftig. Der Bergbau
sei wegen seiner grossen Gefahren und vielen Gesundheits-
widrigkeiten ganz besonders zur Feststellung eines Normal-(?)
Arbeitstages geeignet. Thatsächlich sei diese Feststellung
auch bereits in alten Zeiten und Gesetzen erfolgt; von der
Ungebundenheit in der Dauer der Arbeitszeit loszukommen,
werde auf keinem Gebiete lebhafter angestrebt, als aut dem
des Bergbaues. Die in dem Anträge verlangte Achtstunden-
arbeit werde durch die neue Westphälische Arbeitsordnung
(vergl. Sozialpolitisches Centralblatt No. 2, S. 20) den Ar-
No. 19.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
245
beitern unter Tage bereits gewährt, stehe also für den
grössten Theil der preussischen Steinkohlenbergleute schon
in unbestrittener Geltung (?). Ueber jene Bestimmung
wollten die Antragsteller in der Hoffnung, dass auf diesem
Boden eine Mehrheit sich für dieselbe linden werde, nicht
hinausgehen. Nach diesem dürftigen Resume einer anschei-
nend dürftigen Begründung theilt der Kommissionsbericht
alle Einwendungen sehr breit mit. Der Handelsminister
widersprach zuerst dem Anträge. Der Reichstag habe den
Normalarbeitstag verworfen, es sei deshalb schon aus staats-
rechtlichen Gründen nicht unbedenklich, wenn ein einzelner
Bundesstaat mit dessen Einführung vorgehen wolle. Er
müsse bestreiten, dass der preussische Bergbau hierzu be-
sonders geeignet sei. Die Verhältnisse der einzelnen Berg-
reviere Preussens seien so ausserordentlich verschieden, dass
die gesetzliche Gleichstellung der Arbeitsdauer in ihnen zum
unnatürlichen Zwange werde. Die Arbeitsbedingungen des
Erz-, Salz- und Kohlenbergbaus, im Kohlenbergbau selbst
wieder des Steinkohlen- und Braunkohlenbergbaus, endlich
beim Steinkohlenbergbau beispielshalber diejenigen des
oberschlesischen und des westphälischen Revieres wichen
so sehr von einander ab, dass für sie einen, natürlich den
auf den gefährlichsten und gesundheitsschädlichsten Bergbau
zurecht geschnittenen Normalarbeitstag bestimmen, nichts
Anderes hiesse, als viele Bergwerke wettbewerbsunfähig
machen und zum Erliegen bringen. Die Verschiedenheit in
den Bedingungen der Arbeit und des Wettbewerbes bestehe
aber auch zwischen den Bergwerken Preussens und des
Auslandes. So lange nicht unter den Bergbau treibenden
Staaten eine Verständigung über den Normalarbeitstag
herbeigeführt sei, werde sich Preussen wohl hüten müssen,
ihn gesetzlich zu machen, um so mehr, als die Wettbewerbs-
Bedingungen der Bergwerke Preussens nicht die günstigsten
seien und diesen vorzugsweise im Interesse ihrer Arbeiter
Lasten auferlegt seien, welche von dem Bergbau anderer
Länder nicht in gleicher Höhe zu tragen wären. Gegenüber
dem Drängen der Bergleute auf den Achtstundenarbeitstag,
welcher übrigens mit eingerechneter Ein- und Ausfahrtszeit
gemeint sei, müsse aut die Thatsache hingewiesen werden,
dass beim Bergbau bereits überall in Preussen eine Ver-
kürzung der Arbeitszeit stattgefunden habe und dass die
preussischen Bergleute dabei trotz ihrer gesunkenen Lei-
stungen die unverminderten hohen Löhne verdienten. End-
lich sei auch nicht zuzugeben, dass die Bergarbeit gegenüber
allen anderen Fabrikbetrieben so aussergewöhnlich gesund-
heitswidrig einwirke, dass sich hierdurch ein Abgehen von
dem System der Gewerbeordnung rechtfertigen lasse. —
Die Kommissionsmitglieder, welche den Antrag bekämpften,
wiesen darauf hin, dass über die Gesundheitsschädlichkeiten
der Bergarbeit irrige und übertriebene Vorstellungen be-
ständen. Die Bergarbeit sei besonders gefährlich, aber nicht
besonders gesundheitswidrig, das werde häufig verwechselt.
Insbesondere die Lüftungseinrichtungen der Bergwerke seien
derart verbessert, dass der Aufenthalt in der Grube nicht
so gesundheitswidrig sei, wie derjenige in engen dumpfigen
Werkstätten. Zahlenmässig stehe fest, dass in verschiedenen
Gewerben mehr oder langwierigere Erkrankungen der Ar-
beiter aufträten, als im Bergbau. Auch die Gefahren der
Bergarbeit würden unter dem Eindrücke der schrecklichen
Massenunglücke vielfach überschätzt, die Küstenschiffahrt
und die Waldarbeit fordere beispielsweise verhältnissmässig
mehr Opfer, als der Bergbau. Von einem Kommissionsmit-
gliede wurde bemerkt, dass die Entbehrung des Sonnen-
lichtes bei der Bergarbeit als eine dieser eigenthümliche
Gesundheitsschädlichkeit nicht verkannt werden könne, das
blasse Aussehen der Bergleute spreche schon dafür. Zur
Frage des Normalarbeitstages übergehend, erklärte der
Redner, sie sei für ihn heute zur Entscheidung noch nicht
reif, obwohl er anerkenne, dass gerade die Bergarbeit mit
ihren Gefahren und Gesundheitswidrigkeiten am ehesten
und meisten die gesetzliche Beschränkung ihrer Dauer ver-
lange. — Der Antrag wurde mit grosser Mehrheit abgelehnt.
Missbrauch mit Strafgeldern im preussischen Bergbau.
Aus dem Berichte der Commission des preussischen Abgeord-
netenhauses über die Berggesetznovelle ist auch zu ersehen,
dass die allein im Jahre 1890 von den Zechen an die Knappschafts
hassen abgelieferten und den Bergleuten vom Lohne abgezogenen
Strafgelder insgesammt rund 89 000 Mk. betrugen. Dabei kommt
in Betracht, dass eine weitere Summe an Strafgeldern nicht in
diese Quelle, sondern in besondere Werksunterstützungskassen
einzelner Zechen fliesst. Man kann also sagen, dass den preus-
1 fischen Bergleuten alljährlich mehr als 100 000 M. an Strafgeldern
vom Lohne abgezogen werden. In der Berggesetzkommission
des Abgeordnetenhauses stellten nun mehrere Kommissionsmit-
glieder folgenden Antrag: „Alle Strafgelder müssen einer zu
Gunsten der Arbeiter des Bergwerks bestehenden oder zu
bildenden Unterstützungskasse überwiesen werden, deren Ver-
waltung dem ständigen Arbeiterausschusse oder einem in der
Majorität von den Arbeitern in geheimer Wahl gewählten Vor-
stände obliegt.“ Dieser Antrag wollte die Ueberweisung der
Strafgelder an die in dem Gesetzentwürfe an erster Stelle
genannte Knappschaftskasse beseitigen und abweichend von
dem Entwürfe, welcher über die Verwaltung der Strafgelder
keine Bestimmung enthält, jene vorzugsweise in die Hände der
Arbeiter bezw. on deren Vertretern gelegt wissen. Für den
Fall der Ablehnung des Antrages wurde beantragt, in § 80 d
Abs. 2 nach dem ersten Satze einzuschieben: „Soweit sie . . .
die Strafgelder . . . der Knappschaftskasse überwiesen werden,
sind entweder die Leistungen der Knappschaftskasse um den
entsprechenden Betrag zu erhöhen, oder die Beiträge der Arbeiter
entsprechend herabzusetzen. Zur Begründung wurde ausgeführt:
Es sei eine Forderung der Gerechtigkeit, dass die Strafgelder
ausschliesslich zum Besten der Arbeiter verwendet würden
Dieser Zweck würde aber nicht erreicht, wenn die Strafgelder
ganz oder theilweise den Knappschaftskassen zuflössen, weil in
Folge dieser Einnahme der Knappschaftskasse die Beiträge der
Werksbesitzer sich verminderten. Dass eine solche gar nicht
berechtigte Bereicherung der Werksbesitzer nicht unerheblich
sei, ergebe sich aus den hohen Beträgen der an die Knappschafts-
kassen abgelieferten Strafgelder. Könne man sich nicht ent-
schliessen, den Knappschaftskassen diese Einnahmequelle abzu-
schneiden, so müsse man doch folgerichtig ihre Erträge den
Arbeitern allein zu Gute kommen lassen, was im Rahmen der
Knappschaft nur auf den durch den Eventualantrag bezeichneten
beiden Wegen geschehen könne. Ob und wie die Strafgelder
aus den Unterstützungskassen zu Gunsten und im Sinne der
Arbeiter verwandt würden, sei mit Sicherheit nur festzustellen,
wenn ihre Verwaltung durch die Arbeiter selbst oder deren ohne
Bedrückung durch die Werksbesitzer, also geheim gewählten
Vertreter erfolge. Die Regierungsvertreter und mehrere Kom-
missionsmitglieder widersprachen diesen Anträgen, weil sie
ohne einen aus der Eigenart des Bergbaus zu entnehmenden
Grund über die einschlägigen Bestimmungen der Reichsgewerbe-
ordnung weit hinausgingen und das Misstrauen gegen die Berg-
werksbesitzer gewissermassen gesetzlich festlegen würden, für
welches doch "jedes thatsächliche Anhalten fehle; als solches
könne der gelegentlich der Ausstandsuntersuchung von einigen
Arbeitern geäusserte aber in keinem Falle bewahrheitete Verdacht
Unrechter Verwendung der Strafgelder füglich nicht betrachtet
werden. Die Kommissionsmehrheit pflichtete dieser Darlegung
bei und verwarf die Anträge. Zusammen mit der Berichts-
Stelle über den Maximalarbeitstag im preussischen Bergbau dürfte
diese Episode der Commissionsverhandlungen deutlich erkennen
lassen, von welchem Geist diese gesetzgebende Kommission mit
Bezug auf die Bergarbeiterschutzreform beseelt war.
Zeclienverbände mul Berggesetznovelle in Preussen. Dem
preussischen Abgeordnetenhause ist eine gemeinsame Denk-
schrift der acht Bergbauvereine des preussischen Staats zuge-
stellt worden, welche die hauptsächlichsten Wünsche der be-
theiligten Kohlen, Braunkohlen- und Erzbergwerke in betreff
der Novelle ausspricht. Die Denkschrift geht davon aus, dass
vor Einbringung der Vorlage weder in offizieller noch in in-
offizieller Form die Interessenten über den Entwurf betragt
worden sind, und dass dieselben es daher ablehnen müssen,
dass ihre Zustimmung zu dem Entwurf oder einzelnen Bestim-
mungen desselben vorausgesetzt wird. Nichtsdestoweniger
schliessen sich die acht Bergbauvereine, der für den Dort-
munder, Aachener, Siegener, Lahn- und Dillbezirk, der deutsche
Braunkohlenindustrieverein, der Magdeburger Braunkohlenverein,
der nieder- und oberschlesische Bergbauverein, den meisten
Bestimmungen des Entwurfs an, die lediglich eine Kopie der
jüngsten Novelle zur Gewerbeordnung, dem sogenannten Ai beiter-
schutzgesetz , sind. Die „über die Gewerbeordnung hinaus-
gehenden“ Bestimmungen unterzieht dagegen die Denkschrift
einer Kritik und behauptet, dass die vorgeschlagenen Ab-
weichungen von der Gewerbeordnung nicht durch die besondere
Eia-enart"des Bergbaubetriebes bedingt sind, dass die betreffen-
den Paragraphen überhaupt besser gestrichen würden. Die Ab-
änderungen der vorliegenden Novelle gegen die Gewerbe-
ordnung seien fast durchweg in den Motiven aut „angebliche“
Erfahrungen während des grossen Bergarbeiterstrikes von 1889
zurückgeiührt, obgleich die im Aufträge der Minister der öffent-
lichen Arbeiten und des Innern nach Beendigung des Stnkes
von staatlichen Untersuchungskommissionen ausgearbeitete Denk-
schrift über die Untersuchung der Arbeitei und Betiiebsvertndt-
nisse in den Steinkohlenbergwerken „nicht das geringste Be-
lastungsmaterial für die Zechenverwaltungen vorzubringen \ er-
mocht“ habe. In Folge der Zuschneidung der Berggesetznovelle
auf „angebliche“ Zustände im Dortmunder Steinkohlenrevier
passten ohnedies mehrere Bestimmungen nicht auf die Verhält-
nisse in den übrigen Steinkohlenbezirken, noch weniger auf den
Braunkohlen- und Erzbergbau. Es wird dabei „anerkannt“, dass
die Kommission bereits Wesentliches gethan hat, den Entwurf
für die betheiligten Industriezweige „annehmbar“ zu machen.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
246
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Zum ersten Male wird in diesem Werke eine Darstellung der leitenden Gesichts-
punkte österreichischer Handels- und Zollpolitik, ausschliesslich auf handschriftlichen
Quellen fussend, gegeben. Besonders ausführlich werden die Bestrebungen Oester-
reichs zur Bildung einer Zolleinigung mit dem deutschen Zollvereine geschildert. Das
Werk liefert auch für die Würdigung der österreichischen Politik in den letzten Jahr-
zehnten manchen Beitrag und dürfte auch in weiteren Kreisen lebhaftes Interesse er-
wecken.
Hermann Walther.
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Deutsche Litteraturzeitung
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Die Deutsche Litteraturzeitung erblickt ihren eigenthümlichen Beruf darin,
vom Standpunkt der deutschen Wissenschaft aus eine kritische Uebersicht über
das gesammte litterarische Leben der Gegenwart zu bieten. Sie sucht im
Unterschied von den Fachzeitschriften allen denen entgegenzukommen, welchen es
Bedürfniss ist, nicht nur mit den Fortschritten ihres Faches, sondern auch mit der
Entwickelung der übrigen Wissenschaften und mit den hervorragenden Leistungen
der schönen Litteratur vertraut zu bleiben.
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haltigkeit sonst nirgends geboten wird, ferner ständige Berichte über die Thätigkeit
gelehrter Gesellschaften, Nachrichten über wissenschaftliche Entdeckungen und litte-
rarische Unternehmungen, Personalnotizen und Vorlesungsverzeichnisse.
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Verantwortlich für den Anzeigentheil: O. Schuchardt in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 16. Mai 1892.
Nummer 20
SOZIALPOLITISCHES
CENT R A LBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
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Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHAL T.
Ar beiter - Wohlfahrtseinrich-
tungen. Von Prof. Dr. Hein-
rich Herkner
Soziale Wirthscliaftspolitik u.
Wirtliscliaftsstatistik :
Untersuchung der Bodenverschul-
dung in der Schweiz. Von
Kantonsstatistiker E. Naef.
Die Krisis, in der schweizerischen
Uhrenindustrie.
Italienisches ZündholzmonopoL
Arbeiterzustände :
Haushalt einer Arbeiterfamilie in
Bayern.
Arbeiter Wanderungen innerhalb
Deutschlands.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Die letzten englischen Strikes. V< n
Eleanor Marx-Aveling.
Zwei neue französische Arbeits-
börsen.
In der Schweiz für Strikezwecke
1 gesammelte und ausgegebene
Gelder.
Arbeiterscliutzgesetzgebung :
Die dritte Lesung der Berggesetz-
novelle.
Arbeiterschutz beim Bau der
Wiener Verkehranlagen.
Ein schweizerisches Bundesgesetz
über die Kündigungsfristen.
Ruhetage für das schweizerische
I Grenzaufsichtspersonal.
Arbeiterschutzgesetz für den Kan-
ton Glarus.
St. Gallischer Arbeiterschutzgesetz-
entwurf.
Der Arbeitstag auf den französi-
schen Eisenbahnen.
Gewerbeinspektion :
Aus den Jahresberichten der baye-
rischen Fabrikinspektoren. Von
Dr. Max Quarck.
Arbeiterversicherung:
Die Berufsgenossenschaften als
Organe der Unfallverhütung.
Lieber die Wirksamkeit der deut-
schen Invaliditäts- und Unfalls-
versicherung.
Unfallversicherung der Handwerker
im deutschen Reich.
Unfall- und Krankenversicherung
in der Schweiz.
Gewerbegerichte , Einigungs-
ämter u. Arbeiterausschüsse:
Arbeits- und Industriekammern in
den Niederlanden.
Das Wahlrecht der Frauen in den
italienischen Gewerbeschieds-
gerichten.
Wohnungszustände und Woh-
nungsgesetzgebung :
Wohnungsverhältnisse der Kranken
in der Schweiz.
Bau der Arbeiterwohnungen als
geschäftliches Unternehmen.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Arbeiter - W ohlfahrtseinrichtungen.
Vielleicht ist nichts für die sozialpolitische Entwick-
lungsstufe eines Landes so bezeichnend als das Mass, in
dem die leitenden Kreise desselben Arbeiter- und Armen-
frage auseinanderhalten oder nicht. Werden die Arbeiter
wie Waisenkinder, wie Kranke, Alters- oder Geistesschwache
angesehen, die auf Schritt und Tritt einer mitleidigen Für-
sorge und wohlwollenden Bevormundung bedürfen, die aus
eigener Kraft nichts vermögen und denen nur durch Akte
der Wohlthätigkeit zu helfen ist, geht man weiter von der
Auflassung aus, dass für die Arbeiter keine wirkliche Ur-
sache zur Unzufriedenheit besteht, solange sie eben noch
ihr Leben zu fristen vermögen, dann kann auch zwischen
Armen- und Arbeiterfrage nicht unterschieden werden.
KL Beide fallen zusammen. Erst nachdem sich die Erkenntniss
Bahn gebrochen hat, dass es sich bei der sozialen Frage
nicht nur darum handelt, der Arbeiterbevölkerung eine zu
deren Unterhalte ausreichende physische Ernährung zu ver-
schaffen, dass die soziale Reform vielmehr einen gewaltigen
welthistorischen Prozess darstellt, dass sie das Aufsteigen
einer neuen und zwar der zahlreichsten Schicht der Ge-
sellschait bedeutet: erst dann wird der tiefgehende LTnter-
schied zwischen beiden Problemen allgemein und klar zum
Bewusstsein gelangen.
o o
Unter welchen Voraussetzungen ist die Vermengung
der sozialen Reform mit der Armenpflege begründet? Unter
welchen nicht? Die Antwort liegt nahe genug. Sie hängt
von den thatsächlichen Zuständen ab, in denen eine Arbeiter-
bevölkerung lebt. Wenn die arbeitenden Massen des Volkes
unter einem Uebermasse von Elend schmachten, wenn ihr
Lohn so tief gesunken ist, dass er eine Erhaltung der
körperlichen Kräfte nicht mehr gewährleistet, wenn die
physische Entartung die wirthschaftliche Leistungsfähigkeit
untergraben hat, wenn unter dem Drucke der Noth die
Familienbande sich lösen, wenn jede wirthschaftliche Vor-
aussicht entschwunden, das Ehrgefühl und der Sinn
für höhere geistige und politische Interessen abgestumpft
ist, wenn es dem Arbeiter gleich gilt, ob er durch Almosen
oder Arbeitslohn sein Leben erhält, wenn er kein höheres
Ziel mehr kennt als die Triebe, die dem Menschen mit dem
I hiere gemein sind, einmal voll zu befriedigen, sich auszu-
schlafen und satt zu essen, wenn selbst das Bewusstsein
dieser Entwürdigung verloren gegangen, und so es doch
einmal wieder aufflackert, im Branntweinrausche erstickt
wird, nur wenn diese entsetzlichen Bedingungen ganz
oder theilweise zutreffen — und schrecklich genug, sie
sind in der That kein blosses Gebilde der Phantasie
wäre es vermessener Optimismus, noch auf eine Er-
hebung der Arbeiter aus eigener Kraft rechnen zu
wollen. Neben der staatlichen Hilfe wird dann auch
eine rein caritative Schutzthätigkeit, eine Patronage1 der
besitzenden und gebildeten Klassen nicht entbehrt werden
können. Dann müssen dem Arbeiter an Stelle roher sinn-
licher Genüsse erst wieder die elementarsten Bedürfnisse
und Gewohnheiten menschlicher Gesittung auf diesem
Wege vermittelt werden. Dann sind die Badeeinrichtungen,
die vom Arbeitgeber geführten Speiseanstalten, die von ihm
gebauten Arbeiterwohnungen, seine Mädchenheime und
seine Kinderasyle, seine als Almosen gewährten Zuschüsse
zum Lohne, wenn dieser zur Erhaltung der Arbeiterfamilie
nicht ausreicht, seine Gesang- und Turnvereine am Platze,
L) Vergl. über das Patronagesystem: K. Bücher, Die bel-
gische Sozialgesetzgebung. Braun’s Archiv für soz. Gesetz-
gebung u. Statistik. IV. S. 251 ff.
248
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
Xo. 20.
am Platze aber freilich nur unter der Voraussetzung, dass
diese Einrichtungen in einer Weise geleitet werden, welche
den Arbeiter zu wachsender Selbständigkeit erzieht und
endlich zur Selbstverwaltung seiner Angelegenheiten be-
fähigt. So können die Wohlfahrtseinrichtungen zu einer
unentbehrlichen Stufe in der aufsteigenden Klassenbewegung
der Arbeiter werden.
Wir haben die Voraussetzungen geprüft, unter denen
eine Vermengung der Sozial- und Armenpolitik sich recht-
fertigt, unter welchen man die Fürsorge durch Wohlfahrts-
einrichtungen als heilsam und segensreich anerkennen kann.
Stellen wir nun auch die Bedingungen fest, unter denen
das Patronagesystem sich nicht rechtfertigt, und schliesslich
scheitern muss. Diese Bedingungen liegen vor, wenn der
Arbeiterbevölkerung bereits eine heisse Sehnsucht nach
grösserer Achtung und Anerkennung sich bemächtigt hat,
wenn sie im Gegensätze zur politisch formellen auch nach
grösserer sozialpraktischer Gleichberechtigung strebt, wenn
der Glaube an eine mögliche bessere Ordnung der wirth-
schaftlichen Produktion in ihr Wurzel gefasst hat, wenn sie
die dunkle Ahnung erfüllt, dass die zur Selbständigkeit er-
wachende Arbeiterklasse am ersten berufen sei, diese neue
Ordnung durch den demokratischen Druck der Masse her-
beizuführen, wenn die Arbeiter in dieser nahenden Organi-
sation der Arbeit nicht bloss mehr die stummen, aus-
führenden, gedankenlosen Werkzeuge eines höheren V illens,
nicht nur gehorsame Maschinen, sondern kraftvoll und
originell mitwirkende Menschen, nicht nur Hände, sondern
auch Köpfe sein sollen1). Dann ist die Zeit der Patronage
vorbei, unwiederbringlich vorbei.
Man wird die soziale Entwicklungsstufe eines Volkes
nicht hoch veranschlagen, in dem die Voraussetzungen für
ein von den herrschenden Klassen zu übendes Patronage-
system vorhanden sind. Aber — so seltsam es auch klingen
mag — noch viel betrübender und gefahrvoller erscheint
uns die Lage eines Landes, dessen leitende Kreise von den
Vorstellungen des Patronagesystemes beherrscht werden,
trotzdem seine Arbeiterverhältnisse die Anwendung des-
selben im Allgemeinen nicht mehr begründen, ja in dem die
Arbeitgeber wohl gar versuchen, mit der Politik der
„Wohlfahrtseinrichtungen“ Bestrebungen von höherer sozial-
politischer Tragweite entgegen zu arbeiten.
Leider wird in der That bei uns seit einiger Zeit der
Verbreitung und den Früchten des Patronagesystemes von
einflussreichen Persönlichkeiten eine Aufmerksamkeit ent-
gegengebracht, welche Deutschland in die sozial gewiss
nicht erfreuliche Gesellschaft Belgiens versetzt. Nun be-
finden sich ja allerdings unsere Arbeiter in gewissen
Gegenden und Berufen auf einer so niedrigen Stufe, dass
einer von freiem und edlem Geiste erfüllten Patronage
nicht ohne Weiteres jede Berechtigung abgesprochen
werden könnte. Auffallenderweise ist von dieser sozialen
Hilfsthätigkeit der herrschenden Klassen aber gerade dort
am allerwenigsten die Rede, wo sie noch am besten ange-
bracht wäre. Am eifrigsten wird sie vielmehr betrieben in
Gebieten, deren Arbeiter ihr bereits zu entwachsen be-
ginnen oder schon entwachsen sind. Wir hören viel von
den Wohlfahrtseinrichtungen der rheinisch-westfälischen
Eisenindustrie, der süd- und westdeutschen Textilindusrie,
so gut wie nichts von denen der ostdeutschen Grossgrund-
besitzer. Soweit man aber die Arbeiter der industriellen
Grossbetriebe Deutschlands, namentlich der städtischen, ins
Auge fasst, muss man sagen, dass für sie die Politik der
Wohlfahrtseinrichtungen um einige Jahrzehnte zu spät
kommt. Das wird von allen mit dem Empfindungsleben
i) P. Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter. Leipzig, Grunow,
1891. S. 218.
der modernen Arbeiter vertrauten Sozialpolitikern überein-
stimmend bestätigt. Und gerade die Worte, mit denen oben
die Voraussetzungen gekennzeichnet wurden, welche dem
Patronagesystem seine innere Berechtigung entziehen, sind
der Schilderung entnommen, die Paul Göhre von der
Stimmung der Chemnitzer Arbeiter entwirft, einer Schilde-
rung, die unseres Erachtens die geistigen Strömungen
unserer gesamten grossindustriellen Arbeiterschaft über-
haupt glücklich wiedergiebt. Vergegenwärtigt man sich
das tiefe Misstrauen, welches die zur Selbständigkeit er-
wachenden Arbeiter Deutschlands vielleicht mehr als die
Arbeiter eines anderen Landes gegen die bürgerliche Ge-
sellschaft erfüllt, und bedenkt man, dass deutsche Arbeiter
in Bezug auf die theoretisch-kritische Erkenntniss der
sozialen Fragen nicht selten die Leute, die sich zu ihrer
Bevormundung berufen glauben, weit überragen, dann
wird man in der geflissentlichen Begünstigung der Wohl-
fahrtseinrichtungen nur eine schwere Gefahr für die sozial-
politische Zukunft des Deutschen Reiches erblicken können.
Diese Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, meist nicht be-
gründet, um der allmählichen wirthschaftlichen, sozialen
und politischen Befreiung der Arbeiterklasse vorzuarbeiten,
sondern um die Arbeiter durch diese oktroyirte Fürsorge
zum Verzichte auf die von ihnen selbst erhobenen Forde-
rungen zu bewegen, sind zwar, wie die Erfahrung schlagend
darthut, nie im Stande gewesen, einen aufrichtigen sozialen
Frieden anzubahnen, wohl aber vermögen sie das sozial-1
politische Interesse, das bei uns noch lange keine Zer-
splitterung verträgt, von wichtigeren Gegenständen abzu-
ziehen und gründlichere Reformbestrebungen zu lähmen. !
Sie können nicht einen dauernden sozialen Frieden
anbahnen, denn sie übersehen eines der wichtigsten ethischen,
Momente der Arbeiterfrage, dass heisse Sehnen unserer
Arbeiterbevölkerung nach Selbstbestimmung. Mit Recht
sagt Göhre: „Alles, was für die Arbeiter geschieht, muss
heutzutage durch sie, mit ihrer Hilfe und ihrem Willen
geschehen. Wir sind über die Zeit des Patriarchenthums,
hinaus: auch der Einzelne aus der grossen Menge ist zur;
Selbständigkeit erwacht und will mitrathen und mitthatenj
wo es um sein eigen Wohl und Wehe geht. Darum, nur
durch eine dauernde ernsthafte Mitbetheiligung an den
sozialen Neuformationen der Zukunft wird auch die
Arbeiterschaft wieder zu einer nüchternen, besonnenen,
praktischen Haltung erzogen1).“
Und unter diesen Umständen wird die Ausbreitung
eines Systemes begünstigt, welches in seiner Vollendung
dazu führt, dass der Arbeiter nur einer vom Arbeitgeber1
errichteten Kranken- und Unterstützungskasse angehört, |
dass er in einem dem Arbeitgeber gehörenden Hause wohnt,
dass er in einer Speiseanstalt des Arbeitgebers sich ernährt,
dass er seine Ersparnisse dem Arbeitgeber anzu vertrauen
hat, dass er vom Arbeitgeber die Einwilligung zur Ver-
heirathung erbitten muss, dass er seine Lektüre aus einer
- .1,31
vom
Arbeitgeber errichteten und ausgewählten Bibliothek -
L Wir berufen uns hier gern auf Göhre, von dem, da ei
der „Brentano’schen Schule“ nicht angehört, wohl Niemand
wird behaupten können, er müsse „a priori die Wohlfahrtsem-
richtungen der Arbeitgeber mit dem grossen Banne belegen.
2) Der Mühe dieser Auswahl brauchen sich übrigens _ du
Arbeitgeber gar nicht mehr zu unterziehen. Eine Berlinei
Buchhandlung hält bereits Arbeiterbibliotheken, angeblich nach
Post’schem Rezept zusammengestellt, in verschiedenen Preis-
lagen vorräthig. Dieselben enthalten neben der seichtester
Unterhaltungslitteratur namentlich die sattsam bekannten Er-
zählungen für die „reifere Jugend“ von Hoffmann, Höcker
Horn, Schmied u. 's. w. Von den besseren Erzeugnisser
deutscher Volkslitteratur wie den Rosegger-, Anzengruber- ode'
Hackländer’schen Schriften keine Spur. Ebenso wenig habet
die Werke unserer Klassiker Aufnahme gefunden. Trotz alle
dem giebt es sogar Fabrikbibliotheken, in denen die Bibliothe
kare den Arbeitern die Bücher bestimmen, die sie zu lesei
haben. — Das nennt man Volksbildung.
249
No. 20.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
bezieht und schliesslich nur noch die vom Arbeitgeber für
seine Arbeiter herausgegebene „Fabrikzeitung“ liest. Man
sollte meinen, man brauche dieses Bild, das leider keine
phantastische Karikatur ist, nur zu entwerfen, um für jeder-
mann die Unvereinbarkeit dieser Politik mit dem Selbst-
bewusstsein, das unsere Arbeiterbevölkerung zu erfüllen
beginnt, ausreichend darzuthun.
Thatsächlich scheinen indess nur die wenigsten der
verschiedenen hochehrenwerthen Geheimräthe, Regierungs-
räthe, Oberlehrer, Finanzräte a. D. Pastoren, Arbeitgeber
und Direktoren, welche kürzlich zu einer Arbeiterwohl-
fahrtskonferenz zusammen gekommen sind, ein Gefühl für
diesen Widerspruch besessen zu haben. Und diese Ihat-
sache ist wirklich angethan, jeden, dem die sozialpolitische
Zukunft Deutschlands am Herzen liegt, sehr ernst zu stimmen.
So erwähnt Herr Kalle, dass bei den von Arbeitgebern
errichteten Wohnungen beinahe überall der Mieth vertrag
mit dem Austritte aus dem Arbeitsverhältnisse erlischt. Es
gilt schon als ein Zeichen besonders liberaler Gesinnung,
wenn die Firma denjenigen gegenüber, welche aus ihren
Diensten treten oder wegen Mangel an Arbeit entlassen
werden, sich an eine gewisse Kündigungsfrist bindet.
Der Berichterstatter findet an diesen Zuständen nicht
das Mindeste auszusetzen. Die Befragung der Arbeiter über ■
ihre Wünsche hinsichtlich der Bauart der Arbeiterwohnun-
gen wird von demselben Herrn nur in einer Anmerkung
gestreift. „Wo man es mit vernünftigen Arbeitern zu thun
hat, empfiehlt es sich deren Ansichten zu hören, ehe man
sich über die zu treffenden Dispositionen schlüssig macht.
So hat die Verwaltung der militärischen Werkstätte in
Spandau, bevor sie baute, bei den Leuten angefragt, ob sie
Häuser in der Stadt ohne Gärten und Ackerland, odei
ausserhalb mit Gärten und Ackerland vorzögen.“ Es „lässt
tief blicken“, wenn einem so durchaus selbstverständlichen
Vorgänge eine besondere Erwähnung zu 1 heil wird, und
wenn selbst dieses doch überaus bescheidene Mass von
Mitwirkung nur dort empfohlen wird, wo man es mit „ver-
nünftigen“ Arbeitern zu thun hat.
Indess, wenn die W ohlfahrtseinrichtungen wirklich
ihren Namen verdienen, wenn sie den edelsten und selbst-
losesten Motiven entspringen, wenn sie durchaus vorwurfs-
frei verwaltet werden, wenn die in Bezug aut Ernährung
und Wohnung geschaffenen Verbesserungen nicht zu Lohn-
herabsetzungen oder zu der Verweigerung von Lohnauf-
besserungen führen, selbst dann empfinden die Arbeiter
über dieselben keine besondere Befriedigung. Herr Kalle
bestreitet das, macht sich aber die Begründung sehr leicht.
Ihm genügt schon der Widerstand, welchen die Sozial-
demokratie der Errichtung der Arbeiterwohnungen durch
die Werkbesitzer entgegensetzt, als Beweis dafür, dass die-
selben die Arbeiter glücklich und zufrieden machen. Nach
der Logik Kalle’s müssen dann die von der Sozialdemokratie
so warm vertretenen Verbesserungen des Arbeiterschutzes,
der beruflichen Organisation, des Steuerwesens, der Armen-
pflege u. s. w. eine ausserordentlich aufreizende und be-
unruhigende Wirkung auf die Arbeiter ausüben. Sozial-
politiker, welche den Wunsch haben, ernst genommen zu
werden, sollten sich denn doch allmählich zu etwas sach-
licheren Argumenten verstehen.
Die Arbeiter wollen das, was heute bereits wirthschaft-
lich möglich ist, sich selbst, ihrer eigenen Tüchtigkeit ver-
danken. Sie sagen sich, wie ein amtlicher Bericht Badens
erfreulicher Weise anerkennt, „dass eine Gesellschaftsklasse
so wenig wie der Einzelne lediglich durch die Empfang-
nahme von Wohlthaten auf eine höhere Stufe gehoben
werden kann, und dass eine dauerhafte gesellschaftliche Ab-
wärtsbewegung sich in der Hauptsache nur durch ihre
eigenen Anstrengungen erreichen lässt.“
V ermögen nun auch die verschiedenen kleinen materiellen
Vortheile der Wohlfahrtseinrichtungen eine wirkliche Zu-
friedenheit auf Seiten der Arbeiter nicht zu begründen, so
können sie im Lauf der Zeit doch dadurch gefährlich
werden, dass sie das Ehrgefühl, die unabhängige, selbst-
ständige Sinnesart, das Streben nach höherer Bildung und
sozialer Bedeutung in der Arbeiterklasse abstumpfen, ja er-
tödten. Man denke an die lange Zeit geradezu fossiler Zu-
stände Mülhausens oder Saltaire’s. Immerhin lebt so viel
gesunde, frische Kraft in unserer Arbeiterwelt, dass diese
Gefahr nicht eben die schlimmste ist. Meist sind auch die
Nebenabsichten, welche mit der Errichtung der Wohlfahrts-
einrichtungen verfolgt werden, so deutlich, die schützende
Hand der Fabrikpatriarchen lastet oft so schwer auf ihren
„Kindern“, dass gerade diese Einrichtungen nur einen um so
mächtigeren Gegendruck hervorrufen. Man erinnere sich z. B.
an die Essener Reichstagswahl von 1887!
Weit mehr fällt die Gefahr ins Gewicht, dass in folge
dieses Patronagesystemes die Arbeiterbewegung von offenen
Bahnen auf geheime übergeht, und dass sozialpolitische
Bestrebungen grösserer Tragweite, wie die Entwicklung
des gesetzlichen Arbeiterschutzes, die trotz der eben er-
folgten Reform noch so viel zu wünschen übrig lässt, die
Entwicklung der freien Berufsorganisationen, der Arbeiter-
konsum- und Produktivvereine, der Fürsorge für Arbeits-
lose, der sozialen Steuerpolitik, der Wohnungsgesetzgebung
u. s. w. aus dem Brennpunkte der sozialpolitischen Inter-
essen der massgebenden Kreise gedrängt werden, kurz, dass
so die Zeit für eine grundlegende Sozialreform verabsäumt
wird.
Mit diesen Ausführungen soll übrigens der Kleinarbeit
auf sozialem Gebiete ebenso wenig entgegengetreten werden
wie der Betätigung der besitzenden und gebildeten Klassen
auf dem Boden der sozialen Reform. Erstere kann sicher
fruchtbar und segensreich wirken, wenn sie sich in der
Richtung der grossen sozialen Reformwerke bewegt, die-
selben ergänzt, fördert oder vorbereitet. Und was die An-
gehörigen der bürgerlichen Gesellschaft und namentlich der
Arbeitgeber betrifft, so sprechen wir ihnen sogar noch weit
höhere Pflichten zu als die, Suppenanstalten, Waschküchen,
Fabrikspeisesäle, Gesangvereine, Fabrikfeuerwehren und
Jugendspielplätze für die Arbeiter zu errichten. Ihnen fällt
die Aufgabe zu, die Gleichberechtigung des Arbeiters im
wirthschaftlichen, sozialen und politischen Leben praktisch
anzuerkennen, ihr reiches Wissen und ihre Erfahrungen
selbstlos, ohne die Absicht, dadurch gewisse politische oder
konfessionelle Lieblingsideen zu fördern1), in den Dienst
der sozialen Reform zu stellen, die Kulturerrungenschaften
der Menschheit unserem schwer arbeitendem Volke zu-
gänglich zu machen und so gebend — und sicher oft auch
empfangend — die Einheit unserer Kultur und Gesittung
wieder herzustellen. Nicht die Salt, Krupp, Dollluss,
Brands, sondern die Fielden, Mundella, Dale, Chamberlain,
sind es, welche als Arbeitgeber um die soziale Reform sich
bleibende Verdienste erwerben und erworben haben, und
nicht einer ministeriell protegirten Auskunftsstelle für
Arbeiter- Wohlfahrtseinrichtungen, sondern einer Verwand-
lung seiner ganzen Regierung in eine Centralstelle für
Volkswohlfahrt und Volksbildung bedarf das Deutsche Reich.
Freiburg i B. Heinrich Herkner.
i) Nach dieser Hinsicht enthält das kurze, abei inhalts-
reiche Referat des Werkmeisters Zander, wohl des einzigen aus
dem Arbeiterstande hervorgegangenen Theilnehmers an cler
kürzlich stattgehabten „Arbeiter“ - Wohlfahrtskonferenz , _ eine
Reihe höchst beachtenswerther Mahnungen, die indess bei den
übrigen Herren wenig Verständniss gefunden zu haben scheinen.
Vergl. Vorberichte für die Konferenz am 25. und -6. April 18.-
Berlin, C. Heymanns Verlag 1892. S. 139 ft.
250
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 20.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Untersuchung der Bodenverschuldung in der Schweiz.
Die vom schweizerischen Landwirthschaftsdeparte-
ment angeordnete Erhebung der Bodenverschuldung stösst
auf grosse Schwierigkeiten. In den meisten Kantonen
scheint es unmöglich zu sein, den vorzugsweise landwirth-
schaftlich benützten Grundbesitz und dessen Verschuldung
aus dem gesammten Immobiliarbestand auszuscheiden. In
sehr vielen Kantonen könnte zudem die relative Höhe der
Verschuldung nicht bestimmt werden, weil es an einer amt-
lichen Werthschätzung des Grundbesitzes fehlt. Um nun
wenigstens tiir die Zukunft eine Grundlage für zuverlässi-
gere Ermittlung der landwirthschaftlichen Kreditverhält-
nisse zu schaffen, hat das schweizerische Landwirthschafts-
departement für zweckmässig erachtet, die ganze, diese
Enquete betreffende Frage einer Versammlung kantonaler
Abgeordneter zur Berathung zu unterbreiten.
Die Versammlung fand am 20. April statt. Die Abge-
ordneten der meisten Kantone erklärten, dass bei der lücken-
haften Eintragung der Grundschulden von einer rückwärts
sich erstreckenden Ermittlung sämmtlicher eingetragenen
Vorzugs- und Unterpfandrechte in allen Gemeinden des
Landes Umgang genommen werden müsse, namentlich auch
desswegen, weil in den Grundbüchern eine mehr oder
minder grosse Anzahl Einträge sich befinden, deren Löschung
zu bewirken die Betheiligten Steuerzwecke wegen gewöhn-
lich lange Zeit unterlassen, so dass mühevolle Spezialunter-
suchungen nothwendig wären. Die Versammlung glaubte
aus diesen Gründen dem Bundesrath empfehlen zu sollen,
aut diese Erhebungen zu verzichten und sich auf die Samm-
lung der Thatsachen zu beschränken, durch welche diese
Verschuldung verursacht wurde. Ebenso fand die Ver-
sammlung, dass von einer statistischen Zusammenstellung
von Thatsachen aus dem Gebiete der Schuldbetreibung für
die Zeit vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes über Schuld-
betreibung und Konkurs (1. Januar 1892) gleichfalls abzu-
sehen sei, weil diese Arbeit in den meisten Kantonen nur
mit erheblichen Schwierigkeiten oder gar nicht durchzu-
führen wäre und ohnehin nur einen Werth hätte, wenn sie
sich auf 30 oder 40 Jahre zurückerstrecken würde. Dagegen
wurde der Bundesrath ersucht, für die Zeit nach Inkraft-
treten des eidgenössischen Konkursgesetzes einheitliche
Vorschriften über eine regelmässige Statistik der Zwangsver-
steigerungen landwirthschaftlicher Anwesen zu erlassen.
Es steht zu erwarten, dass die Berathungen der
Versammlung Anstoss zu Verbesserungen auf agrarstatisti-
schem Gebiet geben werden, in welchem die Schweiz
hinter anderen Staaten leider noch zurücksteht. Könnte
man sich in den Kantonen zur einheitlichen Registrirung
der Grundschulden verständigen, so wäre es nicht schwierig,
die alljährlichen Hypothekenbewegungen zu ermitteln. Man
bedarf aber in der Schweiz auch einer Statistik über die Pro-
duktions- und die Besitzvertheilung. Daneben muss neben
den allgemeinen Erhebungen eine gründliche Untersuchung
einer Reihe über das ganze Land vertheilter landwirth-
schaftlicher Betriebe vorgenommen werden, wenn man zu-
verlässige Auskunft über die Kreditverhältnisse der Land-
wirthschaft erhalten will, da hier am genauesten der Ein-
fluss der Gesetzgebung, der öffentlichen Krediteinrichtungen
und der landwirthschaftlichen und allgemein wirtschaft-
lichen Nothzeiten und Aulschwungsperioden beobachtet
werden kann. Die Kenntniss der tatsächlichen Rentabili-
tätsverhältnisse kann nur auf diesem Wege erworben
werden und erst auf Grund dieser Kenntniss ist eine sichere
Würdigung des zulässigen Grades der Verschuldung er-
möglicht.
Es liegt in der Absicht des Landwirthschaftsdeparte-
ments, solche typischen Erhebungen in einzelnen Gemeinden,
Bezirken, eventuell, wo die Verhältnisse es gestatten, Kan-
tonen, zu veranstalten. Auch wird das Departement aus
den kantonalen Amtsberichten, den Berichten von Notariaten
und Gerichtsbehörden, den Berichten der Hypothekarbanken
den Publikationen der statistischen Bureaux, sowie au;
Zeitungen und Broschüren die Thatsachen zusammenstellen
welche es über die Boden Verschuldung in Erfahrung bringei
kann. Eine Zunahme der hypothekarischen und sonstige!
Verschuldung kann an vielen Orten unzweifelhaft angenom
men werden und ebenso wird in einzelnen Kantonen kon
statirt, dass diese Verschuldung in jüngster Zeit in einem wei
schnelleren Tempo fortschreitet als früher. Die Kantons^
behörden werden zu untersuchen haben, wo die Ursache!
liegen. Die Aufmerksamkeit wird unter Anderem speziell au
das öffentliche Kreditwesen und seine Wirkung auf die Land
wirthschaft gerichtet werden müssen, denn hier ist eine
der Ursachen des Uebels zu suchen. Die heutigen Erträg
nisse der Landwirthschaft stehen in keinem Verhältniss zi
dem Zinstribut, welcher auf dem Grund und Boden lastet
Wenn so viele Geldinstitute, die sich ausschliesslich auf da:
Hypothekargeschäft beschränken, rühmen können, wie si« !
ihren Aktionären alljährlich 7 und mehr Prozent Dividend«
zahlen, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass du
Bodenverschuldung so beängstigend wächst. Offenbar taug
das Aktienprinzip hier absolut nichts, die Genossenschaft
Staat und Gemeinden müssen eintreten und die landwirth
schaftliche Kreditvermittlung in ihre Hand nehmen.
Aarau. E. Naef.
Die Krisis in der schweizerischen Uhrenindustrie. Du
nun schon seit dem Herbst dauernde Krisis in der Uhrenindustru
ist, wie wir einem Bericht der Münchener ,, Allgemeinen Zeitung'
entnehmen, viel ernster, als die Stockungen in den sechzige:
und siebziger Jahren gewesen sind. Sie ist um so ernster, als
die Ursache nur theilweise in äusseren Umständen gesuch
werden kann; die Industrie selber hat sie hervorgebracht unt
wird um so länger daran zu leiden haben, als es ihr sehr schwel
tallen wird, einen neuen Weg einzuschlagen. Die Hauptschuld
denn man darf da wohl von Schuld reden, trägt die gewaltig!
Ueberproduction, eine Folge des Ueberganges vom frühere!
Ateliersystem, das sich bis zu einem gewissen Grad auf die
Hausindustrie stützte, zur Grossfabrikation. Die in den letzter
anderthalb Jahrzehnten überall entstandenen grossen Uhren
fabriken haben die Kleinindustrie aufgesogen, wenigstens fü
die gewöhnliche Waare und diese Fabriken machten sich nacl
und nach eine Konkurrenz, deren Folge nicht nur eine nie da
gewesene Ueberproduction war, sondern auch ein allgemeine!
Sinken der Preise. Die „Federation horlogere ‘ deckt schonungs
los den Schaden, welcher an der Industrie frisst auf und nenn,
mit vollem Recht das gegenseitige Ueberbieten der Fabrikanten
von denen jeder mehr und wohlfeiler liefern möchte als de
Nachbar, ein selbstmörderisches. Viele richten sich zu Gründe
einige wissen einen Erfolg zu erzielen auf Kosten der Zukunf
und auf Kosten der ganzen Bevölkerung der Gebiete des Jura
die aut die Uhrmacherei fast ausschliesslich angewiesen sind
Die Erfolge dieser allgemeinen Hetzjagd der Fabrikanten sine
das verderbliche Treiben der Spekulanten und Zwischenhändler
die Verschleuderung grosser Vorräthe durch diesen oder jener
in Verlegenheit gerathenen Produzenten, demoralisirende au
gefährliche Auskunftsmittel gestützte Geschäftspraktiken, da:
Herabsinken früher anständig bezahlter und anständig lebende)
Arbeiter zu in Elend verkommenden Proletariern. Man hat in dei
Uhrmachergegenden wie ausserhalb derselben das Uebel wohl er
kannt, und es ist sehr erfreulich zu sehen, wie gutgesinnte unc
in die Ferne blickende Fabrikanten und wie diese oder jent
Arbeiterverbände das Gleiten auf der schiefen Fläche aufzuhalter
versuchen. Schon vor längerer Zeit versuchte man es mit dei
Bildung von Syndikaten mit strengen Conventionen bezüglicl
der Fabrikation, des Handels, der Preise und der Arbeitslöhne
aber dieses oder jenes Syndikat wurde durch Mitglieder, denei
Geduld und Geld ausgingen, gesprengt Man bildete neue, und
gegenwärtig ist die Ueberzeugung allgemein verbreitet, dass nui
in solchen Vereinigungen mit den strengsten Satzungen da.-
Mittel für eine Besserung der Zustände gefunden werden könne
Aber wird man es zu obligatorischen Syndikaten bringen können :
Und wenn auch, so wird es kaum möglich sein, die schlechter
Geschäftsgewohnheiten auszutreiben, die sich unterdessen ein-
genistet haben, oder die tief gesunkenen Preise und Löhne
wieder zu steigern. Jedenfalls müsste die Sanirung der Verhält
nisse sich auch auf verschiedene Missbräuche im Verkehrsleben
ausdehnen, wie z. B. auf das überaus schädliche System der
sechsmonatlichen Kredites, das in mehreren Gegenden herrschl
und nicht geeignet ist, die Bevölkerung zur Sparsamkeit aufzu-
muntern. Wir brauchen nicht daran zu erinnern, dass die Uhren-
fabrikation in der Schweiz eine Nationalindustrie geworden ist
um das grosse Interesse zu erklären, welches die Verlängerung
der gegenwärtigen Krisis in weiteren Kreisen zu erregen beginnt
No. 20.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
251
Italienisches Zündliolzmonopol. Im Gegensätze zu dem
schweizerichen Zündhölzermonopol werden mit dem in Italien
geplanten lediglich fiskalische Zwecke verfolgt. Das Monopol
soll an eine zu bildende Gesellschaft verpachtet werden. In
den bekannt gewordenen ausführlichen Vertragsbestimmungen
findet sich keine einzige den Schutz der Arbeiter betreffende
Bestimmung, obgleich es doch sehr leicht gewesen wäre, die
Sanitären Interessen der Arbeiter bei dieser Gelegenheit aui
weit einfachere Weise als auf dem Wege der Gesetzgebung zu
sichern.
Arbeiterzustände.
Haushalt einer Arbeiterfamilie in Bayern.
In No. 16 des „Sozialpolitischen Centralblatts“ war
aus den Berichten der Bayrischen Fabrikinspektoren mit-
getheilt, wieviel in einer normal ländlichen Arbeiterfamilie
im südlichen Oberbayern, bestehend aus Mann, Frau und
drei 1 — 3 Jahre alten Kindern wöchentlich verzehrt wird.
Die Angabe lautete: „Gebraucht werden durchschnittlich in
der Woche 115 gr Kaffee (dazu noch Mandel- und Feigen-
kaffee), 14 1 Milch, 1,6 kg Zucker, 2,9 kg Mehl, circa '/• kg
Rindfleisch, 115 gr Erbsen, 575 gr Rollgerste (oder ent-
sprechend Kartoffeln) 115 gr Gries, 230 gr Salz, 920 gr
Butter, 345 gr Rollfett, 18 — 14 1 Bier (im Sommer), um
2,26 M. Schwarz- und Weissbrod, 0,23 M. Eier, circa I M.
Sonstiges.“
In der Kritik, welche vom „Sozialpolitischen Central-
)latt“ an dieses Budget geknüpft war, hiess es dann: „Das
Dürftige und Unrationale dieser Ernährung sticht zu sehr
ins Auge, als dass es besonders hervorgehoben zu werden
brauchte. Die nichtstickstoffhaltigen Speisen (in dem
Bericht stand in Folge eines Druckfehlers: die stickstoff-
laltigen Speisen) überwiegen ausserordentlich und jede
Abwechslung fehlt. Wenn man bedenkt, dass auch drei
I— 3jährige Kinder von dieser Kost jahraus, jahrein leben,
;o braucht man sich über eine Degeneration der Arbeiter-
levölkerung nicht zu wundern.“
Die mitgetheilten Ziffern über den Verbrauch an
Nahrungsmitteln eignen sich, um festzustellen, inwieweit
lie Ernährung dieser ländlichen Familie dem Kostenmass
mtspricht, das als durchschnittliche Nahrungseinnahme
lach Prof. Voit täglich von einem Erwachsenen verbraucht
verden soll. Es beträgt bekanntlich 118 gr Eiweiss, 58 gr
fett und 500 gr Kohlehydrate (Mehl- und Zuckerstoffe).
Venn der obenerwähnte Speisezettel nach den Tabellen
ro n Prof. König auf seinen Nährwerth berechnet wird, er-
gebt sich Folgendes:
Nahrungsmittel
Ei-
weiss
%
Fett
%
Koh-
lehy-
drate
%
Ei-
weiss
gr
Fett
gr
Kohle-
hy-
drate
gr
115 gr Kaffee (ungebrannt) .
13,0
_
_
15,0
14 f Milch =: 1400 gr . . .
3,5
4,0
4,4
49,0
56,0
61,6
600 gr Zucker
900 „ Mehl (grob. Weizen-
97,0
—
—
109,2
mehl)
500 gr Rindfleisch (mittel-
11 8
1,4
72,2
242,2
39,1
2093,7
fettes Rindfleisch) . . .
20,9
5,2
0,5
104,5
26,0
2,5
115 gr Erbsen
22,9
1,8
52,4
26,3
20,7
60,3
575 „ Rollgerste ....
7,3
1,2
76,2
42,0
6,9
438,2
115 „ Gries (Weizengries) .
11,0
—
70,0
12,7
—
80,5
230 „ Salz . . .' . . .
—
—
—
—
—
—
920 „ Butter ....
0,7
83,3
0,4
6,4
766,4
3,7
345 „ Rollfett (Schweinefett
18—14 1 Bier (in Rechnung
92,2
318,1
1600 gr Bier)
'ür 2 M. 26 Pf. Brod ä Kilo-
gramm 24 Pf. (in Rech-
nung 9500 gr Schwarz-
0,4
5,7
64,0
91,2
brod)
fier für 23 Pf. = 6 Stück mit
6,1
0,4
47,0
579,5
38,0 4465,0
270 gr Inhalt
12,6
12,1
0,6
34,0
32,7
16,2
Summe
1175,6
1
1303,9! 7503,2
Mann, Frau und 3 Kinder von 1 — 3 Jahren sind gleich
3 Erwachsenen zu rechnen, die in 7 Tagen die eben be-
rechneten 1175,6 gr Eiweiss, 1303,9 gr Fett und 7503,2 gr
Kohlenhydrate zu sich nehmen, mithin täglich pro Kopf
der Erwachsenen: 56,9 gr Eiweiss, 62,1 gr Fett und
357,3 gr Kohlehydrate.
Es wird jetzt deutlich ersichtlich, welch bedeutendes
Defizit in der Ernährung vorhanden ist; die im Budget auf-
geführten: „1 Mark Sonstiges“ sind wohl kaum für Nah-
rungszwecke verwendet worden.
Die Nahrungsbilanz ergiebt dann, dass anstatt 118 gr
Eiweiss nur 56 gr verzehrt wurden, also 47,5 %, das heisst
mit anderen Worten: Wenn die Familie sich mit der er-
forderlichen Eiweissmenge ernähren wollte, so könnte
sie dies im Jahre nur 173 Tage, während sie 192 Tage
auf jegliche Eiweissnahr ung verzichten müsste!
Schon einige Wochen vollständiger Eiweissmangel in
der Nahrung würden hinreichen, um den Tod herbeizu-
führen! Der ständige theilweise Eiweissmangel führt nicht
den augenblicklichen, sondern den schleichenden Tod her-
bei, der zu verkürzter Lebensdauer und körperlicher Ent-
artung führt
Die Fettaufnahme ist etwas mehr als zureichend, da-
für aber die Zufuhr von Kohlenhydraten (Stärkemehl und
Zucker) eine um so geringere, nur 71 % der erforderlichen
Menge werden verbraucht!
Die erschreckend hohen Sterblichkeitsziffern der Ar-
beiterbevölkerung erklären sich durch die durchwegs zu
geringe Eiweisszufuhr in der Nahrung; die Mittheilung von
Arbeiterbudgets ermöglicht einen genauen Nachweis, in
wie geringem Maasse die wissenschaftlich als nothwendig
erkannte Nahrung der arbeitenden Bevölkerung zu theil
wird. Eine Untersuchung der Lebenshaltung der arbei-
tenden Bevölkerung wäre die wichtigste Aufgabe der Kom-
mission für Arbeiterstatistik, wenn dieselbe dazu bestimmt
sein würde, den Schleier von jenem Elend wegzuziehen, in
dem sich Deutschlands Arbeiter befinden!
Arbeiterwaiideruugen innerhalb Deutschlands. Der
„Schles. Ztg.“ wird aus Posen geschrieben: „Die seit Jahren
zunehmende Arbeiterwanderung nach dem Westen scheint
neuerdings eine rückläufige Bewegung hervorzurufen. Wie
berichtet wird, sind vor dem Osterfeste mehrfach Arbeiter-
familien aus den Provinzen Brandenburg und dem west-
lichen Schlesien auf den Gütern um Wreschen (Provinz
Posen) eingetroffen, um entweder für den Sommer Arbeit
zu nehmen, oder sich auch dauernd als Instleute nieder-
zulassen. Der Zuzug neuer Arbeiter soll auch nach anderen
Gegenden der Provinz Posen so stark gewesen sein, dass
die durch die Auswanderung leer gewordenen Stellen fast
ganz besetzt worden sind. Hiernach zu urtheilen scheint
der dauernde starke Zuzug von Arbeitern aus den polni-
schen Landestheilen in den Westprovinzen einen Ueberfluss
an Arbeitskräften herbeigeführt zu haben. Dafür spricht
auch der weitere Umstand, dass in diesem Frühjahr soge-
nannte Sachsengänger mehrfach zurückgekehrt sind, weil
sie im Westen kein Engagement gefunden haben.“
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Die letzten englischen Strikes.
Wie bekannt, sind zwei kolossale Strikes im Norden
von England im Gang — der der Baumwollearbeiter in
Lancashire und der der Bergleute von Durham. Ueber die
wahren Ursachen des Streits und über die heutige Lage
der Dinge sich eine richtige Vorstellung zu machen, ist un-
möglich, ausgenommen für Leute, die am Platz selbst sind
und alle Details dieser Kämpfe kennen. Schon seit einiger
Zeit herrschte „Missstimmung“ in den Fabriken von Lan-
cashire, in wie weit der jetzige Streit und die jetzige Aus-
sperrung die Folgen davon sind, können indessen nur die-
jenigen sagen, welche in die Geheimnisse sowohl der Fa-
brikanten wie der Arbeiter eingeweiht sind. Der Streit be-
gann in Staleybridge wegen Einstellung von Nicht-Union-
arbeitern, andere Fragen entsprangen aus dem ursprüng-
252
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 20.
liehen Streite und heute ist Alles in Verwirrung. Aber
zwei Dinge sind ganz sicher: einmal verwerfen die Fabri-
kanten beständig jede schiedsrichterliche Entscheidung, und
nicht zufrieden mit der bisherigen, nur theilweisen, ver-
suchen sie Alles, eine allgemeine Aussperrung herbeizu-
führen. Die andere unbestrittene Thatsache ist, dass selbst
die wunderbar organisirten Fabrikarbeiter von Lancashire
jetzt anfangen, einzusehen, dass die gesammten Anstren-
gungen auch starker und einander in die Hände arbeitender
Trades Unions allein den Arbeitern nicht genügenden
Schutz gewähren. In dieser Beziehung verdient Beachtung
ein sehr bemerkenswerther, nicht gezeichneter Artikel des
Fachblattes der Fabrikarbeiter; Jedermann vermuthet
j. Ashton, den Sekretär der Oldham-Spinner dahinter. In
demselben verweist der Verfasser einfach auf die Noth-
wendigkeit einer politischen Action und eines gesetz-
lichen Achtstundentages. Die enorme Wichtigkeit hiervon
kann nur von denjenigen gewürdigt werden, die wissen,
wie erbittert die Lancashire-Spinner und Weber bis jetzt
nicht nur einen gesetzlichen Achtstundentag bekämpit haben,
sondern überhaupt einen Achtstundentag. Unterdessen hat
die Manchester-United Manufacturers Association gerade eine
Versammlung abgehalten, auf der fast alle Hauptfabriks-
centren vertreten waren. Dort wurde beschlossen, ein
Zirkular zu erlassen, worin alle Fabrikanten des Gewerbes
gefragt werden sollen, ob sie sich nicht herbeilassen wollen,
„die Produktion auf drei Tage in der Woche zu beschrän-
ken“, unter der Voraussetzung, dass „zwei Drittel der Web-
stuhlbesitzer in den bezüglichen Distrikten dies thun
würden.“ — Zunächst weist die Situation auf einen verlän-
gerten und erbitterten Kampf hin.
In Durham wird wahrscheinlich der Kampf bald seinem
Ende entgegen gehen, — kein Wunder, die Leute sind in
der siebenten Strikewoche. Auch hier ist der eigentliche
Streitpunkt dunkel, während der thatsächliche Ausgang des
Kampfes für die Bergleute im Ganzen nur nützlich sein
kann. Bis jetzt haben die Durhamleute sich immer von
den verschiedenen Föderationen der Bergarbeiter ganz fern-
gehalten, und in Gemeinschaft mit ihren Kollegen von North-
umberland auf jedem Trades - Union - Congress die Forde-
rung einer Achtstundenbill für Bergleute bekämpft. Sie
arbeiteten, behaupteten sie, nur 6 Stunden (eine trotz alle-
dem in mancher Hinsicht illusorische Angabe), aber dass
die Jungen 11 Stunden arbeiten müssen, war allem
Anschein nach ihrer Beachtung nicht werth. Der gegen-
wärtige Kampf nun treibt sie mit Nothwendigkeit in die
Reihen der übrigen Bergleute.
Wie schwer es oft ist, den wahren Hintergrund solcher
Streitigkeiten wirklich zu verstehen, beweist der neuliche
grosse Streit der Tyneside-Maschinenbauer. Dieser Strike
dauerte viele Wochen und kostete der Maschinenbauer-
Union etwa 80 000 Lstr. Die Leute wurden geschlagen, und
das nicht unnatürliche Gefühl aller derjenigen, die nur die
Aussenseite des Falles kannten, mochte sich in dem Ruf
ausdrücken: „Geschieht ihnen recht.“ Der Strike schien
so sehr vom Zaun gebrochen, so sehr hervorgerufen
durch einen wahrhaft mittelalterlichen Zunftgeist, dass er
in Südengland nur wenig Sympathie fand. Angeblich
handelte es sich darum, Männer eines verwandten Ge-
werbes — Plumbers — zu verhindern, eine gewisse
Arbeit zu verrichten, auf die nur Maschinenbauer Anspruch
hatten. Darum zu kämpfen, scheint kaum der Mühe werth;
den Aussenstehenden machte es mehr den Eindruck eines
Handwerkskrakehls zwischen den Arbeitern selbst, als eines
Kampfes der Arbeiter gegen die Unternehmer. Aber was
waren die wirklichen Thatsachen? Sie sind interessant ge-
nug für eine Richtigstellung, umsomehr als sie bisher nir-
gends veröffentlicht wurden, nicht einmal in England.
Die Maschinenbauer im Norden Englands sind die bei
Weiten fortgeschrittenste Sektion dieser im Uebrigen etwas
reaktionären Körperschaft. Während in Folge ihrer eigenen
kurzsichtigen Politik in jeder Maschinenwerkstätte Südeng-
lands Maschinenbauer beschäftigt werden, die der Union
nicht angehören, so dass die Zahl der Nicht-Unionleute oft
die der Unionleute übersteigt, lassen die derben Tynesiders
keinen „blackleg“ in ihrer Werkstatt zu; ein solcher
würde im ganzen Distrikt nicht gefunden werden.
Ausserdem, während die Maschinenbauer in den meisten
andern Theilen Grossbritanniens darauf bestehen, eine be-
liebige Anzahl Stunden „Ueberzeit“ zu arbeiten — die fest-
gesetzten 54 Stunden per Woche sind in Wirklichkeit öfter |
70 oder gar 80 — wurde kürzlich im Norden eine erfolgreiche
Bewegung gegen die Ueberzeitarbeit begonnen; kein Ma-
schinenbauer arbeitet heute eine Stunde über seine 54 (in
manchen Fällen nur 53) Stunden per Woche. Darum
handelt es sich: der wirkliche Kampf mit den Meistern
drehte sich um diese Ueberzeitfrage und um die Zulassung
von Nicht-Union-Leuten, die für niedere Löhne arbeiten.
Der Streit entstand nicht so sehr, weil die Maschinenbauer
den Plumbern eine gewisse Gattung Arbeit absprachen,
sondern, weil sie nicht zugeben wollten, dass dieselbe
Arbeit, für die sie 34 bis 38 Sh. per Woche erhielten, den
Plumbern gegeben wird, die niedrigere Löhne erhalten
(nur 24 bis 28 Sh.). Vor Allem aber beschwerten sie sich
darüber, dass die Arbeitgeber den Plumbern Stücke Arbeit
übergaben, die von Maschinenbauern begonnen worden
waren und die durch Ueberstunden fertig zu stellen sie
verweigert hatten. Ein Maschinenbauer z. B., der in dem
Augenblicke die Arbeit eingestellt hatte, sobald seine Zeit
um war, fand am nächsten Morgen, dass ein Plumber statt
seiner auf Ueberzeit für einen niederen Lohn engagirt worden
war und die Arbeit beendigt hatte. Das war der wirkliche
Grund des Strikes und nicht der kleinliche, gewöhnlich
vermuthete. Es muss noch hinzugefügt werden, dass die
Maschinenbauer selbst noch hätten aushalten können —
aber hunderte von Arbeitern aus verwandten Gewerben,
die nur kleine und arme Organisationen haben, waren dem
Verhungern nahe. Die Statuten ihrer eigenen Gesellschaft
machten es den Maschinenbauern unmöglich, diese Männer !
ganz und gar zu unterstützen, — und so blieb nichts übrig
als nachzugeben. Und deswegen arbeiten die Plumber
noch immer „Ueberzeit“ — die Maschinenbauer, trotz der
Verluste ihres Strikes, verweigern sie. Was für Schwierig-
keiten noch daraus entstehen werden, ist schwer zu sagen,
aber dass die Sache noch nicht abgeschlossen, ist ganz
gewiss.
London. Eleanor Marx-Aveling. '
Zwei neue französische Arbeitsbörsen. Vorigen
Sonntag sind in Frankreich zwei neue Arbeitsbörsen er-
öffnet worden und zwar eine in Angers und eine in
Montpellier. Letztere Stadt besitzt zwar schon seit
vorigem Jahre eine Arbeitsbörse, doch war diese bisher
nur provisorisch untergebracht. Gegenwärtig hat sie nun
ein eigenes ebenerdiges Lokal, das aus vier kleineren
Sälen besteht, bestimmt für Arbeitsvermittlung, Abhaltung
von Fachkursen, Bibliothek und Sekretariat, und einem
grossen Konferenz- bezw. Versammlungssaal. Für die
Arbeitsbörse in Angers ist das frühere Appellgerichts-
gebäude adoptirt worden. An beiden Orten war die Er-
öffnung der Arbeitsbörse mit einer kleinen Feierlichkeit
verbunden, an welcher der Gemeinderath und sämmtliche
Gewerkschaften theilnahmen.
In der Schweiz fiir Strikezwecke gesammelte und ans-
gegebene Gelder. Aus dem Jahresberichte des schweizerischen
Gewerkschaftsbundes ersehen wir, dass für Strikezwecke ge- :
sammelt bezw. ausgegeben wurden im Jahre
1887 Frcs. 28 181
1888 „ 14 303
1889 „ 18 354
1890 „ 14 658
1891 „ 5 889
1887-1891 „ 83 285
Zu diesen freiwillig gesammelten Beiträgen kommen noch
die Sammlungen für den schweizerischen Buchdruckerstrike,
welche 20 396 Frcs. ergaben und die nun laufenden obligatori-
schen Reservekassenbeiträge mit 26 584 Frcs., sodass in den
Jahren 1887—1891 130 225 Frcs. von der schweizerischen Arbeiter-
schaft für Lohnkämpfe aufgebracht wurden. In dieser Summe
No. 20.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
253
sind die nach dem Auslande für Strikeunterstützimg gesandten
namhaften Summen nicht enthalten.
Trotzdem die im Jahre 1891 gesammelte Summe hinter
der der vorangegangenen Jahre ganz erheblich zurückblieb
und die Zahl der Lohnkonflikte grösser war als in früheren
jahren wurden mehr Erfolge zu verzeichnen als zur Zeit der
langwierigen und kostspieligen Strikes.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Die dritte Lesung der preussisclien Berggesetz-
novelle. Donnerstag, den 12. d. M., hat im preussischen
Abgeordnetenhause die dritte Lesung der Berggesetznovelle
ihren Anfang genommen und wird zweifellos in den fol-
genden Tagen mit der Annahme des Gesetzentwurfs durch
eine grosse Majorität ihren Abschluss finden. So weit die
Debatten in diesem Augenblick erkennen lassen, wird das
Gesetz im Wesentlichen die in der zweiten Lesung fest-
gestellte Fassung erhalten. Wir werden das Resultat nach
Beendigung der Verhandlungen eingehend würdigen.
Arbeiterschutz beim Bau der wiener Verkehr sanlagen.
Nachdem die jungtschechische Partei durch den Abgeordneten
Professor Kaizl einen Gesetzentwurf betreffend Ausdehnung des
Arbeiterschutzgesetzes auf die gewerbliche „Taglöhnerarbeit“
eingebracht hat (s. Sozialpolitisches Centralblatt No. 18, S. 231),
löste nun auch die deutsch-liberale Partei ihr Versprechen ein
und fordert die Anwendung des Arbeiterschutzgesetzes speciell
auf die bei der Ausführung der öffentlichen Verkehrsanlagen in
Wien thätigen Arbeiter. Geht der Antrag der Liberalen auch sach-
lich weiter als der jungtschechische Antrag, so verdient letzterer
den Vorzug, weil er nicht bloss auf die Wiener Verkehrsanlagen
beschränkt ist, sondern eine dauernde Ausdehnung des Arbeitei -
Schutzes auf bis nun ungeschützte Personen herbeifuhren könnte.
Die Anträge der liberalen Partei lauten:
I Die Regierung wird aufgefordert: 1 Sorge zu tragen,
dass bei der Ausführung der öffentlichen Verkehrsanlagen in
Wien die Bestimmungen des sechsten Hauptstückes der Gewerbe-
ordnung strenge gehandhabt werden. 2. Bei der Ausführung
der Bau-, Erd-, Wasserbauarbeiten, welche durch die Herstellung
der Stadtbahn, Wienflussregulirung, der Hauptsammelkanäle und
der Umwandlung des Donaukanals in einen Winterhafen noth-
wendig werden, durch vertragsmässige Bestimmungen, ins-
besondere in den Bedingnissheften, die Gleichstellung, beziehungs-
weiseUnterordnung sämmtlicher bei diesen Arbeiten beschäftigten
Arbeitspersonen rücksichtlich der allgemeinen Bestimmungen
des sechsten Hauptstückes der Gewerbeordnung nach Thunbch-
keit zu sichern und bezüglich derselben Arbeitspersonen,
unbeschadet des dem Handelsminister und den Gewerbebehörden
vorbehaltenen Rechtes, Ausnahmen zu bewilligen, auch die An-
wendung des § 96a der Gewerbeordnung (Maximalarbeitstag ,
sowie des § 96b der Gewerbeordnung ( Verbot der Kinderarbeit,
Einschränkung der Arbeit jugendlicher Personen, Verbot der
Nachtarbeit der Frauen) durch Vereinbarungen mit den Unter-
nehmern und auf dem Wege der Arbeitsordnungen zu veran-
lassen; 3) auf sanitäre Verhältnisse und die Unterkunft der aus
Anlass der Ausführung der öffentlichen Verkehrsanlagen in
Wien sich ansammelnden Arbeiter ihre Aufmerksamkeit zu
richten, wo nöthig Begünstigung für den Bau provisorischer
Unterkunftsbauten zu gewähren und die Aufnahme erkrankter
Arbeiter in die bestehenden oder provisorisch zu errichtenden
Spitäler zu sichern.
II. Das Haus wolle folgendes Gesetz beschliessen :
Gesetz, betreffend die Bestellung eines Gewerbeinspektors
aus Anlass der Ausführung der öffentlichen Verkehrsanlagen in
Wien.
Mit Zustimmung beider Häuser Meines Reichsrathes finde
Ich anzuordnen wie folgt:
§ 1. Der Handelsminister ernennt im Einvernehmen mit
dem Minister des Innern einen Gewerbeinspektor, dessen Thätig-
keit im Sinne des Gesetzes vom 17. Juni 1883, R.-G.-Bl. 117, sich
auf die Ueberwachung der Bau-, Erd-, Wasserbauarbeiten er-
streckt, die in Ausführung der öffentlichen Verkehrsanlagen in
Wien vorgenommen werden. Auf diesen Gewerbeinspektor
finden alle Bestimmungen des bezeichneten Gesetzes An-
wendung.
§ 2. Der Gewerbeinspektor ist Mitglied der Kommission
für die Ausführung der Wiener Verkehrsanlagen mit berathender
Stimme.
§ 3. Die durch die Bestellung und Amtsführung dieses
Gewerbeinspektors hervorgerufenen Kosten trägt die Kommission
für die Verkehrsanlagen in Wien.
§ 4. Mit der Ausführung dieses Gesetzes ist Mein Handels-
minister und Mein Minister des Innern beauftragt.
Ein schweizerisches Bundesgesetz über die Kündi-
gungsfristen wird vom Kaufmännischen Verein Zürich an-
gestrebt. In demselben sollten folgende Grundsätze zum
Ausdruck kommen:
1. Als Kündigungsfrist im Handelsgewerbe gilt allge-
mein für Angestellte im ersten Jahre ihrer Dienstzeit in
einem Geschäft ein Monat, je auf den ersten Tag des fol-
genden Monats. Für Angestellte, welche mehr als ein Jahr
ununterbrochen im gleichen Geschäfte angestellt sind, gelten
drei Monate, zu jeder Zeit beginnend.
2. Die Vereinbarung einer längeren oder kürzeren
Kündigungsfrist ist gestattet; jedoch darf dieselbe nie we-
niger als einen Monat, zu jeder Zeit beginnend, betragen.
3. Für Aushilfsstellen und Probe-Engagements, sofern
sie weniger als drei Monate dauern, ist die freie Verein-
barung in keiner Weise beschränkt. Bei längerer Dauer
gelten für sie die gleichen Bestimmungen, wie für die
definitiven Anstellungen.
4. Die Kündigungsfristen müssen für Arbeitgeber und
Arbeitnehmer stets die gleichen sein.
Ruhetage für ilas schweizerische Grenzaufsichts-
personal. Dem Berichte der schweizerischen Finanz- und
Zolldepartements an die Bundesversammlung über die
Geschäftsführung im Jahre 1891 entnehmen wir die Mit-
theilung, dass im Laufe des Berichtsjahres Untersuchungen
darüber gepflogen wurden, ob es möglich und thunlich sei,
den eidgenössischen Grenzwächtern regelmässige Ruhetage
zu gewähren Die verschiedenen lokalen und territorialen
Verhältnisse in den einzelnen Zollgebieten, heisst es indem
Berichte weiter, brachten es mit sich, dass in dieser Hin-
sicht bisher ein einheitliches Verfahren nicht erzielt werden
konnte, indem in einzelnen Grenzgebieten für regelmässig
wiederkehrende Ruhetage die Stellvertretung der Betreffen-
den mit grossen Schwierigkeiten verbunden ist, während
hinwieder in anderen der Dienst dadurch nicht unwesent-
lich beeinträchtigt würde. Die bisherigen Bemühungen,
einen Ausweg zu finden, sind resultatlos geblieben, indess
will sich die schweizerische Zollverwaltung bemühen, die
Angelegenheit einer befriedigenden Lösung entgegenzu-
führen. Mit der Betonung dieser guten Absichten steht im
Widerspruche die im Munde einer schweizerischen Behörde
erfreulicherweise ungewohnt klingende Bemerkung, dass, ein
absolutes Bedürfniss besonderer Ruhetage um so weniger
vorhanden sein dürfte, als der Dienst im freien wahrend
eines guten Theiles des Jahres an sich schon als eine Er-
holung betrachtet werden kann.
Arbeiterschutzgesetz für den Kanton Glarus. Die
am 8. Mai abgehaltene Landgemeinde des Kanton Glarus
hat das vom Landrath entworfene, in No. 5 (S. 70 ff.) des
Sozialpolitischen Centralblattes besprochene, Arbeiterschutz-
gesetz mit dem Verbesserungsantrag angenommen, dass
ihm nicht blos weibliche sondern auch männliche Arbeiter
unterstellt sein sollen.
St. Gallischer Arbeiterschutzgesetzentwurf. Die Re-
gierung von St. Gallen hat den Entwurf eines kantonalen
Arbeiterschutzgesetzes veröffentlicht. Der Entwurf lehnt sich
an das Gesetz für den Kanton Basel-Stadt an.
Das Gesetz soll Anwendung finden aut alle dem eidge-
nössischen Fabrikgesetz nicht unterstellten Geschäfte, in welchem
mehr als zwei weibliche Personen gewerbsmässig gegen Lohn
arbeiten oder in welchen überhaupt Lehrtöchter oder Mädchen
unter 18 Jahren als Arbeiterinnen beschäftigt werden, dagegen
sind gänzlich ausgenommen Frauenspersonen, die in landwirth-
schaftlichen Gewerben oder als Bureauangestellte beschäftigt sind.
Die tägliche Arbeitszeit soll 11 Stunden, an Tagen
vor Sonn- und Feiertagen 10 nicht übersteigen und wieder soll
die Arbeitszeit in die Stunden von 6 Uhr Vormittags bis 8 Ldir
Abends mit l'/s Stunden Mittagspause verlegt werden.
Das Bezirksamt kann eine Verlängerung von 2 Stunden
täglich im Maximum auf höchstens 14 Tage gewähren, immerhin
müssen die Arbeiterinnen damit einverstanden se.n. Wöchne-
rinnen sind 6 Wochen lang von allen gewerbsmässigen Arbeiten
ausgeschlossen. Mädchen unter 14 Jahren dürfen zu gewerbs-
mässiger Arbeit nicht verwendet werden; Mädchen unter
16 Jahren sollen höchstens 3 Stunden ununterbrochen an Tret-
maschinen beschäftigt werden dürfen. . .
Die Arbeitsräume sollen hell, trocken, gut ventilirt und
nach Raum in einem richtigen Verhältniss zur Zahl der Ar-
beiterinnen stehen. Wer eine Lehrtochter annehmen will, hat
einen Lehrvertrag abzuschliessen, der die Bestimmungen über
das Lehrfach, die Probe- und Lehrzeit und die Bedingungen
enthalten soll, unter denen der Vertrag einseitig aufgehoben
werden kann.
254
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 20.
Was die Bediensteten in Laden- und Kundengeschäften
betrifft, so können sie zu der Bedienung der Kunden in der
offenen Geschäftszeit ohne Beschränkung verwendet werden,
unter der Bedingung jedoch, dass ihnen eine ununterbrochene
Nachtruhe von 10 Stunden gestattet ist. Die Inhaber von Ge-
schäften, die am Sonntag geöffnet sind, haben den Angestellten
in der Woche die gleiche Zeit frei zu geben Die für den Be-
trieb von Wirthschaften und Gasthäusern angestellten Personen,
Kellner, Kellnerinnen, Köchinnen, Schenkbuben, Zimmer-
mädchen etc können bis zur Polizeistunde und noch darüber
hinaus beschäftigt werden; doch ist ihnen in allen Fällen eine
ununterbrochene Ruhezeit von 9 Stunden zu gestatten. Sofern
ihnen der Sonntag nicht frei gegeben werden kann, sind ihnen
während der Woche zwei halbe Feiertage zu gewähren.
Der Arbeitstag auf den französischen Eisenbahnen.
Im vorigen Jahre wurde anlässlich mehrerer Eisenbahnun-
fälle den verschiedenen französischen Bahnverwaltungen
mittelst Ministerialschreibens eingeschärft, dass der Arbeits-
tag für Heizer, Kondukteure und Maschinisten nicht mehr
als zwölf Stunden betragen dürfe. Da die Vorschrift auf
gewisse Schwierigkeiten in der Ausführung stiess, hat der
gegenwärtige Minister der öffentlichen Arbeiten, in dessen
Ressort das Eisenbahnwesen gehört, ein neues Schreiben
erlassen, um die frühere Vorschrift zu präzisiren. Darnach
ist die Arbeitszeit zwischen zwei ununterbrochenen Ruhe-
pausen von mindestens zehn Stunden einzuschalten, so
zwar, dass keine Periode von 24 Stunden, sei sie vom Be-
ginn der Arbeitszeit oder vom Beginn der ununterbrochenen
Ruhepause an gerechnet, mehr als zwölf Arbeitsstunden
oder weniger als zehn ununterbrochene Ruhestunden ent-
halte. Was der Verordnung einen bittern Beigeschmack
giebt, ist, dass den Heizern etc. gleichzeitig verboten ist,
unter welchen Umständen immer den Dienst zu versagen.
Dies hätte unseres Erachtens nur dann einen Sinn und
würde gleichzeitig die Verwaltungen zur Einhaltung der
Vorschrift drängen, wenn den Heizern, Lokomotivführern etc.
für jede über die vorgeschriebene Arbeitszeit hinaus-
gehende Beschäftigung eine verhältnissmässig hohe Ent-
schädigung zugesichert würde. Davon ist aber im Cirkular
keine Rede.
Gewerbeinspektion.
Aus den Jahresberichten der bayrischen Fabrik-
inspektoren für 1891.
Der Mangel einer einheitlichen Direktive und einer
gewissen Zentralisation hat sich von jeher in den Berichten
der vier bayrischen Fabrikaufsichtsbeamten, deren Zahl be-
kanntlich jetzt endlich vom 1. April d. ]. ab auf acht erhöht
ist, besonders stark geltend gemacht. Auch der neueste
Berichtsband (München, Th. Ackermann, 1892, 150 Seiten)
liefert wieder Belege für diese Beobachtung. Es soll noch
nicht einmal grosser Nachdruck z. B. darauf gelegt werden,
dass allein der Inspektor für Niederbayern die auch in seinem
Bezirk durch die Krisis zahlreich brotlos gewordenen Ar-
beiter unschwer „ausreichende und gut gelohnte Beschäfti-
gung bei den Bahnbauten“ erlangen lässt, während seine
drei Collegen die schlimme Lage der Leute in ziemlich
düsteren Farben schildern. Aber sehr merkwürdig muss
doch die partikularistische Art und Weise anmuthen, in der
jeder Beamte für sich die Betriebs- und Arbeiterstatistik
seines Bezirks behandelt. Eine relativ vollständige Ueber-
sicht giebt der Beamte für Oberbayern (Sitz München). In
seinem Bezirk wurden am 1. Januar 1892 insgesammt 68,111
Arbeiter überhaupt in Fabriken beschäftigt, wovon 22,21 I auf
die Textilindustrie fallen; nebenbei ist es interessant, aus
der Tabelle zu ersehen, dass die stärkste prozentuale Ver-
mehrung der Fabrikarbeiter seit 1886 in der Industrie der
Holz- und Schnitzstoffe (um 1 18%, von 2400 auf 5233 Köpfe),
sowie in der Industrie der Steine und Erden (um 117 /0, von
3806 aut 8293 Köpfe) stattfand. Für die weiblichen Arbeiter
fehlt schon der Vergleich mit 1886. Es wird nur mitgetheilt,
dass die Zahl derselben am 1. Januar 1891 insgesammt
18 874 = 28,1 % der Gesammtarbeiterzahl, und am gleichen
Datum des Jahres 1892 insgesammt 19,386 = 28,4% der Ge-
sammtarbeiterzahl betrug Gänzlich fehlen exakte Angaben
über die Ziffer der jugendlichen Arbeiter im ganzen Bezirk.
Die Zahl der vorhandenen Fabrikbetriebe muss man sich
rechnerisch aus der Bemerkung ermitteln, dass 653 Betriebe
= 38% der Gesammtzahl jugendlicher Arbeiter besessen
hatten; danach hätte die Zahl der oberbayrischen Fabrik-
betriebe 1724 betragen, von denen der Inspektor 515, d. h.
nur 29"/,, wie er ehrlich genug selbst angiebt, revidirte.
Immerhin liegt hier noch ein Anfang von exakter Arbeiter-
statistik vor. Ins Dunkele verliert man sich aber bereits
beim Bericht des Beamten für Niederbayern. Hier fehlt
bei der Mittheilung, dass 604 Betriebe inspizirt wurden, jede
Notiz darüber, welchen Prozentsatz der überhaupt vorhan-
denen Betriebe jene Zahl darstellt; und während beim
Capitel der jugendlichen und der Arbeiter überhaupt nur
immer von der Arbeiterzahl der zufällig revidirten Betriebe
gesprochen wird, heisst es unter „Arbeiterinnen“ auf einmal
schlechtweg: „Die G es am int zahl der erwachsenen Arbeite-
rinnen betrug im Jahre 1891 2927 . . . unter Hinzurechnung
der Jugendlichen beträgt die Zahl aller Arbeiterinnen 3146.
Man könnte nach diesem Wortlaut meinen, hier werde
plötzlich wirklich das Ergebniss einer erschöpfenden Zäh-
lung der Arbeiterinnen des Bezirks mitgetheilt; offenbar
handelt es sich aber wieder nur um die weiblichen Arbeiter
der inspizirten 604 Betriebe. Man ersieht dies aus einer
Vergleichung mit der im Anhang beigegebenen Tabelle
über die Arbeiterzahl der inspizirten Betriebe. Die an-
gebliche „Gesammtzahl“ aller jugendlichen Arbeiterinnen
des Bezirks (219) stimmt genau mit der Zahl derselben Ar-
beiterkategorie in den inspizirten Betrieben. Wenn die
Entwicklung in den inspizirten Betrieben eine typische ge-
nannt werden darf, so interessirt aus der Uebersicht noch
die Thatsache, dass der höchste Prozentsatz weiblicher
Arbeiter in der chemischen Industrie (53"/,,), sowie in der
Industrie der Holz- und Schnitzstoffe gefunden wurde (30%) ;
erst dann folgt die Textilindustrie mit 26%. Genau drückt
sich dann w'ieder der Inspektor für Mittel- und Oberfranken
aus, der seine Angaben richtig nur auf die 537 von ihm
revidirten Betriebe bezieht und hinzusetzen kann, dass er ,
43%, der überhaupt vorhandenen Fabrikbetriebe (1217) be-
sichtigte. Der vierte Inspektor aber, der für die Pfalz, ,
Unterfranken und Aschaffenburg, beschränkt sich ganz auf i <
die Herzählung der Arbeiter in den 593 von ihm inspizirten
Anlagen und verschweigt wiederum, welchen Prozentsatz
der überhaupt vorhandenen Anlagen die inspizirten dar-
stellen. Buntscheckiger kann man sich doch wohl die
Berichterstattung über eine und dieselbe Sache nicht vor-
stellen. Noch lückenhafter sind die Angaben der Beamten
über die Revisionsthätigkeit der Ortspolizeibehörden. Hier
kommt nur die Aeusserung des Inspektors für Mittelfranken
in Betracht, nach welcher „sich die Spuren ortspolizeilicher :
Thätigkeit in Ueberwachung der Beschäftigung jugendlicher
Arbeiter meist nur in den Städten wahrnehmen lassen“,
wofür Nürnberg mit über 1600 Revisionen im Berichtsjahre
als Muster genannt wird. Vermuthlich wird die Sachlage
in den übrigen Bezirken dieselbe sein, wodurch die alte Er-
fahrung bestätigt ist, dass Ortspolizeibehörden zur sozial-
politischen Thätigkeit vorläufig wenig taugen. Ihres Ver-
kehrs mit den Arbeitern gedenken alle Beamten mehr oder
weniger sympathisch; ob und in wiefern dieser Verkehr
auf die Inspektionsthätigkeit einwirkte, das ist schwer er-
kennbar.
Was die materiellen Ergebnisse der bayrischen Fabrik-
aufsicht im Jahre 1891 betrifft, so können sie bei der
Lückenhaftigkeit der Inspektion und der im Allgemeinen
sehr mangelhaften Thätigkeit der Ortspolizeibehörden nur
zufällige Stichproben aus der Wirklichkeit darstellen, wohl
über das Wesen einiger sozialen Erscheinungen mehr oder
weniger vollständigen Aufschluss geben, nicht aber über
ihre Ausdehnung. Man muss daher alles Nachfolgende
lediglich als Andeutung dafür betrachten, was in Baj^ern
überall Vorkommen konnte. So wurden im oberbayrischen
und im pfälzer Bezirk Kinder unter 12 Jahren im Fabrik-
betrieb beschäftigt vorgefunden, meist sogar in Betrieben
mit keineswegs leichten Hantirungen, in Ziegeleien, Granit-
werken u. s. w , ausserdem in Cigarrenfabriken. Seit 20 Jahren
besteht das Verbot, solche Kinder zu beschäftigen; die mangel-
hafte Ueberwachung hat dem Gesetz bis heute noch keine
volle Geltung verschaffen können! Zum Kapitel der er-
laubten jugendlichen Arbeit (12 — 16 Jahre) theilt der ober-
bayrische Inspektor mit, dass nach seinen Berechnungen
die kleineren Betriebe seines Bezirks zur Zeit nicht mehr
jugendliche Arbeiter beschäftigen, als die grösseren (un-
gefähr 7 % der Gesammtarbeiterzahl). Immerhin gab es
48 Betriebe (gegen 37 in 1889), in welchen mehr als 20%
No. 20.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
255
jugendlicher Arbeiter beschäftigt wurden, darunter drei
Betriebe (I Teigwaarenfabrik und 2 mechanische Werk-
stätten) mit mehr als 50 "/„. Andere Beobachtungen machte
der Inspektor für Ober- und Mittelfranken. Er schreibt:
„Freilich finden sich auch immer solche kleinere Betriebe,
welche, um im Verkaufspreise gegen grössere Geschäfte
mit Erfolg bestehen zu können, lediglich mit Lehrlingen
arbeiten und diese förmlich züchten: dahin gehören vor
Allem bestimmte kleine Maschinenwerkstätten. Die im
lithographischen Gewerbe Mittelfrankens seither stattge-
fundene Lehrlingszüchterei hat bedeutend nachgelassen,
immerhin aber fand ich in den inspizirten Betrieben dieser
Art die Zahl der Lehrlinge 18 Ins 42% der Gesammtarbeiter-
zahl betragend. Auch in den oberfränkischen Porzellan-
fabriken . . . betrug die Zahl der Lehrlinge in der Dreherei
und Malerei, wenn auch geringer als früher, immer noch
25 bis 50 %.“ Der Inspektor für die Pfalz traf eine Bürsten-
waarenfabrik, die neben nur 4 erwachsenen Arbeitern
nicht weniger als 9 jugendliche beschäftigte und der dieses
angenehme Verhältnis so bebagte, dass sie sich, allerdings
erfolglos, gegen die Anwendung der Vorschriften über
Fabrikarbeiter auf ihren Betrieb energisch sträubte. Wenig
erhebend ist auch die Thatsache, dass man aus den vier
Berichten, die doch eben nur einen Bruchtheil der vorhan-
denen Fabrikbetriebe betreffen, nicht weniger als 220 Ver-
fehlungen gegen die Vorschriften über die Maximalarbeits-
zeit der jugendlichen Arbeiter zusammenzählen kann, wo-
bei die zahlreichen Verstösse gegen blosse Formalien
(Arbeitsbücher, Arbeitskarten, Verzeichnisse u. s. w.) ganz
ausser Acht gelassen sind. Näheres über die Grenzen, in
welchen sich jene Verfehlungen bewegten, theilt der In-
spektor für die Pfalz mit. Er traf 74 Kinder zu lange be-
schäftigt, und zwar erstreckte sich die Ausnutzung in einem
Falle bis auf 12 (!) Stunden statt der gesetzlichen 6, in
2 Fällen auf 1 1 1/2, in 7 bis auf 11, in 3 bis auf IO'/2, in 6
bis auf 10 u. s. w. Stunden. Das sind ganz fürchterliche
Zahlen, und die Wiederholung dieser Dinge scheint keines-
wegs ausgeschlossen, wenn man liest, dass nur in den-
jenigen Fällen, in welchen schon früher Verfehlungen an-
getroffen wurden, Anzeige erfolgte, Strafe offenbar auch
noch nicht in allen Fällen, und wo sie eintrat, sehr gelind,
z. B. in einem Falle mit 50 Mark.
Die wenigen statistischen Angaben über Arbei-
terinnen wurden oben schon aus dem Berichtsband
mitgetheilt; sie bekunden eine langsame Zunahme der
Frauenarbeit; nur in München hätte eine Abnahme statt-
gelunden. Ueber das Eindringen der Frauen in die Ma-
schinenindustiie berichtete bereits eine Notiz in No. 16
dieser Zeitschrift. Die ungesetzliche Verwendung einer
Frau wird nur aus einer mittelfränkischen Glashütte (vor
dem Ofen) mitgetheilt. Was die bisher gesetzlich nicht
geregelte Arbeitszeit der Frauen anlangt, so fand der ober-
bayrische Beamte eine solche von über 1 1 Stunden in
44 Anlagen (39 im Vorjahre), in einem Betriebe sogar eine
solche von mehr als 12 Stunden. Merkwürdig günstig
sticht hiervon folgende Berichtsstelle des Beamten für
Niederbayern ab: „Eine über 10 Stunden ausgedehnte
Arbeitszeit (für Frauen) fand sich nur auf den
Metallhammerwerken und ausnahmsweise in Papierfabriken
und Porzellanfabriken.“ Hier erfährt man nebenbei von
einer Verwendung weiblicher Arbeiter auf Metallhammer-
werken; einige Zeilen früher ist jedoch in demselben Be-
richt zu lesen: „Unpassende oder für weibliche Kräfte zu
anstrengende Arbeitsleistungen wurden den Arbeiterinnen
nirgends zugemuthet.“ Und einige Zeilen später heisst es:
„Zur Nachtarbeit mit regelmässigem Schichtenwechsel
fanden sich Frauen nur (!) in einer Cellulosefabrik, in einer
Leimfabrik, in zwei Pappenfabriken, sowie in einer grösse-
ren Dampfsäge (!) herangezogen; für die Nothwendigkeit
der Verwendung von Frauen zur Nachtarbeit dürften auf
dem letzgenannten Werke triftige Gründe wohl kaum an-
geführt werden können.“ Und doch wurden nach dem
ersten Satze „unpassende Arbeitsleistungen den Arbeite-
rinnen nirgends zugemuthet.“ Der Beamte für die Pfalz
traf die Nachtarbeit von Frauen in einer Textilfabrik, aus
der sie demnächst verschwinden soll, sowie in zwei Zucker-
fabriken und drei Cichoriendarranstalten, bei letzteren in
ziemlich ausgedehntem Masse. Das ist alles Wesentliche,
was die Berichte über Frauenarbeit bringen.
Noch dürftiger fliessen endlich die sozialpolitisch
brauchbaren Mittheilungen über erwachsene männliche Ar-
beiter und die Arbeitsverhältnisse überhaupt. Die Arbeits-
räume, welche öfters überfüllt mit Menschen und Gegen-
ständen waren (S. 12, 47 und 78 a. a. O.), oder in einem
ganz unwürdigen baulichen Zustande sich befanden, nicht
gedielt, mit Pfützen auf dem Boden (S. 47 a. a. O.), in
dumpfen Kellerräumen (S. 112 a. a. O.), vielfach auch
schlecht beleuchtet, geheizt und gelüftet angetroffen wur-
den (S. 112 a. a. O.), trotzdem die elektrische Beleuchtung
auf der anderen Seite regelmässige Fortschritte machte,
entziehen sich offenbar ebenfalls noch immer der durch-
greifenden Einwirkung der Inspektoren; klagt doch der
Beamte für Oberbayern: „Leider hat sich bei den Betriebs-
revisionen zuweilen herausgestellt, dass vorhandene hygie-
nische Einrichtungen seitens der Arbeitgeber oder Betriebs-
leiter aus Bequemlichkeit, Gleichgiltigkeit oder Sparsam-
keit z. B. bezüglich der Kraftabgabe für einen Ventilations-
antrieb ausser Wirksamkeit gesetzt waren.“ Die vom In-
spektor des 4. Bezirks besichtigten Schlaf- und Aufents-
räume „Hessen öfters zu wünschen übrig.“ Was die Ar-
beitszeit betrifft, so klagen beinahe sämmtliche Beamte
über eine übermässige Ausdehnung derselben (bis zu 13,
14 Stunden und darüber) in Glashütten, Ziegeleien, Säge-
werken, Brauereien und Malzfabriken. In Mühlen fand der
Inspektor für die Pfalz Arbeitszeiten bis zu 35 Stun-
den, und diese Ungeheuerlichkeit wird in keiner Weise
durch den Zusatz abgeschwächt, dass dabei „wenig Arbeit
1 zu leisten“ sei. Den Nürnberger Baugehilfen, die im Be-
richtsjahre strikten, bestätigt der Beamte die lange Dauer
ihrer Arbeitszeit (bis zu 14 Stunden) mit der Bemerkung,
dass „eine Verständigung bezüglich der Ermässigung sehr
zu wünschen wäre.“ Die Angaben über die Höhe der
Löhne sind nicht zahlreich genug, um sozialpolitisch ver-
werthet werden zu können. Mehr als anderswo scheinen
in Bayern noch der Truck und Lohnabzüge, sowie lange
Lohnfristen vorzukommen, dem oft ländlichen Charakter
der Industrie entsprechend. So wird auf oberbayrischen
Schleifereien von Polirmeistern ein schwunghafter Bier-
handel mit den Arbeitern getrieben (S. 51 a. a. O.), so hul-
digen die Ziegelmeister bei Fürth in weitgehendem Masse
dem Truckunfug (S. 81 a. a. O.), und die Beamten scheinen
mehr oder weniger machtlos diesen Missständen gegen-
über zu stehen. Der Uebelstand, dass die Arbeiter mehr-
fach Materialien und Stoffe zur Arbeit selbst stellen müssen
und dass ihnen diese Gegenstände womöglich noch zu
einem höheren als dem Anschaffungspreise von den Unter-
nehmern berechnet worden, ein Kapitel, welches einmal
umfassender Bearbeitung mit Bezug auf das deutsche Ge-
werbe überhaupt unterzogen werden sollte, fand sich auch
noch öfters (S. 44 und 106 a. a. O.); lange Lohnfristen
(4 Wochen bis 1 Jahr) stellt der mittelfränkische In-
spektor fest.
Wie gesagt: mehr als Fingerzeige nach den Richtun-
gen, in welchen einzelne Seiten des Arbeiterdaseins syste-
matisch verfolgt und dargestellt werden müssten, enthalten
auch die neuesten bayrischen Fabrikinspektorenberichte
nicht. vVarten wir ab, ob die Vermehrung der Beamten
für 1892 Besseres bringt.
Frankfurt a M. Max Quarck.
Arbeiterversicherung.
Die Berufsgenossenschaften als Organe der
Unfallverhütung.
Ueber die Bestrebungen der Berufsgenossenschaften
auf dem Gebiete der Unlallverhütung ist vor Kurzem in
dieser Zeitschrift sehr scharf geurtheilt worden: man habe
Joei der Deutschen Unfallversicherung den Bock zum
Gärtner gemacht“, indem man den Berufsgenossenschaften,
also reinen LTnternehmerverbänden, den Erlass von Unfall-
verhütungsvorschriften und die Aufsicht über die Aus-
führung dieser Vorschriften übertragen habe. Es wird von
Interesse sein, einmal gründlicher zu prüfen, ob oder in-
wieweit dieses Urtheil begründet ist.
Thatsache ist, dass von der Befugniss zum Erlass von
Unfallverhütungsvorschriften bereits weitaus die meisten
gewerblichen Berufsgenossenschaften Gebrauch gemacht
haben und dass diese Vorschriften zum Theil recht scharf
und einschneidend aussehen. Thatsache ist aber auch
256
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 20.
ferner, dass dies günstige Ergebniss weniger dem eigenen
Triebe der Berufsgenossenschaften als dem fortwährenden
Drängen des Reichs-Versicherungsamts zuzuschreiben ist.
Bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften fast
durchweg und auch bei einigen industriellen Beruts-
genossenschaften ist das Reichs -Versicherungsamt mit
seinen Bemühungen bisher nicht durchgedrungen und
zwar in der Hauptsache aus folgenden Gründen:
Nach § 96 des Unfallversicherungsgesetzes hatten die-
jenigen Betriebsunternehmer, gegen welche durch straf-
rechtliches Urtheil festgestellt ist, dass sie den Unfall durch
Fahrlässigkeit mit Ausserachtlassung derjenigen Aufmerk-
samkeit, zu der sie vermöge ihres Gewerbes besonders ver-
pflichtet sind, herbeigeführt haben, für alle Aufwendungen,
welche in Folge des Unfalls von den Berufsgenossen-
schaften oder Krankenkassen gemacht worden sind. Die-
selbe Bestimmung findet sich auch bei den übrigen — er-
gänzenden — Unfallversicherungsgesetzen. Wenn nun von
den Berufsgenossenschaften Unfallverhütungsvorschriften
erlassen sind, so sind die Unternehmer offenbai vermöge
ihres Gewerbes verpflichtet, sie zu beobachten. Der Staats-
anwalt ist also in der Lage, gegen jeden Unternehmer, m
dessen Betriebe ein Unfall vorkommt, der bei genauer Be-
obachtung der Unfallverhütungsvorschriften durch den
Unternehmer hätte vermieden werden können, auf Grund
der §§ 222 und 230 des Strafgesetzbuches vorzugehen. Er-
folgt "nun die Verurtheilung durch das Gericht, so kann die
Berufsgenossenschaft Regress gegen den Verurtheilten er-
o-reifen und sich so von ihren eigenen Verbindlichkeiten
zu Ungunsten ihrer einzelnen Mitglieder entlasten. Auf
diese Weise haben sich dann die Unternehmer selbst die
doppelte Schlinge um den Hals gelegt.
Es ist nun naturgemäss , dass diejenigen Beruts-
genossenschaften, welchen diese Sachlage einmal klar ge-
worden ist, nur mit äusserster Vorsicht an den Erlass von
Unfallverhütungsvorschriften herangehen und vor jeder
Vorschrift zurückscheuen werden, die den Unternehmern
leicht gefährlich werden könnte. Daher erklärt es sich,
dass gerade in letzter Zeit auf dem Gebiete der Unfall-
verhütung nur so wenig geschehen ist, — besonders auch
von den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften, bei
denen allerdings auch noch andere Dinge mit in Frage
kommen, die hier übergangen werden müssen. In der
ersten Zeit lief man in dem Bestreben, zu zeigen, was die
Berufsgenossenschaften leisten könnten, gleichsam blindlings
in das Verderben; jetzt ist man vorsichtiger und zurück-
haltender geworden.
Es ist also hier wirklich der Bock zum Gärtner ge-
setzt worden !
Was nun die Kontrolle über die Durchführung der
erlassenen Vorschriften anbelangt, so können die Berufs-
genossenschaften die Beaufsichtigung der Betriebe nur ent-
weder ihren Vertrauensmännern oder eigens dazu ange-
stellten Beamten — den Beauftragten — zuweisen. Die
Vertrauensmänner sind Berufsgenossen und Konkurrenten
Derjenigen, über die sie die Aufsicht führen sollen, also für
diese Aufgabe durchaus ungeeignet — was keiner weiteren
Darlegung bedarf. Der Beauftragte steht allerdings den
einzelnen Betriebsunternehmern unabhängiger gegenüber
und kann daher energischer vorgehen, aber immerhin als
Beamter der Berufsgenossenschaft aus naheliegenden Grün-
den nicht energisch genug. Vor allen Dingen aber kosten
diese Beauftragten der Genossenschaft viel Geld — Gehalt
und Reisekosten. Wenn eine mittelgrosse Berufsgenossen-
schaft, die etwa 5000 — 8000 Betriebe umfasst, jeden Betrieb
nur etwa alle zwei Jahre einmal durch einen Beauftragten
besichtigen lassen will, so wird dies unter einem Kosten-
aufwand von 30 000 -50 000 M. jährlich nicht möglich sein.
Zu derartigen Ausgaben wird sich aber eine Berufsgenossen-
schaft schwer entschliessen — besonders mit Rücksicht auf
die Angriffe, denen die Berufsgenossenschaften wegen ihrer
hohen Verwaltungskosten so wie so von allen Seiten aus-
gesetzt sind.
Die Berufsgenossenschaften sind daher in Folge ihrer
Organisation und ihres eigentlichen beschränkten Zweckes
ganz ungeeignete Organe zur wirklichen Durchsetzung von
Unfallverhütungs-Massregeln. Wenn also vielfach die Beob-
achtung gemacht wird, dass ihre Vorschriften nur auf dem
Papier stehen und in der Praxis nicht beachtet werden, so
trägt die Schuld in der Hauptsache nicht die Genossenschafts-
verwaltung, sondern die Gesetzgebung. Der Schutz der
Arbeiter vor den Gefahren des Betriebes ist eine Sache von
so allgemeiner Bedeutung und von so umfassender Natur,
dass er unmöglich nebenher von Organen wahrgenommen
werden kann, deren Aufgabe in erster Linie die Entschädi-
guno- der Verunglückten ist, was immer für eine Gestalt
diese Organe auch haben mögen. Hier ist eine radikale
Reform unbedingt erforderlich.
Ueber die Wirksamkeit der Iiivaliditäts- und Alters-
versicherung enthalten die Berichte der württembergischen
und badischen Fabrikinspektion einige Mittheilungen, die bis- I
her noch nicht von der Oeffentlichkeit beachtet worden zu
sein scheinen. So schreibt der mit der Beaufsichtigung der
Fabriken im Donau- und Schwarzwaldkreis beauftragte Be-
amte (S.30): „Arbeiter über 70 Jahre und im Besitze der Alters-
rente wurden in einigen grösseren und kleineren Fabriken
noch arbeitend getroffen, meist mit einem geringeren
Lohne, als vor dem Bezug der Altersrente. Nur in
einer staatlichen Eisenbahnwerkstätte und in einer Leinen-
spinnerei und -Weberei erhalten dieselben nach wie vor
ihren vollen Taglohn, was der Besitzer dieser Fabrik als
selbstverständlich betrachtete. Es wäre zu wünschen, dass •
es in allen Betrieben, deren wirthschaftliche Lage es einiger- j
müssen ermöglicht, auch so gehalten würde, namentlich
Leuten gegenüber, welche eine lange Reihe von Jahren
in einer Fabrik gearbeitet haben. Eine grosse Belastung
des Lohnkonto’s würde hierdurch kaum entstehen.“ Und
der badische Aufsichtsbeamte (S. 80): „So hat die Zucker-
raffinerie in Mannheim einem 71 Jahre alten Ar-
beiter seinen Lohn von 2 M. auf 1,50 M. reducirt,
sobald derselbe in den Bezug der Altersrente trat,
so dass hierdurch für ihn eine kleine Vermin-
derung seiner Einnahmen ein trat.
Wenngleich es sich hier um einen wenig leistungs-
fähigen Arbeiter handelte, und wenn auch der Fabrik
darin voller Glaube beigemessen werden kann, dassj
der Lohn von 2 M. ihm nur gutthatsweise fortbezahlt wurde.!
und wenngleich die formelle Berechtigung der Fabrik zu|
ihrem Vorgehen nicht bestritten werden kann, so sollten
doch grössere Ar beitgeber ander er seits die Ehren-
pflicht anerkennen, die Wirkung der sozialen Ge-'
setze ihrerseits nicht zu diskreditiren, ganz abj
gesehen von der moralischen Verpflichtung, alten Arbeitern |
gegenüber nicht zu ängstlich Leistung und Gegenleistung
abzuwägen, namentlich wenn ihnen dieselben währenc
langer Jahre ihre Arbeitskraft um mässigen Lohn zur Ver-
fügung gestellt haben.“ _
Nachdem also dergestalt die vom Gesetze wohl ans
meisten begünstigten Arbeiter der Vortheile desselben Ire.
raubt werden, ja sogar, wie das badische Beispiel zeigt
seinetwegen positive Verluste erleiden, wird es wenigsten
im Hinblicke auf die Arbeiter vollkommen begreiflich;
wenn der württembergische Inspektor für den Neckar- unc
Jacrstkreis seine Beobachtungen dahin zusammenfasst, das. |
die Alters- und Invaliditätsversicherung sich bis jetzt wedeii
in den Kreisen der Fabrikanten noch der Arbeiter eine:
rückhaltslosen Anerkennung erfreut.
Unfallversicherung (1er Handwerker im Deutschei
Reich. Nach Zeitungsmeldungen sollen die Vorarbeiten zu
dem Entwurf eines Gesetzes betreffend die Ausdehnung de
Unfallversicherung auf das Handwerk im Gange sein. Fü
das Handwerk seien Unfallberufsgenossenschaften nach den
Muster der bereits bestehenden für die Grossindustrie nich
angängig; daher müsse man, da die Innungen sich hierzi
nicht eigneten, weil sie nicht alle Handwerksmeister urn
fassten, neue Träger schaffen. Vielleicht sei es möglich, di
Vertretungskörper des Handwerkes, die man ins Auge ge
fasst habe, auch mit dieser Aufgabe zu betrauen. Bekannt
lieh sind die ins Auge gefassten „Vertretungskörper de
Handwerkes“ Handwerkerkammern, in denen nicht nur ui
eigentlichen Handwerker, sondern alle gewerblichen Bt;
triebe, und zwar alle zusammen, vertreten sein sollen.
Unfall- und Krankenversicherung in der Schweiz. Del
mit den Vorarbeiten zu diesem Gesetze betraut gewesen
Nationalrath Forrer theilte mit, dass den gesetzgebenden Körper
der Schweiz in der nächsten Wintersession Gesetzentwürfe uw
die Unfall- und Krankenversicherung der Arbeiter zugehe
werden. Er hofft, dass dieselben im Jahre 1894 ins Leben tretei
können. Die Prämien sind der Hauptsache nach zwisene
Arbeitgeber und Arbeiter zur Hälfte zu theilen, so dass an de
drei Prozent des Lohnes betragenden Prämie jeder Theil ander
halb Prozent zu tragen hat; die Deckung des Mehrbedarfs Hei!
der Kasse (des Bundes) ob.
No. 20.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLAT T.
257
Gewerbegerichte, Einigungsämter und
Arbeiterausschüsse.
Arbeits- und Tndustriekammern in den Niederlanden.
An die Zweite Kammer der Generalstaaten ist, wie dem
„Vorwärts“ berichtet wird, ein Gesetzentwurf des liberalen
Abgeordneten Pyttersen eingegangen zur Einführung von
„Kammern von Arbeit und Industrie“, welche den Zweck
haben: 1. Unternehmer und Arbeiter zur Besprechung
ihrer gegenseitigen Interessen zusammen zu rufen; 2. den
Arbeitern die Gelegenheit zu geben, auf gesetzliche Weise
ihre Wünsche zur Kenntniss der Obrigkeit zu bringen;
3. den Reichs-, Provinz- und Gemeindevorständen in
Arbeitersachen Rath zu ertheilen; 4. Streitigkeiten zwischen
Unternehmern und Arbeitern zu beseitigen, wenn nöthig
durch Schiedsgerichte.
Der Antrag hat Aussicht, Gesetz zu werden, da die
massgebenden Parteien in den Niederlanden sich schon
öfters für ähnliche Projekte ausgesprochen haben.
Das Wahlrecht der Frauen in den italienischen Gewerbe-
schiedsgerichten. Die italienische Kammer hat den Frauen das
passive Wahlrecht zu den Gewerbeschiedsgerichten zugestanden,
während die Regierung sie auf das aktive Wahlrecht beschränkt
wissen wollte.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung.
Wohnungsverhältnisse der Kranken in der Schweiz.
In No. 15 des „Schweizerischen Bundesblattes“ findet sich
eine Tabelle über die Wohnungs Verhältnisse der Kranken,
welche einer tuberkulösen oder infektiösen Krankheit er-
lagen. Im Jahre 1891 starben in der Schweiz 2122 Personen
an Tuberkulose und 1046 an anderen Infektionskrankheiten.
In den Sterbekarten wurden über die Wohnungsverhältnisse
von 1860 Personen (87%) keine Angaben gegeben, weil sie
unbekannt waren oder die Personen in Hospitälern starben.
Günstig waren die Wohnungsverhältnisse von 752 Personen
(23,7%) und zwar von 539 an Tuberkulose und von 213 an
anderen Infektionskrankheiten gestorbenen Personen, un-
günstig waren die Wohnungsverhältnisse von 556 Personen
(17,6%) und zwar von 350 an Tuberkulose und von 206 an
anderen Infektionskrankheiten verstorbenen Personen.
Aus den von den Aerzten gemachten Angaben greift
das „Bundesblatt“ eine lange Reihe heraus. Wir können
hieraus nur Stichproben mittheilen, so: Wohnung ohne
Sonnenlicht und schlecht ventilirt; ein kleines enges Zimmer,
als Schlafraum und Küche gleichzeitig dienend; feucht, Licht-
und Luftmangel; Wohnung äusserst mangelhaft, feucht,
niedrig, Ventilation unmöglich; Hinterhaus, Mansardenwoh-
nung, in jeder Beziehung schlecht; Wohnung eng, Eltern
und fünf Kinder in einem Zimmer; Lebensverhältnisse und
Wohnung der traurigsten Art, u. s. w. u. s. w. Das Prozent-
verhältniss der ungünstigen Wohnungen ist wahrscheinlich
ein noch stärkeres, da die in den Hospitälern Verstorbenen
wohl berechtigter Vermuthung nach in ungünstigeren Woh-
nungen lebten, als Diejenigen, welche das Aufsuchen des
Hospitals noch nicht für nöthig hielten. Im Interesse der
Aufhellung unserer sozialen Zustände ist die Mittheilung
des offiziellen Bundesblattes werthvoll, dass die angeführten
Veröffentlichungen als Präliminarien zu einer Untersuchung
der Wohnungsverhältnisse betrachtet werden. Das Bundes-
blatt schliesst seine Mittheilungen mit dem Satze, dass die
gemeldeten Thatsachen zeigen, wie sehr eine fortwährende
Beaufsichtigung und Sanirung der Wohnungen seitens der
Sanitätsbehörden vonnöthen wäre.
Bau von Arbeiterwohnungen als geschäftliches Unter-
nehmen. Der vor Kurzem ausgegebene 2. Jahresbericht der
Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt a. M.
ist um deswillen von allgemeinem Interesse, weil er einiges
Material zur Beurtheilung der Frage beibringt, ob gegenwärtig,
d. h. bei den derzeitigen Preisen des Grundeigenthums in allen
grossen Städten und bei den gegenwärtigen Lohnverhältnissen
der Arbeiter, der Bau von Arbeiterwohnungen als rein geschäft-
liches Unternehmen durchführbar sei. Der Bericht erklärt,
die Wohnungsproduktion für Unbemittelte sei derzeit gerade
wegen des Mangels an kleinen Wohnungen ein pekuniär durch-
aus günstiges Unternehmen, die Schwierigkeit, eine Rente zu
erwirthschaften, beginne aber, wenn man sich bemühe, die
Miethspreise im Einklang mit den Arbeitslöhnen zu halten und
gleichwohl die Wohnungen wenigstens bescheidenen Ansprüchen
an Behagen und Wohnlichkeit entsprechend auszugestalten.
Diese in der ganzen Lage unserer Volkswirthschaft liegende
Schwierigkeit habe auch das Unternehmen, über das
berichtet werde, nicht zu lösen vermocht. Man erwirth-
schaftete zwar eine Verzinsung von 3V2% für die Aktionäre,
aber keinerlei Unternehmergewinn, und selbst dies nur durch
eine grösstentheils unentgeltliche Verwaltung und unentgelt-
liche Bauleitung u. s. w. Andrerseits sei nichts leichter, als
auch eine höhere Verzinsung zu erzielen. Man brauche dazu
lediglich entweder höhere Miethen zu nehmen, wodurch dann
freilich die Wohnung für gewöhnlich bezahlte Arbeiter uner-
schwinglich würden, oder fünf Stockwerke übereinander zu
bauen, die allerdings der Verein für Gesundheitspflege als un-
gesund verwerfe, oder die Arbeiter auf einzimmerige Wohnun-
gen zu verweisen, die für Familienwohnungen ungeeignet
seien. Demnach stellt sich das Unternehmen allerdings nur
als Palliativ mittel dar, das auch, wenn es in grösserem
Massstabe ausgeführt würde, die Uebelstände im Wohnungs-
wesen nicht etwa beseitigen, sondern nur für eine relativ kleine
Anzahl von Personen mindern könnte. Zu weiteren Fort-
schritten auf diesem Gebiet werden auch Gemeinde und Staat
mehr mitwirken müssen.
Eingesendete Schritten.
(Besprechung Vorbehalten.)
Becker, Bernhard, Enthüllungen über das tragische
Lebensende Ferdinand Lassalle’s und seine Be-
ziehungen zu Helene von Doenniges. Neue Be-
arbeitung. Nürnberg, 1892. Wörlein & Cie. 8°. XV und
232 S.
Blum, Emil und Alexander S. B., Wer lügt? Ein soziales
Fragezeichen. Zürich 1892. Verlagsmagazin (j. Schabelitz).
8°. VIII und 223 S.
Fraiikenstein, Kuno Dr., Die deutsche Fabrikinspektion,
ihre Thätigkeit im Jahre 1890 und ihre Reform.
(S.-A. aus den „Annalen des deutschen Reiches“ 1892.)
München und Leipzig 1892. G. Flirth’s Verlag. 8°. 72 S.
Freund, Dr. jur. Richard, Magistratsassessor und Malachowski,
Kgl. Regierungsbaumeister, Zur berliner Arbeiter-
wohnungsfrage. Berlin 1892. J. J. Heines Verlag. 8°.
56 Seiten und 1 1 Figuren ausser dem Texte.
Gerecke, Adolf, Die Aussichtslosigkeit des Moralismus.
Zürich, 1892. Verlagsmagazin ( J. Schabelitz). XV und
226 S.
Hirschberg, Dr. E., Directorial-Assistent am Statistischen Amte
der Stadt Berlin, Die amtliche Statistik und die
Arbeiterfrage im Deutschen Reiche. (Volkswirth-
schaftliche Zeitfragen etc. Heft 106/107). Berlin, 1892.
Leonhard Simion 8° 60 S.
Kaerger, Dr. Karl, Privatdocent an der Kgl. landw. Hochschule
zu Berlin, Tangaland und die Kolonisation Deutsch-
Ostafricas. Thatsachen und Vorschläge. Berlin, 1892.
Hermann Walther. VIII und 177 S.
Lagasse, Ch., Ingenieur en Chef etc. et Queker, Ch., Secre-
taire de la Section des habitations ouvrieres. Enquete sur
les habitations ouvrieres en 1890. Rapport presente
au Comite de patronage de la ville de Bruxelles. Brüssel
1890. Folio 26 und VIII S. und 6 Tabellen.
Peters, Dr. Carl, Gefechtsweise und Expeditionsführung
in Africa. Berlin, 1892. Hermann Walther. 8°. 19 S.
Rosin, Dr. Heinrich, Professor in Freiburg, Minoritätsver-
tretung und Proportional wählen. Ein Ueberblick über
deren Systeme, Verbreitung, Begründung. Berlin, 1892.
J. Guttentag. 8°. 54 S.
Schenkendorf, E. v. , Mitglied des Abgeordnetenhauses und
Schmidt, Dr. med. FLA. , Mitglied des Ausschusses der
deutschen Turnerschaft, Ueber Jugend- und Volks-
spiele. Allgemein unterrichtende Mittheilungen des Central-
ausschusses zur Förderung der Jugend- und Volksspiele in
Deutschland. Jahrgang 1892. 9. Tausend. Hannover-Linden,
1892. Manz & Lange. 8°. 112 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von H S. Hermann in Berlin.
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Berlin, den 23. Mai 1892.
Nummer 21.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
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No. 5945 der Postzeitungsliste.
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Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Gewerbeinspektor und K es-
se Ire vis or. Von Privatdozent
I)r. J. Jastrow.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirth. Schaftsstatistik :
Die deutsche Kommission für
Arbeiterstatistik.
Zur Lohnpolitik des österreichi-
schen Grossgrundbesitzes.
Abstellung der Zuchthausarbeit in
der Korbmacherei.
Arbeitsnachweis in Breslau.
Handel von Prämien- und An-
lehensloosen im Kanton Zürich.
Teppichweberei in Kleinasien.
Arbeiterzustämle:
Die Lage der Bäcker in Bremen.
Lohn Verhältnisse der österreichi-
schen Binnenschiffer.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Die Strikebewegung in Lodz.
Folgen des Durhamer Strikes.
Die Unterstützung bei Arbeits-
losigkeit.
Die Pariser Kellner gegen das
Trinkgelderunwesen.
Ax'beiterschutzgesetzgebimg :
Das Arbeiterschutzgesetz in Glarus.
Von Fabrikinspektor F. Schüler.
Abdruck sämrotlicher Artikel
Minimallohn für städtische Ange-
stellte in Zürich.
Arbeiterversicherung:
Grundsätze des Reichsversiche-
rungsamts in Betreff der An-
sprüche auf Invalidenrente.
Abänderung des deutschen Unfall-
versicherungsgesetzes.
Ausdehnung der Invaliditäts- und
Altersversicherung auf die Be-
amten der evangelischen Landes-
kirche.
Statut des Verbandes der freien
Hilfskassen im Deutschen Reich.
Wohlfahrtseinrichtungen:
Zur Frage der Gewinnbetheiligung
der Arbeiter. Von Prof. Raoul
Jay.
Missbrauche und Vortheile der
Fabrikkantinen.
Wohnungszustände und Woh-
nungsgesetzgebung :
Wohnungszustände in München.
Miethzinssparkassen im Rheinland.
Wohnungsverhältnisse der Arbeiter
in Brüssel.
Litteratur:
Fehling, Die Bestimmung der Frau,
ihre Stellung zu Familie und Beruf.
Zeitschriften gestattet,
ist Zeitungen und
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Gewerbeinspektor und Kesselrevisor.
In dem Aufsatz über „die Umgestaltung der Gewerbe-
inspektion in Preussen“, in No. 18 dieser Zeitschrift, hat der
Herausgeber derselben auch die Belastung der Gewerbe-
mspektoren mit der Revision der Dampfkessel berührt und als
sehr bedauerlich bezeichnet. Allein bei der Behutsamkeit, mit
welcher dieser Artikel die Frage behandelt, scheint mir die
sozialpolitische Tragweite, welche die Personalunion von
Gewerbeinspektor und Kesselrevisor besitzt, doch nicht in
dem Masse hervorgehoben zu sein, welches die Wichtigkeit
der Sache verdienen dürfte. Wer die beiden Aemter für
unvereinbar hält, muss es geradezu als eine Hauptaufgabe
der sozialpolitischen Belehrung des Publikums betrachten,
die Unvereinbarkeit in ihrem ganzen Umfange darzuthun.
Da der bisherige preussische Fabrikinspektor in der
Hauptsache die Fabrik zu inspiziren hatte, so scheint es im
! Sr°ssen Publikum aut den ersten Blick sehr einleuchtend,
; dass man im Interesse der Geldersparniss demselben Be-
I
I
amten, welcher die ganze Fabrik zu inspiziren hat, auch
die Inspizirung des Dampfkessels überträgt. Allein diese
Vorstellung beruht auf einer falschen Anschauung über die
Entwicklung und Bedeutung der beiden Aemter.
Der Ursprung der Gewerbeinspektion liegt in der
staatlichen Fürsorge für das Wohl des Arbeiters.
Es ist vollkommen bezeichnend, dass die ältesten preussi-
schen Verordnungen über Gewerbeinspektion von einer
Stelle ausgegangen sind, welche an sich mit der Verwaltung
der Fabriken gar nichts zu thun hatte, sondern nur unter
dem Gesichtspunkte der Fürsorge für die Personen zu einer
Beschäftigung mit dem Gegenstände gedrängt wurde. Es
war der Kultusminister v. Altenstein, der Reorganisator des
preussischen Schulwesens, der zuerst darauf drängte, dass
der Staat als Obervormund der übertriebenen Beschäftigung
von Kindern in Fabriken und namentlich der Beeinträchti-
gung ihres Schulunterrichts entgegentreten müsse. Die mit
der Fürsorge hierfür betrauten „Lokalkommissionen“, welche
fünf Jahre nach Altensteins Tode eingesetzt wurden (1845),
sind als der erste behördliche Ansatz für eine preussische
Fabrikinspektion zu betrachten. Die „Gewerberäthe“ von
1849 sind ihre nächsten Nachfolger. Die Fürsorge der Ge-
werberäthe war eine wohlfahrtspolizeiliche. Ihre eigent-
liche Aufgabe war, für einen Theil der Bevölkerung, welcher
nicht lür sich selbst sorgen konnte, die Fürsorge zu über-
nehmen. Der polizeiliche Charakter des Instituts wurde in
dem Gesetz von 1853 ausdrücklich betont; es sollte neben
und über der Ortspolizei die Massregeln durchsetzen, für
welche diese schon deshalb sich nicht als ausreichenderwiesen
hatte, weil der lokale Zusammenhang der örtlichen Behörden
mit den Fabrikbesitzern ein viel zu enger war. Allerdings
waren in der Folgezeit die Kinder und jugendlichen Arbeiter
nicht mehr der einzige Gegenstand der Beaufsichtigung.
Man gelangte allmählich in die Zeit der beginnenden
Schutzmassregeln für die Arbeiter überhaupt. Mit dem zu-
nehmenden Dampfbetriebe gewannen namentlich die Sicher-
heitsmassregeln für Leben und Gesundheit der Arbeiter eine
erhöhte Bedeutung. Indem man daher dem Aufsichtsbe-
amten die Inspektion der ganzen Fabrik in dieser Hinsicht
übertrug, hat man ihm auch vorübergehend den Namen
„Fabrikinspektor“ beigelegt, welcher indess eben jetzt
wieder dem alten Namen des „Gewerbeinspektors“ und
„Gewerberaths“ Platz gemacht hat. Jedenfalls ist der
Charakter dieses Institutes klar. Der Gewerbeinspektor ist
Staatsorgan, er hat von Staatswegen die Interessen der
Schwachen im Betriebe wahrzunehmen. Allen Freunden
einer triedlichen sozialen Weiterentwicklung liegt die Aus-
gestaltung dieses Amtes ganz besonders am Herzen. Je kräf-
tiger wir diese Aufgabe des Aufsichtsbeamten betonen, je
260
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
mehr es uns gelingt, einen Stamm von Autsichtsbeamten
heranzubilden, der in den Kreisen der arbeitenden Bevölke-
rung Vertrauen findet und verdient, desto mehr wird der-
selbe auch im Stande sein, in Fällen des Konfliktes als Ver-
mittler von anerkannter Sachkenntniss und anerkanntem
Wohlwollen zwischen die streitenden Th eile zu treten. Der
Gewerbeinspektor der Zukunft wird in erster Linie als
sozialpolitischer Beamter gedacht.
Wo freilich das Personenmaterial zu solchen Beamten
zu suchen ist, das vermag heute noch Niemand zu sagen.
Noch giebt es Gegenden in Deutschland, in welchen der
Pfarrer der thatsächliche Vertrauensmann sowohl der
Arbeitgeber, wie der Arbeitnehmer ist; wenn unter den
Theologen von heute Personen vorhanden sind, welche
durch ihre Leistungen das Vertrauen rechtfertigen, das man
in sie setzt, so sind sie zur Mitwirkung an diesem Werk
berufen. Anderswo mag unter denen, welche sich die „Beicht-
väter des 19. Jahrhunderts“ zu nennen lieben, unter den
Aerzten, hier und da ein Mann sein, welcher für die sozial-
politische Seite seines Berufes genügend Neigung und Ver-
ständniss besitzt, um von hier aus sich den festen Boden
einer geeigneten Thätigkeit zu schaffen. Jedenfalls stehen
in dieser Beziehung die europäischen Staaten nicht am Ab-
schluss, sondern am ersten Anfang einer grossen Entwick-
lung, welche dazu berufen ist, unsern Behördenkörper um
ein wichtiges Organ zu bereichern, welchem von allen
Seiten her die geeigneten Kräfte und Säfte erst zugeführt
werden müssen.
Einen ungleich nüchterneren Ursprung und Charakter
zeigt uns die Geschichte der Dampfkesselrevision. Diese ,
Revision geht auf* zweierlei Wurzeln zurück. Einmal auf
die eigene Revisionsthätigkeit, welche jeder Unternehmer
ab und zu an seinem Dampfkessel übte, zu deren Ausführung
sich die Unternehmer dann in Vereinen und Verbänden zu-
sammenthaten. Daneben hat es, so lange es Dampfkessel
giebt, auch eine baupolizeiliche Ueberwachung derselben
gegeben. Diese Ueberwachung wurde wie so viele bau-
polizeiliche Ueberwachungen in erster Linie im Interesse
des Unternehmers selbst geführt; nur dass freilich dieser
auf die Wahrnehmung des Interesses nicht verzichten
durfte. An der Revision eines Dampfkessels ist der Besitzer
desselben in so hohem Masse interessirt, dass der damit
verbundene Gesichtspunkt der Fürsorge für die Allgemein-
heit nothwendig in den Hintergrund tritt. An diesem Zu-
stande hat das Gesetz vom 3. Mai 1872 nichts geändert.
Wenngleich heute in der ganzen Monarchie die Kessel-
revisoren ihr Amt kraft staatlichen Auftrages ausüben, so
ist darum der Charakter dieser Thätigkeit als einer in erster
Linie im Interesse des Unternehmers selbst geübten keines-
wegs vergessen. Es zeigt sich dies einmal darin, dass die
Kessel-Ueberwachungs vereine geradezu eine behördliche
Anerkennung gefunden haben, sodass der staatliche Kessel-
revisor nur subsidiär eintritt; es zeigt sich ebenso darin,
dass der Unternehmer für die Revision eine Gebühr zu
zahlen hat. In dem Einen wie in dem Andern tritt auf das
Deutlichste hervor, dass die Kesselrevision als eine Thätig-
keit angesehen wird, welche im Interesse des Unternehmers
stattfindet.
Indem nun in Preussen die beiden Aemter des Ge-
werbeinspektors und des Kesselrevisors mit einander in
Personalunion gesetzt sind, kann es kaum eine Frage sein,
welche von den beiden so entgegensetzten Beamtungen
sich als die stärkere erweisen und der neuen Verbindung
ihren Gesammtcharakter aufprägen wird. Die Aufgaben
des Gewerbeinspektors sind nicht annähernd so präzise
und bestimmt, wie die des Kesselrevisors. Sie haben in der
letzten Zeit vielfach geschwankt und werden hoffentlich
noch weiter schwanken, während der Zweck einer Kessel-
No. 21.
revision von Anfang bis heute derselbe geblieben ist. Die
sozialpolitischen Aufgaben eines Gewerbeinspektors lassen
sich mehr oder minder gut wahrnehmen; die des Kessel-
revisors erfordern eine Leistung von unbedingter Zuver-
lässigkeit, eine Ausführung nach bestimmten Regeln der
Kunst. Ein etwaiger Fehler in der Thätigkeit der Kessel-
revision macht sich mit elementarer Gewalt bemerkbar und
zeigt die Unfähigkeit des Beamten mit einer Deutlichkeit,
wie ein sozialpolitischer Missgriff in seiner Thätigkeit als
Gewerbeinspektor es nie zu thun vermag. Eine Regierung
wird selbst dem geschicktesten Vermittlertalent zuliebe, nie i
auch nur eine einzige Dampfkesselrevision mehr riskiren !
wollen, ln der Personalunion der beiden Aemter muss der j
Kesselrevisor siegen. Wenn man Beamte aussucht, welche |
gleichzeitig Gewerbeinspektoren und Kesselrevisoren sein
sollen, so kann man eben nur nach Kesselrevisoren suchen,
welche die Fabrikinspektion „auch“ übernehmen sollen.
Das heisst: durch die Verbindung der beiden Aemter
wird die Gewerbeinspektion zu einem Nebenamt
der Dampfkessel revision herabgedrückt.
Wenn man daher mit einem gewissen Stolz auf den
preussischen Reorganisationsplan mit seinen 163 Gewerbe-
Aufsichtsbeamten hinweist, einer Zahl, wie sie kein anderer
Staat der Erde aufzuweisen habe, so beruht dieser Stolz
auf blosser Selbsttäuschung.
Das Uebergewicht des Kesselrevisors hat sich in seinem
vollen Umfange bereits bei der ersten Besetzung der re-
organisirten Aemter in der Auswahl der Personen gezeigt.-
Dr. Heinrich Braun hat das Zugeständniss des preussischen
Handelsministers, dass durch die Vereinigung die aus-'
schliessliche Besetzung des Postens mit Ingenieuren noth-,
wendig sei, bereits hervorgehoben. Aber dass der Bildungs-1
gang der Ingenieure nur einen Theil der nothwendigen
Vorbildung darstellt, dass sie die hygieinische und die volks-
wirthschaftliche Seite ihrer Aufgabe nicht genügend über-
blicken werden, ist durchaus noch nicht das Wichtigste an;
diesem Einfluss auf die Personenfrage. Schlimmer und;
nach der sozialpolitischen Seite geradezu ausschlaggebend,
ist, dass nunmehr die Besetzung dieses Amtes mit den';
engsten Standesgenossen des Unternehmers be-
schlossene Sache ist. Der Gewerbeinspektor, welchen man;
sich in Zeiten klaffender Gegensätze als den gemeinsamen
Vertrauensmann beider Parteien und darum in erster Linie
als den Vertrauensmann der vielköpfigen Partei dachte, ist
aufgegeben und an seine Stelle ist ein Beamter getreten,
der demselben gesellschaftlichen Kreis angehört, wie der ,
Fabrikunternehmer. Nicht selten sind es zwei Studienge- j
nossen, von denen der eine als Ingenieur in den Staats- j
dienst trat, während der andere als Ingenieur eine Fabrik
übernahm. Für den Pfarrer, für den Arzt, für jeden Andern,
der durch das Gewicht seiner Persönlichkeit und seines
Berufes den allerdings bestehenden gesellschaftlichen Zu-
sammenhang vergessen machen könnte, ist kein Raum in
einem Amte, welches von seinem Träger in erster Linie
verlangt, dass er Dampfkessel revidiren können muss. Und
hatte jemand sich Hoffnung gemacht, es könnte sich im
Laufe der Zeit ein Gewerbeinspektorat entwickeln, in |
welches auch intelligente Arbeiter hineingelangen könnten,
so ist diese Hoffnung selbstverständlich ebenso abgeschnitten,
seitdem das Inspektorat mit einer Aufgabe verbunden ist,
die man Niemandem übertragen kann, der nicht ein tech-
nisches Staatsexamen abgelegt hat.
Dass der wohlfahrtspolizeiliche Charakter des Ge-
werbeinspektorates, seine Stellung als polizeilicher Anwalt
der Schwachen gegen die Starken vergessen ist, hat sich
bereits in der ersten Ministerialinstruktion geltend gemacht.
Man hat den Gewerbeinspektoren untersagt, von ihrem
No. 21.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
261
polizeilichen Strafrecht Gebrauch zu machen. Es ist kaum
richtig, wenn man dies als einen zweiten Fehler neben dem
ersten bezeichnet; es ist nichts weiter als die Konsequenz
des einmal begangenen Fehlers. Man sieht eben in dem
jetzigen Gewerbeinspektor in erster Linie den blossen
technischen Revisionsbeamten, der, wenn er für seine
Nebenfunktionen ein polizeiliches Einschreiten für nöthig
hält, die Ortspolizei zu requiriren hat. Wenn so im Ver-
waltungswege die vom Gesetz gegebene Strafgewalt wieder
genommen, wenn der Beamte von derselben Ortspolizei ab-
hängig gemacht wird, zu deren Ergänzung und Kontrolli-
rung man ihn schon 1853 bestimmen wollte, so ist dieses
Abhängigkeitsverhältniss um so bedauerlicher, weil in-
zwischen jener lokale und gesellschaftliche Zusammenhang
zwischen den leitenden Personen der Ortsbehörden und den
leitenden Personen der Fabriken durch die Ausdehnung der
Fabriken in kleinen Städten und auf dem platten Lande
vielfach noch bedeutend zugenommen hat. Viel häufiger
als früher ist jetzt Sitz der Fabrik ein Gutsbezirk, in
welchem Fabrikbesitzer, Gutsbesitzer und Träger der Orts-
polizei ein und dieselbe Person ist. Ihr gegenüber die
Interessen des Arbeiterschutzes mit der Autorität des
Staates zu vertreten, wurde bisher als Aufgabe des Ge-
werbeinspektors gedacht, nicht aber von ihr die Geltend-
machung der Staatsautorität zu erbitten.
Allerdings, dass die Thätigkeit des Gewerbeinspektors
nicht im Strafen, sondern im gütlichen Vorstellen und Ver-
mitteln ihr Schwergewicht suchen soll, bleibt gleichwohl
ein berechtigter Gedanke. Aber fruchtbare Vermittlung
zwischen streitenden Theilen und streitenden Interessen
kann nur Jemand übernehmen, der Autorität hat. Um ohne
Strafen eine fruchtbare Thätigkeit entfalten zu können,
muss dem Beamten die Möglichkeit des Strafens gelassen
werden.
Autorität muss diesem Beamten inne wohnen und
zwar nicht blos nach unten, sondern auch nach oben hin.
Wir bedürfen für unsere sozialen Kämpfe eines sozial-
politischen Beamtenthums, welches mit seiner Kenntniss
der Arbeiterverhältnisse nicht nur zwischen Arbeitgeber
und Arbeitnehmer treten kann, sondern auch seinem eigenen
Vorgesetzten bis hinauf zum Minister eine unabhängige
und in gewisser Weise imponirende Stellung einnimmt.
Unter den Gewerbeinspektoren selbst herrscht keineswegs
eine allgemeine Freudigkeit über die Verbindung von Ge-
werbeinspektion und Kesselrevision. Nachdem aber ein-
mal das Amt den Hauptcharakter des Kesselrevisors er-
halten hat, befürchte ich sehr stark, dass die Entwicklung
dahin gehen könnte, dass die Widersprechenden an Einfluss
verlieren, die gehorsam Ausführenden immer mehr gewinnen
werden und dass in den höchsten Regionen der Gewerbe-
verwaltung die Anschauung sich festsetzt, als ob die neue
Verbindung sich eigentlich sehr wohl bewähre. Fängt
man doch sogar schon an, das Vorbild Sachsens und
Württembergs als einen Beweis für die Vereinbarkeit der
beiden Amtsfunktionen anzuführen; gleich als ob es auf
diesem Gebiete irgend einen deutschen Staat gäbe, dessen
Einrichtungen auch nur halbwegs als genügend sich be-
währt hätten.
Zu dem gegenwärtigen Leiter des Handelsministeriums
dürfen wir freilich das Vertrauen haben, dass er der sozial-
politischen Seite des Amtes wenigstens seine Aufmerksam-
keit schenken wird. Es verdient auch daran erinnert zu
werden, dass Minister v. Berlepsch die Trennung der beiden
Aemter als in der Zukunft nicht ausgeschlossen hingestellt
hat. Aber die Lage des preussischen Handelsministers ist,
da jede derartige Stellenvermehrung der parlamentarischen
Bewilligung unterliegt, eine überaus schwierige. Die letzten
Jahre haben bewiesen, dass der preussischen Regierung ein
Parlament, welches für diese Aufgaben Sinn hätte, nicht
zur Seite steht. Sobald es sich um gewerbliche Angelegen-
heiten handelt, zeigen die Verhandlungen des preussischen
Abgeordnetenhauses ein gänzlich anderes Aussehen, als die
des deutschen Reichstages. Ein Grund mehr, um die Re-
gelung des Gewerbeinspektorats zur Sache des Reichs zu
machen. Man mag ein grosses über ganz Deutschland ver-
zweigtes Reichs-Gewerbeinspektorat für den Augenblick
noch als ein Phantasiegebilde bezeichnen, aber wenigstens
die genauere Regulirung des Amtes — weit über die
dürftige Bestimmung der Gewerbeordnung hinaus — ist
allerdings eine Angelegenheit, welche für die Uebernahme
durch das Reich schon jetzt reif ist.
Berlin. J. Jastrow.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Die deutsche Kommission für Arbeiterstatistik. Die
erste Sitzung der Kommission für Arbeiterstatistik wird einer
Meldung des „Reichsanzeigers“ zufolge in der zweiten Hälfte
des Monats Juni stattfinden. Ausser der Anhörung der Kom-
mission über die für ihren Geschäftsgang vom Reichskanzler
zu erlassende Geschäftsordnung sollen Vorschläge über
anzustellende Erhebungen bezüglich der Arbeitszeit im
Bäckergewerbe, Müllergewerbe und im Handelsgewerbe die
Gegenstände der Tagesordnung bilden.
Zur Lohnpolitik des österreichischen Grossgrund-
besitzes. Nachstehende Mittheilungen, die der Broschüre
eines „österreichischen Industriellen“ über „Arbeiteraus-
schüsse und Genossenschaften in der Industrie“ 1892. Ver-
lag von August Hempel, Tetschen a. d. E., S. 22 entnommen
sind, werten auf die Lohnpolitik des österreichischen Gross-
grundbesitzes ein beachtenswerthes Streiflicht:
„Vor 4 Jahren hatten wir Veranlassung, ein Grund-
stück für eine neu anzulegende Fabrik zu suchen. Am ge-
eignetsten erwies sich ein Grund, der zu einem grossen
Hinterkomplexe gehörte und wir wurden, da es unthunlich
war, mit dem Herrn selbst zu sprechen, an den Güter-
direktor gewiesen. Die Antwort lautete etwa folgender-
massen: „Ja, wir sind ursprünglich nicht abgeneigt, Grund
zu verkaufen, aber Sie brauchen 70—80 Arbeiter, da gehts
nicht! Wir müssen jetzt schon bei der Rübenernte 80 Kr.
ragelohn zahlen (40 — 50 Kr. ist der normale Tagelohn jener
Gegend), wo kämen wir da mit unseren Löhnen noch hin!“
Auf unsere Bemerkung, dass die Industrie auch wieder
Vortheile für die Landwirthschaft bringt, belehrte uns der
vortreffliche Güterdirektor, dass er sich das schon aus-
rechne. Er hätte auf einem anderen Gute seines Herrn
sogar eine leerstehende Fabrik zu verkaufen, für die ihm
wiederholt Angebote gemacht wurden, aber er finde es
vortheilhafter, die Fabrik leer stehen zu lassen, da die Er-
höhung der Löhne mehr machen würde, als die Zinsen des
erhaltenen Kapitales“.
Der Verfasser knüpft an diese Beobachtung unter an-
derem folgende Thesen: „Dass der Grossgrundbesitz einen
ungeheuren Einfluss auf das Erwerbsleben weiter Länder-
strecken und tausender von Menschen hat und nicht immer
zum Vortheil der Bewohner jener Gegenden ausübt, da
die Löhne auf den grossen Gütern viel geringer sind als
bei der Industrie; und „dass der Grossgrundbesitz weit eher
als industrielle Ünternehmungen, ein Mittelding zwischen
Privat- und öffentlichem Haushalt ist“, also eine öffentliche
Regelung seiner Arbeiterverhältnisse gerechtfertigt sei.
Abstellung; der Zuchthausarbeit in der Korbmacherei
fordert der Vorsitzende des Central verbandes deutscher Korb-
macher in einer Eingabe an das preussische Kriegsministerium.
In dieser Eingabe heisst es:
„Ergebenst Unterzeichneter ersucht im Namen der ver-
einigten Korbmacher Deutschlands das hohe Ministerium, wenn
irgend möglich die seiner Zeit ausgeschriebenen Kugelkörbe
262
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 21.
nicht, wie ein Gerücht lautet, im Zuchthause zu Zweibrücken
in Bayern anfertigen zu lassen, sondern solchen Unternehmern
zu übertragen, welche freie Arbeiter beschäftigen. Die vereinigten
Korbmacher Deutschlands, Meister und Gesellen, würden nicht
mit diesem Gesuch hervorgetreten sein, wenn sie sich nicht
durch folgende Umstände dazu gedrängt sähen.
1) ist die Korbmacherei durch Zuchthausarbeit schon seit
langer Zeit aufs Schwerste geschädigt und in ihrer Prosperität
herabgedrückt worden;
2) sind seit November v. J. in vielen Orten eine grosse
Anzahl Korbmacher gänzlich beschäftigungslos und zwar meisten-
theils Familienväter, mithin sind es nicht blos einzelne Personen,
clie hungernd und bettelnd auf die Landstrasse getrieben werden,
sondern auch Frauen und Kinder sind dem Elend preisgegeben
und häufig gezwungen, um sich Nahrung zu verschaffen, Gesetzes-
übertretung zu begehen.
Dieses wird und kann keine Behörde wollen, wenn irgend
Mittel vorhanden sind, solches abzuwenden. Lind dazu bietet sich
theilweise die Möglichkeit, wenn die benöthigten 15 000 Körbe
von freien Arbeitern verfertigt werden. Denn es würden daran
zirka 100 Mann 6 bis 7 Wochen zu arbeiten haben und mithin
für diese Dauer mit ihren Familien dem Elend entrissen sein“'
Arbeitsnachweis in Breslau. Nachdem das städtische
Arbeitshaus Breslaus den Charakter einer Strafanstalt an-
genommen hat, ist es als Stelle, wo erwerbsfähige Arme
Beschäftigung und Unterhalt finden, kaum noch zu be-
trachten. Die Beschäftigung suchenden Arbeitslosen sind
daher hierorts jetzt wesentlich auf das Arbeits-Nachweis-
biireau angewiesen, welches der hiesige „Verein gegen
Verarmung und Bettelei“ aus eigener Initiative im Jahre
1880 errichtet hat. Während der Wirksamkeit des Vereins
vom 1. Juli 1880 bis 31. Dezember 1891 wurden eingetragen
in das Melderegister 15 253 Männer, 8084 Weiber, zusammen
23 337; Arbeit wurde nachgewiesen 12 925 Männern und
12 350 Weibern, zusammen 25 305 Personen. Ueber die 1 hä-
tigkeit des Arbeits-Nachweisbüreaus im verflossenen Kalender-
jahre (1891) giebt uns der soeben erschienene Rechenschafts-
bericht des genannten Vereins (erstattet in der Generalver-
sammlung am 3. Mai) wie folgt Aufschluss: Der Arbeits-
nachweis wird unentgeltlich ertheilt. Es sind im Berichts-
jahre von Arbeitgebern 1806 Bestellungen, und zwar auf
1234 männliche und 1122 weibliche, zusammen 2356 Ar-
beiter eingegangen Davon wurden 1711 Bestellungen
durch 1193 männliche und 1068 weibliche, zusammen
2261 Arbeiter erledigt. Feste Anstellungen erhielten 991,
theilweise fest 492, vorübergehend 778, zusammen 2261.
Von den 2261 erledigten Bestellungen aut Arbeitspersonal
befanden sich ausserhalb Breslaus 21. Im Melderegister
wurden im Jahre 1891 995 männliche und 492 weibliche
Personen, zusammen 1487 Personen eingetragen, unter
diesen befanden sich 57 vom Verein und 44 von der städti-
schen Armenverwaltung unterstützte Personen. Ueber die
sonstigen Personalverhältnisse der im Jahre 1891 in
Melderegister eingetragenen Arbeiter unterrichten uns fol-
gende Angaben: Von den Eingetragenen waren aus Breslau
gebürtig: 648 (513 Männer, 135 Weiber); in Breslau hei-
mathsberechtigt: 839 (482 Männer, 357 Weiber). Es standen
in einem Alter unter 20 Jahren 628 (548 Männer, 80 Weiber),
von 20— 30 Jahren 328 (206 Männer, 122 Weiber ), von 30 bis
50 Jahren 444 (201 Männer, 243 Weiber), von 50—70 Jahren
85 (38 Männer, 47 Weiber), über 70 Jahre 2 Männer. Ledig
waren 895 Personen (707 Männer, 188 Weiber), verheirathet
433 (272 Männer, 161 Weiber), die übrigen verwittwet oder
geschieden.
Die Uebersicht über die Berufsklassen, für welche
Arbeitsnachweisungen ertheilt wurden, enthält leider eine
grosse Sammelkategorie „Arbeiter“; es ist nicht ersichtlich,
ob dieses nur gewöhnliche ungelernte Tagelöhner oder
auch Industriearbeiter sind. Von den 1193 männlichen Per-
sonen, denen Arbeit nachgewiesen wurde, erhielten Be-
schäftigung als: „Arbeiter“ 610, Arbeits- und Laut burschen
348, Hausliälter (incl. Hausbereinigung) 127, Tapeten-
streicher 29, Kutscher 17, Tischler 15, Anstreicher, Zimmer-
leute je 5; die übrigen vertheilten sich mit je weniger als
5 Personen auf 19 Berutsklassen.
Die weiblichen Personen, denen Arbeit nachgewiesen
wurde (1068) erhielten Beschäftigung als Bedienungstrauen
(423), Waschfrauen (170), Scheuerfrauen (134), „Arbei-
terinnen“ (103), Kinderfrauen und Mädchen (74), Arbeits-
und Laufmädchen (66) u. s. w.
Wie aus diesen Zahlen hervorgeht, hat der Arbeits-
nachweis des Breslauer Vereins gegen Verarmung und
Bettelei eine grössere Bedeutung bislang nur für den Nach-
weis von Gesindediensten erlangt. Das bestätigt die
Uebersicht über die Vertheilung der eingegangenen Be-
stellungen auf die einzelnen Monate und Jahreszeiten.
Die Mehrzahl läuft im März, April, September und Oktober, j
also in den Monaten des Dienstboten Wechsels ein. Dagegen
sind am wenigsten Bestellungen eingelaufen und Stellen
nachgewiesen in den Wintermonaten, in denen gerade für
die gewerblichen Arbeiter die Arbeitslosigkeit am |
grösten ist.
Handel von Prämien- und Anlehenloosen im Kanton
Zürich. Aehnlich wie im Kanton Aargau sucht man nun auch
im Kanton Zürich gegen die betrügerische Auswucherung kleiner
Leute durch den ratenweisen Verkauf von Prämien- und An-
lehenloosen vorzugehen. Es scheint dies recht dringlich zu
sein, da allein eines der vier Geschäfte in Zürich, welche diesem
Handel gewidmet sind, 15 000 Kunden besitzen soll. Ent-
sprechend dem Verbote der Lotterien wünschte Gewerbe-
sekretär Krebs im Züricherischen Kantonsrathe ein Gesetz,
wie es der Kanton Schwyz besitzt, das den Handel mit Prämien-
und Anlehensloosen untersagen soll, oder zum mindesten eine
gesetzliche Regelung dieses Verkehrs. Angenommen wurde ein
Antrag, es soll der Regierungsrath Bericht erstatten, in welcher
Weise der Handel mit Prämien- und Anlehensloosen möglichst
eingeschränkt und insbesondere Missbräuchen beim Vertrieb
solcher Loose wirksam vorgebeugt werden könne
Teppichweberei in Kleinasien. Die „österreichische Mo-
natsschrift für den Orient“ enthält eine auf persönlicher Er-
fahrung beruhende Darstellung der Teppichfabrikation in
Kleinasien von Stöckel, die auch interessante Angaben über
die Arbeiterverhältnisse bringt. Darnach ist es in erster Linie
der weibliche Theil der Bevölkerung, der in der Teppich-
fabrikation Beschäftigung findet. Fleiss, striktes Einhalten der
Arbeitszeit, die mit Sonnenaufgang beginnt, seltene Bedürfniss-
losigkeit und eine gewisse Sittenreinheit zeichnen die weiblichen
Arbeiter aus, während die Männer vor wie nach der Verheirathung
häufig dem Müssiggang huldigen. Schon mit 6 — 7 Jahren sitzen
die Mädchen an tier Seite ihrer Mütter am Webstuhle, um in
der Fertigkeit des Knüpfens unterwiesen zu werden, anfänglich
zumeist um den Kamm zu führen und ihn gegen die Knüpf- :
reihen zu schlagen. Nach 2 jähriger Lehrzeit tritt Entlohnung
ein; dann wird alles an Fleiss und Sparsamkeit aufgeboten, um
eine Mitgift zu erwerben. Die Fertigkeit in den Handgriffen
und der Farbensinn wird so schon früh entwickelt, aber die Ver- ■
Wendung der Arbeiterschaft im zarten Kindesalter bringt eine
Schwächung der an sich schönen und kräftigen Race mit sich.
Die Arbeiterinnen verdienen 15 — 30 Piaster, d. i. 4 — 8 Francs
wöchentlich, einzelne besonders tüchtige Arbeiterinnen, die das
Spannen der Kette und die Eintheilung der Zeichnung zu über-
wachen haben, werden höher bezahlt. _ '
Die Herstellung der Teppiche wie auch die vorbereitenden
Prozesse (Reinigen der Wolle, Spinnen, Färben) werden aus- ;
schliesslich hausindustriell in einer um Jahrhunderte rückstän-
digen Technik betrieben. Der Versuch der Errichtung einer
mechanischen Wollspinnerei rief so massenhafte Proteste der
Bevölkerung hervor, dass die Regierung ihre Erlaubniss ver-
sagte. Bis zum Jahre 1865 hatte die muselmännische Bevölke-
rung allein das Recht Knüpfteppiche herzustellen; dann gelang
es, einen Firman zu erwirken, der auch den griechischen und
armenischen Christen die Theilnahme an dieser Hausindustrie
sichert.
Arbeiterzustände.
Die Lage der Bäcker in Bremen. Innerhalb kurzer
Frist erscheint die dritte Publikation über die Verhältnisse
im deutschen Bäckergewerbe. Den Schriften Bebel’s über
die Lage der Bäcker im Deutschen Reiche und der A. Seidl s
über die Lage der Bäcker in München folgt nun als Ergeb-
niss einer statistischen Erhebung des Gewerkvereins der
Bäckergesellen Bremens und Umgebung ein „Die Lage der
Arbeiter im Bremer Bäckergewmrbe und die nothwendigsten
Aufgaben der Bäckerbewegung“1) betiteltes Heftchen, aus
dem wir die bemerkenswerthesten Daten über die Lage der
Bremer Bäcker hier wiedergeben.
Die Erhebung erstreckte sich auf die 70 grösseren
Geschäfte von Bremen und Umgebung, demnach auf ca.
den Drittheil der Bäckereibetriebe überhaupt und auf die
Hälfte der Gehilfenbetriebe, sowie auf nicht ganz die Hälfte
der beschäftigten Gehilfen.
') Bremen 1892, Verlag von P. Sandhoff. 24 S. 8°.
No. 21.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
263
Die Arbeitsräume sind in ihrer Mehrzahl höchst un-
günstig gelegen, die meisten befinden sich im Souterrain
und leiden an Mangel von Luft, Licht und Ventilation.
Ferner wird über Unreinlichkeit, hohe Temperaturen und
Sättigung der Luft mit Dünsten aller Art, geklagt. Noch
bedenklicher als die Arbeitsräume sind die Schlafräume, so
wird von einem Geschäfte mitgetheilt, dass durch einen
Schlafraum, in welchem 4 Personen schlafen, der Rauch
von 2 Backöfen zieht, eine andere Schlafstelle befindet sich
im feuchten Keller, wo während des ganzen Jahres kein
Licht eindringt, in einer anderen Feststellung heisst es,
dass man sich beim Erwachen nicht wundern dürfe, wenn
Schnee auf dem Bette liegt. Die Geschäfte wurden nach
der Beschaffenheit der Schlafräume in 5 Kategorien einge-
theilt und vertheilen sich dementsprechend in 5 Geschäfte
mit sehr guten, in 23 mit guten, in 12 mit ungenügenden,
in 24 mit schlechten und in 5 mit sehr schlechten Schlaf-
räumen.
Von 71 Geschäften lagen Angaben über die Arbeits-
dauer an Wochentagen vor, 4 derselben Hessen 18, ebenso-
viele 17 Stunden arbeiten, in 13 betrug die Arbeitszeit 16,
in 14 Geschäften 15 Stunden, bei 17 Meistern 14, bei einem
13, bei 18 10 — 12 Stunden. Die Arbeitszeit an Sonntagen
wird von 61 Geschäften angegeben. 10 und mehr Stunden
wurde an Sonntagen gearbeitet in 38 Geschäften, und zwar
in fiinfen 15, in vieren 14, in dreien 13 und in sieben
12 Stunden, in 23 Geschäften wurden 9 und weniger
Stunden gearbeitet und zwar in je achten 8 und 9 Stunden.
Die Löhne waren von 128 Gesellen angegeben nur
bei 28 betrugen sie 10 — 13 M. und die Kost, bei 24 (stets
inklusive Kost) 9, bei 19 8, bei 20 7, bei 32 6, bei dreien
5 und bei zweien 4M. 14 Gesellen, die reinen Geldlohn
erhielten, verdienten 60 — 65 M. im Monate und einer 18 M.
in der Woche.
Die Beköstigung wird in 7 Geschäften als sehr gut,
in 19 als gut, in 5 als mittelmässig und in 27 als schlecht
bezeichnet. Drei der Geschäfte, auf die sich die Erhebung
erstreckte, verabreichten keine Kost an ihre Gehilfen.
Lohnverhältnisse (1er österreichischen Binnenschiffer.
Dem soeben für 1891 erschienenen „Bericht der k. k. öster-
reichischen Gewerbeinspektoren“ (Wien, 1892, Staatsdruckerei)
eigenthümlich sind die dankenswerthen Mittheilungen, welche hier
alljährlich über die Lage der Arbeiter derBinnenschiffahrt gemacht
werden. Diesmal schreibt der österreichische Schiffahrtsgewerbe-
inspektor Schromm (S. 402 ff. des Berichts): „Als neu kann ich im
vorliegenden Berichte die Entlohnungen der Donau-Ruder-
schiffer anführen; diese werden per Reise bezahlt, stehen also
nicht im festen Wochen- oder Monatslohn, wie dies bei den
Elbeschleppschiffern der Fall ist. Ein Schiffer erhält für die
Donaustrecke Aschach — Wien ff. 10, Linz — Wien fl. 8,50, Maut-
hausen—Wien fl. 7, Holler — Wien fl. 6, Ispar — Wien fl. 5, Pöch-
larn Wien fl. 4,50, nebst einem täglichen Kostgelde von
70 Kreuzern. Die Kosten der Rückreise von Wien per
Bahn oder Dampfschiff muss der Betreffende selbst
decken. Die Dauer der einzelnen Reise ist nicht nur von der
Streckenlänge, sondern auch von dem Wasserstande abhängig.
Die Durchschnittslöhne der Werftarbeiter in Korneuburg
stellen sich auf fl. 1,70, jene der Linzer Werfte auf fl. 1,50 per
Tag. Auf beiden Werften werden die meisten Arbeiten im
Akkord wege ausgeführt und können sich die besseren Arbeiter
auf diese Weise fl. 2,50 bis fl. 3 per Tag verdienen. Die Ver-
dienste der Schiffsmüller hängen innig mit dem Wasser-
stande zusammen; auch hier stehen die Arbeiter im Akkorde,
und zwar erhalten sie per 100 kg vermahlenes Getreide
8 — 9 Kreuzer; ihr Tagesverdienst variirt, dem Wasserstande ent-
sprechend, von 50 Kr. bis fl. 1,20. Ausser dieser Entlohnung
gemessen die Arbeiter die ganze Verpflegung, welche mit
70 Kr. per Tag zu veranschlagen ist. Es ist jedoch nicht zu
vergessen, dass den Winter über diese Arbeiter nichts ver-
diene n; sie bleiben jedoch bei ihren Arbeitgebern gegen Ent-
schädigung der Verpflegung, wofür sie kleinere Reparaturarbeiten
verrichten, die Einkassirung der bei den Bauern ausstehenden
Mahlgelder übernehmen u. s w. Verhältnissmässig sehr gute
Verdienste weisen die Schiffsentlader am Praterquai aus;
es sind dies die an anderer Stelle dieses Berichtes bereits er-
wähnten Taglöhner; deren Entlohnung erfolgt im Akkord -
wege, und zwar per 100 kg Körnerfrucht. Der Einheits-
satz variirt je nach dem Gewichte der Getreidegattung und je
nach dem Orte, wohin das Getreide zu tragen ist (Eisenbahn-
waggon, Magazin, Strassenfuhrwerke). Im Mittel verdient sich
ein Mann fl. 3 bis fl. 4 per Tag. Dieser relativ hohe Verdienst
erscheint jedoch in ganz anderem Lichte, wenn man bedenkt,
dass derselbe nur während der Exportsaison andauert,
also nur 3 höchstens 4 Monate im Jahre. Im Winter versiegt
dieser Verdienst ganz und gar, während im Frühjahr und Früh-
; sommer der Tagesverdienst dieser Taglöhner auf fl. 1,20 sinkt.
Immerhin könnten die Leute sich während der lebhaften Saison
manchen Sparpfennig zur Seite legen, wenn sie überhaupt Sinn
zum Sparen hätten, was aber leider nicht der Fall ist. Die in
den Lagerhäusern ständig beschäftigten Arbeiter verdienen sich
fl. 1,20 per Tag, während die zum Umschaufeln des Getreides
oder zum Repariren der Säcke in Verwendung stehenden
Weiber per Tag fl. 0,80 bis fl. 0,90 erhalten. Ganz eigenthüm-
lich liegen die Verhältnisse der Elbeschiffsverlader am
Aussiger bezw. auch auf dem Rosawitzer Umschlagplatze. Es
handelt sich hier um die sogenannten Kohlenkarrer und deren
Gehilfinnen. Der Verdienst dieser Leute hängt von der An-
zahl Kohlenwaggons ab, welche der betreffende Karrer mit
seinen beiden weiblichen Hilfsarbeitern per Tag ausladet, bezw.
in das Schiff durch das „Einkarren“ verladet. Der Karrer erhält
für die 10 und 11 Tonnen Kohlen enthaltenden Waggons fl. 1,80,
für die 15 Tonnen-Waggons fl. 2,70; davon muss er die beiden
Weiber, welche die Kohle vom Waggon in die Karren verladen,
bezahlen. Der Maximalverdienst beträgt per Tag für den
Karrer ca. fl. 2, für jedes Weib fl. 1. Diese Schiffsverlader
werden jedoch nicht von den Kohlenlieferanten, bezw. Kohlen-
händlern entlohnt, sondern von dem betreffenden Schiffer, also
vom Verfrachter der Waare.“ Mit diesen Notizen ist auf ein
Gebiet kritischer Sozialforschung hingewiesen, welches so gut
wie noch gar nicht angebaut wurde.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Die Strikebewegung in Lodz.
Der Strike in Lodz (Russisch-Polen), von dem die
Tagesblätter vor einer Woche Nachrichten gebracht haben,
darf nicht nach dem Massstabe der westeuropäischen Ar-
beitseinstellungen beurtheilt werden. Es wurden allerdings
bestimmte Forderungen gestellt, wie Abkürzung des Ar-
beitstages und höhere Löhne, aber der Ausbruch war spon-
taner Natur, unerwartet und wenig vorbereitet. Die Em-
pfindung der Arbeiter, dass sie ihrem bisherigen Elend ein
Ende machen müssen, dass der Tag ihrer Erlösung ge-
kommen sei, da die ganze Arbeiterschaft der Welt sich
schon zum dritten Male im Maifeste solidarisch vereinigt,
scheint hier massgebend gewesen zu sein.
Lodz und Umgebung ist ein so rein kapitalistisches
Erzeugniss der letzten Jahre, dass kein zweiter Bezirk in
ganz Russland ihm in dieser Hinsicht gleichkommt. Noch
vor hundert Jahren war die Stadt ein kleines Dorf, in dem
von industrieller Bethätigung keine Rede sein konnte, ja
sogar noch 1820 hatte sie blos 1000 Einwohner. Ihre
eigentliche Entwickelung ist das Produkt der letzten
dreissig Jahre; der Kulminationspunkt fällt in die Zeit
von 1870 bis 1885 und hängt mit der Entstehung der Textil-
industrie, besonders der Baumwoll- und Wollenindustrie zu-
sammen. Heute zählt man in Lodz und Umgebung 270 grosse
Betriebe mit mechanischen Motoren, und unter der Stadt-
bevölkerung, die man auf 160 000 schätzen kann, obgleich die
letzte offizielle Zählung nur 125 227 Einwohner nachgewiesen
hat, macht die Fabrikbevölkerung a/3 nach der Berechnung
des Fabrikinspektors Dr. W. W. Swiatlowskij 100 000 Per-
sonen aus. Ausser den Spinnereien und Webereien sind
die Appreturanstalten und Färbereien (36 Betriebe) beson-
ders stark entwickelt. Daneben nehmen Band- und Seiden-
fabriken, Hutfabriken, Ziegeleien, Bierbrauereien die Kräfte
der Bevölkerung der Stadt und Umgebung in Anspruch. In
demselben Bezirke, der durch zwei Eisenbahnlinien (Wien-
Warschau und Iwangorod-Dombrowa) unmittelbar mit Russ-
land, Deutschland und Oesterreich verbunden ist, zählt man
auch eine Reihe kleinerer Fabrikorte: Zygiecz, Tomaszow,Pa-
bianice, Widzew u. a. Die letzteren zwei sind von der Strikebe-
wegung mitergriffen worden, und jetzt bricht sie noch verein-
zelt an kleineren Orten aus. Man darf also behaupten,
dass die offiziell angegebene Zahl von 30 000 Feiernden
weit hinter der thatsächlichen Zahl zurückgeblieben ist, da
die ganze Fabrikbevölkerung von Lodz und Pabianice der
Arbeit fern blieb, ja sogar die Handwerkerwerkstätten
und die Schulen geschlossen waren.
Der diesjährige Winter war für die Arbeiterbevölke-
rung ein recht schwerer. In Folge der Missernte in
Russland war die Wollen- und Baumwollindustrie gedrückt,
da die Lodzer Waaren hauptsächlich ihren Markt in West-
und Südrussland bis zum Kaukasus haben und sogar nach
Centralasien dringen. Der Rückgang der Geschäfte war so
| stark, dass der Diskontsatz in der Lodzer Handels-
264
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 21
bank auf 10% gestiegen war. In Folge dessen ist ein
Theil der Bevölkerung arbeitslos geworden, was bei den
erhöhten Lebensmittelpreisen sich unter der ganzen Fabrik-
bevölkerung fühlbar machte. Die Löhne, die sonst in Lodz
um 10 15% höher sind, als in andern industriellen Centren
Polens, fielen, wozu neben den anderen Umständen auch
die Einwanderung der jüdischen brodlosen Bevölkerung aus
Russland beigetragen hat. Im Allgemeinen sind die Löhne
der Arbeiter in Polen sehr niedrig nicht nur absolut, son-
dern auch im Vergleich mit den Lebensmittelpreisen. In
Lodz war das Lohnmaximum für erwachsene männliche
Arbeiter 10 Rubel (zirka 22 Mk.) pro Woche, das Minimum
für Handlanger und weibliche Arbeiter 3—5 Rubel. In klei-
neren Orten wie z. B. in Tomaszow betrug der Lohn 12 bis
16 Rubel im Monat, also nicht mehr als 3 — 4 Rubel die
Woche. Der Unterschied kommt davon, dass Tomaszow,
ein Centrum der Tuchfabrikation, hauptsächlich kleine Be-
triebe mit 10 — 15 Arbeitern hat; hier werden die Arbeiter
noch mehr ausgebeutet als in der Grossindustrie. Für
diesen Lohn der (auch in Lodz) ein Hungerlohn im Ver-
gleich z. B mit den französischen oder englischen
Löhnen ist, mussten die Leute 12 — 13 Stunden am Tage
arbeiten. Unter den Arbeitslosen war die Noth so gross,
dass man eine unentgeltliche Speiseanstalt errichten musste
und die Stadt öffentliche Arbeiten an Wegen und Bauten
für den Frühling in Aussicht stellte, um die überschüssigen
Hände zu beschäftigen Im April hat sich die Lage aller-
dings gebessert, zuerst in der Baumwoll-, dann in der
Wollenindustrie. Aus Russland waren viele Bestellungen
eingelaufen, so dass die Fabriken wieder voll gear-
beitet haben. Es sind sogar neue Betriebe, in denen
einige Tausend Arbeiter beschäftigt werden konnten, er-
baut worden. Die Lage begann also eine verhältnissmässig
günstige zu sein aber die Erinnerung an die böse Zeit ver-
blieb, und die Missstimmung konnte leicht wieder geweckt
werden.
Wie gesagt, stellten sich die Vorgänge vom 2. bis
zum 11. Mai nicht als ein gewerkschaftlich organisirter
Strike dar, es war aber eine Kundgebung die auf eine
für die Verhältnisse in Russisch-Polen grossartige Weise
bewies, dass die Arbeitermasse ein Klassenbewusstsein hat,
sich mit den Arbeitern von Westeuropa solidarisch fühlt,
übereinstimmende Forderungen aufstellt und, wie der Ver-
lauf zeigte, diese durch ein solidarisches massenhaftes
Auftreten durchsetzen wollte.
Schon einige Tage vor dem ersten Mai wurden Auf-
rufe verbreitet, welche die Arbeiter zu einer solidarischen
Kundgebung am ersten Mai einluden. Eine Arbeitsein-
stellung, um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit zu er-
zwingen, wurde in Aussicht gestellt. Diese Aufrufe, von
der Polizei auf jede Weise vernichtet, fand man doch
überall, nicht nur in den Fabriken, sondern auch an den
Strassenecken. Der erste Mai verlief ruhig aber feierlich,
auf den Strassen sah man eine immer wachsende Menge
von Arbeitern.
Schon am anderen Morgen musste nach offiziellen,
keineswegs vollständigen Berichten in acht Fabriken
die Arbeit eingestellt werden, da die Arbeiter gestrikt
hatten. Die Feiernden gingen in der Stadt herum und
überredeten die noch Arbeitenden, sich ihnen zuzugesellen.
Wo ihnen nicht Folge geleistet wurde, zwangen sie die Ar-
beiter zur Arbeitseinstellung und brachten die Motoren zum
Stillstände. Am dritten Mai, sowie an den folgenden Tagen,
griff die Arbeitseinstellung immer weiter um sich, so dass
das offizielle Organ, der „Warschauer Dnewnik“, am
5. Mai die Zahl der Strikenden auf 30 000 angab und am
6. Mai von einer allgemeinen Arbeitseinstellung sprach.
Die Zahl der Feiernden war darnach also gleich derjenigen
der Arbeitsbevölkerung. Schon bei den Aufforderungen
zur Strikebewegung kam es zu einem Handgemenge unter
der kleinen Zahl, die noch arbeiten wollte, und denjenigen,
welche ein solidarisches Auftreten wünschten. Es wurden
dabei einige Fenster eingeschlagen und Läden beschädigt,
im Allgemeinen aber war die Haltung der Arbeiter ruhig.
Sie bemühten sich nur, so viel wie möglich in Gruppen
auf der Strasse zu bleiben und zu demonstriren. Rufe um
Verkürzung der Arbeitszeit und Erhöhung der Löhne wur-
den immer allgemeiner und lauter. Bekanntlich aber gelten
solche Massenversammlungen in Russland als Verbrechen.
Truppen, welche seit dem 1. Mai in einer grösseren Zahl
versammelt waren, um möglicherweise entstehenden LTn-
ruhen und Ausschreitungen entgegenzuwirken, schritten
bereits am 3. Mai ein und arretirten einige Arbeiter. Doch
bis zum 5. Mai war im Allgemeinen die Stimmung ruhig.
Arbeiterhaufen und Soldaten standen sich gegenüber und
massen einander mit den Augen. Inzwischen scheint aber
der alte Groll gegen die Juden durch die allgemeine
Aufregung geweckt worden zu sein. Am Freitag, den
6. Mai begann eine Judenhetze, Läden wurden beraubt,
Fenster eingeschlagen, das Handgemenge gestaltete sich
immer wüthender und von beiden Seiten fielen Todte und
Verwundete.
Am 6. Mai begann auch die Arbeitseinstellung in
Pabianice, die ohne jede Gewaltthat seitens der Arbeiter
verlaufen ist.
Es scheint ganz sicher zu sein, dass Arbeiter an der
Judenhetze keinen Antheil gehabt haben. Möglich, dass
der erste F unke aus einem Streite zwischen christlichen und
jüdischen Arbeitern entsprungen ist, dann aber haben sich
die Arbeiter fern gehalten, man sagt sogar, dass sie die
Stadt verliessen, als die Judenhetze ihren Gipfel erreicht
hatte. Wie viele Todte und Verwundete das Handgemenge
zur Folge hatte, ist nicht festzustellen, jedenfalls war die
Zahl bedeutend. Es ist auch nicht bekannt, wie gross die
Zahl der todten und verwundeten Arbeiter war, der offi-
zielle Bericht schweigt darüber, Thatsache aber ist, dass
die Truppen am 6. und 7. Mai gegen die Arbeiter ge-
schossen haben und Todte und Verwundete fielen. Die
Soldaten, 13 durch Kavallerie verstärkte Rotten Infanterie,
suchten die Arbeiter durch Schrecken einzuschüchtern.
Verhaftet und eingesperrt wurden die Arbeiter massenhaft
Schon die offiziellen Angaben vom 6. Mai sprechen von
sehr vielen Verhafteten. Die Angaben vom 7. Mai geben
weitere Verhaftungen an und ihre Zahl ist im Ganzen eine
sehr beträchtliche.
Die Arbeitseinstellung wird nach dem russischen
Fabrikgesetze für die Theilnehmer mit Haft von 2 — 4 Mo-
naten und bei den Führern mit 4 — 8 Monaten bestraft,
wenn aber dabei ein Schaden und Zerstörungen vorkamen,
kann die Strafe auf 1 Jahr 4 Monate erhöht werden, unter ,
ein Strafminimum von 4 Monaten darf nicht herunter-
gegangen werden. Dieselbe Strafe wird gegen diejenigen
verhängt, die andere zur Arbeitseinstellung gezwungen oder 1
überredet haben. Wer den Vorstellungen der Regierungs-
vertreter Folge leistet, wird von jeder Strafe freigesprochen.
Der Petrokower Gouverneur hat die Arbeiter zu be-
schwichtigen versucht, er erliess am 5. Mai einen Aufruf
an die Arbeiter, in dem jede Strassenansammlung verboten
und die Rückkehr zur Arbeit empfohlen wurde. Dem
Arbeitern wurde die Möglichkeit der Einzelklage vor
den Regierungsbehörden in Aussicht gestellt. Die Ar-
beiter scheinen jedoch einer anderen Meinung als die Re-j
gierungsvertreter gewesen zu sein, da dem Aufrufe, trotz
der Drohung, dass im Falle der Unfolgsamkeit Gewaltmittel
angewendet werden sollten, keine Folge geleistet wurde.
Erst angesichts des blutigen Einschreitens der Truppen
und der Verhaftungen ist die Arbeitseinstellung, die an
Allgemeinheit und Kühnheit die meisten westeuropäischen
in Schatten stellt, unterbrochen worden. Bisher haben die
Arbeiter gar nichts erreicht. Aber das blutige Gespenst
steht jetzt zwischen ihnen und den Arbeitgebern, und das
ist für ihr Auftreten als Klasse von einer nicht gering
anzuschlagenden Bedeutung.
Folgen des Durhamer Strikes. Das Elend in den Eisen-
distrikten ist furchtbar. In Cleveland nagen, wie der Sonder-
berichterstatter der „Daily News“ meldet, abgesehen von den
strikenden Bergleuten, IÖ0 000 Männer, Weiber und Kinder am
Hungertuch. Sie haben kein Brennmaterial und mussten theil-
weise sogar ihre Möbel verkaufen, um den „Wolf von der Thüre
fernzuhalten“. In Middlesborough liegen die Dinge ähnlich.
Wenn nicht bald neue ausgiebige Hülfe kommt, so müssen die
Armen vor Hunger umfallen Der vom Stadtrath von Middles-
borough ins Leben gerufene Hülfsfonds ist seit zwei Tagen
erschöpft. Bis jetzt wurden jede Woche davon 400 Lstr. für
die Arbeitslosen verwandt. Eine Familie erhielt 2% — 5 sh-
wöchentlich. In Middlesborough müssen viele Familien mit
3 sh. die Woche jetzt auskommen. Die Zahl der Arbeitslosen
in Cleveland und Middlesborough droht noch immer zu wachsen.
Wahrscheinlich wird auch die grosse chemische Fabrik in Cleve-
land wegen Kohlenmangels geschlossen werden. — Die Bürger-
meister von West-Hartlepool, Middlesborough, Stockton-on-Tees
und Darlington haben einen Aufruf in der englischen Presse
veröffentlicht, in welchem sie um milde Beiträge! für die 100000
No. 21.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
265
I. eute bitten, welche durch den Strike der Bergleute von Durham
in die bitterste Noth gerathen sind. Niemals habe es in England
seit der Baümwollenhungersnoth in Lancashire vor 30 Jahren
solches Elend gegeben. Der Lordmayor der City von London
hat sich schon zur Entgegennahme von Beiträgen bereit erklärt.
Die Unterstützung bei Arbeitslosigkeit wurde von dem
Fachvereine der Glas, Porzellan- und Industriemaler in Wien
durch folgende Bestimmungen geregelt:
1. An Mitglieder, welche dem Vereine mindestens ein Jahr
angehören, wird bei eingetretener Arbeitslosigkeit, sofern die-
selbe eine Woche andauert, 70 Kreuzer pro Tag an Unter-
stützung gewährt, und zwar in einem Jahre bis zu 10 Wochen
Arbeitslosigkeit. Wird die Arbeitslosigkeit durch die nach den
bestehenden Arbeiterschutzgesetzen berechtigten oder im Inter-
esse des gesammten Gewerbes gemachten Forderungen hervor-
gerufen, so kann die Unterstützung bis zu 9 Gulden pro Woche
erhöht werden, dasselbe gilt für Mitglieder, welche in Folge
ihrer Vereinsthätigkeit arbeitslos werden. Für diese Fälle
existirt keine Karrenzzeit, auch kann die Dauer der Unter-
stützung bis zu 14 Wochen verlängert werden.
2. Arbeitslosigkeit im Sinne des Vereinsstatuts liegt nicht
vor: a) Wenn dieselbe durch freiwillige, nicht von der Vereins-
leitung genehmigte Lösung des Arbeitsverhältnisses, oder
bl durch die Lage des Gewerbes, wie sie alljährlich in der
Regel eintritt, geschaffen wird, Ueber diese Fälle entscheidet
die Vereinsleitung im Beisein der Vertrauensmänner von Fall
zu Fall Mitglieder, welche wegen zu geringen Verdienstes
oder aus einer anderen Ursache das Arbeitsverhältniss kündigen
wollen, müssen, sofern ihnen Unterstützung zugesprochen werden
soll, die Genehmigung der Vereinsleitung zur Kündigung unter
Klarlegung des Sachverhaltes und dessen Bestätigung durch
den Vertrauensmann seiner Arbeitsstelle einholen. Im ersteren
Falle darf die Genehmigung nur ertheilt werden, wenn Aus-
sicht auf lohnendere Arbeit am Platze vorhanden ist, oder
wenn sich der Betreffende verdichtet, abzureisen. In diesem
Falle erhält er die nach Punkt 3 lit. a, b, c, hierfür be-
stimmte Unterstützung. Dieselbe wird in einem Jahre blos ein-
mal gewährt.
3 Unverheirathete Mitglieder, deren Arbeitslosigkeit be-
reits 3 Wochen andauert, können, wenn am Platze keine Aus-
sicht vorhanden ist, in nächster Zeit annehmbare Arbeit zu be-
schaffen, vom Vorstand angewiesen werden, sich auf die Reise
zu begeben, um dieselbe zu beseitigen. Es erhalten sodann:
a) Solche Mitglieder, welche dem Vereine länger als ein Jahr
angehören und sich erst nach dreiwöchentlicher Unterstützung
auf die Reise begeben, eine Abfertigung von der Höhe einer
Wochenunterstützung, b) Solchen Mitgliedern, welche dem
Vereine länger als ein Jahr angehören, sich aber sofort, ohne
erst Unterstützung empfangen zu haben, auf die Reise begeben,
wird der auf sie entfallende Betrag von 2 Wochen im Vorhinein
ausbezahlt, c) Solche Mitglieder, welche dem Vereine noch
kein Jahr angehören, deren Mitgliedschaft aber 3 Monate über-
steigen muss, erhalten, wenn eine Arbeitslosigkeit im Sinne des
Vereinsstatuts vorliegt, bei einer eventuellen Abreise eine
Unterstützung von 2 Gulden d) Als nicht verheirathet gelten
auch Diejenigen, welche von ihrer Familie geschieden leben
und dieselbe auf keine Weise unterstützen.
4. Verheirathete Mitglieder, deren Arbeitslosigkeit bereits
längere Zeit andauert, ohne dass Aussicht vorhanden wäre, dass
dem betreffenden Mitgliede in nächster Zeit annehmbare Arbeit
nachgewiesen werden könnte, können vom Vorstand ebenfalls
angewiesen werden, sich ausserhalb Wiens Arbeit zu ver-
schaffen und erhalten solche Mitglieder bei ihrem Wohnungs-
wechsel eine von der Vereinsleitung zu bestimmende Beihilfe
von 30% zu den Umzugskosten, welche sich nach der im
Punkt 3 für unverheirathete Mitglieder geltenden Mitgliedsdauer,
sowie nach der bereits erhaltenen Unterstützung richtet, jedoch
18 Gulden nicht übersteigen darf, und in einem Jahre blos ein-
mal gewährt wird; in keinem Falle darf die Gesammthöhe der
erhaltenen Unterstützungen mehr als 49 Gulden betragen. So
lange die Mitglieder diesen und den in Punkt 3 vorgesehenen
Weisungen nicht nachkommen, erhalten dieselben keine Unter-
stützung.
Die Pariser Kellner gegen (las Trinkgelderunwesen.
Jetzt sind es die Pariser Kellner selbst, welche gegen das
Trinkgelderunwesen eintreten. Ihr Fachverein hat eine
Abordnung beauftragt, dem Polizeipräsidenten diese Neue-
rung ans Herz zu legen. Die Kellner wollen festen Lohn,
Abschaffung des Trinkgeldes. Ihre Gründe sind sehr triftig.
Die Wirthe nehmen unter verschiedenen Vorwänden den
rossten Theil des Geldes aus der Sammelbüchse, in welche
ie Kellner alle erhaltenen Trinkgelder werfen müssen,
und zahlen den grössten Theil ihrer allgemeinen Unkosten
aus den Trinkgeldern.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Das Arbeiterschutzgesetz in Glarus.
Das schweizerische Fabrikgesetz hat auf immer weitere
Kreise Anwendung gefunden. Man hat sich von Jahr zu Jahr
mehr überzeugt, dass der Schutz, den dasselbe gewährt,
den Arbeitern kleiner und kleinster Betriebe noch weit
nöthiger wäre, als denen der grossen Fabriken Der Wunsch
tauchte immer öfter auf, das Fabrikgesetz zu einem eigent-
lichen Gewerbegesetz umzugestalten. Aber der Bund
wagte sich bisher nicht an diese, allerdings recht schwierige
Aufgabe. Von einzelnen Kantonen wurde jedoch das Be-
dürfnis so dringend empfunden, dass sie nicht länger zu-
warten mochten und die Gewerbegesetzgebung selbst an
die Hand nahmen. Dieselbe scheint den gleichen Ent-
wicklungsgang machen zu sollen, wie das Fabrikgesetz: die
Kantone gehen versuchsweise vor; sie passen sich den
lokalen Verhältnissen, Bedürfnissen und Anschauungen an.
Sie können mit grosser Leichtigkeit Misslungenes ändern,
Fehlendes ergänzen. Wenn in einigen Jahren der Bund
auch dieses Gebiet von sich aus ordnen will, stehen ihm
zahlreiche Erfahrungen zu Gebote und er findet auch be-
reits eine Anzahl Leute vor, denen er mit voller Beruhigung
die Durchführung des kommenden Bundesgesetzes anver-
trauen kann.
Baselstadt hat schon 1884 und 1888 den Weg der
kantonalen Gesetzgebung auf diesem Gebiet betreten. Sein
Arbeiterinnenschutzgesetz ist in No. 3 dieser Zeitschrift be-
sprochen worden. Es hat sich vorsichtig auf das Aller-
nöthigste beschränkt. Zürich hat bis heute nur mit einem
speziellen Gewerbe, den Wirthschaften, sich befasst. Es
hat 1889 ein Wirthschaftsgesetz erlassen, welches Mädchen
unter 16 Jahren von der Bedienung ausschliesst, sie nur zu
kleinen Hilfsarbeiten, wie Reinigen des Geschirres u. dergl.
bis spätestens 9 Uhr Abends zulässt und erwachsenen Ange-
stellten mindestens alle 14 Tage einen Freihalbtag sichert.
Für ein eigentliches Gewerbegesetz existiren erst Entwürfe,
sowohl eines des das Gesetz anregenden Initiativ-Komitees
als der Regierung. Beide lehnen sich in ihren Bestimmungen
sehr an das eidgenössische Fabrikgesetz an. Erst später
entstand der Glarner Entwurf, der in manchen Punkten
weiter geht, als das Basler Gesetz.
Er war veranlasst durch einen bei der 1891er Land-
gemeinde eingebrachten Antrag des kantonalen Arbeiter-
bundes, der folgendermassen lautete:
„Es solle der Regierungsrath oder der Landrath (eine
vorberathende Behörde) auf die nächste Landgemeinde
ein Arbeiterschutzgesetz ausarbeiten, und der Land-
gemeinde zur Annahme oder Verwerfung vorlegen, wel-
chem alle Geschäfte, die mehrere Arbeiter oder
Arbeiterinnen beschäftigen und nicht unter das eidge-
genössische Fabrikgesetz fallen (als Schneider, Schnei-
derinnen, Konfektions- und Modengeschäfte, Wirth-
schaften etc. etc.) unterstellt werden sollen.“
Die Landgemeinde pflichtete einstimmig bei und be-
auftragte den Landrath mit der Ausarbeitung eines bezüg-
lichen Gesetzentwurfs. Derselbe wurde der Landgemeinde
vom 8. Mai 1892 in folgender Form vorgelegt:
§ 1. Das Gesetz findet Anwendung auf alle dem einge-
nössischen Fabrikgesetz nicht unterstellten Geschälte, soweit
in denselben erwachsene weibliche Personen gewerbsmässig
und gegen Lohn im Dienste des Inhabers arbeiten, oder in
denen männliche oder weibliche Personen unter 18 Jahren, sei
es als Arbeiter, Arbeiterinnen, Lehrlinge oder Lehrtöchter regel-
mässig beschäftigt sind.
Gänzlich ausgenommen ist der Betrieb der Landwirth-
schaft.
Mit Bezug auf die Bediensteten der Wirthschaften und
Ladengeschäfte, soweit letztere nicht gewerbliche Arbeiten ver-
richten, sondern Kunden bedienen, gilt das Gesetz lediglich in
dem in den §§ 10 — 13 näher bezeichneten Umfange
In bestrittenen Fällen entscheidet die Polizeidirektion unter
Vorbehalt des Rekurses an den Regierungsrath, ob ein Geschäft
dem Gesetz zu unterstellen sei.
266
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 21.
§ 2. Die Arbeitsräume sollen hell, trocken, gut ventilirt
und überhaupt derart beschaffen sein, dass dadurch die Gesund-
heit der darin arbeitenden Personen nicht beeinträchtigt wird.
Ebenso sind Maschinen und Werkgeräthschaften in mög-
lichst sicherer Weise zu erstellen und zu unterhalten und bei
dem Betriebe sich zeigende Gesundheitsschädlichkeiten so weit
möglich zu beseitigen.
Der Regierungsrath ist befugt, darüber jeweilen verbind-
liche Weisungen zu ertheilen.
§ 3. Wenn es der Umfang oder die Natur des betreffenden
Geschäfts rechtfertigen, können die unter dieses Gesetz fallen-
den Gewerbinhaber angehalten werden, über die Arbeitszeit,
die Bedingungen des Ein- und Austritts, die Ausbezahlung des
Lohns etc. eine Arbeitsordnung zu erlassen und im Arbeitslokal
an sichtbarer Stelle anzuschlagen.
Die Genehmigung dieser Arbeitsordnungen und die Er-
ledigung aller daherigen Anstände ist Sache des Regierungs-
rath es.
§ 4. Wo nicht durch schriftliche Uebereinkunft etwas
anderes bestimmt ist, kann der Dienstvertrag beidseitig auf
14 Tage gekündet werden, jedoch nur am Zahltag oder Samstag.
Auflösung des Verhältnisses auf kürzere Frist ist nur aus wich-
tigen Gründen (Obligationen-Recht, Art. 346) zulässig.
§ 5. Bei Anstellung von Lehrlingen und Lehrtöchtern
sind in allen Fällen schriftliche 'Lehrverträge abzuschliessen.
Sie sollen wenigstens enthalten: das Lehrfach, die Lehrzeit, das
Lehrgeld und die Bedingungen, unter denen eine einseitige Auf-
hebung des Lohnvertrages zulässig ist.
§ 6. Der Lohn ist mindestens alle 14 Tage in gesetzlichen
Münzsorten baar auszubezahlen; längere Termine sind bei gegen-
seitiger Vereinbarung zulässig.
Bussen dürfen nur ausgesprochen werden, sofern sie in
einer vom Regierungsrath genehmigten Arbeitsordnung ange-
droht sind; sie sollen die Hälfte des Taglohns der Gewussten
nicht übersteigen und sind im Interesse der Arbeiter zu ver-
wenden.
Lohnabzüge für verdorbene Arbeit können nur gemacht
werden, wenn der Schaden aus Vorsatz oder Selbstverschulden
entstanden ist.
§ 7. Die Dauer der regelmässigen Arbeitszeit soll nicht
mehr als 11 Stunden, an den Tagen vor Sonn- und Feiertagen
nicht mehr als 10 Stunden betragen.
Für das Mittagessen ist mindestens 1 Stunde freizugeben.
Die Arbeit an Sonn- und Feiertagen ist untersagt.
VorübergehendeVerlängerung derArbeitszeit, bis spätestens
10 Uhr Abends, kann in dringenden Nothfällen und ausnahms-
weise, ohne periodische Wiederholungen, durch die Gemeinde-
räthe ertheilt worden. Bei Arbeitsverlängerungen bei mehr als
14 Tage ist immer die Bewilligung des Regierungsraths erforder-
lich. Die Gesammtdauer darf für dasselbe Geschäft zwei
Monate im Jahr nicht übersteigen.
Von diesen Bewilligungen sind in allen Fällen Personen
unter 18 Jahren ausgeschlossen. Dieselben dürfen nach 8 Uhr
Abends zu keinerlei Dienstleistungen in Anspruch genommen
werden.
Bewilligte Ueberzeit erfordert die Zustimmung der Per-
sonen, welche dazu verwendet werden
§ 8. Frauenspersonen, welche ein Hauswesen zu besorgen
haben, sind eine halbe Stunde vor der Mittagspause zu ent-
lassen, sofern dieselbe nicht mindesten fl/a Stunden beträgt.
Vor und nach ihrer Niederkunft dürfen Wöchnerinnen im
Ganzen während 8 Wochen nicht in Gewerben beschäftigt
werden, die diesem Gesetz unterstellt sind. Am Wiedereintritt
in dieselben ist an den Ausweis geknüpft, dass seit ihrer Nieder-
kunft wenigstens 6 Wochen verflossen sind.
§ 9. Kinder, welche das 14. Altersjahr noch nicht zurück-
gelegt haben, dürfen weder zu gewerlrlicher Lohnarbeit ver-
wendet, noch als Lehrlinge oder Lehrtöchter angestellt werden.
§ 10. Die Angestellten in Laden- und Kundengeschäften
können zu der Bedienung der Kunden in der offenen Geschäfts-
zeit ohne Beschränkung verwendet werden, unter der Bedingung
jedoch, dass ihnen mindestens eine ununterbrochene Nachtruhe
von 9 Stunden gestattet wird.
§ 11. Die für den Betrieb von Wirthschaften und Gast-
häusern angestellten Personen können, soweit es zur Bedienung
der Gäste nöthig ist, Abends bis zur Polizeistunde und bei Frei-
nächten auch über dieselbe hinaus beschäftigt werden. Doch
ist ihnen in allen Fällen eine ununterbrochene Nachtruhe von
9 Stunden zu gestatten.
§ 12. Der Vollzug dieses Gesetzes steht dem Regierungs-
rath zu.
Es soll unter Mitwirkung der Gemeinderäthe ein genaues
Verzeichniss aller Geschäfte geführt werden, die unter das Ge-
setz fallen.
Der Regierungsrath ist namentlich auch ermächtigt, je nach
Bedürfniss periodische Inspektionen durch Sachkundige vor-
nehmen zu lassen.
Den mit dem Vollzug und der Ueberwachung des Ge-
setzes beauftragten Organen ist auf Verlangen jederzeit der
Eintritt in die Arbeitsräume und Geschäftslokale zu gestatten.
§ 13 Uebertretungen dieses Gesetzes werden vom Polizei-
gericht mit Geldbussen von Frcs 10—500 bestraft In Wieder-
holungsfällen und bei schwerem Thatbestand darf Gefängnis-
strafe bis auf 14 Tage ausgesprochen werden.
§ 14. Der Landrath ist beauftragt, die nöthigen Aus-
führungsbestimmungen zu diesem Gesetze zu erlassen.
Die Landgemeinde hat diesen Gesetzesvorschlag an-
genommen, aber nur unter dem Vorbehalt, dass das Gesetz
beiden Geschlechtern gleichen Schutz angedeihen lasse und
in diesem Sinne einer veränderten Redaktion unterzogen
werde. Sie hat damit einen Schritt weiter auf dem
schwierigen Pfade der Gewerbegesetzgebung gethan, vor
welchem die vorberathende Behörde zurückschrak und von
dem sie der Landgemeinde abrieth; sie wollte in ganz
konsequenter Weise durchführen, was sie voriges Jahr
grundsätzlich als gut und richtig erkannt.
Dieser Beschluss wird nicht ohne Einfluss auf die ver-
schiedenen im Entstehen begriffenen kantonalen Gewerbe-
gesetze bleiben. Alle haben sich auf den Schutz der
Frauen und Kinder beschränkt; sie haben sich gescheut,
mit fester Hand auch in die Handwerksbetriebe ordnend
einzugreifen. Sie fürchteten, am W iderstand der Hand-
werkerschaft zu scheitern, wenn sie weitergehen. Aber in
Glarus hat sich auch von dieser Seite kein Widerspruch
erhoben; die Handwerker erkannten wohl, dass auch sie
zu den Forderungen der Neuzeit nur zu ihrem eigenen
Schaden ablehnend sich verhalten würden. — St. Gallen,
dessen erst in den letzten Tagen fertig gestellter Entwurf
eine Reihe bemerkenswerther Verbesserungen und Fort-
schritte aufweist, dürfte wohl zum Entschlüsse gelangen,
das Beispiel von Glarus zu befolgen. Das Eis ist ge-
brochen; Kanton um Kanton wird nachfolgen und in weni-
gen Jahren wird in aller Ruhe das Ziel erreicht sein: ein
schweizerisches Gewerbegesetz, an Stelle des kantonalen,
wird für sämmtliche industriellen Arbeiter, das Fabrikgesetz
ersetzend und seine Wohlthaten verallgemeinernd, geschaffen
werden.
Mollis. F. Schüler.
Minimallohn für städtische Angestellte in Zürich. Im
Gemeindeordnungsentwurf der Stadt Zürich sind unter denf
Titel „Amts- und Dienstverhältnisse der städtischen Beamten und
Angestellten“ die Besoldungssätze normirt, welche den Fix-;
besoldeten im Dienste des künftigen Gross-Zürich zu ge dacht
sind. Sie betragen 1600 — 3000 Frcs. für Angestellte und 3500
bis 6000 und 7000 Frcs. für höhere Beamte und Chefs. Dagegen
fehlen Bestimmungen über die im Tagelohn beschäftigten An-
gestellten und Arbeiter. Zur Ausfüllung dieser Lücke hat der
sozialdemokratische National- und Kantonsrath Redakteur
]. Vogelsanger beantragt, in die Gemeindeordnung feste Grund-
lagen auch für die Bezahlung der Tagelohnarbeiter festzusetzen.
Sein Antrag geht dahin, dass der Festsetzung der lage-
lohnansätze Seitens des Stadtrathes ein Mindestlohn von 4P res.
für den erwachsenen leistungstüchtigen Arbeiter bei zehn-
stündiger Arbeitszeit zu Grunde zu legen sei und bei der An-
stellung vorzugsweise Einheimische berücksichtigt werden sollen.
Begründet wird der Antrag damit, dass die bescheidenste
Wohnung in Zürich und den angrenzenden Gemeinden nicht
unter 300 Frcs. zu erhalten sei, so dass unter Zugrundelegung
von 300 Arbeitstagen ä 4 Frcs. nur 900 Frcs. übrig blieben.
Vogelsanger nimmt nun an, dass ein verheiratheter Arbeiter in
Zürich verausgabt etwa für:
Milch, 3 Liter pro Tag ä 20 Rp = 216 Frcs.
Brod, 1 Laib täglich ä 70 Rp — 252 „
Gemüse, für 20 Rp. täglich • ^2 ”
Holz und Kohlen . . _ 70 „
Kaffee, 35 Pfund ä Frcs. 1. 10 und Kaffee-
surrogate ... ... . — £4 »
Fleisch, alle 2 Tage, jährlich 180 Pfund . . = 153 „ _
Total 807 Frcs.
Dem Manne bleiben also von den 900 Frcs. nur noch
93 Frcs. für Kleider und den übrigen Lebensunterhalt.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
267
No. 21.
Arbeiterversicherung.
Grundsätze des Reichsversicherungsamts in Betreff
der Ansprüche auf Invalidenrenten. Am 16. Mai 1392 hatte
nach dem Bericht des Reichsanzeigers vom 17. d. M. das
Reichsversicherungsamt, als Revisionsgericht für Angelegen-
heiten der Invaliditäts- und Altersversicherung, zum ersten
Male über Ansprüche auf Invalidenrenten zu entscheiden
und dabei folgende wichtige Grundsätze autgestellt:
Auf die nach § 156 des Invaliditäts- und Altersver-
sicherungsgesetzes für die Erlangung einer Invalidenrente
vorgeschriebene Pflichtzeit von einem Beitragsjahre (47 Bei-
tragswochen) sind auch Krankheiten und militärische Dienst-
leistungen anzurechnen, soweit diese überhaupt unter § 17
Absatz 2 des Gesetzes fallen. Es würde demnach ein Ver-
sicherter auch dann zum Bezüge der Invalidenrente be-
rechtigt sein, wenn er statt der vorgeschriebenen 47 bei-
spielsweise nur 20 Beitragsmarken auf Grund versicherungs-
pflichtiger Thätigkeit beigebracht hätte, ihm aber ferner
27 Beitragswochen auf Grund einer Krankheit anzurechnen
wären.
Auf der anderen Seite ist jedoch die Anrechnungs-
fähigkeit der Krankheit insofern zu beschränken, als der
Versicherte aus dem Versicherungsverhältnisse ausge-
schieden anzusehen ist, sobald er dauernd erwerbsunfähig
im Sinne des Gesetzes ist. Ebensowenig, wie er alsdann
eine die Versicherungspflicht begründende Thätigkeit aus-
üben kann, ebensowenig kann der Zustand der dauernden
Erwerbsunfähigkeit, auch wenn derselbe die Folge einer
Krankheit ist, als solche auf die erwähnte Pflichtzeit an-
gerechnet werden. Derjenige Versicherte also, welcher vor
Ablauf der Pflichtzeit von 47 Wochen dauernd erwerbs-
unfähig wird, kann eine weitere Wartezeit nicht erfüllen
und einen Anspruch auf Invalidenrente nicht mehr er-
werben.
Abänderung des deutschen Unfallversicherungs-
gesetzes. Der Bundesrath ertheilte dem im Reichstag von
den Abgeordneten Möller, Roesicke und Genossen ein-
gebrachten Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Ab-
änderung des § 87 des Unfallsversicherungsgesetzes vom
6. Juli 1884 und des § 95 des Gesetzes, betreffend die Un-
fall- und Krankenversicherung der in land- und forstwirt-
schaftlichen Betrieben beschäftigten Personen, vom 5. Mai
1886, seine Zustimmung. Es handelt sich hiebei um die
Vermehrung der nichtständigen Mitglieder des Reichsver-
sicherungsamtes.
Ausdehnung der Invaliditäts- und Altersversicherung
auf die Beamten der evangelischen Landeskirchen. Der
Bundesrath hat auf den Antrag des Evangelischen Ober-
kirchenraths und des preussischen Kultusministers aner-
kannt, dass die Bestimmungen des § 4 des Invaliditäts- und
Altersversicherungsgesetzes auf die von den Kirchen-
gemeinden und kirchlichen Instituten der evangelischen
Landeskirchen Preussens mit Pensionsberechtigung an-
gestellten Beamten, soweit deren Pensionsanspruch den
Mindestbetrag der Invalidenrente erreicht, Anwendung zu
finden haben.
Statut des Verbandes freier Hilfskassen. Auf der Kon-
ferenz der eingeschriebenen Hilfskassen in Hamburg (19. und
20. April d. J.) wurde beschlossen, dass ein Verbandsstatut der
freien Hilfskassen ausgearbeitet werde, welches vor Allem den
Zweck verfolgen soll, dass für Arzt und Medikamente von allen
Kassen gemeinsam für alle Mitglieder gesorgt werden soll.
(Siehe Sozialpolitisches Centralblatt No. 17.)
Dasselbe liegt nun vor. Der Verband soll nach dem Ent-
würfe seinen Sitz in Hamburg haben, als Zweck wird die gegen-
seitige Aushilfe der betheiligten Kassen angegeben.
Dieser Zweck soll erreicht werden durch
a) gemeinsame Beschaffung ärztlicher Hilfe, Arznei und
sonstige Hilfsmittel;
b) gegenseitige Aushilfe bei der Verwaltung und Kranken-
kontrole;
c) vorschussweise Auszahlung des Krankengeldes auf be-
stimmte Anweisung seitens des Vorstandes der zur
Zahlung verpflichteten Kasse;
d) Schlichtung von Streitigkeiten zwischen den betheiligten
Kassen.
Die näheren Bedingungen sollen vom Verbandsvorstand
festgesetzt werden, welcher auch die nöthigen Ausführ ungsver-
| Ordnungen zu erlassen hat.
Demnächst wird von den Ortsverwaltungen der freien
Hilfskassen eine Enquete bei den Aerzten über die Kosten der
Behandlung der bei diesen Kassen versicherten Arbeiter vorge-
nommen werden. Fragebogen an die Ortsverwaltungen wurden
von der Hamburger Kommission der freien Hilfskassen an die
Ortsverwaltungen im Reiche versandt.
Wohlfahrtseinrichtungen.
Zur Frage der Gewinnbetheiligung der Arbeiter.
Kürzlich ist über die Frage der Gewinnbetheiligung
eine Schrift von M. A. Gibon erschienen.1) Ich bin weit
entfernt, in Allem mit dem Verfasser übereinzustimmen.
Trotzdem halte ich es für nöthig, diese Studie als überaus
lehrreich denen zu empfehlen, welche sich mit der Frage
der Gewinnbetheiligung beschäftigen. Gibon ist diesem
Systeme nicht gerade günstig gesinnt. Der Lohn ist für
ihn „ein wunderbares Werkzeug von unendlicher Ge-
schmeidigkeit, in ausserordentlich hohem Maasse der Ver-
vollkommnung fähig, das den Vortheil hat, von dem Elite-
arbeiter ebenso begriffen zu werden, wie von dem ge-
meinen Taglöhner, und das von Jedermann besprochen und
kontrollirt werden kann.“
Gibon fügt hinzu, dass das Lohnsystem verbesse-
rungsfähig ist, aber seiner Meinung nach wird diese
Verbesserung in den Mitteln bestehen, durch welche „bei
gleichzeitiger Lohnsteigerung der auf das Produkt redu-
zirte Arbeitslohn vermindert wird; dies sei nichts paradoxes,
es ist nothwendig, gleichzeitig den Arbeitslohn zu ver-
mindern und die Lohnbedingungen zu verbessern“. Wenn
ich den Verfasser richtig verstehe, soll das heissen, man
muss bei besserer Bezahlung der Arbeiter dahin gelangen,
eine grössere Menge von Arbeit von ihm zu erzielen, um
in Folge dessen die Zahl der Beschäftigten zu vermindern.
Es scheint mir dies nicht ein Mittel zur Verbesserung der
Lage der Arbeiterklasse zu sein, würde doch die Ver-
mehrung: der Zahl der unbeschäftigten Arbeiter früher oder
später ein Sinken des Lohnes der beschäftigten Arbeiter
zur Folge haben, man käme somit zu einem Resultate, das
direkt das Gegentheil der durch die V erkürzung des Arbeits-
tages zu erzielenden Folgen wäre.
Gibon glaubt nicht, dass die Gewinnbetheiligung der
Arbeiter zur Grundlage einer Reorganisation der Arbeit
werden könnte. Man muss zugestehen, dass die von ihm
verzeichneten Resultate zu grossen Hoffnungen nicht be-
rechtigen.
Nach dem Bulletin de participation wandten im Jahre
1890 in Frankreich 80 Geschäfte das System der Gewinn-
betheiligung an und zwar 13 Druckereien, 16 Versicherungs-
geschäfte, Banken und Wechselstuben, 8 mechanische Werk-
stätten, 8 Dachdecker und Bleiarbeiter, 4 Färbereien, je
3 Bauunternehmungen und Anstreicher, je 2 Leinwand-
fabriken, chemische Fabriken, Spitzen- und Stickerei-
geschäfte, Webereien und Weingärten, ausserdem je ein
Betrieb in 15 verschiedenen Industriezweigen, somit ver-
theilen sich die 80 Fälle der Anwendung des Gewinn-
betheiligungssystems auf 27 verschiedene Industrien.
Man muss aber auch näher betrachten, unter welchen
Bedingungen in diesen Betrieben das Gewinnbetheiligungs-
system gehandhabt wird.
Wenn das Gewinnbetheiligungssystem die Natur des
Arbeitsvertragsverhältnisses ändern soll, so ist selbstver-
ständlich erforderlich, dass es selbst sich als ein den
Unternehmer verpflichtendes V e r t r agsve r h ältn iss darstellt.
Erforderlich hierzu ist, dass der Antheil am Gewinne, zu
welchem der Arbeiter berechtigt ist, schon im Vorhinein und
in ganz präziser Form festgesetzt wird. Aber nach einer
') La participation des ouvriers aux benefices et les diffi-
cultes presentes par M. A. Gibon. Paris, 1892, Güillaumin et Cie.
8° 133 S.
268
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 21.
von dem Bulletin de la societe de participation im Jahre
1886 publizirten Tabelle ist der Antheil der Arbeiter in 31
von 80 Geschäften unbestimmt. Ausserdem zeigt uns Gibon,
dass in 4 Geschäften die Gewinnbetheiligung von dem Gut-
dünken des Unternehmers abhängt.
Soll die Gewinnbetheiligung sich als ein thatsächliches
Vertragsverhältniss darstellen, so erscheint es noth wendig,
dass den Arbeitern Gelegenheit geboten werde, ihre Rechte
zu wahren, mit anderen Worten, dass ihnen die Möglichkeit
geboten werde, die Rechnungen der Unternehmung, welche
sie beschäftigt, zu prüfen, falls ihnen dies erforderlich er-
scheint. Aber nach Gibon haben nur 5 der 80 Unter-
nehmungen den Arbeitern dieses Recht eingeräumt. Fügen
wir noch hinzu, um die Darstellung zu vervollkommnen,
dass eine grosse Zahl von Unternehmungen in gewissen
Fällen die Gewinnbetheiligung aufhebt. In Bezug hierauf
ergab sich auf dem internationalen Kongresse für Gewinn-
betheiligung zu Paris im Juli 1889 ein bezeichnender
Zwischenfall.
In der Sitzung vom 17. Juli sprachen sich mehrere
Redner gegen diese Praxis aus. Herr Guieysse unter An-
deren machte die Bemerkung, dass der einem Arbeiter zu-
kommende Gewmnantheil sein unmittelbarer und end-
giltiger Besitz sei, dass es dem Unternehmer nicht gestattet
werden könne, dieses Recht an die Bedingung einer fest-
gesetzten Dauer des Lohnverhältnisses zu knüpfen. Das
angegriffene System fand aber seine Vertheidiger. Herr
Charles Robert führte aus, dass ein Votum, welches die
Festsetzung des eventuellen Verlustes des Gewinnantheils
in den Reglements tadeln würde, die Unternehmer vom
Prinzipe der Gewinnbetheiligung abwendig machen würde.
Trotzdem stimmte der Kongress am 17. Juli für folgende
Resolution :
„Der Kongress spricht den Wunsch aus, dass in den
Gewinnbetheiligungsverträgen vom Verluste des Gewinn-
antheils nicht mehr die Rede sei.“
Aber zwei Tage hierauf, in der Schlusssitzung des
Kongresses forderte Herr Gotfinon die Abänderung dieses
Beschlusses. Er führte aus : Die Mehrzahl der Unter-
nehmungen, welche die Gewinnbetheiligung eingeführt
haben, haben in ihren Statuten eine Bestimmung über den
Verlust des Gewinnantheils. Die am 17. Juli vom Kon-
gresse beschlossene Resolution sei eine unverdiente Miss-
billigung dieser Unternehmungen. Der Unternehmer habe
niemals ein Interesse daran, gute Arbeiter zu entlassen,
und übrigens sei der Verlust des Gewinnantheils kein Vor-
theil lür den Unternehmer, sondern kommt den übrigen
Beschäftigten zu Gut. Entsprechend seinem Wunsche
änderte der Kongress seinen Beschluss folgendennassen ab:
„Der Kongress erkennt jedoch an, dass es bei der
Errichtung einer Spar- oder Pensionskasse im Interesse
der beschäftigten Arbeiter liegen könne, wenn die Mög-
lichkeit des Verlustes vorgesehen wird, unter der Voraus-
setzung, dass der verloren gehende Antheil den übrigen
Arbeitern zu Gute kommt und dass, um jede Willkür zu
vermeiden, die källe des Verlustes des Gewinnantheils im
Reglement genau festgesetzt werden.“1)
Wenn wir unsere Beobachtungen zusammenfassen,
muss uns die Gewinnbetheiligung, abgesehen von
wenigen Ausnahmen, in denen sie häufig zur Vor-
bereitung von Produktivassoziationen dient, bis jetzt
als eine Einrichtung des Patronagesystems erscheinen,
entstanden theils aus lobenswerthen philanthropischen
Gesinnungen, theils aber auch aus weniger uneigen-
nützigen Motiven, aus dem Wunsche, die Arbeiter an
das Unternehmen zu fesseln und sie zur Arbeit anzu-
treiben.
Grenoble. Raoul Jay.
1 Congres international de la participation aux bünerices
tenu ä Paris du 16. au 19. Juillet 1889. Proces verbal sommaire
des seances.
Missbrauche und Vortheile bei Fabrikkantinen. Im
Jahresbericht für 1891 der königlich sächsischen Gewerbe-
inspektoren giebt der Beamte für den Bezirk Leipzig einen
drastischen Beleg dafür, welcher Unterschied zwischen soge-
nannten „Wohlfahrtseinrichtungen“ besteht, je nachdem sie vom
Unternehmer, oder von den Arbeitern selbst verwaltet
werden. Der Beamte schreibt: „Erwähnenswerth erscheint das
Ergebniss der von den Arbeitern einer Baufabrik verwalteten
Kantine. Der Unternehmer übergab im Jahre 1885 mit Rücksicht
auf die Klagen, welche über Unsauberkeit des bisherigen Ver-
walters der Kantine erhoben worden waren, die letztere der aus
300 Köpfen bestehenden Arbeiterschaft zur eigenen Be-
wirtschaftung. Trotz der Abzahlung der Kaufsumme für
die übernommene Kantineneinrichtung und spätere Vermehrung
der letzteren konnten neben der Bildung eines verzinslich an-
gelegten, über 1000 M. betragenden Stammvermögens an über-
schiessenden Geldbeträgen
im Jahre 1885
„ „ 1886
„ „ 1887
„ „ 1888
„ 1889
135 M.
440 „
740 „
838 „
1722 „
und im Jahre 1890 bei wesentlich verminderter Arbeiterzahl
800 M. an die Leute der Fabrik vertheilt werden, wobei zur Be-
messung des Antheils der einzelnen Personen die nach Arbeits-
tagen berechnete Zeit zu Grunde gelegt wurde, die ein jeder in
der Fabrik im Rechnungsjahre beschäftigt gewesen war.“ Das
sollte doch ein deutlicher Fingerzeig für alleUnternehmer sein, wie
sie die Verwaltung derartiger Wohlfahrtseinrichtungen, wenn
solche überhaupt Existenzberechtigung haben sollen, einrichten
müssen.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung.
Wohmmg'szustämle in München. Eine vom städtischen i
statistischen Amte in München veröffentlichte Tabelle zeigt,
dass von den bei der letzten Zählung im November 1890 vor-'
handenen 82 818 Wohnungen (66 987 in Haupt- und 15 831 in !
Nebengebäuden) 465 gar keine heizbaren Zimmer hatten und
nicht weniger als 27 696 nur aus einem heizbaren
Zimmer (mit oder ohne Nebenräume) bestanden und auch j
davon wieder die weitaus grösste Zahl (22 726) keine gesonderte j
Küche hatte. Wohnungen mit zwei heizbaren Zimmern gab es
20 758, solche mit drei Zimmern 18 016, mit vier Zimmern 8275, (
mit fünf Zimmern 3876, mit sechs Zimmern 1864, mit sieben 862, j i
mit acht 418, mit neun 205, mit zehn 141 und noch grössere 243. {
Der Hauptsache nach werden die Wohnungen ohne heizbare !
Zimmer mit 50 —150 M. bezahlt, die Wohnungen mit einem heiz- ,
baren Zimmer mit 50—250 M., die zweizimmengen mit 150 — 400 M., ;
die dreizimmerigen dagegen schon mit 300 — 700 M., die vier-
zimmerigen mit 500 — 900 M., die fünfzimmerigen mit 500— 1500 M., |
die sechszimmerigen mit 900 — 2000 M , die siebenzimmerigen mit
1200—2000 M., die achtzimmerigen mit 1500—2000 M., die neun-
zimmerigen mit 1500—2500 M., die zehnzimmerigen mit 1500 bis I
4000 M. u. s. w. Die höchstbezahlte Wohnung gehört der I
Grössenklasse mit 16 — 20 Zimmern an. In jeder der erwähnten
Klassen giebt es eine Anzahl von Wohnungen mit (mitunter be-
deutend) billigeren und höheren Preisen, als sie oben angegeben I
wurden; aber die Mehrzahl drängt sich in die angeführten |
Preisklassen zusammen. In dieser Hinsicht hat sich seit 1885
eine beträchtliche Verschiebung nach aufwärts vollzogen, denn
wenn man die damaligen Nachweise mit den neuen vergleicht,
so ergiebt sich Folgendes:
Zimmerzahl Miethpreise in Mark
1885
1890
1
50— 200
50— 250
2
100— 300
150— 400
3
250- 600
300— 700
4
450— 800
500— 900
5
500- 900
500—1500
6
700—2000
900—2000
7
1000—2000
1200—2000
Man sieht bei den Klassen mit einem und mit fünf Zimmern
haben sich die oberen Grenzsummen beträchtlich erhöht, bei
den Klassen mit sechs oder sieben Zimmern die unteren, bei
den Klassen mit zwei, drei und vier Zimmern aber sowohl die
unteren als die oberen.
Mietlizinssparkassen im Rheinland. Der linksrheinische
Verein für Gemeinwohl will dem Gedanken der Begründung
v on Mietlizinssparkassen näher treten Unter Mietlizinssparkassen
sind solche Kassen verstanden, in welche die Mitglieder in regel-
mässig kleinen Zwischenräumen, sei es wöchentlich oder alle
14 Tage, den auf die betreffende Zeit entfallenden Theil ihrer
No. 21.
hO/LAU'UUTlSCHES CLNTRALBLA'l 1.
269
Miethe einzuzählen sich verpflichten, um die ein gezählten Beträge
am Schluss des Monats oder des Vierteljahres je nachdem die
Miethe bezahlt werden muss, wieder zu erheben. Als Entgelt
für den freiwillig auferlegten Zwang dürfte eine angemessene
Verzinsung der eingezahlten Theilbeträge und eine kleine Prämie
nicht unbillig erscheinen. Legt die Miethzinssparkasse ihrer Be-
rechnung den im kaufmännischen Verkehr üblichen Zinsfuss von
6 Prozent zu Grunde, so entspricht dies, da das Geld zur Hälfte
im Voraus eingezahlt wird, einem Betrage von 3 Prozent der
ganzen eingezahlten Summe; legt die Verwaltung der Kasse
nun noch I Prozent hinzu, so erhalten die Mitglieder im Ganzen
4 Prozent ihrer Miethe als Prämie, also nahezu die Miethe für
einen halben Monat im Jahr. Der Arbeiter werde durch die
Miethzinssparkasse an Baarzahlung gewöhnt. Derjenige Arbeiter,
welcher sich beim Miethen einer Wohnung dem Vermiether
gegenüber durch Vorlage seines Buches als Mitglied einer Mieth-
zinssparkasse ausweist, werde eher und billiger eine bessere
Wohnung erhalten. Auch werde der Vermiether, der einen
sicheren Miether hat, seinerseits durch anderweites Entgegen-
kommen (bessere Instandhaltung der Wohnung u. s. w.) suchen,
ihn an sein Haus zu fesseln, der häufige Wohnungswechsel werde
abnehmen und dem Arbeiter blieben die mancherlei mit einem
solchen unvermeidlich verbundenen Opfer, Verluste und sonstigen
unangenehmen Folgen erspart. Es entstand noch die Frage, ob
es sich für alle Verhältnisse empfehlen dürfte, nach dem Vor-
gänge einiger Städte öffentliche Miethzinssparkassen ins Leben
zu rufen, oder ob es vorzuziehen sei. für den einzelnen Betrieb,
sei er gross oder klein, Fabrik-Miethzinssparkassen zu errichten.
Oeffenfliche Kassen würden eigene Bureaus und einen verwickelten
Apparat verlangt haben, während bei der Fabrik-Miethzinsspar-
kasse beides wegfällt, auch kommt in Betracht, dass der Arbeiter
jedenfalls lieber in der Fabrik, in der er beschäftigt ist, seine
Miethe ansammeln wird, als in einer öffentlichen Kasse. Von
diesen Gesichtspunkten ausgehend, hat der Verein Bestimmungen
für Fabrikmiethzinssparkassen entworfen.
Die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter in Brüssel.
Auf Grund des Gesetzes vom 9. August 1889 wurden in
Belgien Comites de Patronage (Komitees für Arbeiterfür-
sorge) konstituirt. Dieselben sollen die Erbauung und Ver-
mietliung gesunder Arbeiterwohnungen und ihren Verkauf
befördern, Alles erforschen, was sich auf die Gesundheits-
Verhältnisse der Arbeiterwohnungen bezieht und die Ent-
wickelung des Spar- und Versicherungswesens sowie die
Einrichtungen für Kredit, für gegenseitiges Hilfswesen und
für Altersversorgung unterstützen. Von den Leistungen die-
ser Komitees hat man bisher noch nicht viel vernommen.
Uns ist nur eine Publikation der Stadt Brüssel bekannt ge-
worden, in der die Ergebnisse einer Enquete über die von
Arbeitern bewohnten Räumlichkeiten mitgetheilt werden.1)
Wir theilen hier die wichtigsten Daten aus derselben mit.
Die Stadt Brüssel bestand zur Zeit der Aufnahme aus
19 594 Häusern, welche von 168 145 Personen bewohnt waren.
4 601 Häuser (23,48"/,; werden als Arbeiterhäuser (maisons
ouvrieres) bezeichnet, welche von 19 284 Arbeiterfamilien
bewohnt wurden; hierzu kamen noch 3 966 ledige Arbeiter
und Arbeiterinnen, 267 verheirathete Arbeiter, deren Fami-
lien nicht in Brüssel wohnten. 491 Arbeiterfamilien (2,54 "/0)
bewohnten ein ganzes Haus, 1371 (7,11"/0) drei und mehr
Zimmer, 8 058 (41,81%) zwei Zimmer, 6 978 (36,18%) nur
ein Zimmer, 2186 (11,33%) mussten sich mit einer Mansarde
und 200 (1,03%) mit einem unterirdischen Raum begnügen;
demnach wohnte fast die Hälfte der Arbeiterfamilien in
einem Raum. Der durchschnittliche Monatsmiethpreis für
ein Zimmer war Frcs. 11,68, demnach fast 15% des
durch Arbeitslosigkeit niemals geschmälerten Lohnein-
kommens, das mit Frcs. 3,14 pro Arbeitstag veranschlagt
wird. 17 626 (91,4%) Arbeiterwohnungen werden als rein-
lich und 1 658 (8,6 %) als schmutzig bezeichnet. 9 Stuben
hatten keinen Luftzutritt, 19 sind dem Tageslicht nicht oder
fast nicht zugänglich. In 2895 Arbeiterfamilien sind Knaben
und Mädchen gezwungen, im gleichen Zimmer, in 406 im
gleichen Bette zu schlafen. Die schmutzige Wäsche wird
in den meisten Fällen im Wohnzimmer gewaschen und auf
von einer zur anderen Mauer gezogenen Stricken ebenda
selbst getrocknet. Waschküchen und Trockenräume fehlen
in den Arbeiterwohnungen fast vollständig, ln 51 Arbeiter-
wohnungen fehlten Abtritte gänzlich, in 1 757 Häusern be-
nützen mehr als 15 Personen einen Abtritt. Nur 3054 von
4 601 Arbeiterhäusern sind an die städtische Wasserleitung
’) Lassage, Ch. et Quecker, Ch , Enquete sur les habi-
tations ouvrieres en 1890. Rapport presenth au comite de patro-
nage de la ville de Bruxelles. Brüssel 1890. Bremaeker-Wauts.
angeschlossen. In 2954 befinden sich Brunnen oder Cisternen
für das Regen wasser. 823 Arbeiterhäuser (ca. 20%) haben
keinen Hof, die durchschnittliche Grösse der Höfe beträgt
16,83 c, nur 195 Arbeiterhäuser besitzen Gärtchen, deren
durchschnittliche Grösse 27,1 1 qm beträgt. In 326 Arbeiter-
häusern sind die Treppen abgenützt, gefährlich schmutzig
und dunkel. 54 Lumpenmagazine befinden sich in den Ar-
beiterhäusern.
3436 Schankstätten wurden gezählt, es entfallen dem-
nach 2,05 auf 100 Bewohner und 17,54 auf 100 Haushaltun-
gen, auf 100 Arbeiterhäuser ohne Schankstätten kommen
21,26 mit solchen.
10 462 Arbeiterfamilien fielen der öffentlichen Wohl-
thätigkeit zur Last, während nur 8822 keine Ansprüche auf
Unterstützung erhoben.
Litteratur.
! Fehling, Dr. H., z. Z. Rektor der Universität, Die Bestim-
mung der Frau, ihre Stellung zu Familie und Beruf.
Rektoratsrede gehalten am Jahresfeste der Universität Basel
den 12. November 1891. Zweite unveränderte Auflage. Stutt-
gart, 1892, Ferd. Enke.
Der Titel der obigen Schrift des bekannten Gynäkologen
| verspricht weit mehr als der Inhalt bietet, enthält sie doch im
Wesentlichen nur eine Stellungnahme gegen das Frauenstudium
der Medizin. Der Verfasser erhebt seine Stimme als „Vertreter
der Männerrechte“ gegen die „Vertheidiger der sogenannten
Frauenrechte“, er glaubt, dass die Bestimmung der Frau ihr im
Plane der Schöpfung gegeben wurde: Gattin, Mutter, Hausfrau,
; Erzieherin der Jugend zu sein. Es ist ein Kampf gegen Wind-
| mühlen, wenn er sich gegen das „jetzt übliche Geschrei“ wendet,
das „diese Aufgaben als entehrend und ungenügend für die Frau
ansieht“. Einseitig wird die ganze Darstellung auch hauptsächlich
dadurch, dass nur die physiologischen Momente vom Verfasser be-
rücksichtigt, die ökonomischen aber vollständig ignorirt vyerden.
Wollte eine Vertreterin der Frauenemanzipation eine Satire auf
| diese Schrift schreiben, sie könnte wohl auch nachweisen, dass
! es nicht im Plane der Schöpfung gelegen sei, dass der Mann
Börsenspekulant, Sanskritforscher, Rechtsanwalt oder Kunst-
schlosser werde. Gerade bei einer Rectoratsrede hätte man
weniger allgemeine Schlagworte, einseitige Anschauungsweise
und Widersprüche anwenden sollen als dies Rector Fehling
t beliebte Auf Seite 20 sagt der Verfasser: „Jedenfalls überschreitet
sie (die Zahl der Opfer des Wochenbettes) weit die der Männer,
welche in demselben Zeiträume (1816—1875) im Dienste des
Vaterlandes gefallen sind“ trotzdem sagt zwei Seiten später der
Verfasser: „Aus dem Rufe gleicher Rechte müsste auch logisch
folgen gleiche Pflichten; um nur eins zu nennen, die Ehrenpflicht
der Vertheidigung des Vaterlandes, davon ist noch nie die Rede
gewesen.1' Der Widerspruch liegt hier auf der Hand ! Der Ver-
fasser bekämpft vom Interessenstandpunkt der in wissenschatt-
; liehen Berufen thätigen Männer das Oeffnen dieser Berufe für
die Frauen, dieselben Interessen liegen und zwar in noch viel
höherem Grade in den kaufmännischen Berufen, und bei un-
zähligen Branchen der gelernten und vor allem der ungelernten
Industriearbeit vor, sie machen sich dort wegen der mit dem
Industriesysteme verknüpften industriellen Reservearmee in
einer Weise fühlbar, dass die Vertretung des von Professor
Fehling gewahrten Interessenstandpunktes begreiflicher schiene
und trotzdem finden wir in den neueren Programmen der In-
dustriearbeiter nicht mehr das Verbot der Frauenarbeit, sondern
nur den Schutz der Arbeiterinnen und die Garantie des gleichen
Verdienstes wie für die männlichen Arbeiter gefordert, obgleich
doch die physiologische Minderwerthigkeit der Frau (Periode,
Schwangerschaft u. dergl.) mindestens ebenso gegen das Steine-
tragen der Frau, wie gegen das Medizinstudium spricht. Der
Verfasser betont, dass er die Frage als Geburtshelfer und Frauen-
arzt behandelt, er sagt, dass Ls falsch sei, die Frauenfrage
wesentlich vom sexuellen Standpunkte aufzufassen, er wolle nach
Kräften mitarbeiten an der Verbesserung der sozialen Stellung
der Frau, deren Beruf er in der Bethätigung als Gattin, Mutter
und Erzieherin der Kinder sieht, aber er vergisst hierbei, dass
man ohne Berücksichtigung der ökonomischen Momente die
soziale Stellung der Frau nicht heben kann und die sozialen
Verhältnisse unserer Zeit es der Frau unmöglich machen, sich
dem Berufe der Gattin, Mutter und Kindererzieherin ausschliess-
lich zu widmen, er übersieht, dass man wohl die Mondbahn ohne
ökonomische Kenntnisse in einer Rektoratsrede behandeln kann,
nicht aber die Bestimmung der Frau, ihre Stellung zu Familie
und Beruf.
Verantwortlich für die Redaktion: I)r. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von 11. S. Hermann in Berlin.
270
ANZEIGEN.
No. 21.
Emil Strauss, Verlagshandlung in Bonn.
Mit Januar 1892 begann ein neues Abonnement auf den XI. Jahrgang des
Centralblattes
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U.Qäuttrntap, aSevlar}^lnicf)l)cinMuiig in Berlin.
(©nftrnfapTdlf Sammlung
r u t f dl c v K r i dj s pr f r Ij r.
Soeben erjdfieu bie
allgemeine Gesundheitspflege.
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I)r. Finkelnburg1, Dr. Lent, Dr. Woltfberg,
Professor a. d. Universität Bonn. Geh. Sanitätsrath in Cöln. König]. Kreisphysikus in Tilsit.
Jährlich erscheinen 12 Hälfte 8'1 mit zahlreichen Abbildungen und Tafeln.
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Bluölftr Huflagf
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»011
Das Programm des „Centralblattes tiir allgemeine Gesundheitspflege“ stellt sich
im Wesentlichen zusammen aus: Originalartikeln über alle Zweige der Gesundheits-
pflege, Berichten aus «len Krankenhäusern der grösseren Städte. Sterblichkeits-
statistik mit Berücksichtigung der Todesursachen, Berichten über epidemische
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Auslandes, Medizinaigesetzgebnng, Auszügen und Referaten über die neu erschienene
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Ferner enthalten die Hefte zahlreiche „Kleinere Mittheilunoen“ aus dem
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X (Jjjuffcutag, 0EElagslntd)Ii<mb!ung in Berlin.
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(Ein Meberblitk über bereu Jnjßenr, Berbreifnitg, Begründung
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£aid)enformat, cartonnirt.
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$>ieie Ausgabe enthalt affe bis, juni heutigen Sage
erlaffenen 21nofüf)vmnvöamm’iiinigen.
Br. 82.
© n ö X e i d) s g e f e % ,
betreffeitb bie
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mit frefrf|räultfer Ifaflung.
•Bom 20. Slpril 1892. )
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„EXPORT“
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ber 'Foft^eitungsüfte J .... Ulf 0^0
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in ®eutfd)tanb unb Defterveid) . „ 1,20
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Druck von H. 5. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 30. Mai 1892.
Nummer 22.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT
Die Novelle zum preussischen
Berggesetze. Von Dr. Leo
Verkauf.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
W irthscliaftsstatistik :
Zur Charakteristik des Nothstandes
in Russland.
Einkommenverhältnisse im König-
reich Sachsen.
Die Errichtung von Rentengütern
in Ost-, Westpreussen und Posen.
Das Wasserrecht in der Schweiz.
Verbot der Sweating- Arbeit bei
Staatsaufträgen in England.
Arbeiterzustände :
Hygienische Verhältnisse in den
Leipziger Buchdruckereien und
Schriftgiessereien.
Weibliche Bahnwärter.
Enquete über die Ruhetage auf
den französischen Eisenbahnen.
Politische Arbeiterbewegung:
Ein schweizerisches Arbeiterpro-
gramm.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Verband deutscher Bergarbeiter.
Kontrolleure zur Ueberwachung des
Wagennullens.
Tarif kommission im deutschen
Buchdruckergc werbe.
Rechnungsabschluss der Ilirsch-
Duncker’schen Verbandskassen.
Zum Ausstand der Kohlenarbeiter
in Durham.
Handwerkerfragen :
Handwerkerkammern m Baden.
Schweizerisches Gewerbegesetz
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Die Sonntagsruhe im Handels-
gewerbe. Von J. Silbermann.
Ein internationaler Kongress für
Sonntagfeier.
Zur Berggesetznovelle.
Sonntagsruhe der preussischen
Staatsbahnarbeiter.
Gewerbeinspektion :
Unfallverhütung und Gewerbe-
inspektion in Ungarn. Von
Dr. Adolf Braun.
Armenwesen:
Das Armenwesen der Stadt Berlin
im Etatsjahr 1890/91.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Novelle zum preussischen Berggesetze.
Wir haben es in Nummer 2 des Sozialpolitischen Central-
blattes als einen Kardinalfehler bezeichnet, dass die Be-
rathung und Beschlussfassung über den Arbeiterschutz beim
Bergbau dem Landtage überlassen und nicht dem deutschen
Reichstage Vorbehalten wurde. Wie begründet unsere Auf-
fassung war, das haben die Verhandlungen des preussischen
Abgeordnetenhauses jedem Unbefangenen gezeigt. Nur der
eine Interessentenkreis war durch Abgeordnete aus seiner
Mitte vertreten, und diese traten mit unbeugsamer Schroff-
heit für ihre Forderungen ein. Der gute Wille des Centrums,
welches sich mit Wärme für die Aufrechterhaltung der
Regierungsvorlage, aber auch für einige Verbesserungen
derselben einsetzte, konnte die Anwesenheit von Vertretern
aus den Reihen der Bergleute nicht ersetzen. Es mag etwas
paradox klingen, aber wir sind der festen Ueberzeugung,
dass im Reichstage die Anwesenheit der Arbeitervertreter
genügt hätte, um die Schroffheit der Repräsentanten der
Bergwerksbesitzer zu mildern.
Wie wenig die Zusammensetzung des Abgeordneten-
hauses geeignet ist, eine sachliche Diskussion in Arbeiter-
fragen zu fördern, hat die sechstägige Debatte gezeigt.
Man muss der Ueberraschung Ausdruck geben, wie gering
der Aufwand von Argumenten war, mit welchen jeder wirk-
lich oder vermeintlich arbeiterfreundlichen Bestimmung
entgegengetreten wurde. Fast bis zur Ermüdung kehrte
eine Reihe von Behauptungen wieder, die nur deshalb hier
kurz angeführt werden sollen, um auch dadurch zu zeigen,
dass die Forderungen der Bergleute sehr begründete sein
müssen, wenn denselben keine stichhaltigeren Argumente
von den berufenen Verfechtern der Unternehmerinteressen
entgegengesetzt werden konnten.
Bei Berathung des § 80 b wurde ununterbrochen her-
vorgehoben, es dürfe eine Ueberlastung der Arbeitsordnung
nicht stattfinden, dieselben müsste sonst den Arbeitern
unverständlich werden und an Klarheit einbüssen. Das
bedeutet aber, aus dem Halbdunkel ins helle Licht gezogen:
die Vertragsbedingungen müssen wie bisher so auch in
Zukunft nicht nur vom Unternehmer diktirt, sondern auch
von Fall zu Fall seinem Belieben überlassen werden. Da
muss man es denn doch vorziehen, selbst eine übermässig
umfangreiche Arbeitsordnung zu fordern, aus der im Streit-
fälle wenigstens das Gericht in der Lage ist zu erfahren,
wie es seine Entscheidung zu fällen hat. Bei einem anderen
Vertrage und unter anderen Kontrahenten wird wohl noch
nie aus dem grossen Umfange der erforderlichen Vertrags-
bestimmungen auf die Weglassung eines Theiles derselben
geschlossen worden sein.
Gegen eine Reihe von Anträgen wurde auch geltend
gemacht, dass man eine Ueberlastung des Gesetzes mit
Bestimmungen verhüten müsse. Das ist ein überraschendes
Novum. Bisher haben sich die preussischen Bergwerks-
besitzer über die 250 Paragraphen des Berggesetzes, in
welchen vorwiegend ihre Interessen Schutz und Regelung
finden, nicht beklagt. Warum mit weiteren 20 oder 30 Para-
graphen zum Schutze der Arbeiter die Ueberlastung be-
ginnen soll, ist schwer zu errathen.
Selbst der Mangel von Unternehmerschutz wurde der
Regierung zum Vorwurfe gemacht. Man vermisst dabei
leider die Angabe, in welcher Richtung sich derselbe zu
bewegen hätte, ob etwa Leben und Gesundheit der Berg-
werksbesitzer durch die Gefahren des Bergbaues be-
droht, durch übermässige Arbeitsdauer und geringen
Lohn gefährdet wird, oder ob die Montanindustriellen sich
gar in drückender Abhängigkeit von ihren Arbeitern be-
finden.
272
SO/.JAl.I’Ol.l TISCHES CENTRAL, HI .ATT.
No. 22
Am häufigsten kehrte die Behauptung wieder, dass
der Bergbau sich in Nichts von anderen Industrien unter-
scheide und deshalb eine detaillirtere, von der Gewerbe-
ordnung abweichende Regelung der Arbeitsverhältnisse
nicht zu rechtiertigen sei. Wäre das richtig, so Hesse sich
kaum begreifen, wie gerade beim Bergbau die Entwicklung
fast überall zu einer eingehenden und umfassenden Spezial-
gesetzgebung führen konnte.
Gegen viele Anträge wurde auch der ganz sonder-
bare Einwand erhoben, dass sie unberechtigtes Misstrauen
gegen die Werksbesitzer bekunden, und schon deshalb ab-
gelehnt werden müssen. Dass dies gegen jedes zwingende
Gesetz geltend gemacht werden könnte und dass die Rück-
sichtnahme auf derartige Einwürfe die Gesetzgebung lalnu-
legen müsste, blieb in der Heftigkeit der Debatte unbeachtet.
Ein Uebermass an sachlichem Gehalt lässt sich wohl
diesen Argumenten nicht nachsagen. Prüfen wir nun,
welche Gestalt die Regierungsvorlage nach der dritten
Lesung im Abgeordnetenhause angenommen hat, eine Ge-
stalt, an der die Berathungen des Herrenhauses kaum eine
wesentliche Aenderung herbeiführen werden.
Am lebhaftesten war der Kampf um den Inhalt des
§ 80 b , der die Bestimmungen testsetzt , welche jede
Arbeitsordnung enthalten soll. Wir haben schon früher
ausgeführt, dass wir diesem Paragraphen deshalb keine
besondere Bedeutung beimessen können, weil die Grenzen,
innerhalb welcher sich die einzelnen Bestimmungen be-
wegen sollen, völlig dem Ermessen des Werksbesitzers
überlassen bleiben. Damit statuirt der § 80b wohl eine
formelle, aber keine materielle Aenderung des heutigen
Zustandes Der Bergarbeiter soll in Zukunft wissen, welche
Arbeitsbedingungen der Unternehmer ihm diktirt, er soll
aber auch fürderhin keinen Einfluss auf diese Bedingungen
haben.
Den Unternehmern wird also lediglich zugemuthet,
schriftlich und im Vorhinein bekanntzugeben, wie sie im
einzelnen Falle vorzugehen gedenken. Aber selbst dies
war den Montanindustriellen, nicht minder dem Abgeord-
netenhause schon zu viel. So erfuhr denn auch § 80b in
vielen Punkten eine Aenderung, manche Bestimmungen
wurden ganz fallen gelassen. Ueber die Art der Bemes-
sung des Schicht- und Gedinglohnes, über die Art der Ge-
dingestellung, über die Mass- oder Gewichtseinheit, welche
dem Gedinge zu Grunde gelegt wird, braucht die Arbeits-
ordnung nunmehr ebensowenig Etwas zu enthalten, als
über die Voraussetzungen, unter welchen Abzüge wegen
ungenügender oder vorschriftswidriger Arbeit gemacht
werden dürfen.
Eine Verschlimmerung erfuhr auch der § 80 d. Mit wah-
rem Feuereifer wehrten sich die Werksbesitzer dagegen, dass
die Arbeiter an der Verwaltung der Unterstützungskassen,
in welche die Strafgelder fliessen, mitbetheiligt seien. Auch
die Ueberwaclmng durch das Oberbergamt wurde mit Ent-
schiedenheit abgelehnt. Es ist kaum zu verstehen, zu
welchem Zwecke das Misstrauen erweckende Halbdunkel
aufrecht erhalten werden soll, unter welchem heute die
Unterstützungskassen geleitet werden.
Eine der wenigen Vorschriften, die zur Beruhigung
der Bergarbeiter hätte beitragen können, § 80k, wurde arg
verstümmelt. Die Regierung hatte statt der amtlichen
Aichung die Benutzung von Fördergefässen gleichen Raum-
inhaltes und die Feststellung des letztem beantragt. Ins-
besondere die erstere wurde lebhaft bekämpft und in der That
nur alternativ die Verwendung gleicher Wagen oder die
Ersichtlichmachung des Rauminhaltes beschlossen. Die
nach vorgenommener Reparatur entstehenden Aenderungen
im Gewichte der Fördergefässe sollen auch dort, wo das
Gedinge vom Gewicht abhängt, nicht der Feststellung be-
dürfen. Der Zustand wird also der sein, das künftig Wagen
von verschiedenem Inhalt und verschiedener Form zulässig
bleiben.
Während man überall dort, wo dies zu Gunsten der
Unternehmer geschehen konnte, den Wortlaut der Gewerbe-
ordnung herstellte oder beibehielt, beobachtete man rück-
sichtlich der Abkehrscheine ein anderes Verfahren. Die
industriellen Arbeiter kennen bekanntlich seit langen Jahren
kein obligatorisches Arbeitsbuch. Der Abkehrschein besitzt
heute, wie allgemein anerkannt werden musste, auch keine
sicherheitspolizeiliche Aufgabe. Die vielcitirte Parität hätte
also die Beseitigung des obligatorischen Abkehrscheines
gefordert. Ein dahinzielender Antrag wurde aber abge-
lehnt.
Der Beschluss der Kommission, auf Aenderung des
Artikels V dahin, dass die Arbeitsdauer nur für einzelne
Betriebe vom Oberbergamte geregelt werden dürfe, fand
Annahme. Alle Bemühungen auf gesetzliche Sicherung einer
angemessenen Schichtdauer scheiterten an dem Widerstande
der überwiegenden Mehrheit des Abgeordnetenhauses wie
der Regierung.
Die aus der dritten Lesung hervorgegangenen Novelle
zum Berggesetze repräsentirt den momentanen Abschluss
einer grossangelegten Aktion, die mit der Einleitung der
Enquete begann, in den kaiserlichen Erlassen und der Ein-
berufung der internationalen Arbeiterschutzkonferenz ihre
Fortsetzung fand. Wie gross waren die Hoffnungen, welche
sich an diese Massnahmen knüpften, wie wenig hat sie das •
Ergebniss der Berathungen des Abgeordnetenhauses erfüllt.
Wir fürchten, man schiesst nicht weit vom Ziele, wenn man :
der ganzen! Aktion als Motto vorsetzt: Viel Lärm um Nichts.
Leo Verkauf. *
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
j
Zur Charakteristik des Nothstandes in Russland.
Der russische Nothstand und überhaupt die wirth-
schaftliche Lage des „Zarenreiches“ (wie Russland ge-
wöhnlich in der westeuropäischen Presse bezeichnet wird)
bietet nicht nur ein praktisches, sondern auch ein grosses
theoretisches Interesse. Die herrschende Hungersnoth ist
ein schreckliches Resultat des Zusammenwirkens von
klimatischen, wirthschaftlichen, politischen und allgemein
kulturellen Ursachen. Aber was vom sozialpolitischen
Standpunkte das Wichtigste sein dürfte, das ist die Be-
deutung, welche dem jetzigen Nothstande als Moment in
der kapitalistischen Entwickelung Russlands zukommt.
Wir verzichten , an dieser Stelle eine nähere und er-
schöpfende Begründung unserer Ansicht zu geben, aber
kurz formulirt gipfelt sie im folgenden Satze: Der gegen-
wärtige Nothstand ist, wirthschaftlich aufgefasst, ein Re-
sultat der kapitalistischen Entwickelung Russlands und wird
seinerseits auf diesen Prozess beschleunigend zurück-
wirken. Was den ersten Theil der aufgestellten These
betrifft, so ist er bereits ein Gemeinplatz in der russischen
nationalökonomischen Litteratur geworden und ist deren
Begründung vornehmlich durch die landschaftliche -Sta-
tistik zur Genüge geliefert; für den zweiten Theil wollen
wir einige Thatsachen anführen, welche ein grelles Licht
auf die Bedeutung der Hungersnoth für die wirthschaft-
liche Zukunft Russlands werfen Diese Daten beziehen
sich auf das Gouvernement Ssamara, das in wirthschalt-
licher Hinsicht als ein Mikrokosmus des ganzen Noth-
standsgebietes mit Recht bezeichnet werden kann. Der
No. 22.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
273
Statistiker der Ssamara’schen Landschaft, Herr Krasnoperoff,
hat in seinen Aufsätzen im Moskauer „Juriditschesky
Westnik“ (der besten russischen rechts- und staatswissen-
schaftlichen Zeitschrift) die wirthschaftliche Lage dieses
unglücklichen Landes, welches seit dem grossen lokalen
Nothstande (dem sogenannten „ssamarski golod“ — der
Hunger von Ssamara) vom Jahre 1880 sich gar nicht mehr
erholen konnte, ziffernmässig geschildert. Es sei hier vor-
erst erwähnt, dass die Steuerrückstände im betreffenden
Gouvernement bei einem jährlichen Kontingent von 6 V2
Millionen Rubel1) im Jahre 1891 bereits die Höhe von
12 Millionen erreicht haben. Seit dem Auftreten der
Hungersnoth — schon im August — sahen sich die Bauern
gezwungen, ihre Kleider, andere Habseligkeiten und das
Vieh zu verpfänden respektive zu verkaufen; später
mussten sie auch zu der Verpachtung und Verpfändung
ihrer Grundantheile schreiten. V or Kurzem hat der er-
wähnte hochverdiente Statistiker in dem Moskauer Tag-
blatte „Russkija Wedomosti“ die Wirkungen des letzten
Nothstandes auf das genannte Gouvernement auf Grund
offizieller von der Regierung (nicht von der Landschaft)
gemachter Erhebungen dargestellt, und hierbei wurden
seine früheren Mittheilungen vollauf bestätigt. Wir be-
schränken uns auf die Wiedergabe der von Krasnoperoff
angeführten Thatsachen.
Am traurigsten ist die Lage derjenigen Gemeinden
(„selskija obstschestwa“), welche die gemeinschaftliche Be-
arbeitung des Gemeindegrundes verweigert hatten. Von
der Landschaft („zemstwo“; nämlich wurde die Erfüllung
dieser zwangskommunistischen Forderung (theilweise
als Garantie für die Rückzahlung des landschaftlichen
Unterstützungsdarlehens) unbedingt verlangt. Die Land-
schaft war überzeugt, dass die Verweigerung dieser
Forderung von einem gewissen Wohlstände zeuge, was
sich im Grossen und Ganzen als ein beklagenswerther Irr-
thum erwiesen hat. Es besteht nämlich bei den russischen
Bauern eine grosse Abneigung gegen einen solchen Zwangs-
kommunismus und sie sind bereit, sich grossen Entbehrungen
zu unterziehen, nur um dieser Gemeinnutzung des ge-
meinsamen Grundes zu entgehen. Dieser Widerstand —
abgesehen davon, dass er sich gegen die verhasste admini-
strative Kontrolle und Einmischung in die Gemeindeange-
legenheiten wendet — hat aber manchmal auch einen
gewissen kapitalistischen Hintergrund, denn an der
Verweigerung der landwirthschaftlichen Forderung sind oft
nur die reichen, wirthschaftlich kräftigen Bauern interessirt.
Von der ökonomischen Gleichheit in der russischen Land-
gemeinde ist ja schon lange keine Spur!
Die Gemeindeverbände (wolosti), welche die von der
Landschaft geforderte Garantie verweigert hatten, und des-
halb der Unterstützung nicht theilhaftig wurden, sind, wie
gesagt, in eine höchst traurige Lage gekommen. Die Bauern
in denselben mussten massenweise für einen Spottpreis ihre
Grundantheile verpachten und die Wintersaaten verkaufen.
Beispielsweise beträgt der Verlust der Arbeitspferde für 9
Gemeindeverbände des Bezirkes Bugulma, welche die land-
schaftliche Forderung abgewiesen hatten, im Durchschnitt
1355 Stück auf je eine Wolost, während diejenigen 31
Wolosti, welche aut die landschaftliche Forderung einge-
gangen sind, einen durchschnittlichen Verlust von 448 Stück
auf je eine Wolost verzeichnen. Die Zahl der Diebstähle
beträgt für die erste Kategorie im Durchschnitt 21,2 Fälle,
auf je eine Wolost, für die zweite Kategorie nur 14 Fälle.
Aber es wäre ein sehr grosser Irrthum, wenn wir uns
die Lage dieser zweiten Kategorie der Wolosti als leid-
lich vorstellen würden. Diese Lage ist ebenfalls für die
Mehrzahl der Bauern als ein vollständiger Ruin zu be-
zeichnen. Die Zahl des Zug- und Arbeitsviehes betrug
nach den Mittheilungen der „Zemski Natschalniki“ (Ver-
waltungsbeamte und Richter vornehmlich für die Bauern-
bevölkerung — eine Institution, welche als typische Frucht
J) Dabei sind nur die direkten Steuern gemeint, welche
auf die Bauern entfallen.
der seit 1881 herrschenden Reaktion bezeichnet werden
kann) vor dem Auftreten der Hungersnoth 1 046 867 Stücke,
bis zum 1. Januar des laufenden Jahres ist diese Zahl auf
637 248 zusammengeschrumpft, hat sich also um 37 °/0 ver-
mindert. Aber wenn man noch verschiedene andere Mit-
theilungen in Betracht zieht, so dürfte dieser Prozentsatz
auf 40— 50 n/o sich erhöhen. Bis zum 1. November 1891 betrug
— nach Krasnoperoff — die Summe, welche die Bauern
des Gouvernements Ssamara für ihr Vieh bekommen haben,
2 892 000 Rubel, sodass durchschnittlich auf je einen Bauern-
hof 10 Rubel entfielen. Die Pferde wurden für 1,95 bis
6,40 Rubel, die Ochsen für 2,50 — 10,00 Rubel, die Kühe für
2,40—6,50 Rubel verkauft. Selbstverständlich ist dieser
kolossale Viehverlust auf den doppelten Mangel: 1. der
Nahrungsmittel für Menschen und 2. des Futters für das
Vieh zurückzuführen.
Der Bettel hat auf dem Lande grossartige Dimen-
sionen angenommen, bis zum 1. Januar 1892 wurden in 291
Wolosti 143 460 Seelen als Bettler verzeichnet, die sich so-
gar eine Art genossenschaftlicher Organisation schufen.
Es findet auch eine starke Auswanderung statt, die selbst-
verständlich zum grössten Theil planlos ist und die Lage
der betreffenden Bauern nur noch verschlimmert. Die-
jenigen aber, die mit Recht das Zuhausehungern der plan-
losen Auswanderung vorziehen, sind auch aut die Ver-
pachtung und Verpfandung ihrer Grundloose und auf den
Ve.kauf der Wintersaaten angewiesen. Zum Beispiel in
einer Wolost des Buzulukschen Kreises haben die Bauern
ganze Loose von II1 2 Dessjätinen für 1 Rubel (sage einen
Rubel) verpachtet, während früher in „guten Jahren“ der
Pachtzins ungefähr 50 Rubel ausmachte. Im Kreise Bru-
guruslan wurde eine Fläche von 8790 Dessjätinen für
68 Rubel oder für 3/4 Kopeken die Dessjätine verpachtet.
In einer Wolost sind 70% der Grundloose verpachtet und
es finden sich sogar Wolosti, wo der gesammte bäuer-
liche Boden verpachtet ist. Nachdem Krasnoperoff noch
mehrere analoge Zahlen und Thatsachen anführt, sagt er,
dass dieselben uns die Schlussfolgerung aufdrängen, dass
mindestens die Hälfte der Bauern ihre wirthschaft-
liche Selbstständigkeit einbüssen werden und die Grund-
loose zu einem grossen Theil in den faktischen Besitz der
Aufkäufer (der sog. „Kulaki“), welche sich aus Gross-
bauern, kleinen und grossen Kaufleuten rekrutiren, über-
gehen werden. Dieser Prozess ist übrigens bereits in
sprechenden Ziffern von der landschaftlichen Statistik kon-
statirt worden, aber was früher als die Frucht einer mehr
oder weniger langsamen Entwickelung sich darstellte, das
ist jetzt mit einem Schlage durch die „Missernte“ vollzogen
worden.
Bezeichnend sind noch für die Lage des Gouverne-
ment Ssamara die Konsumtion des Pferdefleisches
durch die russische Bevölkerung und der Mangel
an Heizmitteln. Bekanntermassen wird der Genuss des
Pferdefleisches von der russischen Bevölkerung ver-
schmäht und kommt derselbe gewöhnlich nur bei den Ta-
taren vor. Jetzt sind auch die russischen Bauern ge-
zwungen worden, zu diesem unbeliebten Nahrungsmittel
zu greifen. Wo das der Fall ist, darf daraus mit grosser
Sicherheit auf totalen Mangel anderer Lebensmittel ge-
schlossen werden.
Der Mangel an Heizmitteln steht in dieser wald-
losen Gegend1) in direktem Zusammenhänge mit der
grossen Verminderung des Viehstandes, da hier als fast
ausschliessliches Heizmittel der Viehmist fungirt. Die Mehr-
zahl der armen Bauern ist gezwungen, um sich dieses
Heizmittel zu verschaffen, entweder den reichen Standes-
genossen ihre Arbeitskraft für den kommenden Sommer
zur Verfügung zu stellen oder ihre Grundloose zu verpfän-
den. Dabei erwächst dasjenige ganz unzweideutige wirth-
schaftliche Abhängigkeitsverhältniss, welches in der russi-
schen wissenschaftlichen und nicht minder in der schönen
b Dabei sind vornehmlich die hart betroffenen Steppen-
bezirke Buzuluk, Nikolajewsk und Nowousensk gemeint.
274
SOZIALPOLITISCHES CENTR ALRL ATT .
No. 22.
Litteratur (Saltykoff, Uspensky) so ergreifend geschildert
wird und — was die Härte anbetrifft — seinesgleichen
sucht. Es sind auch Fälle vorgekommen, wo die Bauern
ihre elenden Habseligkeiten und das noch übrig gebliebene
Vieh veräussert haben, um sich dafür die für die strenge
Winterzeit unentbehrlichen Heizmittel zu verschaffen; oder
sie haben den Mist überall — auf den Fahrstrassen etc. -
mühselig gesammelt ; oder sie mussten ihre Zäune und leere
Vorrathskammern des Holzmaterials wegen niederreissen;
oder endlich sind sie durch die Noth zu einer kommunisti-
schen Lebensweise getrieben worden, indem je 3 5 Fa-
milien, um an Heizmitteln zu sparen resp. leben zu können,
sich in einem Hause etablirten. Wer die Wohnungs-
verhältnisse der russischen Bauern sich nur oberflächlich
angeschaut hat, der weiss, welche Bedeutung diese I hat-
sachen vom hygienischen Standpunkte haben. Dass dabei
der Typhus und andere Infektionskrankheiten siegreich um
sich greifen, ist — ganz abgesehen von der mangelhaften
Ernährung — durch solche Wohnungsverhältnisse schon
bedingt.
Wenn wir noch zum Schlüsse hinzufügen, dass in den
Bezirken Ssamara und Bugulma V4, im südlichen Fheile
des Bezirkes Buguruslan 1/2; im Bezirke Nikolajewsk J/3 der
Winterfelder unbestellt geblieben sind, so haben wir die
Lage des Gouvernements Ssamara zur Genüge cha-
rakterisirt.
Diese Verhältnisse sind für die Mehrzahl der vom
Nothstande betroffenen Gegenden typisch1) und sie kenn-
zeichnen eben den endgiltigen Niedergang des Bauern-
standes. Der Nothstand, selbst aus den ökonomischen Ver-
hältnissen hervorgegangen, beschleunigt mit einem gewal-
tigen Stoss die Proletarisirung der ländlichen Bevölkerung.
Und dieser Prozess seinerseits wird voraussichtlich sehr
viel beitragen zu einer Umgestaltung der landwirthschalt-
lichen Produktion, als deren Symptom er auftritt. Das
ganze wirthschaftliche Leben und in erster Linie das V er-
hältniss von Stadt und Land kann dabei die grössten Ver-
schiebungen erleiden. Lind bis dieselben sich endgiltig
vollzogen haben, werden sie — wenn der Staat nicht macht-
voll eingreift — über eine Unzahl von menschlichen
Opfern hinwegschreiten. Denn der Nothstand als Folge
tiefer wirthschaftlicher Umwälzungen ist bereits seit meh-
reren Jahren in manchen der „hungernden“ Gouvernements
zu einer — wir möchten sagen — ständigen Institution
geworden.
Es werden aus manchen Gegenden ergreifende That-
sac.hen — mehrfache Fälle von Hungertod2) etc. — be-
richtet, aber vom sozialpolitischen Standpunkte verschwin-
den diese wirkungsvollen Illustrationen vor der grossen
volkswirthschaftlichen Thatsache des vollständigen Ruins
und der Auflösung des Bauernstandes.
Einkommenverhältnisse im Königreich Sachsen.
Die sächsische Einkommensteuerstatistik, deren neueste
Ergebnisse in Heft I und II, Jahrgang 1891 der „Zeitschrift
des K. Sächs. Statistischen Büreaus“ wiederum vorliegen,
liefert schon seit Jahren werthvolle Anhaltspunkte zur Be-
urtheilung der Einkommensverhältnisse, wie sie sich unter
der Wirkung der privatkapitalistischen Produktion gestalten
müssen. Wenn man bei Betrachtung der Ziffern berück-
sichtigt, dass die Zunahme der grossen Einkommen er-
fahrungsgemäss langsamer und weniger sicher von der Ein-
kommensteuer erfasst wird, als die Veränderung in den
unteren Klassen, deren Verhältnisse offener liegen, sodass
1) Um nur noch ein Beispiel anzuführen, verweisen wir auf
den Bezirk Schadrinsk im Gouvernement Perm, wo jetzt von
307 000 Bauern 200 000 ihre Pferde verloren haben und wo sogar
eine besondere Art der Egge konstruirt worden ist, um den
Menschen als Zugkraft zu benutzen. Leider sind die Her-
stellungskosten (40 Kopeken) dieses eigenartigen Arbeitsinstru-
mentes für die Mehrzahl der Bauern unerschwinglich.
2) Beispielsweise ist im Bezirke Schadrinsk der Hunger-
tod von 24 baschkirischen Bauern amtlich festgestellt worden.
die Einkommensvermehrung bei den reichen Klassen wahr-
scheinlich weit stärker ist, als sie die Steuerstatistik an-
o-eben kann, so gelangt man zu bemerkenswerthen Schlüssen.
Von 1879 auf f890 stieg die Zahl der eingeschätzten Per-
sonen von I 088 002 auf 1 404 469, die Summe des einge-
schätzten Einkommens aber von 982 451 967 M. auf
1495 910 639 M. Das Gesammteinkommen wies also eine
weit stärkere Steigerung auf, als die Zahl der an ihm be-
theiligten Personen. Ist diese stärkere Zunahme nun allen
Bevöfkerungsklassen gleichmässig zu gute gekommen?
Durchaus nicht, selbst wenn man der amtlichen Eintheilung
folgt, welche die „unbemittelte“ Klasse nur bis zu einem
Einkommen von 800 M. rechnet, die „mittlere“ von 800 bis
3300 M„ die „wohlhabende“ von 3300 - 9600 M„ und die
„reiche“ Klasse von 9600 M. Einkommen aufwärts, so er-
giebt sich folgendes Bild von der Vertheilung des einge-
schätzten Einkommens in Prozenten der Gesammtsumme
auf
1879
1890
die unbemittelte Klasse .
39,74
31,77
die mittlere Klasse . .
33,48
36,67
die wohlhabende Klasse
12,99
12,66
die reiche Klasse . . .
13,79
18,90
Darnach sank der Antheil der unbemittelten Klasse i
schon bedeutend, derjenige der mittleren und wohlhabenden
blieb sich fast gleich, und derjenige der reichen Klasse .
nahm stark zu. Das Bild der denkbar ungleichmässigsten
Vermögensvertheilung verschärft sich also zusehends. Der
Antheil der mittleren Klasse an der Zunahme würde aber *
ein noch weit geringerer sein, wenn nicht die Einkommens-
klasse von 800—1600 M. in dieselbe eingerechnet wäre.
Diese letztere Klasse gehört unter diejenige der „Unbe-
mittelten“; denn selbst mit 1600 M. jährlichem Einkommen
steht eine Person oder vollends eine Familie vor der Un-1
möglichkeit, irgend etwas Hinreichendes für Nothfälle oder
das' Alter zurücklegen zu können. Die Einkommensklasse
von 800—1600 M. ist aber mit ihrem geschätzten Einkommens- ,
antheil nicht gesondert für die Jahre 1879 bezw. 1880 und
1890 in der vorliegenden Statistik angegeben. Nur ihr
Personalstand ist mitgetheilt; er vermehrte sich von 15,94 "/Jl
der eingeschätzten auf 22,71 %, deutet also ebenfalls auf,
eine steigende Pauperisirung der sächsischen Bevölkerung
hin, keineswegs auf eine Stärkung des Mittelstandes, wie
der amtliche Bearbeiter meint. Vervollständigt wird dieses ! 1
Bild durch folgende Uebersicht Im gesammten Königreich;!
vertheilten sich die Gesammteinkünfte auf die ver-.j
schiedenen Einkommensquellen nach prozentweiser Be-
rechnung wie folgt: { I
1879 1890
aus Grundbesitz .... 20,9 16,3
aus Handel und Gewerbe 33,5 30,8
aus Gehalt und Löhnen . 34,9 41,3
aus Renten 10,7 11,6.
Nichts ist bezeichnender, als dass bei dieser relativen
Rechnung nur die Renten einerseits und die Gehälter bezw.
Löhne andererseits steigend am Gesammteinkommen theil-
nahmen, was die rasche Erweiterung der Kluft zwischen
arbeitslosen und auf blosse Arbeit gegründetem Einkommen
deutlich kennzeichnet. Nebenbei gehen die Symptome der
steigenden Centralisation der Bevölkerung in den Städten
und der Bevölkerung des platten Landes. Es vermehrt sich
nämlich von 1879 auf 1890
in den Städten
in den Dörfern
( das Gesammteinkommen
I die Zahl der eingeschätzten Personen
I das Gesammteinkommen
1 die Zahl der eingeschätzten Personen
auf 74,7 % I
„ 47,6»/,,
„ 35,7 0/,,
„ 16,2%. |
Das platte Land bleibt also weit hinter der Entwick-
lung der Städte auch mit Bezug auf das Einkommen zurück.
Darnach ist es schwer verständlich, wie der amtliche Be-
arbeiter der sächsischen Steuerstatistik eine gesunde Ge-
staltung der dortigen Einkommensverhältnisse wahrnehmen |
I kann.
Die Errichtung von Rentengütern in Ost-, Mest-
preussen und Posen. Ueber die in den östlichen Provinzen
gemachten Versuche der inneren Colomsation vermittels
Errichtung von Rentengütern äussert sich die „Danzigei
Zeitung“ folgendermassen: .
„Der wesentlichste Zweck des Gesetzes, die Ansiede-
lung auf kleineren Besitzungen zu fördern, ist zweifellos ,
No. 22.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
275
erreicht, und zwar in viel höherem Grade, als es früher
angenommen und für möglich gehalten wurde. In fast allen
Kreisen unserer Provinz, besonders in den südlichen, in
' Ostpreussen, Posen und Schlesien ist eine grosse Zahl von
kleineren und grösseren Parzellen zum Verkauf gekommen.
Es fehlte ja auch früher nicht an Gelegenheit zu solchen
Käufen, im Gegentheil, oft haben wir berechtigte Klagen
<>-ehört über das Parzellirungsunwesen, durch welches die
Käufer häufig in der Weise geschädigt wurden, dass ein-
mal der Preis oft höher als der Werth angesetzt und be-
willigt wurde, und dass die Restkaufgelder zu hohen Zinsen
und unter sonstigen ungünstigen Bedingungen eingetragen
wurden. Bei kurzer Kündigungsfrist seitens der Verkäufer
entstanden Verlegenheiten, welche bisweilen zum Verluste
des Eigenthumes führten. Die amortisirende Rente schiebt
hier einen heilsamen Riegel vor. Ein weiterer Vortheil für
den Käufer liegt darin, dass in Höhe des halben Werthes
der Gebäude, welche nach dem Urtheil der Generalkom-
mission für das zu bebauende Grundstück wirthschaftlich
nothwendig sind, ein Darlehen gewährt wird, welches eben-
falls durch eine Rente getilgt wird. Hierdurch wird für
viele Ansiedler erst die Möglichkeit geboten, eine ihren
Wünschen entsprechende Fläche zu erwerben, da sie andern-
falls einen grösseren Theil ihres Kapitals zur Herstellung
der Baulichkeiten zurückhalten müssen, und in Folge dessen
nur eine kleine Fläche zu erwerben im Stande sein würden.
Auf der andern Seite ist auch vielen Grundbesitzern er-
wünschte Gelegenheit geboten, einzelne Theile ihres Landes,
welche abgelegen, oder aus anderen Gründen für die eigene
Wirthschaft ungeeignet sind, zu veräussern und den ganzen
Kaufpreis dafür einzunehmen, während sie bei dem gewöhn-
lichen Verkaufe immer einen grossen Theil des Kaufpreises
stehen lassen müssen . . . Einen Erfolg halten wir für
wahrscheinlich: die stärkere Heranziehung sesshafter Leute,
welche, wenn sie kleinere Grundstücke besitzen, lohnenden
Nebenerwerb durch landwirthschaftliche Arbeiten finden
und den durch die Sachsengängerei hervorgerufenen Ar-
beitermangel verringern können.“
In unserem Referate über den Bericht der General-
kommission (No. 19 des Sozialpolitischen Centralblattes) sind
einzelne Bestimmungen des Rentengütergesetzes vom 7. Juli
1891 mit Vorschriften in dem Gesetze vom 26. April 1886
betreffend die Ansiedlungskommission für Posen und West-
preussen verwechselt worden. Es entfallen demnach unsere
Bemerkungen über die nationalpopulationistischen Absichten
des Gesetzes und über die Sesshaftmachung landwirthschaft-
licher Arbeiter. Durch den Abdruck aus der „Danziger
Zeitung“ berichtigen sich unsere Darlegungen in No. 19
dieser Zeitschrift im einzelnen.
Das Wasserrecht in der Schweiz. In No. 16 des
Sozialpolitischen Centralblattes war der seitens der schweize-
rischen Bundesregierung an die Kantone versandte Frage-
bogen über das Wasserrecht in der Schweiz abgedruckt.
Ueber das Ergebniss der Enquete verlautet folgendes:
Während mehrere Kantonsregierungen von einer Monopoli-
sirung der Wasserkräfte nur dann etwas wissen wollen,
wenn das Monopol den Kantonen verbleibt, erklärt sich die
St. Galler Regierung für das Bundesmonopol. Sie sagt
ganz richtig, dass ja auch der Lauf der Bäche und Flüsse
von den Kantonsgrenzen unabhängig sei und die Ver-
schiedenheit der Vorschriften für die industrielle Nutzbar-
machung desselben Flusslaufs eine volle und rationelle
Nutzbarmachung nicht möglich mache. Der Bund also
müsse die grosse Sache an die Hand nehmen. „Geschieht
dies nicht und würden auch die Kantone nichts thun, so
würde, wie mit Sicherheit vorauszusehen ist, die private
Spekulation in einer Weise dieses wichtigen Bestandtheiles
unseres Nationalwohlstandes sich bemächtigen, dass für
letztem empfindliche Schädigungen entstehen müssten.“
Verbot (1er Sweating-Arbeit bei Staatsaufträgen in
England. Der „Vossischen Zeitung“ wird aus London be-
richtet: „Einem soeben veröffentlichten Berichte der Re-
gierungsbehörden zufolge wird seit einem Jahre in England
ein ernstlicher Versuch gemacht, den im Februar vorigen
Jahres vom Unterhause angenommenen Antrag Buxtons be-
treffend die Verwendung ungenügend belohnter Arbeits-
kräfte bei Regierungsaufträgen streng zur Ausführung zu
bringen. Das Handelsministerium macht es z. B. bei seinen
Verträgen mit Kleiderlieferanten zur Bedingung, dass diese
sämmtliche Kleidungsstücke in ihrer eigenen Fabrik an-
; fertigen lassen, dass keine Arbeit mit nach Hause gegeben
oder an andere als eigene Arbeiter übertragen werden
darf. Aehnliche Bestimmungen gelten auch für andere
Verwaltungszweige, und es scheint erfreulich, dass die Re-
gierung den Geschäftshäusern mit einem guten Beispiele
vorangeht und dadurch dem berüchtigten „Sweating-System“
in England etwas zu steuern sucht.“
Arbeiterzustände.
Hygienische Verhältnisse in den Leipziger Buch-
druckereien und Schriftgiessereien. Die örtliche Tarifkom-
mission der Leipziger Buchdruckereien hat zum Zwecke der
Erhebung der gesundheitlichen Verhältnisse in den Leipziger
Buchdruckereien 83 Fragebogen versandt, von denen 77 (73 auf
Buchdruckereien und 4 auf"Giessereien bezügliche) ausgefüllt
eingegangen sind. Die Resultate der Erhebung theilt die in
Leipzig erscheinende „Reform“ in ihrer Nummer vom 19. Mai d.J.
mit, der wir die folgenden Daten entnehmen.
Die Tagesbeleuchtung ist in 67 Druckereien gut, in 4
ungenügend, in 6 fraglich, die künstliche Beleuchtung ist in 60
Druckereien ausreichend, in 8 ungenügend, in 9 fraglich. Die
Ventilation war in 56 Setzersälen gut, in 10 ungenügend, in
zweien schlecht, in vieren fraglich und in einem soll sie voll-
kommen fehlen; in 49 Druckersälen soll sie. gut, in 12 unge-
nügend, in 4 schlecht, in 7 fraglich sein, in einem vollkommen
fehlen. In 3 Giessereien war die Ventilation gut, in einer un-
genügend. Die Raumverhältnisse sollen in 5 Druckereien
ausgezeichnet, in 53 gut, in 10 ungenügend, in 3 mangelhaft oder
schlecht sein, von 6 liegen keine Angaben vor. Die Wasch-
vorrichtungen werden von 62 Druckereien als gut, von 14 als
ungenügend bezeichnet. In 63 Druckereien befanden sich die
Betriebsmotoren ausserhalb, in 10 innerhalb des Arbeits-
raumes. Die Heizung der Arbeitsräume war in 64
Druckereien gut, in 13 ungenügend. In 56 Druckereien war der
Setzersaal vom Maschinensaal getrennt, in 15 nicht.
Ausgekehrt werden die Arbeitsräume täglich einmal in 58
Druckereien, täglich zweimal in 3, wöchentlich zweimal in 7,
wöchentlich dreimal in 6 Druckereien, ungenügend in 2, gar
nicht in einer Druckerei. Gewaschen (Scheuern, Fenster-
putzen) wird wöchentlich zweimal in 1, wöchentlich einmal in 2,
monatlich inl, vierteljährlich in 5, halbjährlich in 12 Druckereien;
jährlich dreimal in 2,' jährlich überhaupt in 5, unregelmässig in
5 und fraglich ist das Waschen in 34 Druckereien geblieben.
In 2 Druckereien wurde seit 3 Jahren, in einer andern seit
6 Jahren nicht gescheuert! In 6 Druckereien und 1 Giesserei
kann sich niemand entsinnen, jemals ein Scheuerfest erlebt zu
haben. Das Reinigen der Setzkästen und Regale ge-
schieht in 55 Druckereien nach Bedarf; in 1 Druckerei wöchentlich,
in 1 jährlich und in 7 gar nicht. Fraglich ist das Ausblasen der
Kästen in neun Druckereien. Schutzvorrichtungen an
Maschinen und Transmissionen waren vorhanden in 67,
mangelhaft waren solche in 3 und fraglich in 7 Druckereien.
Garderoben und Bedürfnissanstalten waren nach Ge-
schlechtern getrennt in 57, nicht getrennt in 10 Druckereien;
Garderoben sind nicht vorhanden in 5 und fraglich bleibt es in
2 Druckereien. Abgesonderte Räume zum Aufenthalte
während der Arbeitspausen waren vorhanden in 13, nicht
vorhanden in 62 und fraglich ist es in 2 Druckereien. Die
T r epp e nein rieh tu ng war als genügend bezeichnet von 57,
als ungenügend von 10 Druckereien; über mangelhafte Beleuch-
tung derselben wird geklagt in 1 und unermittelt blieb es in
2 Druckereien; im Parterre befinden sich 7 Druckereien.
Weibliche Bahnwärter. Seitens der preussischen Eisen-
bahndirektionen wurden an die verheiratheten Bahnwärter
Anfragen gerichtet, ob die Ehefrau des Betreffenden bereits
aushüifsweise Bahnwärterdienste verrichtet hat, ob sie sich
dazu eignet und eventuell den Dienst eines Bahnhülfs-
wärters übernehmen wolle. Falls letzteres zutrifft, soll
den Ehefrauen für diese Hülfsleistung eine Remuneration
von 70 — 90 Pf. per Tag bezahlt werden. An der Altona-
Kieler Bahn haben sich bereits eine Anzahl verheiratheter
Bahnwärter und deren Ehefrauen bereit erklärt, den Dienst
in dieser Art zu versehen. Die Frau soll dann den Tag-
und der Mann den Nachtdienst übernehmen.
Enquete über die Ruhetage auf den französischen
Eisenbahnen. Der Minister der öffentlichen Arbeiten hat
die französischen Eisenbahnverwaltungen nach der Anzahl
der Ruhe- und Urlaubstage ihrer Angestellten im Jahre 1891
und zwar nach den verschiedenen Arbeitskategorien sowohl
für das ganze Jahr, als für die Monate März und September be-
fragt, in denen der Verkehr am schwächsten, beziehentlich am
276
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 22.
stärksten ist. Die Ruhetage und die Urlaubszeit sollen ge-
sondert angegeben werden. Die Zeiten der Suspendirung
vom Amte und Krankheitstage sollen nicht als Ruhe und
Urlaub angegeben werden. Als Ruhetage sollen für die
zur Nachtarbeit nicht Herangezogenen diejenigen gelten,
an welchen die Angestellten Vom Morgen bis zum Abend
dienstfrei sind.
Politische Arbeiterbewegung.
Ein schweizerisches Arbeiterprogramm Bei dem am
1. Mai zum ersten Male auf Grund des Proportionalwahl-
systems stattgefundenen Grossraths wählen im Kanton Neuen-
burg erzielte die Arbeiterpartei eine beträchtliche Ver-
mehrung ihrer Sitze im kantonalen Parlamente. Ihre Ver-
treter wurden auf Grund eines ausführlichen Programms
gewählt.
In kantonalen Angelegenheiten verlangten die Ar-
beiter:
1. Gruppirung der Gewerkschaften, behufs Einfüh-
rung der obligatorischen Berufsgenossenschaften als dem
einzig wirksamen Mittel zum Schutze des Vereinsrechts.
Dieses für den Fall, wenn die Eidgenossenschaft sich nicht
baldigst mit dieser Frage beschäftigen würde.
2. Allgemeine Einführung des Handfertigkeitsunter-
richts in den Primarschulen, sowie Vermehrung der Hand-
werksschulen, welche in demjenigen Masse stets noth wen-
diger werden, als die Fabriken die kleinen Werkstätten
verdrängen, den Familienvätern die Möglichkeit benehmen,
ihre Kinder ein Handwerk gründlich erlernen zu lassen und
die Pflanzschule von tüchtigen zur künftigen Entwicklung
der Industrie nöthigen Arbeiter vernichten.
3. Umgestaltung unseres ganzen Steuersystems.
4. Obligatorische staatliche Mobiliarversicherung.
5. Erlass eines Gesetzes, das die Unentgeltlichkeit der
Beerdigung einführt.
6. Wahl der Ständerathsmitglieder, des Staatsrathes
und der Richter durch das Volk, und obligatorisches Refe-
rendum für die Gesetze.
7. Endlich verlangen sie nochmals und fortwährend
die Aufhebung von Absatz 5 des Artikel 20 des Gemeinde-
gesetzes betreffend die Beschränkung des allgemeinen
Stimmrechts.
In eidgenössischer Angelegenheit wollen die Neuen-
burgischen Arbeiter trachten, solche Vertreter zu wählen,
die aus allen Kräften die Einführung der obligatorischen
Berufsgenossenschaften unterstützen, welche zu gehöriger
Organisation und Ausübung der obligatorischen Alters-,
Krankheits- und Unfallversicherung, sowie zum Schutze
des Vereinsrechts unumgänglich nothwendig sind.
Sie verlangen die Revision des Fabrikgesetzes, um
die achttägige Äusbezahlung des Arbeitslohnes einführen
zu können, sowie den Normalarbeitstag von zehn Stunden
und denjenigen von acht Stunden für gefährliche und ge-
sundheitsschädliche Industrien. Ferner die Ausdehnung
dieses Gesetzes auf alle Arbeiter und namentlich wirk-
samere Anwendung desselben.
Die baldigste Einführung einer Vorschrift in das Haft-
pflichtgesetz, welche die Arbeitgeber verpflichtet, ihre An-
gestellten bei einer Versicherungsgesellschaft versichern zu
lassen, scheint ihnen ebenfalls geboten, so lange die staatliche
Versicherung noch nicht besteht.
Die Neuenburgische Arbeiterpartei erklärt sich als
Anhängerin der Verstaatlichung der Eisenbahnen auf dem
Wege des Rückkaufes um den wirklichen Werth derselben.
Sie verbindet sich mit den schweizerischen Arbeitervereinen,
welche den Schutz des Vereinsrechtes anstreben und sich
für die Arbeiterfrage interessiren. Letztere scheint ihnen
zu einem kleinen 4 heile gelöst zu werden durch die Re-
gelung des Normalarbeitstages unter Berücksichtigung der
durch die Maschinen verursachten Ueberproduktion und
durch Bevorzugung der schweizerischen Arbeiter
bei öffentlichen Unternehmungen.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Verband deutscher Bergarbeiter. Nach dem vorliegenden
Rechnungsabschluss hatte die Kasse des Deutschen Bergarbeiter-
verbandes in der Zeit vom 18. September 1891 bis 28. März 1892
bei 222 Zahlstellen eine Gesammteinnahme von 33 050 M. ; hier-
von entfallen auf die Mitgliederbeiträge 30 515 M. Die Ausgaben
betrugen in derselben Zeit 26 926 M. und zwar 14 399 M. für den
Druck der Fachzeitung, 4800 M. für Verwaltungskosten, 3828 M.
für Rechtsschutz, 2117 M. tür Agitation u. s. w. Der Verband
hat gegenwärtig ein Vermögen von 28 000 M. Die Einnahmen
sind, wie der beigefügte Bericht ausführt, um einige Tausend
Mark höher als beim letzten Rechnungsabschluss.
Kontrolleure zur Ueberwachung des Wagennullens
Da die Bergwerks-Gesetzgebung in betreff des Wagen-
nullens den hier ausser allem Zweifel berechtigten Forde-
rungen der Arbeiter nicht entsprochen hat, wollen die
Arbeiter des Dortmunder Reviers Kontroleure auf allen
Zechen selbst anstellen. Ueber das Verhalten d er Unter-
nehmer zu diesen Absichten der Arbeiter verlau tet bisher
nichts. Im Interesse der Ruhe in den Bergwerksbezirken
w’äre es wohl sehr empfehlenswerth, wenn den Arbeitern
keine Schwierigkeiten gemacht würden. Eine Behinderung
der Kontrolle würde das Misstrauen der Arbeiter in’s Mass-
lose steigern.
Tarifkommission im deutschen Buchdruckergewerbe.
Obgleich sich die Gehilfen einer Reihe von Gauen, so der von
Berlin-Brandenburg und des Königreichs Sachsen gegen die Wahl
von Gehilfenvertretern ausgesprochen haben (s. Sozialpolitisches
Centralblatt No. 18, S. 227 fg.), entschlossen sie sich aus taktischen
Rücksichten doch zur Wahl zu schreiten, um die Einsetzung
der seitens der Prinzipalität vorgeschlagenen Gehilfenvertreter
zu verhindern. Soweit die Resultate vorliegen, sind überall mit
erdrückenden Majoritäten die früheren Gehilfenvertreter wieder-,
gewählt worden. Damit ist die Tarifkommission formell wieder
hergestellt worden, aber sie wird kaum in absehbarer Zeit in
Aktion treten können, da die Gehilfenvertreter Passivitätspolitik1
treiben dürften.
1
Rechnungsabschluss der Hirscli-Duncker’schen Verbands-1
hassen für das erste Vierteljahr 1892. Die 58 144 Mitglieder1
leisteten einschliesslich eines Saldos von 1396,16 M an die Ver-
bandskasse 3730,71 M. und blieben an dieselbe 506,05 M. schuldig,
der Organkasse gingen einschliesslich eines Saldos von 3543,30 M.
8808,71 M zu, 3611,09 M. sollen derselben noch zugehen. Die
Auslagen der Verbandskasse beliefen sich auf 2556,92 M., der
Organkasse auf 6406,97 M. Seitens der Verbandskasse wurden'
für Agitation 511,36 M. und für Gehalte und Entschädigungen;
1466,60 M verausgabt _ < j
Das Vermögen der Verbandskasse beläuft sich auf!
43 752,28 M., in der Organkasse auf 20 201,74 M., das der Druck-
sachenkasse auf 1135,64 M., dass der drei Kassen zusammen auf;
65 089,66 M.
Zum Ausstand der Kohlenarbeiter in Durham. Da
die Arbeitgeber die von den Arbeitern beantragte Lohn-
herabminderung um 10 pCt. verworfen haben und eine
solche von 13 pCt. verlangen, haben die Arbeiter eine
Kundgebung erlassen, in welchem sie jede Verantwortlich-
keit in diesem Kampfe den Arbeitgebern zuschieben
und erklären, sie seien entschlossen, den Ausstand fortzu-
setzen. _ j
Eine Versammlung des Lancashire und Cheshire Berg-
arbeiterbundes beschloss eine Versammlung der Nationalen
Vereinigung der Bergarbeiter zum Zwecke einer allgemeinen
Steuerauflage einzuberufen zur Unterstützung des Aus-
standes der Bergarbeiter in Durham.
Handwerkerfragen.
Handwerkerkammern in Baden. In der Sitzung des
badischen Landtages vom 17. Mai ist der von uns früher
ausführlich besprochene Regierungsentwurf eines Gesetzes,
die Einführung von Gewerbekammern in Baden betreffend
(vergl. No. 5 "und 6 des Sozialpolitischen Centralblattes i
von hier Kammer in folgender Fassung angenommen
worden :
„§ 1. Behufs Vertretung der Interessen des handwerks-
mässigen Kleingewerbes können Gewerbekammern als für sich
No. 22.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
277
bestehende Organe oder in Verbindung mit Handelskammern
bei Zustimmung der Mehrheit der betheiligten Gewerbetreibenden
einer Gemeinde oder einer Mehrzahl von Gemeinden gebildet
werden. Den gesondert gebildeten Gewerbekammern kommt die
rechtliche Stellung juristischer Personen zu. i? 2. Zur Erfüllung
der ihnen zugewiesenen Aufgabe können die Gewerbekammern
auf Hebung des Kleingewerbes abzielende Anträge und Wünsche
an die zu deren Erledigung- geeigneten Behörden richten und
sind verpflichtet, diese Behörden in der Förderung des Klein-
gewerbes, insbesondere durch thatsächliche Mittheilungen und
Erstattung von Gutachten zu unterstützen, sowie alljährlich über
Lage und Gang des Kleingewerbes in ihrem Bezirke während
des vorhergegangenen Jahres an das Ministerium des Innern
Bericht zu erstatten. Auch können dieselben zur Mitwirkung
bei der Leitung und Beaufsichtigung von der Förderung des
Gewerbes dienenden öffentlichen Anstalten und Einrichtungen
herangezogen werden Die Gewerbekammern sollen, so weit
thunlich, vor gesetzlicher oder behördlicher Regelung von wich-
tigeren, die Interessen des Kleingewerbes unmittelbar berührenden
Angelegenheiten mit ihrer gutachtlichen Aeusserung gehört wer-
den. § 3. Die Feststellung der Bezirke und Sitze der Gewerbe-
kammern, die Bildung von Abtheilungen für einzelne oder meh-
rere Orte des Bezirks, oder für einzelne Gewerbegruppen, die
Bestimmung über die Zahl der Mitglieder der Kammer bezw. der
angeordneten Abtheilungen derselben, erfolgt nach Erhebung der
in den betheiligten Kreisen bestehenden Wünsche durch Ver-
fügung des Ministeriums des Innern. Nähere Bestimmungen über
die Einrichtung der Abtheilungen und über das Verhältniss der-
selben zur Kammer, als deren Organe sie zu dienen haben, werden
durch Satzung der Letzteren mit Zustimmung des Ministeriums
getroffen. § 4. Die Mitglieder der Gewerbekammer werden in
geheimer Abstimmung durch einfache Stimmenmehrheit von den
selbständigen Gewerbetreibenden des Kammerbezirks gewählt,
welche 1. bewegliche Sachen für Andere handwerksmässig her-
stellen, bearbeiten oder verarbeiten und zur Gewerbesteuer nicht
oder mit weniger als 10 000 M. veranlagt sind; 2. bei Nichtzu-
treffen der vorstehenden Bestimmungen ihre Aufnahme in die
Wählerliste selbst beantragen. Das Wahlverfahren wird durch
Verordnung geregelt.“ §5, zweiter Absatz soll lauten: „Auf das
Wahlrecht können verzichten diejenigen Gewerbetreibenden,
welche nicht zur Gewerbesteuer veranlagt sind und auch kein
steuerbares Einkommen aus Gewerbebetrieb haben, das 700 M.
oder mehr beträgt“, sowie als Absatz 3: „Frauenspersonen, welche
ein in der Regel nur von solchen betriebenes Gewerbe ausüben.“
§ 6, zweiter Absatz soll eingefügt werden: „Ausgenommen sind
die nach § 4 Ziffer 2 freiwillig' den Wahlberechtigten der Ge-
werbekammer beigetretenen Gewerbetreibenden. § 7. Wählbar
zum Mitglied einer Gewerbekammer sind die nach dem § 4 in
Verbindung mit dem § 5 wahlberechtigten Gewerbetreibenden,
wenn sie das 25. Lebensjahr zurückgelegt haben und im Kammer-
bezirk wohnen Doch können bei Erfüllung der sonstigen Vor-
aussetzungen auch solche Personen gewählt werden, welche
früher ein selbständiges Gewerbe betrieben haben. § 8 Die
Kammermitglieder verwalten ihr Amt als ein Ehrenamt, doch
erhalten sie für ihre Auslagen bei Dienstreisen eine angemessene
Entschädigung. Die Wahl derselben erfolgt auf 6 Jahre, alle 3
Jahre scheidet die Hälfte der Mitglieder aus. Die Austretenden
sind sofort wieder wählbar. Wenn innerhalb einer Wahlperiode
einzelne Stellen in der Kammer durch Tod, Verlust der Wähl-
barkeit, freiwilligen Austritt oder in Folge von Ablehnung einer
Wahl nach beendigtem Wahlverfahren erledigt werden, so werden
sie durch Wahl der Kammer für den Rest der Wahlperiode be-
setzt. § 9. Die Gewerbekammer wählt aus ihrer Mitte je für 3
Jahre einen Vorsitzenden und dessen Stellvertreter. Scheidet
einer derselben früher aus. so erfolgt für den Rest seiner Amts-
dauer eine Ersatzwahl. Die Gewerbekammer bestellt ferner einen
Schriftführer (Sekretär) und einen Kassenführer.“ §§ 12 und 13
(Kassenwesen), § 14 (Verbindung der Gewerbekammer mit einer
Handelskammer) und i(§ 15 und 16 (allgemeine Bestimmungen)
unverändert nach der Regierungsvorlage.
Damit ist der Regierungsentwurf ohne wesentliclie
Verbesserungen und mit allen seinen Lücken und Halbheiten
zum Gesetz geworden. Die badischen Gewerbekammern
werden nur fakultative Einrichtungen sein, die zwischen
Innungen und freien Vereinen herumschwanken, sehr geringe
Befugnisse haben, nicht einmal zu bestimmten Fragen von
der Regierung gehört werden müssen, durch eventuelle
Verbindung mit dem Grossgewerbe und Handel für die
ohnedies schwachen Handwerker wenig Interesse haben,
eines ständigen Bureaus und guter Hilfskräfte entbehren,
also auch für die Statistik wenig leisten können, und ausser-
dem reine Unternehmervertretungen ohne Berücksichtigung
der Gehilfen sein sollen. Eine grössere Zahl von Mängeln
kann man kaum in einem Gesetze zusammenhäufen.
Schweizerisches Gewerbegesetz. Seit ca. 10 Jahren
wird in der Schweiz die Nothwendigkeit des Erlasses eines
Gewerbegesetzes diskutirt. Die Frage der korporativen
Gliederung und die Stellung der kleinen Betriebe zum
1 Fabrikgesetz bilden die Hauptpunkte der Erörterung.
Die am 12. Juni stattfindende Delegirtenversammlung der
schweizerischen Gewerbevereine wird sich wieder mit
diesen Fragen befassen. Der Central Vorstand wird An-
träge vorlegen, welche davon ausgehen, dass die Aus-
dehnung des Fabrikgesetzes auf Handwerk und Klein-
gewerbe bereits die zulässige Grenze überschritten habe
und zur Regelung der weiteren Verhältnisse ein Gewerbe-
gesetz nöthig sei. Von einem solchen Gewerbegesetz
erwartet der Gewerbeverein die staatlich geregelte und
geschützte Organisation des Gewerbestandes in Berufs-
genossenschaften und Genossenschaftskammern, die für
alle Genossenschafter bindende Beschlüsse zu fassen das
Recht haben sollen.
Zu der Frage eines schweizerischen Gewerbegesetzes
hat nun auch eine Versammlung des Vereins schweize-
rischer Buchdruckereibesitzer Stellung genommen. Die-
selbe erklärte:
1 . Die Schaffung eines schweizerischen Gewerbegesetzes
ist ein dringendes Bedürfniss. 2. Durch dieses Gesetz ist
die Bildung obligatorischer Berufsgenossenschaften zu er-
möglichen. 3. Es soll jedem Gewerbe freigestellt sein, sich
als obligatorische Berufsgenossenschaft zu organisiren und
den Befähigungsnachweis für neu hinzukommende Arbeit-
geber und Arbeitnehmer einzuführen. 4. Ueber die Organi-
sation seiner Gewerbeverfassung entscheidet jedes Gewerbe
selbst, vorbehaltlich Genehmigung durch den Bundesrath.
5. Das allgemeine schweizerische Gewerbegesetz hat blos
die Grundsätze festzusetzen, nach welchen die gewerblichen
Verfassungskammern zu wählen sind. 6. Vom Bundesrathe
genehmigte Verordnungen der obligatorischen Gewerbe-
genossenschaften haben Gesetzeskraft. 7. Als obligatorische
Genossenschaften organisirte Gewerbe haben die Fürsorge
für die arbeitslosen Gewerbegenossen zu übernehmen.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Die Sonntagsruhe im Handelsgewerbe.
Am 1. Juli d. J. sollen die Bestimmungen der Ge-
werbeordnungsnovelle über die Sonntagsruhe der Handlungs-
gehilfen in Kraft treten. Bekanntlich dürfen nach diesen
Bestimmungen Handlungsgehilfen an Sonn- und Feier-
tagen nicht länger als fünf Stunden beschäftigt werden.
Durch statutarische Bestimmung einer Gemeinde kann je-
doch die Beschäftigung für alle oder einzelne Zweige des
Handelsgewerbes auf kürzere Zeit eingeschränkt oder ganz
untersagt werden. Die Stunden, während welcher die Be-
schäftigung stattfinden darf, werden unter Berücksichtigung
der für den öffentlichen Gottesdienst bestimmten Zeit, durch
die Gemeinde- bezw. Polizeibehörde festgesetzt. Für Ge-
werbe, deren vollständige oder theilweise Ausübung an
Sonn- und Festtagen zur Befriedigung täglicher oder an
diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse der
Bevölkerung erforderlich ist, können Ausnahmen zugelassen
werden. Zu diesen Gewerben gehören vor Allem Fleischer-,
Bäcker-, Cigarren- und Blumengeschäfte.
In den Verhandlungen des Reichstages wurde bei Be-
rathung der betreffenden Paragraphen ein Unterschied
zwischen kleinen und grossen Städten gemacht. Es wurde
angeführt, dass die Geschäftsleute der kleineren Städte
durch die vorgeschlagenen Massregeln schwer geschädigt
werden würden, weil die Landbevölkerung gerade am Sonn-
tage nach dem Gottesdienste ihre Einkäufe zu machen
pflege, und man glaubte daher, das Offenhalten der Läden
auch für einen Theil des Nachmittags freigeben zu müssen.
Aber man bedachte dabei nicht, dass, soweit es sich um
den Einkauf nothwendiger Waaren handelt, dieser auch vor
dem Gottesdienste erfolgen kann, und dass der Gottesdienst
im allgemeinen schon um 1 1 Uhr, in vielen katholischen
Geg-enden auch schon früher schliesst. Handelt es sich aber
um den Einkauf nicht nothwendiger Waaren, zu dem die
ländliche Bevölkerung bei längerem Verweilen in der Stadt
durch häufig nicht ganz zu billigende Mittel angereizt
278
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 22.
wird, .so kann die Beschränkung der Verkaufszeit vielleicht
eher als eine wirthschaftspolitisch weise Massregel be-
zeichnet werden. Vor allem aber ist in Betracht zu
ziehen, dass das Verbot des Offenhaltens von Verkaufs-
läden über eine bestimmte Zeit hinaus lediglich im
Interesse der Angestellten beabsichtigt worden ist. Ohne
Zweifel würde sich das Publikum an die neue Regelung in
gar nicht zu langer Zeit gewöhnen Noch ist das Ergeb-
niss nicht bekannt, welches die Ermittelungen der Behörden
in den kleineren Städten über diesen Punkt gehabt haben,
aber es muss noch einmal mit aller Schärfe darauf hinge-
wiesen werden, wie nothwendig die Sonntagsruhe auch für
die Handlungsgehilfen ist, die in kleineren Ortschaften in
der Regel während der Woche eine längere Arbeitszeit
haben als in grösseren.
Für die letzteren ist die Frage eine noch brennendere
als für die ersteren, da in den grossen Städten an die
Arbeitsleistung der Handlungsgehilfen während der Woche
erheblich höhere Anforderungen gestellt werden als in den
kleineren. Eine geringe Anzahl grosser Städte ist nun be-
reits mit der Regelung der Sonntagsruhe vorgegangen und
zwar ganz richtig in der Weise, dass eine Beschäftigung
nur bis zum Beginn des Frühgottesdienstes stattfinden darf.
Aber für die meisten grossen Städte steht die Entscheidung
bislang noch aus. Der berliner Magistrat z. B. will zunächst
an der fünfstündigen Arbeitszeit festhalten, so dass der
Schluss der Geschäfte, da der Gottesdienst auf die Zeit
von 8—10 Uhr fällt, etwa um 2 Uhr erfolgen würde. Zwar
hat er sich an die kirchliche Behörde mit dem Ersuchen
gewandt, den Gottesdienst auf 1 1 Uhr zu verlegen, um
dann den Schluss auf diese Zeit anberaumen zu können. Aber
ob die Kirchenbehörde diesem Ersuchen stattgeben wird,
ist mehr als zweifelhaft. Und nun fragt es sich: Ist für
grosse Städte und ist insbesondere für Berlin das Often-
halten der Läden bis in den Nachmittag hinein nöthig?
Darauf können wir auf Grund der thatsächlichen, jetzt be-
stehenden Verhältnisse mit „Nein“ antworten.
Eine Enquete, welche der Vorsitzende des „Kauf-
männischen und gewerblichen Hilfsvereins für weibliche
Angestellte in Berlin“ unter dessen Mitgliedern über ihre
Lage ') veranstaltet hat, ergiebt in Hinsicht auf diesen
Punkt folgendes: Es wurden etwa 1800 Fragebogen
versandt, von denen gegen 1000 ganz oder theilweise
ausgefüllt zurückkamen Die Frage über die Sonntags-
arbeit haben 915 Mitglieder beantwortet. Davon sind be-
schäftigt: an keinem Sonntag 329, nur an den Sonntagen
vor Weihnachten 25, nur in der Saison, in einzelnen
Sommer- und Wintermonaten 51, nur „zuweilen, selten, hin
und wieder“ 62, jeden 3. 5. Sonntag 35 bei einer durch-
schnittlichen Arbeitszeit von 3 Stunden, jeden 2. Sonntag
139 bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 31/., Stunden,
jeden Sonntag 243 bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit
von 4 Stunden. Es haben nur jeden 3. Sonntag frei 9 bei
einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 3 Stunden; jeden
2. Sonntag haben l/2 Tag frei 10.
Wenn hier auch nur ein verhältnissmässig sehr kleiner
Theil von den Handlungsgehilfinnen Berlins vertreten ist,
so lassen die Ergebnisse aus obigen Zahlen doch immerhin
einen Schluss auf die bisherige Gestaltung der Sonntags-
ruhe im Berliner Handelsgewerbe zu. Denn einmal sind
fast alle Arten des kaufmännischen Betriebes hier vertreten,
und sodann sind die Verhältnisse bezüglich der Sonntags-
arbeit erfahrungsgemäss gerade in den Geschäften am un-
günstigsten, in welchen weibliches Personal thätig ist. Aus
der angeführten Tabelle ergiebt sich nun, dass mehr als
ein Drittel völlige Sonntagsruhe hat, und rechnet man noch
die nächsten drei Kategorien hinzu, so zeigt sich, dass mehr
als die Hälfte keine oder doch nur immerhin ausnahms-
weise Sonntagsarbeit hat. Die Arbeitszeit für die übrige
Hälfte beträgt aber höchstens durchschnittlich 4 Stunden.
Diese Durchschnittssumme ist jedoch wesentlich beeinflusst
worden durch einige Angestellte, welche am Sonntag den
ganzen Tag hindurch arbeiten müssen. Jedenfalls zeigen
die Zahlen, dass es nicht auf unüberwindliche Schwierig-
keiten stossen würde, wenn allgemein die Beschäftigungs-
dauer bis 10 Uhr Morgens festgesetzt würde. Wir be-
merken hierbei, dass sich unter denen, welche jeden Sonn-
tag frei haben oder nur selten an diesen Tagen beschäftigt
werden, nicht etwa hauptsächlich Kontorpersonal, sondern
im Gegentheil Verkäuferinnen, Expedientinnen u. s. w. be-
finden.
Allerdings zeigt die Enquete auch unerfreuliche Ver-
hältnisse. Unter denjenigen nämlich, welche Sonntag die-
selbe Arbeitszeit haben wie an Wochentagen, befinden sich
in der Mehrzahl Verkäuferinnen in Butter- und Fleischer-
geschäften sowie in Bäckereien. Für diese Gewerbearten
sollen aber Ausnahmen von den allgemeinen Bestimmungen
über Sonntagsarbeit zulässig sein, und die Behörden einiger
grosser Städte, z. B. Berlins, gehen damit um, von diesen
Befugnissen weitgehendsten Gebrauch zu machen, angeb-
lich im Interesse des konsumirenden Publikums. Damit
würden viele tausend Gehilfinnen denn die angeführten
Gewerbearten beschäftigen fast ausschliesslich weibliches
Personal — der Wohlthat des Gesetzes verlustig gehen.
Das wäre um so mehr zu beklagen, als die Arbeitszeit
dieser Personen in den Wochentagen auch schon eine bei
Weitem längere ist als die anderer Verkäuferinnen. Die
Regel ist hier eine Arbeitszeit von 6—10 Uhr, also 16 Stunden,
und die meisten haben keine Tischzeit' . Auch sonst sind
die Verhältnisse dieser Personen keine besonders günstigen.
Das Gehalt schwankt zwischen 15 — 25 M. bei freier Station.
Soll hier Alles beim Alten bleiben? Gerade hier liegt ein
dringendes Bedürfniss vor, eine zu weitgehende Ausbeutung
der Arbeitskraft zu verhindern. Nur in einigen wenigen
Geschäften findet eine Abwechselung der Verkäuferinnen
in der Sonntagsarbeit statt, in der überwiegenden Anzahl
der Butter-, Schlächter- und Bäckerläden giebt es keinen
freien Sonntag für die Angestellten.
Liegt aber auch wirklich ein Interesse des „Publikums“
für das Offenhalten der Läden am Sonntag Nachmittag vor?
Die Arbeiterschaft bildet doch wohl eine sehr stattliche
Mehrheit dieses Publikums, und die Arbeiterschaft würde
wohl ihren Kollegen im Kaufmannsgewerbe den freien
halben Sonntag gönnen und auf eine Bequemlichkeit leicht
verzichten. Das übrige Publikum würde sich aber daran
gewöhnen müssen, wie es sich in anderen Staaten daran
gewöhnt hat, ohne zu verhungern oder sogar die Ein-
schränkung überhaupt nur zu empfinden. Wollte man aber
Bäckern, Schlächtern, Butterhändlern eine besondere Gunst
erweisen, indem man sie von der allgemeinen Regel aus-
nimmt, so würden vielleicht andere Geschäfte dadurch ge-
schädigt. In den grossen Städten giebt es auch sogenannte
gemischte Geschäfte, z. B. Delikatessgeschäfte, die doch
nicht zum täglichen Leben durchaus notlnvendige V aaren
feilhalten, oder die kleinen Keller, in denen Gemüse, Obst,
Petroleum Brod und Wurst verkauft wird. Verbietet man
diesen das Offenhalten des Ladens, so schädigt man sie zu
Gunsten der Bäcker, Fleischer und Butterhändler. Diese
Schädigung wird um so empfindlicher, als es sich z. ß. bei
den Kellerinhabern um kleine Leute handelt, bei denen die
arme Bevölkerung die Einkäufe zu machen pflegt. Also
auch von diesem Standpunkte aus ist es erwünscht, dass
möglichst wenig Ausnahmen gemacht werden. Man will
auch für die Cigarrenläden eine Ausnahme statuiren. Dass
eine solche Massnahme ganz ungerechtfertigt wäre, braucht
nicht erst bewiesen zu werden. Cigarren sind kein unum-
gänglich nothwendiges Bedürfniss, dessen Anschaffung jeder-
zeit ermöglicht werden muss. Die Verkäufer in den Cigarren-
geschäften stehen hinsichtlich der Arbeitszeit auf der gleichen
Stufe mit den Verkäuferinnen in Butter-, Bäcker- und
Fleischerläden. Glaubt man für diese Gewerbearten eine
besondere Ausnahme nöthig zu haben, so würde es vollauf
') Die gesammten Ergebnisse dieser Enquete sollen später
in einer Broschüre veröffentlicht werden. Die folgenden Zahlen
sind mir von dem Vorsitzenden gütigst zur Verfügung gestellt.
l) Da nur von wenigen Personen der bezeichneten Gewerbe
in der Enquete Angaben gemacht worden sind, so sind die letzte-
ren durch private Ermittelungen des Verfassers ergänzt worden.
No. 22,
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
279
genügen, das Offenhalten der Läden bis 3 Uhr Nachmittag
7.u gestatten. Eine Bestimmung, wonacli die erste Hälfte
des Nachmittags frei bleiben soll, während in der zweiten
Hälfte eine Beschäftigung der Gehilfen erlaubt wäre, würde
gar keinen Sinn haben.
Berlin. * J. Silber mann.
Ein internationaler Kongress für Sonntagsfeier fand
in Stuttgart vom 18. — 20. Mai statt. Auf der Tagesordnung
standen folgende Punkte: Die Bedeutung der Sonntagsruhe
für die leiblichen, geistigen und gesellschaftlichen Bedürf-
nisse des Menschen; Bericht des geschäftsführenden inter-
nationalen Komitees für Sonntagsfeier in Genf; die Be-
deutung der Sonntagsheiligung für den Einzelnen, für das
Familien- und das Volksleben; die Sonntagserholungen;
die Sonntagsruhe und die öffentlichen Verkehrsanslalten
(Eisenbahnen, Posten, Telegraphen u. s. w.); die Sonntags-
ruhe in der Industrie, im Handel und im Ackerbau; die
Pflichten der Staats- und Gemeindebehörden gegenüber der
Sonntagsfrage; die Fortbildungsschule und der Sonntag;
die Pflichten der christlichen Kirchen gegenüber der
Sonntagsfrage.
Die Kongresstheilnehmer waren überwiegend Reichs-
angehörige, ausserdem waren Schweizer, Dänen und Fran-
zosen anwesend. Evangelische Geistliche bildeten die
Mehrzahl der Theilnehmer, auch einige Aerzte und höhere
Verwaltungsbeamte nahmen an den Verhandlungen Theil.
Einstimmig wurde folgende Resolution angenommen:
„1. Zur Erhaltung der Gesundheit und Kraft des
Körpers und Geistes ist im Allgemeinen ein wöchentlicher
ganzer Ruhetag nothwendig. 2. Der V ortheil dieses Ruhe-
tages wird nur dann für den Einzelnen, wie für die Gesell-
schaft ein möglichst grosser sein, wenn er für Alle gleich-
zeitig ist. 3. Die beste Anwendung des Ruhetages besteht
in einer theils erhebenden, theils angenehmen Beschäfti-
gung des Geistes, in der Pflege des Familienlebens, im
Aufenthalt in frischer Luft. Dagegen ist zu warnen vor
dem übermässigen Genuss geistiger Getränke und vor auf-
regenden, verflachenden Vergnügungen.“
Ausserdem wurden entsprechende Thesen über die
Sonntagsfeier vom religiösen Standpunkte angenommen.
Man beschloss, die Generaldirektion der Chicagoer Aus-
stellung zu bitten, die Ausstellung an Sonntagen geschlossen
zu halten. Ein Antrag des Pastor Dalhof (Kopenhagen) wo-
nach an Sonntagen der Ausschank geistiger Getränke ver-
boten werden solle, wurde angenommen. Pfarrer Weber-
München-Gladbach betonte namentlich das traurige Loos
der Post-, Eisenbahn- und Telegraphenbeamten und ver-
langte ferner Befreiung der Kellner und Kellnerinnen
vom Sonntagsdienst. Es wurde beschlossen die Kirchen-
behörden und Geistlichen für die Sonntagsruhe zu inter-
essiren. Pfarrer Kayser-Frankfurt a. M. sprach in gemässig-
ter Form über Sonntagserholungen; er will auch den
Genuss von Bier und Cigarren nicht versagen
Pfarrer Weber dagegen plaidirt für die Schliessung
der Museen am Sonntage, für den „Sonntag der
Kellner und Kellnerinnen“, für das Verbot der Bälle am
Samstag und Sonntag, für Aufhebung der Tingeltangel.
Finanzrath a. D. ~ Klaiber-Stuttgart referirte über die
Sonntagsruhe bei den öffentlichen Verkehrsanstalten. Be-
züglich des Eisenbahnverkehrs sei zu erstreben: Einstellung
von Vergnügungs- und Extrazügen, Wegfallen der Preis-
ermässigungen für den Personenverkehr. Die Annahme
und Abgabe von Frachtgütern, sowie Beförderung von
solchen habe zu unterbleiben (ausgenommen seien lebende
Thiere und leicht verwesende Gegenstände). Den Ange-
stellten sollen mindestens 17 dienstfreie Sonn- und Festtage,
ohne die sonst zu beanspruchenden dienstfreien Werktage
gewährt werden u. s. w. Den Forderungen des Redners
trat v. Nördling-Paris entgegen, weil sie auf internationale
Verhältnisse keine Anwendung finden können.
Mit geistlichen Liedern und einer Ansprache des Hof-
predigers a. D. Stöcker wurde der Kongress geschlossen.
Sonntagsruhe der preussischen Staatsbahnarbeiter.
Die preussische Staatsbahnverwaltung sucht die Sonntags-
arbeit auf ihren Strecken, wie schon früher mitgetheilt
(vgl. No. 17 des „Sozialpolitischen Centralblatts“) weiter
einzuschränken. So wird aus dem Mittelpunkt des thürin-
gischen Eisenbahnverkehrs, aus Gera gemeldet, dass von
15 Güterzügen dort seit dem 1. Mai nur noch vier ver-
kehren. Uebelstände und Schwierigkeiten haben sich im
Güterverkehr nicht herausgestellt. Sollten sich die Nach-
barbahnen anschliessen, so dürfte zu erwarten sein, dass
der Güterverkehr an Sonn- und Festtagen überhaupt ruht.
Gewerbeinspektion.
Unfallverhütung und Gewerbeinspektion in Ungarn.
In dem letzten Berichte über die Thätigkeit des von
ihm geleiteten ungarischen Handelsministeriums stellte der
kürzlich verstorbene ungarische Handelsminister mehrere
sozialpolitische Vorlagen in Aussicht1) und zwar die Ver-
mehrung der gewerblichen Aufsichtsorgane, die gesetzliche
Regelung der Gewerbeinspektion, die obligatorische An-
meldung von Unfällen und ein Unfallversicherungsgesetz.
In Verbindung mit dem Budget für das Jahr 1892
wurde die Vermehrung der Gewerbeinspektoren gefordert,
ausserdem ging dem ungarischen Abgeordnetenhause ein
vom 21 . April d. J. datirter „Gesetzentwurf über den Schutz
der gewerblichen und Fabrikangestellten gegen Unfälle und
über die Gewerbeinspektoren“2) zu. Somit hat der ver-
storbene Handelsminister, abgesehen von dem Unfallver-
sicherungsgesetzentwurfe, sein Versprechen voll eingelöst.
Das Bedürfniss nach einer gesetzlichen Regelung der
Gewerbeinspektion und der Unfallverhütung ist in Ungarn
ein dringendes, beruht doch die nach jeder Richtung durch-
aus unzulängliche ungarische Gewerbeinspektion lediglich
auf ministeriellen Verordnungen. Die Geschäfte der Ge-
werbeinspektion werden von Staatsbeamten im Nebenamte
versehen, und so war es den Inspektoren im Jahre 1890,
dem letzten, aus dem ein Bericht vorliegt, nicht möglich,
sämmtliche Fabriken und grössere Industrie-Etablissements
des Landes zu untersuchen: nur in 7 der 15 ungarischen
Handels- und Gewerbekammerbezirke wurden Inspektionen
vorgenommen, und nur in 4 dieser Kammerbezirke wurden
alle bezw. der grösste Theil der Fabriken von den Inspek-
toren besucht.
Ebenso wie die Inspektion war auch die Unfallspolizei
durchaus ungenügend. Aus dem citirten Berichte geht
hervor, dass die meisten Unfälle verheimlicht werden und
dass die gesetzlichen Handhaben — obligatorische Unfalls-
anzeige — zur Zusammenstellung einer Unfallstatistik fehlen.
o < . ~
Diesen Mängeln soll nun durch eine gesetzliche Reform
abgeholfen werden. Der zu diesem Zwecke kürzlich ein-
gebrachte Gesetzentwurf ist in folgende vier Kapitel ein-
getheSt: I. Ueber die Vermeidung von Unfällen und über
die zum Schutze des Lebens, der körperlichen Unversehrt-
heit und Gesundheit der Angestellten nothwendigen Ver-
fügungen, II. Ueber die Gewerbeinspektoren, III. Von den
Uebertretungen, deren Bestrafungen und den amtshandeln-
den Personen, IV. Schlussbestimmungen. Letztere beziehen
sich lediglich auf die Anwendung des Gesetzes auf Kroatien-
Slavonien und auf das Inkrafttreten des Gesetzes. Das
III. Kapitel werden wir im Zusammenhänge mit dem I. und
II. behandeln.
Das 1. Kapitel enthält die Bestimmungen über die
Unfallsverhütung im weiteren Sinne und über die obliga-
torische Unfallsanzeige. Diese beiden Bestimmungen seien
hier im Wortlaute wiedergegeben. § 1, al. I des Gesetz-
entwurfes lautet:
Der Arbeitgeber ist verpflichtet, bei jeder Industrieanlage
all das zu schaffen und aufrechtzuerhalten, was mit Rücksicht
!) Wirksamkeit des königl. -Ungar. Handelsministers im
Jahre 1890, Redigirt von Dr. K. Mandello, S 387 fg. u 45 lg. Siehe
auch Sozialpolitisches Centralblatt S. 182 fg : Die Berichte der
ungarischen Fabrikinspektoren.
a) Eine deutsche Uebersetzung dieses Gesetzentwurfes
publizirt der „Fester Lloyd“ in seiner Abendausgabe vom 23.
und in seiner Morgenausgabe vom 24. April.
280
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 22.
auf die Art der Anlage und des Betriebes und den Erfordernissen
derselben entsprechend im Interesse des Schutzes des Lebens,
der körperlichen Unversehrtheit und Gesundheit der Angestellten
nothwendig ist.
Hierauf folgt (Absatz a bis i) die Aufzählung der
einzelnen Einrichtungen, zu denen die Unternehmer speziell
verpflichtet werden.
§ 7 lautet:
Der Arbeitgeber ist verpflichtet, jeden in dem Industrie-
etablissement vorgekommenen Unfall, welcher die Verletzung
eines oder mehrerer Angestellten nach sich gezogen hat, inner-
halb 48 Stunden nach dem Unfall dem kompetenten Gewerbe-
inspektor anzumelden.
Die Bestimmung des § 1 , al. 1 ist einwandfrei, dagegen
hätte man bei der Anführung der speziellen Verpflichtungen
eine präzisere Sprache anwenden sollen, wenn auch zuge-
standen werden kann, dass dies bei der Mannigfaltigkeit der
gewerblichen Betriebe und der verschiedenartigen Erforder-
nisse zur Unfallverhütung in denselben nicht leicht möglich
ist. In einzelnen Fällen hätte aber die allgemeine, jede
Auslegung zulassende Textirung unschwer vermieden werden
können, so z. B. im § 1 g der von der Ventilation handelt.
Hier wird die Zuführung eines „genügenden“ Luftquantums
gefordert, obgleich auf Grund der wissenschaftlichen Er-
gebnisse und der praktischen Erprobung ein Luftquantum
pro Kopf der im betreffenden Raume thätigen Personen
und eine bestimmte Zahl von Lufterneuerungen entsprechend
der Arbeitszeit als Minimum durch das Gesetz hätte ge-
fordert werden können. Wenn eine solche Bestimmung
naturgemäss auch bei alten Fabrikanlagen auf Schwierig-
keiten der Durchführung stossen würde, so böte sie doch
den Vortheil, dass Neu- und Umbauten von Fabriken
nur unter Berücksichtigung dieser Bestimmungen vorge-
nommen werden könnten. Den unteren Gewerbebehörden,
in Ungarn fast ausnahmslos Organe der Selbstverwaltung,
ist leider in der Hauptsache die Sorge für die Durchführung
dieser Bestimmungen überlassen worden. Eine Reihe von
Geldstrafen (50 fl., 100 fl. und höchstens 300 fl.) werden als
Zwangsmassregeln im Gesetze festgesetzt. Wir glauben,
dass hier, wo es sich um Schutz des Lebens und der Ge-
sundheit der Arbeiter handelt, wenigstens für wiederholte
Uebertretungen Haftstrafen am Platze gewesen wären. In
dem Gesetzentwürfe vermissen wir auch die Bestimmung,
dass die Gewerbebehörden die nothwendigen Unfallver-
hütungseinrichtungen auf Kosten des Unternehmers im
Falle der Widersetzlichkeit desselben vornehmen dürfen
bezw. müssen. Eine derartige Bestimmung würde schon
als Drohung die Durchführung der erforderlichen Einrich-
tungen zum Zwecke der LTnfallverhütung garantiren.
Die Bestimmung betreffend die Unfallverhütung hat
vor ähnlichen Bestimmungen in anderen Ländern den Vor-
zug, dass die Anzeige direkt an den kompetenten Gewerbe-
inspektor zu gelangen hat und nicht erst demselben auf
dem Instanzenwege verspätet zukommt. Im Interesse einer
erfolgreichen Untersuchung des Unfalles und einer nicht
blos auf die Summirung und topographische Vertheilung
der Unfälle sich erstreckenden Statistik sollten genaue Dar-
stellung der Ursachen und begleitende Umstände des LTn-
falles gefordert werden und die Unternehmer zur genauen
Angabe aller Zeugen des Unfalles verpflichtet werden.
Der umfangreichste Theil des Gesetzentwurfes
(Kapitel I) regelt die V erhältnisse der Gewerbeinspektoren,
aber nicht vollkommen, so enthält er keine Bestimmungen
über die Rangklasse der Beamten, über ihre Crehalte1),
Reisediäten über eventuell ihnen zur Verfügung stehendes
Kanzleipersonal, über den Termin, an dem sie ihre
Berichte einzuliefern haben u. a. m. Ein Centralgewerbe-
inspektor oder regelmässige Konferenzen der Inspektoren
zum Zwecke der einheitlichen Handhabung ihres Dienstes
sind im Gesetze nicht vorgesehen. Es wird lediglich
bestimmt , dass die Inspektoren dem Handelsminister
untergeordnet sind. In Bezug auf die Ernennung der Be-
amten hat sich der Handelsminister freie Hand gelassen,
') Diese sollen im Budget festgestellt werden.
indem der Entwurf bestimmt, dass neben Personen mit
akademischer und polytechnischer Vorbildung auch die-
jenigen zu Gewerbeinspektoren ernannt werden können,
die „auf Grund ihrer früheren Thätigkeit zu der Voraus-
setzung berechtigen, dass sie im Stande sein werden, den
in diesem Gesetze vorgeschriebenen Verpflichtungen zu
entsprechen,“ somit wird kein gesetzliches Hinderniss im
Wege stehen, Aerzte, Frauen, Arbeiter u. s. w. zu Ge-
werbeinspektoren zu ernennen. Der Handelsminister behält
sich vor, mit einzelnen Arbeiten der Gewerbeinspektion
die Centralorgane seines Ministeriums oder auch andere
Fachmänner zu betrauen.
Neben der Gewerbeinspektion im engeren Sinne haben
die Inspektoren an den „Industrie-Entwicklungsagenden“
mitzuwirken und in allen gewerblichen Angelegenheiten
vorzugehen, mit welchen, sei es ein besonderes Gesetz, sei
es eine Verordnung, die Gewerbeinspektoren betrauen wer-
den. In dieser Bestimmung scheint uns die Hauptschwäche
des Entwurfes zu liegen. Die merkantilistische Politik der
Industrieentwicklung und die sozialpolitische Thätigkeit der
Gewerbeinspektion mögen wohl in einem Lande neben-
einander gehen können, nimmermehr können aber mit
beiden gleichzeitig dieselben Personen betraut werden.
Die Politik der Industrieentwicklung bezweckt die Förde-
rung der Unternehmerinteressen, die Aufgabe der Ge-
werbeinspektoren besteht in der Wahrung der gewerbe-
gesetzlich gewährleisteten Arbeiterinteressen. Das da ein
Pflichtenstreit häufig entstehen kann und wird, ist ebenso
zweifellos wie die Wahrscheinlichkeit, dass die Inspektoren
im Geiste der ungarischen Gewerbepolitik in einem solchen
Pflichtstreite eher die Unternehmer-, als die Arbeiterinter-
essen wahrnehmen werden, verpflichtet sie doch der Ge-
setzentwurf, „die auf die unmittelbare Förderung der In-
dustrieentwicklung gerichteten Momente im Auge zu be-
halten.“ Die einzelnen in dem Entwürfe nach dieser Rich-
tung festgestellten Aufgaben der Gewerbeinspektoren
scheinen zwar die Thätigkeit der Inspektoren nicht stören
zu müssen, dagegen wird dies durch die allgemeine An-
weisung im Interesse der Industrieentwicklung thätig sein
zu sollen, unzweifelhaft herbeigeführt. Zum Mindesten
werden aber die Inspektoren durch diese ausser ihrem
eigentlichen Amtskreise liegenden Aufgaben von ihren
speziellen Berufspflichten abgezogen. Sind sie doch ins-
besonders verpflichtet:
,,a) Die in ihrem Bezirke befindlichen sämmtlichen
gewerblichen Lehrwerkstätten von Zeit zu Zeit zu unter-
suchen und die Thätigkeit derselben zu kontroliren; b) in
den niederen Gewerbe-(Lehrlings-)Schulen von Zeit zu Zeit
zu erscheinen und den Gang des Unterrichts zu kontro-
liren; c) auf die entsprechende Verwendung der den In-
dustrieunternehmungen gebotenen Unterstützung, sowie da-
rauf zu achten, ob von den der staatlichen Begünstigung
theilhaftigen Fabriken jene Bedingungen erfüllt werden, an
welche die staatlichen Begünstigungen gebunden wurden;
d) in den in Betreff der Entwicklung der Hausindustrie
ihnen übertragenen Agenden vorzugehen.“
In Bezug auf die Fabrikeninspektion werden die
Beamten verpflichtet, die Durchführung der Arbeiter-
schutzbestimmungen zu kontrolliren, „insbesonders“ für
die Unfallverhütung Sorge zu tragen und zu diesem
Zwecke die ihnen unterstellten Etablissements „wenigstens
einmal (im Jahre?) zu untersuchen“. Ihrer Beaufsichtigung
sind von besonderen Aufträgen des Ministers abgesehen,
unterstellt sämmtliche gewerbliche, land- und forstwirth-
schaftliche Motorenbetriebe, ferner alle gewerblichen Be-
triebe, welche regelmässig 20 und mehr Arbeiter beschäf-
tigen, ausserdem ohne Rücksicht auf die Zahl der Ange-
stellten und die Verwendung von Motoren 18 speziell durch
hohe Unfalls- und Erkrankungsgefahr ausgezeichnete Be-
triebsarten, deren Ergänzung bezw. Abänderung dem Ver-
ordnungswege Vorbehalten wird.
Die Fabriken des Staates so z. B. die der Tabakmono-
polverwaltung dürfen nur im Falle der ausdrücklichen Ge-
stattung seitens des Finanzministers inspizirt werden. Nach
dem, was über die Lohn- und sonstigen Verhältnisse in den
Ko. 22.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
281
ungarischen Tabakfabriken (s. Sozialpolitisches Centralblatt
No. 2, S. 21) in die Oeffentlichkeit gedrungen ist, können wir
die Scheu des ungarischen Finanzministeriums vor der Fabrik-
inspektion wohl begreifen, aber desto stärker erscheint die N oth-
wendigkeit, diese Zustände amtlich untersuchen zu lassen.
Eine derartige Ausnahmestellung der Staatsbetriebe hindert
in hohem Masse die Durchführung des Gesetzes auch bei
den Privatbetrieben und muss Zwyeifel in Bezug auf den Ernst
der sozialpolitischen Absichten der Regierung entstehen lassen.
Den ungarischen Inspektoren sind keine exekutiven
Rechte eingeräumt, sie haben lediglich die Unternehmer
auf wahrgenommene Mängel aufmerksam zu machen, sind
ihnen gegenüber zu Anleitung und sacbgemässen Rath ver-
pflichtet, können aber nicht die Abstellung von Gesetz-
widrigkeiten oder Gefahren für die Arbeiter einfach an-
ordnen und direkt erzwingen; sie sind berechtigt, Lokal-
und Gewerbebehörden, behördliche Aerzte und Staatsbau-
ämter zur Unterstützung heranzuziehen.
Erfreulich ist, dass die ungarischen Gewerbeinspek-
toren zu sozialstatistischen Erhebungen verpflichtet sind.
Auch können sie mit schiedsgerichtlichen und anderen
friedlichen Beilegungen von Arbeitsstreitigkeiten betraut
weiden; bei der Verhandlung über genehmigungspflichtige
Anlagen haben sie mitzuwirken.
.So sehr der Gesetzentwurf nach mancher Richtung
verbesserungsfähig ist, so muss doch anerkannt werden,
dass gegenüber dem bisherigen Stande der sozialen Ver-
waltung in Ungarn mit demselben ein beachtenswerther
Schritt nach vorwärts gemacht würde. Dass er sobald ge-
macht wird, ist wegen des Todes seines energischen Ur-
hebers nicht anzunehmen.
Berlin. Adolf Braun.
Armenwesen.
Das Armenwesen der Stadt Berlin im Etatsjahr 1890/91.
Dem Berichte der städtischen Armenpflege für die Zeit vom
1. April 1890 bis 31. März 1891 (No. VIII des Verwaltungsberichts
des Magistrats zu Berlin,) entnehmen wir die folgenden Daten.
Die gesetzliche offene Armenpflege wurde von 234 (1889/90: 230)
Armenkommissionen ausgeübt; in denselben waren 2385 (1889/90:
2362) Personen thätig. Für das gesammte Armenwesen wurden
verausgabt 10 953 676,93 M. (1889/90: 9 759 039,24 M.), hiervon
durch Einnahmen gedeckt 1 757 620,44 M. ( 1889/90: 1 516 997,55 M.),
somit musste die Gemeinde Zuschüsse leisten in der Höhe von
9196056,49 M. (1889/90: 8242041,69 M.). Die Ausgaben stiegen
gegen das Vorjahr um 12,24%, die Einnahmen um 15,86% und
die Kommunalzuschüsse um 11,57%
Für die gesetzlich offene Armenpflege und die geschlossene
Armenpflege für körperlich Kranke wurden 5 164 763,23 M. ver-
ausgabt, von denen 4 678 945,48 M. durch Kommunalzuschüsse
gedeckt werden mussten; die Waisenverwaltung kostete
917 659,34 M. (Kommunalzuschuss 740 868,48 M.), das Arbeitshaus
in Rummelsburg 562 617,21 M. (Kommunalzuschuss 311 195,01 M.),
das städtische Obdach 144 432,72 M. (Kommunalzuschuss 136 050,17
Mark), die städtische Irren - Verpflegung und Idiotenanstalt
1 892 593,83 M. (Kommunalzuschuss 1 638 334,79 M.j, die städtischen
Einrichtungen für die öffentliche Gesundheitspflege und für
Heimstätten für Genesende 279 109,24 M. (Kommunalzuschuss
218 283,72 M.). Der Rest des Etats wurde für die städtischen
Krankenhäuser und Siechenanstalten verausgabt.
Die absoluten Ausgaben für Almosen, Pflegegeld und
Extraunterstützungen sind in ununterbrochener Steigerung be-
griffen. Sie betrugen 1887: 281 275 M.; 1888: 294405 M.; 1889:
307 355 M.; 1890: 329 125 M.; 1891: 345 600 M. Hingegen sank der
Antheil der Bevölkerung an den Unterstützungen ununterbrochen
von 1,81 11 o der mittleren Civilbevölkerung im Etatsjahre 1886/87
auf 1,72 n/n im Etatsjahre 1890/91. Laufend unterstützt wurden
monatlich durchschnittlich im Etatsjahre 1890/91: 19 087 (1889/90:
18409) Almosenempfänger und 7751 (1889/90 : 7840) Pflegekinder.
Der Geldbetrag der Unterstützung betrug monatlich für einen
Almosenempfänger 12,31 M. (1889/90: 12,08 M.) und für ein Pflege-
kind 5,98 M. U 889/90: 5,91 M.).
Nach der Almosenliste standen von den am 31. März 1891
vorhandenen 19 610 Almosenempfängern in einem Alter:
unter 20 Jahren . . 58 Personen, gleich 0,30%
von 20— 40 . . 880 „ „ 4,49%
über 40— 50 „ 1588 „ „ 8,10%
,, 50- 60 „ . 3112 „ „ 15,87 %
über 60 — 70 Jahren . .
„ 70- 80 ' „
„ 80- 90 „ . .
„ 90-100 „ . .
Nach Stand und Beruf
empfänger, von denen
5 1 19 männlichen und
14 491 weiblichen Geschlechts
waren, in folgende Klassen:
frühere Beamte und Lehrer . .
Künstler, Gelehrte, Litteraten .
handeltreibende Personen . . .
gewerbetreibende Personen . .
Handarbeiter . .
ohne Angabe des Standes . .
unverehelichte Frauenspersonen
Ehefrauen
separirte odereheverlassene Frauen
7417 Personen, gleich 37,82%
5568 „ „ 28,39 %
952 „ „ 4,85%
35 „ _ „ 0,18%.
sondern sich die 19 610 Almosen-
34
66
535
2246
2186
52
1981
222
796
Personen, gleich 0,17%
» „ 0,34»/
„ V 2,73 0/«
„ 11,450/J
„ „ 11,15%
„ 0,27 %
„ 10,10%
„ 1,13%
„ , 4,06°/
Wittwen 11492 ” ” 58’60"/“
Die Höhe der monatlichen Almosenunterstützung variirte
ganz ausserordentlich, zwischen den Sätzen von bis 3 M, welche
20 Personen (0.1 % der Almosenempfänger) und über 30 M,
welche 8 Personen (0,04%'' zugebilligt wurden. Die Mehrzahl
der unterstützten Personen (10 949 = 55,8%) erhielten ein monat-
liches Almosen in der Höhe von 9 — 15 M., ein geringeres als
dieses erhielten 5123 Personen (26,12%), ein höheres 3538 Per-
sonen (18,08%).
Für 5783 (72,08n/o) Pflegekinder wurden Beiträge in der Höhe
von je 6—6,50 M., für 1 680 (20,93%) niedrigere von 3—3,50 M.
und für 561 (6,99%) höhere bis über 10 M. bewilligt
Hinsichtlich der allgemeinen Ursachen der LTnterstützungs-
bedürftigkeit ergeben die Almosenlisten, dass von den 19 610
Almosenempfängern
11 101 oder 56,61 % wegen hohen Alters (über 65 Jahre)
6 029
2 480
30,74 7(1
12,65 %
unterstützt wurden.
andauernder Krankheit oder Siech-
thums und
nicht zureichenden Erwerbes oder
nicht genügender, beziehungsweise
mangelnder Erwerbsfähigkeit
Neu, beziehungsweise wieder aufgenommen wurden im
Jahre 1890 91 3 657 Älmosenempfänger und 2 596 Pflegekinder,
während aus der städtischen Armenpflege 2822 Almosenempfänger
und 2 508 Pflegekinder ausschieden.
Im Interesse der Armenkrankenpflege, welche für 59117
arme Kranke (18 °/o Männer, 53 % Frauen und 29% Kinder) zu
sorgen hatte, waren 63 besoldete und 34 unbesoldete Armenärzte
thätig Auf je 1 000 Civileinwohner kamen 38 Armenkranke
Aus den armenärztlichen Jahresberichten geht hervor, dass die
Wohnungen der Armenkranken im Ganzen besser geworden
sind. Die Neubauten, in denen die Armen allerdings oft die
Trockenwohner sind und der Fortschritt der Kanalisation tragen
dazu bei. Die Kellerwohnungen sind theils verschwunden, theils
besser geworden. Aber es sind auch noch viele neue kasernen-
artige Gebäude entstanden mit bis zu drei, oft kleinen engen,
Luft und Licht beeinträchtigenden Höfen. Man findet oft genug
noch Keller, besonders in alten Häusern, die zu tief liegen, um
Luft und Licht einlassen zu können, gemeinsame Korridore
(oft für 3 bis 4 Familien), die Wohnungen zumal des Nachts
mit Schlafleuten überladen und unsaubere Höfe. Schwere Klagen
über Gesundheitswidrigkeit bezw. Unsauberkeit kommen aus der
Sorauer, Oppelner, Memeler, Reichenberger Strasse, der Kreuz-
berg- und Gitschiner Strasse, aus der Wall-, Brandenburg-,
Wasserthorstrasse, ferner aus der Straussberger, Weber-, Schle-
gel-, Tieck-, Eichendorff- und Reinickendorfer Strasse. Selbst
m der Friedrichstadt finden sich, zumal in älteren Hinterhäusern,
noch vereinzelt Wohnungen, die keiner hygienischen Forderung
entsprechen. Geschlossen wurde je eine Kellerwohnung in der
Köpenicker und Demminer Strasse, ferner wurde auf ärztlichen
Antrag eine nasse, stockende Wohnung am Alexanderplatz
sofort geräumt.
Aus 60 Medizinalbezirken ist über die Höhenlage von
48 804 Wohnungen der Armenkranken berichtet worden. Danach
wohnten
im
Keller
6 348 Personen
mithin
13%,
55
Halbstock . . .
356
55
55
1
55
Erdgeschoss . .
5 829
5)
5?
12
55
I. Stock . . .
6611
55
)5
14 „,
55
II. „ ...
8 033
55
55
16
55
III. „
9 759
55
55
20 „,
55
IV. „ . .
10 956
55
55
22
55
V. „ . .
893
55
55
2
55
VI. „ ...
19
55
55
0 „•
Unter den Krankheiten kamen wie in den vorangegangenen
Jahren am meisten Krankheiten der Luftwege, besonders Lungen-
schwindsucht zur Behandlung. 141 Alkoholismen — 119 bei
Männern, 22 bei Frauen — wurden notirt. Die Zahl ist im Ver-
hältniss zur Zahl der Armenkranken, macht sie doch nur 2.39 %o
aus, eine erfreulicherweise geringe.
Verantwortlich fiir die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin. — Druck von II. S. Hermann in Berlin.
282
ANZEIGEN
No. 22.
SPHINX
l$imaföfd|ttft für Kerlen- unü (Seißesicbett.
ßentralorgan für beit Sbealtsmus in neuzeitlicher naturaliftifd)er Raffung.
jperanSgegebeti non
Hübbe - Schleiden,
Dr. J. U.
Sie ©pf)inj 3äf)lt ,]u itjren fötitarbeitern eine Stnjaljl ber elften, tbeal bcnfettbett unb
fdjciftftdlerifd) tote fixnftlerifct) leiftung&fäljigen grafte $eutfcf)Ianb§ unb Oefterrcicf)S, tote:
Sans Slrnolb, Dr. ©ugen ®ret)cr, 2lrtt)ur ft-ttger, Dr. tctugo ©oering, Prof. Dr.
ruft fallier, Dr. .öartmann, Äarl Ä'ieötoettcr, Dr. tHapb. Dort Äocber,
Dr Subtt). $uf)Ienbecf, Dr. uart bu sJ>rel, Üötll). Steffel, ^3. Ä. Stofegger, iötorik
ßarrtere, ©eorg ©berö, SKartiit ©reif, ©buarb o. ,?>artmann (mit 2lus>naf)nte ber
llnfterbtidifeitöfrage ), £>tto 0. Sfeijner, Hermann o. Singg, ©mit ^efctjfttu, 3utiuS
©tinbe, §ans o. SSotjogen.
3ebe§ 4t>eft enthält eine ober jmei fiinftlerifcfje ^Beilagen, 10030 u. 2t. tßrof. ©abriel SJtaj
feine 2Jtitioirtung jäefagt fjat.
2t bonnement 6 Mark oiermonattid) bei jeber 23ucl)f)aubluttg unb Sfloft, foioie bei
C. A. Schwetschke und Sohn,
SBerlagäbudjfjanblung in SBraunfdjtoetq.
II*“ g>robclK'ftc gratis !
.'öerbcr’fdje sl>erlaqol)anblung, ^reiburg im Üreidgou
Soeben ift erfd)ieueu unb burd] ade 23ud)()anblunqeu 311 belieben:
AVilrtC, £)ie beleuchtet burd) bie „Stimmen ait§ 9ftaria=8aad)". 8".
8. epef t: ^adtitlcr, 9J?. , S. J., ®ie Biete ber ©ocialbemofratie unb bie
liberalen $been. (IV u. 76 © ) 70 fßf.
4. *p e f t : ilcfjuifut)!, St., S. J., ®ie fociatc Stoff) unb ber fird)li(t)e ©inftuft.
(IV u. 80 ©.) 70 S)Sf. — früher ift erfdjienen:
1. .&eft: Wcpcr, St)., S. J., Sie 2(r6eiterfvage mib bie i1)riitlid>eti)i{(fien ©onalpriitcipien. (IV
u. 126 ©.) 3Jf. 1.
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Der Mangel einer Gesammtdarstellung des österreichischen Staatsrechtes hat (sich in den
letzten Jahren insbesondere in Folge einschneidender Umgestaltungen und Neubildungen auf dem
Gebiete des österreichischen Verwaltungsrechtes nicht nur in Kreisen der Studirenden, sondern
auch aller derjenigen, die am öffentlichen Leben theilnehmen, fühlbar gemacht. Es sei nur
darauf hingewiesen, dass seit den jüngsten Neuregelungen des Militärrechtes, des Gewerberechtes,
des Arbeiterschutzrechtes noch keine Gesammtdarstellung des österreichischen Staatsrechtes, welche
dieselben berücksichtigen würde, erschienen ist und dürfte daher obiges Werk den interessirenden
Kreisen gewiss willkommen sein.
©in berbreiteteS, billiges uttb
— Urirkjame« Jtnreiiions-Bv^an .
« „Der Daniuuetket“
roeil er atd
Crflait beö (£eittrals2ht£fcf)«ffe£ ber öereinißteit 3ktmmg&£§erb(tit&e
Sbeittf d)Ianb£
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30 fJ3f. 2tbonncmcntdpreiö 1,50 pro Quartal.
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Stetten = (^cfdlfri)aft „Pionier",
'Berlin SW., iTönigqvätjevftraj)e 70.
3m SJerlage ber „25ol!S=3eitung", 2tltien=
©efeüfd)aft, 23erlitt W., ift erfetjieuen:
|it JMerlitnn'giiiig
imö ©tgttiiifnttjn in pntl'dilanli.
2?on
Dr. Max Hirsch,
Jliuoalf ber ©eufldjctt ©etoerk-l^eretne,
Mifglirb bes Ketdisfages.
«Preiö 50 «Pf.
3u bejiefien burd) ölte 2)ud)tjcmb£ungen unb
burd) bie Grrpebitieu3=©tetten ber „2Solf§=3eitung".
9tacf) ©tnfenbung oott 50 ißf. in ©riefiunrfen erfolgt
bie 3llfenbimg ber 23rod)ure franco per Jloft burd)
bie ©.rpebitioneL ©teilen ber „23olfS = Bettung",
SBertin W., fironenftr. 46, unb Sütjoioftr. 105.
frei Canti
pdjenfdjrift ?nr lürömniö einer friemwien
§D|iatofürm.
©rgatt bes l&Euifdjen Bunbes für Boben-
beftkreform.
(Srfdieint jeben »tontag.
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23ei alten ißoftanftatten (2tr. 2272
ber fPoftäeitungslifte) .... 2)1 1. 0,80
Söei birefter Sreu3baiib|enbung:
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im SßettpoftDerein „ 1,50 i
3n 23erlin bet freier Bufenbung . . „ 1,—
(Expedition
ß. % rrhö, StaHfd|rrürßr|!r. 55.
3.©Uttrnfag, 2Serlagsbnd)banbluug in föertin.
©oebett erfdpen:
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UropflLtionaliualjleti.
©in üeberblicf über bereit ©pfteme, Verbreitung,
fßegrüttbung
oon
Dr. ^etnrtd) Sfpftn,
o. ö. S)3rofeffor für ©taat§red)t unb ©eutfcbe6 2ied)t
an ber Unioerfitat fj-rei&urg i. 23r.
Preis 1 Mark.
Dieser Nummer liegt ein Prospekt
über die Fortführung von Meyers Kon-
versations-Lexikon, Verlag des biblio-
graphischen Instituts iu Leipzig, bei.
Verantwortlich für den Anzeigentheil : O. Schuchardt in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 6. Juni 1892.
Nummer 23.
SOZIALPOLITISCHES
C E
TRALB LAT
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentap-, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHAL T
Die soziale Bedeutung der
Währungsfrage. Von Dr.
Julius Landesberger.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirthschaftsstatistik :
Gross- und Kleinbetriebe in der
schweizerischen Fabrikindustrie.
Einfluss der Lohnhöhe auf die
Geschäftslage.
Wanderung ostpreussischer Land-
arbeiter nach Bayern.
Massregeln gegen den Kontrakt-
bruch ländlichen Gesindes.
Bezahlung städtischer Arbeiter in
London.
Arbeiterzustände :
Beseitigung der Kinderarbeit durch
die Technik.
Die Lage der in den Gärtnereien
Erfurts beschäftigten Arbeiter.
Haushalt einer Arbeiterfamilie in
Bayern.
Arbeitszeit in der thüringischen
Hausindustrie.
Die Arbeitsdauer in den Wiener
Fabriken.
Erhebungen über Frauenarbeit im
Kanton St. Gallen.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Der Erfurter Schuhmacherstrike
vom Jahre 1890.
Strike in der nordböhmischen
Hausindustrie.
Organisation der deutsch-schweize-
rischen Buchdrucker
Ende des Bergarbeiterausstandes
in Durham.
Eröffnung der Pariser Central-
Arbeitsbörse.
Unternehmerverbände:
Die Oelsnitz - Gersdorf - Lugauer
Steinkohlenbergwerke.
Arbeitszeitbeschränkung in der
sächsischen Stickereiindustrie.
Land wirthschaft liehe Genossen-
schaften.
Arbeiterschutzgesetzgebung :
Zur Ausführung der neuen Ge-
werbeordnung für das Deutsche
Reich.
Bergarbeitergesetzgebung in Baden.
Zur Berggesetznovelle.
Sonntagsruhe für das berliner
Bäckerge werbe.
Schutzvorschriften für ländliche
Arbeiter.
Sonntagsruhe der Eisenbahnbe-
diensteten.
Folgen des Ruhetagsgesetzes für
die schweizerischen Eisenbahnen.
Arbeiterversicherung:
Revision der ortsüblichen Tage-
löhne nach dem neuen Kranken-
versicherungsgesetz.
Die Photographie im Dienst der
Unfallversicherung.
Höhere Entschädigung von Unfällen
bei weiblichen Arbeitern.
Krankenversicherung der Dienst-
boten in Baden
Zur Invaliditäts- und Altersver-
sicherung der Seeleute.
Vereins- und Fabrikkassen in
Ungarn.
Gewerbegerichte , Einigungs-
ämter u. Arbeiterausschüsse:
Arbeiterausschüsse in Oesterreich.
Wohinmgszustände und Woli-
nungsgesetzgebnng :
Wohnungsgesetzgebung im Gross-
herzogthum Hessen.
Wohnungsverhältnisse im Regie-
rungsbezirke Königsberg i. Pr.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtliclier Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die soziale Bedeutung der Währungsfrage.
Die Deform des Geldwesens in Oesterreich-Ungarn
hat die allgemeine Währungsfrage, wenn auch auf be-
schränktem Gebiete, wieder aufgerollt. Die Monarchie ist
zwar wirthschaftlich nicht mächtig genug, um — gleich
England und den "Vereinigten Staaten — durch ihre Ent-
schliessungen die internationale Währungsfrage materiell
entscheidend zu beeinflussen ; allein, da sie nicht, wie Italien,
durch Verträge gebunden ist und ihr überdies die reichen
währungspolitischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte
zu Gebote stehen, so wird ihrer Reform, je nachdem sie
sich für die reine Goldwährung entscheidet oder ein
zwischen der letzteren und dem Bimetallismus vermittelndes
System — die sogenannte hinkende Währung — annimmt,
ein bedeutsamer Einfluss auf die Stellung der grossen
währungspolitischen Parteien nicht abzusprechen sein.
Leider wird die Währungsfrage in Oesterreich-Ungarn,
wie anderwärts, von einem einflussreichen Theile der
öffentlichen Meinung vorwiegend unter dem Gesichtspunkte
eines finanziell-technischen Problems aufgefasst. Dieser
Anschauung ist es eigen, das Geld einseitig als Instrument
des Verkehrs zu betrachten; ihr gilt als das Merkmal
eines gesunden Währungssystems die möglichste Ein-
schränkung der Wechselkursschwankungen, die Erleichte-
rung der internationalen Edelmetall-Arbitrage, die möglichst
vollkommene Einfügung des heimischen Geldmarktes in den
internationalen. Diese Auffassung beherrscht naturgemäss
die Vermittler des Geld- und Kreditverkehres: die Bank-
und Finanzkreise; von hier aus gewinnt sie jedoch grossen
Einfluss auch in den übrigen Kreisen der Bevölkerung, da
der Finanzwelt vermöge ihrer Vertrautheit mit der tech-
nischen Seite der Währungsreform bei deren Durchführung
eine bedeutsame Stellung eingeräumt werden muss.
Allein eine Reform des Geldwesens ist weder aus-
schliesslich noch auch vorzugsweise ein finanziell -technisches
Problem. Vielmehr sind es gerade Gesichtspunkte ganz
anderer Natur, nämlich die Rückwirkung des Geldwerthes
auf die Preisbewegung, die Abhängigkeit des Kapital-
marktes von der Quantität des für den Kapitalumsatz ver-
fügbaren Geldvorrathes, die Bedeutung, welche Geld-
werthschwankungen für die ökonomische Lage der an Geld-
schuldverhältmssen aktiv und passiv betheiligten Personen
besitzen, — all diese Einzelfragen in welche das Problem
der Einwirkung der Goldwährung auf die Ein-
kommensve rtheilung zerfällt, sind es, welche seit mehr
als einem Jahrzehnte den Kern des Währungsstreites
bilden. Hiergegen ist der Gesichtspunkt der Erleichterung
finanzieller Beziehungen zwischen den Kulturländern,
welcher ehedem vorherrschte, als noch die Schaffung einer
„Weltmünze“ in Frage stand, völlig in den Hintergrund
getreten.
Alle diese Beziehungen, in welche das Geld, zu
den wichtigsten Faktoren der Produktion und Einkommens-
vertheilung tritt und in denen sich die wirthschaftliche
und insbesondere soziale Seite der Währungsfrage
äussert , weisen auf das Problem der Geldwerth-
284
SOZIALE )LITISCHES CENTRALBLATT
No. 23.
ändern ng hin. Bekanntlich steht die seit mehr denn
anderthalb Jahrzehnten bemerkliche Thatsache einer die
meisten Güter umfassenden, kontinuirlichen, nur zeitweilig
in den Jahren 1880—1883 und 1888—1889 unterbrochenen
intensiven Depression der Engrospreise im Vordergründe
der wirthschaftlichen Betrachtung. Es kann hier nicht
unsere Aufgabe sein, für die schier unerschöpfliche Streit-
frage, ob diese Preisbewegung, welche zeitlich mit den
grossen Währungsreformen der Kulturwelt zu Gunsten des
Goldes zusammenfällt, auch ursächlich aut dieselben zu-
rückzuführen ist, neues Material herbeizuschaffen. Die eng-
lische Gold and Silver Kommission, welche ihre Unter-
suchung im Jahre 1888 abschloss, hat bekanntlich mit
gleichgetheilten Stimmen die Ursachen der Preisbewegung,
die eine Partei auf Seite des Geldes, die andere auf
der Waarenseite gesucht. Der freie internationale Pariser
Kongress von 1889, dessen Resultate Laveleye in seinem
literarischen Vermächtnisse: „T.a monnaie et le bimetallisme
international“ verwerthete, hat sich allerdings überwiegend
zu Gunsten der ersteren Ansicht erklärt; allein seine
bimetallistische Zusammensetzung, der Zweck seiner Ein-
berufung mögen hierfür vielleicht entscheidend gewesen
sein. Die endgültige Lösung dieses Problems bleibt der
indischen Statistik Vorbehalten, da in diesem Silber-
währungsgebiete lediglich die auf der Waarenseite ge-
legenen preisbestimmenden Momente zur Geltung kommen
konnten.
Für unsere Zwecke genügt es, wenn wir die Geld-
werthsteigerung auch nur als Kehrseite, als das Correlat
der unzweifelhaft vorhandenen allgemeinen Preisdepres-
sion betrachten. Eine Geldwerthsteigerung auch nur in
diesem Sinne gewinnt nach zwei Hauptrichtungen grosse
soziale Bedeutung. Erstlich dadurch, dass sie mitwirkt, das
P ebergewicht des Grossbetriebs über die mittleren und
kleinen Betriebsformen zu steigern und die Zerreibung der
letzteren, die Deklassirung der kleinen selbständigen Unter-
nehmer zu Lohnarbeitern beschleunigt. Hierzu gesellt sich
ihre vorwiegend ungünstige Einwirkung auf die Lage
der Lohnarbeiter selbst.
In ersterer Hinsicht kommt nicht bloss die Landwirth-
schaft in Betracht, wiewohl die prekäre Lage des mittleren
und kleinen Grundbesitzes im Vordergründe der währungs-
politischen Kämpfe steht. Man kann den Prozess, welcher
sich unter dem Einflüsse der Geldwerthsteigerung auf lang-
sichtige Hypothekarschulden vollzieht als Expropriation des
Grundeigenthümers zu Gunsten des Gläubigers, des zweiten,
in der Regel wirthschaftlich schwächeren Gläubigers zu
Gunsten des Vormannes bezeichnen. Auch der aus steuer-
technischen Gründen kaum zu beseitigende Modus der
Grundsteuereinschätzung für längere Perioden bewirkt bei
dieser Tendenz des Geldwerthes eine unerwünschte Steuer-
progression. Daher jene bedenklichen Erscheinungen,
welche in den letzten Jahrzehnten das Bedürfniss nach
Zollschutz und agrarischen Reformen zeitigten: das rapide
Anschwellen der Bodenbelastung vornehmlich in den Kreisen
des mittleren und kleinen Grundbesitzes (vergl. für Deutsch-
land und Oesterreich neuerdings W. Schiff, Zur Frage
der Organisation des landwirtschaftlichen Kredites in
Deutschland und Oesterreich, Leipzig 1892, p.42ff.), ferner
die auffallend geringe Quote, welche von dem Belastungs-
zuwachse auf Meliorationskredit entfällt; denn die regel-
mässige Durchkreuzung der Produktivitätsberechnungen
durch die Preisbewegung muss schliesslich von der Auf-
nahme neuer Kapitalien zu produktiven Zwecken ab-
schrecken. Hand in Hand damit geht als ein weiteres
sozial ungünstiges Symptom das stetige Anwachsen der auf
Besitzkredit zurückzuführenden Belastungsquote (vergl. a.
a. O. p. 9). Als theilweises Aequivalent bietet die Geldwerth-
steigerung der Landwirtschaft die sinkende Tendenz des
Zinsfusses, welche jedoch in der Form von Schuldkon-
versionen bisher fast ausschliesslich vom grossen Grundbe-
sitze, der für die zu diesem Zwecke neuerdings geschaffenen
und ausgebildeten Kreditorganisationen mehr Verständniss
zeigt, ausgenutzt worden ist.
Wesentlich anderer Natur ist der Prozess, vermittelst
dessen die Geldwerthsteigerung in den Kreisen der gewerb-
lichen Produktion sich geltend macht. Hier ist es nicht
der wachsende Druck langsichtiger Geldschulden, welcher
schädigend empfunden wird; denn die dauernde Betheili-
gung fremden Kapitals an industriellen und Handelsunter-
nehmen erfolgt ungleich seltener in der Form von Schuld-
verhältnissen als in jener der Association (Commandit-,
stille Gesellschaft). Aber die kontinuirliche Preisdepression,
welche in so vielen Einzelfällen den Geschäftskalkül durch-
kreuzt, schwächt die Energie und Unternehmungslust im
Allgemeinen ab. Jener geschäftliche Optimismus, der aller-
dings die Entstehung von Ueberspekulation und Krisen be-
günstigt, imAllgemeinen aber einen so werthvollen, ja unent-
behrlichen Hebel der wirthschaftlichen Entwicklung bildet,
macht einer schlaffen Apathie Platz, welche ihr Heil in
Kapitalsanlagen mit fixer Geldrente sucht. Diesem Bedürf-
nisse kömmt der moderne Militärstaat in hohem Masse ent-
gegen. Trotz aller Chikanen durch Konversionen u. s. w.
bleibt das Kapital dem sogenannten Anlagemarkte treu und
allen Unternehmungen abhold, welche weit hinausschauen- ,
den Rentabilitätskalkül voraussetzen. Als ein sozial her-
vortretendes Symptom dieser Lage ist die wachsende
Schwierigkeit des Emporsteigens aus der Klasse besoldeter ,
Hilfsarbeiter in jene selbstständiger Unternehmer zu ver-
zeichnen. Die Bedeutung einer Periode fallenden Geld- ;
werthes findet St. Jevons darin, dass „sie stetig wachsenden ;
Ertrag jenen verheisse, welche Wohlstand zu erwerben im
Begriffe sind (who are making and acquiring wealth), zum
Theile auf Kosten derjenigen, welche erworbenen Reich-
thum gemessen.“ (A serious fall in the value of gold ascer-
tained and its social effects set forth, London 1863, Ch. XXXIII.)
Der Kontrast mit den Erscheinungen der letzten Jahrzehnte j
ist unverkennbar. J
Auch die aus der Erschlaffung des Unternehmungs- ,
geistes leicht zu erklärende sinkende Tendenz des Zins-
fusses in den Kulturländern paralysirt diese ungünstigen
Einflüsse nicht. Sie ist ja selbst ein Produkt der Steigerung
des Geldwerthes, wie sich empirisch aus einem Vergleiche
mit der Zinsfussbewegung nach den grossen Goldfunden
der 50 er Jahre ergiebt. Damals zeigte sich nach dem
Zeugnisse Jevons’ (a. a. O. Ch. XXXI) parallel mit einer
intensiven Steigerung des Reichthums, Gewerbfleisses und
Unternehmungsgeistes ein durchschnittlich hoher Zinsfuss,
der mitunter die enorme Höhe von 10% erreichte — „und
all dies zur grössten Ueberraschung der älteren Generation
ohne die allgemeine Handelsstockung, ohne jene Einschrän-
kung des Kreditverkehrs, ohne die Eluth von Bankerotten,
welche bis dahin so hohe Zinssätze begleitet hatten.“
Die Bewegung des internationalen Geldmarktes wäh-
rend der letztverflossenen Dezennien giebt der Anschauung
jener „älteren Generation“, welche gleichfalls in eine Pe-
riode der Geldwerth Steigerung gefallen war (1820 bis
1850), wieder Recht. Die ungesunde Ueberfüllung des
Geldmarktes wechselt überaus häufig ab mit krisenhaften
Spannungen, welche sich durch häufige und sprunghafte
Zinsfusserhöhungen auf den grossen Geldplätzen charakte-
risiren. Sie hinterlassen im Gegensätze zu den früher er-
wähnten Krisen, längere Perioden tiefgreifenden gewerb-
lichen und kommerziellen Niedergangs. Diese Geldkrisen
werden theils bewirkt theils verschärft durch eine man-
gelhafte Unterscheidung der Zettelbankpolitik, welche ganz
No. 23.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
285
allgemein die Diskontverschärfung als Schutzmittel gegen
Goldentziehung in Anwendung bringt, ohne zu unter-
scheiden, ob die letztere wirklich einer Ueberspannung der
heimischen Produktion und Spekulation oder vielmehr der
internationalen Goldarbitrage zuzuschreiben ist, welche aus
spekulativen Gründen das Gold nach jenen Plätzen zu ver-
senden thätig wird, wo die Krise zunächst zum Ausbruch
gekommen ist. Aber während jede Zinsfusserhöhung der
Centralbanken den mittleren und kleinen Unternehmer, für
welchen der offizielle Banksatz ausschließlich das Mass des
Kapitalpreises bestimmt, sofort und aufs empfindlichste
trifft, ist für den Bankier und Kapitalisten — und dazu ge-
hören jene Kreise, welche an der Goldarbitrage aktiv theil-
nehmen und gegen die eigentlich die Diskontpolitik ge-
richtet ist — am Sitze der Centralbank selbst der gewöhn-
lich noch beträchtlich niedrigere Diskontsatz auf offenem
Markte massgebend. Eine Abhilfe gegen diese die schwä-
cheren Kreise der selbstständigen Unternehmer schwer be-
einträchtigende Gestaltung des Kapitalpreises gewährt die
französische Bankpolitik, welche neben der Diskonterhöhung
gegen die Goldarbitrage auch noch die Einhebung einer
sogenannten Goldprämie zum Schutze des Goldbestandes
in Anwendung bringt. Diese sogenannte Prämienpolitik
stellt den Binnengeldverkehr, an welchem vornehmlich die
schwächsten Schichten betheiligt sind, gegen die spekula-
tive Beeinflussung durch die internationale Goldarbitraee
sicher. (Vgl. des Verfassers „Währungssystem und Relation“
p. 122 ft'.)
Dazu kommt endlich, dass steigende Preise zwar zur
Ausdehnung des Betriebes und Ueberproduktion reizen,
sinkende hingegen mitunter hiezu zwingen. Bei sinken-
der Preistendenz kann nämlich ein Betrieb mitunter nur
durch entsprechende Ausdehnung produktiv erhalten werden,
indem hierdurch der vom Betriebsumfange relativ unab-
hängigste Produktionskostenfaktor, die sogenannten General-
kosten (Unterhalt des Unternehmers, Steuern, Passivzinsen
des Etablissements) im Verhältniss zu den Spezialkosten
jedes einzelnen Produktes herabgesetzt werden. Eine solche
Erweiterung ist aber der Natur der Sache nach nur im
Grossbetriebe möglich und muss zu einer empfindlichen
Verschärfung der Konkurrenz mit jenen Betriebsformen
führen, bei denen die persönliche Arbeit des Unternehmers
in den Vordergrund tritt, eine Konkurrenz, welche bei
sinkenden Preisen doppelt empfindlich wirkt und daher in
den betroffenen Kreisen den Wunsch nach einer reaktionä-
ren Wirthschaftsgesetzgebung erweckt. (Vgl. darüber
Wasserrab, Preise und Krisen, pag. 60. Arendt, der
Währungsstreit in Deutschland, pag. 16. Lexis in Conrad’s
Jahrbüchern, 1885 pag. 340.)
Was die Einwirkung der steigenden Tendenz des
Geldwerthes auf die Lage der arbeitenden Klassen be-
trifft, so gehört diese Seite der Frage in Ermangelung einer
den ganzen kritischen Zeitraum seit 1875 umfassenden verläss-
lichen Lohnstatistik der Goldwährungsländer zu den dun-
kelsten Partien. Auch die mächtig fortschreitende Organi-
sation der Arbeiter in diesen Gebieten trägt zur Verdun-
kelung bei; denn sie bildet ein Moment, welches dem Ein-
flüsse der Geldwerthsteigerung auf die Lohnhöhe noth-
wendig entgegenwirken musste, ohne dass die Intensität
dieses Faktors sich ziffermässig bestimmen Hesse. Immerhin
kann die von Tooke und Newmarch gemachte Beobach-
tung, dass Arbeitslöhne unter allen Tauschgegenständen
die letzten seien, die sich einer Veränderung des Geld-
wertes anschliesen, auch heute noch Geltung bean-
j spruchen, ja heute in Folge der Organisation der Ar-
| Leiter in noch höherem Grade. Demnach schiene die
steigende 1 endenz des Geldwerthes sich für die Lebens-
haltung der Arbeiterklasse vorteilhaft zu erweisen. Das
ist in der That auch die in österreichischen Arbeiterkreisen
derzeit vorherrschende Meinung, welche aus diesem Grunde
für die Einführung der Goldwährung eintreten; dies ist das
Argument, welches von Anhängern eines hochwertigen
Goldguldens z. B. dem Abgeordneten Neuwirth ins Treffen
geführt wird. In Wahrheit aber ist steigende Geldwerth-
tendenz auch in diesem Sinne antisozial; nur dass ihre
überwiegend schädlichen Wirkungen viel verborgener auf-
treten, als die günstigen. Zu den ersteren zählen wir den
Umstand, dass die Detailpreise sich dem Niveau der Engros-
preise, welches für die Lohnhöhe schliesslich den Ausschlag
geben muss, bloss zögernd anpassen, dass sie aber dann
um ein Beträchtliches hinter der sinkenden Tendenz der
Engrospreise Zurückbleiben, wenn der Konsument durch
die unlöslichen Bande des Konsumtionskredits an den be-
treffenden Detailhändler gefesselt ist. (Vgl. Fin. Report of
the Gold and Silver Commission, p. 24 No. 62). Es wird
ferner von den arbeiterfreundlichen Anhängern des steigen-
den Geldwerthes übersehen, dass der Unternehmer, wenn
er die Produktionskosten mit dem Produktionserträgniss nicht
durch Herabsetzung des Nominallohnes in Einklang bringen
kann, dahin gedrängt wird, menschliche Arbeit durch ma-
schinelle, die theuere männliche Arbeitskraft durch Frauen-
und Kinderarbeit zu ersetzen. Die Erfindungsgabe der
Techniker wird künstlich auf die Bahn der arbeitsparenden
Maschinen gelenkt; Frauen- und Kinderarbeit nehmen einen
Aufschwung, welcher den gerechten Ruf nach legislativen
Einschränkungen erweckt. Damit geht parallel eine Ver-
stärkung der Reservearmee der Lohnarbeiter, eine Deklas-
sirung kleiner selbständiger Unternehmer zu Lohn-
arbeitern, gelernter Arbeiter in die Sphäre gewöhnlicher
Tagelöhner u. s. w. Symptome dieser Entwickelungsreihen
sind in den letzten Jahrzehnten so häufig hervorgetreten,
dass es der Anführung einzelner Thatsachen nicht bedarf.
Namentlich das Anschwellen der Arbeiterreserven ist eine
beklagenswerthe Erscheinung, welche in den jüngsten
grossen Lohnkämpfen in England und Deutschland die
Stellung der Arbeiterpartei wesentlich geschwächt hat.
Die gegensätzliche Beurtheilung des Einflusses der
Geldwerthtendenz auf die Lebenshaltung des vierten Stan-
des ist sehr scharf in den Beschlüssen der englischen En-
quete on the Depression of trade and industry und der
Gold and Silver Commission hervorgetreten. Die sozial-
politische Bedeutung der Währungsfrage wurde von beiden
Parteien für ihre Zwecke zu verwerthen gesucht. Aber
im Ganzen war doch die bimetallistische Partei, welche gegen
die Geldwerthsteigerung auftrat, in der günstigeren Lage.
Sie konnte (Fin. Report of the Gold and Silver Commission,
p. 100) darauf hinweisen, dass in zehn der grössten Ge-
werkvereinen das Verhältniss der arbeitslosen Mitglieder zur
Gesammtzahl von 2,18 '/u in den Jahren 1871—75 auf 7,22%
in den Jahren 1882 — 86 sich gehoben hatte. Aber auch die
Gesammtkommission kann nicht umhin, anzuerkennen, dass
„ein starker und allgemeiner Fall der in der Landwirth-
schatt gezahlten Löhne und ein wenn auch minder be-
trächtlicher in den unteren Schichten der gelernten In-
dustriearbeiter eingetreten sei; dass selbst dort, wo die
Lohnhöhe erhalten blieb, die Arbeitsgelegenheit seltener
und unregelmässiger geworden ist, dass Strikes zur Ab-
wehr von Lohnreduktionen häufiger aufgetreten seien und
eine Verschärfung der Reibungen zwischen Arbeitgeber
und Arbeitnehmer manifestirten ; und dass selbst mit Be-
rücksichtigung des unvollkommenen Charakters der Lohn-
statistik ein allgemeines, im Fortschritt begriffenes und
augenscheinlich nicht aufzuhaltendes Sinken des Lohn-
niveaus zu konstatiren sei“ (Fin. Report of the Gold and
Silver Commission, p. 20 No. 57).
Man kann dem Widerstreit der Ansichten, welcher
286
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 23.
über die Stellung der Arbeiter zur Währungsfrage besteht
meines Erachtens nur durch eine Unterscheidung gerecht
werden. Für Länder mit genügend organisirter Arbeiter-
schaft, welche kräftig genug ist, die sinkende Geldwerth-
tendenz durch Erhöhung des Nominallohnes auszugleichen,
ist diese Tendenz von grosser sozialer Bedeutung, weil sie
durch Verringerung der Steuer- und Geldschuldenlast die
Produktion anspornt, die Arbeitsgelegenheit vermehrt, das
Emporsteigen der Hilfsarbeiter in die Klasse selbständiger
Unternehmer begünstigt. (Vgl. Jevons a. a. O. p. 83). In
der That haben sich in den Vereinigten Staaten die orga-
nisirten Arbeitergruppen überwiegend den aut Herab-
setzung des Geldwerthes gerichteten agrarisch-demokrati-
schen Bestrebungen angeschlossen. In Ländern mit schlecht
organisirter Arbeiterschaft würde die sinkende Tendenz
des Geldwerthes allerdings eine nur langsam sich aus-
gleichende Verringerung des Reallohns bedeuten.
Die westliche Hälfte der österreichisch - ungarischen
Monarchie darf heute mit Recht zu den Ländern der
ersteren Kategorie gezählt werden. Man kann es daher
auch vom sozialpolitischen Standpunkte aus nur mit
Genugthuung begriissen, dass sich Oesterreich - Ungarn,
wie die eben der legislativen Behandlung unterbreiteten
Vorlagen über die Regelung der Valuta beweisen, den
auf eine Geldwertherhöhung gerichteten Tendenzen ferne
hält. Diese letzteren fanden einerseits ihren Ausdruck
in dem Begehren nach Einführung der reinen Gold-
währung und andererseits, merkwürdig genug! in dem von
bimetallistischer Seite verfochtenen Anträge den künftigen
Geldwerth des Guldens ö. W. gleich 2 Reichsmark anzu-
setzen. Die Regierung hat inmitten dieser in sich wider-
spruchsvollen Ansichten eine schwere und doch wieder
günstige Stellung. Sie akzeptirt von den Anhängern der
Goldwährung den leichten Gulden, von den Bimetallisten
das der Erhaltung des Silbers günstige Währungssystem;
und in den übrigen Punkten ist sie in der Lage, jede Partei
mit ihren eigenen Theorien zu schlagen.
Wien. Julius Landesberger.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
. Statistik.
Gross- und Kleinbetriebe in der schweizerischen
Fabrikindustrie.
Dr. H. Wegmann, der Adjunkt des schweizerischen
Fabrikinspektors Dr. Fridolin Schüler, veröffentlicht in
der „Zeitschrift für schweizerische Statistik“ eine um-
fangreiche Arbeit über die Gross- und Kleinbetriebe in der
schweizerischen Fabrikindustrie, die wir den folgenden Aus-
führungen zu Grunde legen. Dr. Wegmann’s Arbeit beruht
auf der amtlichen Fabriksstatistik der Schweiz aus dem
Jahre 1888. Diese umfasst alle dem Fabrikgesetze unter-
stellten Etablissements, demnach eine grosse Anzahl von
Betrieben, welche man gemeiniglich nicht als Fabrikbe-
triebe betrachtet, so nicht weniger als 1 142 Etablissements
mit durchschnittlich 5,92 Arbeitern und I 044 Betriebe mit
durchschnittlich 13,78 Arbeitern. Scheiden wir diese bei-
den Gruppen aus, so verbleiben nur 1 690 Fabrikbetriebe
mit 139 513 Arbeitern und 1222 Motoren von 67 200 Plerde-
kräften. Der Scheidung in die verschiedenen Berufs-
gruppen zu Liebe wurden Etablissements mit verschiedener
Waarenerzeugung getrennt, so z. B. die Webereien, welche
mit Spinnereien verbunden sind, als Webereien und als
Spinnereien aufgezählt, wodurch die Zahl der Betriebe in
der Statistik ungenau erscheint und die Zahl der grossen
Betriebe zu Gunsten der mittleren eine Reduktion erfuhr.
I )ie „decenlralisirte Fabrikindustrie“, die in der Schweiz
stark verbreitete Hausindustrie verblieb ausserhalb des
Rahmes der Arbeit.
Auffallend ist die Zahl der Fabriksbetriebe ohne Mo-
toren. Es verwandten keine Motoren unter den
1 142
Betrieben
der
I. <
druppe 563
1044
55
II.
„ 466
830
))
55
III.
„ 279
396
))
55
IV.
„ 74
213
55
55
V.
„ 11
128
55
55
VI.
„ 4
nur in der letzten Gruppe mit mehr als 500 Arbeitern linden
wir in sämmtlichen Betrieben Motoren ; in den 3 776 als
Fabrikbetriebe aufgeführten Etablissements finden wir 2 359
Motorenbetriebe und 1 417 Betriebe ohne Motoren. Scheiden
wir die beiden ersten Gruppen aus, so dass uns nur die
Etablissements mit 21 und mehr Arbeitern übrig bleiben, .
so finden wir in diesen 1 590 Fabrikbetrieben 1 222 mit und j
368 ohne Motoren. Die Betriebskräfte (Arbeiter und Pferde-
kräfte) vertheilen sich auf die schweizerische Fabrikindustrie !
folgendermassen :
Gruppe
Unternehmungen
mit Arbeitern j Zahl
Zahl dei
unter
18 Jahren
m. w.
Arb ei
üb
18 Ja
m.
er
er
hren
w.
Total
Zahl der Be-
triebe mit
Mo- 1 Pferde-
toren kräften
i . .
1— 10
1142 ')
371 406
4166
1827
6770
559
7626
ii . .
11— 20
1044
967 954
8614
3860
14395
578
79401/-,
m . .
21 - 50
830
1633 1945
14904 8522
27004
551
12212Va
IV . .
51 100
396
1891 2349
14040,10096
28376
322
17269>/v
v . .
101 200
213
1719 2955
12813 12970
30457
202
14279 %
VI . .
201-500
128
2009 3529
14385 17070
36993
124
19222
VII . .
über 500
23
1207 1083
8778 5615
16683
23
4217
III -VII
20 u.mehr
1590
8438 11861
64920 54273
139513
1222
67200'A
I— VII
über 1
3776
9797 13221
77700 59960
160678
2359
82767
Reduziren wir diese Tabelle auf je einen Betrieb,
so ergiebt sich folgendes Bild:
Gruppe
Arl
unter 18 Jahren
m. w.
>eiter
über 18 Jahren
m. | w.
Total
Mo-
toren
t
Pferde-t
kräfte ;
I . . .
0,32
0,35
3,65
1,60
5,92
0,49
6,68
II . . .
0,93
0,91
8,25
3,69
13,78
0,55
7,61
III . .
1,9
2,3
17,9
10,7
32,6
0,66
14,71 .
IV . . .
4,7
5,9
35,5
25,5
71,6
0,81
43,61 ;
V . . .
8,1
13,9
60,2
60,9
143,0
0,9
67,04 }
VI . . .
15,7
27,6
112,4
133,2
289,0
0,98
150,18 ;
VII . . .
52,4
47,1
381,7
244,1
725,3
1,0
183,3 ,
III— VII .
5,3
7,5
40,8
34,1
87,7
0,7
43,52 ■
I— VII .
2,6
3,5
20,6
15,8
42,5
0,62
21,92 i
Aus den vorstehenden Tabellen ergiebt sich, dass die
Verwendung der Motoren nicht im gleichen Verhältnisse
zur Grösse der Betriebe in der schweizerischen Industrie
steht, am auffälligsten ist das Zurückbleiben der Motoren
hinter der grösseren Arbeiterzahl bei den grössten Lnter-
nehmungen. Wenn in Betrieben mit durchschnittlich 289
Arbeitern Motoren in der Stärke von 150,18 Pferdekräften
verwendet wurden, müsste man bei blosser Annahme arith-
metischer Progression für die Betriebe mit durchschnitt-
licher Verwendung von 725,3 Arbeitern das Vorhandensein
einer Motorenstärke von 376,9 Pferdekrälten vermuthen.
während nicht einmal die Hüllte 183,3 Plerdekräfte kon-
statirt wurden.
Bezüglich der Arbeiterzahl ist zu bemerken, dass die
Konzentration der Arbeiter in den grossen Betrieben eine
sehr starke ist. Die 2412 Betriebe mit weniger als
tOI Arbeitern beschäftigen 7578 Arbeiter weniger als die
364 Betriebe mit mehr als 100 Arbeitern. Die 23 Betriebe
mit mehr als 500 Arbeitern beschäftigen ca. 4/-, der in den
1 186 Betrieben der I. Gruppe thätigen Personen. Während
die Zahl der Etablissements in den Gruppen I — VI regel-
mässig abnimmt, steigt die Arbeiterzahl in der gleichen
Regelmässigkeit in diesen Gruppen. Die Zahl der Betriebe
sinkt von I 142 auf 128, die Zahl der Arbeiter steigt von
6770 auf 36993. Wir sehen demnach neben einer Dezen-
tralisirung der Industrie eine Centralisirung der Arbeitei.
da die Tendenz der wirthschaftlichen Entwicklung eine
centralistisehe ist, so dürfte das Uebergewicht der grossen
Betriebe sich bald noch weiter verschärfen. Faktisch ist
i) Davon 50 (= 1,3%) ausser Betrieb.
No. 23
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
287
die Centralisation schon weiter vorgeschritten, als die vor-
stehenden Tabellen vermuthen lassen, dies ergiebt die
folgende Tabelle, in der jede Mühle mit Säge, jede Spinnerei
mit’ Weberei, jede Bleicherei mit Färberei etc., sofern sie
in einem Betriebe vereinigt ist, zusammengezählt wird. Wir
erhalten nun:
in Gruppe
Betriebe
Arbeiter
Pferdekräfte
I
1 082
6 582
7 309
II
1 026
14 154
7 879'/2
III
806
26 241
1 1 928>/2
IV
383
27 463
15 271V»
V
202
29 171
13 89672
VI
134
39 278
21 036
VII
25
17 789
5 446
Total
3 658
160 678
82 767
Geht man
noch einen
Schritt weiter
und stellt man
ohne Rücksicht auf örtliche Trennung und Verschiedenheit
der Industriezweige alles, was einem Unternehmer im Ge-
biete der Eidgenossenschaft gehört, als einen Betrieb in
die Statistik, so ergiebt sich folgendes Bild:
Gruppe
Unternehmungen
Arbeiter
Pferdekräite
I
1 053
6 392
7 035
II
972
13 328
7 3491 9
III
720
23 244
10621
IV
336
23 788
12781
V
165
23 726
11 268
VI
140
42 984
21 848 'A
VII
31
27 216
1 1 864
Total
3 471
160 678
82 767
Die 336 Betriebe der Gruppe V, VI und VII zählen
nach der vorstehenden Tabelle um 27 164 Arbeiter mehr als
die 3081 Betriebe der Gruppen I— IV (Betriebe bis zu
100 Arbeitern). Die 31 Betriebe der VII. Gruppe zerfallen
in 12 Unternehmungen mit 501 — 600, in 8 Unternehmungen
601—800, in 4 mit 801 — 1000, in je 3 mit 1001—1500 und
1501 — 2000 und in einen Betrieb mit mehr als 2000 Arbeitern,
so dass die vier grössten Unternehmungen der Schweiz mehr
Arbeiter beschäftigen als ca. 1100 der kleinsten dem Fabrik-
gesetze unterstellten Unternehmungen!
Wir müssen es uns leider versagen, die Decentrali-
sation der Betriebe und die Centralisation der Arbeiter in
der Schweiz für die einzelnen Industriezweige zu besprechen,
wir wollen nur noch einige Beispiele anführen.
Die gesammte schweizerische Metall- und Maschinen-
industrie wird von 350 Unternehmungen betrieben, davon
beschäftigen mehr als die Hälfte weniger als 20 Arbeiter,
während nahezu die Hälfte aller Arbeiter in 5,6 % grosser
Geschäfte koncentrirt ist. In der Schuhfabrikation sind
43,4% der Arbeiter in zwei Etablissements der Gruppe VII
und 67,7 /„ von 2 Unternehmern, endlich % der Arbeiter in
Betrieben mit mehr als 100 Arbeitern beschäftigt.
Aus den Tabellen der Fabrikstatistik pro 1888 ergiebt
sich, dass die schweizerische Fabrikarbeiterschaft sich nach
Alter und Geschlecht im folgenden Prozentverhältniss zu-
I sammensetzt:
unter 18 Jahren über 18 Jahren
männlich weiblich männlich weiblich
6,03 8,26 48,16 37,55
In Bezug auf die beiden Geschlechter zeigt sich in
\ der Gesammtheit der Arbeiterschaft - ohne Rücksicht aut
die Verschiedenheit der Industrien — die Erscheinung, dass
die Zahl der Arbeiterinnen mit der Grösse der Geschäfte
in immer stärkerer Progression steigt. Während in den
kleinen und kleinsten Betrieben ihre Zahl um 1 2 °/0 unter
dem Mittel bleibt, übersteigt sie dasselbe in den grossen
um 1 0 %, tritt aber in den grössten etwas unter dem Durch-
schnitt zurück.
Die Bedeutung der Kinderarbeit ist sehr verschieden
in den einzelnen Industrieen. In der Seidenweberei, der
gesammten Seiden- und der ganzen Textilindustrie sind in
den kleinen Etablissements die Kinder unter dem Durch-
schnitte beschäftigt, dann wächst ihre Zahl etwas bis zur
IV. und V. Gruppe und fällt in den letzten Gruppen wieder,
manchmal sogar unter das Mittel. Ein regelmässiges Steigen
von Gruppe I bis VII zeigt dagegen die Baumwollweberei,
das umgekehrte Verhältniss zeigen die Metall- und Maschinen-
industrieen. Bemerkenswerth ist endlich das V erhältniss
der jugendlichen Arbeiter ihrem Geschlechte nach in den
einzelnen Gruppen. Bei den Arbeitern unter 18 Jahren
überwiegen die Mädchen in der Gesammtindustrie, in den
Gruppen 1, III, IV, V und VI halten sich Knaben und
Mädchen fast die Wage, während in den Betrieben mit
mehr als 500 Arbeitern die Zahl der jungen Männer um
mehr als 10 Prozent grösser ist als die der jugendlichen
Arbeiterinnen.
Leider ist es nicht möglich, diese Angaben mit solchen
für das deutsche Reich zu vergleichen und die relative
Entwickelung der Grossindustrie Deutschlands und der
Schweiz einander gegenüberzustellen. Der Grund liegt
im Fehlen der Daten für den grössten Theil Deutschlands.
Dies ist nicht nur wegen des wissenschaftlichen Inter-
esses, sondern und nicht zum mindesten aus praktischen
Erwägungen bedauerlich. Die Aufnahmen der schweize-
rischen Statistik entsprangen einem bei der Durchführung des
schweizerischen Fabrikgesetzes gefühltem Bedürfnisse. Je
ernster man es mit der Fabrikinspektion nimmt, desto unent-
behrlicher werden Aufnahmen, wie die ist, deren Resultate wir
hier Wiedergaben. Die Möglichkeit einer Ausdehnung des
Arbeiterschutzes sowohl nach der Richtung der Intensität des
Schutzes, als der Extensität der zu schützenden Betriebe,
die Schwierigkeiten und Bedürfnisse der Fabrikinspektion
werden am besten an der Hand einer eingehenden Fabrik-
statistik diskutirt werden können. Leider ist die Hoffnung
gering, dass diesem Bedürfnisse nun auch in Deutschland
bald entsprechend Rechnung getragen werde.
Einfluss der Lohnhöhe auf die Geschäftslage. Ueber
diese für die kapitalistische Produktion so wichtige und
dabei von ihr so mangelhaft gelöste Frage schreibt der
Fabrikinspektor des I. Aufsichtsbezirks im Grossherzogthum
Hessen in seinem soeben erschienenen Jahresbericht für
1891: „Die wirtschaftliche Lage der Arbeiter übt einen
bedeutenden Einfluss aut die allgemeine Geschäftslage der
Industrie aus. Die Arbeiter sind Hauptabnehmer vieler in-
dustrieller Erzeugnisse und bei der hohen Zahl der in-
dustriellen Arbeiter ist deren Konsumtionsfähigkeit von
hoher Bedeutung für die Industrie. Wenn in Folge von
Verkürzungen der Arbeitszeit und Lohnreduktionen die
Löhne nur für die nötigsten Lebensmittel, Kleider und die
Wohnung der Arbeiter ausreichen und andere Ausgaben
nicht gemacht werden, so übt dies sehr rasch einen ver-
stärkt ungünstigen Einfluss auf die Geschäftslage der In-
dustrie im Allgemeinen aus. Dies sollten Arbeitgeber mehr
als seither beherzigen und nur im äussersten Notfall Ar-
beiterentlassungen vornehmen Es findet zu wenig Berück-
sichtigung, dass hohe Löhne von sehr günstigem Einfluss
auf die allgemeine Lage der Industrie sind.“
Wanderung ostpreussischer Landarbeiter nach Bayern.
Auf den Domänengütern von Bronnbach bei Wertheim hat man,
um dem Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften zu be-
gegnen, mit der Heranziehung von ostpreussischen Arbeitern
begonnen. Vorige Woche sind 20 Personen dort eingetroffen,
welche über den ganzen Sommer bleiben werden. Dieselben
stehen, wie die „Aschaffenburger Zeitung“ berichtet, unter
einem von ihnen gewählten Vormann, der für alle Arbeiten Auf-
sicht und Verantwortung trägt. Sämmtliche Arbeiten geschehen
im Akkord.
Massregeln gegen den Kontraktbruch ländlichen Ge-
sindes. Im Schoosse der preussischen Staatsregierung
sollen nach einer Meldung der „Magd. Ztg.“ Erwägungen
darüber stattfinden, ob es nicht geboten wäre, behufs Zu-
rückführung kontraktbrüchigen Gesindes, welches im König-
reich Sachsen ein anderes Dienstverhältnis eingegangen
ist, eine bezügliche Vereinbarung zwischen den einzelnen
Bundesstaaten in Anregung zu bringen.
Bezahlung städtischer Arbeiten in London Die Ar-
beitervertreter im Londoner Grafschaftsrath hatten beantragt,
dass die Unternehmer städtischer Arbeiten vertragsmäßig
zur Bezahlung ihrer Arbeiter nach den von den Londoner
Gewerkvereinen als normal bestimmten Lohnsätzen ver-
pflichtet werden sollten, und zwar sollten die Unternehmer
für alle städtischen Arbeiten hierzu verpflichtet werden,
gleichviel ob diese Arbeiten in oder ausserhalb Londons
ausgeführt werden. Dieser Antrag wurde nicht ganz den
Wünschen der Arbeitervertreter entsprechend angenommen,
indessen wurde wenigstens festgesetzt, dass die l nternehmer
ihre Arbeiter überall nach den am Orte der Ausführung
von den Gewerkvereinen als recht und billig angesehenen
Lohnsätzen zu bezahlen sind. Wäre der Antrag von Burns
und Genossen unverändert angenommen worden, so wäre
288
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 23.
die Befürchtung hinweggefallen, dass nunmehr ein grosser
Theil städtischer Arbeiten ausserhalb Londons ausgeführt
werden dürfte. Uebrigens darf die Massregel nicht über-
schätzt werden, weil vorerst noch ca. 4/r. der ausführenden
Verwaltung nicht dem Grafschaft'srath, sondern den Lokal-
behörden obliegt.
Arbeiterzustände.
Beseitigung- der Kinderarbeit durch die Technik. Die
revolutionirende Wirkung der fortschreitenden Technik auf die
soziale Gliederung der in Fabriken beschäftigten Arbeiter-
bevölkerung ist sehr verschieden. So berichtet der hessische
Fabrikinspektor für den I. Aufsichtsbezirk in seinem neuen
Referat für das Jahr 1891: „Durch die Einführung sehr leistungs-
fähiger Einlesemaschinen in der Zündhölzerfabrikation wurde
die Kinderarbeit in diesem Industriezweige nahezu besei-
tigt. Selbst das Einlesen des bei der Arbeit mit den Einlese-
maschinen sich ergebenden Holzdrahtabfalls durch Kinder wird
nicht mehr lohnend befunden und der Abfall verbrannt. Auch
die zum Verpacken der Zündhölzer dienenden Pappschachteln
werden nicht mehr in den Zündhölzerfabriken durch jugend-
liche Arbeiter, sondern in besonderen Schachtelfabriken ange-
fertigt. Eine Zündhölzerfabrik, welche seither noch den Holz-
draht selbst erzeugte, hat dies aufgegeben und es beziehen
jetzt sämmtliche Zündholzfabriken des Aufsichtsbezirks den
Holzdraht aus besonderen Fabriken. Die Einlesearbeit mit der
Einlesemaschine ist anstrengend, besonders da wo die Arbeiter
im Stücklohn beschäftigt werden und ein möglichst hohes Lohn-
ergebniss anstreben. In der grösseren Anzahl der Fabriken
geschieht jedoch die Einlesearbeit im Taglohn und es werden
mitunter die Einleser in kleineren Fabriken auch zu anderen
Arbeiten verwendet, so dass sie nicht immer an der Einlese-
maschine beschäftigt sind. Ein im Stücklohn an einer Einlese-
maschine beschäftigter Arbeiter hat von dieser Arbeit vom
Arbeitgeber weggenommen werden müssen, weil er durch über-
hastete Arbeit seine Gesundheit schädigte.“ Hier hat man es
offenbar mit einem Uebergangsstadium in der Entwicklung der
Technik zu thun. Sie vollzieht hier vorerst nur den CJebergang
von der Handarbeit, der Manufaktur, zur maschinellen Fabri-
kation, und benöthigt vorläufig noch Erwachsene zur Bedienung
der Maschinen. Vermuthlich werden jedoch die Maschinen sehr
bald derart vervollkommnet werden, dass an die Stelle der Er-
wachsenen die „billigeren“ Frauen und Kinder treten können.
Die Lage der in den Gärtnereien Erfurts beschäf-
tigten Arbeiter ist, wie man der daselbst erscheinenden
„Thüringer Tribüne“ mittheilt, eine traurige. Einer der
dortigen Gärtnereibesitzer beschäftigt ungefähr 70 Personen.
Von diesen sind etwa 10 — 15 jugendliche Arbeiter, welche
einen Wochenlohn von 3,60 — 6,00M. erhalten; ca. 20 Frauen
und Mädchen erhalten 7,20 M., ca. 15 — 20 Gärtnereigehilfen
9 — 12 M., ca. 20 Arbeitsleute 12 — 15 M., und zwar sämmtlich
bei elfstündiger Arbeitszeit. Das sind noch sehr günstige
Löhne. Es giebt Gärtnereien, hauptsächlich grössere, welche
viel schlechtere Löhne zahlen. Sogenannte Volontäre wer-
den in grosser Zahl beschäftigt, sie bekommen fast gar
keine Entschädigung und tragen viel dazu bei, die Löhne
der Arbeiter zu drücken.
Haushalt einer Arbeiterfamilie in Bayern. In No. 20
des Sozialpolitischen Centralblattes findet sich eine Zu-
sammenstellung des Haushaltes einer Arbeiterfamilie in
Bayern, in die sich verschiedene Rechen- und Druckfehler
eingeschlichen haben, die wir im Folgenden berichtigen.
Eiweis
gr
Fett
gr
Kohlen-
hydrate
gr
Zunächst sind:
14 1 Milch — 14 000 gr Milch . .
490
560 .
616
und nicht wie angegeben 1400 gr .
49
56
61,6
Differenz
-f 441
504
554
Ferner:
1600 gr Zucker —
—
—
1552
und nicht wie angegeben . . .
—
109,2
Differenz
1443
Gesammt-Differenz . .
441
504
1997
Angegebene Gesammt-Summe .
1 176
1304
7503
Wirkliche Gesammt-Summe . . .
1617
1808
9500
Unter der Voraussetzung, dass der Nahrungsbedarf der
Familie (Mann, Weib, 3 Kinder von I — 3 Jahren) wirklich,
wie im Sozialpolitischen Centralblatt angegeben, gleich dem
21 fachen täglichen Bedarf des Erwachsenen wäre, ständen
pro Kopf und Tag zur Verfügung:
Eiweis
gr
Fett
gr
Kohlen-
hydrat
gr
Wirkliches Kostmass . ....
77
86
452
Angebliches Kostmass des S. C. .
57
62
357
Voits Kostmass
118
56
500
Differenz zw. dem geforderten Kost-
mass Voits und dem wirklichen
41
+ 30
— 48
48 gr Kohlenhydrate sind ersetzbar
mit Vortheil durch
20
Somit fehlen in der Nahrung . . .
Sind im Ueberschuss vorhanden
41
10
Nach dieser Rechnung sind stickstofffreie Nährstoffe
völlig ausreichend vorhanden und fehlen 35 "/o Eiweis. In
Wirklichkeit ist aber der Bedarf der betreffenden Familie
nicht das 3 fache, sondern hoch angeschlagen das 23/4 fache
des Voit’schen Kostmasses, das für einen kräftigen Mann
bei mittlerer Arbeit gilt. Damit würde sich der Eiweiss-
mangel auf ca. 29 '/n ermässigen und dafür ein Ueberschuss
an anderen Nahrungsmitteln zur Verfügung stehen.
Ohne auf weitere Details einzugehen sei hier nur er-
wähnt, dass vielfach statt Voits 118 gr Eiweiss nur 100 gr
gefordert und selbst 80 — 90 gr als vollauf ausreichend er-
klärt werden.
Dass diese Nahrung, deren Energiegehalt ein •
durchaus normaler ist, nicht ideal zusammengesetzt ist,
soll nicht betritten werden; ebensowenig, dass die Lebens-
führung weiter Volkskreise — wie in dem angezogenen
Fall oft mehr in der Zusammensetzung als in der abso- ;
luten Menge der Nahrung — eine irrationelle, unzu-
reichende ist.
Arbeitszeit in der thüringischen Hausindustrie. Im
Centrum der thüringer Spielwaarenindustrie in Sonne-
berg, dessen Arbeiterverhältnisse aus der Schrift von Sax
bekannt sind, beschäftigen sich gegenwärtig die Gemeinde-
kollegien mit der Ausarbeitung eines Normativs zur Her-
beiführung einer 13sttindigen Arbeitszeit an 120 Tagen ;
des Jahres für die über 15 Jahre alten Arbeiterinnen der
Sonneberger Spielwaarenindustrie. Wie lang mag die Ar- j
beitszeit dieser Bedauernswerthen wohl jetzt sein, wenn -
man einen 13 ständigen Arbeitstag „für 120 Tage1 als einen .
Fortschritt betrachtet?
Die Arbeitsdauer in den Wiener Fabriken. Im Abschnitte
„Wien“ des neuen österreichischen Gewerbe-Inspektoren berichte*
findet sich folgende Uebersicht über die in 1006 fabrikmässig
betriebenen Unternehmungen übliche effektive Arbeitszeit:
Gewerbsgruppen
Anzahl
der
Betriebe
effektive Arbeitszeit in
Stunden
9 9V2 10 IOV2 11
Metall-Industrie
209
1
4
188
7
9
Maschinen-Industrie . . .
163
1
3
149
8
2
Industrie in Thon, Glas etc.
25
—
—
9
3
13
Industrie in Holz, Bein etc.
97
1
2
49
9
36
Leder-Industrie
49
—
—
38
3
8
Textil-Industrie
78
1
—
30
16
31
Bekleidungs-Industrie . .
65
2
9
7
16
31
Papier-Industrie
Nahrungs- u. Genussmittel-
49
2
3
24
8
12
Industrie. . . ...
54
2
—
16
10
26
Chemische Industrie . . .
48
—
—
16
12
20
Baugewerbe ....
95
—
—
95
—
Polygraphische Gewerbe .
74
9
63
—
2
Zusammen . . .
1006
19
84
621
92
190
In Prozenten. . .
100
1,9
8,4
61,7
9,1
18,9
Im Kleingewerbe ist die normale tägliche Arbeitsdauer
nahezu durchwegs um 1 Stunde länger als bei den gleichartigen
Grossbetrieben.
Erhebungen über Frauenarbeit im Kanton St. Gallen.
Im Sommer (August und September) 1891 liess der Regierungs-
rath des Kantons St. Gallen Erhebungen über die dem eid-
genössischen Fabrikgesetze nicht unterstellten Geschäfte vor-
No. 23.
sozialpolitisches centralrlatt.
289
nehmen, in welchen mehr als 2 weibliche Personen beschäftigt
wnren. Der Zeitpunkt der Erhebung war ein ungünstiger, weil
in roloe dei otickGreikrisis und des durch dieselbe verursachten
Arbcitsmangels eine nicht unbeträchtlich© ^alil von Ausrüstereien
damals nur 1 2, höchstens 3 Frauenspersonen — <>eo*enüber 5
mul ott 12-20 bei gutem Geschäftsgänge — beschäftigten,
andere vollständig geschlossen waren.
I3ie damalige Erhebung, deren Resultate gegenwärtig mit
einem Cresetzesvorschlage für ein Arbeiterinnenschutzgesetz in
einer vom 6. Mai d. J. datirten Botschaft des Regierungsrathes an
den grossen Rath publicirt werden, ergab das Resultat, dass
mein als ^ Personen von 155 Etablissements beschäftigt wurden,
und zwai von 1 1 1 mit der Stickerei in Zusammenhang stehenden
Betrieben, von 17 Damenschneidereien, Putzmachereien und
Weissnähereien, 14 Wäschereien und Glättereien, 10 Konfektions-
geschäften, je 1 Konservenfabrik, Schirmfabrik und Lumpen-
faktorei Hiervon kamen gerade die Hälfte (78) auf die Stadt
, . j.n> die anderen (77) auf den übrigen Kantonstheil ; von
den in diesen Etablissements thätigen 2209 Arbeiterinnen waren
6 unter 14 Jahre alt, 88 standen im Alter von 14 -16, 276 im Alter
von 16-18 Jahren und 1839 hatten das 18 Jahr überschritten,
1884 waren ledig und 325 verheirathet.
. , • ^ei c^er Erhebung fanden sich neben zufriedenstellenden
Arbeitsi aumen auch völlig unzulängliche und direkt gesundheits-
schädliche, selbst neuerstel te Ausrüstereien wurden konstatirt,
in denen nicht einmal 4 cbm Luft auf den Kopf der Arbeiterin
kamen. 1
r , wf durchschnittliche Arbeitszeit betrug 11, in manchen
Geschäften 12—13, m anderen 10 Stunden. Die Klagen über zu
weit gehende Ueberarbeitszeit und daraus folgender Ueberan-
strengung und Ermüdung (insbesondere auf Kosten der folgenden
lagesarbeiti waren ziemlich allgemein und wurden am meisten
von Arbeiterinnen der Modengeschätte, Damenschneidereien und
Ausrüstereien laut Demgemäss hat sich auch die grosse Mehr-
zahl der Arbeiterinnen für den Erlass eines Schutzgesetzes aus-
gesprochen. ö
Im Anschlüsse an die Resultate jener Erhebung theilt der
Regierungsrath ein Gutachten des Fabrikinspektors mit. Dieser
schreibt u. A.:
„Lehrtöchter bei Näherinnen, oft noch nicht 14 Jahre alt.
nicht selten schlecht genährt der frischen Luft die ganze Woche
entzogen, müssen halbe und ganze Nächte' bei der Arbeit aus-
arren. Ausrüsterinnen, Verweberinnen, Arbeiterinnen in kleinen
Konfektionsgeschäften bleiben oft bis 1 und 2 Uhr Nachts an-
gespannt, und dies Tag für Tag durch Wochen hindurch. Man
achtet kaum aut solchen Missbrauch, denn die Arbeit wird ja
meist still und geräuschlos in kleinen Räumen ausgeführt, dann
wird sie auch so oft selbst am vSonntag vorgenommen. Der
Mann, der m der Regel m eigentlichen Fabriklokalen und Werk-
statten und meist viel geräuschvoller arbeitet, ist solcher Aus-
nutzung nicht von ferne so ausgesetzt.
Dazu kommt noch ein weiterer Umstand — unter diesen
unkontrollierten Geschäften schmuggeln sich solche ein, welche
veimoge ihrer Arbeiterzahl unter das Fabrikgesetz gehören.
f,achsticken, Zusammennähen der Mauhairs, Verweben von Fein-
stickereien u. s. f., all’ dies wird so vor der fabrikpolizeilichen
Aufsicht m Sicherheit gebracht. Und welche Lokalitäten nehmen
,le^c ^eu*:e aul. Ich habe bei Inspektionen wegen Neuunter-
Stellungen ganz unglaublich schlechte sanitärische Verhältnisse,
so?ar ln vermeintlich schönen, selbst eleganten Arbeitsräumen
ge unden. In solchen Räumen halten sich aber nicht nur Kinder
und schwächliche Personen auf, sondern selbst Wöchnerinnen,
die ganz kurze Zeit nach ihrem Wochenbett zu ihrer Beschäfti-
*F™ckkehren, welche ihrer Gesundheit nicht selten sehr
ge anrlich wird. Die Fabrikarbeiterin ist geschlitzt; sie ist preis-
gegeben. ’ t 1
k" r W- so^ aber erst von den Kellnerinnen sagen? Ich
m fest überzeugt, manche derselben werden durch ihre Lieber-
anstrengung zur Sitten! osigkeit geführt Erschöpft suchen sie
durch geistige Getränke ihre Kräfte zu erhalten, ihr Nervensystem
anzuregen. Ihre überreizten Nerven machen sie widerstandsloser
gegen die drohenden sittlichen Gefahren. Wie erschöpfend mit
der Zeit eine solche Beeinträchtigung des Schlafes wirkt, wie
sie hier vorkommt, bedarf keiner Erörterung.“
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Der Erfurter Schulimacherstrike vom Jahre 18!K) war
eine der langwierigsten Arbeitseinstellungen im deutschen
: Keiche Jetzt wird die Abrechnung dieses für die Arbeiter
bekanntlich ungünstig ausgegangenen Kampfes veröffentlicht.
Kinnahmen und Ausgaben bilanziren mit 41942,89 M. Das
i Defizit beträgt 221,69 M. Abgesehen von zum grösseren Theil
ruckgezahlten Darlehen wurden die Kosten durch die Organi-
' Prionen und durch Sammlungen aufgebracht. Die beiden
wichtigsten Einnahmeposten waren die Leistungen des Vereins
deutscher Schuhmacher (27 171 M.) und der Generalkommission
deutscher Gewerkschaften (5 430 M.). Von anderen Gewerk-
schaften wurden 1711,92 M. beigesteuert, an sonstigen Ein-
nahmen werden ausser 575 M. Darlehen 3 974,05 M verrechnet
Die Einnahmen wurden hauptsächlich aul Unterstützungen
(39 673,08 M) verwandt, andere bemerkenswerthe Posten sind
die Rechtsanwaltskosten >502,33 M.), für die Verwaltung wurden
142,75 M. verausgabt und der in Folge des unglücklichen Aus-
ganges gegründeten Erfurter Schuhfabrik ein ' Mietbsvorschuss
von 660,50 M. bewilligt.
Sinke in der nordböhmischen Hausindustrie. Die
haiisindustriellen Glasperlenarbeiter an der böhmisch-
sächsischen Grenze, 2000 an der Zahl, haben wegen Nicht-
einhaltung der Minimallöhne die Arbeit eingestellt.
Organisation der deutsch-schweizerischen Buchdrucker.
Der „Typographenbund“ zählte im Jahre 1891 121 1 Mitglieder
(1890: 1150). Die Zahl der Buchdruckereien in der deutschen
Schweiz betrug 315, von denen 148 (47%) dem Fabrikgesetze
unterstellt waren. Im Jahrzehnt 1881 — 1891 hat der Typographen-
bund liir die Invaliden- und Sterbekasse 84615,80 Frcs für die
Krankenkasse 152 055,85 Frcs., für die Wanderunterstützungskasse
41 843,65 Frcs und für die Konditionslosenkasse 7 11565 Frcs.
verausgabt. Die französisch und italienisch sprechenden
schweizer Buchdrucker gehören einer besonderen ca. 500 Mit-
glieder umfassenden „Societe föderative des typographes de la
Suisse Romande“ an.
Ende des Bergarbeiteraiisstandes in Durliam. Der
Strike von 90 000 Bergleuten im Kohlenrevier von Dnrhatn
hat, wie vorauszusehen war, mit der Niederlage der Arbeiter
geendet. Im März dieses Jahres traten die Bergwerks-
besitzer an ihre Leute mit der Forderung heran, sich einer
Lohnreduction von 10 '/n zu unterwerfen. Die Bergleute
Hessen es lieber zum Strike kommen, als sich diesem An-
sinnen zu fügen. Als ein für die Arbeiter ungünstiger
Ausgang des Ivampfes sicher schien, erhöhten die Gruben-
besitzer ihre Forderung auf 13 W’/ul am L Juni haben sich nun
beide Parteien auf eine Herabsetzung von 1 0 °/0 geeinigt. I3er
offizielle Bericht über die Verhandlung, die dieserVerständigung
vorausging, lautet wie folgt : „Einer Einladung des Bischof von
Durham folgend begab sich die Lohnkommission der Durhäm
coal Owners Association heu.e zum Bischof Auckland, wo
sie mit dem Federation Board (dem Repräsentanten der
Arbeiter) unter Vorsitz des Bischofs eine Sitzung abhielt.
Das Resultat der Verhandlung zeigt folgender Beschluss:
„Nachdem das Federation Board Aufklärungen über ein in
Zukunft einzurichtendes System gütlicher Verständigung
gegeben, welches der Bischof von Durham den Bergwerks-
besitzern als befriedigend empfohlen und nachdem der
Bischof den Besitzern an’s Herz gelegt, — nicht auf
Grund eines Urtheils ob die Forderung der Besitzer
von IS'/a'/, berechtigt sei, sondern einfach in Erwägung
der verarmten I^age der Leute und des allgemein herrschen-
den Elends, — die Gruben wieder zu eröffnen, fügten sich
die Besitzer der Aufforderung des Bischofs, in der Erwar-
tung, dass die Löhne in Zukunft durch das in Erwägung
gezogene System gütlicher Verständigung festgestellt
werden sollen.“
Eröffnung der Pariser Central -Arbeitsbörse. Die
schon so lange erwartete Eröffnung bezw. Uebergabe der
Central- Arbeitsbörse an die Pariser Arbeitersyndikate,
deren Zahl gegenwärtig 230 beträgt, fand am 29. Mai
statt. Der Präsident des Munizipalrathes, Herr Sauton, der
nach 2 Uhr auf der Estrade des grossen, für allgemeine
Gewerkschaftsversammlungen bestimmten Saales erschien,
aut welcher sich bereits das Gros der Munizipalräthe, der
Pariser Abgeordneten und der Mitglieder der Exekutiv-
kommission der Arbeitsbörse befand, hielt die Eröffnungs-
rede. Aus derselben wäre besonders zu erwähnen, dass er
sich glücklich schätzte, öffentlich erklären zu können, dass
die so olt verlästerten, vom Munizipalrathe festgesetzten
Arbeitsbedingungen, unter welchen die von der Stadt zu
vergebenden öffentlichen Arbeiten auszuführen sind, näm-
lich: neunstündiger Arbeitstag, ein Ruhetag in der Woche,
Bezahlung des aufgestellten Minimallohnes und Verbot der
Anstellung von Unterakkordanten, sich beim Baue dieser
Arbeitsbörse vollauf bewährt haben, da, weit entfernt, den
Voranschlag zu überschreiten, wie das sonst gewöhnlich der
Fall, derselbe nicht einmal erreicht wurde. Was aber noch
mehr hervorzuheben wäre, das ist der Geist internationaler
Solidarität, der Hei dieser Feier so lebhaft zum Ausdruck
kam. So fand Herr Sauton besonders lebhaften Beifall
wegen der Schlussstelle, als er sagte : „Ich übergebe Ihnen
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
290
No. 23.
im Namen der Stadt Paris diese Central-Arbeitsbörse mit
dem Vertrauen, dass sie in Ihren Händen ein Werkzeug der
Friedensstiftung sein wird, das, Ihnen den Sieg Ihrer ge-
rechten Forderungen sichernd, gleichzeitig durch die Ver-
bindungen, die Sie berufen sein werden, mit den Arbeitern
der übrigen Länder anzuknüpfen, dazu beitragen wird, eines
Tages den Weltfrieden zu stiften.“ Am Abend fand im
selben Saale die Schlussfeier statt, die der Munizipalrath zu
Ehren der Arbeitersyndikate veranstaltet hatte und aus einem
Konzert und „Ehrenwein“ bestand. Während dieser heier
war die Fagade der neuen Arbeitsbörse glänzend be-
leuchtet.
Unternehmerverbände.
Die Oelsnitz— Gersdorf— Lugauer Steinkohlenberg-
werke haben nach Mittheilung des in Zwickau erscheinen-
den Bergarbeiterblattes „Glück Auf!“ einen Vertrag ge-
schlossen, wonach Leute: ,
die die vorgeschriebene Kündigung nicht mnehalten
und auf Wunsch entlassen werden,
die auf einem Werke, ohne die in § 80 sub b unter
1 — 6 des Berggesetzes vom 16 Juni 1868 angeführten
Gründe für sich zu haben, von der Arbeit wegbleiben,
oder dieselbe verlassen, ferner solche Arbeiter, die sich
nach Erlangung ihres Attestes resp. des Lohnrestes
in so ungebührlicher und roh el Weise betragen, dass ihre
Aufführung durch Laufzettel bekannt gegeben wird, und
die, welche aus einem der in § 80 sub a unter 1 bis I I
des Berggesetzes angeführten Gründe sofort entlassen
werden,
auf keinem der betreffenden Werke, bei Konventionalstrafe,
in Arbeit genommen werden dürfen.
Arbeitszeitbeschränkung in der sächsischen Stickerei
industrie. Der Vorstand des Centralverbandes der Stickerei-
industrie für Sachsen hat beschlossen, für die dem Ver-
bände angehörenden Betriebe die früher beschränkte
Arbeitszeit wieder einzuführen. Der Wunsch darnach war
in der letzten Generalversammlung des Verbandes von der
überwiegenden Mehrheit ausgesprochen worden. Darnach
darf die Arbeitszeit nicht vor 6 Uhr Morgens beginnen und
nicht nach 8 Uhr Abends beendet werden.
Landwiithschaftliche Genossenschaften. Der allge-
meine Verband der landwirthschaftlichen Genossenschaften
des Deutschen Reichs hält während der Tage vom 13. bis
15. Juni seinen 8. allgemeinen Vereinstag in Insterburg ab.
Der Verband umfasste am Schlüsse des Jahres 1890 22 Ver-
bände landwirthschaftlicher Genossenschaften und 24 un-
mittelbar angeschlossene Genossenschaften, im Ganzen 1556
einzelne Genossenschaften mit 103 980 Genossen. Die 852
landwirthschaftlichen Konsumvereine des allgemeinen Ver-
bandes bezogen 1890 durch ihre Centralstellen bezw. Central-
genossenschaften 2 153 178 Zentner Waaren, für welche ein
Gesammterlös von 7 504 104 M. erzielt wurde. Aus dem
reichhaltigen Waarenbezug heben wir hervor: 60 646 Ztr.
Chilisalpeter, 172 672 Ztr. Superphosphate, 407 694 Ztr.
Thomasschlacke, 167 000 Ztr. Kainit, zusammen 1060 256 Ztr.
Düngemittel und 500 000 Ztr. Futtermittel.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Zur Ausführung der neuen Gewerbeordnung für das
deutsche Reich. Es ist bezeichnend für den Geist der
neuen Gewerbeordnung, dass gerade die moralisirenden
Bestimmungen derselben, auf welche regierungsseitig der
grösste Werth gelegt wurde, die grössten Unzuträglich-
keiten in der Praxis herbeiführen. Oie neue Gewerbeord-
nung bestimmt in § 107, dass das Arbeitsbuch eines Ar-
beiters, der das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat,
nach rechtmässiger Lösung des Arbeitsverhältnisses an den
Vater oder Vormund des Arbeiters und nicht an den
Arbeiter selbst auszuhändigen ist. Die Aushändigung an
den Arbeiter selbst darf nur mit Genehmigung der Ge-
meindebehörde geschehen. Zu diesem Paragraph der Ge-
werbeordnung bestimmt die württembergische Ministerial-
verfügung vom 26. März 1892 im § 19, dass die Genehmi-
gung zur Aushändigung an den Arbeiter selbst von dem
Gemeinderath des Ortes, wo der Arbeiter seinen dauern-
den Aufenthalt hat, ertheilt werden kann. Die Genehmi-
gung ist nach der Ministerialverfügung; insbesondere in
solchen Fällen zu ertheilen, wo die Aushändigung der Ar-
beitsbücher an den Vater oder Vormund wegen dessen
Abwesenheit schwer zu bewirken ist. Diese Bestimmungen
haben in Stuttgart schon jetzt zu grossen Unzuträglich-
keiten geführt. In jedem Frühjahr kommen von den Land-
orten junge Leute unter 16 Jahren in grosser Zahl nach
Stuttgart, um bis zum Herbst bei Bauten zu arbeiten.
Wenn diese jungen Leute ihr Arbeitsverhältniss lösen, so
können sie erst dann wieder in eine neue Stellung eintre-
ten, wenn sie sich in den Besitz ihres Arbeitsbuches ge-
setzt haben. In den Besitz des Arbeitsbuches können sie
entweder dadurch kommen, dass das Buch von dem frühe-
ren Arbeitgeber dem auswärts wohnenden Vater und von
diesem dem in Stuttgart wohnenden Arbeiter zugeschickt
wird, oder dadurch dass der Gemeinderath dem Arbeit-
geber die Genehmigung giebt, das Buch an den Arbeiter
selbst auszuhändigen. In dem einen wie in dem anderen
Fall vergehen mehrere Tage, bis der Arbeiter das Arbeits-
buch und dadurch die Gelegenheit zur Erlangung einer
neuen Stelle bekommt. Er ist daher gezwungen, sich
mehrere Tage beschäftigungslos in Stuttgart her-
umzutreiben. In anderen gewerblichen Betrieben können
sich die jugendlichen Arbeiter dadurch helfen, dass sie
während des Laufes der Kündigungsfrist die Genehmigung:
des Gemeinderaths, die immer ungefähr eine Woche in.
Anspruch nehmen wird, einholen. Für die jugendlichen
Arbeiter in Baugeschäften besteht aber diese Möglichkeit
nicht, weil in sämmtlichen Stuttgarter Baugeschäften die
Kündigung aufgehoben ist und daher der Arbeiter jeden Tag'
zu gewärtigen hat, ohne Weiteres entlassen zu werden.
Alle Unzuträglichkeiten wären nach der Ansicht des \ er-
sitzenden des Stuttgarter Gewerbegerichts, welcher diesen
Gegenstand vor den dortigen Gemeinderath gebracht hat,
vermieden, wenn in der Ministerialverfügung bestimmt
wäre, dass nicht der Gemeinderath, sondern der Ortsvor-,
Steher, bezw. das Stadtpolizeiamt zur Ertheilung der er^
forderlichen Genehmigung befugt ist. Die Genehmigung!
des Ortsvorstehers oder des Stadtpolizeiamts könnte ohne.
Schwierigkeit am gleichen Tage, an dem das Arbeitsver-;
hältniss gelöst wird, erlangt werden und es könnte daher
der Arbeiter in allen Fällen sofort eine neue Stelle an-
treten. Der Gemeinderath beschloss nun in seiner Sitzung
vom 19. Mai aus den vorgetragenen zutreffenden Gründen,
das königliche Ministerium des Innern um eine Ergänzung
des § 19 der Ministerialverfügung in der Richtung zu er-
suchen, dass in dringenden Fällen dieser Art die Ortspoli-
zeibehörde an Stelle des Gemeinderaths treten kann.
ßergarheitergesetzgebung in Baden. Am I. Januar 1891
ist in Baden ein Berggesetz vom 22. Juni 1890 in Kraft
o-etreten. Durch dasselbe ist der unsichere und unhaltbare
Zustand auf dem Gebiete des badischen Bergrechts beseitig
und der staatlichen Verwaltung des Bergwesens, welche bi;
dahin bei dem Mangel fester Rechtsnormen ihre Entschei-
dungen theils nach veralteten Berggewohnheiten, theils
lediglich nach administrativem Ermessen zu treffen hatte, du
Möglichkeit einer erspriesslichen Thätigkeit eröffnet worden
Im Ganzen waren im Jahre 1891 in Baden 45 Bergwerk!
(gegen 42 im Jahre 1890) im Betrieb. Die vorbezeichnetei
45 Bergwerke vertheilen sich tolgendermassen: 1 Stein
kohlenbergwerk, 5 Erzbergwerke, 18 Gypsgruben, 15 Quarz
sand- und Thongruben, 2 Kalkstein- und Cementschieter
gruben, 2 Trippei- und 2 Mühlsteingruben. Alsbald nacl
dem Inkrafttreten des Berggesetzes sind sämmtliche Berg
Werksbesitzer von der oberen Bergbehörde unter Hinwe.
auf die Bestimmungen des § 74 des Berggesetzes und s ■
der zu letzterem erlassenen Vollzugsverordnung vom 31. De
zember 1890 zur Einreichung von Arbeitsordnungei
aufgefordert worden. Zur Prüfung und Genehmiguni
wurden im Ganzen 9 Arbeitsordnungen eingereicht, wovoi
bis Ende 1891 7 als den gesetzlichen Vorschriften ent
No. 23.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
291
sprechend gutgeheissen worden sind. Von dem weitaus
grössten Theile der Bergwerksbesitzer ist auf Grund des
§ 74 Absatz 4 des Berggesetzes bezw. § 52 Absatz 4 der
Vollzugsverordnung um Entbindung von der Erlassung
einer Arbeitsordnung nachgesucht worden. Diese Nachsicht
wurde bis zum Schlüsse des Berichtsjahres in 30 Fällen
ertheilt. Zwangsweise Betriebseinrichtungen auf Grund
der §§ 65 und 70 des Berggesetzes haben während des
Berichtsjahres nicht stattgefunden. Verunglückungen der
in § 153 des Berggesetzes bezeichneten Art sind im Jahre
1891 bei der Bergbehörde nicht zur Anzeige gelangt; auch
ist keine Anzeige über eine auf einem Bergwerke einge-
tretene Gefahr (§ 152 des Berggesetzes) erstattet worden,
was zum Theil darauf zurückzuführen sein dürfte, dass den
Bergwerksbesitzern und Betriebsführern die Bestimmungen
der §§ 152 und 153 des Berggesetzes nicht genügend
bekannt sind. Es sind nach dieser Richtung neuerlich
Instruktionen für die Aufsichtsbeamten erlassen worden.
Im laufenden Jahre werden sämmtliche in Betrieb befind-
lichen Bergwerke und unterirdischen Gruben von Amts-
wegen befahren werden.
Zur Berggesetznovelle. Erst jetzt wird näher bekannt,
welche Forderungen im Einzelnen die Bergleute der fis-
kalischen Kohlengruben im Saar re vier mit Bezug auf der
Berggesetzreform aufgestellt haben. Sie beschlossen folgende
Petition : h Achtstündige Schichtdauer für sämmtliche
Arbeiter über Tag und unter Tag und für sämmtliche im
Förderbetrieb angestellten Arbeiter, einschliesslich der Einfahrt
und der Ausfahrt. § 2. Die Häuer über Tage und die Häuer
unter Tage sollen im Schichtlohn nicht unter fünf Mark erhalten.
§ 3a. Die Akkord- oder Gedingarbeiter sollen nicht unter fünf
Mark täglich erhalten und soll ihnen im Falle höheren Ver-
dienstes dieser nicht herabgemindert werden. § 3 b. Die
Schlepper sollen auf die Dauer von 3 Jahren vier Schichten ab-
gesetzt erhalten, d h. ein Sechstel der Schicht soll ihnen
weniger als den Hauern angerechnet werden. § 4. Die Kinder
der Bergleute resp. nur deren Söhne sollen vor anderen bei An-
legung berücksichtigt werden und zwar nach der Reihenfolge
ihrer zeitlichen Anmeldung. § 5. Die geförderte Kohle soll nach
dem Gewicht bestimmt und darnach erst die Frage entschieden
werden, was etwa als untauglich oder unsauber abzuziehen sei.
§ 6 Es soll ein Schiedsgericht gebildet werden, das bei allen
Äenderungen im Grubendienst, bei allen hervortretenden
Schäden und Schwierigkeiten, bei allen Streitigkeiten der Berg-
leute unter sich und mit Bediensteten und Beamten und bei der
Festsetzung der Normalsätze der Gedinge mitberathet und mit-
beschliesst. Das Schiedsgericht soll hergestellt werden durch
sieben Mitglieder: a) den Abtheilungsbeamten, b) zwei von der
Belegschaft zu wählenden Beamten, c) drei von der Belegschaft
zu wählenden Bergleuten, d) dem von der Belegschaft zu
wählenden Vorsitzenden des Schiedsgerichts, welcher mindestens
zehn Jahre Bergmann gewesen sein muss. § 7. An Stelle der
§§ 80- 90 der vorgeschlagenen Berggesetznovelle soll die Be-
stimmung treten: Ohne Einwilligung des Schiedsgerichts kann
kein Bergmann dauernd abgelegt werden. Gegen zeitweilige
Ablegung steht der Rekurs an das Schiedsgericht zu. Ent-
scheidet das Schiedsgericht gegen die zeitweilige Ablegung, so
wird dem betroffenen Bergmann der ausgefallene Verdienst
nachbezahlt.“ Nebenbei beschloss man folgende Resolution, die
darauf schliessen lässt, dass die Saarbergleute die Betriebsver-
hältnisse der fiskalischen Gruben keineswegs als „mustergiltig“
betrachten: „Die unterfertigten Bergleute, welche ihre Anträge
zur Berggesetznovelle gestellt haben, erheben gleichzeitig
energisch Protest, dass der Antrag auf Einführung bezw.
Wiedereinführung der dreijährigen Lehrzeit für Vollhäuer nichts-
sagenden Ausflüchten und Versprechungen zum Opfer gebracht
und das Leben der Arbeiter, wie bereits bei der zweiten Lesung
von Sr. Excellenz dem Herrn von Berlepsch berührt worden,
gefährdet wird. Ferner protestiren dieselben gegen die jetzt
überhandnehmende Uebung der Fiskalgruben des Saarreviers,
dass Bergleute in grösserer Zahl ohne Gründe oder unter Zu-
fügung des verleumderischen Hohnes, sie seien Faullenzer, ab-
gelegt werden.“
Am 29. Mai fand in Dortmund eine Bergarbeiterversamm-
lung des Ortsvereins statt, in welcher nach einem Vortrage des
Bergmanns Zimmermann folgende Entschliessung einstimmig an-
genommen wurde: ,,An das hohe Herrenhaus, Berlin! Die heutige
Versammlung des Ortsvereins „Glückauf“, Dortmund, beschloss
nach Besprechung der Berggesetznovelle, dem hohen Herrenhause
die Bitte zu unterbreiten: lieber den Entwurf zur Abänderung
des Berggesetzes, wie ihn das preussische Abgeordnetenhaus zu
1 Stande gebracht hat, ganz fallen zu lassen, als ihn in dieser
I Form anzunehmen. Die Versammlung drückt dabei den Wunsch
aus, dass es der Staatsregierung in Verbindung mit den auf-
richtig arbeiterfreundlichen Parteien des Landes gelingen werde,
recht bald einen anderen Gesetzentwurf auch im preussischen
Abgeordnetenhaus.' durchzubringen, welcher de berechtigten
Forderungen und Interessen der Bergleute in wirksamer Weise
i schützt. Der Entwurf in seiner jetzigen Gestalt wird die
sozialen Gefahren nicht bannen, sondern Tausende treuer Söhne
des Vaterlandes mit neuem Misstrauen erfüllen und der Ver-
führung der Sozialdemokratie zugänglich machen.“
Die Sonntagsruhe für das berliner Bäckergewerbe wird
nach neueren Mittheilungen nicht am 1 Juli sondern erst
am I. Oktober d. J. in Kraft treten. Die Arbeit darf aber
auch dann schon um Mitternacht wieder beginnen. Der
Verkauf von Backwaaren an Sonntagnachmittagen, um
dessen Bewilligung die berliner Bäckermeister in einer
Eingabe das Polizeipräsidium ersuchten, wurde nicht ge-
nehmigt.
Schutzvorschriften für ländliche Arbeiter. Nach dem
Bericht des grossherzogl. hessischen Fabrikinspektors (I Auf-
sichtsbezirks Starkenburg und Worms) für 1891 wurde in diesem
Jahre für den Umfang des Kreises Darmstadt eine Polizeiver-
ordnung, betreffend den Betrieb landwirtschaftlicher Maschinen,
erlassen. Nach derselben müssen bei allen durch ein Göpelwerk
oder ein Lokomobile betriebenen landwirtschaftlichen Ma-
schinen die das Göpelwerk mit der Maschine verbindende Welle
und alle beweglichen Theile an Maschine und Göpel , welche
nach Lage und Beschaffenheit geeignet sind, Unglücksfälle
herbeizulühren, mit einer starken Bekleidung aus durchlochtem
Blech, Drahtgitter oder Brettern gesichert sein. Bei Trans-
missionsriemen ist der Zugang durch Geländer oder Seile ab-
zusperren. Es muss künftig an allen in Gebrauch zu nehmenden
landwirtschaftlichen Maschinen, welche durch ein Göpelwerk
oder ein Lokomobile in Betrieb gesetzt werden, eine Vor-
richtung angebracht werden, welche die an der Maschine ar-
beitenden Personen in den Stand setzt, die Verbindung zwischen
dieser und dem Göpelwerk oder dem Lokomobile sofort zu
unterbrechen (Ausrückevorrichtung). An Maschinen im Betrieb
ist das Entfernen der Schutzbekleidung, das Schmieren inner-
halb der letzteren und das Arbeiten in der Einlegeöftnung mit
der Hand oder dem Fuss verboten. Die Arbeiter müssen eng-
anliegende Kleidung und festsitzendes Schuhwerk tragen,
betrunkene oder epileptische Personen dürfen gar nicht, weib-
liche nur an ganz ungefährlichen Stellen verwendet werden.
Der Zutritt zum Arbeitsplatz ist LTnbefugten untersagt. Ausser
Betrieb befindliche Rübenmühlen und Häckselschneidmaschinen
müssen entweder in einem verschlossenen Raum aufbewahrt
oder durch Schloss und Kette derart verwahrt werden, dass sie
nicht in Umdrehung gesetzt werden können. Es wäre sehr zu
wünschen, dass diese Massnahme mehr verallgemeinert und
ihre Kontrolle unter eine bessere Spezialaufsicht gestellt würde
Sonntagsruhe der Eisenbahnbediensteten. Frühere
Nachrichten über die Einschränkung der Sonntagsarbeit im
Gebiete der preussischen Staatsbahnen werden durch fol-
gende neuere Mittheilungen ergänzt. Wie aus Bromberg
gemeldet wird, ist dort eine Konferenz von Eisenbahn-
Betriebsleitern und Kommissaren der Regierung zusammen-
getreten, um über die Sonntagsruhe im Güterverkehr zu
berathen. Beabsichtigt wird, die Sonntagsruhe von .Sonn-
abend Mitternacht bis Montag 6 Uhr früh festzusetzen, die
Güterzüge sollen in den Stationen bleiben, wo sie um
Mitternacht ankommen, das Zugpersonal soll thunlichst mit
Personenzügen heimgesandt werden und Montag Morgens
zurückkehren, was den am Rhein bereits getroffenen An-
ordnungen entsprechen würde. Ferner dürfen Sonntags
nach einer Verfügung der königlichen Eisenbahn-Direktion
Erfurt Ladungsgüter nur dann abgefahren werden, wenn
eine schriftliche Bescheinigung der Ortspolizeibehörde vor-
hegt, in welcher ausdrücklich gesagt ist, dass eine unbe-
dingte Nothwendigkeit vorliegt.
Folgen des Ruhetagsgesetzes für die schweizerischen
Eisenbahnen. Eine wesentliche Ursache der erhöhten Aus-
gaben der schweizerischen Eisenbahnen wird auf die sich
bei der Durchführung des Ruhetagsgesetzes als nöthig er-
wiesene Vermehrung des Personals zurückgeführt. Wäh-
rend von 1889 auf 1890 die Zahl der Angestellten der fünf
grossen schweizerischen Eisenbahngesellschaften nur um
911 von 14 067 auf 14 978 stieg, steigerte sie sich von 1890
auf 1891 um 1949 von 14 978 auf 16 927. Hier zeigt sich,
eine unleugbare Einwirkung des Arbeiterschutzes auf die
industrielle Reservearmee, welche bei den eigentlichen ge-
werblichen Betrieben aller Wahrscheinlichkeit nach nicht
stattfindet.
292
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 23.
Arbeiterversicherung.
Revision der „ortsüblichen Taglöhne“ nach dem neuem
Krankenversicherungsgesetze. Vor dem Inkrafttreten der
Novelle zum Krankenversicherungsgesetz, also vor dem 1. Januar
1893, ist eine Revision der Festsetzungen der ortsüblichen Tag-
löhne gewöhnlicher Tagarbeiter vorzunehmen, bei welcher für
Württemberg nach einer Verfügung des Ministeriums des
Innern vom 23. Mai von folgenden Grundsätzen auszugehen ist:
l. Den Bezirksämtern bleibt es überlassen, die Festsetzung für
jede einzelne Gemeinde ihres Bezirks besonders oder, sofern
die Verhältnisse im Wesentlichen gleich liegen, für mehrere
Gemeinden oder den ganzen Oberamtsbezirk gemeinsam zu
treffen. Eine vorherige Anhörung des Gemeinderaths jeder ein-
zelnen Gemeinde hat aber auch dann zu erfolgen, wenn die
Festsetzungen für den ganzen Bezirk oder Theile desselben
gemeinsam getroffen werden sollen. 2. Für jeden Gemeinde-
bezw. Oberamtsbezirk müssen zufolge § 8 des R -Ges. wenigstens
vier Lohnsätze festgestellt werden, nämlich für männliche Per-
sonen über 16 Jahren, für männliche Personen unter 16 Jahren,
für weibliche Personen über 16 Jahren und für weibliche Per-
sonen unter 16 Jahren. Für solclie Bezirke, in denen die Lohn-
verhältnisse der unter 16 Jahre alten (jugendlichen) gewöhn-
lichen Tagarbeiter erhebliche Verschiedenheit aufweisen,
je nachdem es sich um „junge Leute“ zwischen 14 und
16 Jahren oder um „Kinder“ unter 14 Jahren handelt, sind
getrennte Festsetzungen für beide Kategorien zulässig, wobei
dann wiederum zwischen männlichen und weiblichen Personen
zu unterscheiden ist Weitere Unterscheidungen sind aus-
geschlossen. 3. Bei der Festsetzung sind nur die Löhne solcher
Lersonen zu Grunde zu legen, welche Arbeiten, die eine be-
sondere Vorbildung oder besondere technische Fertigkeiten
nicht erfordern, als gewöhnliche Tagarbeiter verrichten.
Es scheiden dabei also insbesondere alle sogenannten gelernten
Arbeiter aus. Arbeiter, die in einem festen, für längere Zeit ab-
geschlossenen Dienstverhältniss zu einem bestimmten Arbeit-
geber stehen, können als „gewöhnliche Tagarbeiter“ in der
Regel nicht angesehen, also bei Festsetzung der hier in Be-
tracht kommenden Lohnsätze in der Regel nicht mitberück-
sichtigt werden. Der Lohn von Lehrlingen bleibt ausser An-
satz, weil Lehrlinge keine „gewöhnlichen Tagarbeiter“ sind.
Wenn das Gesetz vorschreibt, dass für Lehrlinge die für junge
Leute getroffene Feststellung gelten soll, so bezieht sich dies
nur auf die Anwendung der festgestellten Sätze, nicht auf die
Feststellung derselben. 4. Die Festsetzung erfolgt nach Mass-
gabe desjenigen Lohns, welcher den gewöhnlichen Tagarbeitern
(Ziffer 3) an dem betreffenden Ort thatsächlich für den Arbeits-
tag gewährt zu werden pflegt. In solchen Bezirken, wo der
Taglohn in den einzelnen Jahreszeiten eine ver-
schiedene Höhe hat, sind die wirklichen Tagesver-
dienste für 300 Werktage zu addiren und durch 300
zu t heilen. 5 Dem in baarem Gelde gewährten Lohnbetrage
ist der Werth von Naturalbezügen (Beköstigung oder dergl.)
hinzuzurechnen, wenn und soweit solche dem gewöhnlichen
I agarbeiter gewährt werden. Die neu festgesetzten Taglohn-
sätze sind bis 1. Juli d J. in den Amtsblättern zu veröffent-
lichen. — Soweit die ministerielle Ausführungsverordnung. Aus
derselben, namentlich aus der Vorschrift unter 4. geht von
Neuem hervor, dass die amtlichen Taglohnfestsetzungen auf
Grund des Krankenversicherungsgesetzes keine sozialwissen-
schaftlich verwerthbare Ziffern liefern können.
Die Photographie im Dienste der Unfallversicherung.
Die Bezirkshauptmannschaft Baden ist, wie wir dem Wiener
„Arbeiterschutz“ entnehmen, an die niederösterreichische Unfall-
versicherungsanstalt mit dem sehr beherzigenswerthen Vor-
schläge herangetreten, den örtlichen Thatbestand gleich nach
einem erfolgten Unfälle durch Photographie zu fixiren und hie-
durch ein wichtiges Substrat für die Amtshandlung besonders
dann zu gewinnen, wenn der Thatbestand vorübergehend oder
sonst veränderlich ist. Da es bei dem ersten Lokalaugenscheine
ott auf Details ankommt, die nur ein Sachverständiger zweck-
entsprechend zu würdigen vermag, welcher jedoch dieser ersten
Besichtigung meist wegen deren Dringlichkeit nicht beiwohnen
kann, so schlägt die genannte Behörde vor, den Thatbestand
durch photographische Aufnahme festzustellen. Die Bezirks-
hauptmannschatt geht hier von der Annahme aus, dass durch
einen solchen Vorgang nicht nur der allgemeine Eindruck und
die Einzelheiten der Unglückstätte weit anschaulicher und
präziser wiedergegeben werden könnten, als durch die beste
Beschreibung, sondern dass damit auch solche Details fixirt
würden, welche dem Laien entgehen oder unwesentlich er-
scheinen, während sie dem Sachverständigen zur unentbehr-
lichen Grundlage seiner Schlüsse zu dienen vermögen. Auch
für spätere Revisionen der Betriebsanlagen und die Unfall-
statistik werden photographische Momentaufnahmen von grossem
Werthe sein. Durch die photographische Aufnahme wird die
Eruirung des am Unfälle Schuldtragenden erleichtert, weil hie-
durch den Folgen späterer Hinwegräumung von Gegenständen,
die den Unfall verursacht haben, die oft auch wegen der
Sicherheit des Lebens erfolgen muss, d i. der möglichen Ver-
tuschung des Sachverhaltes vorgebeugt wird So in Stein-
brüchen, bei welchen überhängende Steinmassen in die Tiefe
stürzten und die Unfallstelle von herabgefallenen Steinmassen
ebenso gereinigt wird, wie etwa noch überhängende Felsstücke I
abgesprengt werden, so bei Gerüsteinstürzen, wo die Unfallstelle
aus Verkehrsrücksichten oder um weitere Unfälle zu verhüten,
geräumt werden muss, bei Maschinenbrüchen, die mit Arbeiter-
unfällen verbunden sind und im Interesse des Geschäftsganges
sofort reparirt werden müssen u. s w.
Die Photographie gestattet noch eine anderweitige An-
wendung im Dienste der Unfallversicherung, indem der Ver-
trauensarzt, welcher den Verletzten zum Zwecke der richtigen
Rentenbemessung zu untersuchen und hierüber ein genaues
Gutachten an die Unfallversicherungsanstalt abzugeben hat, das
verletzte Glied photographisch aufnimmt und demnach ein in
seiner Präzision die beste Beschreibung übertreffendes Mittel
für die Beurtheilung der Verletzungsart bietet.
Es steht demnach zu erwarten, dass die jüngst popularisirte
Kunstfertigkeit der photographischen Aufnahmen der LTnfall- 1
Versicherung wichtige Dienste ebenso für die Klarstellung des
Thatbestandes an der Unglücksstätte, als auch der Verletzungs-
art und des durch diese bedingten Grades der Erwerbsunfähig-
keit leisten wird.
Höhere Entschädigung von Unfällen bei weiblichen
Arbeitern Im Falle der 18 jährigen Arbeiterin Bertha
Kempf sprach in letzter Zeit das Schiedsgericht in Unfall-
versicherungssachen den beachtenswerthen Grundsatz aus,
dass weiblichen Arbeitern bei deren mehr zur Arbeit er-
forderlichen Geschicklichkeit der Verlust der rechten Hand
empfindlicher sein müsse, als dies bei männlichen der Fall
sei Es erhöhte deshalb deren Unfallrente auf erfolgte Be-
rufungsklage gegen den Bescheid der Berufsgenossenschaft,
wonach die Klägerin 60 pCt. der vollen Unfallrente zuge-
billigt wurden, aut 75 pCt. Die Verletzte hatte, in einer
chemischen Fabrik beschäftigt, zwei Glieder des Zeige-,
Mittel- und Ringfingers der rechten Hand verloren.
Krankenversicherung (1er Dienstboten in Baden. Die,
badische zweite Kammer hat in ihrer Sitzung vom 25. Mai
d. J. beschlossen, auch die häuslichen Dienstboten vom
Zeitpunkte des Inkrafttretens der Novelle zum Kranken-t
kassengesetze dem Krankenversicherungsgesetze zu unter-
stellen und die besondere landesgesetzliche Krankenver-
sicherung derselben von diesem Zeitpunkte an wegfallen
zu lassen.
Zur Invaliditäts- und Altersversicherung der See-,
leute. Die deutsche See-Berufsgenossenschaft hielt, wie
der Vossischen Zeitung mitgetheilt wird, am 28. Mai in:
Rostock ihre Jahresversammlung, welche aus Hamburg, Bre-
men, Lübeck, Kiel, Stettin, Danzig, Königsberg, im Ganzen aus'
16 Hafenplätzen der Nord- und Ostsee durch 32 Vertreter;
mit 40 Stimmen beschickt war. Den Hauptgegenstand der
Verhandlungen bildete ein durch eine Denkschrift vorbe-
reiteter Antrag des Vorsitzenden, Herrn Laeisz aus Ham-
burg, in Betreif der Invaliden- und Altersversicherung der
Seeleute. Dieselbe wurde von allen Seiten als reformbe-
dürftig erkannt Namentlich wurde hervorgehoben, dass
die Todesfälle von Seeleuten in Folge klimatischer Krank-
heit nicht als Unfall gelten, dass Seeleute selten in den Be-
sitz von Altersrenten gelangen, indem sie meistens vor dem
70. Lebensjahre in den Beruf von Bootsführern, Fischern etc.
übertreten u. s. w., und dass der Aufwand von etwa
400 000 Mk., die jährlich an die Invaliditäts- und Altersver-
sicherungsanstalt zu Lübeck eingezahlt werden, nicht in
richtigem Verhältnis zu dem geschaffenen Nutzen und der
Masse von Arbeit bei der Verwaltung stehe. Schliesslich j
wurde der nachstehende, von dem Vorsitzenden vorgelegte
Antrag mit 39 gegen eine Stimme angenommen: „Die Ge-
nossenschafts-Versammlung hat von dem ihr unterbreiteten
Material, betreffend Uebernahme der Invaliditäts- und Alters-
versicherung auf die See-Berufsgenossenschaft, mit Inter- :
esse Ivenntniss genommen, und spricht ihre Zustimmung zu
den darin entwickelten Gesichtspunkten aus. Sie erblickt
in der jetzigen Form der Invaliditäts- und Altersversiche-
rung eine ungerechte Belastung der deutschen Rhederei
und des Seemannsstandes, welche neben einer Masse un-
produktiver Arbeit nur verhältnissmässig geringen Nutzen
schafft; sie würde es als einen Segen für die deutsche See-
fahrt^ begrüssen, wenn ohne Mehraufwendung von Kosten
die Fürsorge für Wittwen und Waisen der an Berufskrank-
heiten verstorbenen Seeleute neben der Invaliditäts- und
Altersversicherung von der See-Berufsgenossenschaft be-
stritten werden könnte, und beauftragt den Vorstand, die
hierzu geeigneten Schritte in die Wege zu leiten.“
No. 23.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
293
Vereins- und Fabrikkassen in Ungarn. Unter den
Arbeitern Budapests herrscht grosse Aufregung, welche
vielleicht noch zu ausgedehnten Arbeitseinstellungen führen
wird. Dieselbe wird von den Unternehmern verursacht,
welche die Arbeiter zum Austritte aus ihrer fast ein Viertel-
jahrhundert bestehenden Vereinskasse und zum Eintritt in
eben gegründete oder in Aussicht genommene Fabrikskassen
zwingen wollen.
Gewerbegerichte, Einigungsämter und
Arbeiterausschüsse.
Arbeiterausscliiis.se in Oesterreich Bezeichnend für die
sozialpolitische Stimmung in den liberalen Unternehmerkreisen
Cisleithaniens ist die Stellungnahme derselben zu dem Plane
der dortigen Regierung, die Arbeiterausschüsse obligatorisch
einzuführen Diese Stimmung kam in sehr deutlicher Weise
zum Ausdruck in einem Referate, welches in der letzten Sitzung
der Brünner Handels- und Gewerbekammer der Kammersekretär
namens der betheiligten Sektionen über die Regierungsvor-
lage, betreffend die Schaffung von Arbeiterausschüssen und
Einigungsämtern, erstattete. Der Bericht bezeichnet den Ge-
dankengang, in welchem sich der Inhalt der Regierungsvorlage
bewegt, als einen kühnen; in grossen Zügen werde eine Gesell-
schaftsorganisation entworfen und als deren Ziel die Herstellung
des Friedens zwischen Kapital und Arbeiter betont. Dieser
Charakter der Regierungsvorlage sei ein utopischer. Die Ent-
wicklung des industriellen Lebens in Oesterreich kranke viel-
fach daran, dass die Grundsätze der Gewerbefreiheit, gerade
was das Arbeitsverhältniss anbelange, nur schwächlich und ver-
kümmert zur Durchführung gekommen seien. Insoferne die
Regierungsvorlage eine liberale Ausgestaltung des gegenwärtigen
Arbeitsverhältnisses zum Ziele habe, stimme die Brünner Kammer
mit ihr überein; hingegen sei der Weg, den der Regierungs-
entwurf zur Erreichung dieses Zieles vorschlägt, nicht zu billigen.
Statt dem wirklichen Leben und seiner Entwicklung zu folgen,
strebe die Regierungsvorlage eine Uniformirung und Regle-
mentirung der sozialen Bewegung unserer Zeit an. Der Ent-
wurf wolle die Freiheit des Arbeitsverhältnisses, er wolle sie
aber nicht auf dem Wege der Freiheit, sondern auf dem staat-
licher Fürsorge erreichen Die Ansicht der Brünner Kammer
gehe dahin, dass der Weg freiheitlicher Entwicklung nicht
versperrt, sondern im Gegentheile erweitert werden solle. In
diesem Sinne würdige die Kammer die sozialpolitische Bedeu-
tung der Arbeiterausschüsse vollkommen und empfiehlt deren
fakultative Einführung im Einvernehmen zwischen Unter-
nehmer und Arbeiter, spricht sich aber entschieden gegen
die obligatorische Einführung der Arbeiterausschüsse in allen
fabriksmässigen Gewerbebetrieben aus. Es gebe in Oesterreich
zahlreiche iabriksmässige Gewerbebetriebe, welche eine so
kleine Anzahl Arbeiter besitzen, dass ein Arbeiterausschuss
vollkommen überflüssig ist, andererseits ist in allen Fabrikations-
zweigen mit wechselndem Betriebe in Folge der zahlreichen
Unterbrechungen des Arbeitsverhältnisses die Errichtung von
Arbeiterausschüssen undurchführbar. Bei aller Anerkennung
für den sozialpolitischen Eifer eines Theiles der Arbeiterschaft
wäre es doch ein übel angebrachter Optimismus, von allen
Arbeitern, ohne Unterschied ihrer Herkunft, ihres Geschlechtes,
ihrer Ausbildung und ihrer Industrie, die gleichmässige geistige
Potenz vorauszusehen. Der Bericht bemängelt endlich die allzu
rigorosen Bestimmungen über das aktive und passive Wahlrecht
in die Arbeiterausschüsse. Die Industriegenossenschaft wird
als überflüssige, kostspielige, von keiner Seite begehrte Neu-
bildung abgelehnt, hingegen redet die Kammer der Einführung
von Einigungsämtern wärmstens das Wort, warnt jedoch vor
einer Verquickung derselben mit den Gewerbegerichten. Der
Bericht und die in demselben enthaltenen Anträge wurden
nnt grosser Majorität angenommen. Ein Theil der praktischen
Einwände der Kammer dürfte zutreffen, nicht aber der theore-
. tische. Der Ausweg aus den Schwierigkeiten dürfte allein in
der Schaffung von bezirksweisen Arbeitskammern bestehen.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung
Wohllungsgesetzgebung im Grossherzogthum Hessen. Um
j.n aus der Benutzung ungesunder Wohnungen oder unge-
eigneter Schlafstellen sich ergebenden Nachtheilen für Gesund-
heit und Sittlichkeit thunlichst zu begegnen, hat die hessische
Regierung den Ständen einen Gesetzentwurf zugehen lassen,
Verantwortlich für die R
welcher das Ziel im Wesentlichen durch folgende Bestimmungen
zu erreichen sucht Vor allem wird den mit der Untersuchung
der Mietwohnungen befassten Polizei- und Gesundheitsbeamten
eine gesetzliche Befugniss verliehen. Es wird ferner eine obli-
gatorische Anzeigepflicht für die Wohnungsvermiether in Ge-
meinden von 5000 und mehr Seelen unter der Voraussetzung
begründet, dass die zu vermiethenden Wohnungen weniger als
vier Räume, einschliesslich Küche, enthalten, oder Kellerge-
schosse oder nicht unterkellerte und weniger als 0,25 m über
Terrain, oder unmittelbar unter Dach gelegene Wohnungen ver-
miethet werden sollen. Dieselbe Anzeigepflicht, jedoch ohne
Rücksicht auf Seelenzahl der Gemeinden, wird eingeführt für
alle, welche Schläfer bei sich aufnehmen wollen. Die Polizei-
behörde erhält die Befugniss, die miethweise Benutzung der als
gesundheitsnachtheilig befundenen Räume entweder überhaupt
zu verbieten oder nur nach Erfüllung gewisser Bedingungen
zuzulassen. Aehnliche Bestimmungen sind für Schlafsteflen'er-
lassen mit der Verschärfung, dass für jeden Schläfer ein Mindest-
Luftraum von 10 cbm vorhanden sein muss. Gegen Verfügungen
der Polizeibehörden ist ein Beschwerderecht an Kreis- und
Provinzialausschuss gegeben. Unterlassene Anzeigen und mieth-
weise Benutzung vor Ablauf bestimmter Frist oder gegen Ver-
bot sind mit Geldstrafen bedroht. Im Wege der “Polizeiver-
ordnung können weitergehende Bestimmungen nach verschiede-
nen Richtungen erlassen werden.
Woliiiungsverhältnisse im Regierungsbezirke Königs-
berg i. Pr. Die Veröffentlichungen des kaiserlichen Gesund-
heitsamtes publiciren einen Auszug aus dem 4. General-
bericht des Regierungs- und Medizinalrathes Dr. Nath über
das öffentliche Gesundheitswesen im Regierungsbezirke
Königsberg i. Pr., dem wir über die Wohnungsverhältnisse
und Wohnungspolizei folgende Daten entnehmen;
In Königsberg sind 1887: 162 Wohnungen in hygie-
nischer Beziehung beanstandet worden; 39 mussten voll-
ständig geräumt werden, während 123 in bewohnbaren
Stand gesetzt wurden. 1888 hat sich die Zahl der vor-
schriftswidrigen W ohnungen auf 29 vermindert. In Königs-
berg waren 1888, soweit ermittelt, 4630 Schlafstellenwirthe
vorhanden, von denselben beherbergten 2656 nur männliche,
1835 weibliche, 139 männliche und weibliche Personen; bei
127 von letzteren 139 war eine räumliche Trennung nach
Geschlechtern durchgeführt, wo dies nicht der Fall war,
wurde die Entlassung entweder der männlichen oder
weiblichen Miether angeordnet. Bei 14 Wirthen (1886; 40,
1887: 30) entsprachen die Wohn- bezw. Schlafräume nicht
der Polizeiverordnung vom 29. Dezember 1879; sie wurden
durch polizeiliche Verfügung zur Entlassung der Schlaf-
steiler binnen 8 Tage angehalten.
Eingesendete Schritten.
(Besprechung Vorbehalten.)
Berger, C. Ph , Reg.-Rath, Reichsg-e werbeordnung nebst
Ausführungsbestimmungen. Text-Ausgabe mit An-
merkungen und Sachregister. 12. Auflage.“ Berlin, 1892.
J. Guttentag. 16°. XIII und 269 S.
Chambre des Representants (No. 13), Seance du 17.Novem|ire1891.
Commission instituee aupres du Departement de la
Justice pour la preparation de 1’a vant-proj et d’une
loi destinee ä regier les effets du contrat de
louage des ouvriers et des domesticjues. Proces-
verbaux des seances. — Projet de loi. — Rapport. Bruxelles,
__ 1892. Folio. 440 S.
Criiger, Hans Dr. jur., Secretär des allgemeinen. Verbandes der
deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften etc.
Die Er wer b s - und Wirthschaftsgenossenschaften
in den einzelnen Ländern. Jena, 1892. G. Fischer. 8°.
VIII und 375 8.
Ebert, L. und Hoffmeyer, R., Kellner, Das Trinkgeld und
die wirtschaftliche Lage der Kellner und Berufs-
genossen Eine Aufklärungs-, Agitations- und Antworts-
schrift zu der vom Pfarrer Schmidt herausgegebenen
Broschüre: „Des Kellners Weh und Wohl“. Berlin, 1882.
Kommissionsverlag von O Harnisch. 8". 48 S.
Woeiltke, E. von, Krankenversicherungsgesetz vom
15. Juni 1883, in der Fassung der Novelle vom
10. April 1892. Text-Ausgabe mit Anmerkungen. 4. gänz-
lich umgearbeitete Auflage. Berlin 1892. [. Guttentag. 16°.
VIII und 296 S.
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©iefe Üiiogobc enthält alle bis jurn heutigen Jage
erlaffeneit SluSfübvungSrumieifiuigeit.
Verantwortlich für den Anzeigentheil: O. Schuchardt in Berlin. — Druck von fl. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 13. Juni 1892.
Nummer 24.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle^ Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT
Ein Schutzgesetz für die Ge-
werkschaften in Frank-
reich. Von Leo Frankel.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
VV irthschaftsstatistik :
Güterzertrümmerung in Bayern.
Ueberseeische Auswanderung aus
dem deutschen Reiche.
Ueberfüllung im deutschen Klein-
handel.
Obligatorische Natural Verpflegung
wandernder Arbeiter im Kanton
Aargau.
Bergarbeiter - Produktivgenossen-
schaft in Belgien.
Arbeiterzustände :
Ländliche Arbeiterverhältnisse im
deutschen Osten.
Arbeiterzustände in hessischen
Ziegeleien.
Wiedereinführung der Kanaka-
arbeit in Queensland.
Politische Arbeiterbewegung:
Der Kongress der österreichischen
Sozialdemokratie.
Der Arbeiterschutz und die eng-
lischen Parlamentswahlen.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Frauengewerkvereine in England.
\ on Eliza Ichenhäuser.
Der internationale Bergarbeiter-
kongress in London.
Eine Bewegung im Münchener
Dienstmännergewerbe.
Kongress der Bergarbeiter des
Departements Pas de Calais.
Beiträge zu den Kosten des letzten
deutschen Buchdruckerstrikes.
Die Tarifkommission der deutschen
Buchdrucker.
Handwerkerfragen:
Erweiterung der Innungsprivi-
legien.
Einigung zwischen einem Gewerk-
und Meisterverein.
Arbeiterschutzgesetzgebung :
Sonntagsruhe im deutschen Han-
delsgewerbe.
Zur Ausführung der neuen deut-
schen Gewerbeordnung.
Festsetzung der Arbeitszeit der
Eisenbahnbediensteten bei Per-
sonenzügen.
Ausdehnung des Arbeiterschutzes
in der Schweiz.
Die Frauenarbeit bei den schweize-
rischen Eisenbahnen.
Gewerbeinspektion :
Die preussischen Fabrikinspektoren
und die Arbeiter.
Wolmungszustände und Woli-
nungsgesetzgebung :
Arbeiterwohmmgs Verhältnisse im
oberhessischen Industriebezirk.
Von Prof. Dr. W erner S om bar t.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Ein Schutzgesetz für die Gewerkschaften
in Frankreich.
Die französische Kammer hatte, ehe sie ihre Oster-
ferien angetreten, noch ein Gesetz fertig gestellt, das, falls
es den Senat unversehrt passirt, die Gewerkschaften vor
der so oft beobachteten feindseligen Haltung der Unter-
nehmer wesentlich schützen wird. Wie überall, so sind
nämlich auch die Unternehmer in Frankreich keine beson-
deren Freunde der Gewerkschaftsbewegung. Das gewerk-
schaftsfeindliche Gebahren der Unternehmer ist ebenso er-
klärlich, wie der behufs einer wirksamen Vertheidigune
nothwendige Zusammenschluss der Arbeiter. Wo die
Interessen, seien sie nun berechtigt oder nicht, aufein-
ander stossen, ist der Kampf unvermeidlich, und in dieser
Voraussicht sucht jede Partei die meisten Chancen des
Sieges auf ihre Seite zu ziehen. Was ist da natürlicher,
als dass die Unternehmer den Zusammenschluss der Arbeiter
zu hindern suchen?
Eine andere Frage aber ist, ob es vom sozialpoli-
tischen Gesichtspunkt aus klug ist, dem Unternehmerthum
die unumschränkte Herrschaft über den Arbeitsmarkt zu
sichern, indem man ihm die einzige Waffe, welche die
Arbeiter gegen seine Willkür besitzen, das Koalitionsrecht,
ausliefert, und ob die öffentlichen Gewalten, welche die
Hand hierzu bieten, nicht ihrer eigentlichen Bestimmung
entgegen handeln und von Hütern der Gesamm tinteressen,
von Förderern der allgemeinen Wohlfahrt zur Magd des
Unternehmerthums herabsinken? Ist es den kapitalkräf-
tigen Unternehmern gestattet , Syndikate und Kartelle
zu bilden, um bald die Waarenpreise hinaufzuschrauben,
bald die Löhne herabzudrücken und sich solcherart unter
allen Umständen einen bestimmten Gewinn zu sichern, um
wieviel mehr muss es dann den Arbeitern, deren Macht
einzig in ihrer Vereinigung ruht, gestattet sein, sich behufs
Vertheidigung ihrer Lebenshaltung ungehindert zusammen-
zuschliessen. Ja, das Interesse der Gesellschaft gebietet
dies geradezu, da abgesehen von der körperlichen, geistigen
und sittlichen Verkümmerung, die jeder Ausfall in der
Lebenshaltung mit sich führt, Staat und Gemeinde in der
einen oder andern Weise für ihn aufzukommen haben und
in jedem Falle einen Schaden erleiden, dessen Grösse, inso-
weit er aus der durch die niedrigere Lebenshaltung her-
j vorgebrachten Schwächung der Kulturkraft des Volkes
erwächst, sich gar nicht bemessen lässt.
Nun hat das Syndikatsgesetz vom 21. März 1884 den
Arbeitern allerdings das Recht gegeben, Gewerkschaften
und Gewerkschaftsverbände ohne jede Ermächtigung der
Regierung zu bilden; aber was nützt dasselbe Unter-
nehmern gegenüber, die den Arbeitern sagen: ■ Ja, das
Gesetz giebt Euch wohl volle Freiheit, Gewerkschaften zu
bilden und damit das Recht, Eure wirthschaftlichen Inter-
essen gemeinsam zu vertheidigen, aber innerhalb meiner
Arbeitsräume bin ich Herr und da dulde ich keine Gewerk-
schaftsmitglieder: wählt also zwischen Eurem Recht und
Eurer Arbeit, Eurer Freiheit und Eurem Brod, Eurer Ge-
werkschaft und meiner Fabrik — zwischen dem Gesetz
und mir! Gebrauchen die gewerkschaftsfeindlichen Unter-
nehmer auch gerade nicht diese Worte, so entsprechen
ihnen umsomehr ihre Handlungen. So giebt es beispielsweise
einzelne Fabriken, an deren Eingang schon dem Arbeit-
suchenden die Worte entgegenstarren: „Ici, on n’embauche
pas les syndiq ues“ — Hier werden keine Gewerkschafts-
296
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 24.
mitglieder aufgenommen — eine Mahnung, die unwill-
kürlich an das „Lasciate ogni speranza“ der Dante’schen
Hölle erinnert. Die Arbeiter, welche in solche Fabriken ein-
treten, müssen, wenn auch nicht aut alle ihre Menschen-
und Bürgerrechte Verzicht leisten, so doch jede Hoffnung,
sich gewerkschaftlich bethätigen zu können, fahren lassen.
Thun sie es aber doch, so werden, wenigstens die Hervor-
ragenderen unter ihnen, die „Rädelsführer“, wie arbeits-
tüchtig sie sich auch erweisen und wie lange sie auch im
Dienste des Unternehmers gestanden haben mögen, an die
Luft gesetzt, wie dies schon zu verschiedenen Malen in
Enqueten, Reden und Eingaben vor die Kammer gebracht
wurde.
Um nun dieser offenkundigen Missachtung des Syndi-
katsgesetzes einen Damm zu setzen und den Gewerkschaften
die ihnen gesetzlich gewährte Freiheit nach allen Seiten
hin zu sichern, hat der Abgeordnete Bovier-Lapierre be-
reits im März 1886 einen Gesetzentwurf eingebracht, wo-
nach Jedermann — Unternehmer, Werkführer, Angestellter
oder Arbeiter — , der die Freiheit der gewerkschaftlichen
Verbindungen beeinträchtigt oder die Ausübung der vom
Syndikatsgesetze zuerkannten Rechte hindert, mit Gefäng-
niss von einem bis zu drei Monaten u n d einer Geldbusse
von 100 bis zu 2000 Frcs. bestraft wird. Seit damals bereits
zweimal — 17. Mai 1889 und 13. Mai 1890 — von der
Kammer mit grosser Majorität angenommen, hat ihn der
Senat das erste Mal — wohl weil man vor einer neuen
Legislaturperiode stand — gar nicht in Berathung gezogen
und das zweite Mal, nachdem die Verhandlung zuerst -
4. Dezember 1890 — vertagt worden war, am 23. Juni 1891
verworfen.
Die Kritik, die der Senat damals an dem Entwurf
geübt, wurde nun, als dieser am 19. März 1. J. neuerdings
vor die Kammer gelangte, von den gegnerischen Abge-
ordneten gierig aufgenommen, und einen Moment schien es
fast, als sollte er, noch schlimmer als verworfen, d. i. in
sein Gegentheil umgeformt und so aus einer Schutzwehr
des Koalitionsrechtes zu einer Waffe gegen dasselbe werden.
Die Frage lag einfach: Soll dem Syndikatsgesetze Geltung
verschafft werden oder nicht? Wenn nicht, dann habe
man auch den Muth, es wieder abzuschaffen, denn ein Ge-
setz, das die Koalitionsfreiheit verkündet, ist, wenn es un-
geahndet übertreten werden darf, nichts als Heuchelei; im
bejahenden Falle aber muss jeder Angriff auf die Koalitions-
freiheit ebenso geahndet werden, wie dies beispielsweise
das Wahlgesetz in Bezug auf die Wahlfreiheit thut, indem
es u. a. Jeden, der einen Wähler durch Androhung von
Verlust seiner Beschäftigung zur Wahlenthaltung drängt
oder dessen Votum beeinflusst, mit Gefängniss von einem
Monat bis zu einem Jahr oder einer Geldbusse von 100 bis
1000 Frcs. bestraft. Anstatt nun auf diese Frage offen zu
antworten, haben die Gegner des Bovier-Lapierre’schen
Entwurfs dieselbe einfach umgangen. Die Einen hatten
eine Lanze für die „Vertragsfreiheit“ eingelegt, die man
stets anruft, wenn es gilt, die Arbeiter wehrlos zu machen
und jede zu deren Gunsten geforderte Intervention der
Gesetzgebung zu hindern. An ihrer Spitze stand Leon Say.
Niemand, sagte er, liebe es mehr als er über die sozialen
Fragen nachzudenken, aber Niemand sei auch betrübter als
er, wenn er sehe, dass man sie auf andere als auf friedliche
Weise lösen wolle. Und diese friedliche Lösung sieht er, im
Gegensätze zu Bovier-Lapierre und Genossen, in der unbe-
schränkten Freiheit der Unternehmer, der eben der Entwurf
entsprang. Nach Say müsse der Unternehmer das Recht
haben, einen Arbeiter, der einer Gewerkschaft angehört, aus
seiner Fabrik zu weisen. „Einen Arbeitgeber verhindern,
einen Arbeiter, weil er Gewerkschafter ist, zu entlassen, heisst
die Freiheit dieses Arbeitgebers verletzen . . . Die wahre
Freiheit des Arbeitgebers besteht darin, Herr in seinem
Hause bleiben zu können.“ Was unter solchen Umständen
aus dem Syndikatsgesetze, was aus dem Fabrikinspektorat,
was aus der ganzen Sozialgesetzgebung werden muss, die
ja im Grunde nichts anderes als eine Begrenzung der
Machtsphäre des Einzelnen zu Gunsten der Gesammtheit
ist, das hat Leon Say verschwiegen; verschwiegen auch,
was aus der „wahren Freiheit des Arbeitgebers“ für den
Arbeiter erwächst. Kann ein Unternehmer verlangen, dass
seine Arbeiter keiner Gewerkschaft angehören, dann kann
er mit demselben Rechte, unter Androhung ihrer sonstigen
Entlassung, auch verlangen, dass sie bei Wahlen in Staat
und Gemeinde nur dem ihm genehmen Kandidaten ihre
Stimme geben, dass sie seine religiöseh und politischen
Anschauungen theilen, dass sie ihm, mit einem Wort, in all
ihrem Denken, Fühlen und Handeln unterthan seien. Die
„wahre Freiheit“ des Unternehmers würde demnach die
Aufhebung der persönlichen Freiheit des Arbeiters, seine
Rechtlosigkeit bedingen.
Und dabei berief sich Leon Say in seinen Ausführungen
auf die Prinzipien von 1789! Das hat denn auch zwischen
ihm und dem bekannten Abgeordneten Clemenceau ein
kurzes Wortgefecht zur Folge gehabt, das wiederzugeben
mir hier gestattet sei.
Clemenceau. Erfordern die Prinzipien von 1789,
dass man einen Menschen Hungers sterben lasse, weil er
sich mit seinen Kammeraden verbindet, um seinen Lohn zu
vertheidigen?
Leon Say. Die Prinzipien von 17§9 besagen, dass
die Freiheit eines Jeden diesem sicher gestellt sein soll und,
dass kein Individuum, unter dem Vorwand sich zu ver-
theidigen, einen Eingriff in die Freiheit Anderer thun kann.
Clemenceau. Nun wohl, um das zu verhindern,,
schlagen wir dieses Gesetz vor.
Leon Say. Ich sage, dass derjenige, der seinen
Nebenmenschen Hungers sterben lässt, ein schlechter
Mensch im Sinne des sittlichen Gesetzes ist. . .
Clemenceau. Und Sie erlauben ihm fortzufahren!
Leon Say. Aber Sie haben kein Recht, ihn zu be-i
strafen, weil er seine Aktionsfreiheit bewahrt.
Wozu dann überhaupt noch Gesetze, ist nicht recht
erklärlich; eine Art Dekalog würde da genügen, und wird
dann jemand seiner Ehre und seines Rechts beraubt und
muss in Noth verkommen, dann mag er sich und die Seinen
mit dem Tröste nähren, dass der Schuldige dem sittlichen
Gesetz verfällt.
Die anderen gegnerischen Abgeordneten zeigten sich
frei von den — man möchte sagen — anarchistischen An-
schauungen Say’s. Sie waren für ein Gesetz, waren auch
dafür, dass es eine Strafbestimmung enthalte, nur hätten
sie es gern so eingerichtet, dass sich seine Spitze mehr
gegen die Gewerkschaften und das Koalitionsrecht selbst,
als gegen deren Gegner richte. Man hatte ihnen dokumen-
tarisch nachgewiesen, wie sehr einzelne Unternehmer das ;
Syndikatsgesetz verletzen, und sie fragten, ob man die Ge- 1
werksehaften zu einem Monopol gestalten wolle, und führten
alle die Nachtheile auf, die aus Gewerbemonopolen ent-
springen, lauter Dinge, die mit dem Schutze des Koalitions- i
rechtes absolut nichts gemein haben. Man wies ihnen aus i
Enqueten und sonstigen Schriftstücken nach, dass einzelne
Grubengesellschaften, wie dies beispielsweise in Aniche der
Fall war, Arbeiter entlassen hatten, die zehn, zwanzig Jahre und
darüber in ein und derselben Grube beschäftigt waren, blos
weil sie einer Gewerkschaft angehörten oder gar nur, wie
dies in Anzin vorkam, Versammlungen behufs Gründung
von Gewerkschaften einberiefenoder solchen präsidirten; dass
anderwärts und in anderen Industrien — es würde zu weit
führen, auch nur einen Theil der vorgebrachten Fälle hier
No. 24.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
297
wiederzugeben — die verschiedensten Unternehmer das
gleiche Verfahren beobachtet hatten; und die Herren
sprachen — von der Tyrannei der Gewerkschaften!
Ihre Anstrengungen gingen eben dahin, den durch das
Syndikatsgesetz abgeschafften Artikel 416 des Strafgesetzes
(welcher jede Arbeiterkoalition unmöglich machte, in-
dem er Alle, welche mittelst Strafgelder, Verbote,
Aechtungen, Boykotts die freie Ausübung der Industrie
und der Arbeit hinderten, mit Gefängniss von sechs
Tagen bis zu drei Monaten und einer Geldbusse von
16 bis 300 Frcs. bestrafte) durch ein Amendement wieder
einzuführen.
An der Spitze dieser Gruppe stand der Abgeordnete
Leygues. Um die Tendenz gewisser Gewerkschaften, „ihre
Macht unabhängigen Arbeitern gegenüber zu missbrauchen“,
in ein helles Licht zu stellen, führte er eine ausserhalb
F rankreichs bestehende Berufsorganisation, den Stickerei-
verband der Ostschweiz und des Vorarlbergs ins Feld. Ist
es schon bezeichnend, dass er für seine Beweisführung
keinen innerhalb Frankreichs bestehenden Verband heran-
zuziehen wusste, so noch bezeichnender die Art, wie er
diesen Verband darstellte. Während dessen berufenste
Beurtheiler, eidgenössische und österreichische Fabrik-
inspektoren, ihn geradezu als einen segensreich wirkenden
bezeichnen, sieht der Abgeordnete Leygues in ihm nichts
eine fortgesetzte Tyrannei.
Leygues hatte übrigens wie die anderen Gegner
des Bovier-Lapierre’schen Gesetzentwurfs nicht viel mehr
erreicht, als dass derselbe an die Kommission zurückver-
wiesen und die Verhandlungen verschleppt wurden. Ja,
was den Kernpunkt der Frage selbst anbelangt, haben sie
sogar viel weniger durchgesetzt, als wenn sie dem Original-
entwurf zugestimmt hätten. Die Kommission hatte nämlich,
um Herrn Leygues und Genossen entgegenzukommen, den
Hauptartikel des Gesetzes in zwei Theile getrennt, von
welchen der erste im Grossen und Ganzen dem Original-
entwurf entspricht, während sich der zweite ausschliesslich
gegen die Arbeiter wendet. Als es jedoch zur Abstimmung
kam, wurde nur der erste Paragraph angenommen, während
der zweite mit einer Majorität von 159 Stimmen — 288
gegen 129 — verwarfen wurde, so dass nun die Hauptbe-
stimmung des Gesetzes folgendermassen lautet:
„Alle Arbeitgeber, Unternehmer und Werkführer, die
überführt werden, durch Androhung von Verlust der Be-
schäftigung oder von Arbeitsentziehung, durch eine moti-
virte Weigerung, Arbeiter einzustellen, durch Entlassung
von Arbeitern oder Angestellten wegen ihrer Zugehörigkeit
zu Gewerkschaften, durch Zwang oder Gewaltthätigkeiten,
durch Geschenke, Arbeitsanerbietungen oder Versprechun-
gen die Theilnahme an einem Syndikat erzwungen oder
verhindert und die Gründung oder Thätigkeit der von dem
Gesetz vom 21. März 1884 anerkannten Berufssyndikate
vereitelt oder gestört zu haben, werden mit Gefängniss von
sechs Tagen bis zu einem Monat und einer Geldbusse von
100— 2000 Frcs. bestraft oder mit einer dieser beiden Strafen
allein belegt.“
Ist die Strafe auch eine mildere als die, welche der
Bovier-Lapierre’sche Entwurf vorgesehen hatte, so ist da-
gegen zu bemerken, dass es den Arbeitern weniger um die
Höhe der Strafe zu thun ist, als um das Bewusstsein, dass
es überhaupt verboten ist, ihre gewerkschaftliche Thätig-
keit zu vereiteln, und die Genugthuung, ihr Recht durch ein
Gesetz sanktionirt zu sehen. Es ist jetzt nur die Frage, ob
der Senat sich diesmal weniger ablehnend verhalten wird.
Verharrt er auf seinen früheren Standpunkt, dann wird er
sich wohl auf eine Anzahl von Petitionen aus Unternehmer-
kreisen berufen können, da diese gegenwärtig eifrig dafür
agitiren; ob er aber damit der Republik einen Dienst
erweisen würde, das möchten wir bezweifeln. Hoffen wir
indess, dass auch er zu dieser Erkenntniss gelangt und
demgemäss seine Entscheidung trifft.
Paris. Leo Frankel.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Giiterzertrüpmermig in Bayern. In dem Aprilheft
der „Zeitschrift des landwirthschaftlichen Vereins in Bayern“
ist ein Referat von Professor Helferich-Mtinchen über diesen
Gegenstand enthalten, das die einzige Zusammenfassung der
Ergebnisse der Enquete ist, welche das bayerische Ministerium
des Innern über die in den Jahren 1888 bis 1890 vorge-
kommenen Güterzertrümmerungen veranstaltet hat. Nach
den Erhebungen betrug in ganz Bayern in den Jahren 1889
bis 1 890 die Zahl der Güterzertrümmerungen zusammen mit
einem Areal von 14 054 ha gleich 0,24 pCt. des von 681 521
Haushaltungen mit landwirtschaftlichem Betriebe bewirt-
schafteten Areals; das Prozentverhältniss der zertrümmerten
Anwesen zur Zahl der Haushaltungen ist demnach 0,21.
Werden die zertrümmerten Anwesen nach Flächengrössen
in Gruppen geteilt, so zeigt es sich, dass die meisten
Fälle (480) auf die Gütergrössenklasse von 10—50 ha, also
auf diejenige Grössenklasse, welche in Bayern mit dem
Begriff des Vollbauernthums verbunden werden kann, ent-
fällt. Sowohl kleinere als grössere Güter sind bei der
Statistik der Güterzertrümmerung viel weniger beteiligt.
Zertrümmerungen von Gütern, deren Grösse 100 ha über-
steigt, wurden überhaupt nicht wahrgenommen. Von Inter-
esse ist sodann der Nachweis über das Resultat der Zer-
trümmerungen für den Besitzstand. Von dem betroffenen
Areal von 14 056 ha wurden neue Anwesen gegründet: 17
mit 91,26 ha, also ein Anwesen durchschnittlich 5,37 ha; es
wurden mit vorhandenen landwirtschaftlichen Besitzungen
vereinigt 13 162 ha oder 93 pCt. des Areals; bei den früheren
Gütern blieb als Restfläche 799 ha, d. i. 5'/2 pCt Thatsäch-
lich sind die letzteren aus der Reihe der bäuerlichen An-
wesen ausgeschieden und zum Taglöhnerbesitz zu rechnen.
Die angegebenen Prozentziffern der Gutszertrümmerungen
— 0,24 pCt. des gesammten landwirtschaftlich bewirt-
schafteten Areals und 0,21 pCt. aller landwirtschaftlichen
Haushaltungen — wären an sich nicht angetan, Beunruhi-
gung zu erwecken, oder das Verlangen nach gesetzlichen
Massregeln gegen die Gutszertrümmerung zu rechtfertigen.
Der Referent giebt jedoch ziemlich unumwunden dem
Zweifel Raum, ob die Resultate der Statistik der
Wirklichkeit entsprechen. Er glaubt, dass schon das
ministerielle Anschreiben, welches nur die Aufnahme der-
jenigen Gutszertrümmungen forderte, nach welchen ein
bäuerliches Anwesen überhaupt nicht mehr fortbestand, die
mit der Enquetevornahme betrauten Behörden zu einer viel
zu engen Begrenzung der Erhebung veranlasste, so dass
das statistische Bild, besonders wenn man das Areal, nicht
die Zahl der Fälle ins Auge fasst, günstiger aussieht, als
die Wirklichkeit. Zu diesem Urtheil veranlasst den
Referenten ausser der erwähnten Beschränkung der Auf-
nahme selbst namentlich die Thatsache, dass nach der
Statistik im Jahre 1888 in Niederbayern nur 41 Güterzer-
trümmerungen der im Ministerialreskript bezeichneten Art
vorgekommen sind, während der königliche Staatsminister
des Innern, Freiherr v. Feilitzsch, bei der 19. Wanderver-
sammlung bayerischer Landwirthe die Gesammtzahl der
dort vorgekommenen Güterzertrümmerungen auf 225 an-
gab. Wenn man die Ziffern der Enquete nach diesem Bei-
spiel berichtigen müsste, so würde sich allerdings eine be-
denklich hohe Zahl der Güterzertrümmerungen ergeben.
Unabhängig von der grösseren oder geringeren Richtigkeit
der gedachten Ziffern ist die bemerkenswertheste Fest-
stellung, dass von den 1415 Fällen bei nicht weniger als
905 gewerbsmässige Unterhändler an der Zertrümmerung
betheiligt waren. Deren Zahl wird auf 637 angegeben. Das
wirksamste Mittel gegen die gewerbsmässige Güterzer-
trümmerung scheint dem Referenten in dem württem-
bergischen Gesetz vom Jahre 1853 gefunden zu sein,
298
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 24.
namentlich im Artikel 1 1 desselben, durch welchen bestimmt
wird, dass, wer ein oder mehrere Grundstücke im Flächen-
gehalt von mindestens 10 Morgen (= 3,15 ha > aus einer
Hand durch Kauf oder Tausch erwirbt, ehe er diese Eigen-
schaft wenigstens drei Jahre besessen hat, entweder die-
selben nur im Ganzen oder nicht mehr als den vierten
Theil verkaufen darf. Eine Uebertragung ähnlicher Vor-
schriften auf Bayern wird nicht nur für möglich, sondern
sogar für geboten erachtet. — Diese Mittheilungen scheinen
uns zunächst zu beweisen, dass man in Deutschland noch
immer keine amtlichen Sozialenqueten machen kann, die ;
auch nur annähernd brauchbare Resultate ergeben. Soweit
die wiedergegebenen Zahlen richtig sein mögen, erweisen
sie aber weiter nichts, als die Aufsaugung des landwirth-
schaftlichen Kleinbesitzes durch den Grossbesitz: auf
14 056 ha „zertrümmertes“ Areal wurden 13 162 ha = 93 pCt.
mit „vorhandenen Besitzungen“ vereinigt. Die Güterhändler
sind nur die Produkte dieser wichtigen volkswirtschschatt-
lichen Primärerscheinung.
Ueberseeisclie Auswanderung aus dem deutschen
Reiche über deutsche Häfen, Antwerpen, Rotterdam und
Amsterdam im ersten Vierteljahre 1892. Die Auswanderung
war im ersten Quartale 1892 stärker als in demselben Zeit-
räume jedes der fünf vorangegangenen Jahre. Während
im Jahre 1887: 19 020, 1888: 17 398, 1889: 17 333, 1890:
17 099, 1891: 19 283 Deutsche im ersten Quartale auswan-
derten, wanderten im Jahre 1892 22 685 Deutsche aus, dem-
nach 20,53% über den Durchschnitt des Jahrfünft 1887
bis 1891 und 15,01 % mehr als im ersten Quartale des Vor-
jahres. Nur in Bayern, Mecklenburg - Strelitz , Lübeck,
Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg - Rudolstadt, An-
halt, Sachsen-Coburg-Gotha, Reuss j. L. und Hohenzollern
blieb die Auswanderung im 1. Quartale 1892 hinter der im
1. Quartale 1891 zurück, aber auch hier nur ganz unerheb-
liclg nämlich insgesammt nur um 130 Personen.
Während im Januar 3461 und im Februar 5150 Per-
sonen auswanderten, betrug die Zahl der Auswanderer im
März 14 074. Ueber die Hälfte der Auswanderer (13 104)
schifften sich in Bremen, 5269 in Hamburg, 497 in Stettin
ein. 3815 Deutsche fuhren über ausländische Häfen, hievon
3024 über Antwerpen.
Zur Ueberfüllung des Kleinhandels in Deutschland Der
Jahresbericht der Handelskammer Wiesbaden für 1891 schreibt:
„Die Ladengeschäfte litten am meisten unter der Ungunst
der Verhältnisse des Jahres 1891. Geringerer Erwerb, Verluste
an Zinserträgnissen und Kapital, schlechte Wein- und Frucht-
ernte veran fassten die Kunden zu Einschränkungen, Inanspruch-
nahme von längerem Kredit, Begehr nach geringeren Sachen
u. s. w. Um so fühlbarer machte sich die Konkurrenz der Hau-
sirer, der Musterreisenden und Versandgeschäfte. In Wiesbaden
wird auch über die zu grosse Vermehrung der Geschäfte geklagt,
auf dem Lande über die sich vermehrenden Konsumvereine.
Die übergrosse Vermehrung der kleinen Ladengeschäfte beweist
schlagend eine Statistik der Gewerbesteuererträge in Wiesbaden.
Während sich cfie Bevölkerung Wiesbadens vom 30 Dezember
1880 bis 30. Dezember 1890 nur um 28 pCt. vermehrte (von 50 230
auf 64 670}, stieg die Zahl der Gewerbetreibenden überhaupt
von 1880/81 bis 1890 91 um 46 pCt. (von 1884 auf 2618), der Betrag
der Gewerbesteuer jedoch nur um 38 pCt. (von 49 446 auf 68 019
Mark). Sehr stark vermehrten sich die Geschäfte in Gewerbe-
steuerklasse B|, nämlich um 50 pCt. (von 682 auf 1024 und in
Klasse H um 49 pCt. (von 415 auf 618).“ Diese Ueber-
füllung ist ein Symptom der allgemeinen sozialen Zersetzung.
Die proletarischen Existenzen mehren sich auffällig und suchen
mit Vorliebe auch im Kleinhandel ein unsicheres Fortkommen.
Obligatorische Natiiralverpflegang wandernder Ar-
beiter im Kanton Aargau. Die Regierung des Kantons
Aargau hat einen Entwurf ausgearbeitet, demzufolge die
Naturalverpflegung gesetzlich geordnet und obligatorisch
erklärt werden soll. Dabei würde ein besonderes Gewicht
auf die Arbeitszuweisung und Arbeitsleistung gelegt, um
Stromern das berufsmässige Absuchen der Verpflegungs-
stationen zu erschweren.
Berga1 beiter-Produktivgenossenschaft in Belgien Unter
dem Namen „La mine aux mineurs“ (Das Bergwerk den Berg-
arbeitern) hat sich eine Gesellschaft von Bergarbeitern gebildet,
die mit einem Kapital von einer Million Francs die drei Gruben
der Zeche Belle et Bonne selbst ausbeuten und dabei den Acht-
stundentag, den Mindestlohn u s. w. einführen will. Der Be-
sitzer der Konzession, Delattre, hat 300 000 Frcs.. der Berg-
arbeiterbund des Borinage den Rest g •/. dehnet. Sozialistische
korporative Genossenschaften und Arbeitervereine zeichnen
Aktien, die auf je 10 Frcs. ausgestellt sind. Vom Gewinn sollen
die Aktionäre 50 pCt., die Beamten und Arbeiter 20 pCt., eine
Hilfskasse 10 pCt. und die Verwalter für Arbeiterstiftungen
20 pCt erhalten. Zum leitenden Direktor wurde Herr Delattre
auf fünfzehn Jahre gewählt. Ihm zur Seite stehen neun Arbeiter-
führer als Administratoren, von denen mehrere als Leiter der
Bergarbeiterausstände in Borinage bekannt sind. Der Ver-
waltungsrath soll stets mindestens einen Arbeiter unter seinen
Mitgliedern haben. Mit der Förderung wird demnächst begonnen
werden. Nach den schlechten Erfahrungen, welche die franzö-
sischen Arbeiter bei ähnlichen Experimenten machten, darf man
sich von dieser Gründung vorerst wenigstens nicht allzuviel ver-
sprechen.
Arbeiterzustände.
Ländliche Arbeiterverhältnisse im deutschen Osten.
Ueber die gegenwärtigen Arbeiterverhältnisse in der Provinz
Ostpreussen entnehmen wir dem Jahresbericht des „Landwirt-
schaftlichen Centralvereins für Litauen und Masuren“, dass aus
den meisten Kreisen noch immer über die Auswanderung der
besten Arbeiter nach dem Westen geklagt wird, während ein
Zuzug russisch-polnischer Arbeiter nur in geringem Umfange
stattgefunden hat. Nach amtlicher Ermittelung beziffert sich
z. B.' der Wegzug von landwirtschaftlichen Arbeitern aus dem
Kreise Goldap im Berichtsjahre auf 402 Personen, wogegen die
Zahl der zugezogenen russisch-polnischen Arbeiter nur 4 betrug.
In einem Kirchspiel des Kreises Lötzen mit etwa 3000 Ein-
wohnern ist die Einwohnerzahl in den letzten drei Jahren um
mehr als 200 zurückgegangen, trotzdem die Zahl der Geburten
diejenige der Sterbeiälle um mindestens ebenso viel übertraf.
Der Grund für den geringen Zuzug russisch-polnischer Arbeiter
liegt einerseits an den strengen diesseitigen Kontrollvorschriften,
denen die russischen Arbeiter wegen mangelhafter Legitima-
tionspapiere nicht zu genügen vermögen, andererseits an dem
in den benachbarten Grenzbezirken gleichfalls herrschenden
Arbeitermangel. Ausserdem sind die Lohnansprüche derselben
gestiegen; während man früher 60 — 80 Pf. neben freier
Station an Tagelohn zahlte, werden heute 1,20—1,50 Mk.
verlangt. Die Löhne haben nach sorgfältigen Ermittelungen
für ständige und freie Arbeiter eine Erhöhung erfahren; das ge-
sammte Einkommen einer Instleute - Familie betrug 500 bis
560 Mk. Fühlbar macht sich auch der Mangel an Gesinde. Nur
in den Kreisen Insterburg, Oletzko, Angerburg und Niederung
werden die Arbeiterverhältnisse gegen das Vorjahr als günstiger
geschildert; auch scheint in diesen der Wegzug von Arbeitern
nach dem Westen in der Abnahme begriffen zu sein.
i
Arbeiterzustände in hessischen Ziegeleien. Wie seine •:
Kollegen in anderen deutschen Bundesstaaten berichtet jetzt
auch der Fabrikinspektor des II. Aufsichtsbezirkes (Provinzen
Ober- und Rheinhessen) des Grossherzogthums Hessen über
sehr traurige Arbeiterverhältnisse in den Ziegeleien (Russen-
fabriken) seines Distrikts Er schreibt im Jahresbericht für
1891: „In Folge verschiedener Vorkommnisse wurden die Be-
hörden aufmerksam auf die sittlichen und wirthschaftlichen
Verhältnisse in den sogenannten Russensteinfabriken. Die
Arbeit in den Russensteinfabriken und Feldziegeleien dauert
von März bis Oktober, und mancher Arbeiter bleibt im Winter
in der Arbeiterkolonie Ulrichstein, um im Frühling dieselbe
Arbeit wieder zu beginnen; auch viele Ziegler aus dem b ürsten-
thum Lippe arbeiten in Hessen; sie kommen im Frühjahre und
gehen im Herbst wieder nach Hause Da aber die meisten
dieser Betriebe nur klein und ausserdem gewöhnlich recht ab-
gelegen sind, so sind sie dadurch der Aufsicht des Fabrik-
inspektors grösstentheils entzogen. Indessen hatte ich doch
öfter Gelegenheit, auch solche Anlagen bei meinen Dienstreisen
zu besuchen und habe gefunden, dass in Rheinhessen die \ er-
hältnisse viel besser sind als in Oberhessen. In dieser Provinz
habe ich in Ziegeleien Schlafstellen gesehen, die den sitt-
lichen und sanitären Anforderungen nicht ent-
sprechen; ausserdem ist die Arbeitszeit, da die Arbeit sein
von der Witterung abhängig ist, an manchen Tagen eine tür
jugendliche Arbeiter viel zu lange; selbst Kinder zwischen
12 und 14 Jahren arbeiten 10, 12 und mehr Stunden täglich. Es
sollte meines Erachtens, ganz besonders zum Schutz der jungen
Leute beiderlei Geschlechts, hier gesucht werden, Besserung zu
schaffen; aber hierzu reicht die Thätigkeit der Aufsichtsbeamten
allein nicht aus. Ueberhaupt sind die Wohnungsverhältnisse
und das Schlafstellenwesen der Arbeiter Punkte, zu deren Ver-
bessern!1 ; noch viel geschehen kann.“ Hierzu passt die an
anderer Stelle erwähnte Eingabe der Ziegeleibesitzer an den
Bundesrath sehr wenig!
Wiedereinführung der Kansika-Arbeit in Queensland.
Die nördlichste Kolonie des australischen Kontinents spielt
in mancher Hinsicht eine ähnliche Rolle, wie die Süd-
staaten Amerikas vor dem Kriege von 1864. Nirgends ist
No. 24.
SOZIALPOLITISCHES CENTRAL. HLATT.
299
der Rassen- und Klassenkampf in Australien so heftig ge-
führt worden, wie in diesem Lande, das in den letzten
Wochen die öffentliche Meinung in England lebhaft be-
schäftigt hat.
Mit der Ausdehnung der Zucker] )flanzungen nach dem
tropischen Norden hatte man hier zur Rekrutirung
schwarzer Arbeiter, der Eingeborenen von Neu-Guinea und
der Neuen Hebriden gegriffen. Es soll später über die
Mittel dieser Arbeiterpresse Einiges bemerkt werden. Die
weissen Arbeiter inscenirten eine heftige Agitation gegen
die Einführung der Kanakas, und der jetzige Premier-
minister, Sir Griffith, nahm an derselben lebhaften Antheil.
Durch die Pacific Island Laborers Act vom Jahre 1885 wurde
schliesslich bestimmt, dass erstens die Kanakaeinführung
aufhören und zweitens gegen angemessene Entschädigung
der Unternehmer bis zum dl. Dezember 1891 alle Kanakas
in ihre Heimath geschickt werden sollten.
Die Regierung subventionirte nun zunächst sogenannte
kooperative Zuckerfabriken, — in Wirklichkeit Aktien-
fabriken kleiner Zuckerrohrpflanzer. Das Experiment
scheint jedoch im ersten Jahre nicht gelungen zu sein. Die
Ankündigung der grössten Zuckerfabrik, der Victoria Mill,
ihre Produktionsstätte nach Fiji verlegen zu wollen, was
für viele der einflussreichsten Wähler einen schweren
Schlag bedeutete, die finanziellen und sozialpolitischen Be-
drängnisse des letzten Jahres, die drohende Lostrennung
des gänzlich unter dem Einflüsse der Plantagenbesitzer
stehenden Nordens — all diese Momente hatten eine voll-
ständige Sinnesänderung der Regierung zur Folge. So
kam es, dass ein Gesetzentwurf, betreffend die Wieder-
einführung der Kanakas, in beiden Häusern angenommen
wurde und am 15. April d. J. vom Gouverneur die Zu-
stimmung erhielt. Darüber grosse Befriedigung in den
Kreisen der Pflanzer, Zuckerfabrikanten und im Norden.
Die Arbeiterverbände protestirten selbstverständlich auf
das heftigste und kündigten selbst gewaltsamen Wider-
stand an. Aber auch in England rüstet man sich zum Pro-
teste gegen diese Massregel. Am 16. Mai wurde die Re-
gierung interpellirt, ob sie nicht Anlass finden werde, in
diesem Falle der Königin die Anwendung ihres Vetorechtes
anzurathen. Die Regierung erwiderte, es müssten zunächst
die genauen Bestimmungen des Gesetzes abgewartet wer-
den. Dieselben sind mittlerweile bekannt geworden; sie
beziehen sich hauptsächlich darauf, dass Niemand mehr
gegen seinen Willen zum Arbeiter werde angeworben
werden. Es wird erläuternd hinzugefügt, dass bei früheren
Aushebungen auf Geheiss der Häuptlinge Frauen von ihren
Männern gewaltsam getrennt worden seien. Ferner werde
nach Ablauf der Dienstzeit jeder Kanaka nach seinem
Heimatsdorfe transportirt werden „nicht wie früher, da sie
häufig auf fremde Inseln ausgesetzt und von Angehörigen
feindlicher Kannibalenstämme getödtet wurden.“ Ob diese
Verfügungen moderner „Menschlichkeit“ von Erfolg sein
werden, wird von genauen Kennern der Verhältnisse, wie
vom Vice-Admiral Erskine, vom Missionär Chalmers und
anderen ernstlich bezweifelt.
Die englische Regierung fühlt sich nicht stark genug,
diesen Vorgängen auf die Gefahr separatistischer Regungen
hin, ein entschiedenes Veto entgegensetzen. In den Parla-
mentssitzungen vom 26. und 27. Mai suchte sie den Kanaka-
handel zu rechtfertigen; der Antrag der Opposition, das
Budget für die Kolonien um 500 Lstr. zu verkürzen, wurde
mit 197 gegen 49 Stimmen abgelehnt. Von der Haltung
der australischen Schwesterstaaten wird es nunmehr ab-
hängen; ob der alte Menschenhandel neuerdings seinen
Einzug halten wird.
Politische Arbeiterbewegung.
Der Kongress der österreichischen Sozialdemokratie.
In der Pfingstwoche fand in Wien der III. Parteitag der
österreichischen Sozialdemokratie statt, auf dem die deutsch-
österreichischen, galizischen und italienischen Sozialdemo-
kraten aus 96 Orten durch 113 Delegirte vertreten waren.
Die tschechischen Arbeiter haben unter ausdrücklicher
Betonung ihrer Interessensolidarität mit den deutschen
Arbeitern von der Beschickung des Kongresses abgesehen
mit Rücksicht auf ihren vor Kurzem .stattgefundenen
Parteitag und auf den Umstand, dass die Einberufung des
Kongresses durch innere Angelegenheiten der deutsch-
österreichischen Sozialdemokratie veranlasst war. Der An-
lass zur Abhaltung des Parteitages, der schon zu Ostern
stattgefunden hätte, wenn nicht die Abhaltung in Brünn
und Linz durch die Behörden verboten worden wäre, lag in
einer Secession innerhalb der österreichischen Sozialdemo-
kratie, welche durch den Ausschluss einiger ehemaligen Partei-
führer verursacht war. Differenzen in Bezug auf die Fragen
der Organisation und Taktik waren hinzugetreten, wobei
der in Deutschland nach dem Erfurter Kongress gemachte
Versuch der Gründung einer „unabhängigen“ sozialistischen
Partei mitwirkte. Der Kongress hat mit überwältigender
Majorität, 105 gegen 8 Stimmen, das Gebühren der Secessio-
nisten verurtheilt, der Ausschluss ihrer Führer wurde vom
Kongresse bestätigt und diese von ihrer früheren Gefolg-
schaft fallen gelassen. Diese gründeten aber mit dem be-
kannten Anarchisten Rissmann an der Spitze eine „unab-
hängige sozialistische (?) Partei“, und beschlossen die Aus-
arbeitung eines Parteiprogrammes und Gründung eines eigenen
publizistischen Organes. Seitens des Parteikongresses wurde,
allem Anschein nach mit vollem Rechte, dieser neuen Partei
keine Bedeutung für die Zukunft beigemessen.
Von den Beschlüssen sind hervorzuheben vorerst eine
durch das fürchterliche Grubenunglück zu Przibram veran-
lasste Resolution folgenden Wortlautes:
„Angesichts der ungeheuren Katastrophe, welche Hunderte
von Arbeitern als Opfer der kapitalistischen Ausbeutung durch
den Staat in den Silberbergwerken von Przibram getroffen hat,
erklärt der sozialdemokratische Parteitag seine Solidarität mit
den Opfern und spricht Angesichts der Proletarierleichen die
Ueberzeugung aus, dass die schwere Verantwortung Diejenigen
trifft, welche' die kapitalistische Produktionsweise und ihren
Klassenstaat, mit Gewalt aufrecht erhalten wollen, welcher
Klassenstaat der sich „soziälreformerisch“ nennt, nicht einmal
im Stande ist. in seinen eigenen Betrieben moderne, das nackte
Leben der Arbeiter schützende Vorkehrungen zu treffen. Der
Parteitag verlangt strenge gerichtliche Untersuchung und Be-
strafung'der Beamten, durch deren Knickerei und Unterlassung
noch manche bisher ungezählte Proletarier einen elenden Tod
gefunden haben. Er erklärt weiter, nicht ruhen zu wollen, bis
dieses fluchwürdige System beseitigt ist.“
Der Kongress tadelte hierauf die von dem secessio-
nistischen Flügel veranlassten Sammlungen und Brodver-
theilungen an die Arbeitslosen in schärfster Weise. Nach
Entgegennahme der Berichte über die Lage der sozialisti-
schen Partei in den verschiedenen Provinzen wurde be-
schlossen, an der bisherigen Taktik und dem Hainfelder
Programme festzuhalten, dasselbe aber durch die Forderung
der Abschaffung des indirekten Steuersystemes und des
Postulates der völligen Gleichstellung des männlichen . und
weiblichen Geschlechtes zu ergänzen.
Mit der Beschlussfassung über eine den einzelnen
Gruppen weitgehende Selbständigkeit gewährende Organi-
sation, Wahl einer 1 2gliedrigen, in Wien ihren Sitz haben-
den Parteileitung und die Schaffung eines täglich erschei-
nenden Blattes, wurden die Arbeiten des Kongresses
beschlossen, der zahlreicher besucht war als einer seiner
Vorgänger, und für die österreichische Arbeiterpartei ebenso
wenig wie der Kongress zu Erfurt für die deutsche eine
Schwächung oder ernst zu nehmende Spaltung zur Folge
haben dürte.
Der Arbeiterschutz und die englischen Parlaments-
wahlen Da die Arbeiterstimmen bei den bevorstehenden
Parlamentswahlen für den Sieg der einen der beiden histo-
rischen Parteien Englands ausschlaggebend sein werden,
suchen Tories wie Wighs die Arbeiter an sich heranzu-
ziehen. Während der Premierminister Salisbury vor dem
Führer der liberalen Opposition einen Vorsprung dadurch
gewann, dass er sich früher entschloss, die am 1. Mai im
Hydepark gewählte Deputation zu empfangen, hat Gladstone
weitergehende Versprechungen gemacht. Er empfahl in
seiner Londoner Wahlrede am 31. Mai allen Lokalbehörden,
dem Beispiel des Londoner Grafschaftsraths zu folgen
und bei allen ihren Kontrakten die Unternehmer dahin
zu verpflichten, dass sie die von den Gewerkvereinen
aufgestellten Bedingungen bezüglich der Löhne und
Arbeitsdauer innehalten, und befürwortete die Aus-
dehnung dieses Prinzips auf alle jene Gesellschaften,
welche wie Eisenbahnen, Wasserleitungen u. s. w. sich einer
Art von Monopol erfreuten. Kein Staatsmann von einer
annähernd hervorragenden Stellung wie Gladstone sie be-
300
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 24.
sitzt, hat sich bisher in so entschiedenen Worten dafür aus-
gesprochen, dass Staat und Munizipalität ein Recht besitzen
sollten zwischen Arbeiter und Arbeitgeber zu Gunsten des
ersteren Stellung zu nehmen.
Wenn auch der achtstündige Maximalarbeitstag kaum
schon in der nächsten Legislaturperiode des englischen
Parlamentes Gesetz werden dürfte, so würden die vermuth-
lich an’s Ruder gelangenden Liberalen nicht umhin können,
für die staatlichen und an staatliche Genehmigung gebun-
denen Arbeiten den Achtstundentag als Maximalarbeitstag
festzusetzen. Damit wäre aber nicht nur für eine grosse
Zahl von Arbeitern ein weiterer Schritt nach Vorwärts ge-
macht, dem die allgemeine Einführung des Achtstundentages
binnen Kurzem folgen müsste, es wären dadurch auch die
Trades Unions weit eher in der Lage, in den nicht in
gleicher Weise geschützten Betrieben die Forderungen der
Arbeiter durchzusetzen.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Frauengewerkvereine in England.
History repeats itself. Dies gilt auch für die Geschichte
der Frauengewerkvereine in England, und wir brauchen
blos Howell’s „Trade Unionism“ aufzuschlagen, um uns zu
überzeugen, wie in gleicher Weise die Entwickelung der
Männergewerkvereine vor sich gegangen ist, wie dieselben
Schwierigkeiten ihrer Bildung in den Weg gelegt worden
sind und wie vieler, langer Jahre es bedurfte, um die öffent-
liche Meinung zu gewinnen.
Allmählich hatten sich aus den Gilden die „Friendly
Societies“ gebildet, die sich erst nach dem Gesetz von 1793,
das ihnen Ermuthigung und Erleichterung zuspricht, so recht
entfalten konnten, und nach und nach waren diese wieder
in Gewerkvereine übergegangen, die das Gesetz erst im
Jahre 1824 sanctionirte.
Ebenso allmählich waren nach dem amerikanischen
Muster der Frauengewerk vereine die „Friendly Societies for
women“ in England ins Leben getreten, und ebenso ver-
wandelten auch sie sich mit der Zeit in Gewerkvereine.
Hatten die Männer die Gilden selbst zu Feinden, welche
die „Friendly Societies“ am liebsten im Keime erstickt hätten,
so erwuchsen den Frauen aus den Kreisen der Männer die
Gegner, die ihnen fast überall den Eintritt in ihre Gewerk-
vereine verschlossen. Und hatten die Frauen, die die Bil-
dung einer Liga für Frauengewerkvereine unternommen
hatten, das Gesetz für sich, das ihnen die Männer sozusagen
durch ihre Vorarbeit erst geebnet hatten, so harrte ihrer
dafür in der Frauenwelt selbst, die zu solchem Vorgehen
durch nichts vorbereitet war, die grösste Arbeit. Den Kampf
mit der öffentlichen Meinung aber hatten sowohl Männer
als auch Frauen gleichmässig zu bestehen.
Eine muthige Frau, Emma Paterson war es, die nach
eingehendem Studium der amerikanischen „Friendly Societies
for women“ in England im Jahre 1874 die Liga gründete,
die jetzt unter dem Namen „Women’s Trades Union League“
weit und breit bekannt ist, damals aber aus begreiflichen
Gründen sich nur „Protective and Provident League“
nannte.
Sogar unter diesem bescheidenen Titel ward es der
Liga herzlich schwer gemacht, sich zu behaupten. Die
Hindernisse, die es zu überwinden galt, waren gross und
die Theilnahme nur gering.
Alle Bemühungen, das Auge der wohlhabenden Massen
auf das Elend der Arbeiterinnen und den Weg zur Abhilfe
zu lenken, waren vergebens, die Mittel, die in die Kasse
der Liga einflossen, daher sehr spärlich.
Die Arbeiterinnen selbst aber boten die grösste
Schwierigkeit. Und dies war nur natürlich. Denn da sie
niemals an Organisation gewöhnt waren, auch keine Vor-
bilder hatten, an die sie sich hätten anlelmen können, wie
z. B. die Männer, die ihre Gewerkvereine begründeten, es
an den Gilden hatten, so wurde es unendlich schwer, sie
zu organisiren. Auch begriffen sie natürlicherweise sehr
langsam die Ziele der Gewerkvereine und deren Vortheile.
Dazu kam, dass es für sie ein grosses Opfer war, aus ihrem
kärglichen Lohne einen Beitrag zuzusteuern.
Es bedurfte der ganzen Ausdauer und des ganzen
Muthes der Leiterinnen, um trotz all1 dieser grossen Ent-
täuschungen weiter zu arbeiten. Aber er sollte seine Be-
lohnung finden.
Der grosse Dockarbeiterstrike im Jahre 1887 lenkte auch
die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Lage der Arbeiterinnen,
ln allen Zeitungen wurde dieselbe erörtert und lebhafte Sym-
pathien wendeten sich ihnen zu. Der Liga flössen von allen
Seiten reichliche Beiträgezu; sie verfügte nun über grössere
Mittel und konnte sich in Folge dessen mehr ausdehnen, auch
hatte ihr der Erfolg viele neue Anhänger zugeführt. Als nun
zwei Jahre später eine äusserst energische Dame, Fräulein
Routledge, an die Spitze der Liga trat, sah sie ihre Haupt-
aufgabe in der Errichtung von Zweigvereinen dort wo viele
weibliche Arbeiter beschäftigt waren. Sie setzte sich mit
sämmtlichen männlichen Gewerkvereinen dieser Orte in Ver-
bindung und fast überall wurde sie willkommen geheissen.
Die männlichen Arbeiter hatten selbst eingesehen, dass die
weibliche Arbeit, täglich in der Zunahme begriffen, ihnen
in dem unorganisirten Zustand, in dem sie sich befand, un-
endlich schadete, dass sie die Arbeitsbedingungen un-
günstiger gestaltete und die Preise herunterdrückte, kurz-
um, dass alle Erfolge der Gewerkvereine in Gefahr geriethen,
wenn nicht die weibliche Arbeit ebenso organisirt würde,
wie die männliche es ist.
Der Gedanke Miss Routledge’s erwies sich denn als
ein sehr glücklicher und manche Gewerkvereine zählen
jetzt mehr als die Hälfte weiblicher Mitglieder, so z. B. die
„Northern Counties1 Weavers1 Association“ die 47 000 Mit- :
glieder zählt, wovon 26 000 weiblichen Geschlechtes sind;
bei anderen Gewerkvereinen von Webern soll dasselbe Ver- ,
hältniss existiren. Und bei dem grössten Theil der übrigen ,
Zweige der Textilindustrie sind auch zwei Drittel der Gewerk-
vereinsmitglieder Frauen In den Kupfer- und Hartguss-
Gewerkvereinen ist das Resultat nicht mehr so günstig. In
der Kettengewerkschaft sind die Frauen noch gut organisirt,
aber in der Nagelgewerkschaft wird die Organisation fast
unmöglich, da sie in Folge der isolirenden Hausarbeit ihnen
ganz fremd ist. Die grössten Geldopfer der Liga konnten
bisher in dieser Beziehung nicht viel erreichen, ohne dass
dies ihren Bemühungen bis jetzt Einhalt gethan oder dass
sie die Hoffnung, ihre Mühe gekrönt zu sehen, aufgegeben
hätten. Jt
Am schwierigsten gedeihen natürlich die Gewerk-
vereine, die ganz auf Frauen angewiesen sind, eine That-
sache die ihre Erklärung sehr leicht findet, denn erstens
sind es gerade die schlechtbezahltesten Gewerbe, die voll-
ständig in Frauenhänden liegen, wie z. B. die Kragen- und
Manschettenfabrikation, die Wäscherei u. s. w.; der zweite
Grund liegt, wie ich bereits oben erwähnte, in der Uner-
fahrenheit der Frauen in dieser Beziehung. Wie in Allem
bedarf es auch hierin der Uebung und der Gewohnheit
und man kann nicht verlangen, dass die Frauen, die früher
gar keinen Antheil an den Gewerkvereinen genommen
haben, mit einem Male nun die Leitung davon übernehmen
sollen. Es ist aber eine sehr gute Uebung für sie, ge-
zwungen zu sein, ihre Sache selbst zu führen, und dass sie
sich ganz dazu eignen, beweist die treffliche Organisation
der Wäscherinnengewerkschaft, die 4000 bis 5000 Mitglieder
zählt, der ganz ausgezeichnete Buchbinderinnen-Gewerk-
verein u. s. w.
Einige dieser Vereine sind ganz nach dem Muster der
best organisirten Gewerkvereine, wie die der Gasarbeiter
und der Allgemeinen Arbeiter-Union, eingerichtet.
Die bis jetzt erreichten Erfolge in dieser Hinsicht sind
grossentheilsder„W omen's TradeUnion League“ zu verdanken
und doppelt anerkennenswerth sind deren Bemühungen, wenn
man bedenkt, mit welch’ relativ geringen Mitteln sie arbeitet.
Die Organisations- und sonstige Kosten werden aus den verhält-
nissmässig geringen Einnahmen, die 300 Pfd. im Jahre — d. l.
No. 24.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
301
6 000 M. — nicht übersteigen, bestritten. Die Leiterinnen
haben sich die belgische Devise „l’union fait la force“ zu
eigen gemacht und in der richtigen V iirdigung dieses
Grundsatzes sich an sämmtliche englische Frauenvereine,
die auf einer gesunden Basis ruhen, afhlirt. Dieselben
verpflichten sich eine jährliche Subvention zu zahlen, wofür
sie gewisse Rechte gemessen. Die Liga bekam dadurch ge-
wissermassen allerorts Delegirte, die für die gemeinschaft-
lichen Bestrebungen wirkten und mitunter ausserordentlich
eifrige Förderinnen der Sache wurden.
Die englischen Frauengewerkvereine, oder richtiger
gesagt die Organisation der Frauenarbeit ist in England
auf dem besten Wege derjenigen der Männer nachzukcm-
men und es ist lebhaft zu wünschen, dass sie dieselbe er-
reichen. Erst dann wird der Erfolg der organisirten Arbeit
ein vollständiger sein.
Berlin. Eliza Ichenhäuser.
Internationaler Bergarbeiter-Kongress in London. In
London in der Westminster Town-Hall wurde am Morgen
des 7. Juni der dritte Internationale Bergarbeiter-Kongress
eröffnet, auf dem 900 000 Bergarbeiter, 500 000 englische,
149 000 deutsche, 100 000 österreichische, 97 000 belgische
und 53 200 französische vertreten waren. Der erste fand
bekanntlich vor 2 Jahren zu Jolimont, der zweite im vorigen
Jahre zu Paris statt. Mr. Burt, Mitglied des englischen
Unterhauses, der die ausländischen Delegirten namens der
Engländer begrüsste, wurde zum Präsidenten des Kon-
gresses erwählt, nach dem Verzicht der Deutschen auf eine
Vertretung ins Präsidium wurden ihm der Engländer Wood
sowie der französische Deputirte Arthur Lamendin, als
Vizepräsidenten zur Seite gestellt. Die deutschen und fran-
zösischen Bergleute haben nur je 4, die englischen 62, die
Belgier 8 und die Oesterreicher 1 Delegirten nach London
gesendet. Nach einer Sympathiekundgebung für den er-
krankten Mr. Benj. Pickard, welcher als Sekretär die Vor-
arbeiten für den Kongress geleitet hatte, wurde der Kongress
vertagt, um die nöthige Zeit für die Prüfung der Mandate zu
gewinnen. Der den Delegirten vorliegende Statutentwurf für
einen internationalen Bergarbeiter- Verband besagt
im Wesentlichen: Der Verband bezweckt die interna-
tionale Achtstunden-Schicht von der Einfahrt bis zur
Ausfahrt (from bank to bank), ferner Einführung einer um-
fassenden Grubeninspektion durch vom Staate bezahlte In-
spektoren, die von den Arbeitern zu wählen sind. Der Vor-
stand des Verbandes soll bestehen aus einem Ausschuss,
an dem jede Nation durch mindestens 2 Vertreter betheiligt
ist. Der Verband soll jährlich einen internationalen Kon-
gress abhalten.
Nachdem sich der Kongress konstituirt hatte,
eröffnete Burt die geschäftlichen Verhandlungen mit
einer Rede , in welcher er es als die Hauptaufgabe
des zu gründenden Verbandes bezeichnete, international
agitirend Schulter an Schulter zu kämpfen , um zu-
nächst in allen Ländern, in denen die Gesetze oder die
Unternehmer einer freien und bedingungslosen Organi-
sation der Grubenarbeiter entgegenständen, diese Hinder-
nisse zu beseitigen. Insbesondere seien hier Deutschland
und Oesterreich zu nennen. Es wurde alsdann der Ent-
wurf des Komitees, welches vor einigen Monaten in Köln
zusammengekommen ist, berathen und zunächst folgende
einleitenden Bestimmungen angenommen: „Gründung eines
internationalen Bundes. Dieser Bund soll aus so vielen Na-
tionen bestehen, als sich anzuschliessen wünschen. Der
Zweck des Bundes ist 1. die bergbautreibenden Arbeiter
der Nationen der Welt zu vereinigen.“ Bei dem folgenden
Punkte: „2. die unterirdische Arbeit von der Einfahrt bis
zur vollendeten Ausfahrt soll acht Stunden dauern,“ ent-
wickelte sich die erste grundsätzlich wichtige Debatte. Die
Deutschen, die Franzosen und die Belgier verlangten einen
Zusatz, wonach nicht nur die eigentlichen Bergleute,
sondern auch alle über Tage beim Bergbau beschäftigten
Arbeiter die Achtstundenschicht erhalten sollen. Die
Engländer sträubten sich gegen diesen Zusatz sehr
energisch , da sie fürchteten , durch diese erweiterte
f Order ung würde die öffentliche Meinung in England,
welche einem gesetzlichen Achtstundentag für die Berg-
leute allein nicht ungünstig ist, abgeschreckt werden. Ein
Delegirter aus Süd-Wales beantragte sogar, die Achtstunden-
schicht solle die Einfahrt und Ausfahrt nicht miteinbegreifen.
Dieser Antrag fand jedoch keine Unterstützung und wurde
infolgedessen nicht zur Abstimmung gebracht. Schliesslich
einigte man sich auf Antrag eines englischen Delegirten,
die Frage zu theilen und zunächst darüber abzustimmen,
ob die achtstündige Schicht für die unterirdischen Ar-
beiter, einschliesslich der Einfahrt und Ausfahrt zu fordern
sei. Diese Frage wurde von allen Vertretern einstimmig
bejaht.
Am folgenden Tage wurde die zuriickgestellte Frage,
ob auch für die übrigen im Bergbau, und zwar über Tage,
beschäftigten Arbeiter die achtstündige Schicht zu fordern
sei, eingehend diskutirt. Der Kongress spaltete sich dabei
in zwei Lager. Die Engländer stellten sich auf den Stand-
punkt, dass man sich um diese Arbeiter überhaupt nicht
kümmern solle, da sie mit den eigentlichen Bergarbeitern
nichts gemein hätten. Die Bergarbeit, so führte einer ihrer
Redner aus, beherrsche alle andere Arbeit. Wenn man
das seitens der kontinentalen Delegirten „Aristokratie der
Arbeit“ nenne, so möge es Aristokratie sein. Wie könne
Jemand sagen, dass ein Mann, der unter der Erde arbeite,
einem Arbeiter gleich zu stellen sei, der seine Arbeit über
Tage verrichte? — Das einzige, wozu sich die Engländer
verstehen wollten, war, dass sie der Forderung zu-
stimmten, wonach die Arbeitszeit jener Arbeiter so kurz
bemessen werden sollte, als praktisch möglich sei, d. i.
verschieden in den verschiedenen Ländern und Revieren.
Auf der andern Seite standen geschlossen die Deutschen,
die Belgier, die Franzosen und die Oesterreicher, welche
kategorisch auch für Jene den Achtstundentag verlangten
und sich durch ihre Redner auf den Standpunkt der sozia-
listischen Arbeiterbewegung stellten. Die Abstimmung
wurde hierauf nochmals vertagt.
Der Kongress nahm sodann einstimmig den Antrag zu
Gunsten des dritten Programmpunktes des internationalen
Verbandes an, betreffend die Erlangung gehöriger Beauf-
sichtigung von Bergwerken, einschliesslich des Rechts der
Arbeiter, ausserordentliche Aufseher zu wählen, die vom
Staate zu besolden sind, an.
Der Bergarbeiterkongress beschloss ferner, gemein-
sames Vorgehen in allen internationalen Fragen zu
empfehlen und durch verfassungsmässige Mittel auf die
Einführung gleichmässiger gesetzlicher Bestimmungen für
Bergarbeiter in allen Staaten hinzuwirken.
Eine Bewegung im Münchener Dienstmännergewerbe.
Bekanntlich hat § 37 R.-G.-O. die Regelung des Dienst-
männerwesens vollständig den Ortspolizeibehörden über-
lassen. In München, wo die königliche Polizeidirektion zu-
ständig ist, ist das System der Dienstmannsinstitute
eingeführt, indem einigen wenigen Firmen die Konzession
ertheilt ist, die dann ihrerseits die Dienstmänner engagiren.
Jeder Dienstmann muss von seinem Verdienst täglich 40 Pf.
an das Institut abliefern, wofür er die Ausrüstung, bestehend
aus 2 Blousen, einer wollenen Jacke, einer Hose und eine
Schirmmütze vom Institut zugewiesen erhält; auch hat er
das Recht der Mitbenutzung der vorhandenen Geräth-
schaften. In den letzten Jahren ist nun in Folge der
wachsenden Entwicklung der Verkehrsmittel eine Krisis
im Dienstmännergewerbe eingetreten. Pferdebahn, Telephon,
Möbeltransporteure, Spediteure, Reisegepäckbureaux etc.
machen den Dienstmännern den Boden streitig, auf dem sie
ihren Unterhalt fanden. Der Druck des täglichen Tributs
von 40 Pf. wurde aus diesem Grunde immer fühlbarer.
Auch klagen die Dienstmänner über den schlechten Zustand
der Uniformen und Geräthschaften. Die Münchener Dienst-
männer haben sich daher zusammengethan, um gemeinsame
Schritte zur Verbesserung ihrer Lage zu unternehmen. Man
beschloss zunächst eine Genossenschaft zu gründen, die
den Dienstmännern Gelegenheit geben sollte, ihrem Be-
rufe nachzugehen, ohne dabei Gefahr zu laufen, von einem
Unternehmer ausgebeutet zu werden. Ueberraschender
Weise versagte aber die Polizeidirektion unterm 27. März 1. J.
die Genehmigung, und zwar mit der Motivirung, dass durch
das Hinzutreten einer Dienstmännergenossenschaft zu den
bereits bestehenden Instituten die Konkurrenz noch ver-
schärft würde. Gegen diesen Beschluss legten die Dienst-
männer Rekurs an die Kreisregierung von Oberbayern ein.
In diesem Stadium befindet sich die Sache gegenwärtig.
Jüngst hat nun der Führer der Bewegung, der Dienstmann
Michael Scherer, eine Broschüre („Die Lage der Münchener
302
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLA l'T.
No. 24.
Dienstmänner“ u. s. w. München, 1892, Selbstverlag des
Verfassers) erscheinen lassen, die über die Frage gut orien-
tirt. Am Schlüsse dieses Schriftchens befindet sich auch
eine kurze Zusammenstellung der in anderen deutschen
Städten herrschenden Zustände. Darnach ist in Berlin die
Hälfte der Dienstmänner selbständig, während die andere
Hälfte in einer Genossenschaft und in 4 Privatinstituten
untergebracht ist. Der tägliche Beitrag zu den letzteren
beträgt aber nur 10—15 Pf. (wobei übrigens für die jedes-
malige Benützung eines Karrens noch eine Extragebühr
von 15—20 Pf. pro Stunde an das Institut zu entrichten
ist). In Stuttgart bestehen nebst einer Anzahl selbständiger
Dienstmänner und dreier Dienstmännervereine 2 Privat-
institute; tägliche Abgabe 20 Pf. In Leipzig und Dresden
giebt es nur Genossenschaften, in Hamburg und Nürnberg
nur selbständige Dienstmänner.
Kongress (1er Bergarbeiter des Departement Pas de
Calais. Am 29. Mai fand unter dem Vorsitze des Deputirten
Basly ein Bergarbeiterkongress zu Lens statt. Derselbe
sprach sich gegen den von den Belgiern befürworteten
Weltstrike der Bergarbeiter aus, beschloss dagegen 4 Pro-
zent der Mitgliederbeiträge der internationalen Kasse zuzu-
führen, ferner wurde die Beschickung des internationalen
Bergarbeiterkongresses und eine an die Kammer zu richtende
Adresse, in der die Annahme der Arbeiterschutzgesetze
gefordert wird, angenommen.
Beiträge zu den Kosten des letzten deutschen Bucli-
druckerstrikes. An freiwilligen Beiträgen gingen bei der
Zentralstelle des Unterstätzungsvereins deutscher Buchdrucker
im Ganzen 188 110,77 M. ein. Diese Summe vertheilt sich auf
die verschiedenen Länder wie folgt: Oesterreich - Ungarn
39 864,97 M., deutsche Schweiz 9077,55, französische Schweiz 1976,28,
Elsass-Lothringen 9554 90, Luxemburg 650, Italien 1426 25, Frank-
reich 3187,31, Belgien 364,16, Holland 131,77, Spanien 990, Däne-
mark 1992 25, Schweden 2418,33, Norwegen 1064, Russland 590, 10,
Bulgarien 162, Serbien 50 Rumänien 16,20, Amerika 21 134, Eng-
land 59 045,36, Australien 263 67 M. insgesammt vom Ausland und
dem Reichslande: 153 959,10 M. Hiezu kamen noch aus deutschen
Arbeiterkreisen 19 050,35 M. und von deutschen Buchdrucker-
gehilfen 15 101,32 M. somit eine Gesammtsumme von 188 110,77 M.
Die Tarifkommission der deutschen Buchdrucker.
Nachdem die Gehilfen, gezwungen durch die Unternehmer,
Neuwahlen zur Tarifkommission vorgenommen und als
ihre Vertreter die früheren Mitglieder der Tarifkommission
wiedergewählt hatten, während die Kandidaten der unter-
nehmerfreundlichen Gehilfen meist nur winzige Minoritäten
auf sich vereinigten, haben nunmehr die Prinzipalvertreter
in der Tarifkommission ihre Mandate niedergelegt und da-
mit die Tarifkommission aufgelöst.
Mit der Auflösung der Tarifkommission der deutschen
Buchdrucker ist ein Abschnitt in der deutschen Gewerk-
schaftsorganisation beendet, an den von Seiten der deutschen
wissenschaftlichen Vertreter der T radles Unions übermässige
Hoffnungen geknüpft wurden. Eine neue Epoche beginnt
nun für das deutsche Buchdruckergewerbe. Sowohl die
Gehilfen als die Prinzipale suchten in diesen Tagen neue
Grundlagen zu schaffen. Schroffer als früher werden sich
in kommender Zeit die Organisationen gegenüberstehen.
Dies hätte von den Prinzipalen, denen an der Erhaltung
der Tarifgemeinschaft so viel lag, leicht verhindert werden
können, hätten sie nicht die Gehilfen, bevor noch die
Wunden, welche der Strike um die Wende dieses Jahres
geschlagen hat, vernarbt waren, zur Wiederwahl der Ver-
treter in die Tarifkommission gezwungen. Da nun die
Gehilten die Wahlen vorgenommen haben, fällt das Odium
der Auflösung der Tarifkommission auf die Prinzipale,
welche bei freier Wahl ihrer Vertreter die Wahlfreiheit der
Gehilfen auf jede Weise in Frage stellten.
Handwerkerfragen.
Erweiterung der Innungsprivilegien. Eine grosse
Erweiterung der Innungsprivilegien wird nach der „Bau-
gewerks-Zeitung“, dem Organ des Innungsverbandes der
Baugewerksmeister, im preussischen Staatsministerium ge-
plant. Die betreffende Vorlage soll dem Staatsrath zur
Begutachtung vorgelegt werden. Aut Wunsch des Kaisers
sollen zu diesem Zweck noch einige Handwerker in den
Staatsrath berufen werden. Ueber den Inhalt der Vorlage
theilt die „Baugewerks-Zeitung“ Folgendes mit. Während
zur Zeit nur einzelnen Innungen, deren Thätigkeit sich auf
dem Gebiet des Lehrlingswesens „bewährt“ hat, das Privi-
legium ertheilt werden kann, dass ihre Mitglieder allein
Lehrlinge annehmen dürfen, sollen künftig allgemein nur
die Innungsmeister Lehrlinge annehmen dürfen und muss
in der Innung jeder, der lehren will, eine bestimmte
Lehrzeit und eine Gesellenprüfung nachweisen. Die
Innungen erhalten die Kontrole über die Lehrlinge auch
ausserhalb der Innung. Zu sämmtlichen Kosten der
Lehrlingserziehung sollen auch diejenigen herangezogen
werden, welche ausserhalb der Innung stehen. Gesellen-
briefe können künftig nur von den Innungen ausgestellt
werden und der Gesellenbrief ist Vorbedingung zur Auf-
nahme in eine Innung, während über die Dauer der Lehr-
zeit und die Form der Lehre die Innungsverbände bezw. j
die Bezirksverbände gütige Vorschriften erlassen, welche
aber der Prüfung des Bundesrathes unterstehen.
Einigung zwischen einem Gewerk- und Meisterverein.
Auf Veranlassung des schweizerischen Gewerkschaftsbundes hat
die Züricher Holzarbeitergewerkschaft mit dem Schreiner-
meisterverein einen Gegenseitigkeitsvertrag abgeschlossen, nach
welchem die Mitglieder der ersteren nur bei Mitgliedern des
Schreinermeistervereins arbeiten dürfen und umgekehrt letztere
nur solche Gehilfen einstellen sollen, die der Holzarbeiter-
gewerkschaft angehören. Ferner wurde vereinbart , den Arbeits-
nachweis gemeinschaftlich einzurichten , den Zehnstundentag
einzuführen auch wurde ein durchschnittlicher Stundenlohn von
38—50 Centimes festgesetzt. Diese Abmachungen sollen mit
1. Juni in Wirksamkeit treten
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Sonntagsruhe int Handelsgewerbe. Soweit sich bis
jetzt übersehen lässt, haben blos zwei grössere Städte,
Stuttgart und Fürth, von der Bestimmung des § 105 b
Abs. 2 der Gewerbeordnung, dass durch Ortsstatut flir
alle oder einzelne Zweige des Handelsgewerbes die Be-
schäftigung der Angestellten ganz untersagt werden kann,
Gebrauch gemacht. In Stuttgart und in Fürth bestimmt
das Ortsstatut, dass in Engrosgeschäften, Fabrikkontoren j
und anderen Betrieben, mit denen kein Laden verbunden
ist, die Beschäftigung von kaufmännischen Angestellten am
Sonntag vollständig verboten ist. In beiden Städten war
jedem Prinzipal Gelegenheit geboten worden, sich auszu-
sprechen, wie er sich zur Frage der Sonntagsruhe stelle.
Das Ergebniss der Umtrage war, dass für vollständige
Sonntagsruhe im Grosshandel ein so grosser I heil der
Prinzipale eingetreten ist, dass die Gemeindevertretung
sich unbedenklich entschliessen konnte, wenigstens für
den Grosshandel die vollständige Sonntagsruhe einzu-
führen. Das Gleiche wäre vielleicht auch in anderen
Städten erreicht worden, wenn man sich die Mühe ge-
nommen hätte, die Zahl der Geschäfte testzustellen, in
denen seither am Sonntag gearbeitet wurde und die
auch künftig am Sonntag arbeiten lassen wollen.
Sicher hätte in manchen Orten eine solche Umfrage wie in
Stuttgart und Fürth zu dem Ergebniss geführt, dass von
den Prinzipalen selbst die überwiegende Mehrheit für voll-
ständige Sonntagsruhe, wenigstens im Grosshandel, einge-
treten wäre. Aber die Anhänger der Sonntagsruhe unter
den Prinzipalen haben in vielen Orten keine Gelegenheit
erhalten zum Wort zu kommen, und sie haben auch, wie
es in solchen Fällen zu gehen pflegt, diese Gelegenheit
nicht gesucht; denn von ihren Standpunkt als Prinzipale
hatten sie kein unmittelbares Interesse daran, aus ihre*
passiv wohlwollenden Stellung zur aktiven Thätigkeit für
die gesetzliche Einführung der Sonntagsruhe herauszutreten.
Umsomehr aber haben sich die Gegner der Sonntagsruhe,
die ihre Angestellten seither am Sonntag ausgenutzt haben
und auch künftig am Sonntag ausnutzen wollen, gerührt.
Mit ihrem Jammern über die grossen Nachtheile, welche die
Einführung der Sonntagsruhe bringen werde, haben sie in
manchen Städten, wo sie nur eine kleine Minderheit bilden,
es erreicht, bei Publikum und bei den Gemeindevertretun-
gen den Eindruck hervorzurufen, in ihren Kundgebungen
No. 24.
SOZIALPOLITISCH IES CENTRALBLATT.
303
trete die Ansicht der sämmtlichen Kaufleute oder ihrer
überwiegenden Mehrheit zu Tage. Und die Folge war,
dass fast überall den deutschen Handlungsgehilfen die Aus-
sicht auf Sonntagsruhe, die eine Zeit lang so verlockend
vor ihnen stand, wieder auf lange verschwunden ist.
Zur Ausführung der neuen deutschen Gewerbeordnung.
Trotzdem aus sämmtlichen deutschen Fabrikinspektoren-
berichten hervorgeht, dass die Ausnutzung aller Arbeiter-
kategorien gerade in Ziegeleien eine besonders hoch-
gradige und anormale ist, hat der „Deutsche Ziegler- und
Kalkbrenner-Verein“ (Unternehmerverband) den Bundes-
rath in einer Eingabe ersucht, für die Ziegeleien Ausnahme-
bestimmungen von den Schutz Vorschriften für jugendliche
und weibliche Arbeiter zu erlassen. Hoffentlich findet dieses
Gesuch noch bestimmter einen abschlägigen Bescheid, als
das ähnliche des „Vereins für die Rübenzuckerindustrie
des Deutschen Reichs“, der auf seiner am 25. Mai zu Berlin
abgehaltenen Jahresversammlung seine Unzufriedenheit über
die ihm gewährten Ausnahmen zum Ausdruck brachte. Die
meisten Zuckerfabriken würden schon jetzt auf Frauen-
arbeit verzichten und die Noth in den Arbeiterfamilien
werde deshalb gross sein (!). Ein Redner bemerkte, die
Sache sei einfach eine Geldfrage; man müsse männliche,
höher bezahlte Arbeiter nehmen. Danach werden sich
also die Arbeiter über die „Noth“ wohl trösten können.
Festsetzung der Arbeitszeit der Eisenbahn beamten
bei Personenzügen. Am 1. Juni trat beim Fahrpersonale
des Eisenbahnbetriebsamtes Saarbrücken eine Aenderung
im Fahrdienst ein, so dass der Dienst täglich nicht länger
als 12 Stunden dauert. Nach dieser Zeit tritt anderes Per-
sonal an die Stelle. Indessen gilt dies nur für Personen-
züge, für die Güterzüge bleibt die bisherige Bestimmung
in Kraft.
Ausdehnung des Arbeiterschutzes in der Schweiz.
Bei Prüfung des Geschäftsberichtes des Bundesrathes durch
den Nationalrath forderte Decurtins Garantien für eine
bessere Regelung der Arbeitszeit der Postillone, welche der
Chef des Postdepartements durch Erlass einer Verordnung
zu geben versprach Die Postillone sind nämlich nicht An-
gestellte der Postverwaltung, sondern sie stehen nur als
Bedienstete von Fuhrhaltern in einem Vertrags verhältniss
mit der Eidgenossenschaft. Auf dieses wird das Postdepar-
tement künftig einwirken, um die Lage dieser Personen
günstiger zu gestalten.
Die Frauenarbeit bei den schweizerischen Eisenbahnen.
Das schweizerische Bundesblatt vom 1. Juni d. J. veröffentlicht
einen Bundesrathsbeschluss vom 24. Mai d J. betreffend Ver-
besserungen im Eisenbalmbetrieb. Artikel VI desselben lautet:
„Die tägliche Beanspruchung der Frauen im Barrieredienst
darf nicht über die Dauer von 12 aufeinanderfolgenden Tages-
stunden hinausgehen. Eine Vertretung derselben in diesem
Dienst ist nur durch Personen statthaft , welche die nöthige
Eignung dazu haben; insbesondere sind Kinder und körper-
lich untaugliche ältere Personen davon ausgeschlossen.
Für Wöchnerinnen gilt in Analogie der Bestimmung im Art. 15
des Fabrikgesetzes vom 23. März 1877, dass dieselben vor und
nach der Niederkunft im Ganzen während 6 Wochen nicht im
Bahndienste beschäftigt werden dürfen, in der Meinung, dass
der Dienst jedenfalls wenigstens 4 Wochen nach der Nieder-
kunft ausgesetzt werden soll.“
Gewerbeinspektion.
Die preussischeii Fabrikinspektoren und die Arbeiter.
Eine stets wiederkehrende Klage in allen sachkundigen Be-
sprechungen der meisten deutschen und insbesondere der
preussischen Fabrikinspektorenberichte war der auffallende
Mangel eines Verkehrs der Inspektoren mit den Arbeitern;
auf derartige Beziehungen wurde kein Werth gelegt und
die Arbeiter erwiderten die Abgeschlossenheit der Aufsichts-
beamten mit Zurückhaltung, ja mit Misstrauen. Dass dieses
Verhältniss die Gewerbeinspektion nicht förderte, braucht
nicht weiter betont zu werden. Ein ganz anderes Ver-
hältniss zwischen Arbeitern und Inspektoren hat sich, von
der Schweiz und England ganz abgesehen, in Oesterreich
ausgebildet. Dort wurde amtlich in den Berichten der
grosse Werth der von den Arbeiterzeitungen den Inspek-
toren zu Theil werdenden Unterstützung anerkannt, amtlich
und ausseramtlich suchten die Inspektoren Beziehungen
mit den Arbeitern, sie besuchten ihre Feste als geladene
Gäste, sie hielten auch hie und da in Arbeitervereinen Vor-
träge und haben bei Strikes oft mit Erfolg vermittelnd ge-
wirkt. Dies hat die Inspektion in der Ausübung ihres
Dienstes wesentlich gefördert und war in gleicher weise für
die Inspektoren wie für die Arbeiter von Nutzen. Jetzt
scheint ähnliches auch in Preussen angebahnt zu werden.
So melden die Zeitungen aus Köln a. Rh., dass der dortige
Gewerbeinspektor der sozialdemokratischen „Rheinischen
Zeitung“ mittheilte, dass er in Bezug auf Abänderung von
Arbeitsordnungen, soweit darauf bezügliche Wünsche der
Arbeiter sich auf gesetzlichem und allgemein rechtlichem
Boden bewegen, jederzeit gern bereit sei, vermittelnd
zwischen Arbeitern und Unternehmern zu wirken. Auch
ersuchte er, ihm von gesundheitsgefährdenden Einrichtun-
gen in einzelnen Fabriken, wie auch von allen berechtigten
Klagen über Betriebs- und Arbeitsverhältnisse Mittheilung
zu machen, damit er im Stande sei, eingreifen zu können.
Um den Arbeitern Gelegenheit zur Anbringung ihrer Klagen
zu geben, ist der Gewerbeinspektor gerne bereit, Sonntag
Morgens eine Sprechstunde in seinem Bureau einzurichten.
Hoffentlich ist dieses Vorgehen nicht ein vereinzelter Schritt
eines Beamten, sondern auf Anordnung der Oberbehörden
erfolgt.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung
Arbeiterwohnungsverhältnisse im oberschlesischen
Industriebezirk.
Wie eine einzige grosse Stadt lagert im äussersten
Südosten unseres Vaterlandes der oberschlesische Industrie-
bezirk. Aut verhältnissmässig engem Raume drängt sich
Grube an Grube, Hütte an Hütte, Dorf an Dorf, Stadt an
Stadt. Kaum ein anderes Gebiet Deutschlands von gleichem
Umfange ist so dicht besiedelt wie die industriellen
Kreise Oberschlesiens: Beuthen Land, Beuthen Stadt, Ivatto-
witz, Zabrze und Tarnowitz, die vordem zusammen den
alten Kreis Beuthen bildeten. Hier lebten (1890) auf 759 qkm
405 1 16 Personen, also 534 auf 1 qkm und zwar in den
Kreisen Beuthen Stadt und Land auf 127 qkm 158 679 Per-
sonen (= 1 249 auf 1 qkm), im Kreise Kattowitz auf 187 qkm
120 732 Personen (= 645 auf 1 qkm), im Kreise Zabrze auf
121 qkm 73 679 Personen (= 608 auf 1 qkm) und im Kreise
Tarnowitz auf 324 qkm 52 026 Personen (= 160 auf 1 qkm).
Noch frappanter wird das Bild, das uns diese Massenan-
häutung von Menschen darbietet, wenn wir den sog. engeren
oder inneren Industriebezirk gesondert betrachten. Als
solchen sieht man an das zwischen den Ortschaften Myslo-
witz, Kattowitz, Antonienhütte, Zabrze, Miechowitz, Schar-
ley und der Landesgrenze belegene, fast den ganzen Kreis
Beuthen (Stadt und Land), die nördlichen Theile der Kreise
Kattowitz und Zabrze und einen kleinen Theil des Kreises
Tarnowitz umfassende Gebiet mit 280 qkm. Hier wohnten
1890 322 247 Personen, das sind 1 151 auf 1 qkm. Und ebenso
erstaunlich und grossstadtähnlich wie die Dichtigkeit der
Besiedelung ist die rasche Zunahme der Bevölkerung in
den genannten Kreisen. Im alten Kreise Beuthen, in dem
jetzt 405 116 Personen wohnen, lebten vor 100 Jahren erst
12319 Menschen, vor 45 Jahren erst 106 136 Personen. Seit
1885 aber, also in nur 5 Jahren, hat sich die Einwohnerzahl
um 60 705 Personen, d. i. um 17,62% vermehrt, im Kreise
Zabrze gar um 24,46 '/„, Beuthen Land um 21,17 °/0, also
rascher als in Berlin, dessen Zuwachs im genannten Zeit-
raum etwa 20 % betrug. Mehr als die Hälfte der Bevöl-
kerungszunahme ganz Schlesiens von 1885 — 1890 (— 111 588)
nämlich 54% entfallen auf den einzigen alten Kreis Beuthen.
Schon 25 Ortschaften in diesem Gebiete zählen mehr als
304
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 24.
5 000 Einwohner, 7 mehr als 10 000. Während es im ganzen
preussischen Staat nur 526 Ortschaften mit je 5 000—40 000 ,
Einwohner giebt, auf je 662 qkm eine, entfällt in unserm
Bezirk schon auf je 31,5 qkm ein Ort mit mehr als 5 000 Ein-
wohner. Es ist bekannt, dass die Schätze des oberschle-
sischen Bodens: Steinkohle, Eisenerze, Zink, diese An-
ziehungskraft ausüben, deren Gewinnung und Verarbeitung
mehr als die Hälfte der Bevölkerung beschäftigen. Vom
Bergbau und Hüttenbetrieb leben (Anfang 1890) im Land-
kreise Beuthen 76% der Gesammtbevölkerung, im Stadt-
und Landkreise Beuthen 67%, im Kreise Zabrze 66 %, im
industriellen Theile des Kreises larnowitz 57%, im Kreise
Kattowitz 56 % u. s. w. Von den grösseren Städten machten
die industriellen Arbeiter mit ihren Familien in Myslowitz
20%, in Beuthen 30%, in Königshütte (36 501 Einwohner)
gar 88% der Gesammtbevölkerung aus. 13 ländliche Orte
hatten mehr als 75 %, 16 50—75% industrielle Bevölkerung.
Es giebt für den soziologischen Feinschmecker nichts
interessanteres als nachzuprüfen, wie sich bei solch’ eigen-
thümlicher Entwickelung der Bevölkerungsverhältnisse die
Wohnungszustände für die Arbeiterschaft gestaltet
haben. Wir haben daher mit lebhafter Freude eine Arbeit
des Bergraths Dr. Sättig begriisst, welche dieser auf Grund
einer Wohnungsenquete des Oberschlesischen Berg- und
Hüttenmännischen Vereins im laufenden XXXI. Jahrgange
der Zeitschrift genannten Vereins, S. 1 — 50, veröffentlicht
hat und in welcher er die verschiedenen Probleme der
Arbeiterwohnungsfrage und deren Lösung für den ober-
schlesischen Industriebezirk an Hand eines reichen Mate-
rials mit grossem Geschick und Verständniss erörtert. Es
dürfte für die Leser dieser Zeitschrift gleichfalls von Inter-
esse sein, mit den wichtigsten Ergebnissen vorgedachter
Untersuchung bekannt gemacht zu werden, weshalb wir
uns der dankbaren Aufgabe unterziehen, im Folgenden an
Hand der Wohnungsenquete des Berg- und Hüttenmänni-
schen Vereins, sowie der darauf bezüglichen Arbeit Sattig’s
einen Ueberblick über die Arbeiterwohnungsverhältnisse im
oberschlesischen Industriebezirk zu geben.
W ie schon aus den oben mitgetheilten Zahlen sich ergiebt,
drängt sich die Arbeiterschaft Oberschlesiens, deutsch-sla-
vischer Sitte und Gewohnheit entsprechend, thunlichst um
die Arbeitsstätte zusammen. Mehr als 4 km von dieser entfernt
wohnten nur 1 3,5 n/0 der Arbeiter (4 — 6 km 7%, 6 — 8 km 3'/„
u.s.w.). Es muss also Sorge getragen werden, will man es nicht
unternehmen, die Arbeiterschaft zwangsweise zu dezentrali-
siren, ein Ziel, das für die Zukunft gewiss in’s Auge zu
fassen ist, in der Nähe der Arbeitsstätte Ansiedelungen
für die rapid wachsende Bevölkerung zu schaffen. Hiermit
ist, neben andern Uebelständen, die jede Konzentration
einer Arbeiterbevölkerung im Gefolge hat, im speziellen
Falle noch der besondere Nachtheil verbunden, dass durch
die Arbeiterwohnungen in grossem Umfange die minerali-
schen Schätze des Bodens todt gelegt werden. Dadurch
werden die Wohnungen, volkswirthschaftlich betrachtet,
ungebührlich theuer. Man rechnet, dass unter 1 qm für
etwa 100 M. Kohlen anstehen und dass bei sicherer An-
legung einer Arbeiterwohnung mit dieser 30- — 75 000 Tonnen
Kohlen verloren gehen. Den Verkaufspreis der Tonne
Kohle auch nur zu 4 M. angenommen, würde sich somit
für den Bauplatz einer einzigen Arbeiterwohnung ein Preis
von 120 — 300 000 M. ergeben. Das ist entschieden zu theuer.
Und wenn sich auch in der Gegenwart, für die Privat-
wirthschaften, diese Werthevergeudung noch nicht fühlbar
macht, so wird die zukünftige Generation doch mit dieser
Thatsache zu rechnen und darauf zu sinnen haben, die
Wohnungen der Arbeiterschaft aus dem inneren Industrie-
bezirk zu entfernen und in Vororten unterzubringen. Die
Dringlichkeit der Dezentralisation wird dann offenbar noch
erheblich grösser sein, als sie jemals für grossstädtische
Wohnungsverhältnisse gewesen ist. Die gegenwärtigen
Interessenten, Unternehmer und Arbeiter, denen solche
Zukunftsgedanken naturgemäss fern liegen, ziehen es einst-
weilen vor, die unteridischen Schätze, soweit sie nicht
schon abgebaut werden oder in absehbarer Zeit zum
Abbau gelangen, unberücksichtigt zu lassen, und den
eimeren Umkreis der Arbeitsstätten als Ansiedlungsterrain
zu wählen.
Da ist nun wohl das unseren Bezirk hauptsächlich
charakterisirende Moment das, dass die private Speku-
lation auch nicht annähernd hinreicht, um den Bedarf an
Arbeiterwohnungen zu decken. Die Enquete, welche ihre
Untersuchung auf ein Gebiet von 1141 qkm mit 71 175
männlichen industriellen Arbeitern ausdehnte, macht keine
genaue zahlenmässige Angaben über das Vorhandensein
spekulativer Arbeiter -Miethswohnungen im Bezirke; wir
können jedoch indirekt aus den mitgetheilten Zahlen ent-
nehmen, dass sie nur für einen kleinen Prozentsatz der
Arbeiterfamilien Unterkunft gewähren. Die Miethspreise im
oberschlesischen Industriebezirke sind einstweilen noch so
niedrig, dass sie der privaten Spekulation keinen Anreiz
zum Bau von Miethskasernen bieten. Da aber auch gemein-
nützige Bauvereine bislang sich in unserem Reviere nicht
bethätigt haben, so bleibt auf den Arbeitgebern die Ver-
pflichtung liegen, allen Arbeitern, die nicht in eigenen
Häusern wohnen, Unterkunft zu gewähren.
Der Prozentsatz industrieller Arbeiter, die in eigenen
Häusern wohnten, ist noch verhältnissmässig hoch; es
waren Hausbesitzer 8830 männliche Personen, also 12,4%
aller männlichen Arbeiter oder ca. 20% der verheiratheten
(47 673), und zwar entfielen 4175 von den Hausbesitzern auf
den äusseren Industriebezirk, d. h. denjenigen Rayon des
Untersuchungsgebietes, der ausserhalb des oben begrenzten
inneren oder eigentlichen Industriebezirkes (280 qkm) sich
erstreckt. Die Zahl der Eigenwohner nimmt von der
Peripherie nach dem Centrum prozentual ab; während in
einzelnen Ortschaften an der Peripherie über 50% aller
industriellen Arbeiter Eigenwohner sind, sinkt ihre Zahl
nach dem Herzen des Bezirks zu bis unter 3 %• I
Soweit nun die Unternehmer für die Unterkunft
ihrer Arbeiter zu sorgen haben, suchen sie auf drei ver-
schiedenen Wegen zu ihrem Ziele zu gelangen. Wir er-
halten somit ausser den gewöhnlichen Mieths- und den i
Eigenwohnungen drei verschiedene Arbeiterwoh-
nungstypen; für Arbeiterfamilien: die sogenannten Bei-
hilfehäuser und die gewerkschaftlichen Familien-
wohnungen; für ledige Arbeiter die Schlafhäuser bezw..
Schlafstuben. Beihilfehäuser sind solche Häuser, welche
Arbeiter mit Werksbeihilfe (Bauprämien, Bauvorschüssen,;
freiem Baugrund u. s. w.) selbst errichtet haben; zumeist,
jedoch nicht blos für den eigenen Bedarf, sondern für eine
Mehrzahl von Familien. Solcher Beihilfshäuser giebt es
1769 mit zusammen 11 135 Familien Wohnungen (im Durch-
schnitt 6,3): die Hälfte davon sind von Arbeitern der drei
fiskalischen Werke (Königin Luise -Grube, Königs -Grube,
Gleiwitzer Hütte) errichtet, nämlich 878 Häuser mit 5547
Wohnungen. Dem Beispiele des Fiskus sind dann nament-
lich die Vereinigte Königs- und Laurahütte mit 446 und die
Schlesische Aktien-Gesellschaft mit 129 Häusern gefolgt. Im
Allgemeinen lauten die Urtheile der Verwaltungen, welche
den Bau von Arbeiterwohnungen unterstützt haben, über
dieses System der Ansiedelung nicht allzu günstig. Es wird
nicht empfohlen, weil die Arbeiter sehr oft nicht im Stande
sind, die Häuser in ihrem Eigenthum zu behaupten, da sie
ausser der von der Verwaltung gewährten Beihilfe zumeist
noch anderweit Geld aufnehmen müssen; die Arbeiter ge-
rathen bald in die Abhängigkeit der Hypothekenbesitzer,
die schliesslich Eigenthümer werden. So waren von 447
Häusern der Königin Luise-Grube nur 101 ohne Aufnahme
ander weiter Hypotheken fertiggestellt worden; von den
Hypotheken, welche auf den übrigen 346 Häusern lasteten,
gehörten 77 Bergbeamten und Bergarbeitern, 26 Baugewerb-
treibenden und 291 anderen Gewerbtreibenden und Handels-
leuten. Von 332 Beihilfehäusern der Königsgrube befanden
sich (1891) nur noch 190 im Besitze von Arbeitern dieses
Werkes; 71 waren im Besitze anderer Arbeiter, 71 in den
Besitz von Geschäftstreibenden übergegangen.
Es scheint daher, als ob man das System der Beihilfe-
häuser mehr und mehr verliesse und statt ihrer in grösserem
Umfange den Bau gewerkschaftlicher Familienhäuser
betriebe. In solchen Familienhäusern, d. h. also Arbeiter-
No. 24.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
häusern, welche von den Werken auf ihre Kosten gebaut
und wohnungsweise an Arbeiterfamilien vermiethet werden,
wohnten Ende 1889: 8923 männliche Arbeiter, 12,5 "/n aller,
ca. 20 °/0 der verheiratheten männlichen berg- und hütten-
männischen Arbeiter des Untersuchungsbezirks. Von ihnen
fallen 8322 ins innere, 601 ins äussere Revier. In einzelnen
ländlichen Ortschaften wohnen über die Hälfte bis 68 %
aller männlichen Arbeiter in gewerkschaftlichen Wohnungen ;
von den Städten ein grösserer Prozentsatz (27,5 %) nur in
Kattowitz. Die gewerkschaftlichen Häuser haben im Durch-
schnitt 6,5 Wohnungen.
Ueber die Beschaffenheit der Arbeiter - Familien-
wohnungen erfahren wir aus unserer Enquete Folgendes:
In den Kreisen Tarnowitz, Gleiwitz, Pless und Rybnik be-
stehen die Arbeiterwohnungen zumeist aus einem, in den
nördlichen Theilen der Kreise Kattowitz und Zabrze, sowie
im Kreise Beuthen (Stadt und Land) aus zwei Wohnräumen.
Nach den Angaben der Magistrate und Amtsvorsteher, welche
ausser den Werksbesitzern ebenfalls befragt worden sind,
haben Arbeiterwohnungen im Kreise:
Tarnowitz unter 40 Ortschatten
28 mit zumeist 1, 12 mit zumeist 2
Gleiwitz
55
20
5)
16
55
55
1, 4
55
2
55 w
Pless
55
19
*5
18
55
55
1, 1
55
„ 2
Rvbnik
75
21
13
55
5’
1, 8
55
„ 2
Beuthen |
(Stadt
55
25
4
55
55
1,21
55
2
55 "
u. Land) |
Zabrze
55
15
55
3
5’
55
1, 12
55
„ 2
Kattowitz
55
30
55
8
55
1,22
55
„ 2
Der Rauminhalt der Wohnungen beträgt in den Kreisen
Tarnowitz, Gleiwitz, Pless und Rybnik im grossen Durch-
schnitt 40 — 54, in den nördlichen Theilen der Kreise Kat-
towitz und Zabrze sowie im Kreise Beuthen (Land) 75 cbm.
Der Regel nach wohnen 3 oder 4 Familien auf einem Flur,
danach, aber viel seltener 2, dann 6; diejenigen Häuser, in
denen nur 1 oder 5 bezw. 8 Quartiere auf einem Flur liegen,
sind Ausnahmen. Die Anzahl der unter einem Dach woh-
nenden Familien wird wesentlich durch die Zahl der Stock-
werkebedingt. Die Arbeiter stellten sich ihre Häuser anfänglich
nur mit einem Erdgeschoss her, dem sie bei Anwachsen der
Bevölkerung häutig Giebelstuben in einem Dachgeschosse
beifügten; neuerdings bauen sie schon häutig über dem
Erdgeschoss ein, auch zwei Stockwerke. Ebenso ist beim
Bau der gewerkschaftlichen Familienhäuser im Laufe der
letzten Jahrzehnte eine Vermehrung der Stockwerke ein-
getreten; aber auch unter den neueren scheinen diejenigen
mit Erdgeschoss und erstem Stockwerk zumeist vertreten
zu sein, danach diejenigen mit erstem und zweitem Stock-
werk, bei Weitem seltener solche mit drei Stockwerken über
dem Erdgeschoss. Fünf bewohnte Stockwerke (einschliess-
lich Keller) über einander haben nur wenige von Unter-
nehmern gebaute Häuser.
Leider müssen wir es uns versagen, hier in eine wei-
tere Schilderung der einzelnen Wohnungstypen und Woh-
nungseinrichtungen einzutreten; es mag auf das reiche
Material verwiesen werden , das der Bericht des Herrn
Bergrath Sättig darüber enthält. Was den Charakter der
verschiedenen Wohnungstypen anbelangt, so sind, nach
Ansicht unseres Berichterstatters , die gewerkschaftlichen
Wohnungen fast aller Orten die geräumigsten, gesündesten
und bequemsten, aber keineswegs die theuersten. Ueber
diesen letzteren Punkt, die Miethspreise, erfahren wir
folgendes: Der monatliche Miethzins der gewerkschaftlichen
Wohnungen schwankt zwischen 0 — Friedenshütte — und
10 M. — Borsigwerk • — , der nicht gewerkschaftlichen
zwischen 1,5 und 12 M. Am geringsten (1,5 — 2 M.) ist er
in den kleinen, an der Peripherie belegenen Ortschaften,
am höchsten in Rossberg, Königshütte, Lipine, Dorotheen-
dorf, Ruda, Zabrze, Laurahütte, Hohenlohehütte, Zalenze,
Rosdzin, Schozzinitz, Gleiwitz, Petersdorf (bis 10 M.), und
namentlich in Beuthen und Kattowitz (bis 12 M). Die
Miethszinse im innern Industriebezirk sind im Allgemeinen
2 — 3 mal so hoch als im äusseren. Sie sind zumeist da
am höchsten, wo es keine oder nur wenige gewerkschaft-
305
liehe Wohnungen giebt, da der sehr mässige Preis der
letzteren die Höhe des Miethzinses der übrigen Wohnungen
an demselben Orte beeinflusst. Der durchschnittliche Mieth-
zins der Wohnung eines industriellen Arbeiters soll im
innern Bezirk zur Zeit etwa 80 M. betragen. Das wäre
nicht viel und würde von dem Einkommen der Arbeiter
(vergl. den Artikel „Arbeitslöhne in der oberschlesischen
Montanindustrie“ in No. 18 dieses Blattes) nur ca. 8 12pCt.
ausmachen.
Die vorstehenden Angaben beziehen sich auf Arbeiter-
familienwohnungen; es erübrigt ein Wort über die Wohn-
verhältnisse der ledigen oder alleinstehenden
männlichen Arbeiter (die weiblichen, ledigen Arbeiter
hat die Enquete ausser Acht gelassen). Von diesen (31 874)
wohnten 64,1 % bei den Eltern, 27,5% als Quartiergänger,
5,8% in Schlafhäusern, 2,6%, in eigenen Hausständen.
Offenbar ist für die ledigen Arbeiter seitens der Werke
nicht annähernd in gleichem Umfang Sorge getragen, wie
für die verheiratheten. Denn für diejenigen ledigen Arbeiter,
welche weder bei ihren Eltern noch in eigenem Haus-
stande leben, sondern in Schlafhäusern und fremden
Quartieren wohnen — 10 632 — sowie für die auswärtigen,
und während der Woche im Industriebezirk anwesenden
Arbeiter sind nur 2976 Schlafstellen in gewerkschaftlichen
Häusern zur Verfügung; auch bei den Miethern der ge-
werkschaftlichen Familienwohnungen sind Quartiergänger
noch verhältnissmässig selten untergebracht. Von den
einzelnen Schlafstuben bezw. Schlafsälen sind
99 mit 2 bis 5 Betten besetzt,
166 „ 6 „ 10 „ „
37 „ 12 „ 16 „
16 „ 17 „ 41 „
Die Schlafhäuser, bemerkt unser Bericht, befinden
sich zum Theil in weniger gutem Zustande als die Familien-
häuser. Hinsichtlich der Ordnung, besonders aber der
Sauberkeit lassen einzelne viel zu wünschen übrig. Der
zur Aufbewahrung der Kleider und« der Speisevorräthe
überwiesene Raum ist stellenweise unzureichend. Die
Schlafstellen werden in 6 Häusern unentgeltlich, in
12 Häusern für 0,5 — 1 M., in 8 Häusern für 1,5 — 2 M., in
11 Häusern für 2,1 — 3 M. monatlich gewährt. Die Be-
köstigung ist in der Regel den Schlafstellenbesitzern über-
lassen; sie kochen sich ihre Mahlzeiten selbst, oder es ge-
schieht durch den Hausmeister bezw. durch eine Frau, die
zu dem Zweck von der Verwaltung angestellt ist. Geben
sie sich in Schlaf hauskost, so werden für ein Frühstück
zumeist 10, auch nur 5, für das Mittags- bezw. Abendbrot
25 — 45 Pf. verlangt. Die Kost ist gut, kräftig und wohlfeil.
Wie aus den wenigen vorstehenden Mittheilungen
schon ersichtlich sein dürfte, ist die Wohnungsenquete des
Oberschlesischen Berg- und Hüttenmännischen Vereins ein
sehr werthvoller Beitrag zur Erforschung unserer sozialen
Zustände. Es wäre zu wünschen, dass dieses lobenswerthe
Unternehmen auch an andern Orten Nachahmung fände,
auf dass von den berufenen Interessentenvertretungen aus
die Untersuchungen der amtlichen Organe wie der pri-
vaten Forscher die nöthige, ja unentbehrliche Ergänzung
fänden.
Breslau. Werne) Sombart.
Eingesendete Schritten.
(Besprechung Vorbehalten.)
Animal Report of the State Board of Arbitration. For the
year 1891. (Public document No. 40). Boston, 1892. Wrigtli
& Potter. Printing Co. 8°. 68 S.
Mandello, Dr. Karl, Rückblicke auf die Entwicklung der
ungarischen Volkswirthschaft im Jahre 1891. (Separat-
abdruck aus dem „Pester Lloyd“. ) Budapest, 1892. Bester
Lloyd-Gesellschaft. 8°. 239 S. und 2 Tafeln.
Mischler, E, Univ-Prof, Mittheilungen des Statistischen
Landesamtes des Herzogthums Bukowina. 1. Heft.
Czernowitz, 1892. H. Pardini. gr. 8°. 201 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
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Berlin, den 20. Juni 1892.
Nummer 25.
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Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
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Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT
Der Gesetzentwurf über die
direkten Personalsteuern
in Oesterreich. Von Prof.
Dr. Ernst Mischler.
Politische Arbeiterbewegung:
Die evangelischen Arbeitervereine,
^rbeiterzustämle:
Lohn- und Arbeitsverhältnisse der
Maurer Deutschlands. Von Dr.
Adolf Braun.
Arbeitszeit der englischen Eisen-
bahnbediensteten.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Der internationale Bergarbeiter-
kongress in London.
Der XI. ordentl. Verbandstag der
deutschen GewerkvereinOTtirsch-
Duncker).
Gewerkverein schwedischer Dienst-
mädchen in Chicago.
Kaufmännische Bewegung :
Kaufmännische Zeugnisse und
Schiedsgerichte.
Gehaltsverhältnisse der Handlungs-
gehilfen.
Ein Kongress von Delegirten aller
im Handelsgewerbe arbeitenden
Berufe.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Verordnung über die Sonntagsruhe
im Handelsgewerbe für Preussen.
Kaufmännische Sonntagsruhe.
Arbeiterversicherung:
Konferenz der Vertreter der deut-
schen Invaliditäts- und Alters-
versicherungsanstalten.
Der sechste ord. deutsche Berufs-
genossenschaftstag.
Wohnungszustände und Woli-
nungsgesetzgebung :
Wohnhausstatistik des deutschen
Reiches.
Der Berliner Frauenverein Oktavia
Hill.
Soziale Hygiene:
Eine neue Gewerbekrankheit.
Steigerung des Alkoholkonsums in
der Schweiz.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
mm
Der Gesetzentwurf über die direkten Personal-
steuern in Oesterreich.
„Der Schutz des wirthschaftlich Schwächeren“ ist
eines jener Ziele, welches der österreichische Finanz-
minister bei der gegenwärtig vorbereiteten Reform der
direkten Steuern sich vorsetzte. Im Folgenden soll an der
Hand der Regierungsvorlage die Frage erörtert werden:
welche Steuerpflicht wird in Hinkunft dem sogenannten
kleinen Manne, d. i. dem kleinen Landwirthe, dem Gewerb-
und Handeltreibenden , dem Arbeiter und dem nie-
deren Beamten obliegen, und welche Veränderung
wird in seiner gegenwärtigen Position durch die neuen
Bestimmungen hervorgerufen?
Ehe diese Frage für die einzelnen Berufsgruppen im
Einzelnen beantwortet werden kann, ist zunächst der
Personaleinkommensteuer als jener Steuer zu ge-
denken, zu welcher alle überhaupt ein Einkommen be-
ziehenden Personen verpflichtet sein werden. Diese Personal-
emkommensteuer kennt ein dreifaches Existenzminimum,
welches man als das normale, gesetzlich bedingte und
fakultative bezeichnen könnte. Das normale Existenz-
minimum reicht bis zur Einkommensgrösse von einschliesslich
600 fl, und ist somit anderen Staaten gegenüber ziemlich
hoch angesetzt. Das gesetzlich bedingte beruht auf
dem von dem Entwürfe statuirten „beneficium familiae“,
d. h. auf der Berücksichtigung der Familiengrösse; es wird
nämlich bei Einkommen bis zu 2000 fl. für jedes in der
Versorgung des Oberhauptes stehendes Familienglied ausser
der Ehefrau (insoweit deren in grösseren Orten mehr als 4
und in kleineren mehr als 2 sind), ein Betrag von 25 fl.
bei Berechnung der Steuer vom Einkommen abgeschlagen.
Dadurch kann entweder ein Existenzminimum auch bei
Einkommensbeträgen von 600 — 700 fl., oder eine Herab-
setzung der Steuer um wenigstens 1 Stufe stattfinden. Die
erstere Einwirkung ist von grösserer Bedeutung, indem die
immerhin belangreiche .Steuer von 3 fl. 60 bis 5 fl. 40 Kr.
ganz entfällt, dagegen fällt die Ermässigung um eine oder
mehrere Klassen kaum ins Gewicht (40 — 80 Kr. Differenz
zwischen je 2 Klassen). Auch ist nicht zu verkennen, dass
dieses gesetzlich bedingte Existenzminimum nur eintreten
kann, wenn die Familie in grösseren Städten mindestens 5
und in kleineren 7 Köpfe fasst, und dass es nur auf die zu
der 4. resp. 6. Person noch hinzutretenden Familienglieder
Bezug hat, wodurch seine Wirkung abgeschwächt wird.
Das fakultative Existenzminimum besteht darin, dass
es bei der Bemessung der Steuer gestattet ist, alle
möglichen, die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen
wesentlich beeinträchtigenden Verhältnisse dadurch zu be-
rücksichtigen, dass in den niedersten drei Einkommens-
stufen, d. i. von 600 bis 675 fl., die Steuer ganz entfällt und
sonst ermässigt wird. Im Allgemeinen kann also gesagt
werden, dass das Einkommen bis zu 600 fl. schlecht-
hin von der Personaleinkommensteuer frei ist, und dass
dieses Existenzminimum in immerhin erheblichem Umfange
auf 675 — 700 fl. erhöht werden kann.
Allerdings gibt es einen Fall, in dem sogar das nor-
male Existenzminimum in seinem Bestände bedroht wird,
und dieser tritt bei der Wirkung des vom Gesetzentwürfe
eingeführten Familienprinzip es ein; es wird nämlich bei
der Personaleinkommensteuer (und ähnlich bei der Renten-
steuer) das Einkommen aller mit dem Familienhaupte ge-
meinsam lebenden und von ihm versorgten Familienglieder
zum Zwecke der Besteuerung als ein einheitliches aut-
gefasst, wenn das Einkommen dieser Familienglieder dem
Oberhaupte zufliesst. Leben also z. B. in der Familie
eines Arbeiters, der 450 fl. bezieht, 3 erwachsene Kinder,
welche, das eine 500 fl. und die anderen ä 300 fl. verdienen,
so entsteht ein Gesammteinkommen zur Personalsteuer von
308
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 25.
1550 fl., von dem 20 fl. an dieser Steuer zu entrichten sind,
welche entfällt, sobald die Familienglieder einzeln leben.
So richtig das Familienprinzip beim Bezüge grösserer
Familieneinkommen ist, so berechtigt dürfte die Forderung
sein, dass seine Wirkung bei den kleinen Einkommen,
namentlich wo die Theile dem Existenzminimum unter-
liegen, entfallen solle.
Wenn nun so im Allgemeinen jedes Einkommen über
600 fl. resp. eventuell 675-700 fl. personalsteuerpflichtig
ist, so ist jedoch auch auf die Steuerbemessung Rück-
sicht zu nehmen. Da es unendlich schwierig sein
wird, zu genauen Angaben der Einkommen zu ge-
langen, so trifft die Steuervorlage den Ausweg, den Woh-
nungsaufwand als aushilfsweisen Massstab festzusetzen. Es
wird z. B. bei einem Wohnungsaufwand bis 500 fl. das -
Einkommen in Wien mindestens als 4 Mal, in grösseren
Städten resp. Orten als 5 und in kleineren als 6 Mal so
gross angenommen. Da in den österreichischen Städten
bei den niederen Volksschichten das Wohnen in 1 Zimmer
(und Küche) ungemein verbreitet ist, und solche Woh-
nungen im Allgemeinen 100 — 170 fl. kosten, so ist damit die
Steuerfreiheit dieser Volksklassen taktisch ausgesprochen,
gleichgültig, welches ihr Einkommen sei, denn es ist wohl
anzunehmen, dass die Wohnungsmiethe als Anhaltspunkt
ganz allgemein in Aufnahme kommen wird. Nun ist aber
klar, dass das Einkommen der in diesen kleinen W oh-
nungen wohnenden Familien, namentlich wo mehrere
Familienglieder mitarbeiten, in zahlreichen Fällen über 600
bis 700 fl. steht. Auch damit ist ein, allerdings unbeabsich-
tigtes und nur aus der Steuertechnik her vor gehendes
Existenzminimum, dessen Massstab die Wohnungsmiethe
ist, gegeben. Selbstverständlich werden in Hinkunft Woh-
nungen, mit welchen gemäss ihrem Miethzinse faktisch die
Steuerfreiheit verbunden ist, in verstärktem Masse gesucht
werden und damit im Preise steigen. Die Anlage von
Zinskasernen mit den kleinsten Wohnungen wird sich noch
mehr rentiren, wozu noch kommt, dass die Gebäudesteuer-
pflichtigen durch die mit der Gesetzesvorlage in Aussicht
gestellten Steuernachlässe (bei der Grund-, Gebäude- und
Erwerbsteuer) begünstigt, also doppelte Vortheile gemessen
werden. —
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen soll nun auf
die einzelnen Berufsgruppen und zwar zunächst zum
kleinen Landwirthe übergegangen werden. Durch die
soeben erwähnten Steuernachlässe wird die Grundsteuer
um 10—15 pCt. sinken; indem die progressive Personal-
einkommensteuer auch zur Grundsteuer hinzutritt, wird
für den Landwirth der Gesammteffekt hervorgerufen, dass
die Einkommensklassen bis zur beträchtlichen Höhe von
etwa 4000 fl. gegen heute entlastet und die höheren mehr
belastet werden. Noch grösser ist die Entlastung für den
Fall der Verschuldung der Grundbesitzer. Es ist somit zu
sagen, dass der kleinere und mittlere Grundbesitzerstand
jedenfalls mit der neuen Steuervertheilung zufrieden sein
kann.
Der Gewerbe- und Handeltreibende unterliegt,
neben der Personaleinkommensteuer, der Erwerbsteuer.
Dem Existenzminimum bei der ersteren entsprechen hier
die Steuerbefreiungen. Von der Erwerbsteuer befreit
sind die sogenannte nationale Hausindustrie, ferner die
eigentlichen Hausindustriellen dann, wenn sie keine frem-
den Hilfsarbeiter beschäftigen und von nicht mehr als
2 Personen ihres Hausstandes unterstützt werden; letztere
Bestimmung ist sehr eng, da fast immer mehr als 2 Mit-
glieder mitarbeiten; übrigens ist der hausindustrielle Betrieb
durch den ganzen Erwerbsteuertarif von ermässigten Steuer-
sätzen begleitet. Am wichtigsten ist dann jene Bestim-
mung, nach welcher „dürftige“ Gewerbtreibende, welche ihr
Gewerbe mit höchstens einem Hilfsarbeiter betreiben, für
je 1 Jahr von der Erwerbsteuer befreit werden „können“.
Es ist also hier nicht die absolute Steuerfreiheit solcher
Unternehmungen ausgesprochen, wie anderwärts und wie
es der Antrag Plener im österreichischen Abgeordneten-
hause intendirte, und zwar deshalb, weil der Umstand der
Verwendung höchstens eines Hilfsarbeiters nicht immer als
Kriterium der geringen Leistungsfähigkeit gelten könne.
Dabei ist bedauerlich dass man in Oesterreich nicht im
Stande ist, zu sagen, wie sich die Zahl der Gehilfen zu
jener der Meister verhält; soviel ist aber klar, dass bei
Annahme des Antrages Plener’s ganze Gegenden erwerb- 1
steuerfrei geworden wären. Das Recht, diesen „Dürftigen“
die Steuerfreiheit zu bewilligen, steht den Steuerkommis-
sionen zu, wobei dieselbe den sehr leidigen Beigeschmack
hat, dass der Gewerbtreibende als Mitglied einer neuen
Kategorie der Armen, als „Steuer-Armer“ erklärt wird,
was unbedingt nicht zur Hebung seines Selbstgefühls und
der sozialen Anschauungen über ihn beitragen kann. Viel-
leicht, dass später eine andere Formel für diese Sache ge-
funden wird.
An zweiter Stelle sind dann jene Bestimmungen zu
nennen, welche eine Beachtung der Leistungsfähigkeit
dieser Steuersubjekte enthalten. So kann die Erwerb-
steuer für Unternehmungen mit höchstens 3 Hilfsarbeitern
bei andauernder Krankheit, bei durch körperliche oder
geistige Gebrechen dauernd beeinträchtigter Erwerbsfähig-
keit bis auf die Hälfte herabgesetzt, und im Falle wesentlicher
Betriebsstörungen durchTod, Krankheit, Elementarereignisse
u. s. w. hinsichtlich einzelner Quartalsraten ganz oder theil-
weise nachgelassen werden. Eine Ermässigung der Sätze
hat auch bei Verwendung von relativ unvollkommenen'
Werkzeugen oder von Kleinmotoren in geringem Umfange
Platz zu greifen; gerade die letztgenannte Bestimmung ist
mit Hinblick auf die zunehmende Verwendung von Mo-
toren im Kleingewerbe sehr zeitgemäss. Sehr zutreffend
ist dann die Vorschrift, dass bei jenen Unternehmungen,
welche nach dem abzuschätzenden Ertrage zu besteuern
sind, ein desto niedrigerer Satz anzuwenden ist, je mehr
der Ertrag auf persönlicher Arbeit und je weniger er auf
der Mitwirkung von Kapital beruht, und je mehr im letz-
teren Falle das fremde Kapital über das eigene überwiegt.
Allerdings wird zugegeben werden müssen, dass die An-
wendung aller dieser, meist fakultativen und dehnbaren
sowie interpretationsbedürftigen Bestimmungen durch die
der Bevölkerung entnommenen Steuercommissionen recht
schwierig sein wird. Auch das vielgeprüfte Kleingewerbe
kann somit nur Ursache haben, die Einführung der neuen
Steuer zu erstreben.
Die Arbeiter sind gegenwärtig wohl so gut wie
steuerfrei, natürlich nur was die direkten Steuern an be-
langt. Sie unterliegen bei einem Bezüge von mehr als
630 fl. der Klasse II der Einkommensteuer, und zwar setzt
die Steuerpflicht (einschliesslich der Zuschläge) sofort mit
einem Satze von 2 pCt. ein und steigt progressiv. That-
sächlich jedoch rvird eine Steuer von den Arbeitern nicht
eingehoben und zwar wohl aus Gründen der technischen
Unmöglichkeit. Mit der Reformvorlage soll dieser Zustand
gründlich geändert werden. An Stelle dieser Einkommen-
steuer II. Klasse ist die Besoldungssteuer eingeführt worden,
welche wohl auch ein Existenzminimum von 600 fl. kennt
und bis 2000 fl. Einkommen 1 pCt. betragen soll; aber durch
die eventuelle Einhebung der Steuer beim Arbeitgeber
und die Schätzung des Einkommens nach Massgabe
des Wohnungsaufwandes ist die bisher fehlende Möglich-
keit gegeben, die kleinen Arbeitseinkommen zu ermitteln.
Es werden nunmehr die Arbeiter in 2 Kategorien zer-
fallen, von denen sich die eine aus jenen zusammensetzt
No. 25.
SOZIALPOLITISCHES CKNTRALBLATT.
309
für welche der Arbeitgeber die Steuer im Wege des Lohn-
abzuges entrichtet. Dieser Modus ist ganz allgemein vor-
geschrieben und wird somit für alle Beamten, Werkführer
u. dergl., sowie besondere niedere Bedienstete mit monat-
lich gezahlten Jahreslöhnen, und dann für jene Arbeiter
Platz greifen, welche zwar „veränderliche“ Bezüge haben,
wie die Vorlage sagt, d. h. also im Akkord Tag- oder
Wochenlohne stehen, aber durch ein Jahr ständig beschäftigt
werden. Dies sind im Allgemeinen die gelernten Arbeiter,
Gehilfen, Gesellen, Fabrikarbeiter, Ladendiener, Verkäufer
und Verkäuferinnen etc. Bezüglich dieser Personen ist der
Arbeitgeber gehalten, entweder die Steuer monatlich bei
der Auszahlung des Gehaltes abzuziehen und an den Staat
zu entrichten, oder aber (und zwar bei den sogenannten
veränderlichen Einkommen) am Ende des Jahres von der
oder den 2 letzten Wochenquoten in Abschlag zu bringen.
Die letztgenannte Modalität wird viele Inkonvenienzen im
Gefolge haben. Ein Arbeiter der z. B. 12 fl. Wochenlohn
erhält, unterliegt einer Jahressteuer von 6 fl. 44 kr., wozu
noch 4 fl. Personalsteuer kommen (letztere ist nämlich in
diesen Fällen in gleicher Weise vom Arbeitgeber einzu-
heben wie die Lohnsteuer), also zusammen von 10 fl. 44 kr.
Er bekommt demgemäss am Ende des Jahres, in der letzten
Woche desselben, gerade I fl. 56 kr. ausbezahlt; falls aber,
wie regelmässig, die Staatssteuer durch Kommunalzu-
schläge etc. erhöht wird, so bekommt er in einer Woche
gar nichts und in der nächsten eine unbedeutende Summe.
Die zweite Kategorie von Arbeitern wird von jenen ge-
bildet, welche nicht in fixem Arbeitsverhältnisse stehen;
bezüglich dieser wird die Steuer nicht durch den Arbeit-
geber, sondern direkt von den Steuerbehörden eingehoben,
wobei neben dem Bekenntnisse, welches aber in der Regel
thatsächlich nicht stattfinden wird, der Wohnungsaufwand
als Anhaltspunkt zu dienen hat. Flierher werden die Tag-
löhner wechselnder Beschäftigung und dann jene gelernten
Arbeiter gehören, welche sich nur für kurze Zeit in ein
Arbeitsverhältniss begeben.
Nun ist hier die wichtige und nicht zu recht-
fertigende Bestimmung ergangen, dass bezüglich jener, für
welche die Steuer vom Arbeitgeber im Wege des Lohnab-
zuges entrichtet wird, das „beneficium familiae“ nicht zu
gelten habe. Gerade für den Arbeiter, wo es am nach-
drücklichsten wirken könnte, wird es aufgehoben, und zwar
aus steuertechnischen, nicht aus inneren Gründen, weil es
eben bei diesem Modus der Einhebung nicht leicht be-
achtet werden kann.
Diese Bestimmungen der Reformvorlage sind sehr
weittragend. Die Steuereinhebung wird allerdings unge-
mein geordnet, wobei nur zu bemerken ist, dass viele,
namentlich kleinere Meister selbst im Steuerrückstand sind
und später auch hinsichtlich der Lohnsteuer im Rückstand
sein werden, da bei der steten Misere des Kleingewerbe-
treibenden die anderweitige Verwendung solcher Beträge
häufig sein wird. Im speziellen Fall dürfte die Ausführung
ziemlich schwierig sein, da die Arbeiterschaft doch ein
wesentlich flottantes Bevölkerungselement ist, da ferner die
Lohnbedingungen des Einzelnen rasch wechseln u. s. f.
Die Anlegung der Lohnlisten für alle Arbeiter wird eine
umfassende Sache darstellen (welche allerdings sozial-
statistisch von Bedeutung werden könnte). Es wäre nöthig
Vorsorge zu treffen, dass die Lohnverzeichnungen aus An-
lass der Zwangskassen mit dieser Verwendung derselben in
Verbindung gebracht würden, um den Gewerbtreibenden
Doppelarbeiten zu ersparen. Jedenfalls aber wird folgendes
gelten. Die Arbeiter werden das grösste Interesse daran
haben, dass die Steuerzahlung im Wege des Lohnabzuges
nicht eintrete, und da der Arbeitgeber dasselbe Interesse
hat, so wird eine Verständigung beider Faktoren leicht
herzustellen sein. Die Arbeiter gewinnen dabei, dass sie
meist steuerfrei ausgehen, indem sie dann nach dem Wohnungs-
aufwand beurtheilt werden müssen und dass ihnen dort,
wo sie Steuer zahlen, wenigstens das Familienbenefiz zu
Statten kommt. Diese Tendenzen werden um so stärker
wirken, je verbreiteter die gegenwärtige thatsächliche
Steuerfreiheit dieser Klasse ist.
Aber auch abgesehen von dem allerdings hauptsäch-
lichen Momente der Steuerzahlung ist die Bedeutung der
Reformvorlage für den Arbeiterstand eine grosse. Es
kommt noch ein zweiter wichtiger Umstand in Betracht.
Der Tarif der Erwerbsteuer basirt in erster Linie auf der
Arbeiterzahl, indem er die Beträge bestimmt, welche für jeden
höheren oder niederen Arbeiter zu entrichten sind. Aller-
dings wird die Steuer auch nach Maschinen, Werkvor-
richtungen etc. entrichtet, und ebenso sind Bestimmungen
getroffen, dass die Steuer für minder arbeitskräftige
Arbeiterelemente (alte Personen, Lehrlinge etc.) ermässigt
wird, aber doch bildet die vornehmste Grundlage der Be-
steuerung die Zahl und Qualität der Arbeiter. Es ist ganz
unausweichlich, dass nun, bei grösseren Unternehmungen,
der Calcul des Unternehmers ganz vornehmlich darauf ge-
richtet sein wird, ob er bei Verwendung von Menschen-
oder von Naturkraft grösseren Vortheil hinsichtlich der
Steuerzahlung erzielt, und dass er die ausgesprochene
Tendenz haben wird, die Menschenkraft in erheblich
höherem Masse auszunützen, da sie nun theuerer zu stehen
kommt. Man darf wohl mit Zuverlässigkeit Reduktionen
und Umwälzungen in der Zahl und Zusammensetzung der
Arbeiter bei Eintritt des Gesetzes voraussetzen. Auch
dürfte anzunehmen sein, dass die Arbeiter die Tendenz
haben werden, die formelle Entrichtung der Steuer durch
den Arbeitgeber in eine wirkliche umzuwandeln, sei es
durch eine allgemeine Lohnerhöhung, sei es durch die Her-
beiführung derselben Uebung, die hinsichtlich der Beamten
der Unternehmungen ziemlich allgemein ist, dass nämlich
die Steuer für diese vom Unternehmer getragen wird, ln
einer Fabrik beziehe der Direktor 5000 fl. und es seien noch
einige Beamten mit zusammen derselben Summe angestellt,
für welche alle die Steuer von zusammen 500 — 600 fl. vom
Unternehmer getragen wird; von derselben Summe von
500 — 600 fl. könnte die Lohn- sammt Personaleinkommen-
steuer für rund 100 Arbeiter bestritten werden. Zu einer
Bewegung in diesem Sinne wird namentlich die Ver-
schiedenheit beitragen, welche zwischen den ständig und
nicht ständig beschäftigten Arbeitern derselben Fabrik be-
stehen wird, wobei die einen faktisch steuerpflichtig sein und
die anderen steuerfrei ausgehen dürften.
Im Allgemeinen ist also hinsichtlich der Arbeiter zu
sagen, dass diese nun in breiten Massen der Steuerzahlung
und zwar in unausweichlicher Weise zugeführt werden
sollen, wobei es Anfangs nicht ohne Härten und Reibungen
abgehen wird. Dass die Arbeiter versuchen werden, auf
irgend einem der angedeuteten Wege die Steuerleistung zu
paralysiren, ist begreiflich.
Was endlich noch die Besteuerung der Renten-
bezüge anbelangt, so sind die bezüglichen Bestimmungen
sozialpolitisch namentlich hinsichtlich der Einkommen aus
den Zwangs Versicherungskassen erheblich. Allerdings
werden diese wohl meist tief unter dem normalen Existenz-
minimum von 600 fl. bleiben, aber immerhin ist zu sagen,
dass es angezeigt war, dieselben nicht der Rentensteuer
(deren Existenzminimum nur bis zur Grenze von 300 fl.
reicht), sondern der Besoldungssteuer zu unterwerfen, da
sie ja auch ihrer Natur nach weit mehr den Lohnbezügen
als dem Kapitalzins gleichen, wenigstens dorr, wo auch der
Arbeitgeber Zuschüsse zu den Versicherungsbeträgen zahlt.
Dadurch stellt sich der Steuersatz niedriger (1 pCt. statt
310
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 25.
der 2 pCt., welche für die Rentenbezüge normirt sind).
Wittwen, Minderjährige und erwerbslose Personen sind von
der Rentensteuer so lange befreit, als sie nicht der Per-
sonaleinkommensteuer unterliegen, d. h. es erhöht sich für
diese das Existenzmaximum von den 300 fl. der Renten-
steuer auf 600 fl., eventuell unter Eintritt des Familien-
benefices noch auf mehr. Auch bei den Einlage-Zinsen der
Sparkassen, Spar- und Vorschussvereine beginnt die Steuer-
pflicht erst bei einem höheren Betrage, nämlich bei 525 fl.
Fragen wir zum Schluss ob die für Oesterreich
immerhin als neu angestrebten sozialpolitischen Ge-
danken der Gesetzesvorlage auch schon das tür eine
moderne Gesetzesvorlage erforderliche Mass von solchen
bedeuten. Dass dem nicht so sei, giebt der Motivenbericht
bereitwillig zu, wobei er aber mit Recht das bereits er-
strebte Ziel betont und ein weiteres Beschreiten des Weges
durchaus nicht ablehnt.
prao-. Ernst Misch ler.
Politische Arbeiterbewegung.
Die evangelischen Arbeitervereine.
Die evangelischen Arbeitervereine bestehen gerade
10 Jahre. Sie bilden das jüngste Glied in der Kette der
Vereine von Arbeitern und kleinen Leuten auf evange-
lisch-kirchlichem Boden, und haben im Gegensatz zu den
evangelischen Jünglings- und Männervereinen, die einen
ausschliesslich erbaulichen Charakter besitzen, sowohl eine
religiöse als eine soziale Tendenz. Sie sind die Parallel-
erscheinungen zu den katholischen Gesellen- und christlich-
sozialen Vereinen namentlich im Westen Deutschlands, und
sind auch aus diesen herausgewachsen. Evangelische Berg-
leute von Gelsenkirchen, die dem dortigen katholischen
Arbeitervereine angehörten und durch den Druck ultra-
montaner Propaganda in ihrem evangelischen Empfinden
sich verletzt fühlten, gründeten nach Austritt aus dem
katholischen Verein im Mai 1892 den ersten evangelischen
Arbeiterverein Der Anstoss zur Bildung von solchen Ver-
einen ist also aus dem Bedürfniss von Arbeitern selbst her-
vorgegangen. Evangelische Geistliche interessirten sich für
die neuen Bildungen, und wurden bald, wenn auch nicht
die persönlichen Vorstände -- das hat man im Gegensatz
zu der Praxis der katholischen Kapläne meist vermieden
so doch die geistigen Führer und energischsten Agitatoren
der Vereine. ~ Die Vereine entwickelten sich überraschend
schnell. Zuerst in Rheinland und Westfalen, dann über das
ganze Reich. Aus den verschiedenen Jahren existiren folgende
statistische Angaben, die aber auf vollständige Genauigkeit
wohl keinen Anspruch erheben können:
1885 gab es 25 Vereine mit II 700 Mitgliedern
1887 „ „ 44 „ „ 17 000 „
1889 „ „ 70 „ „ 20 000
1890 „ „ 140 „ „ 40 000
1891 „ „ 220 „ „ 70 000 „
1892 „ „ ? „ca. 80 000
Unter den Mitgliedern sind nicht ausschliesslich Ar-
beiter, sondern wohl ebenso viele Handwerker, kleine Be-
amte u. s. w. Auch sozial höher gestellte Berufe sind viel-
fach vertreten. Diese Mitglieder werden zumeist als Ehren-
mitglieder geführt und geben vielfach — namentlich Theo-
logen, aber auch Juristen, Lehrer u.s.w. — den Ton in den Ver-
einen an. Sie bieten ihnen auch vor Allem in Vorträgen aller
Art die geistige Nahrung. Die Vereine sind gross und klein,
blühend oder nur vegetirend, je nach ihrer Vorgeschichte,
ihrer Zusammensetzung und ihrer Führung. Die grössten
und thatkräftigsten Vereine sind der zu Breslau, der jetzt
mehr denn 3200 Mitglieder zählt und in viele Gruppen und
Unterverbände zerfällt, und der zu Erfurt, der über
2000 Mitglieder hat. Sämmtliche Vereine sind heute überall
in Provinzial- und Landesverbänden zusammengefasst,
deren grösster der rheinisch-westfälische ist. Ausser ihm
giebt es Provinzialverbände an der Saar, an der Nahe, in
der Pfalz, ferner den württembergischen, badischen, bay-
rischem?) und sächsischen Landesverband, einen schlesischen,
kurhessischen und mitteldeutschen Verband, daneben noch
einige direkt angegliederte Einzelvereine, wie in Hamburg,
Altona, Ottensen und in der Mark. Alle diese Verbände
sind dann in einem Gesammtverbande zusammengefasst.
Daneben besteht ein Presskomitee.
Die Thätigkeit der Vereine ist verhältnissmässig viel-
seitig, sowohl religiöser, als geistig bildender, als sozial-
praktischer Natur. Sie halten ihre Mitglieder zu regel-
mässigem Kirchenbesuch, christlicher Sitte und evangeli-
scher Gesinnung an. Sie haben meist wöchentlich gesellige
Zusammenkünfte, vierwöchentlich Vortragsabende, an denen j
kirchen- und profangeschichtliche, naturwissenschaftliche,
patriotische, wirtschaftliche und literargeschichtliche Refe-
rate mit nachfolgender Diskussion gehalten werden. Es
ist für den ganzen Verband unter Wahrung des Rechtes
des freiwilligen Eintritts für jedes Mitglied eine Hülfs-
Kranken- und Begräbnisskasse, zugleich eingeschriebene
Hülfskasse, gegründet. Beim Tode der Frau erhält jeder
30 M., die Wittwe eines verstorbenen Mitgliedes 50 M.
Unterstützung. An manchen Orten hat man etwas Aelin-
liches wie Konsumvereine gebildet zur gemeinsamen Be-
schaffung von Lebensmitteln und Feuerungsmaterial; es
giebt Sparkassen und Kassen zur ärztlichen Verpflegung
auch der Familienglieder der Vereinsangehörigen; die
Gründung von Baugenossenschaften zur Erlangung billiger
und guter Arbeiterwohnungen wird neuerdings lebhaft be-
trieben; man hat Auskunftsstellen errichtet zur Ertheilung
von Rathschlägen an Mitglieder in zweifelhaften Fällen der
Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung, bei Lohn-
differenzen und Arbeitslosigkeit; es giebt Vereinshäuser, so
in Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum, Karlsruhe und ein
Feierabendhaus für alte, invalide, alleinstehende Arbeiter
und Arbeiterinnen Rheinlands und Westfalens. Man hat
ein gemeinsames Liederbuch , ein gemeinsames Handbuch
für evangelische Arbeitervereine ') einen gemeinsamen
Kalender, eine gemeinsame Zeitun
Viele Vereine
haben sich Bibliotheken eingerichtet; alljährlich finden
Stiftungs-, Kreis- und Landesverbandsfeste statt, die mit
Gottesdienst, Festzug Posaunenblasen u. s. w. abge-
halten werden. Ein Reiseagent, der Begründer der \ er-
eine, Bergmann Fischer, ist für die Sache thätig. Neuer-
dings hat man auch, so namentlich in Rheinland und West-
falen, ähnlich wie es auch die katholischen zu thun beginnnen,
einzelne grössere Vereine nach den in ihnen vertretenen
Gewerken in Werksgenossenschaften gegliedert, an deren
Spitze je ein dem betreffenden Gewerk angehöriges Vor-.
Standsmitglied steht. Diese neuen Gruppen haben speziell,
für fachgemässe Belehrung ihrer Mitglieder zu sorgen und
den Vorstand des Vereins in Nothfällen um Vermittlung-
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sowie um Ein-
treten für Arbeiterschutzmassregeln zu ersuchen.
Die Evangelischen Arbeitervereine haben in den
10 Jahren ihres Bestehens innerlich schon eine gewisse
Wandlung durchgemacht. Das Programm der ersten
Vereine war ganz allgemein und noch rein theoretisch.
Es enthielt kurz folgende fünf Punkte:
Die Evangelischen Arbeitervereine erstreben: 1. Unter den
Glaubensgenossen das evangelische Bewusstsein zu wecken und
zu fördern; 2. sittliche Hebung und allgemeine Bildung der
Mitglieder anzustreben; 3 Treue zu pflegen gegen Kaiser und
Reich; 4. ein friedliches Verhältniss zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern zu wahren; 5. die Mitglieder in Krankheits- und
Sterbefällen zu unterstützen.
Heute lässt sich das oben erwähnte, vom Gesammt-
verband preisgekrönte Handbuch über Charakter , Ziel
und Programm der Vereine wie folgt aus:
Die evangelischen Arbeitervereine sind da , weil die
soziale Frage da ist. Sie haben den Zweck, an der Lösung der
sozialen Frage auf dem Boden der gesellschaftlichen (nicht
öffentlichen, nicht politischen) Vereinigung mitzuarbeiten: des-
halb sind sie soziale Vereine. Weil die soziale Frage wesentlich
mit der Arbeiterbewegung zusammenhängt, haben sie den
Namen Arbeitervereine gewählt, obgleich sie auch andere Stände
aufnahmen. Ja, sie halten dies Eintreten anderer Stände wegen
fl Buchhandlung des Evangelischen Bundes, Karl Braun,
1892; Preis 1 M.
2) Evangelischer Arbeiterbote. Volksblatt für Ar-
beiter evangelischen Bekenntnisses. Organ des Gesannnt-
verbandes der evangelischen Arbeitervereine Deutschlands.
Wöchentlich zweimal. Hattingen. Preis vierteljährlich 2 Mark.
No. 25
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
311
der Aufgaben der evangelischen Arbeitervereine für noth-
wendig.
Sie sind evangelische Vereine , weil die Einigung der
verschiedenen Stände zur gemeinsamen Mitarbeit an der Lösung
der sozialen Frage nicht auf Grund eines politischen Programms
erfolgen kann, sondern nur auf Grund des gemeinsamen Glau-
bens.' Jedes politische Programm würde ein „Parteiprogramm“
werden und eine Trennung und keine Einigung herbeiführen...
Die Arbeit der evangelischen Arbeitervereine erstreckt
sich auf die Mitarbeit an der Lösung der sozialen Frage Diese
ist für uns keine Frage mehr, sondern ein Kreis von Aufgaben.
Diese Aufgaben sind:
1. Gesellschaftliche, a) Unser Bestreben ist, die Kluft
zwischen den einzelnen Ständen zu überbrücken, indem wir
innerhalb der Vereine diese Stände in Beziehung und Verkehr
bringen. Wir bekämpfen hier das gegenseitige Misstrauen und
Uebelwollen und die durch Verhetzung hervorgerufene Ver-
bissenheit. b) Wir wollen den Arbeiterstand in seinem Streben
nach Hebung des Standes durch unsre Mitarbeit unterstützen,
c) Wir wollen eine edle Geselligkeit pflegen und gegen aus-
schweifende Vergnügungssucht wie gegen das Wohlgefallen an
gemeinen, rohen, sinnlichen Freuden kämpfen.
2. Wirthschaftliche. a) In dem wirthschaftlichen Kampfe
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wollen wir ver-
söhnend und ausgleichend wirken, durch Besprechung und Hin-
weis auf wirthschaftliche Nothstände zur Besserung auf fried-
lichem Wege ohne Strikes und Boykotts Veranlassung geben
und ein vertrauensvolles Verhältniss herzustellen und zu er-
halten suchen, b) Wir wollen die gegebenen, für die Arbeiter
wichtigen Gesetze erklären und über die Bedeutung derselben
belehren, Auskunft und Rath ertheilen. c) Wir wollen der
Arbeiterwohnungsfrage dauernde Aufmerksamkeit widmen und,
wo nöthig, Abhilfe schaffen, d) Wir wollen uns der besonderen
wirthschaftlichen Nothlage unsrer Mitglieder nach Kräften an-
nehmen durch Arbeitsnachweis, Unterstützung in Krankheits-
und Sterbefällen, Darlehen, e Wir wollen der Heranbildung
der Lehrlinge in Industrie und Handwerk, sowie der wirth-
schaftlichen Ausbildung der Mädchen dauerndes Interesse wid-
men. f) Wir wollen den Sinn für Sparsamkeit und Genügsam-
keit wecken und pflegen.
3. Vaterländische, ai Wir wollen vaterländische Ge-
sinnung durch Vorträge, Feste und Lieder pflegen, b) dagegen
die vaterlandsfeindlichen Bestrebungen beleuchten und brand-
marken, wo immer sie auftreten.
4. Sittliche, a) Wir wollen kämpfen gegen die Unsitt-
lichkeit, b) Trunksucht und Völlerei, c) Spielwuth, d) schlechte
Lektüre, e) gegen Roheit und Gemeinheit in Gesinnung und
That, f) gegen die Lieblosigkeit, die Selbstsucht und den' Mate-
rialismus.
5. Religiöse, a) Die evangelischen Arbeitervereine müssen
von ihren Mitgliedern Treue gegen das evangelische Bekennt-
niss und Bethätigung desselben im Leben fordern; b) sie haben
Belehrung über wichtige religiöse Fragen zu ertheilen; c) sie
suchen eine sittlich-religiöse Erneuerung unsers ganzen Volks-
lebens herbeizuführen.
Dies Programm ist ja reich an praktischen Aufgaben;
dass aber ihre Erledigung nicht im Stande ist, die „soziale
Frage“ zur endgültigen Regelung zu bringen, ist selbst-
verständlich.
Vergleicht man das Programm mit den zuerst formu-
lirten Zielen, so tritt eine Entwicklung deutlich hervor. Am
meisten ist die Thatsache von Bedeutung, dass die Vereine
immer mehr ihre Kampfstellung gegen Rom in die gegen die
Sozialdemokratie verändert und in V erbindung damit ihren
früheren vorwiegend religiösen Charakter mit einem immer
mehr blos sozialen vertauscht haben. Augenblicklich befinden
sie sich deutlich in einer bedeutsamen Krisis. Es macht sich
unter der vorwiegend sozial gerichteten grossen Mehrheit
eine doppelte Strömung geltend, eine mehr konservative,
manchesterliche, den Arbeitgebern freundlicher gesinnte
und eine radikalere, arbeiterfreundliche, mit Gedanken-
gängen, die hier und da denjenigen der Sozialdemokratie
mcht fern bleiben. Diese letztere Richtung fordert gegen-
wärtig die Aufstellung eines geschlossenen, prinzipiell be-
gründeten Programms. Sie hat namentlich in Südwest- und
Süddeutschland ihre Anhänger.
Arbeiterzustände.
Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Maurer Deutschlands.
Die Bearbeitung eines sozialstatistisch bisher noch
nicht behandelten Gebietes liegt uns in den „Statistischen
Erhebungen über die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der
Maurer Deutschlands für das Jahr 1890“ vor, welche im
Aufträge des achten Maurerkongresses zu Gotha von dem
derzeitigen ^Generalbevollmächtigten A. Dammann zu-
sammengestellt und bearbeitet wurden1).
Die Veröffentlichung ähnelt in ihrer Anlage den vor-
angegangenen Statistiken deutscher Gewerkschaften. Auch
in ihr ist der Abdruck des Fragebogens unterlassen, der
doch die Unterlage jeder Kritik einer statistischen Erhebung
ist. Die Ergebnisse werden für jeden Ort und dann in
einer Zusammenstellung für das ganze Reich wiedergegeben.
Bei der Statistik aus den einzelnen Orten wurde leider die
übrigens nicht streng durchgeführte alphabetische Gruppi-
rung gewählt, obgleich die Zusammenstellung nach der
geographischen Lage viel praktischer gewesen wäre. Dass
Orte wie Allenstein, Colberg und Osterwick den gleichen
Raum einnehmen wie Hamburg, Berlin und Breslau, er-
scheint uns nicht eben nöthig. Leider fehlt auch ein ganzes
Land: Bayern. Hoffentlich gelingt es bis zum Zeitpunkt
einer späteren Wiederholung der Aufnahme entweder die
Organisation auszudehnen oder für die Statistik der
Centralorganisation auch die Lokalorganisationen zu inter-
essiren.
Eine eingehendere Bearbeitung der Gesammtresultate
hätte den Werth der Arbeit bedeutend erhöht. So wäre
eine Gruppirung der Orte und der sich in ihnen ergebenen
Daten nach Bundesstaaten und grösseren Verwaltungsbe-
zirken, nach der Einwohnerzahl der Städte, leicht möglich
gewesen und hätte eine Gruppirung des Materials nach den
Preisen für Brod, Fleisch und Wohnungsmiethe für ein
Zimmer versucht werden können.
Man hätte auch die Orte, in denen bedeutendere
Arbeitseinstellungen stattgefunden haben, denen gegenüber
stellen können, wo solche in den der Erhebung vorange-
gangenen Jahren nicht vorgekommen waren. Eine Kombi-
nation der Lohnhöhe mit der üblichen Arbeitszeit wäre
gleichfalls nützlich gewesen.
Wir machen diese Bemerkungen, welche ebenso aut
ähnliche Publikationen zutreffen, um eine vertiefende Be-
arbeitung der sehr nützlichen Erhebungen der deutschen
Gewerkschaften anzuregen. Der Werth der Gewerkverein-
statistik könnte ohne grosse Mühe noch leicht sehr erheb-
lich gesteigert werden. Hoffentlich widmet sich die
Generalkommission der deutschen Gewerkschaften ent-
sprechend den Beschlüssen des Halberstädter Gewerkschafts-
kongresses bald dieser Aufgabe und erzielt auf Grund ihres
moralischen Gewichtes die Gleichartigkeit der Publikationen
und die möglichste Ausbeutung des Materials. Wenn die
Generalkommission deutscher Gewerkschaften noch einen
Schritt weiter ginge und die Bearbeitung des sozialstatis-
tischen Rohmaterials selbst in die Hände nehmen würde,
so wäre dies schon aus rein praktischen Erwägungen sehr
zu begrüssen. jeder Bearbeiter statistischer Aufnahmen
einer Gewerkschaft muss sich jetzt mühsam in die Technik
der Aufbereitung hineinfinden, er kann dieser Aufgabe nie-
mals ungetheilte Aufmerksamkeit schenken, da er nur nach
Schluss seiner Berufsthätigkeit als Arbeiter oder Gewerk-
schaftsbeamter einige Stunden in der Woche der Bearbeitung
des statistischen Materiales widmen kann. Daraus ergeben
sich eine Reihe leicht vermeidbarer Nachtheile: spätes Er-
scheinen, ungenügende Durcharbeitung, mit der Ungeübtheit
des Bearbeiters verknüpfte Zeitvergeudung Die Vortheile,
die dem entgegen stehen, eingehende Kenntniss der Technik
des Gewerbes, der Personen, welche die Aufnahme be-
werkstelligten u dergl., werden im Falle der Einsetzung
einer berathenden Kommission, welche dem Bearbeiter zur
Seite steht, auch bei der von uns vorgeschlagenen Art der
Bearbeitung nicht verloren gehen. Von Seite der Gewerk-
schaft könnte aber eingewandt werden, dass auf die agita-
torische Verwerthung des Materials im Interesse der Organi-
sation für den Fall der Bearbeitung durch ausserhalb des Ge-
l) Hamburg 1892, Verlag von A. Dammann. 164 S. 8°.
Ausser dieser Publikation liegt über dieses Gebiet nur die
Dissertation Oldenburg’s: „Das deutsche Bauhandwerk der
Gegenwart“ vor. Dieselbe ist ein Theil einer grösseren Arbeit,
deren Erscheinen (1888) für einen späteren Zeitpunkt in Aussicht
gestellt wurde.
312
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 25.
werbes stehender Personen verzichtet werden müsste.
Dieser Einwand würde uns wenig stichhaltig erscheinen,
vor allem deshalb weil die direkte agitatorische Ausnützung
in den Statistiken der deutschen Gewerkschaften bis nun
keinen breiten Raum einnimmt, dieselbe uns überhaupt nicht
vortheilhaft erscheint , da jede Statistik desto stärkeren Ein-
druck macht, je mehr man die Thatsachen selbst und aus-
schliesslich wirken lässt und endlich nichts im W ege stehen
würde, dass die Leiter der Organisation in Vor- oder Schluss-
bemerkungen zu den Veröffentlichungen ihrer Statistik die
sich ergebenden Folgerungen ziehen.
Die hier angedeuteten Mängel ergeben sich naturge-
mäss aus der mangelnden Organisation der deutschen Ge-
werkschaftsstatistik, mehr oder minder berechtigen alle bis-
herigen Publikationen dieser Art zu den gleichen Aus-
setzungen. Trotzdem haben wir uns über jede neue litte-
rarische Erscheinung auf diesem Gebiete zu freuen und
zwar aus dem doppeltem Grunde, weil jede Erhebung
uns als Beweis des Ernstes und der Folgerichtigkeit des
Vorgehens der deutschen Gewerkschaften erscheinen muss,
dann aber auch weil sie trotz aller Mängel das Dunkel über
unsere Arbeiterverhältnisse aut hellt.
An der vorliegenden Statistik hätten wir im Be-
sonderen zu bemängeln, dass diese die Arbeiter des ganzen
Gewerbes berührende Untersuchung allem Anschein nach
nur auf die Mitglieder der centralisirten Organisation be-
schränkt wurde, und dass man es unterliess, die Lage der
Hilfsarbeiter statistisch zu erforschen.
Zu kritischen Bemerkungen geben auch die Haus-
haltungsbudgets Anlass. Obgleich an 151 Orten Haus-
haltungsbudgets, richtiger hiesse es Ausgabenrechnungen,
eingeliefert wurden, werden nur 18 aus 9 Olten publizirt,
was mit Sparsamkeitsrücksichten entschuldigt wird. Eine
statistische Uebersicht über die brauchbaren Budgets oder
zum mindesten Durchschnittsberechnungen aus Gruppen
der Budgets je nach der Kinder zahl bezw. den Civilstand
der Arbeiter, sowie mit Rücksicht auf die Lohnhöhe und
die Zeiten der Arbeitslosigkeit hätten sich aber leicht an-
fertigen lassen.
Den Ausgaben ist nur das „durchschnittliche“^) Arbeits-
einkommen als Maurer entgegengestellt, während über die
übrigen Einnahmequellen leider nicht berichtet wii d, diese
müssen aber vorhanden gewesen sein, da die Bilanzen mit
nur vier Ausnahmen Defizite, in ihrer Mehrzahl solche von
mehreren Hunderten Mark aufweisen, demnach nicht mit
dem sehr beschränkten Kredit der Arbeiter erklärt werden
können. Wenn in den Budgets von „durchschnittlichen“
Arbeitseinkommen gesprochen wird, so erscheint die An-
nahme nicht unberechtigt, dass bei der Aufstellung der Ein-
nahmen ähnliche Fehler gemacht wurden wie bei der Be-
sprechung der wöchentlich wiederkehrenden Ausgaben.
Diese wurden blos für eine Woche aulgestellt und dann
mit 52 multiplizirt. Dieses Verfahren ist durchaus verfehlt,
da die Art der Ernährung und damit deren Kosten durch
die Jahreszeiten und durch die Verdiensthöhe, bezw. durch
die Zeiten der Arbeitslosigkeit naturgemäss beeinflusst werden.
Sicherlich wird doch der Maurer, der im Hochsommer auf einem
Baue arbeitet, andere Mengen von alkoholischen Getränken
konsumiren, als in den Zeiten der Arbeitslosigkeit im
Winter. Der Konsum wird ferner durch Krankheiten be-
einflusst. Diese Erwägungen zwingen uns, nur diejenigen
Budgets für nützlich zu halten, welche sich auf tägliche
genaue Aufschreibungen während des Verlaufes eines ganzen
Jahres stützen. Ebensowenig wie bei den Ausgaben lassen
sich die Einnahmen durch die Multiplikation einer Wochen-
einnahme mit der Zahl der nicht arbeitslosen Wochen fest-
stellen, da doch speziell im Maurergewerbe die wechselnde
Zahl der Ueberstunden je nach der Länge des I ages das
Lohneinkommen erheblich beeinflussen kann.
Das Alter der an der Statistik sich betheiligenden
Maurer und die Zahl der arbeitslosen Tage wurden für
jeden Ort summirt, die Anführung von Durchschnittszahlen
hätte sich aber viel mehr empfohlen.
An der Statistik betheiligten sich in 202 Ortschaften
7221 Maurer, von diesen waren 1421 ledig und 5800 ver-
heiratliet, mit einem Familienstände von durchschnittlich
2,26 Kindern. Das Durchschnittsalter der sich an der
Statistik betheiligenden war 32 Jahre 8 Monate 11 läge.
Das Arbeitseinkommen betrug im Durchschnitte 858,46 M.
In 150 Orten blieb es unter dem Durchschnitte, in 51 über-
stieg es denselben. Am niedrigsten war es in 2 Orten:
350 Im d 400 M., hierauf folgen 1 1 Orte mit 400—500, 42 mit
500-600, 45 mit 600—700, 35 mit 700-800, 19 mit 800—900,
14 mit 900—1000, 11 mit 1000—1100, 7 mit 1100—1200 und
5 mit 1200—1400 M. jährlichem Arbeitseinkommen. In
48 Orten wurde der Lohn nach Tagen, in 145 nach Stunden
berechnet. Der Taglohn betrug in 15 Orten 2 3 M., in
7 Orten 4 — 5 M., in einem 5 — 5’/2 M. Der Stundenlohn be-
trug in 39 Orten 15—30 Pf., in 6 Orten 60 Pf. Akkord-
arbeit war in 36 Orten allgemein, in 31 Orten theil weise,
in 17 nur bei Putzarbeiten, in 90 überhaupt nicht üblich.
Der Akkordlohn überstieg den Zeitlohn in 31 Orten um
weniger als 10 M., in 13 Orten um 10—20 M., in 8 Orten
um 20—60 M., in 9 Orten um 65—95 M., in 4 Orten um
105 165 M., in einem um 205 — 210 und 285 290 M. In
865 Familien trugen Frau und Kinder zur Erschwingung
des Lebensunterhaltes bei, in 833 Haushaltungen wurde
Landwirthschaft, in 385 ein anderes Nebengewerbe be-
Die unfreiwillige Feierzeit belief sich aut durchschnitt-
lich 64,3 Arbeitstage, verursacht wurde dieselbe durch
Arbeitsmangel (21 ,5), ungünstige Witterung (29,1) Krankheit
(5,8) und Strikes (8 Tage). . „ .
Die gegenseitige Kündigungsfrist betrug m 91 Orten
14 Tage, in 2 Orten 8 Tage, in 65 Orten konnte^ das
Arbeffsverhältniss jederzeit gelöst werden. Wegen Nicht-
einhaltung der Arbeitsbedingungen wurde seitens der Ge-
hilfen in 413 Fällen Klage erhoben, 107 waren durch plötz-
liche Entlassung, die übrigen durch Vorenthaltung des-
Lohnes verursacht. In 218 Fällen (52,8 pCt.) wurde zu
Gunsten der klagenden Gehilfen von dem Gerichte ent-
Die durchschnittliche Ausgabe für die Miethe betrug
129 18 M. gegen 124,71 M. im Jahre 1889. Im Jahre 1890
betrug in 11 Orten die Miethe 30-60 M., in 49 Orten 60,
bis 80 M., in 57 Orten 80—100 M., in 30 Orten 100—120 M.,;
in 33 Orten 120— 140 M., in 19 Orten 140— 160 M., m 7 Orten
160—190 M. und in je einem Orte 190—200, 200—210, 210
bis 220, 250—260 und 270—280 M. In 56 Orten waren die,
Miethpreise seit 1889 gleich geblieben, in 14 waren sie ge-
gefallen, und zwar in II Orten um weniger als iy2 pGt., in
zweien um 2'/8 pCt. und in einem um 4l/2— 5 pCt., in
131 Orten war die Wohnungsmiethe gestiegen und zwar
in 42 Orten um weniger als 1 '/2 pCt., in 65 Orten um /2
bis 5 pCt., in 18 Orten um 5-10 pCt, in dreien um 11 bis
16Vo, in 2 um 24-24 V2 und in einem um 29 pCt.
In Centralkassen waren 2979, in lokalen freien Hilfs-
kassen 1522, bei Ortskassen 2541, bei Innungskassen 37 ,
doppelt gegen Krankheit waren 193 der an der Statistik
sich betheiligenden versichert.
Auf ca. 8 Gehilfen kam ein Lehrling, m 14 Orten
waren 582 Arbeiterinnen an Bauten beschäftigt.
Die Arbeitszeit betrug in 3 Orten 9—10, m 79 Orten
10, in 25 Orten 10-11, in 71 Orten 11 und m 7 Orten 11
bis 13 Stunden. Der Beginn der Arbeitszeit fiel in 8 Orten
auf 5 Uhr Morgens, sonst fast ausnahmslos aut 6 Uhr. Die
Frühstückspause dauerte überall '/.Stunde, ebensolange in,
176 Orten die Vesperpause, welche in 11 Orten uberhaup
nichtgebräuchlich war, die Mittagspause dauerte m 144 Urten
je 1, in 32 je 1 '/2 und in 1 1 Orten je 2 Stunden. Ueberstunden-
arbeit war in 49 Orten allgemein, in 44 theilweise, in 80
Orten überhaupt nicht üblich. Sonntagsarbeit war m 44
Orten allgemein, in 36 theilweise, in 91 überhaupt nicht em-
o-eführt. In je einem Orte wurde der Stundenlohn bei Uebei-
zeitarbeit blos um 1, P/sj 2 und 3 Pf., in 17 Ben um ,
in 5 Orten um 6—9, in 22 Orten um 10, in 8 Orten um
12—18 und in einem Orte um 50 Pf. erhöht. Der Stun -
lohn wurde bei Sonntagsarbeit erhöht um 2— 3 Pf. m 4, u
No. 25.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
313
5 Pf. in 13, um 6 und 8 Pf. in je einem, um 10 Pf. in 19,
um 12 — 20 Pf. in 10 und um 25 Pf. in 3 Orten, in vielen
Orten wurde für Lieberzeit und Sonntagsarbeit kein grösserer
Lohn gezahlt wie für die regelmässige Werktagsarbeit.
In 148 Orten wurde der Lohn wöchentlich, in 28 alle
14 Tage, in 2 nach vier Wochen und in einem nach Be-
dürfniss ausgezahlt, in 163 Orten war der Sonnabend, in 13
der Sonntag Zahltag. In 25 Orten wurde vor und in 127
nach Feierabend der Lohn ausgezahlt, in vier Orten fand
die Lohnauszahlung im Wirthshause statt.
In Betreff weiterer Einzelheiten müssen wir auf das
interessante Schriftchen selbst verweisen.
Ist die Statistik der deutschen Maurerorganisation auch
nach mancher Richtung verbesserungsfähig, so verdient doch
das bis nun geleistete alle Anerkennung. Erfreulich ist vor
allem, dass die Statistik in regelmässigen Zwischenräumen
wiederholt werden soll, so dass Vergleichungen über die
Entwicklung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der
deutschen Maurer möglich sein werden. Dies wird in
gleichem Masse unserer sozialen Erkenntniss wie der
Organisation der Maurer zu Gute kommen.
Berlin. Adolf Braun.
Arbeitszeit (1er englischen Eisenbahnbediensteten
Der Parlamentsausschuss zur Untersuchung der Arbeitszeit
der Eisenbahnbediensteten hat kürzlich unter Vorsitz des
Präsidenten des Handelsamtes, Sir M. Hicks Beach, seinen
Bericht festgestellt. Derselbe tritt der Festsetzung eines
gesetzlich geregelten Arbeitstages für Eisenbahnbedienstete
als unausführbar entgegen, ist jedoch der Ansicht, dass die
Eisenbahngesellschaften in der Beschränkung der Arbeits-
zeit ihrer Angestellten noch viel weiter gehen sollten, als
sie es bisher gethan. Signalbeamte und Weichensteller an
Punkten, wo grosser Verkehr herrscht, sollten nicht länger
als 8 Stunden per Tag, andere Beamte nicht länger als
10 Stunden per Tag, die Zeit für Mahlzeiten nicht einge-
rechnet, zu arbeiten haben. Einzelne Ausnahmen werden
angeführt. Für Maschinenführer, Heizer und Schaffner von
Güterzügen wird eine 66 Stunden per Woche oder 12 Stunden
täglich nicht überschreitende Arbeitszeit vorgeschlagen.
Die Gesellschaften sollten angehalten werden, dem Handels-
amt regelmässige Berichte über die Arbeitszeit ihrer Be-
diensteten einzureichen. Wenn ein solcher unbefriedigend
ausfällt, solle das Handelsamt ermächtigt werden, die Ge-
sellschaft zur Herabsetzung der Arbeitszeit innerhalb be-
stimmter Frist aufzufordern, und bei weiterer Weigerung
derselben die Sache vor die Eisenbahnkommissare zu
bringen, welchen das Recht zustehen sollte, die Gesellschaft
zur Erfüllung ihrer Verpflichtung durch eine Konventional-
strafe von 20 Pfd Sterl. per Tag anzuhalten. Der Aus-
1 schuss spricht sich energisch gegen jede Verminderung der
Verantwortlichkeit der Gesellschaften für die Verwaltung
ihrer Bahnlinien aus.
■ "
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Internationaler Bergarbeiter-Kongress in London. Im
Anschluss an unseren Bericht über die ersten Verhandlungs-
tage des Londoner Bergarbeiter-Kongresses (vergl. Sozial-
politisches Centralblattes No. 24, S. 301) fassen wir im
Folgenden die noch zu registrirenden Ergebnisse der beiden ,
letzten Tage zusammen. In der Sitzung vom 9 d. Mts.
wurde die wichtige Frage des Abstimmungsmodus auf den
internationalen Kongressen erledigt. Die Engländer schlu-
gen vor, dass im Ausschuss des Verbandes nach Nationen,
im Kongress dagegen nach Köpfen abgestimmt werden solle.
Die Deutschen und Belgier Hessen erklären, dass sie wohl
wüssten, dass durch diesen Modus die Engländer stets die
Majorität haben würden, da sie stets die meisten Delegirten
zu allen Kongressen zu entsenden pflegten, dass sie
aber doch dem Vorschläge zustimmen wollten in der
k Erwartung , dass die Majorität die Minorität nicht
vergewaltigen werde. Der englische Vorschlag wurde
darauf gegen die Stimmen der I' ranzosen angenommen.
Alsdann ging man aut die Frage des Achtstundentages für
die Arbeiter über Tage zurück. Die Engländer schlugen
als äusserstes Entgegenkommen die folgende Resolution
vor: „Der Kongress erklärt, nachdem er den Achtstunden-
tag für die Arbeiter unter Tage gefordert, dass er den
Arbeitern über Tage helfen wolle, auch ihrerseits dieselbe
Arbeitszeit zu erlangen.“ Die Deutschen Hessen indessen
durch Schröder-Dortmund erklären, dass sie dieser Reso-
lution nicht zustimmen könnten, sondern dass sie unter
die Zwecke des internationalen Verbandes bestimmt auf-
cenommen wissen wollten, dass dieser für alle beim Berg-
bau beschäftigten Arbeiter, gleichgültig ob über oder unter
läge, den Achtstundentag zu erstreben habe. In der heu-
tigen Vormittagsitzung gelangte man endlich zur Ab-
Stimmung über die Frage. Die Deutschen, Belgier und
Franzosen nahmen den Antrag Schröder einstimmig an,
die Engländer verwarfen ihn. Da man sich nun aber nicht
einigen konnte, was als Beschluss des^ Kongresses zu
proklamiren sei, da die Engländer mehr Köpfe zählen, als
alle anderen Nationen zusammen, wurde die Abstimmung
an das Geschäftskomitee des Kongresses verwiesen, damit
dieses eine geeignete Form finden solle. Es gelangte als-
dann die Frage des internationalen Strikes zur Erlangung
des Achtstundentages zur Verhandlung. Die englischen
Delegirten des Northumberland - Distrikts, zu dem auch
die Durhamer gehören, welche von einem gesetzlichen
Achtstundentag für alle Länder und Gegenden nichts
wissen wollen, schlugen auch hier eine allgemeine Reso-
lution vor, welche den Bergleuten aller Länder empfehlen
sollte, bei sich bietenden Gelegenheiten durch Strikes
in erster Linie die Verkürzung der Arbeitszeit und zwar
vor der Erhöhung der Löhne zu fordern. Sie blieben in-
dessen mit dieser Resolution bei ihren eigenen Lands-
leuten in einer Minderheit von 8 gegen 46, welche mit
den Deutschen, Belgiern und Franzosen einen Beschluss
fassten, welcher besagt: „Dass der Kongress die Möglich-
keit ins Auge fasst, durch einen internationalen Strike
aller Bergarbeiter den Achtstundentag zu erringen, dass er
aber, ehe dieser äusserste Schritt unternommen werde, die
Regierungen aller Länder noch einmal auffordert, Gesetze
zu erlassen, welche verhindern, dass Bergarbeiter länger
als acht Stunden beschäftigt werden.“
In der Schlusssitzung des Kongresses brachte der
Engländer Bailey zunächst einen Antrag ein, welcher
lautete: „Dieser Kongress ist der Meinung, dass der erfolg-
reichste Weg, welcher den Bergarbeitern einen Achtstunden-
tag sichern kann, der der Gesetzgebung ist.“ Die Northumber-
länder Hessen durch das Parlamentsmitglied Fenwick er-
klären, dass sie von einem Gegenantrag absehen und sich
damit begnügen würden, den Antrag Bailey abzulehnen.
Die darauf erfolgende Abstimmung ergab, dass 38 Engländer
für den Antrag Bailey und fünf gegen denselben stimmten.
Diese Zahlen zeigen genau, in welchem numerischen A er-
hältniss die englischen Bergarbeiter einem gesetzlichen
Eingriff in die Regelung der Arbeitszeit gegenüberstehen.
Die Franzosen und Belgier nahmen den Antrag einstimmig
an, die Deutschen enthielten sich der Abstimmung. Hier-
auf wurden die Statuten des internationalen Verbandes mit
den getroffenen Aenderungen einstimmig angenommen und
damit die Gründung des Verbandes ausgesprochen. Zum
Vorsitzenden des Verbandes wurde Burt, zum Sekretär
Pickard durch Zuruf wiedergewählt. Die übrigen Mitglieder
des Ausschusses werden von den einzelnen Nationen ge-
wählt. Der nächste Kongress soll im Jahre 1893 in Brüssel
gehalten werden. Der am Morgen an das Geschäftskomitee
zurückverwiesene Beschluss, betreffend den Achtstundentag
für die Arbeiter über Tage, wurde dadurch erledigt, dass
man beschloss, die Frage dem nächsten Kongress zu über-
weisen. Nach den üblichen Dankesreden schloss der \ lze-
präsident Woods alsdann den dritten internationalen Berg-
arbeiterkongress
Der XI ordentliche Verbandstag der deutschen Gewerk-
vereine (Hii ’Sch-Duncker). In der Pfingstwoche tagte zu Mann-
heim der Kongress der deutschen Gewerkvereine. Ausser den
Verbandsbeamten waren 44 Delegirte erschienen Leber die
Agitationsthätigkeit des Verbandes theilte Dr. Max Hirsch mit,
dass seit 1889 im Aufträge der Verbandsleitung in 150 Orten
öffentliche Vorträge gehalten und für Agitation 7000 M. veraus-
gabt wurden. Der Redner rühmte die Arbeitslosenunterstützung
der Gewerkvereine und trat, vor etrikes warnend, sie aber nicht
direkt verwerfend, für Einigungsämter ein. Nach einem \ or-
314
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 25
trage des Verbandsanwaltes Dr. M Hirsch über die Arbeiter-
schutzgesetzgebung wurde folgende vom Referenten beantragte
Resolution angenommen :
.,Der Verbandstag erklärt es, entsprechend unserm Grund-
satz der praktischen Arbeiterreform, als eine der wichtigsten
Aufgaben der deutschen Gewerkvereine, auf alle Weise zur
Ausführung der Arbeiterschutzgesetze mitzuwirken; hierzu ist
insbesondere erforderlich: 1) Festsetzung aller Verletzungen des
Gesetzes und geeignetes Erstreben der Abhilfe je nach den
Umständen durch Herantreten an die Unternehmer, Anzeige an
die Gewerbeinspektoren, Besprechung in den Versammlungen
in der Gewerk Vereins- und allgemeinen Presse. 2) Hinzuwirken
bei Bundesrath und Regierungen dahin, dass die gesetzlichen
Befugnisse zur Beschränkung der Arbeitszeit in gesundheits-
schädlichen Gewerben baldmöglichst ausgeübt werden durch
sachliche Informationen und Petitionen 3) Hinzuwirken auf die
Beseitigung zweifelhafter und dehnbarer Bestimmungen und auf
Fortbildung des Gesetzes in der Richtung wirklichen Arbeiter-
schutzes. Der Verbandstag fordert alle Mitglieder, Ortsvereine,
Ortsverbände und Generalräthe, die Mitglieder durch Meldung
an die Vorstände, dringend auf, in diesem Sinne unablässig
thätig zu sein und namentlich auch Fühlung mit den staatlichen
Gewerbeinspektionen zu suchen. Der Verbandstag richtet
schliesslich an diese Beamten die Bitte, ihrerseits in Erfüllung
ihres hochwichtigen uncl schwierigen Amtes mit den Organen
und Gliedern unserer Gesammtorganisation in Verbindung zu
treten.“
In der Debatte über diese Resolution wurde von verschie-
denen Rednern sehr beklagt, dass die guten Bestimmungen des
Gesetzes durch Fabrikordnungen wieder in Frage gestellt werden
und dass die Fabrikordnungen einseitig von den Fabrikanten
festgestellt werden, ohne dass man die Arbeiter auch nur höre
Nach einem Referate des Reichstagsabgeordneten Dr.
Schneider (Potsdam) über die eingetragenen Berufsvereine und
den preussischen Ministerialerlass über die Ausstandsversiche-
rungskassen gelangte nachstehende Resolution einstimmig zur
Annahme:
„Der XI. ordentliche' Verbandstag der deutschen Gewerk-
vereine erblickt in der gesetzlichen Anerkennung der Berufs-
vereine eine Förderung der gerechten Arbeiterinteressen und
ein Mittel zur Sicherung des sozialen Friedens
Der Verbandstag hofft, dass der deutsche Reichstag den
Gesetzentwurf betreffend eingetragener Berufsvereine als geeig-
nete Grundlage für die gesetzliche Regelung der Rechtsverhält-
nisse der Gewerkvereine in der neuen Session alsbald annehmen
und dass auch die verbündeten Regierungen demselben ihre
Zustimmung nicht versagen werden.
Gleichzeitig spricht der Verbandstag seine Befriedigung
darüber aus, dass die jahrelang fortgesetzten Petitionen der
Gewerkvereine durch die in dem Gesetzentwurf geschaffene
Grundlage für die gesetzliche Anerkennung der Berufsvereine
ihrer Berücksichtigung näher gerückt sind“
Im Jahre 1893 soll in allen Verbandvereinen das Fest des
fünfundzwanzigjährigen Bestehens der Organisation gefeiert
werden.
in folgender
Geschäftsgruppe
Kolonialwaren-, Landes-
produkte-, Eisen-, Kurz-,
Materialw.-, Droguen-,
Cigarren- und Tabak-
handlungen en detail . .
Manufakturwaaren- und
Garderobegeschäfte . . .
Kolonialwaar.-, Droguen-
u. Kohlenhandl en gros
Gerbereien u. Lederhand-
lung-, Brauereien, Bier-
un d Weinhandlungen
und Seifengeschäfte . .
Stickerei- u. Konfektions-
geschäfte,sowie Agentur
in Stickereien u. Spitzen
Webereien m Einschluss
der Gardinenwebereien,
Gardinengesch. en gros,
Agenturen in Garnen
und Webwaaren, sowie
Bleichereien
Maschinenbauer., Näh-
maschinenhandlungen,
Buchhandlungen, Ge-
schäftsbücherfabriken,
Optiker-, u. Mechanike-
geschäfte
Bankgeschäfte
Reisende in Stickereige-
schäften und Webereien
überhaupt
Handlungsgehilfen im Alter von
16 — 20 J. I 2i — 25 J. 26 — 30J. über 30 J,
— 'f* tJ 'S
N !ä-so
25
994
3 933
1 900
0T0
12 970 17 964
1 560 6 1250
3 700
1020
2 800 — —
54 951 70 1301
33 1336
4 1425
6 1458
I
5 1490
51340 — —
— 1 - 2 1078
6 1400 4 1455
990 6 1458
QoO
" O
*5 ; c-S
37
1502 16 1809
16 1530 13 1555
5 1460
211650
1 1900
21350
4 1800
über-
haupt
34
9
20
10
177
87
1021
1135
1172
1233
1282
1306
13 1362
9 1372
11
1632
101 949 148 1271 73 1476 48 1619 370 1268
l
Die freie Station ist in diese Gehälter mit 600 M. jährlich,
also ziemlich hoch, eingerechnet. Im Allgemeinen steigen nach
dieser Ermittlung die Gehälter mit den Altersklassen, jedoch
nicht über 1900 M., auch für über 30 jährige Gehilfen nicht, von
denen Dr. Dietrich annimmt, dass sie meist verheirathet seien.
Sind das schon sehr magere Einkommensverhältnisse, so noch
viel mehr diejenigen der 16— 20 jährigen Kommis, die nicht über
1000 M. beziehen und von denen einer in der Manufakturbranche
sogar nur mit 560 M angestellt war. Ein Gehalt von unter
I0Ö0 M. kommt übrigens auch in der vierten Geschäftsgruppe
bei zwei 26— 30 jährigen Gehilfen vor. Auch auf Grund dieser
Ziffern wird man sagen dürfen, dass sich die Einkommensver-
hältnisse der Handlungsgehilfen nicht viel von denjenigen der
gewerblichen Arbeiter unterscheiden, zumal, da der Kommis
auf Kleidung und Repräsentation sehr viel verwenden muss.
Gewerkverein schwedischer Dienstmädchen in Chi-
cago. In Chicago hat sich eine Union schwedischer Dienst-
mädchen gebildet, welche beabsichtigen, während des Welt-
ausstellungsjahres den Wochenlohn von 4 auf 10 Dollars
zu steigern.
Kaufmännische Bewegung.
Ein Kongress von Delegirten aller im Handelsge-
werbe arbeitenden Berufe wird für den Anfang September
von sozialdemokratischer Seite nach Berlin berufen.
In Hamburg wurde Ende Juni eine auf sozialistischem
Boden stehende gewerkschaftliche Organisation unter dem
Namen „Vorwärts“ Verein für Handlungsgehilfen gegründet.
In Berlin besteht eine ähnliche Organisation schon seit
mehreren Jahren. Sie hat eine Zeit lang auch ein eigenes
Publikationsorgan gehabt.
I
Kaufmännische Zeugnisse und Schiedsgerichte. Der
„Verband kaufmännischer Vereine Badens und der Pfalz“
fasste auf seinem am 15. Mai in Pforzheim abgehaltenen
Verbandstage u. A. folgenden Beschluss: „Der Verbandstag
steht dem beim Reichstage eingebrachten Antrag des Ab-
geordneten Goldschmidt auf gesetzliche Feststellung des
Rechtes der Handlungsgehilfen auf Zeugnisse im Handels-
gesetzbuch sympathisch gegenüber, glaubt aber, dass erst
durch Errichtung kaufmännischer Schiedsgerichte das Recht
der Gehilfen auf Zeugnisse wirksam gesichert wird.“
Gehaltsverhältnisse der Handlungsgehilfen In der
„Kaufmännischen Presse“ (Frankfurt a M ) veröffentlicht Doktor
Dietrich-Plauen eine Statistik der Saläre, welche in Plauen an
Handlungsgehilfen mit unter 2000 M. Gehalt gezahlt werden.
Als Material wurden die Angaben der Prinzipale zur Invaliditäts-
und Altersversicherung benutzt, die von der Ortskrankenkasse
eingefordert waren. Zu bedauern ist, dass nicht die wirklich
gezahlten, sondern nur die Durchschnittsgehälter angegeben
sind. Danach bezogen
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Verordnung über die Sonntagsruhe im Handelsgewerbe
für Preussen.
Die Minister des Innern, der geistlichen, Unterrichts- und
Medizinalangelegenheiten, und für Handel und Gewerbe haben
unter dem 10. Juni in Ausführung der Vorschriften des Reichs-
gesetzes vom i. Juni 1891 (Novelle zur Gewerbeordnung) nach-
stehende Anweisung , betreffend die Sonntagsruhe im Handels-
gewerbe, erlassen:
„1. Feststellung der zulässigen Beschäftigungszeit.
(§§ 105b Abs. 2, 41a R. G O.)
1. Die Feststellung der fünf Stunden, während welcher
im Handelsgewerbe an Sonn- und Festtagen die Beschäftigung
von Gehilfen, Lehrlingen und Arbeitern und ein Gewerbebetrieb
in offenen Verkaufsstellen zulässig ist, erfolgt für den Umfang
der Regierungsbezirke durch die Regierungspräsidenten, für die
No. 25.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
315
Stadt Berlin durch den Polizeipräsidenten. Sie ist — abgesehen
von den unter Ziffer 5 zugelassenen Ausnahmen — für alle
Zweige des Handelsgewerbes einheitlich zu treffen
2. Die Feststellung der Beschäftigungszeit erfolgt durch
Bestimmung des Anfangs- und des Endpunktes derselben mit
dem Vorbehalte, dass die Beschäftigungszeit durch eine von der
Orts-Polizeibehörde — nach Ziffer 3 - für den Hauptgottes-
dienst festzusetzende Pause von in der Regel zwei Stunden
unterbrochen werde.
Der Anfangspunkt der Beschäftigungszeit ist in der Regel
auf 7 Uhr Vormittags, der Endpunkt auf 2 Uhr Nachmittags
festzusetzen. Die Bestimmung ein s früheren Anfangs- und
Endpunktes — öf'g und V/-> oder 6 und I Uhr — sei es tür das
ganze Jahr, sei es nur für das Sommerhalbjahr, ist zulässig, falls
nach den örtlichen Verhältnissen die Zeit vor 7 Uhr Vormittags
für das Handelsgewerbe nicht bedeutungslos ist.
3. Die für den Hauptgottesdienst festzusetzende Pause
wird durch die Orts-Polizeibehörde nach Benehmen mit den
kirchlichen Behörden bestimmt und öffentlich bekannt gemacht.
Sie soll nicht nur die Dauer der gottesdienstlichen Feier, son-
dern auch die für etwaige Vorbereitungen, sowie für den Kirch-
gang erforderliche Zeit vor und nach der gottesdienstlichen
Feier umfassen. Im Allgemeinen werden im Ganzen zwei Stun-
den hierfür genügen.
In Gemeinden, in denen mehrere Kirchengemeinden des-
selben oder verschiedenen Bekenntnisses sich befinden, oder in
denen der Gottesdienst in verschiedenen Sprachen abgehalten
wird, ist darauf hinzuwirken, dass der Hauptgottesdienst in den
verschiedenen Kirchengemeinden, Bekenntnissen und Sprachen
thunlichst zu gleicher Stunde abgehalten wird. Wo dieses Er-
gebnis nicht erzielt werden kann, bleibt den höheren Verwal-
tungsbehörden überlassen, nach der Besonderheit der obwal-
tenden Verhältnisse über die Festsetzung der für den Haupt-
gottesdienst freizulassenden Pause nähere Bestimmung zu treffen.
4. In Ortschaften, in denen zwei Stunden für die Abhal-
tung des Hauptgottesdienstes und die Zeit des Kirchganges
nicht ausreichen, kann die für den Hauptgottesdienst bestimmte
Pause über zwei Stunden hinaus verlängert werden. In solchen
Fällen ist der Anfangspunkt der zulässigen Beschäftigungszeit
entsprechend früher (vor 7 Uhr1 zu legen. Ein Hinausschieben
des Endpunktes über 2 Uhr ist nur in Ausnahmefällen und nicht
über 2i, 2 Uhr hinaus zuzulassen
5. Eine Feststellung der fünfstündigen Arbeitszeit, die von
der in Ziffer 2 und 4 bestimmten abweicht, darf nur erfolgen
a) für die Zeitungsspedition, für welche es sich empfiehlt,
die fünfstündige Beschäftigungszeit vor Beginn des Hauptgottes-
dienstes. etwa auf die Stunden von 4 bis 9 Uhr Vormittags zu
legen;
b) für den Handel mit Blumen und Kränzen. Für diesen
können die Beschäftigungsstunden dem örtlichen Bedürfnisse
entsprechend gelegt werden, jedoch so, dass der Schluss spätestens
um 4 Uhr Nachmittags eintritt;
c) für den gesammten Handelsverkehr in Badeorten, Luft-
kurorten und Plätzen mit starkem Touristenverkehr. Für diese
Plätze darf die Festsetzung der fünfstündigen Beschäftigungszeit
für die Dauer der Saison je nach dem örtlichen Bedürfnis« mit
der Einschränkung erfolgen, dass der Schluss der Beschäftigung
spätestens um 5 Uhr Nachmittags stattfinden muss. Diese Vor-
schrift findet indess auf grössere Städte, die gleichzeitig Bade-
orte sind, wie Aachen, Wiesbaden u. ä. keine Anwendung.
Auch in den unter a bis c erwähnten Fällen ist die für
den Hauptgottesdienst festgesetzte Zeit (Ziffer 3) jedenfalls frei-
zulassen.
6. Bei statutarischer Feststellung der durch Statut einge-
schränkten Beschäftigungszeit haben die Regierungspräsidenten
darauf hinzuwirken, dass nur solche Statuten die Bestätigung
des Bezirksausschusses erhalten, die eine wirksamere als die
gesetzliche Sonntagsruhe herbeizuführen geeignet sind. Dies
gilt beispielsweise nicht von Statuten, durch welche die Arbeits-
stunden in mehr als zwei Abschnitte getheilt oder vorwiegend
auf den Nachmittag, insbesondere den späteren Nachmittag,
gelegt werden sollen.
II. Zulassung einer verlängerten ‘Beschäftig ungszeit
(§ 105 b)
1. Von der Ermächtigung, für die letzten vier Wochen vor
Weihnachten, sowie für einzelne Sonn- und Festtage, an denen
örtliche Verhältnisse einen erweiterten Geschäftsverkehr er-
forderlich machen, eine Vermehrung der Beschäftigungsstunden
bis auf zehn Stunden zuzulassen, ist nur mit der Begrenzung
Gebrauch zu machen, dass für keinen Ort an mehr als jährlich
sechs Sonn- oder Festtagen eine verlängerte Beschäftigungszeit
zugelassen werden darf.
2. Die Bestimmung der Sonn- und Festtage, für welche
eine erweiterte Beschäftigungszeit zugelassen werden soll, erfolgt
durch die höheren Verwaltungsbehörden (Oberpräsidenten
Regierungspräsidenten) oder mit deren Ermächtigung durch die
unteren Verwaltungsbehörden. Es empfiehlt sichj für diejenigen
Sonntage, an denen allgemein ein erweiterter Geschäftsverkehr
stattfindet, namentlich also für einige Sonntage vor Weihnachten,
die Verlängerung der Beschäftigungszeit einheitlich für den Lhn-
fang der Provinzen oder der Regierungsbezirke zuzulassen, im
übrigen aber die Gestattung einer verlängert n Arbeitszeit den
unteren Verwaltungsbehörden zu überlassen.
3. Dem Ermessen der höheren Verwaltungsbehörden bleibt
die Bestimmung darüber überlassen,
a) ob die vermehrte Beschäftigungszeit für alle Zweige
des Handelsgewerbes zu gestatten oder auf einzelne Zweige zu
beschränken ist,
b) um wieviel Stunden eine Uebersclircitung der fünf
Arbeitsstunden zuzulassen ist.
Letzteres mit der Massgabe, dass bis zu der gesetzlich zu-
lässigen Obergrenze von 10 Stunden nur in Ausnahmefällen zu
gehen, und dass die Beschäftigung in der Regel nicht über
sechs Uhr und niemals über sieben Uhr Abends hinaus zuzu-
lassen ist.
II. Ausnahmen auf Grund des § 105 e.
Ausnahmen für Handelsgewerbe auf Grund des § 105e
a. a. O. sollen nur von dem Regierungspräsidenten — in Berlin
von dem Polizeipräsidenten — und nur in folgendem Umfange
zugelassen werden :
1. für diejenigen Sonntage und Festtage, an denen gesetzlich
eine fünfstündige Beschäftigungszeit zulässig ist:
a) Der Verkauf von Back- und Konditorwaaren, von
Fleisch und Wurst, der Milchhandel und der Betrieb der Vor-
kosthandlungen darf ausser den allgemein zugelassenen fünf
Stunden schon vor deren Beginn, von fünf Uhr Morgens ab,
gestattet werden.
bi Für denVerkauf von Back- und Konditorwaaren, sowie
tür den Milchhandel darf ferner bis auf Weiteres noch eine
weitere nach den örtlichen Verhältnissen festzusetzende Stunde
des Nachmittags freigegeben werden.
2. F'ür den ersten Weihnachts-, Oster- und Pfingsttag:
a) Der Handel mit Back- und Konditorwaaren, mit Fleisch
und Wurst, mit Vorkostartikeln und mit Milch darf von 5 LTir
Morgens bis 12 Uhr Mittags — jedoch ausschliesslich der für
den Hauptgottesdienst festgesetzten Unterbrechung — zugelassen
werden.
b) Der Handel mit Kolonialwaaren, mit Blumen, mit
Tabak und Cigarren, sowie mit Bier und Wein darf während
zweier Stunden — jedoch nicht während der Pause für den
Hauptgottesdienst und nicht über 12 Uhr Mittags hinaus — ge-
stattet werden.
c) Hinsichtlich der Zeitungsspedition darf dieselbe Rege-
lung eintreten, wie an sonstigen Sonn- und Festtagen (s. o. I 5a).
IV. Ausnahmen von dem Verbote des § 55a.
Die unteren Verwaltungsbehörden werden ermächtigt, das
Feilbieten von Waaren auf öffentlichen Wegen, Strassen, Plätzen
und an anderen öffentlichen Orten oder von Haus zu Haus an
Sonn- und Festtagen in folgendem Umfange zuzulassen:
1. das Feilbieten von Milch, Fischen, Obst, Backwaaren
und sonstigen Lebensmitteln, insoweit es bisher schon ortsüblich
war, bis zum Beginn der mit Rücksicht auf den Hauptgottes-
dienst für die Beschäftigung im Handelsgewerbe festgesetzten
TTll r->C? O O
Unterbrechung,
2. das Feilbieten von Blumen, Backwaaren, geringwerthigen
Gebrauchsgegenständen, Erinnerungszeichen und ähnlichen
Gegenständen
a) bei öffentlichen Festen, Truppenzusammenziehungen
oder sonstigen aussergewöhnlichen Gelegenheiten,
b) für solche Ortschaften, in denen an Sonn- und Fest-
tagen regelmässig durch Fremdenbesuch ein gesteigerter Ver-
kehr stattfindet.
Im Falle der Ziffer 2 darf das Feilbieten während des
Gottesdienstes — sowohl des vor- als des nachmittägigen —
nicht zugelassen und im übrigen auf einzelne Stunden beschränkt
werden.
V. Sonstige Bestimmungen.
1. Die selbstthätigen Verkaufsapparate die sogenannten
Automaten — , mittels deren namentlich Konfitüren, Cigarren,
Streichhölzer und ähn iche Gegenstände abgesetzt werden,
müssen als offene Verkaufsstellen im Sinne des § 41a der
Gewerbeordnung angesehen werden. Die Besitzer derselben
werden deshalb darauf aufmerksam zu machen sein, dass sie
sich strafbar machen, wenn sie nicht geeignete Vorkehrungen
treffen, um die Entnahme der feilgebotenen Gegenstände an
Sonn- und Festtagen ausserhalb der zulässigen Beschäftigungs-
zeit unmöglich zu machen.
2. Die Konditoren , die Kleinhändler mit Branntwein,
sowie andere Kaufleute, welche gleichzeitig eine Schankgeneh-
migung besitzen, sind in Bezug auf ihren kaufmlfinischen Be-
trieb den gleichen Beschränkungen wie die übrigen Kaufleute
unterworfen Wenn sie daher ihr kaufmännisches Gewerbe
ausserhalb der zulässigen Stunden betreiben, so ist ihre Be-
strafung auf Grund des § 146 a der Gewerbeordnung herbei-
zuführen Sie werden ferner anzuhalten sein, in den Schau-
fenstern oder in den Ladenthüren Verkaufsgegenstände während
der Stunden, während welchen der kaufmännische Betrieb
untersagt st, nicht zur Schau zu stellen.“
In einem gleichzeitig an die königlichen Oberpräsidenten
gerichteten gemeinsamen Erlasse der drei Minister werden die-
selben ersucht, wegen Anweisung der na.'hgeordneten Behörden
und wegen Veröffentlichung der obigen Anweisung das Weitere
schleunigst zu veranlassen, und ferner dafür Sorge zu tragen
316
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 25.
dass die erforderlichen Bestimmungen unverzüglich erlassen
werden, und dass unter allen Umständen die Festsetzung der
fünf Stunden, in denen regelmässig die Beschäftigung an
Sonn- und Festtagen gestattet ist, noch vor dem 1 Juli d. J.
erfoigt m Einzdnen wird zu der Anweisung noch Folgendes
bemerkt. ^ ziffer L Hinsichtlich der Feststellung der Beschäf-
tigungsstunden ist angeregt worden, zwischen dem Gomptoir-
und dem in offenen Verkaufsstellen thätigen Personen zu unter-
scheiden und für das erstere die Beschäftigungsstunden ohne
Berücksichtigung des Hauptgottesdienstes und demzufolge ohne
Unterbrechung festzusetzen. Dieser Anregung kann nicht ent-
sprochen werden, da die gesetzlich geforderte Berücksichtigung
des Hauptgottesdienstes nicht nur im Interesse der ausseren
Heilighaltung der Sonn- und Festtage vorgeschrieben ist, son-
dern auch den Zweck verfolgt, dem kaufmännischen Personal
— und zwar auch dem im Comptoirdienst beschäftigten - die
Möglichkeit eines regelmässigen Besuchs des Hauptgottes-
d lenstes Zu Ziffer III Ausser für die in Ziffer III, 1 der An-
weisung berücksichtigten Zweige des Handelsgewerbes sind
mehrfach noch andere Ausnahmen auf Grund des iS 105e der
Gewerbeordnung befürwortet worden, so namentlich für den
Handel mit Tabak und Cigarren, Kolonial waaren Apotheker-
waaren, chirurgischen Instrumenten, Konfitüren, Selterwasser
in sogenannten Selterbuden. Hiervon wird zunächst der Ver-
kauf von Apothekerwaaren als „Arzneimitteln“ im Hinblick aut
8 6 der Gewerbeordnung und der Ausschank von Selterswasser
in Selterbuden als Schankgewerbe gemäss 8 105 i a. a O. durch
die Vorschriften über die Sonntagsruhe im Handelsgewerbe
nicht oetroffen. Für die übrigen erwähnten Artikel kann ein
Bedürfniss zur Zulassung von Ausnahmebestimmungen aut
Grund des 8 105 e nicht anerkannt werden, weil das 1 ublikum
durch die für den Handel freigegebenen fünf Stunden aus-
reichende Gelegenheit erhält, seinen Bedarf daran zu decken.
Von einer Seite ist angeregt worden, für die Spedition
frischer Fische und frischen Obstes mit Rücksicht darauf, dass
diese dem Verderben leicht ausgesetzten Waaren schnell be-
fördert werden müssen, eine zehnstündige Beschäftigungszeit
an Sonn- und Festtagen zuzulassen. Ein Bedürfniss für eine
solche Ausnahmevorschrift liegt jedoch nicht vor, da die keinen
Aufschub duldende Spedition von frischem Obst, insoweit sie
nicht als Verkehrsgewerbe gemäss § 105 i a. a. O. freigegeben
ist, nach § 105 c 'Ziffer 4 daselbst kraft Gesetzes zulässig
sein wird. , .. .
3. Zu Ziffer II., III. und IV Durch die Anweisung
sollen, wie wir ausdrücklich hervorheben, nur die Grenzen,
über welche hinaus Ausnahmen nicht zuzulassen sind, fest-
o-ele^t werden. Die Behörden sind nicht genöthigt, Ausnahmen
fn dem in der Anweisung gestatteten Umfange zuzulassen, sie
werden vielmehr zu prüfen haben, ob nicht unter Berück-
sichtigung der örtlichen Verhältnisse ihrer Verwaltungsbezirke
mit geringeren Ausnahmen dem Bedürfnisse genügt wer-
den kann “
Kaufmännische Sonntagsruhe. Von der Befugniss der
neuen Gewerbeordnung, die kaufmännische Sonntagsarbeit
durch Ortsstatut eventuell unter fünf Stunden zu beschrän-
ken, haben bisher, soweit öffentlich bekannt geworden ist,
folo-ende Städte Gebrauch gemacht: München (Schluss
1 Uhr Mittags), Bamberg (desgl.), Nürnberg (desgl.),
Stuttgart (desgl.), Fürth (desgl.); in den meisten dieser
Städte^ ist man der vom Kaufmännischen Verein Frank-
furt a. M. ausgegangenen Anregung gefolgt und hat die
Arbeitszeit für Komtore kürzer (1—2 Stunden) normirt, als
für Verkaufsgeschäfte (3—4 Stunden). Nachträgliche Er-
hebungen über die jetzige Sonntagsarbeit sind nochmals in
Stuttgart und Berlin veranstaltet worden. Ueber erstere
giebt eine im Sozialpolitischen Centralblatt No. 15 S. 197
besprochene Schrift von Lautenschläger Auskunft. Für die
Reichshauptstadt vergleiche die Ausführungen in dem Auf-
satz über die Sonntagsruhe im Handelsgewerde in No. 22
des Sozialpolitischen Centralblattes, S. 277 ff.
Arbeiterversicherung.
Konferenz der Vertreter der deutschen Invalidität^- und
Alters Versicherungsanstalten. Die im Reichsversicherungsamte
zusammengetretene Konferenz von \ ertietern der In\ aliditäts-
und Altersversicherungsanstalten berieth die Frage der Beitrags-
sätze zu der Invaliditäts- und Altersversicherung und der
Anlegung eines Theiles der Kapitalien eventuell zum Baue von
Arbeiter Wohnungen Die „Nordd. Allgem. Zeitung“ bemerkt
zum Programme der Konferenz: „Nach den gesetzlichen
Bestimmungen müssen in der ersten Lohnklasse 14 Pfennige,
in der zweiten 20, in der dritten 24 und in der vierten 30 Pfennige
für die Woche gezahlt werden. Indessen sind diese Beiträge ;
nur für die erste Beitragsperiode, die auf zehn Jahre bemessen
ist, festgestellt. Mit dem 1. Januar 1901 würde die zweite
Beitragsperiode beginnen und von da an andere Sätze ein-
gefordert werden können. Die Höhe dieser Sätze wird dann
nicht mehr durch das Gesetz, sondern durch den Ausschuss
einer jeden Versicherungsanstalt nach Anhörung des Vorstandes
festgestellt. Es ist gesetzlich nur vorgeschrieben, dass dabei
Ausfälle oder Ueberschüsse, welche sich aus der Erhebung der
bisherigen Beiträge rechnungsmässig herausgestellt haben, in [
der Weise zu berücksichtigen sind, dass durch die neuen Bei-
träge eine Ausgleichung eintritt. Die Berathung im Reichsver-
sicherungsamt dürfte daher den Zweck haben, die rechnerischen
Unterlagen zu einem möglichst gleichmässigen Vorgehen der
einzelnen Versicherungsanstalten auf diesem Gebiete zu liefern.
Es ist übrigens im Gesetze vorgesehen, dass die Versicherungs-
anstalten schon innerhalb der ersten 10 Jahre andere Beitrags-
sätze, als sie das Gesetz vorschreibt, beschliessen können. Ob
die Verhältnisse die eine oder andere Versicherungsanstalt hierzu
zwingen werden, bleibt abzuwarten. — Nicht minder wichtig ist
die Frage der Verwendung der Kapitalien der Versicherungs-
anstalten für die Anlage von Arbeiterwohnungen. Im Allge-
meinen dürfen die verfügbaren Gelderder Versicherungsanstalten
nur in öffentlichen Sparkassen oder wie Gelder bevormundeter
Personen angelegt werden. Indessen ist mit Rücksicht auf den
Umfang der zur Ansammlung bei den Versicherungsanstalten
gelangenden Kapitalien für diese noch ausserdem bestimmt, dass
der vierte T'heil des Anstaltsvermögens mit behördlicher Ge-
nehmigung in anderen zinstragenden Papieren oder in Grund-
stücken angelegt werden darf. Im Wortlaute des Gesetzes wäre
demnach ein Hinderniss für die eventuelle Verwendung eines
Tlieils des Vermögens der Versicherungsanstalten für Arbeiter-
wohnungen nicht zu finden Es möchte zu erwarten sein, dass
die Versicherungsanstalten einen Theil ihrer verfügbaren Gelder
zu dem genannten Zwecke künftig verwenden.
Der sechste ord. deutsche Berufsgenossenschaftstag wurde
unter dem Vorsitze des Abg. Roesicke am 10. Juni in Hamburg
abgehalten. Der grösste Theil der 42 dem Verbände angehören- ,
den gewerblichen Berufsgenossenschaften war vertreten, ferner
das Reichskanzleramt durch den Staatssekretär von Boetticher
und den Unterstaatssekretär von Rottenburg und das Reichs- ,
versicherungsamt durch seinen Präsidenten Dr. Bödiker. Von
den übrigen Ehrengästen ist Professor Lindstedt (Chnstiania)
zu nennen, der im Aufträge seiner Regierung eine Reise zum
Studium der Sozialgesetzgebung nach Deutschland unternommen ,
hat. Aus dem Jahresberichte ging, wie wir einem Berichte der
„Vossischen Ztg.“ entnehmen, dem wir in der Hauptsache folgen,
hervor, dass die vorläufige Verschiebung der Errichtung eigener
Unfallkrankenhäuser sich zu empfehlen scheint, dass ein For-
mular für die Berichte der Beauftragten ausgearbeitet ist und ;
dass die Frage der Unterkunft für die mehrerwähnte Sammlung ,
der Unfallverhütungsvorkehrungen 1 im Reichsversicherungsamt) ;
noch unentschieden bleiben muss. Betreffs der Arbeitsvermitte- [
lung für invalide Arbeiter hat noch nicht viel geschehen können, 1
da es den Anschein hat, als ob die Arbeiter aus der Einmischung
des Verbandes vielleicht eine Beeinträchtigung ihrer Renten be- ,
fürchten; doch soll in Berlin, als an dem geeignetsten Orte, ein
Versuch damit gemacht werden, sobald eine sachliche Vor-
prüfung die nöthigen Unterlagen bietet.
Zur eigentlichen Tagesordnung sprach zuerst Direktor .
Landmann (Berlin) über die Ausarbeitung von Normal-Unlall-
verhtitungs Vorschriften, welche in der Vorbereitung begriffen
sind Die letztere erfolgt nach 10 Gruppen getrennt, deren
jede einem bewährten Fachmann übertragen ist. Die Gruppen
vertheilen sich auf Betriebsanlagen, Feuersgefahr und Heizung,
auf Motoren, Transmissionen, Aufzüge, Arbeitsmaschinen, Irans-
| portwesen, Ausrüstung der Arbeiter, Arbeitsordnungen und \ or-
soro-e für Verletzte. — Dr. Eras (Breslau) wünscht bei dieser
Frage womöglich auch die persönlichen Eigenschaften testge-
stellt zu sehen, welche in den verschiedenen Betrieben von dem
einzelnen Arbeiter verlangt werden sollen.
Zum zweiten Punkt der Tagesordnung, betreffend die
Rechte und Pflichten der Genossenschaften in Bezug aut die
Novelle zum Krankenversicherungsgesetz hielt Dr. Blasius-Berlin
einen längeren durch Abbildungen erläuterten \ ortrag, m
welchem er die Schäden einer mangelhaften Behandlung der ,
Verletzten nachwies und die Nothwendigkeit betonte, dass die
Berufsgenossenschaften sobald als thunlich (also schon vor der i
13. Woche nach Eintritt des Unfalls) den Heilungsprozess selbst
in die Hand nehmen, womöglich eigene Unfallkrankenhäuser
einrichten und die genaueste Feststellung jedes einzelnen Un-
falles im medizinischen Sinne sich zur Aufgabe machen. Ls
ist nicht genug, dass man einfach auf Grund des Gesetzes einen
Arbeiter zum Rentner macht; viel besser ist es, moralischer und
humaner, ihm seine ganze Erwerbsfähigkeit wiederzugeben,
damit er wieder arbeiten kann. Im weiteren Verlaufe der Ver-
handlungen machte Kommerzienrath Roesicke-Berlin der V er-
sammlung darüber Mittheilung, dass kürzlich zwischen dem
Aerzteverein und den Berufsgenossenschaften Verhandluno'en
über die Stellung der Aerzte zu den Berufsgenossenschaften
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
317
No. 25.
und die Beschaffung von ärztlichen Obergutachten stattgefunden
haben. Die Versammlung erklärt ihr Einverständnis mit dem
vom Ausschuss eingenommenen Standpunkte. Direktor Schle-
singer (Berlin) beleuchtet einige Mängel des jetzigen Verfahrens
bei Unfällen und wünscht eine strengere Ueberwachung der
Unfallanmeldungen, sowie stärkere Zuziehung der Vertrauens-
ärzte und eine Begünstigung der Unfallkrankenhäuser.
Eine Entschliessung im Sinne dieser Vorschläge, welche
den I erufsgenossenschaften empfohlen wird, veranlasste den
Staatsminister Dr. von Boetticher zu der mit grossem Beifall
aufgenommenen Erklärung, dass bei der Novelle zum Unlall-
versicherungsgesetz vielleicht darauf Bedacht zu nehmen sein
werde, ob nicht die Beschaffung der Mittel zu eigenen Unfall-
krankenhäusern aus vorhandenen Beständen oder aber durch
Heranziehung der Mitglieder zu besonderen Beiträgen sich werde
irgendwie ermöglichen lassen.
Eine lebhafte Erörterung rief die Frage der Unfallatteste
und der ärztlichen Obergutachten hervor, wozu der Ausschuss
u. a. eine Entschliessung unterbreitete, wonach in den ärztlichen
Attesten die Feststellung der Erwerbsunfähigkeit der Verletzten
nach Prozenten nur auf Erfordern der berufsgenossenschaft-
lichen Organe erfolgen solle. Da bei dem vielfachen Für und
Wider eine Verständigung nicht herbeizuführen war, wurde
diese prinzipiell wichtige Bestimmung fallen gelassen, hin-
gegen der erste Theil der Resolution angenommen, der die
Zustimmung zu der mit den Vertretern des Aerztebundes ge-
pflogenen Verhandlung (vom Februar 1891) ausspricht.
Ueber die öffentlich-rechtliche Stellung der Berufsgenossen-
schaften verlas Rechtsanwalt Lindenberg-Berlin ein Gutachten,
welches zu dem Schlüsse kam, dass den Berufsgenossenschaften
das Recht einer Korporation zustehe, da sie rechtlich nothwen-
dige öffentliche Genossenschaften seien, denen die Erfüllung
staatlicher Aufgaben übertragen ist. Wenn das Oberverwal-
tungsgericht das im Gegensatz zum Kammergericht in einem
bestimmten Falle (Steuerangelegenheit) nicht anerkannt hat, so
ist zu hoffen, dass das nicht aufrecht erhalten bleibt. Baumeister
Bandke, Vorsitzender der Tiefbauberufsgenossenschaft, macht
darauf aufmerksam, dass die Praxis des preussischen justizministers
sich mit der vorgetragenen Anschauung nicht decke, da derselbe
neuerdings im Gegensatz zum Reichsversicherungsamt den Vor-
ständen das Recht nicht zugestanden habe, durch die Gerichte
zeugeneidliche Vernehmungen in Unfallsachen zu erfordern,
obschon eben dieselben Gerichte auf Antrag des Schiedsgerichts
dem gleichen Ersuchen nachkommen müssten. Es entsteht also
nur eine bedenkliche Verzögerung in der Rentenfestsetzung zum
Nachtheil der Verletzten. Der Ausschuss wird nach längerer
Verhandlung beauftragt, alle Schritte zu thun, um den Berufs-
genossenschaften zur Anerkennung ihrer bezüglichen Rechte zu
verhelfen.
Baumeister Freese (Hamburg) besprach die Unzuträglich-
keiten bei der Versicherung von Regiebauarbeitern, die darin
bestehen, dass diese Arbeiten oft gar nicht angemeldet und
keine Prämie gezahlt werde, dass aber, sobald ein Unfall ein-
tritt, der Versuch gemacht wird, eine bestimmte Genossenschaft
mit den Schäden des Betriebes zu belasten. Nach einem Antrag
Felisch (Berlin) soll nun in Zukunft beim Beginn jeder derarti-
gen Arbeit eine schriftliche Erklärung abgegeben werden, woraus
zu ersehen ist, wem die Ausführung, die Verantwortung und Unfälle
zuzurechnen sind. Schliesslich wurde das Reichsversicherungs-
amt ersucht, auf der Weltausstellung in Chicago die deutschen
Einrichtungen und Leistungen auf dem Gebiete der Arbeiter-
versicherung insbesondere der Unfallverhütung in geeigneter
Form zur Vorführung zu bringen.
Die nächste Generalversammlung soll in Stuttgart abge-
halten werden.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung
Wohnhausstatistik des deutschen Reiches. Unter den
vorläufigen Ergebnissen der Volkszählung vom 1. Dezember 1890
wird im soeben erschienenen zweiten „Vierteljahrshefte zur
Statistik des deutschen Reiches“ eine Tabelle über die Häuser
und Haushaltungen am 1 Dezember 1890 publizirt. Demnach
wurden mit Einschluss von Helgoland gezählt 5 790 689 bewohnte
und 122 109 unbewohnte Häuser, ferner 41 442 hauptsächlich oder
gewöhnlich zu Wohnzwecken nicht dienende Gebäude, 3825
Hütten, Bretterbuden, Zelte etc, 12 606 bewegliche Baulich-
keiten (Wagen, Schiffe, Flösse etc.) im Ganzen 5 970 671 zur
Wohnung dienende oder bestimmte Gebäude. Auf ein Quadrat-
kilometer kamen 11,05 zur Wohnung dienende oder bestimmte
und 10,82 bewohnte Gebäude. Auf I bewohntes Gebäude kamen
1,82 Haushaltungen und 8,45 Personen. Die meisten Personen
kamen auf 1 bewohntes Gebäude in Berlin (52,64 , hierauf folgen
in Preussen die Regierungsbezirke Danzig (11,10) und Bromberg
(1 1,08), ferner Königsberg (10,75), Arnsberg ( 10,68), Potsdam (10;52i,
Breslau (10,51), Stettin (10 49) und Posen (10,18). Im Königreiche
Sachsen kommen 10 80 Personen auf ein bewohntes Gebäude
und zwar in den Kreishauptmannschaften Dresden 11,36, Leipzig
11,25 und Zwickau 11,85. In Mecklenburg-Strelitz kommen 10,08
und in Hamburg 17,17 Personen auf eine bewohnte Baulichkeit.
Die niedrigsten Zahlen finden sich aut je eine Baulichkeit in
Preussen, in Helgoland (4,00), Sigmaringen (5,11) und in den
Regierungsbezirken Aurich (6,15), Coblenz (6,20), Stade (6,26),
Trier (6,67), Aachen (6,86) und Münster (6,96); dann in Bayern
(6,87) und zwar in Schwaben (6,01), Unterfranken (6,18), Nieder-
bayern (6,42) und in der Pfalz (6,45); in Württemberg (7,01) und
zwar im Donaukreis (6,25), Jagstkreis (6,45) und Schwarzwald-
kreis (6,52); in Baden (7,52) und zwar im Bezirke Konstanz (6,55)
und im Bezirke Freiburg (6,92); in Hessen (7,06) und am niedrig-
sten in Oberhessen (5,92), dann in Sachsen- Weimar (6,50)., Olden-
burg (6,38), Sachsen-Coburg-Gotha (6,88), Schwarzburg-Sonders-
hausen (6,31) Schwarzburg-Rudolstadt (6,85), Waldeck (6,55) und
in Elsass-Lothringen (6,23).
Der Berliner Frauenverein Oetavia Hill will nach dem
Vorgänge der Oetavia Hill in London die Verwaltung von
Wohnungen der unbemittelten Bevölkerung in Berlin durch
gebildete wohlwollende Damen übernehmen und wird zu diesem
Zwecke mit den Eigenthümern von Häusern mit kleineren Woh-
nungen geeignete Vereinbarungen treffen. Er hofft, auf diese
Weise nicht nur eine bessere Gestaltung der Mieths Verhältnisse
der unbemittelten Bevölkerung herbeizuführen, sondern auch
erforderlichenfalls den Miethern in geeigneter Weise mit Rath
und That zur Seite stehen zu können. Soweit es zu letzterem
Zwecke nothwendig erscheint, wird der Verein besondere Ver-
anstaltungen zur Hebung der häuslichen Gesundheitspflege,
Erziehung der Kinder u. s. w treffen, im Uebrigen aber es sich
angelegen sein lassen, mit bereits bestehenden Vereinen Fühlung
zu nehmen, damit deren Einrichtungen von den Miethern benutzt
werden. Die Mitgliedschaft wird durch Zahlung eines Jahres-
beitrages von mindestens 5 M. oder eines einmaligen Beitrages
von mindestens 150 M. erworben. Damen können die Mitglied-
schaft auch lediglich durch praktische Thätigkeit in den Vereins-
aufgaben erwerben. Der Verein übernimmt einen bereits ein-
gerichteten Fröbel’schen Volkskindergarten als besondere Ver-
anstaltung.
Soziale Hygiene.
Eine neue Gewevbekrankheit. In dem in No. 20 der
Veröffentlichungen des kaiserl. Gesundheitsamtes (19. Mai
1892) publizirten Berichte des Regierungs- und Medizinal-
rath Dr. Tenholt über das öffentliche Gesundheitswesen im
Regierungsbezirke Arnsberg während der Jahre 1886 — 88
findet sich folgende Mittheilung:
„Eine anscheinend neue Gewerbekrankheit wurde in
der Roburitfabrik zu Witten beobachtet. Roburit ist ein
Gemenge von chlorhaltigen Dinitrobenzol und Dinitronaph-
talin mit salpetersaurem Ammoniak. Die .Stoffe werden
unter Erwärmung im Wasserbade mit einander vermengt.
Ende 1887 erkrankten die Hälfte bis zwei Drittel aller Ar-
beiter (70—80) unter heftigen Verdauungsstörungen, ver-
bunden mit asthmatischen Beschwerden, Lähmungserschei-
nungen in den unteren Extremitäten und Benommenheit
des Kopfes. Bei ekelhaft süssem Geschmack im Munde
erfolgt häufig Erbrechen schwarzer Massen und Ausleerung
übel riechender Stuhlgänge. Die schwersten Formen gingen
nach 4 — 5 W^ochen, die übrigen nach 8 — 14 Tagen in Ge-
nesung über.“
Steigerung tles Alkoholkonsums in der Schweiz. Nach-
dem in der ersten Zeit nach Einführung des Alkoholmonopols
der Alkoholkonsum in der Schweiz gesunken war, wird jetzt
eine kleine Steigerung konstatirt.
Die eidgenössische Alkoholverwaltung hat im Jahre 1891
einen Einnahmeüberschuss von 6013 488 Frcs., wobei unter den
Ausgaben ein Betrag von 950 000 Frcs. für Amortisation enthalten
ist. Der Konsum von Branntwein (50grädig) in der Schweiz für
1891 wird von der Verwaltung auf 6,32 1 per Kopf berechnet,
gegen 6,27 1 im )ahre 1890.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Kraun in Berlin.
318
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Die
ÖsterreichiseheHandelspolitik
iprciö 50 SJJf.
im neunzehnten Jahrhunderte.
Von
3u berieten bunt) alte SBudibmibfuitgen nnb
biird) bie (£rpebiücu§=Steflen bev „93oPf§=3eituiig".
5Kad) (Shifaibung Ooit 50 1)3 f. in SBriefmorfeit erfolgt
bie gufetibmtg ber iBvodjuve franco per fßoft burrf)
bie SjpebrttoitS * Stellen ber „S3oIf8 * 3dtunfl'\ -
S3erlht W„ ßronenftr. 46, unb Ihilioioftv. 105.
IDr. -A_d.olf Beer,
k. k. Ministeruürath und Reichstags- Abgeordneter.
Gr. 8. 39'/2 Bogen. Preis brosebirt 12 Mark.
Zum ersten Male wird in diesem Werke eine Darstellung der leitenden Gesichts-
punkte österreichischer Handels- und Zollpolitik, ausschliesslich auf handschriftlichen
Quellen fussend, gegeben. Besonders ausführlich werden die Bestrebungen Oester-
reichs zur Bildung einer Zolleinigung mit dem deutschen Zollvereine geschildert. Das
Werk liefert auch für die Würdigung der österreichischen Politik in den letzten Jahr-
zehnten manchen Beitrag und dürfte auch in weiteren Kreisen lebhaftes Interesse er-
wecken.
jfrei ilatib ’
pdpfdjrift p füiDming tim frifüliriicu
^u|iatofürm*
Drgait bES ©EtdfdiBit Buitbr» für BobEit-
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U. (ÜmtfEntag, 2krlagdbnd)banblnng in SBerün
21 b o n n e m e n t § b e b i tt g u n g e n :
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uont 15. Üuni 1883,
i» ber Raffung ber 9? r» belle hont 10. 2(yrU 1892.
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Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT
DasKorporationsrechtund die
Gewerkvereine in Deutsch-
land. Von Dr Arthur Cohen.
Soziale Wirtlischaftspolitik n.
Wirthscliaftsstatistik :
Die sozialpolitischen Aufgaben der
deutschen Gemeindeverwaltun-
gen. Von Dr. Max Quarck.
Ergebnisse einer landwirtschaft-
lichen Berufsstatistik für Belgien.
Arbeiterzustäncle :
Die Grubenkatastrophe in Przibram.
Von Dr. Leo Verkauf.
Kommission für Arbeitsstatistik.
Amtliche Erhebungen der Arbeit-
losigkeit.
Arbeiterverhältnisse der hessischen
Cigarrenindustrie
Kaufmännische Bewegung:
Jahresversammlung des deutschen
Verbandes kaufmännischer Ver-
eine in Köln.
Gewerbliche Fortbildungsschulen
für Kaufleute.
Arbeiterschutzgesetzgebung :
Der Achtstundentag in Australien.
Zum Koalitionsrecht der Arbeiter
in Deutschland.
Neue Gesindeordnung für das
Königreich Sachsen.
Sonntagsruhe für das Handelsge-
werbe im Grossherzogthum
Hessen.
Sonntagsruhe für das Handels-
gewerbe in Berlin.
Ortsstatut über die Sonntagsruhe
im Handelsgewerbe für Frank-
furt a. M.
Arbeiterschutzvorschriften für Fell-
z.urichtereien.
Arbeiterversicherung:
Ausdehnung der Krankenversiche-
rung durch Ortsstatut.
Rechnungsergebnisse der staat-
lichen Unfallversicherung in
Niederösterreich.
Zur Frage der Arbeiterversicherung
in England.
Wohnungszustände und Woh-
nungsgesetzgebung :
Wohnungsstatistik in Worms.
Wohnungszustände inFrankfurt a.M.
Litteratur:
Protokoll der Verhandlungen des
ersten Kongresses der Gewerk-
schaften Deutschlands.
Piirsch, Max, Leitfaden mit Muster-
statuten für freie Htilfskassen.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Das Korporationsrecht und die Gewerk-
vereine in Deutschland.
Während unser Assoziationsrecht überall da, wo es
sich darum handelt, den Interessen der Industrie, des Han-
dels und Verkehrs entgegenzukommen, den Bedürfnissen
verhältnissmässig raschen Schrittes folgte, befindet sich
unser Arbeitervereinsrecht — abgesehen vielleicht vom
Hilfskassengesetze — noch in einem rudimentären Zustande,
der mit dem gesteigerten Klassenbewusstsein und der heu-
tigen Klassenmacht des deutschen Arbeiterstandes in
krassem Widerspruche steht. In einer früheren Nummer
des Sozialpolitischen Centralblattes1) wurden die Mängel
des politischen Vereinsrechts dargelegt. Aehnlich zurück-
geblieben wie dieses ist das privatrechtliche Vereinsrecht
— zum Unterschied von ihm Korporationsrecht genannt.
0 No. 11: Die Lage der deutschen Gewerkschaften. Von
Dr. Adolf Braun.
Im Gebiete des gemeinen Hechts herrschen auch hier
noch die römischen Grundsätze. Das Schlimmste dabei ist,
dass über den Kardinalpunkt, ob die Vereine zur Erlan-
gung der juristischen Persönlichkeit der staatlichen Ge-
nehmigung bedürfen, die Ansichten auseinandergehen. D e
Theorie neigt mehr zur Verneinung dieser Frage, während
die Praxis mit verschwindenden Ausnahmen den entgegen-
gesetzten Standpunkt einnimmt. Auch die Partikularrechte
waren auf dem in Rede stehenden Gebiete wenig schöpfe-
risch Das preussische Landrecht bestimmt, dass ein Verein
juristische Persönlichkeit nur durch Verleihung seitens des
Königs erhalten könne. Der Code civil schweigt. Nur
zwei deutsche Staaten — Sachsen und Bayern — haben
Spezialgesetze erlassen. Nach dem sächsischen Gesetze,
die juristischen Personen betreffend, vom 15. Januar 1868
erlangen Personenvereine die juristische Persönlichkeit
durch Eintragung in ein eigenes „Genossenschaftsregister“.
Die Eintragung darf nicht verweigert werden, wenn die
Statuten den durch das Gesetz selbst gestellten, ledig-
i lieh formellen, Anforderungen entsprechen. Nur wenn
der Verein Zwecke verfolgt, die sich auf öffent-
liche Angelegenheiten beziehen, darf die Eintragung
erst nach Genehmigung des Ministeriums des Innern ge-
schehen. Bayern, das in Bezug auf den polizeilichen Cha-
rakter des „Vereinsrechts“ unter den deutschen Staaten
mit in erster Reihe steht, hat das liberalste „Korporations-
recht“ in Deutschland. Das bayerische Gesetz vom
29. April 1869, die privatrechtliche Stellung von Vereinen
betreffend, verleiht den Personen-Vereinigungen, die durch
das zuständige Landgericht feststellen lassen, dass ihre Sta-
tuten gewissen, formellen, Anforderungen Genüge leisten,
die Rechte der juristischen Persönlichkeit („Anerkannter
Verein“).
Auch im norddeutschen Bund und deutschen Reiche
fehlte es nicht an Vorschlägen zu einer Bundes- beziehungs-
weise reichsgesetzlichen Regelung.
Am 4. Mai 1869 legte Schulze-Delitzsch einen darauf
bezüglichen Entwurf dem Reichstage vor. Wir können uns
die Darlegung seines Inhalts aus dem Grunde ersparen,
weil das eben erwähnte bayerische Gesetz ihm genau
nachgebildet ist. Der norddeutsche Reichstag nahm den
Schulze’schen Entwurf an, der deutsche liess ihn fallen, als
seitens des Vertreters der Regierungen die Erklärung ab-
gegeben wurde, dass im Kreise der Regierungen gegen ihn
prinzipielle Bedenken geäussert worden seien, deren wich-
tigste sich auf Hereinziehung der religiösen und politischen
Vereine bezögen und gegen dieVerleihung korporativer
Rechte an die sogenannten Gewerkvereine ge-
richtet seien. In ein neues Stadium trat die Angelegen-
320
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 26.
heit mit der Einsetzung einer Kommission für Ausarbeitung
eines bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich.
Dieselbe entschied sich, wie bekannt, dafür, dass die
Landesgesetze die Bedingungen bestimmen sollen, unter
denen Personenvereinigungen das Korporationsrecht,
die juristische Persönlichkeit , zustehen soll , oder mit
andern Worten: dass es beim Alten bleiben solle. Dem
trat mit aller Schärfe und Entschiedenheit der deutsche
Juristentag des Jahres 1888 entgegen.
Hauptsächlich unter dem Einflüsse von Gierke be-
schloss er:
„Das bürgerliche Gesetzbuch hat, unter Vorbehalt
der "besonderen Reichs- und Landesgesetze über einzelne
Körperschaftsgattungen, allgemeine Bestimmungen über
Erwerb und Verlust der Körperschaftsrechte zu treffen.
Es hat dabei das Prinzip der freien Körperschaftsbildung
zu Grunde zu legen. Privatrechtliche Körperschaften,
welche nicht unter ein Spezialgesetz fallen — Vereine
für ideale Zwecke und wirthschaftliche Vereine, wenn
sie nicht auf einen kaufmännischen oder gewerblichen
Geschäftsbetrieb gerichtet sind — erlangen die öffentliche
Anerkennung ihrer Persönlichkeit, wenn sie auf Grund
gesetzlicher Normativbestimmungen in ein, von den Ge-
richten geführtes Vereinsregister eingetragen sind.“
Verworfen wurde dagegen der beschränkende Antrag:
„Hinsichtlich der politischen und religiösen Vereine
können landesgesetzliche Ausnahmebestimmungen vorbe- j
halten werden. Betreffs der Religionsgesellschaften und
geistlichen Genossenschaften bleiben die Landesgesetze un-
berührt.“
Von den Vereinen, welche bei der Reform des Kor- |
porationsrechtes in Betracht kommen, leiden am Meisten j
die Berufs vereine unter der gegenwärtig herrschenden
Unsicherheit und Zersplitterung des Rechtszustandes und
unter der Kleinlichkeit, mit der man anerkannten Zwecken
den sichern Boden des privatrechtlichen Schutzes vorent-
hält. Während rein politische und religiöse Vereine durch
die Macht der in ihnen zum Ausdruck kommenden Ideen
in den Stand gesetzt sind, den Mangel der juristischen Per-
sönlichkeit leicht zu verschmerzen, während wissenschaft-
liche, gesellige Vereine etc. dadurch gedeckt sind, dass ihre
Bestrebungen nicht so tief in das Leben des einzelnen Mit-
gliedes eingreifen, über sein Wohl und Wehe nicht un-
mittelbar entscheiden, empfinden die Berufsvereine und
unter ihnen besonders die der Arbeiter, die Gewerk-
vereine, den Mangel des Klagerechts, den Mangel der
Erwerbs- und Verpflichtungsfähigkeit sehr hart. Unter-
stützungsfonds, Strikegelder etc. stehen nicht im Eigenthum
des Gewerkvereins als solchen, sondern im gemeinsamen
Eigenthum sämmtliclier Mitglieder ’), so dass gegebenen
Falls diese sämmtlich klagend auf treten bezw. vertreten
sein müssten. In der Praxis hilft man sich gewöhnlich
dadurch, dass man den Vorstand zur „Vermögensver-
waltung“, in der auch die Prozessführung mitinbegriffen ist,
ermächtigt. Schwieriger und unangenehmer ist die Lage,
wenn es sich um die Erwerbung oder Verpfändung von
Grundbesitz oder, was bei den Cxewerkvereinen allerdings
wohl selten Vorkommen mag , um den Anfall von Ver-
mächtnissen handelt. Sollen sämmtliche Mitglieder des
Gewerkvereins ihre Namen in die öffentlichen Bücher ein-
tragen lassen? Der Verein der Hutmacher kaufte \or
einiger Zeit eine Fabrik um 435 000 M., mit 95 000 M.
Anzahlung, und liess sie auf den Namen einiger Mitglieder
eintragen.
i Die Kranken Unterstützungsfonds können als freie
Hilfskassen organ sirt werden und besitzen dann natürlich juri-
stische Persönlichkeit.
Wie aber, wenn in einem solchen Falle der Vorstand
mit Tod abgeht, oder wenn er das Vermögen veruntreut,
indem er die Fabrik an Aussenstehende verkauft und sie
auf deren Namen eintragen lässt? Dass unter diesen Un-
sicherheiten der rechtlichen Lage und Umständlichkeiten
der Vermögensverwaltung auch der Kredit der Gewerk-
vereine nicht nur nach aussen, sondern auch bei ihren
Mitgliedern leiden muss, kann nicht zweifelhaft erscheinen.
Die Wichtigkeit der Korporationsfrage gerade für die
Berufsvereine hat zu der sich auch sonst aufdrängenden
Idee der Erlassung eines Spezialgesetzes für diese V ereine
nach dem Muster des französischen loi sur les syndicats
professionnels vom 21. März 1884 geführt. In der vorigen
Reichstagssession brachte der Abgeordnete Max Hirsch
einen Gesetzentwurf, betreffend die eingetragenen Berufs-
vereine ein, wonach Vereinigungen von nicht geschlossener
Mitgliederzahl, welche die Förderung der Berufsinteressen
und gegenseitige Unterstützung ihrer Mitglieder bezwecken,
durch Eintragung in ein Register beim zuständigen Gerichte
die Körperschaftsrechte erlangen' können, und im Jahre 1890
vertrat Brentano im Verein für Sozialpolitik unter Zu-
stimmung dieses Vereins einen ähnlichen Gedanken.
Einen kleinen Schritt nach vorwärts that die Frage
durch einen Beschluss der gegenwärtig tagenden Kommission
für die zweite Lesung des Entwurfs des bürgerlichen Gesetz-
buches. Die Kommission hatte sich schon vorher mit dem
preussischen Staatsministerium in Verbindung gesetzt, um
Anhaltspunkte darüber zu gewinnen, wie sich die preussische
Regierung zu dem im Schosse der Kommission laut ge-
wordenen Wunsche nach reichsrechtlicher Regelung der .
Frage des Erwerbs des Korporationsrechts stelle. Leider
wardas Ergebniss ein negatives. Die preussische Regierung !
hielt an dem schon in den Bemerkungen des preussischen
Justizministers zum Entwürfe dargelegten Standpunkte lest,
dass „aus den mit der Lage des öffentlichen Vereinsrechts
zusammenhängenden politischen Gründen eine reichsrecht-
liche Regelung des Erwerbs und Verlusts der privatrecht-
lichen Rechtsfähigkeit von Vereinen nicht angängig sei.“
Die Kommission kam zu nachstehenden Beschlüssen:1'
§ 41. „Vereine zu gemeinnützigen, wohlthätigen,'
geselligen, wissenschaftlichen, künstlerischen oder anderen;
nicht auf einen wirthschaftlichen Geschäftsbetrieb ge-
richteten Zwecken erlangen Rechtsfähigkeit durch Ein-
tragung in das Vereinsregister des zuständigen Amts-
gerichts oder durch staatliche A erleihung.“
§ 57 g. „Die Verwaltungsbehörde kann gegen die Ein-
tragung Einspruch erheben, wenn der \ erein nach dem
öffentlichen Vereinsrecht unerlaubt ist oder verboten
werden kann, oder wenn er einen politischen, sozial-
politischen oder religiösen Zweck verfolgt.
Wird Einspruch erhoben, so hat das Amtsgericht
denselben unter Aussetzung der Eintragung dem Vor-
stande mitzutheilen. Der Einspruch kann im Wege des
Verwaltungsstreitverfahrens, wo ein solches nicht besteht,!
im Wege des Rekurses nach Massgabe der §§ 20, 21 der
Gewerbeordnung angefochten werden.“
§ 48 i. „Der Verein kann aufgelöst werden, wenn
er durch gesetzwidrige Beschlüsse der Mitgliederversamm-
lung oder durch gesetzwidriges Verhalten des Vorstandes
das Gemeinwohl gefährdet.“
In den sozialpolitischen Vereinen sind nach dem
eigenen Ausspruch der Kommission die Gewerkvereine in-
begriffen. _ .
Man wird die Besserung, die der so modifizirte Ent-
wurf gegenüber den gegenwärtig herrschenden Zuständen
i) Wir folgen hier dem Referate
den Jahrb. f. Nat -Oek. u. Stat. III. F. 3.
des Assessors Greift’ in
Bd. S. 543 ff.
No. 26.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
321
bringen würde, was die Gewerkvereine anlangt, nicht als
eine bedeutende bezeichnen können. Die Verwaltungs-
behörden werden nach wie vor die Möglichkeit besitzen,
Arbeitervereine, denen sie mit der Waffe des Vereinsrechts1)
nicht beikommen können, mit der Verweigerung des Kor-
porationsrechts zu benachtheiligen. Nur das eine wird als
Fortschritt empfunden werden, dass die Behörden ge-
zwungen sein werden, bei dem Kampf gegen die
Arbeitervereine das Visir offen zu halten, indem sie bei
Einlegung des Einspruchs eingestehen müssen, dass
lediglich „der politische oder sozialpolitische Zweck“
des Vereins die Ursache abgegeben. Das Referat des
Assessors Greift lässt durchblicken, dass sich die Kom-
mission selbst gern auf den wesentlich freieren Standpunkt
ihrer Minorität gestellt hätte, dass sie aber Bedenken trug,
die Erreichung des Ziels für die Nicht-Gewerkvereine durch
Ausserachtlassung der den Gewerkvereinen ungünstigen
Stimmung der Regierungen zu gefährden; man müsse sich
auf einen Boden stellen, auf dem ein Entgegenkommen der
Regierungen zu hoffen sei. Es frägt sich freilich, ob es
nicht besser wäre, die Wunde bliebe auch in der nächsten
Zeit noch offen, als dass sie schlecht geheilt wird. Dass es
ein vergebliches, die gegenwärtig herrschende Erbitterung
der Arbeiterklasse nur vermehrendes Bemühen ist, sich dem
nach grösserer Vereinsfreiheit gerichteten mächtigen Zug
der Zeit entgegen zu stemmen, darüber sollte man sich
doch endlich einmal klar sein. Dass aber dieser Drang
durch eine Regelung, wie sie die Kommission für den Ent-
wurf eines bürgerlichen Gesetzbuches empfiehlt, nicht zur
Ruhe kommen wird, dies vorherzusehen erfordert keine be-
sondere prophetische Begabung.
Augsburg. Arthur Cohen.
Soziale Wirtschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Die sozialpolitischen Aufgaben der deutschen Gemeinde-
verwaltungen.
Eine Zeit lang hat in der deutschen Sozialgesetz-
gebung das Bestreben vorgeherrscht, sozialpolitische Auf-
gaben, an deren Lösung man sich im Grossen nicht wagte,
den Gemeindeverwaltungen zur Erledigung zu überlassen.
So stellte es die frühere Reichsgewerbeordnung in das
Belieben der Gemeinden, gewerbliche Schiedsgerichte zu
errichten oder nicht. Aber die Kommunalverwaltungen
machten von dieser Befugniss keinen sehr reichlichen Ge-
brauch, so dass man an massgebender Stelle die Noth-
wendigkeit einer reichsgesetzlichen Regelung einsah, das in
dieser Zeitschrift mehrfach besprochene Gesetz vom Jahre
1891 erliess und damit einen Schritt weiter zur Einführung der
Gewerbegerichte über den Kopf der Gemeindeverwaltungen
hinweg that. Auch die neueste sozialpolitische Praxis liefert
wieder ein Beispiel von der bis jetzt noch sehr geringen sozial-
politischen Befähigung der Kommunalverwaltungen. Von
der Möglichkeit, die Sonntagsruhe für das Handelsgewerbe
durch Ortsstatut unter die bekannten reichsgesetzlichen
5 Stunden so einzuschränken, wie es die Mehrzahl der
Interessenten in den grossen Städten wünscht, hat nur eine
ganz kleine Zahl von Verwaltungen grösserer Städte Ge-
brauch gemacht; rühmlich sind besonders süddeutsche
Kommunalverwaltungen, wie Frankfurt a. M., Stuttgart und
Augsburg zu nennen. Im Uebrigen entsprach die kommu-
') Nach den Beschlüssen der Kommission soll das „Ver-
einsrecht“ durch das bürgerliche Gesetzbuch nicht berührt
| werden.
I
nale Thätigkeit auf diesem Gebiete nicht den Erwartungen,
die man im Reichstag auf sie setzen zu dürfen glaubte.
Weitere Beispiele dafür, dass in den Kommunal Verwaltungen
namentlich der grossen Städte Norddeutschlands eine ge-
wisse Schwerfälligkeit sozialpolitischen Aufgaben gegenüber
herrscht, Hessen sich aus der kommunalen Praxis von Berlin,
Hamburg, Bremen u. s. w. in grosser Anzahl beibringen.
Das ist jedoch nicht der Zweck dieser Zeilen. Dieselben
sollen vielmehr einen lehrreichen Vorgang der allgemeinen
Beachtung empfehlen, der sich kürzlich in der Praxis einer
süddeutschen Gemeindeverwaltung abspielte und meines
Erachtens den Weg anzeigt, auf welchem zu einer Besse-
rung der nicht gerade sehr erquicklichen bisherigen Ver-
hältnisse gelangt werden kann.
Am 2. Juni d. J. hatte das Mitglied des Bürgeraus-
schusses Kloss in Stuttgart bei den bürgerlichen Kollegien
dieser Stadt folgenden Antrag gestellt:
„Die bürgerlichen Kollegien wollen beschliessen , dass
„1. den bei der Stadtverwaltung beschäftigten Arbeitern, soweit
dieselben nicht mit fortlaufendem Taggeld angestellt oder nur
vorübergehend, für weniger als eine Woche aushilfsweise be-
schäftigt werden, für jede Woche, auch wenn arbeitsfreie Fest-
oder Feiertage in dieselbe fallen, der volle Lohn für 6 Tage
gezahlt wird ; 2. mit Rücksicht auf die allgemeine Theuerung
der Arbeitslohn für alle städtischen Arbeiter mit Wirkung vom
1. Juli 1892 ab um 5 bis lOpCt. erhöht wird; 3. die regelmässige
Arbeitszeit für alle städtischen Arbeiter auf täglich 10 Stunden
festgesetzt wird, sowie dass Ueberstunden, wenn solche unver-
meidlich sind, mit um 20 pCt. erhöhtem Stundenlohn vergütet
werden; Arbeiter, welche seither nach Arbeitsstunden ausgelohnt
wurden, erhalten, sofern die Arbeitszeit seither 10 Stunden über-
stieg, für den lOstündigen Arbeitstag den gleichen Lohnsatz
wie seither für 11 Stunden unter Hinzurechnung des auf ihre
Lohnklasse entfallenden prozentualen Aufschlages; 4. städtische
Arbeiten nur an solche Unternehmer vergeben werden dürfen,
welche sich verpflichten, bei Ausführung dieser Arbeiten die
lOstündige Arbeitszeit ebenfalls einzuhalten, sowie dass die
städtischen Aufsichtsbeamten angewiesen werden, die Einhaltung
dieser Vertragsbestimmung zu überwachen.“ Diese Anträge
wurden an die Bauabtheilung zur Vorberathung für die ge-
meinschaftliche Sitzung der Kollegien verwiesen. Die Bau-
abtheilung aber erstattete durch Stadtbaurath Kölle in der
Sitzung des Gemeinderathes vom 15. Juni d. J. ihr Referat. In
demselben ist ausgeführt, dass nach der für die verschiedenen
Zweige der städtischen Verwaltung aufgestellten Lohnstatistik
im Ganzen 541 Arbeiter in Betracht kommen, wenn von den-
jenigen Arbeitern und Vorarbeitern abgesehen werde, welche
entweder einen Jahresgehalt oder ein fortlaufendes Taggeld be-
ziehen. Die angestellten Berechnungen über den Aufwand, wel-
cher sich nach dem Anträge Kloss ergeben würde, hätten
gezeigt, dass im Ganzen 78 000 M. Mehrkosten entstehen
würden Es würde also eine Erhöhung des Aufwands um etwa
16 pCt. der ganzen seitherigen Summe eintreten. Zu Ziffer 1
des Antrages wurde bemerkt: die Bezahlung eines fortlaufenden
Taglohnes in der Woche für arbeitsfreie Fest- oder Feiertage
widerspreche vollständig dem seither bei der städtischen Bau-
verwaltung sowohl als bei den Privatbauunternehmern einge-
führten Zahlungsmodus. Die Aenderung müsste nothwendiger-
weise auch aut etwaige Regentage ausgedehnt werden. Dann
würde aber die Verwaltung an solchen Tagen die
Arbeiter nicht mehr in der Hand haben, wenn die-
selben wissen, dass sie auch ohne Arbeitsleistung
ihren vollen Lohn bekommen. (!) Im Interesse der Aui-
rechterhaltung der Ordnung schon (!) sei daher dieser Punkt
des Antrages als undurchführbar zu bezeichnen. Zu Ziffer 2
wird ausgeführt, dass bei der Mehrzahl der städtischen Arbeiter
in den letzten Jahren Lohnerhöhungen stattgefunden haben und
zwar: bei der Strassenbauinspektion im Frühjahr 1890 um 10 Pf.
oder rund 4 pCt. pro Arbeitstag, im Frühjahr 1891 um 20 Pf.
oder rund 8 pCt., zusammen also um 12 pCt. ; bei der Kanal-
bauinspektion im April d. J um 10 Pf. oder rund 4 pCt. pro
Arbeitstag; beim Hochbauamt im März v.J. um 10 Pf. oder rund
4 pCt. pro Arbeitstag. Im Allgemeinen sei zu sagen, dass die
städtischen Arbeiter den ortsüblichen Taglohn erhalten und dass
insbesondere die bei der Kanalbauinspektion, beim Strassen-
reinigungsamt, bei der Latrineninspektion und beim Bauamt der
städtischen Wasserwerke verwendeten Arbeiter sehr gut bezahlt
seien. Sodann sei zu berücksichtigen, dass der Dienst bei der
Stadt ein ungleich leichterer sei, als bei Privatunternehmern
und dass die städtische Verwaltung vielfach als Ver-
sorg ungsanstalt für minder kräftige und weniger
tüchtige, zum Theil alte und gebrechliche Leute zu
dienen habe. (!) Aus diesen Gründen und Angesichts des
Umstandes, dass die vorgeschlagene Lohnerhöhung einen Auf-
wand von rund 40 000 M. erfordern würde, hält Stadtbaurath
Kölle die von Herrn Kloss in Ziffer 2 beantragte Lohnerhöhung
nicht für angezeigt. Zu Punkt 3 des Antrages, die Reduktion
der täglichen Arbeitszeit betreffend, wird bemerkt, dass zwar
das Hochbauamt und das Bauamt der städtischen Wasserwerke
322
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 26.
nur eine lOstündige Arbeitszeit haben, dass aber beim Tief-
bauamt von der bisher üblichen 1 1 s fündigen Arbeits-
zeit nicht abgegangen werden könne, einmal, weil
der Geschäftsbetrieb beim Tiefbauamt diese Dauer der Ar-
beitszeit erheische und dann, weil es bedenklich wäre,
von der ortsüblichen Arlpeitszeit abzugehen. (!) Ls
sei sehr zu berücksichtigen, dass im Sommer die Haupt-
geschäfte und die Bauausführungen zu vollziehen seien und
dass im Winter die Arbeitszeit bis auf 7 Stunden des Tages
in Folge der Tageskürze zurückgehe. Trotzdem unterscheide
sich der Winterlohn seither vom Sommerlohn nur sehr wenig,
im Maximum um 20 Pf. pro Tag. Es wäre jedenfalls an der
llstündigen Arbeitszeit testzuhalten und müsste dann lisch
dem Antrag Kloss die 11. Stunde als U «Überstunde mit Auf-
schla°* vergütet werden. Thatsächlich würde nach den beim
Tiefbauamt gemachten Erfahrungen eine durchschnittliche
Arbeitszeit von 10 Stunden pro Tag nicht überschritten werden,
denn es betrage an etwa 30 Tagen die Arbeitszeit im Winter
8 Stunden, an etwa 60 Tagen im Winter 9 Stunden, an etwa
90 Tagei im Frühjahr und Herbst 10 Stunden und an etwa
120 Tagen im Sommer 11 Stunden. Stadtbaurath Kölle würde
es, um allen Ungleichheiten und Differenzen vorzubeugen, für
das Beste halten, nach den Arbeitsstunden auszu-
bezahlen, wie dies zur Zeit schon bei verschiedenen Privat-
Unternehmern eingeführt sei und bei denselben sich als prak-
tisch bewährt habe. Wenn man dann den seitherigen Sommer-
lohn (für eine llstündige Arbeitszeit' für eine lOstündige
Arbeitszeit der Berechnung des Stundenlohnes zu Grunde lege,
so würde man eine thatsächliche Aufbesserung im Jahresver-
dienst um ca. 3—5 pCt. erhalten. Der Mehraufwand bei der
Bauverwaltung wäre etwa 10 000 M. Zu Ziffer 4 des Antrages
wird bemerkt, dass auch bei Vergebung der städtischen Arbeiten
im Akkord die angeregte Verpflichtung auf 10 stündige Ar-
beitszeit den Bauunternehmern aufzuerlegen, entspreche ein-
mal nicht den bisherigen Bedingungen, sodann sei es als
eine allzuweitgehende Einmischung in deren Dispo-
sitionen anzusehen und erscheine umsoweniger durchführbar,
als diese Unternehmer sich bei ihren anderen Privatarbeiten
unter Umständen einer längeren Arbeitszeit bedienen, auch sei
im Interesse der rascheren Abwickelung der städti-
schen Bauarbeiten eine Verkürzung der Arbeitszeit keines-
wegs zu wünschen. (!) Stadtbaurath Kölle glaubt sonach,
dass unter den obwaltenden Umständen dem Anträge Kloss
eine Folge nicht gegeben werden könne. Wenn man etwas
thun wolle, so könnte man etwa die vorgeschlagene Stunden-
löhnung, welche mit der Zeit bei der städtischen Verwaltung
ja doch eingeführt werden müsse, in Anwendung bringen.
Soweit das amtliche Referat über den Antrag, das ich
ausführlicher wiedergegeben habe, weil es einen sehr lehr-
reichen Einblick nicht blos in den Regiebetrieb einer deut-
schen Mittelstadt, sondern auch in die Grundsätze erlaubt,
nach welchen dieser kommunale Betrieb gegenwärtig ver-
waltet wird. Dass diese Grundsätze rein privatkapitalistische
sind, erhellt auf den ersten Blick. Noch lehrreicher ge-
staltete sich aber die Debatte über Antrag und Referat im
Gemeinderathe. Auf formelle Bedenken, die wegen der
bereits abgeschlossenen Aufstellung des Gemeindeetats
und wegen der schon auf 3 Jahre erfolgten Vergebung der
städtischen Hochbauarbeiten an Unternehmer erhoben wur-
den, soll hier nicht näher eingegangen werden. Bezüglich
der Nothwendigkeit der im Antrag Kloss verlangten Lohn-
erhöhung tappte man allseitig im Dunkeln. Denn Niemand
konnte mit positivem Material in der Hand nach-
weisen oder bestreiten, dass den städtischen Arbeitern zur
Hebung ihres Standard of life die Erhöhung nothwendig
sei. Es fehlte auf der einen Seite nicht an Stimmen, die
der Erhöhung, wenn sie nothwendig sei, sympathisch
gegenüberstanden und die versicherten, dass der Kosten-
punkt nicht ausschlaggebend für sie sein werde. Auf der
anderen Seite operirte man, wie das Referat der Bauabthei-
lung, mit den schon erfolgten Lohnerhöhungen, die doch
nur beweisen, dass der Lohn früher noch schlechter war,
oder mit der „Zufriedenheit11 der Arbeiter, mit der freilich
die Gemeinderäthe geringe Fühlung haben dürften. Inter-
essant war nur die Angabe, dass unter den 541 städtischen
Arbeitern etwa 200 ältere Leute seien, die man arbeiten
lasse, um sie zu versorgen, die man aber nicht mehr be-
schäftigen könne, wenn höherer Lohn eingetührt würde,
weil dann ihre Leistungen zu gering seien. Für die in
Frage stehende Angelegenheit scheint uns dieses Argument
weniger wichtig zu sein, als für eine Charakteristik des
jetzigen Versorgungswesens für alle Arbeiter; das-
selbe scheint recht im Argen zu liegen, wenn alte, invalide
Leute noch in diesem Maasse angespannt werden müssen,
damit sie nicht dem Elend anheim fallen. Der vom Bauamt
vorgeschlagenen technischen. Vervollkommnung nur nach
Stunden zu zahlen, stimmte man allgemein zu. Die grund-
sätzlich wichtigste Feststellung der Diskussion war aber
folgende: man gestand allgemein zu, dass man keine Füh-
lung mit den städtischen Arbeitern habe. Der Vor-
sitzende wollte deshalb „einzelne bessere Arbeiter über
ihre Wünsche gehört“ haben; er erwähnte später, dass dies
vielleicht die Vorstandsmitglieder der von der Stadt
für ihre Arbeiter einzurichtenden Betriebskrankenkasse
sein könnten. Anderen Mitgliedern der Verwaltung ge-
nügte dies nicht; schliesslich wurde ein Antrag, welcher
auf die Errichtung eines Ausschusses der städtischen
Arbeiter ging und mit welchem sich die Verwaltung in
solchen Angelegenheiten ins Vernehmen setzen soll, der
Bauabtheilung „zur Erwägung“ überwiesen. Das positive
Ergebniss der Verhandlungen war also ziemlich mager.
Die symptomatische Bedeutung der Berathung in Stutt-
gart reicht jedoch weit über das erzielte Ergebniss und den
lokalen Wirkungskreis des süddeutschen Gemeinderathes
hinaus. Sie geht meines Erachtens dahin, dass der Apparat
der heutigen Gemeindeverwaltung in Deutschland dringend
einer Ergänzung bedarf, wenn die Kommunen anders ihren
wachsenden sozialen Aufgaben besser als bisher gerecht
werden sollen. Eine Zeit lang hat man in der Gemeinde-
und Selbstverwaltung sehr geringschätzig von der Bureau-
kratie im Staate gesprochen. Jetzt macht sich dieselbe
Bureaukratie vielfach in Gemeindeangelegenheiten be-
merkbar, wenn es sich um neue sozialpolitische Aufgaben
handelt. Ich sehe hier ganz davon ab, auf die materielle
Berechtigung oder Nichtberechtigung solcher Anträge, wie
des Kloss’schen für Stuttgart, einzugehen. Das würde die
Frage nur verwirren. Es handelt sich hier zunächst nur
darum, dass bei den meisten Kommunalverwaltungen über-
haupt noch kein Spezial-Organ geschaffen ist, welches
sozialpolitische Gemeindeangelegenheiten sachverständig
und berufsmässig behandelt. Die Bauabtheilung (der man
z. B. auch in Wiesbaden die Vorberathung der Sonntags-
ruhe für das Handelsgewerbe zuwies!) ist sicher nicht die
richtige Stelle, und ad hoc zusammengewürfelte Kommis-
sionen, von denen aus Anlass der städtischen Berathungen
über Sonntagsruhe ebenfalls merkwürdige Dinge erzählt
werden könnten, sind es auch nicht. Hie und da stehen
wohl besser befähigte und geschulte Einzelreferenten aus
der Reihe der Magistrats- oder Gemeindebeamten zur Ver-
fügung; aber sie können die sozialpolitischen Geschäfte nur
im Nebenamt besorgen, weder zum Vortheil der Sache noch
zu ihrer eigenen Befriedigung. Es drängt sich mit andern
Worten die Nothwendigkeit auf, dass die grösseren Städte
an die Errichtung eigener sozialpolitischer Aemter
gehen, die in passende Verbindung mit dem statistischen
Amte der Stadt sowie mit einer städtischen Arbeiterver-
tretung zu bringen wären; letztere lässt sich vielleicht aus
den Arbeiterbeisitzern der gewerblichen Schiedsgerichte
schaffen, da diese Gerichte nach dem neuen Gesetz ohne-
dies von den Städten zu begutachtenden Behörden gemacht
werden können. Die Stadt Cöln ist vor einiger Zeit nach
Blätternachrichten an die Errichtung eines solchen Amtes
gegangen; über die Ausgestaltung des Planes ist mir jedoch
nichts Näheres bekannt geworden. Hier handelt es _ sich
auch nicht darum, die Einzelheiten festzustellen, die sicher
mancher Modifikation fähig sind. Es sollte nur auf das
dringende Bedürfniss hingewiesen werden, das in dieser
Beziehung vorliegt und nach dessen Befriedigung nicht nur
die V orarbeiten für sozialpolitische Entschliessungen der
Gemeindeverwaltungen sachgemässer und gründlicher er-
ledigt werden würden, als dies z. B. beim Antrag Kloss in
Stuttgart der Fall war, sondern auch die Initiative der Stadt-
pehörden selber geweckt und in die richtigen Bahnen ge-
eitet werden dürfte. Die Reform des Gemeindewahlrechts
cann hier nicht behandelt werden; sie bildet auch ein Stück
les Problems. Die Errichtung sozialpolitischer Aemter in
len Städten würde aber sicher auch die staatliche Sozial-
politik von unten her auffrischen und verjüngen.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
No. 26.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
323
Ergebnisse einer landwirtschaftlichen Berufsstatistik
für Belgien. Nach den jetzt veröffentlichten Ergebnissen der
amtlichen Zählung von 1890 sind in der Landwirtschaft Belgiens
insgesammt 1 199319 Personen beschäftigt, darunter 982 124 Fa-
milienmitglieder und 217 195 landwirtschaftliche Arbeiter und
Arbeiterinnen; 21 ,77 "/o ‘1er Bevölkerung widmen sich der Land-
wirtschaft. Der durchschnittliche Lolin beträgt für männliche
Arbeiter ohne Ernährung 2,40 Francs, mit Ernährung 1,25 Francs,
und für die Arbeiterinnen ohne Ernährung 1,21 Francs, mit Er-
nährung 0,71 Francs. Auf 6 472 845 in den Kataster eingetragene
Parzellen kommen 910396 landwirtschaftliche Betriebe, von
denen 472 471 ein halbes Hektar und weniger Ausdehnung hatten.
Der Gesammtwerth der landwirtschaftlichen Produktion ist auf
1650 976 374 Fr. abgeschätzt. Belgien hat 378 457 Hektar Heide,
Baumschulen, Obstgärten und 489 423 Hektar Wald.
Arbeiterzustände.
Die Grubenkatastrophe in Przibram.
Der am 31. Mai kurz nach Beginn der Mittagsschicht
im Przibramer Bergwerke ausgebrochene Brand hat eine
reiche Ernte gehalten. Von den eingefahrenen 807 Mann
vermochten nur 488 sich zu retten, 319 fanden den Er-
stickungstod. 287 Wittwen, 678 Kinder unter 14 Jahren
und 64 Kinder zwischen 14 — 16 Jahren trauern um ihre
Ernährer.
Die unmittelbare Ursache der schrecklichen Katastrophe
scheint nunmehr festzustehen: es ist ein durch Nachlässig-
keit hervorgerufener Brand der Zimmerung, die gefiirch-
tetste Art der Grubenbrände. Ein Bergmann, der seiner
Strafe entgegensieht, hat vor der Ausfahrt nach Schluss
der Morgenschicht bei Auswechslung des Dochtes seiner
Petroleumlampe den noch brennenden Rest des alten Doch-
tes in eine Bretterverschalung vor dem Füllorte des 29. Ho-
rizontes des Mariaschachtes geworfen und dadurch das
Zimmerwerk in Brand gesetzt.
Nebst der unmittelbaren Veranlassung scheint es aber
noch eine Reihe von mittelbaren Ursachen gegeben zu
haben, durch welche die Katastrophe so riesige Dimensionen
annehmen konnte. Insbesondere die Rettungsmassregeln
sollen Mancherlei zu wünschen übrig gelassen haben.
Es ist bekannt, dass Przibram die tiefsten Schächte
der Welt besitzt. Insbesondere die hier in Betracht kom-
menden reichen über 1000 Meter unter Tage, der Maria-
schacht, in welchem der Brand zum Ausbruch kam, hat
eine Tiefe von 1110 Metern. Böse Wetter kommen in den
Gruben nur selten vor. Das hat dazu geführt, dass bis
heute offene Petroleumlampen statt der Sicherheits- oder
Wetterlampen in ausschliesslicher Verwendung stehen. Bei
den ersteren ist die Versuchung sie zu öffnen, unvorsichtig
zu hantiren u. dergl. zweifellos eine grössere, als bei den
letzteren. Gewiss entsprechen die bis jetzt konstruirten
Sicherheitslampen noch immer nicht allen an sie zu stel-
lenden Anforderungen ; dass sie aber den offenen Petroleum-
lampen vorzuziehen sind, wird kaum bezweifelt.
Die tieferen Regionen der Przibramer Schächte sind
sehr trocken, was eine Folge der höheren Temperatur und
des geringen Wasserandranges ist. Ob es da angemessen
war, bei den alten Zimmerungsmethoden zu verbleiben und
Nahrung für jeden zufälligen Funken zu schaffen, möchte
man sehr bezweifeln. Es giebt heute Gruben genug, welche
die Holzverkleidung durch Ausmauerung oder durch Ausbau
in Eisen ersetzt haben. Wenn irgendwo, so mussten in
Schächten von solcher Tiefe, wie die Przibramer, die bei
einem Brande unter allen Umständen die Bergleute gefähr-
den, die weitgehendsten Vorsichtsmassregeln getroffen wer-
den, und zu solchen scheint uns insbesondere die Ersetzung
der Holzverkleidung durch Ausmauerung zu gehören.
Nach Mittheilungen, die in die Oeffentlichkeit gedrun-
gen sind, sollen auch die Einrichtungen zur Förderung der
Arbeiter keineswegs der Grösse des Bergwerkes und der
Natur des Betriebes entsprechen. Die Aufzüge sollen „von
vorweltlicher Konstruktion sein, wie sie selbst beim primi-
tivsten Bergbau in der Neuzeit nirgends Verwendung finden“.
Die Richtigkeit dieser Behauptung vermöchte man nur an
Ort und Stelle zu prüfen. Was aber unter allen Umständen
ebenso primitiv als verderblich erscheint, sind die sonder-
baren Signalvorschriften für die unter Tage beschäftigten
Personen. Raschheit sollte man hier in erster Reihe vor-
aussetzen dürfen. Statt dessen findet man, dass das Zeichen
in so vielen Glockenschlägen besteht, als der Nummer des
Laufes entspricht. Wer sich im 30. Horizonte befindet,
muss 30 Mal die Glocke ziehen, wenn er zu Tage gefördert
werden will. Das mag in gewöhnlichen Zeitläufen genügen,
aber in Momenten der Gefahr, wo schnelles Handeln noth-
wendig ist, jede Sekunde Zögerung über Tod und Leben
entscheidet, kann eine so ursprünglich gemüthliche Kom-
munikation mit der Aussenwelt viel Verderben herauf-
beschwören.
Dazu kommt noch, dass keinerlei Möglichkeit besteht,
von Aussen rasch und zuverlässig die Arbeiter von dem
Vorhandensein einer Gefahr zu verständigen. Aus den Er-
zählungen der geretteten Bergleute ergiebt sich, dass viele
Personen ganz ruhig in einem Zeitpunkte ihrer Arbeit ob-
lagen, als die Gefahr schon aufs Höchste gestiegen war.
Es liegt wohl nicht ausserhalb des Bereiches der Möglich-
keit, solche Vorrichtungen zu treffen, welche eine bessere
Kommunikation zwischen Grube und Aussenwelt ermög-
lichen.
Am meisten Anwürfe werden gegen die Art der Rettungs-
aktion erhoben. Nicht als ob der persönliche Muth der
Beamten in Frage käme. Aber jene Geistesgegenwart, jene
Beherrschung der Verhältnisse soll gefehlt haben, die gerade
bei plötzlichen Unglücksfällen noth wendig ist, ohne welche
man der Elemente nicht Herr zu werden vermag. In
einem Schreiben, das aus Arbeiterkreisen stammt, wird
darüber gesagt:
„Eine Gefahr für die Bergleute bestand jedoch zu
dieser Zeit noch nicht, weil der Rauch durch den Luft-
schacht abzog und sich nicht in die Quergänge verbreitete.
Erst als die Bergverwaltung von dem Feuer Kenntniss er-
hielt und grosse Wassermassen in den Schacht hinabwerfen
liess, wurde dem Rauche der Abzug nach Oben abge-
schnitten und der zurückgetriebene Qualm erfüllte nun die
Seitenschächte, wodurch dann erst die eminente Gefahr für
die eingefahrenen Bergleute heraufbeschworen wurde.“
Diese Darstellung scheint grosse Wahrscheinlichkeit
für sich in Anspruch nehmen zu dürfen. Man muss nur
die Sachlage in Betracht ziehen. Der Brand entstand in
einem sogenannten ausziehenden Schachte, aus welchem
die Luft, die durch die einziehenden Schächte hineinge-
langt, wieder abströmt. Naturgemäss musste das Feuer die
erwärmte Luft in stärkerem Masse hinaustreiben und den
Rauch mit sich führen. Gelang es aber die einziehenden
Schächte einige Zeit rauchfrei zu erhalten, so war die
Rettung aller oder der meisten Arbeiter möglich. Diese
Auffassung wurde in einem Vortrage über die Katastrophe
auch von Professor Posepny vertreten. Er äusserte sich
nach Mittheilungen der Tagesblätter:
„Wie ich mir die Sache vorstelle, so hätte, wenn eine
Verständigung mit den in der Grube befindlichen Personen
möglich gewesen wäre, der Austritt der Brandgase auf die
Schächte mit ausziehendem Luftstrom beschränkt werden
können. Im Mariaschachte war der Luftstrom ohnedies
aufsteigend, welche Aufwärtsbewegung in Folge der Er-
wärmung der Luft durch den Brand nur befördert wurde.
Ja, vielleicht hätten eingehängte sogenannte Feuerkübel
oder Feuerkörbe, von denen ich nicht weiss, ob sie vor-
handen waren, die Schnelligkeit der Aufwärtsbewegung der
Gase unterstützen können, wenigstens bis zu dem Momente,
da die Mannschaft ausgefahren worden wäre, was ganz ge-
wiss um 8 Uhr Abends erfolgen musste. ... In der ersten
Zeit des Brandes pflegt die Kohlensäure durch das Kohlen-
oxydgas mitgerissen zu werden und erst bei längerer
Stagnation des Luftzuges sondert sich dieselbe als spezifisch
schwerer ab und senkt sich in die tiefen Räume. In der
ersten Zeit wäre somit die Hauptaufgabe gewesen, den
324
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 26.
Brandgasen einen Ausweg zu verschaffen und dieselben
am Eindringen in die benachbarten Grubenräume zu ver-
hindern, was vielleicht durch die Verstärkung des Zuges
an den Schächten mit ausziehender Luft, also am Maria-
und Prokopischachte möglich gewesen wäre.“
So vorsichtig Professor Posepny sich äussert, es ist
doch zu erkennen, dass er zu einem ähnlichen Resultate
gelangt, wie der aus den Kreisen der Arbeiter herrührende
Brief. Die Rathlosigkeit scheint also zu der verkehrtesten
Massregel, zum Hinunterwerfen der Wassermassen in den
brennenden Mariaschacht geführt zu haben. Der Rauch
wurde so am Austritt gehindert, er suchte einen Ausweg
und drang in die einziehenden Schächte, den Anna-,
Adalbert- und Franz Josefschacht, in welchen dann auch
die Leichen aller Verunglückten vorgefunden wurden.
Die Przibramer Katastrophe hat mit Klarheit gezeigt,
wie verderblich die Vereinigung der verwaltenden und
überwachenden Thätigkeit in einer Hand ist. Dem Ver-
waltungsbeamten, der an den unwandelbaren Gang des
büreaukratischen Organimus gewöhnt ist, mangelt jener
unbefangene, freie Blick, der die Fehler am Bestehenden
erkennt 'und den einfachsten Weg zu ihrer Beseitigung
herausfindet. Und mit geringen Mitteln Hessen sich oft
wichtige Massnahmen für die Sicherheit der Bergleute
treffen. Da kann nur durch Einführung des Inspektorates
und Unterstützung desselben durch Arbeitsdelegirte Wandel
geschaffen werden.
Die Todten lassen sich nicht wieder ins Leben zurück-
rufen, der Schmerz und das Unglück der Hinterbliebenen
sind nicht mehr gut zu machen; aber für die Lebenden
kann ein grösseres Mass von Sicherheit geschaffen, kann
ähnlichen Katastrophen vorgebeugt werden. Ob der gute
Wille dazu vorhanden? Wir wagen es nicht, mit einem
entschiedenen Ja zu antworten.
Wien. Leo Verkauf.
Kommission für Arbeitsstatistik. Die auf Grund des
Regulativs vom 1. April d. J. errichtete Kommission für
Arbeitsstatistik trat, wie wir dem „Reichsanzeiger“ ent-
nehmen, am 23. d. M. unter dem Vorsitze des Unterstaats-
sekretärs Dr. von Rottenburg im Reichstagsgebäude zu ihrer
ersten Sitzung zusammen. Vor dem Beginn derselben wur-
den die Mitglieder der Kommission von dem Staatssekretär
des Innern, Staatsminister Dr. von Boetticher begrüsst,
welcher in kurzen Worten auf die Bedeutung der neuen
Einrichtung hinwies und den bevorstehenden Verhand-
lungen einen erspriesslichen Erfolg wünschte.
Die Kommissionsmitglieder: der Unterstaatssekretär im
königlich preussischen Ministerium für Handel und Gewerbe
Lohmann, der Regierungsrath im königlich bayerischen
Ministerium des Innern Rasp, der Regierungsrath im könig-
lich sächsischen Ministerium des Innern Morgenstern, der
Oberregierungsrath im königlich württembergischen Mi-
nisterium von Schicker, der Vorstand der grossherzoglich
badischen Fabrikinspektion Oberregierungsrath Dr. Wöris-
hoffer, sowie die Reichstagsabgeordneten Biehl, Dr. Hart-
mann, Dr. Hirsch, Hitze, Schippel und Siegle — waren
vollzählig erschienen.
Als Kommissar des Reichskanzlers wohnt der Geheime
Regierungsrath Dr. Wilhelmi, als Kommissar des Ministers
für Handel und Gewerbe der Regierungsassessor Dönhoff
den Sitzungen bei.
Die Tagesordnung ist folgende:
1. Anhörung der Kommission über die Geschäfts-
ordnung.
2. Gutachtliche Aeusserung der Kommission über
Erhebungen in Betreff der Arbeitszeit im Bäckerei- und
Konditoreigewerbe, im Müllergewerbe und im Handels-
gewerbe.
Die Verhandlungen werden voraussichtlich drei Tage
dauern. Sobald die Berichte über dieselben vorliegen,
werden wir auf dieselben zurückkommen.
Amtliche Erhebungen über Arbeitslosigkeit. Während
der ersten Monate dieses Jahres hat das „Sozialpolitische
Centralblatt“ mehrfach Angaben über den Umfang der Arbeits-
losigkeit veröffentlicht, welche zu jener Zeit in Folge der all-
gemeinen Krisis u. a. von den Gemeindeverwaltungen von
Elberfeld, Barmen, Cöln, Erfurt und Magdeburg gemacht
wurden. Bezüglich letzterer Stadt werden diese Veröffent-
lichungen jetzt sehr instruktiv ergänzt durch eine Stelle des
soeben veröffentlichten Jahresberichtes für 1891 des preussischen
Fabrikinspektors für 'Magdeburg, Dr. Sprenger. Derselbe
schreibt: „Ueber den Umfang der vorgekommenen Entlassungen
und Arbeitseinschränkungen in Magdeburg Hess der Herr Re-
gierungspräsident auf meine Bitte Erhebungen anstellen Diese
erstreckten sich auf 49 Fabriken mit 8663 erwachsenen männ-
lichen, 8 weiblichen und 439 jugendlichen, zusammen 9130 Ar-
beitern. Die Erhebungen ergaben Folgendes: In 21 von den
49 Fabriken mit zusammen 6864 Arbeitern betrug die Zahl der
Entlassenen 891, d h. 13 pCt. der in den betreffenden Fabriken
beschäftigten Arbeiter oder 9,8 pCt. der Arbeiter aller Fabriken,
auf welche die Erhebungen ausgedehnt waren. In 3 Fabriken
wurden 1080 Arbeiter in abgekürzten Schichten beschäftigt, und
zwar in Schichten von 5, 7 und 8 Stunden Dauer Es wurden
hauptsächlich unverheirathete Arbeiter entlassen, welche sich
ausserhalb nach anderweiter Arbeit umsehen konnten. Die Ver-
kürzung der Schichten wurde vorgenommen, um weiteren Ent-
lassungen vorzubeugen Es war dies eine Massregel, welche
nach den mir aus den Kreisen der Arbeiter zugegangenen Nach-
richten von dem grössten Theile der Arbeiterschaft selbst sehr
o-ebiUGt wurde, da die meisten Arbeiter aus Kameradschal tlich-
keit gern auf einen Theil des bisherigen Verdienstes verzichten
wollten, wenn Anderen dadurch eine fortdauernde Einnahme
o-esichert werde. Die Entlassungen betrafen im Wesentlichen
Fabriken, welche sich mit der Herstellung von Dampfmaschinen
und Lokomobilen beschäftigen, sowie Fabriken zur Herstellung
von Armaturen. In die oben angeführten Zahlen sind aber auch
eine Anzahl mittlerer und kleinerer Fabriken mit eingerechnet,
welche Neueinrichtungen und Reparaturen für Zuckerfabriken
machen und alljährlich zum Herbst, nach Beginn der Zucker-
kampagne, Arbeiter in grösserer Zahl entlassen Kurz vor
Weihnachten belebte sich das Geschäft wieder etwas, so dass
in Folge eingelaufener Aufträge die Arbeit in einigen Fabriken
wieder zunahm.“ Es wäre dringend nöthig, dass solche Er-
hebungen unter Zuziehung der Arbeiter allgemein und perio-
disch wiederholt würden.
Arbeiterverhältnisse der hessischen Cigarrenindustrie.
Wie aus dem neuen Jahresbericht für 1891 des hessischen
Fabrikinspektors für die Provinz Starkenburg und den Kreis
Worms hervorgeht, bildet in diesen Bezirken die Cigarren- ,
fabrikation einen hervorragenden Industriezweig. In den
Cigarrenfabriken des Kreises Oflenbach werden sowohl männ-
liche als weibliche Personen mit der Arbeit des Rollens der
Cigarren beschäftigt, während das Wickeln grösstentlieils
von weiblichen Arbeitern ausgeübt wird. Im Kreise üarm-
stadt, in den Cigarrenfabriken an der Bergstrasse,^ in Lorsch
und in König i- O. sind die Roller männlichen Geschlechts,
während in Viernheim und Lampertheim der weitaus grösste .
Theil der Roller weiblichen Geschlechts ist. Die männlichen ,
Arbeiter der letztgenannten Orte suchen Verdienst in den be- ;
nachbarten badischen chemischen Fabriken. Die Haus- ,
industrie ist in der Cigarrenfabrikation nicht stark vertreten.
Sie wird hauptsächlich von weiblichen Personen, ehemaligen ,
Fabrikarbeiterinnen, ausgeübt und zwar in solchen Gegenden,
wo männliche und weibliche Arbeiter das Rollen in den Fabriken
erlernen. Die Arbeiterinnen werden mit Rollen von Cigarren
zu Hause beschäftigt, weil sie einen Haushalt zu besorgen
haben und nicht mehr an der Arbeit in der Fabrik theilnehmen
können. Vereinzelt kommt auch vor, dass männliche Personen,
welche wegen Krankheit oder körperlicher Fehler nicht im
Stande sinch in einer Fabrik Arbeit zu nehmen, in der Wohnung
mit Rollen für eine Fabrik beschäftigt sind. Ferner giebt es
auch selbständige Cigarrenmacher, welche Tabak kaufen und
daraus in ihrer Wohnung, meist aber in besonderen kleinen
Werkstätten mit Hilfe von Familienmitgliedern, oder mit Hüte
eines oder weniger Gehilfen Cigarren anfertigen und selbst
vertreiben. Eine Zunahme der Zahl der in der Hausindustrie
mit Cigarrenmachen beschäftigten Personen ist nicht
nehmen, weil die Hausindustrie meist minderwertmgere Arbeit
und eine weniger vortheilhafte Ausnützung des Rohmateiials
ergiebt, als die Arbeit bei strenger Aufsicht in der Fabrik. JJie
Hausindustrie wird deshalb von den Fabrikanten nicht be-
günstigt oder auszudehnen gesucht, _ und es erhalten auch viei-
lach die Hausarbeiter einen geringeren Stücklohn als die
Arbeiter in der Fabrik. Eine Ausdehnung der Krankenver-
sicherungspflicht auf die Hausgewerbetreibenden der Cigarren-
industrie durch statutarische Bestimmungen von Gemeinden
oder Gemeindeverbänden hat, soweit dem Inspektor bekann ,
bis jetzt nicht stattgefunden, wäre aber sicher zu wünschen.
Der zweite hessische Aufsichtsbeamte (für die Provinzen
Rhein- und Oberhessen) schreibt zu demselben Gegenstände.
„In Giessen und den umliegenden Ortschaften befinden sicn
eine ziemlich grosse Anzahl von Cigarrenfabriken, in welchen
meistens Mädchen beschäftigt werden. Uff Verdienst ist
nicht gross, richtet sich nach Fleiss und Geschicklichkeit un
schwankt zwischen 6 und 12 M. pro Woche. In vielen ballen,
besonders in Giessen selbst, haben die Arbeiter zur Fabrik eine
Wegstrecke von '/a bis 1 Stunde, manchmal noch mehr, zuruck-
zulegen, welcher Umstand indessen, bei der sitzenden Stellung,
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
325
No. 26.
zu welchen die meisten ihre Beschäftigung zwingt, der Gesund-
heit zuträglich ist. Die Arbeitszeit in den Fabriken ist fast
durchweg ganz regelmässig, in der Regel 9 oder 10 Stunden
täglich, ohne Pausen; Ueberstunden und Sonntagsarbeit kommen
fast nicht vor. Hat eine Arbeiterin zu Hause entweder im
Haushalt selbst oder, was im Sommer häufiger vorkommt, im
Feld Arbeit, so erhält sie in den meisten Fällen von dem Fabri-
kanten die Erlaubniss hierzu. Manches Mädchen, welches sich
verheirathet, arbeitet als Frau für die Fabrik zu Hause weiter,
kann dabei ihren Haushalt besorgen und ihre Kinder beauf-
sichtigen (?) und verdient sich dabei noch manchen Pfennig.
Es ist nichts seltenes, dass Arbeiterinnen 20, 30 und mehr Jahre
lang, ebenso dass ganze Familien in derselben Fabrik arbeiten.
Ihre Nahrungsweise ist bescheiden; diejenigen welche
über Mittag wegen des weiten Heimwegs in der Fabrik verbleiben,
trinken ihren mitgebrachten Kalfee mit Brod, etwa auch Wurst
oder Eier zum Mittagessen, in vielen Fabriken ist hierzu ein
besonderer Aufenthaltsraum vorhanden. Die Hauptmahlzeit,
Suppe, Kartoffel, seltener Fleisch, wird Abends dann zu
Hause eingenommen. Die Eltern der meisten dieser Mädchen
besitzen ein Häuschen, Ackerland und etwas Vieh; sie sind
arm, aber nicht elend. In Burkhardsfelden, einem recht
armen Ort bei Giessen, ist auch eine Cigarrenfabrik, in welcher
unter den Arbeiterinnen sich mehrere Frauen befinden,
welche Kinder haben.“ Die Verhältnisse werden hier offen-
bar vom Fabrikinspektor sehr nachsichtig beurtheilt.
Kaufmännische Bewegung.
Jahresversammlung- des deutschen Verbandes kauf-
männischer Vereine in Köln. Am 12. d. M. fand in Köln die
öffentliche Versammlung des Verbandes Kaufmännischer Vereine
unter dem Vorsitz des Verbandvorstehers Edmund Lotz-Koburg
statt. Bei Beginn der Verhandlung waren 48 Delegirte an-
wesend, welche 29 Vereine vertraten, ausserdem 6 Gäste von
eingeladenen, nicht dem Verbände angehörenden Vereinen.
Geh. Regierungsrath Dr. Wilhelmi-Berlin war als Vertreter der
Minister v. Bötticher und v. Berlepsch anwesend.
Aus den Verhandlungen, die sich u. a. auf die Methode
der von der Kommission für Arbeitsstatistik geplanten Enquete
über das Handelsgewerbe, das Krankenversicherungsgesetz, die
Schulfrage, die Organisationsfrage des Unterstützungswesens
erstreckten, sei Folgendes nach dem Bericht der „Kaufmännischen
Presse“ spezieller hervorgehoben. Hinsichtlich der Sonntagsruhe
wurde über das mangelnde Entgegenkommen der städtischen Ver-
waltungen geklagt und von Dr. Quarck-Frankfurt ausgeführt, dass
die Handelskammern — die doch Vereinigungen von Prinzipalen
seien — immer noch mehr Verständniss für die Sonntagsruhe ge-
zeigt haben, da nach einer Veröffentlichung des Prof. Dr. van der
Borght von 52 Handelskammern 37 für ortsstatutarische Regelung
der Sonntagsarbeit in Engrosgeschäften und ebensoviele für den
Schluss um 1 Uhr in den übrigen Geschäften sich ausgesprochen
haben. Das stimmt so ziemlich mit den Wünschen der kauf-
männischen Vereine, und wenn die Gemeindeverwaltungen trotz-
dem kein Verständniss für diese Wünsche zeigen, so folge daraus,
dass es kein glücklicher Griff war, sie mit der Regelung zu be-
trauen. Der Verbandsvorsteher Lotz macht darauf aufmerksam,
dass auch nach dem 1. Juli noch Ortsstatute zur Einschränkung
der Sonntagsarbeit eingeführt werden können. Es wird als-
dann nachstehende Resolution mit allen gegen 3 Stimmen ange-
nommen:
„Die Jahresversammlung des Deutschen Verbandes Kauf-
männischer Vereine spricht der Reichsregierung ihren Dank
dafür aus, dass sie die neuen Bestimmungen über die Sonntags-
ruhe für das Handelsgewerbe bereits für den 1. Juli d. J. in
Kraft gesetzt hat. Sie bedauert, dass durch die V erwaltungen
der Gemeinden und weiteren Kommunalverbände bisher kein
grösserer Gebrauch von der weitergehenden statutarischen
eschränkung der kaufmännischen Sonntagsarbeit gemacht
worden ist und fordert die Verbandsvereine auf, je nach Lage
ihrer örtlichen Verhältnisse mit Entschiedenheit für die statu-
tarische Regelung weiter zu wirken “
In der Zeugnisszwangfrage und Minimalkündigungsfrist
wird nach kurzer Begründung durch G. Unkart-Hamburg nach-
stehende vom Vorstand vorgeschlagene Resolution einstimmig
angenommen:
„Die Jahresversammlung des Deutschen Verbandes Kauf-
männischer Vereine erklärt die gesetzliche Einführung einer
Minimalkündigungsfrist für ein dringendes Bedürfniss, das
möglichst rasch noch vor der allgemeinen Revision des H.-G.-B
befriedigt werden sollte. Die Regelung wäre nach folgenden
Grundsätzen vorzunehmen: 1. Die Kündigungsfristen müssen
in jedem Falle für beide Theile gleich sein. 2. Die Verein-
barung einer kürzeren Kündigungsfrist als einer gegenseitig
monatlichen, d. h. einer Kündigung am letzten Tage eines
Monats auf den ersten Tag des zweitfolgenden Monats, ist
nicht zulässig. 3. Für Probeengagements und Aushülfestellen,
die nicht über drei Monate dauern, können kürzere Kündi-
gungsfristen vereinbart werden.“
Gewerbliche Fortbildungsschulen für Kaufleute. Die
zahlreichen Jahresberichte deutscher kaufmännischer Vereine,
welche in den letzten Wochen erschienen sind, enthalten^
wieder viele Belege für die mangelhafte fachliche Ausbildung
der jungen Kaufleute in Deutschland. Dieselbe wird nament-
lich vom Hamburger Verein, sowie von verschiedenen rheini-
schen Korporationen bitter getadelt und u. A. auch der über-
mässigen Ausnutzung der jungen Leute in den Verkaufs-
geschäften zugeschrieben, welche den Lehrlingen und Gehilfen
Zeit und Lust zur fachlichen und allgemeinen Fortbildung völlig
benehmen. Aus dieser Sachlage hat kürzlich der „Verband
kaufmännischer Vereine Badens und der Pfalz“ die
richtige Konsequenz gezogen, indem er auf seinem am 15. Mai
zu Pforzheim abgehaltenen Verbandstage eine Eingabe an die
badische Regierung mit folgenden Forderungen beschloss:
„I. Es möge auf Grund des § 120 der Gewerbeordnung für eine
gleichmässige und entgegenkommende Anerkennung der von
Kaufmännischen Vereinen oft mit grossen Opfern bereits er-
richteten Kurse und Handelsschulen als Anstalten gesorgt
werden, die der gewerblichen Fortbildungsschule gleichberechtigt
sind und deren Besuch allenthalben von der Pflicht zur Theil-
nahme am gewerblichen Fortbildungsunterricht befreit. Es
empfiehlt sich vielleicht in dieser Richtung der Erlass einer
einheitlichen Instruktion an die unteren Verwaltungsbehörden
seitens des hohen Ministeriums. II Es möge in den Etat des
Ministeriums für Justiz, Kultus und Unterricht ein Betrag
für Staatsbeihilfe an die bereits bestehenden Fortbildungs-
schulen der Kaufmännischen Vereine eingestellt werden,
welcher den für die gewerblichen Fortbildungsschulen aufge-
wendeten Mitteln, der Wichtigkeit des Gegenstandes ent-
sprechend, mindestens gleichkommt, und es möchten bei der
Vertheilung dieser Beihilfe die Kurse und Schulen der Kauf-
männischen Vereine ausgiebig bedacht werden. Hierbei mag
der Hinweis darauf gestattet sein, dass in Württemberg der
Staat die Kosten sämmtlicher kaufmännischen Fortbildungs-
schulen trägt, dass Preussen doch wenigstens ca. 13 000 M.
Beihilfe an kaufmännische Fortbildungsschulen gewährt, dass
der Bundesrath der Schweiz im letzten Jahre einen Betrag von
60 000 Frcs zur Vertheilung für Unterrichtszwecke an Kauf-
männische Vereine gebracht hat, und dass Direktor H Schmitt
in seiner neuen Schrift „Das kaufmännische Fortbildungsschul-
wesen Deutschlands“ (Berlin 1892, S. 27) sagen kann: „Somit
ist also in Bayern und Baden die finanzielle Förderung des
kaufmännischen Fortbildungsschulwesens seitens des Staates am
geringsten, in Württemberg und Sachsen dagegen am kräftigsten“.
III. Es möge dort, wo städtische oder staatliche Fort-
bildungsschulen bestehen oder noch errichtet werden, den Ge-
meinden nahegelegt werden, dass sie mindestens ein Vorstands-
mitglied des am Platze bestehenden Kaufmännischen Vereins
in das Kuratorium der Schule als Mitarbeiter heranziehen Dies
geschieht theilweise (Lahr), theilweise aber (wie in Freiburg
und Pforzheim) nicht. Die Vorstandsmitglieder kaufmännischer
Vereine dürften durch ihre Einblicke in die Unterrichtskurse,
das Stellenvermittelungs- und Unterstützungswesen ihrer Ver-
eine von den Bildungsbedürfnissen der jungen Kaufleute besser
unterrichtet sein, als ausserhalb des Vereins stehende Kaufleute.
IV. Es möchte von der Grossherzoglichen Regierung bei den
Stadtverwaltungen dahin gewirkt werden , dass letztere auf
Grund des § 120 des R.-G.-O. ortsstatutarische Vorschriften er-
lasse, nach welchen junge Kaufleute noch drei Jahre nach
Zurücklegung des schulpflichtigen Alters (statt zwei Jahre nach
§ 1 des badischen Gesetzes vom 18. Februar 1874) verpflichtet
sind, eine kaufmännische Fortbildungsschule zu be-
suchen. Hierzu ist zu bemerken dass der (etzige zweijährige
Fortbildungsschulzwang den jungen Kaufmann in den meisten
Fällen bereits vor Beendigung der praktischen Lehre, die be-
reits drei Jahre dauert, also in einem Alter von 16 Jahren ent-
lässt, in welchem seine Ausbildung kaum schon genügend ab-
geschlossen sein kann, da sich die Anforderungen an den
heutigen Kaufmann von Jahr zu Jahr steigern, wobei der ausge-
dehnte Schulzwang auch in sittlicher Beziehung eine gute
Wirkung auf die jungen Leute äussern würde.“ Der anwesende
Vertreter der badischen Regierung versprach die eingehende
Berücksichtigung obiger Wünsche. Dass die süddeutschen
kaufmännischen Vereine diese Frage gründlicher in Angriff
nehmen, erklärt sich daraus, dass sich dort der Fortbildungs-
schulzwang bereits seit einer Reihe von Jahren bewährte und
der Standpunkt der blossen Selbsthilfe überhaupt schon seit
längerer Zeit verlassen ist. Auf dem letzteren steht dagegen
noch ausschliesslich eine Reihe norddeutscher Vereine in Ham-
burg, Lübeck und Bremen, und der neue Jahresbericht des
Hamburger Vereins erklärt sich deshalb gegen den Fortbildungs-
schulzwang. Eine Art vermittelnden Standpunktes nimmt der
„Verband kaufmännischer Vereine Rh einland- West-
falens“ ein, welcher zu gleicher Zeit, wie der süddeutsche, in
Bochum tagte und auf welchem zwar drei Vereine für den
Zwang pläcfirten, der in Preussen noch nicht existirt, schliesslich
aber folgende Resolution angenommen wurde: „Obligatorische
326
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 26.
kaufmännische Fortbildungsschulen müssen sich naturgemäss
auf jugendliche Schüler und die niedrigsten Unterrichtsfächer
(Deutsch, Rechnen und einfache Buchführung) beschränken. Die
kaufmännischen Vereine können diese Schulen nicht direkt
unterstützen; sie einzuführen ist Sache der Gemeinden, da sie
den Handwerker-Fortbildungsschulen gleichzustellen sind. Die
Aufgabe der kaufmännischen Vereine ist es, in bisheriger \\ eise
mit ganzer Kraft auf die Einrichtung von höheren Schulen hin-
zuwirken, oder, wo dieselben nicht gegründet werden können,
für besondere Klassen mit höheren Unterrichtszielen für tort-
geschrittene Schüler zu sorgen. Das höhere kaufmännische
Schulwesen wird von der Einführung obligatorischer Schulen
Nutzen ziehen, wenn damit die Unterrichtszeit auf die Tageszeit
verlebt wird.“ Uebrigens beginnen auch schon die Vertretungen
kaufmännischer Prinzipale für den Fortbildungsschulzwang einzu-
treten. Die Handelskammer in Halber stadt beschäftigte sich
kürzlich in einem amtlichen Bericht mit den üblen Bildungs-
Verhältnissen der jungen Kaufleute und kam dabei zu folgendem
Schlüsse: „Was demgegenüber heute, wo die Technik des Han-
dels eine ganz andere geworden, gefordert werden muss, sind:
obligatorisch einzuführende kaufmännische Fortbil-
dungsschulen, Anstalten, in denen der bereits in einem kauf-
männischen Geschäfte thätige junge Mann neben seiner prak-
tischen Arbeit Gelegenheit zu einer theoretischen Ausbildung
und Weiterbildung findet — es ist mit anderen Worten als ein
dringendes Bedürfniss zu bezeichnen, dass das, was der Hand-
werkslehrling und -Gehilfe in den Gewerbeschulen und in den
gewerblichen Fachklassen findet, was der praktische Landwirth
in Winterschulen und von Wanderlehrern hört, auch für den
Handelslehrling und Handelsgehilfen angestrebt werde: seine
Einführung in die Grundbegriffe der Handelswissenschaften, die
Erweckung und Erweiterung seiner Anschauungen mit der Er-
klärung der wichtigsten Erscheinungen seines Berufsgebiets, ein
Unterricht in praktischen Disciplinen, Buchführung, Sprachlehren
u. s w., kurz eine Hebung des Bildungs- und Kenntnissniveaus
vermittelst eines methodischen kaufmännischen Schulunterrichts,
durch welchen das Interesse und die Liebe für den Beruf ge-
hoben und mit den gegebenen Anregungen vor Allem auch das
Bedürfniss nach eigener selbständiger Weiterbildung geweckt
werden könnte.“
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Der Achtstundentag in Australien. Als im vorigen
Jahre in englischen und deutschen Fachzeitschritten Nach-
richten über den Achtstundentag und seine relativ starke
Ausbreitung in Australien auftaüchten, wurden dieselben
von mancher Seite angezweifelt, und selbst von in Australien
lebenden Deutschen in Abrede gestellt „dass der Acht-
stundentag in ganz Australien herrsche“. Das war freilich
von keiner .Seite behauptet worden; nur seine ungemein
starke Vorherrschaft in Victoria und Neuseeland, wo drei-
viertel der Arbeiterschaft sich seiner erfreuen, und seine
Verbreitung in ansehnlichen Theilen der Arbeiterschaft der
übrigen Kolonien war behauptet worden.
Es liegen nunmehr einige neuere offizielle statistische
Publikationen vor, welche diese Version vollinhaltlich be-
stätigen. Auf Wunsch des Unterhauses ist vom englischen
Kolonialamte am 20. Dezember 1890 an die Gouverneure
der Kolonien die Aufforderung ergangen, demselben die in
ihren Amtsgebieten geltenden Gesetze über die Arbeitszeit
der erwachsenen Personen, ferner die daselbst faktisch
herrschende Zahl der Arbeitsstunden und der Löhne der
verschiedenen Arbeiterkategorien mitzutheilen. Die Ant-
worten der Gouverneure hegen nunmehr (15. März 1892)
gesammelt in einem „Return showing any Laws or Regu-
lations affecting the Hours of Adult Labour in each ot the
Colonies, also showing in each Colony the Hours worked
per Day, and Wages paid in various Industries, so far as
the same can be ascertained“ vor. Im Zusammmenhange
mit verwandten Publikationen ergiebt sich folgende Ge-
staltung der Arbeitszeit in den australischen Kolonien:
Westaustralien hat lediglich geantwortet, dass es keine
Gesetze über Arbeitszeit erlassen habe. Dem Blaubuche
für 1890 (Perth 1891) p. 200 ist aber zu entnehmen, dass
Strassenarbeiter 8 Stunden, Setzer in verschiedenen
Druckereien ungleich lange, alle übrigen Arbeiter 9 Stunden
arbeiten. Südaustralien besitzt gleichfalls keine die Arbeits-
zeit der Erwachsenen regulirenden Gesetze. „Gelernte
Arbeiter (mechanicsj arbeiten 8 Stunden im I age“ (Earl of
Kintore an Lord Knutsford p. 5).
Die Angaben für Neu-Süd-Wales beziehen sich im
„Return“ auf 1889. Von den daselbst angeführten 219
Arbeiterkategorien arbeiten 97 durch 44 48 Stunden, 41
durch 48—55 Stunden und nur 81 mehr als 55 Stunden. Zu
der ersten Kategorie gehören Bergarbeiter, städtische Be-
dienstete, ferner alle Angehörigen der polygraphischen, der
Bau- und der Metallgewerbe. Neuere Angaben für 1890
finden sich im offiziellen „Annual Register“ und m Cogh-
lan’s „Wealth and Progress of New-South-Wales 1890/1“,
Sydney, 1892, S. 709. Von deR daselbst aufgezählten 343
Arbeiterkategorien gemessen den faktischen Achtstundentag
224, also 65 pCt. der Gesammtzahl gegen 44 pCt. im Vor-
jahre. Noch detaillirtere Angaben sind anlässlich des
Censuswerkes von Neu-Süd-W ales zu erwarten. Von dem-
selben ist bisher die erste Lieferung erschienen. Der
„Census und Industrial Returns Act of 1891“ gab nämlich
dem Regierungsstatistiker die Vollmacht, zum Zwecke einer
Arbeitsstatistik alle Fabriken, Werkstätten, Bergwerke
u. s. w. besuchen zu dürfen, und verhängte Strafen gegen
Unternehmer, welche ihm den Eintritt oder wahrheits-
«remässe Angaben verweigern würden. In sieben Berichten
über ebenso viele Industriezweige ist nunmehr das aut
diesem Wege gesammelte Material dargestellt. Für die
Arbeitszeit ergiebt sich daraus folgendes:
Fabrikmässige Schneiderei .... 8V4 Std. täglich ausser am
Samstage; an diesem nur
41/2 Std.
Frauenhüte, Frauenkleidermacherei 9 Std.; Samstags 4 Std.
Weissnäherei in der Werkstatt . . 8 ’/4 » » „
Wolltuch fabrikation IOV2 » » »
HemdeXbrikation ! '. '. «Vr-^S1/» Std. in der Woche.
Von Neu-Seeland schreibt der Regierungsstatistiker
unter dem 13. März 1891: Es giebt sonst (ausser der ge-
setzlichen Regelung der Arbeitszeit der Frauen und in
Bergwerken) keine derartigen Bestimmungen. „Aber ver-
möge allgemeiner Zustimmung und Praxis sind 8 Stunden
seit vielen Jahren die anerkannte Arbeitszeit für alle Lohn-
arbeiter (for any wage-earners). Die Statuten vieler Ge-
werkvereine setzen die Arbeitszeit auf 8 Stunden per 4 ag ,
oder 48 Stunden per Woche fest; aber eine Arbeiterver-
bindung der Bäcker hat dieselbe mit 10 Stunden ange-
setzt“.
In Queensland bestimmt eine Verordnung, dass in den
Staatseisenbahnwerkstätten die Arbeitszeit 48 Stunden per
Woche betragen solle („Return“, S. 20 ff.). Von 30 ange-
führten Gewerben beträgt die Arbeitszeit 8 Stunden m b,;
9 Stunden in 1 1 Gewerben. Bäcker und Kellner haben die
längste Arbeitszeit (Samstags 16-20 Stunden, sonst 8 bis
17 Stunden). _ _ i
Von Victoria sagt der Chef der Gewerbeinspektion
Mr. Harrison Ord (12 März 1891), dass „die meisten Ge-
werbe zu Gewerkvereinen verbündet sind und daselbst die
Arbeitszeit der Männer in der Regel auf genau 8 Stunden
beschränkt ist.“ In der Kleiderkonfektion werden zwar
beim Saisonbedarfe Ueberstunden bewilligt, aber „die Zahl
derselben ist nicht gross, und faktisch ist _ die Zahl der
Arbeitsstunden der Arbeiterinnen in registrirten tabnken
48 per Woche.“ Es ist zu bedauern, dass eine genauere
Nachweisung der Arbeitszeit, welche der Sekretär der
Trades Hall in Melbourne versprochen hat, nicht zum Ab-
drucke gelangt ist. Jedenfalls legen diese Belege Zeugmss
ab nicht nur für die starke Verbreitung des Achtstunden-
tages in den Gewerben Australiens, sondern sogar für die
stetige Erweiterung seines Geltungsgebietes.
Zum Koalitionsrecht der Arbeiter in Deutschland.
Vor dem Gewerbegericht in Mainz stand Anfang Juni d. Js.
folgender grundsätzlich wichtige Fall zur Verhandlung.
Ein Schriftsetzer klagte gegen einen dortigen Buchdrucke-
reibesitzer auf Zahlung einer Entschädigung von 46 M„
weil er ohne Kündigung entlassen worden sei. Der Bucn-
druckereibesitzer gab die plötzliche Entlassung zu bestritt
jedoch, zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet zu
sein, und erklärte dies folgendermassen In seinem Ge-
schäft beschäftige er prinzipiell keine Setzer, welche dem
Unterstützungsverein deutscher Buchdruckei angehören,
und er lege jedem neu eintretenden Gehilfen eine solche
Frage vor. Diese Frage habe er auch dem Kläger vor-
o-eleo-t, worauf dieser laut und vernehmlich antwortete:
„Nein, ich bin nicht Mitglied des Verbands“. In Folge des
No. 26.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
327
Inkrafttretens der Gewerbenovelle habe er jetzt eine Ar-
beitsordnung eingeführt, welche die Klausel enthält, dass
jeder Gehilfe, welcher sich als dem Verbände nicht ange-
hörig bezeichnet hat und dennoch Mitglied ist oder wird,
sofort entlassen werden kann (Es ist schwer verständlich,
wie die Gewerbebehörde diese ungesetzliche Arbeitsord-
nung passiren lassen konnte. D. Red.) Als dem Kläger
diese Arbeitsordnung zur Unterschrift vorgelegt worden
sei, da habe er erklärt, er unterschreibe dieselbe nicht,
denn er sei Mitglied des Unterstützungsvereins. Da er den
Kläger nur engagirt habe in der festen Voraussicht, dass
derselbe nicht dem Verbände angehöre, indem er ihn sonst
nicht in Arbeit gestellt hätte, so habe er sich zur plötzlichen
Entlassung berechtigt gehalten. Der Kläger gab zu, Mit-
glied des Unterstiitzungsvereins bei seinem Eintritt ge-
wesen zu sein, ferner dass er dies auf Befragen verschwie-
gen habe, dies bilde aber keinen Grund zur plötzlichen
Entlassung im Sinne der Gewerbeordnung. Das Gewerbe-
gericht entschied in letzterem Sinne und verurtheilte den
Unternehmer dem Klageantrag gemäss. Diese Entschei-
dung ist für die Entwicklung der deutschen Arbeiterver-
bände sehr wichtig.
Neue Gesindeordnung für das Königreich Sachsen. In
ihrer letzten Session haben sich die sächsischen Landstände mit
einer von der Regierung vorgeschlagenen und sich in sehr
mässigen Grenzen haltenden Revision der sächsischen Gesinde-
ordnung zu befassen gehabt. Die revidirte Gesindeordnung ist
jetzt in Kraft getreten und entnehmen wir derselben die nach-
folgenden Hauptbestimmungen. Wer einen Dienstboten zum
Zurücktritt von dem eingegangenen Gesindevertrage oder zum
Verlassen eines von ihm bereits angetretenen Dienstes, ohne
dass für eines oder das Andere eine gesetzmässige Ursache be-
steht, zu bewegen sucht, verfällt in eine Geldstrafe bis zu 150 M.
oder Haftstrafe bis zu 6 Wochen. Bei jedem Dienstboten gilt
als Regel, dass er seine ganze Zeit und Thätigkeit dem Dienste
der Herrschaft zu widmen habe. Insbesondere hat das Gesinde
alle und jede seinen Kräften und Verhältnissen nicht unange-
messenen Verrichtungen nach dem Willen der Dienstherrschaft
zu leisten, auch wenn es vorzugsweise zu einer bestimmten
Dienstleistung oder unter einer eigenthümlichen Benennung ge-
miethet worden ist. Häusliche Dienste und Verrichtungen hat
das Gesinde nicht nur den eigentlichen Familiengliedern, sondern
auch den in bestimmten Verhältnissen zu denselben oder als
Gäste im Hause sich aufhaltenden Personen zu leisten. Auch
eine ausdrückliche Beschränkung des Vertrages auf besondere
Dienstverrichtungen befreit dasselbe nicht von der Verrichtung
anderer Arbeiten, als zu denen es sich vermiethet hat, es wäre
denn, dass der Dienstbote sich bedungen hätte, zu gewissen
Arten von Diensten niemals verwendet zu werden. Ebenso ist
bei ausserordentlichen Vorfällen, wodurch die gewöhnliche Ord-
nung im Hauswesen der Dienstherrschaft gestört wird, ingleichen
bei unaufschieblich dringenden Arbeiten in der Wirthschaft,
namentlich in der Heu- und Getreideernte, das sämmtliche Haus-
und Wirthschaftsgesinde die nöthigen Dienstverrichtungen zu
übernehmen und auch bei solchen Arbeiten mit Hand anzulegen
schuldig, für welche es eigentlich nicht angestellt ist. Wenn
unter dem Gesinde darüber Streit entsteht, welches von ihnen
diese oder jene Arbeit zu übernehmen schuldig sei, so entschei-
det das Gebot der Herrschaft. Das Gesinde ist ohne Erlaubniss
der Herrschaft nicht berechtigt, die ihm aufgetragenen Geschäfte
durch Andere verrichten zu lassen. Ein Dienstbote ist verbun-
den, nach der bei der Dienstherrschaft bestehenden häuslichen
Ordnung sich zu richten, insbesondere zu der üblich feststehen-
den Zeit sich zur Ruhe zu begeben und früh aufzustehen. Er
darf unter dem Vorgeben, dass er noch Arbeit zu verrichten
habe, wider Willen der Dienstherrschaft nicht über die Zeit, zu
welcher sich die Familie des Dienstherrn zur Ruhe begiebt,
aufbleiben. Kein Dienstbote darf ohne Erlaubniss der Dienst-
herrschaft in seinen eigenen Verrichtungen ausgehen oder Ver-
gnügungsorte besuchen, und die von der Dienstherrschaft dazu
auf gewisse Zeit gegebene Erlaubniss darf nicht überschritten
werden. Jeder Dienstbote muss sich gefallen lassen, dass die
Dienstherrschaft in seiner und eines Zeugen Gegenwart seine
Lade, Koffer oder sonstige Behältnisse seiner Sachen öffne.
Ueber die sittliche Aufführung des Gesindes steht der Dienst-
herrschaft das Recht der Aufsicht zu; den diesfallsigen Zurecht-
weisungen und Verboten der Dienstherrschaft hat sich jeder
Dienstbote zu fügen. Auch sind die Dienstboten bis zum voll-
endeten 17. Lebensjahre der elterlichen Zucht der Dienstherr-
schaft unterworfen. Die Dienstherrschaft ist berechtigt, dem
Dienstboten solchen Aufwand, den sie seinen Verhältnissen nicht
angemessen findet, zu untersagen, und es kann sich der Dienst-
bote dagegen nicht mit der Ausrede schützen, dass es für sein
eigenes Geld geschehe. Dienstboten, die sich beharrlichen Un-
gehorsam und Widerspenstigkeit gegen rechtmässige Befehle
der Dienstherrschaft oder deren Stellvertreter zu Schulden
kommen lassen, oder die das Nebengesinde aufwiegeln oder zu
Zänkereien oder üblen Nachreden gegen die Dienstherrschaft
Ij aufhetzen, werden mit Geldstrafe bis zu 20 M. oder mit Haft
bis zu 5 Tagen bestraft. Ueber die Vorgänge in der Familie
des Dienstlierrn muss das Gesinde gegen Jecfermann strengstes
Stillschweigen beobachten, wenn nicht die Vorfälle als Ver-
gehungen von der Art sind, dass ein Jeder zur Anzeige derselben
bei der Obrigkeit sich veranlasst oder verpflichtet halten kann.
— Man sieht, dass eine Revision im arbeiterfreundlichen Sinne
die Arbeit von vorn beginnen muss
Sonntagsruhe für das Handelsgewerbe im Gross-
herzogthum Hessen Auch für das Grossherzogthum Hessen
ist nunmehr ein Erlass des Ministeriums des Innern und der
Justiz an die Kreisämter ergangen, der die vom 1. Juli an
nach § 105 b der R.-G.-O. in Kraft tretende Sonntagsruhe
für das Handelsgewerbe betrifft. Die amtliche „Darmstädter
Zeitung“ veröffentlicht denselben unterm 20. Juni d. Js. Da-
nach sollen die Kreisämter für ihren ganzen Bezirk Anfang
und Schluss der sonntäglichen Arbeitszeit möglichst auf
6 Uhr früh und 1 Uhr Nachmittags, nur ausnahmsweise auf
7 Uhr früh und 2 Uhr Nachmittags festsetzen. Sie sollen
ferner darauf hinwirken, dass nur Ladengeschäfte von den
vollen fünf Stunden Gebrauch machen, alle übrigen Handels-
gewerbe sollen sich mit 2 — 3 Stunden Arbeitszeit begnügen.
In letzterem Punkte geht die Anweisung über die preussische
hinaus, was im Interesse der Sonntagsruhe zu begrüssen ist.
Die Ausnahmen von der Sonntagsruhe sind ganz ebenso
umgrenzt, wie in der preussischen Verordnung.
Sonntagsruhe für (las Handelsgewerbe in Berlin. Der
königliche Polizeipräsident hat unterm 20. d. M. die Verordnung
über die Sonntagsruhe im Handelsgewerbe für den Stadtkreis
Berlin erlassen. Die Bestimmungen derselben lauten: § 1. Fest-
stellung der gesetzlich zulässigen fünfstündigen Beschäftigungs-
zeit. Im Handelsgewerbe dürfen Gehilfen, Lehrlinge und Ar-
beiter am ersten Weihnachts-, Oster- und Pfingsttage überhaupt
nicht, im Fiebrigen an Sonn- und Festtagen nicht vor 7 Uhr
Vormittags und nicht nach 2 LThr Nachmittags, sowie nicht
während der für den Hauptgottesdienst bestimmten Zeit be-
schäftigt werden. Für den Hauptgottesdienst ist die Zeit von
10 — 12 Uhr Vormittags bestimmt. "Abweichend von der Regel
des ersten Absatzes dürfen die daselbst bezeichneten Personen
in dem Handelsgewerbe der Zeitungsspeditionen nicht vor 4 Uhr
früh und nicht nach 9 Uhr Vormittags beschäftigt werden.
Sobald durch statutarische Bestimmung für einzelne Zweige
des Handelsgewerbee die zulässige Beschäftigungszeit über das
gesetzliche Mass eingeschränkt wird, verlieren die vorstehenden
Vorschriften hinsichtlich dieser Gewerbezweige ihre Gültigkeit.
§ 2. Zulassung einer verlängerten Beschäftigungzeit. An den
beiden letzten Sonntagen vor Weihnachten, dem letzten Sonn-
tage vor Ostern und ctem letzten Sonntage vor Pfingsten dürfen
im Handelsgewerbe die im § 1 Absatz 1 bezeichneten Per-
sonen, abgesehen von der ebendaselbst festgesetzten Zeit, noch
von 2 Uhr Nachmittags bis 6 Uhr Abends beschäftigt werden.
Die gleiche Verlängerung der Beschäftigungszeit findet für
den Handel mit Blumen und Kränzen auch an dem zum
Gedächtniss der Gestorbenen bestimmten Sonntage, sowie
am 31. Dezember, sofern dieser Tag auf einen Sonntag
fällt, Anwendung. § 3. Ausnahmen von der Regel des § 1.
1. An denjenigen Sonntagen, an welchen im Handelsgewerbe
die Beschäftigung der Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter während
fünf Stunden zugelassen ist, darf deren Beschäftigung über den
in § 1 Abs. 1 vorgeschriebenen Zeitraum hinaus a) im Betriebe
des Handels mit Back- und Konditorwaaren, mit Fleisch und
Wurst, mit Milch, sowie im Betriebe der Vorkosthandlungen:
schon um 5 Uhr Morgens beginnen, b) im Betriebe des Handels
mit Back- und Konditorwaaren, sowie des Handels mit Milch
bis um 3 Uhr Nachmittags dauern. 2. Am ersten Weihnachts-,
Oster- und Pfingsttage darf die Beschäftigung der unter No. 1
bezeichneten Personen a) im Betriebe des Handels mit Back-
und Konditorwaaren, mit Fleisch und Wurst, mit Milch und mit
Vorkostwaaren: von 5 Uhr Morgens bis zum Beginne der für den
Hauptgottesdienst bestimmten Zeit, b) im Betriebe des Handels
mit Kolonialwaaren, mit Blumen, mit Tabak und Zigarren, sowie
mit Bier und Wein: während der letzten beiden Stunden vor
dem Beginne der für den Hauptgottesdienst bestimmten Zeit,
c) im Betriebe der Zeitungsspedition von 4—9 Uhr Vormittags
stattfinden. § 4. Beschränkung des Gewerbebetriebes im stehen-
den Handel. Soweit nach den vorstehenden Bestimmungen Ge-
hilfen, Lehrlinge und Arbeiter im Handelsgewerbe an Sonn- und
Festtagen nicht beschäftigt werden dürfen, ist gemäss §41a der
Reichsgewerbeordnung an diesen Tagen in offenen Verkaufs-
stellen, zu welchen auch die selbstthätigen Verkaufsapparate ge-
hören, der Gewerbebetrieb verboten. § 5. Beschränkung des
Gewerbes des nicht stehenden Handels. Von dem Verbote des
§ 55 a Absatz I der Reichsgewerbeordnung wird auf Grund des
Absatz 2 daselbst ausgenommen: 1. das Feilbieten von Milch
auf öffentlichen Wegen, Strassen und Plätzen an allen Sonn-
und Festtagen für die Zeit bis zum Beginne der für den Haupt-
gottesdienst bestimmten Stunden, 2. das Feilbieten von Blumen,
Backwaaren, Obst, Spielwaaren, geringwerthigen Gebrauchs-
§ egenständen und ähnlichen Sachen auf öffentlichen Wegen,
trassen und Plätzen an den beiden letzten Sonntagen vor
328
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 26.
Weihnachten bis um 6 Uhr Abends mit Ausschluss der für den
Hauptgottesdienst bestimmten Zeit Die besonderen polizei-
lichen Vorschriften hinsichtlich der Abhaltung des Weihnachts-
marktes werden durch die Bestimmung unter No. 2 nicht be-
rührt. § 6. Diese Verordnung tritt am 1. Juli d J. in ivralt.
Ortsstatut über die Sonntagsruhe im Handelsgewerbe
für Frankfurt a. M In ihrer Sitzung vom 21 Juni d. Js
haben Magistrat und Stadtverordnete der Stadt Frankfurt
a Main nach mannigfachen Verhandlungen mit den Kirchen-
behörden und nach wiederholten Vorstellungen eines Komitees
von Mitgliedern der fünf kaufmännischen \ ereine das bereits
früher an dieser Stelle mitgetheBe Ortsstatut über che kauf-
männische Sonntagsruhe so beschlossen, dass lediglich
2l/o Stunden als Arbeitszeit am Sonntag für sammtliche
Handelsgeschäfte erlaubt sind, und zwar che Stunden von
'/oll Uhr Vormittags bis 1 Uhr Nachmittags. Damit ist die
fünfstündige, vom Reichsgesetz zugelassene Arbeitszeit aut
die Hälfte verkürzt und eine Zerreißung der Stunden m
zwei Theile glücklich vermieden. Unerfüllt geblieben ist
allein der Wunsch der Vereine, für Komptore eine kürzere
Arbeitszeit festzusetzen, als für Ladengeschäfte lm Ueb-
rio-en haben bis jetzt uns noch Stuttgart und Augsburg
(Arbeitszeit 10—1 Uhr) eine ähnlich glückliche Regelung
der Sonntagsarbeit im Handelsgewerbe aulzuweisen, B rank-
furt a. Main aber ist die einzige grössere Stadt m R reussen,
welche bis jetzt von ihrer ortsstatutarischen Befugmss in so
einsichtiger Weise Gebrauch gemacht hat.
Arbeiterschulz Vorschriften für Fellzurichtereien.
Die Weissenfelser Kürschnergehilfen ersuchten am 23. Juli
v. Ts. die Merseburger Regierung, anzuordnen, dass die
Fellzurichterei wegen ihrer Gesundheitsschädhchkeit aus
der Hausindustrie in die Werkstätten verlegt weide, wie
den Petenten am 23. Mai d Js. vom Gewerberath mitge-
theilt wurde, hat die Regierung eine Untersuchung der An-
o-eleo-enheit durch den Gewerberath, den Kreisphysikus
und^die Polizeibehörde angeordnet, welche die Wirkung
hatte, dass eine bezügliche Polizeiverordnung erlassen
werden wird Die Weissenfelser Kürschnergehilfen er-
suchen nun die Regierung, dass man sie bei Abfassung
dieser Polizeiverordnung höre oder andernfalls dieselbe da-
hingehend formulire, dass 1. die W erkstätten zur Fellzu-
richterei von der menschlichen Wohnung getrennt sein
müssen, 2. dieselben vier Meter Höhe besitzen, und 3. für
jeden Arbeiter 9 Kubikmeter Luftraum vorhanden sein
muss. Weiter wird um Beschleunigung des Erlasses der
Polizeiverordnung gebeten.
Arbeiterversicherung.
Ausdehnung der Krankenversicherung durch Ortsstatut.
Der Gemeinderath von Stuttgart hat in seiner Sitzung vom
15. [uni d. Js. beschlossen, den Krankenversicherungszwang zu
erstrecken auf die in Betrieben und im Dienste der Stadtge-
meinde beschäftigten Personen, auf welche die Anwendung des
§1 des neuen Krankenversicherungs-Gesetzes nicht durch ander-
weite reichsgesetzliche Vorschrift erstreckt ist, so dass in Zukunft
auch versicherungspflichtig werden: die im Strassenreimgungs-
dienst, bei der Berufsfeuerwache, im Fuhrdienst der Latrinen-
anstalt, auf Messen, Märkten, in der Gewerbe- und Botenhalle
beschäftigten Personen, die Schutzmänner, Forst- und Steuer-
wächter, Stadtaufwärter, Kanzleigehilfen; ferner, den Versiche-
runmszwang zu erstrecken aut Handlungsgehilfen und
Handlungslehrlinge ohne Rücksicht darauf, ob die ihnen
nach Art. 60 des Handelsgesetzbuches zustehenden Rechte durch
Vertrao- beseitigt worden sind oder nicht, sowie neben den in
der Landes- und Forstwirtschaft beschäftigten Arbeitern (auf
welche die Versicherungspflicht schon ausgedehnt ist) auf die
darin beschäftigten Betriebsbeamten; für alle bei der Stadt be-
schäftigten versicherungspflichtigen Personen soll eine besondere
Betriebskrankenkasse errichtet werden. Der im Sinne dieser
Beschlüsse bereits aufgestellte Entwurf eines Ortsstatuts wurde
vorbehaltlich der Zustimmung des Bürgerausschusses genehmigt.
Rechmuigsergebnisse der staatlichen Unfallversicherung
in Niederösterreich. Die staatliche Unfallversicherung ist be-
kanntlich in Oesterreich abweichend vom Deutschen Reiche
nicht in Berufsgenossenschaften organisirt, die sich über das
ganze Land erstrecken, sondern in territorialen V ersicherungs-
anstalten, welche den Versicherungsanstalten der reichsdeutschen
Invaliditäts- und Altersversicherung ähneln. Nun scheint sich
die österreichische Organisation der Unfallversicherung ad-
ministrativ und finanziell weit besser zu bewähren, als die be-
rufso'enossenschaftliche im Deutschen Reiche. Wir entnehmen
dies& dem Bericht, welchen der Vorstand der Arbeiter-Unfall-
versicherungsanstalt für Niederösterreich über die Anstaltsge-
bahrung im Jahre 1891 vorgelegt hat An Versicherungsbeiträgen
sind 917 293 fl. vereinnahmt worden, welchen die im Abfindungs-
wecre an private Versicherungsanstalten behufs Ablösung der
übernommenen Versicherungsverträge geleisteten f rämien-
hinauszahlungen in der Höhe von 23 606 fl. gegenüberstehen, so
dass sich die reine Brutto-Prämieneinnahme auf 917 057 fl. stellt.
Weiters wurde an Kapitalszinsen 29 709 fl.,. an Strafgeldern
2054 fl. eingenommen. Zu Lasten der Anstalt ist in erster Reihe
das Entschädigungserforderniss, und zwar ein durch die Ent-
schädiguno-sreserve des Jahres 1890 nicht bedecktes Erforderniss
für Unfälle aus dem Jahre 1890 mit 243184 fl., dann das Er-
forderniss für Unfälle aus dem Jahre 1891 in der Höhe von
646 862 fl., somit ein das Rechnungsjahr belastendes Gesammt-
Entschädigungserforderniss von 890 046 fl zu verzeichnen. Die
Rentenabstattungen für die bereits im Jahre 1890 begründeten
Entschädigungsrenten an Versicherte der niederösterreichischen
Anstalt und Versicherte der berufsgenossenschaftlichen Untall-
versicheruno-sanstalt der österreichischen Eisenbahnen beziffern
sich mit 24 934 fl. An Kosten für Unfallerhebungen wurden
5892 fl., für vertrauensärztliche Entlohnungen 3152 fl., für Ent-
schädwungs-Auszahlungsprovisionen an das Postsparkassenamt
und die Krankenkassen 7891 fl. verbraucht. Die Verwalt ungs-
kosten belaufen sich auf 69 808 fl., d. i. auf 7,612 Perzent
der reinen Brutto-Prämieneinnahme Weiters wurden veraus-
gabt an Staatsgebühren (Kosten der Gewerbeinspektoren) 370011.,
an Schiedsgerichtskosten 2348 fl., für die Verwaltung des
niederösterreichischen Bezirks-Krankenkassenverbandes 1004 fl.
und für die Subvention für das Gewerbe-hygienische Museum
und sonstige Unterstützungen 600 fl. Danach bleiben die V cr-
waltungskosten der Unfallversicherung in Oesterreich weit unter
den riesigen Summen, welche die deutschen Berufsgenossen-
schaften brauchen, und man hat daher noch Mittel zur Unter-
stützung der Gewerbehygiene u. s. w. Die Aufsicht der Ge-
werbeinspektoren dürfte auch wirksamer sein, als die von Unter-
nehmern beauftragte. Der Bericht enthält noch eine Statistik
der versicherten Betriebe und der vorgekommenen
Unfälle. Derselben ist zu entnehmen, dass bei der Anstalt im
Berichtsjahre 19 131 Betriebe mit 209 886 Arbeitern und einer
Lohnsumme von 68 689 445 fl. versichert waren, wonach sich im
Vergleiche zu den statistischen Ergebnissen des Jahres 1890 die
Zahl der versicherten Betriebe um 3456, d. i. 22,05 Perzent, die
Zahl der Arbeiter um 14060, d. i. 7,18 Perzent, und die ver-
i sicherte Lohnsumme um 12 979 997 fl., d. l. 23,29 Perzent, erhöht
hat. Von 6373 angemeldeten Betriebsunfällen boten 2101 Unfälle
oder 33 Perzent zur Entschädigung Anlass, während 4272 Bälle,
das sind 67 Perzent aller Betriebsunfälle, keine Belastung der
Anstalt zur Folge hatten. Von den 2101 Entschädigungsfallen
führten 1635 zu vorübergehender, 357 zu dauernd theilweiser,,
13 zu dauernd gänzlicher Erwerbsunfähigkeit; in 96 iodestallen
wurde eine Rente an 155 Hinterbliebene und zwar an
46 Wittwen, 98 Kinder und 11 Ascendenten bezahlt. Von be-
sonderem Interesse erscheint die Gegenübers'tellung; der von den
einzelnen Betriebsgattungen vereinnahmten Jahres-Nettopramien
und der durch Unfälle des Jahres 1891 verursachten Belastung
der Anstalt, aus welcher Zusammenstellung hervorgeht, dass,
beispielsweise die Entschädigungssätzen in der
Gruppe der land- und forst wirtschaftlichen Betriebe
17 800 fl. betrugen und daher mehr als fünfmal so gross
waren als die Nettoprämien-Einnahmen per 3250 fl., dass die
Entschädigungen in der Gruppe der Bauunternehmungen
per 83 507 fl. sich mehr als dreimal so gross als die Nettopramien
per 27 402 fl. erwiesen und dass schliesslich den Entschädigungen
in der Gruppe der baulichen Nebengewerbe per 25 870 ff.
eine Nettoprämien-Einnahme von nur 10 304 fl. gegenüberstand.
Diese Beobachtung bezüglich der Gewerbe mit der grössten
Unfallhäufigkeit entspricht ganz den Erfahrungen die man in
Deutschland gemacht hat.
Zur Frage der Arbeiterversicherung in England. Einem
Schreiben des österreichischen Generalkonsulats in Liverpool
an das „Handelsmuseum“ vom 16. Juni d. J. entnehmen wir die
folgende Mittheilung: . , „ , .
Bekanntlich hat unlängst das einflussreiche Parlaments-
mitglied, Herr [. Chamberlain, die Erlassung eines Gesetzei
wegen Errichtung eines Staatspensions- und Versicherungs-
fonds für die Arbeiter in Anregung gebracht und eine
Bill dem Parlamente vorgelegt, welches den Entwurf einen
Komitee zur Begutachtung überwiesen hat. Dieses Gutachten
ist soeben erschienen; es schlägt Folgendes vor. die gese z
o-ebende Gewalt und die einzelnen Gemeinden sollen jahrlicl
eine bestimmte Summe für einen Arbeiter-Staatspensions- um
Versicherungsfonds bewilligen und die Verwaltung dieser Bond:
den Postämtern übertragen. Jeder männlichen Person, die n
einer Postamtssparkasse Lstr. 2,10 vor Erreichung des 25. Jahre:
zu obigem Zwecke deponirt, sollen seitens des Staatspensions
fonds 10 Lstr. gutgeschrieben werden, und falls sie vierzig Jalirt
hindurch 10 sff. jährlich in gedachter Sparkasse für den Fonc
No. 26.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
329
erlegt, soll sie beim 65 Jahre eine Pension von 13 Lstr. jährlich
erhalten.
} Ferner wird proponirt, dass jede männliche Person auch
mehr als 13 Lstr bekommen kann, wenn sie vor dem 25. Jahre
statt Lstr 2,10 Lstr. 3,10 in obiger Sparkasse erlegt; die Pension
wird dann statt 13 Lstr. Lstr. 24,10 betragen, und wenn die
Person zwischen dem 25. und 65 Jahre ausser den 10 sh. jähr-
lich noch 5 Lstr. bezahlt, so vergrössert sich ihre Pension bis auf
27 Lstr. jährlich.
Bezüglich einer Versicherung auf den Todesfall beantragt
das Komitee: Falls eine männliche Person in die Postsparkasse
vor Erreichung des 25. Jahres 5 Lstr. erlegt, sollen ihr seitens
des Staatspensionsfonds 15 Lstr. kreditirt werden, und wenn sie
in den folgenden vierzig Jahren 1 Lstr. jährlich in die Post-
sparkasse bezahlt, soll sie beim 65. Lebensjahre eine Pension
von 13 Lstr. per Jahr beziehen; doch wenn sie vor Erlag der
dritten Rate von 1 Lstr. stirbt, werden die erwähnten 5 Lstr.
der Wittwe oder der vom Verstorbenen autorisirten Person aus-
gefolgt. Sollte sie nach Deponirung der dritten Jahresrate von
1 Lstr. sterben und eine Wittwe und ein oder mehrere Kinder
hinterlassen, so soll erstere 5 sh. wöchentlich für die Dauer von
26 Wochen und jedes Kind unter zwölf Jahren 2 sh per Woche
bis zum zwölften Jahre erhalten, aber der gesammte Betrag in
einer Familie darf 20 sh. wöchentlich während der ersten
26 Wochen oder 8 sh. während der nachfolgenden Wochen nicht
übersteigen. Hinterlässt der Verstorbene blos eine Frau, so hat
diese Anspruch auf 5 sh. per Woche während 26 Wochen und
die Interessen von 2V2 Perzent jährlich des Restes der von ihm
deponirten Summe. Stirbt er nach Erlag der dritten Rate von
1 Lstr., ohne Frau und Kinder zurückzulassen, dann kann eine
von ihm vorschriftsmässig designirte Person den Betrag von
5 Lstr. beheben.
Jede männliche Person kann auch eine höhere Pension
als 13' Lstr. jährlich sicherstellen, und zwar um 5 sh. 4 d. mehr
per Jahr für jedes Pfund Sterling über die obcitirten, vor dem
25. Lebensjahre eingezahlten 5 Lstr., oder sie erhält, falls sie
zwischen dem 25. und 65. Lebensjahre statt 1 Lstr. jährlich mehr
zahlt, für jede 10 sh. über 1 Lstr. Lstr.3,6,8 mehr per Jahr, als bereits
angegeben. Tritt ihr Tod vor Erreichung des 65. Lebensjahres
ein, so werden die nachträglich deponirten Beträge und mehr
bezahlten jährlichen Raten sammt 2/o perzentigen jährlichen
Interessen der Wittwe oder dem Bevollmächtigten hebst den
anderen ihnen gebührenden Summen eingehändigt.
IHat sich eine männliche Person bei einer anderen Anstalt
eine Pension von wenigstens Lstr. 6,10 jährlich sichergestellt,
und deponirt sie in einer Postsparkasse vor Erreichung des
25. Lebensjahres Lstr. 1,10, so erhält sie, wenn 65 Jahre alt,
Lstr. 6,10 per Jahr.
Das Gutachten des parlamentarischen Komitees enthält
ähnliche Vorschläge auch für weibliche Personen unter 25 Jahren
und für solche beiderlei Geschlechts über 25 Jahre.
—
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung
Wohnungsstatistik in Worms. In Worms haben die
Stadtverordneten beschlossen, eine Besichtigung der Woh-
nungen aller Fabrik- und gewerblichen Arbeiter vornehmen
zu lassen und zwar nicht nur in der Art, wie das in den
grösseren badischen Städten für alle kleinen Wohnungen
[geschehen, nämlich zur Prüfung der Wohnung wegen
etwaiger Schädigung an Gesundheit und Sittlichkeit, son-
dern in einer viel weiter gehenden Weise.
Die einzelnen Räume werden nach Flächen- und
Kubikinhalt gemessen und die Bewohner nach Zahl, Alter
und Geschlecht aufgenommen. Die Resultate sollen dann
von einem Statistiker bearbeitet werden.
Wohnungszuslände in Frankfurt a. Main. Ueber un-
glaublich verlotterte Wohnungsverhältnisse wurde in einer
Versammlung der organisirten Schuhmacher Frankfurts a. M.
berichtet. Ein Gehilfe warf die Frage auf, ob es den Meistern
gestattet sei, drei Personen in einem Bett schlafen zu lassen.
Sämmtliche Redner konstatirten darauf, wie die Frankfurter
„Volksstimme“ in No. 142 vom 19. Juni 1892 mittheilt, „dass
dies nicht vereinzelt vorkäme, sondern dass das Zusammen-
schlafen bei den meisten Schuhmachern vorherrschend sei,
und dazu noch in Winkeln, die jeder Beschreibung spotten.“
Der Vorstand der Gehilfenorganisation wird nun die Sani-
tätsbehörde um gründliche Revision der Schlaf- und Arbeits-
räume der Schuhmacher angehen.
Litteratur.
Protokoll der Verhandlungen des ersten Kongresses der Ge-
werkschaften Deutschlands. Abgehalten zu Halberstadt vom
14. bis 18. März 1892 Hamburg. C. Legien 1892 8" 95 S.
Obgleich über den für die deutsche Gewerkschaftsbewegung
überaus wichtigen Kongress in Halberstadt die Tagespresse und
auch diese Zeitschrift eingehende Berichte gebracht haben,
empfiehlt sich doch das Studium des offiziellen Kongressproto-
kolles. Aus demselben erkennt man genauer die in der deutschen
Gewerkschaftsbewegung vorhandenen Richtungen und die Fähig-
keiten ihrer Vertreter. Das Protokoll ist auch werthvoll durch
eine Reihe von sonst schwer zugänglichen Aktenstücken und
durch die Uebersicht über die gewerkschaftlichen Organisationen.
Wer die deutsche Gewerkschaftsbewegung verfolgt, wird das
kleine Schriftchen nicht entbehren können.
Hirsch, Dr. Max Mitglied des Reichstags, Leitfaden mit
Muster-Statuten für freie Hülfskassen. Unter beson-
derer Berücksichtigung der Krankenversicherungsnovelle für
bestehende und neu zu gründende Kassen bearbeitet.
Berlin 1892. J. J. Heine’s Verlag. 8’. 32 S.
Die kleine Schrift ist ebenso nützlich als sie zeitgemäss
kommt. Sie sollte von allen Vorständen der freien Hilfskassen
und von den an der Erhaltung derselben interessirten Mitgliedern
eifrig studirt und bei der jetzt überall im Gange befindlichen
Revision der Statuten der freien Kassen zu Rathe gezogen
werden. Auf eine leider etwas zu kurz gerathene Geschichte
der freien Hilfskassen, in der auch auf deren Bedeutung hinge-
wiesen wird, folgt eine klare Auseinandersetzung über die freien
Kassen und die Krankenversicherungsnovelle. An diese Kapitel
schliessen sich sehr werthvolle Statutenentwürfe für freie und
zentralisirte Kassen und der Entwurf eines Vertrages zwischen
Hilfskassen und Aerzten Mit einem Auszuge aus dem Gesetze,
in dem alle für die Umwandlung der Kassen wichtigen Bestim-
mungen angeführt sind, schliesst das Heftchen. Der bekannte
Standpunkt des Verfassers kommt auch in dieser Schrift zum
Ausdruck, dies soll aber diejenigen Krankenkassenvorstände,
welche denselben nicht theilen, nicht hindern, dieselbe zu Rathe
zu ziehen.
Eingesendete Schritten.
(Besprechung Vorbehalten.)
Arbeiterausschüsse, Industriegenossenschaften und Einigungs-
ämter. Gutachten der Handels- und Gewerbekammer zu
Brünn. Brünn, 1892. Selbstverlag. 8n. 46 S.
Arndt, Fr, Pfarrer, Die sozialen Nothstände auf dem
flachen Lande und die innere Mission. Leipzig 1889.
H G. Wallmann. 8». S. 112—158.
Botschaft des Regierungsrathes des Kantons St. Gallen an
den Grossen Rath desselben zum Gesetzesvor-
schlag betr. Schutz der Arbeiterinnen und die
Arbeit der Bediensteten in Ladengeschäften und
Wirth. sc haften. Vom 6. Mai 1892. St Gallen (1892). 8°.
16 S. und 1 Tabelle.
Ettinger, Dr. M., Einfluss der Goldwährung auf das Ein-
kommen der Bevölkerungsklassen und des Staates.
Eine sozialpolitische Studie. Wien und Leipzig, 1892.
M. Breitenstein. 8°. 175 S.
Hirsch, Dr. Max, Anwalt der deutschen Gewerkvereine und
Mitglied des Reichstages, Die Arbeiter-Bewegung und
Organisation in Deutschland. 2 Aufl., 11. — 15. Tausend.
Berlin 1892. Verlag der „Volks-Zeitung“, Aktiengesellschaft.
80. 30 S.
Kaff, Sigmund, Redakteur des „Arbeiterschutz“, Gesetzes-
sammlung des „Arbeiterschutz“ Wien, Verlag des
„Arbeiterschutz“. Heft 1, Das Gewerbeinspektoren-
gesetz. Wien, 1891. kl 8°. 20 S Heft 2, Die Arbeiter-
schutzgesetzgebung. 1892. kl. 8°. 61 S.
Kautsky, Karl, und Schoenlank, Bruno, Grundsätze und
Forderungen der Sozialdemokratie. Erläuterungen
zum Erfurter Programm. Berlin, 1892. Verlag der Expedition
des „Vorwärts“, gr. 8°. 64 S.
Schmoller, Gustav, Die preussische Seidenindustrie im
1 8. Jahrhundert und ihre Begründung durch Frie-
drich den Grossen. (Sonderabclruck aus der Beilage zur
Allgemeinen Zeitung No. 117 u. 120 vom 19. u. 23. Mai 1892.)
München, 1892. J. G. Cotta Nachfolger. 8°. 38 S.
Zimmermann, Dr. Alfred, Geschichte der preussisch-
deutschen Handelspolitik. Aktenmässig dargestellt.
Oldenburg und Leipzig, 1892. Schulze’sche Hof buchhandlung.
8". V und 850 S.
Verantwortlich ftir die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
330
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Mit Januar 1892 begann ein neues Abonnement auf den XI. Jahrgang des
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Professor a. d. Universität Bonn.
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Das Programm des „Centralblattes für allgemeine Gesundheitspflege“ stellt sich
im Wesentlichen zusammen aus: Originalartikeln über alle (ler Ge^undheits-
Dflege Berichten aus den Krankenhäusern der grosseren Städte, Steiblichkeits-
statfstik mit Berücksichtigung der Todesursachen, Berichten über epidemische
Vorgänge, Seuchestatistik, Üebersichten der hygienischen Bestrebungen des In- und
Auslandes, Medizinalgesetzgebung, Auszügen und Referaten über die neu erschienene
Literatur des In- und Auslandes etc. etc.
Ferner enthalten die Hefte zahlreiche „Kleinere Mittheilungen“ aus dem
Gebiete der Hygiene, Literaturberichte, regelmässige monatliche Nachweisungen
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No. 26.
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uom
15. 3hmi 1883
10. Mpril 1892,
itcbft benbicÄranfcnuerfid)crungbetrcfrcnbcn
93eftimmungen bcö ©efehc6 0011t 5. SOlai 1886.
■Öerausgegeben unh erläutert non
Dr. f>anl Kül|nc,
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©rfdjcint iebeit ällontag.
3tb omt einen 1 18 b eb in gun gen:
23ei allen ißoftanftalteu (SRr. 2272
ber tßoftjeitungslifte) .... IDtf. 0,80
«Bei hirefter ÄreiHbaubfenbung:
in ©enifdjlanh mib Oefterreid) . „ 1,20
im SBeltpoftnerein 1,50
3n SBerlin bei freier 3'iRtihung . . ,, 1,—
JEHe (Bxpebifion
1. febs, 3tnü$üitzibzv$x. 55.
®EnD(ffn[ttinftlidirr ftpciltt.
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in ber Raffung ber fftoneüe uom 10. Ipvil 1892 unh bie baffelbe ergänjenben reicf)3red)ttid)en für ein fojiai = reformat. <Scnoiienf*aften>efcn.
»eftimmungen. - Ejgnet ^ vorzüglich zoiD Inseriren, Z
föJtt Einleitung mib ©rläutenutgen „ . , . .
luefl er md)t nur melen ©efdjaftMeuten, fonbern
aucl) flohen Beamten ©utSbefifeern u. f. in. ju
©efid)t fommt.
(Srfcbeint am 1. unh 15- jeben SDiouat» unb toftet
«liierte gnmlidi nuigcarbcitctc üluflngc — - - '
D011
(£. tum JDovMkc,
Äaii. ©ei). Dber.SlegicrumjS'Diatf), uortr. Dlatf) im SReidjSamt bes Innern.
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«Berlin SW., ftöniggvä$erftrafte 70.
Verantwortlich für den Änzei^entheil : O. Schuchardt in Berlin, — Druck von H. S. Hermann tn Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 4. Juli 1892.
Nummer 27.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT
L)ie Anfänge der deutschen
Arbeiterstatistik. Von Dr.
Heinrich Braun.
Ein Wort über soziale Frei-
heit. Von Dr. Georg Simmel.
Soziale Wirtschaftspolitik u.
W irth Schaftsstatistik :
Regelung der Lohnfristen.
Kommunale Besteuerung des Reichs-
fiskus.
Arbeiterwanderungen im Innern
Deutschlands.
Das französische Unternehmerthum
und das Gesetz Bovier-Lapierre.
Die Auswanderung der deutschen
Kolonisten aus Russland nach
Nordamerika.
Arheiterzustände:
\ erhandlungen der Kommission für
Arbeiterstatistik.
Wirkungen der Frauenarbeit in
Fabriken.
Wirkungen verkürzter Arbeitszeit in
der westdeutschen Textilindustrie.
Abdruck sämmtlicher Artikel
Gesundheitliche Nachtheile der
Beschäftigung jugendlicher Ar-
beiter.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Die deutschen Gewerkschaftsorga-
nisationen. Von C. Legien.
GdWerbeinspektion:
Mangelhaftigkeit der Fabrikauf-
sicht durch Polizeibehörden.
Die Ausgaben für die eidgenössi-
schen Fabrikinspektoren.
Arbeiterversicherung:
Altersversicherung der Hausin-
dustriellen.
Unfallversicherung des Handwerks.
Armenwesen:
Die Elberfelder Armenpflege in
Oesterreich.
Vermischtes:
Oeffnung der Londoner Museen
am Sonntag.
Eingesendete Schriften.
ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Anfänge einer deutschen Arbeiterstatistik.
Die Kommission für Arbeiterstatistik ist am 23. Juni
und den beiden folgenden Tagen zum ersten Mal in Thätig-
keit gewesen. Die ihr vorgelegte Aufgabe bestand in der
„Anhörung der Kommission über die für dieselbe zu er-
lassende Geschäftsordnung und in der gutachtlichen
Aeusserung über Erhebungen bezüglich der Arbeitszeit etc.
im Bäcker- und Konditor-, Müllerei- und Handelsgewerbe.“
Die Unselbständigkeit und Abhängigkeit der Kom-
mission, welche einen ihrer wesentlichen Mängel bildet,
tritt auch in dieser Formulirung der Tagesordnung her-
vor. Die Kommission wird „angehört“ und sie darf sich
„gutachtlich“ äussern. Damit ist im Wesentlichen die
Späre ihres Einflusses umschrieben; irgend welche Ver-
pflichtung, die Wünsche und Beschlüsse der Kommission
auszuführen, besteht für die Behörden in gar keiner Weise.
Wenn diese Verhältnisse dazu geeignet sind, die Bedeu-
tung der an manchen Stellen mit optimistischen Hoff-
nungen begrüssten Institution auf das äusserste einzu-
schränken, so sind doch die Thatsache an und für sich
und die begleitenden Umstände, unter denen hier einmal
von Reichswegen eine Befassung mit der Arbeiterstatistik
stattfindet, wichtig genug, um der Thätigkeit der Kom-
mission Aufmerksamkeit zu widmen.
Bekanntlich können nach § 120e Absatz 3 der deut-
schen Gewerbeordnung tür solche Industriezweige, in wel-
chen durch übermässige Arbeit die Gesundheit der Arbeiter
gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der täglichen
Arbeitszeit und der zu gewährenden Pausen seitens des
Bundesraths vorgeschrieben werden.
Der trostlose Zustand unserer offiziellen Statistik und
die daraus entspringende, eine der grössten Gefahren bil-
dende Unwissenheit über unsere sozialen Zustände machte
die Durchführung jener Bestimmung für den ganzen Kreis
der voraussichtlich in Betracht kommenden Gewerbe un-
möglich. Freilich existirten eine Reihe privater Unter-
suchungen, welche in einzelnen Industrien so arge Uebel-
stände nachgewiesen hatten, dass wenigstens hier ein un-
verzügliches Einschreiten geboten gewesen wäre. Allein
die Regierungen Hessen sich durch dieselben zur Anwen-
dung jenes Paragraphen der Gewerbeordnung nicht be-
stimmen, sondern entschieden sich zunächst für die In-
angriffnahme von Untersuchungen über die Frage, für
welche Gewerbe die Bestimmung desselben in Kraft gesetzt
werden solle, und schufen sich zu diesem Zweck in der
Kommission für Arbeiterstatistik das ihnen geeignet er-
scheinende Organ.
Wir wollen hier die von uns wiederholt besprochene1)
Unzulänglichkeit der speziellen Ausgestaltung, welche diese
Kommission erhalten hat, bei Seite lassen. Die erspriess-
liche Wirksamkeit der letzteren wird noch durch ein
anderes Moment sehr ungünstig beeinflusst, welches darauf
hinweist, dass der Weg, welchen die Regierungen zur Er-
langung arbeitsstatistischer Kenntnisse eingeschlagen haben,
von vornherein verfehlt war.
Dieses Moment liegt in der Natur von ad hoc, aus-
schliesslich für einen genau bestimmten Zweck unternom-
menen statistischen Erhebungen.
Freilich wird jede Statistik, wie sie aus Massnahmen
der Gesetzgebung und Verwaltung hervorgeht, regelmässig
auch im Hinblick auf künftige Akte, sei es der Gesetz-
gebung, sei es der Verwaltung, unternommen. Allein es
wird regelmässig eine nachtheilige Wirkung erzeugen, wenn
dies nicht als ein allgemeiner, mit statistischen Erhebun-
gen naturgemäss verbundener Zweck, sondern als eine
bestimmte, von vornherein genau bezeichnete Absicht
sich darstellt. In einem solchen Falle wird nur all-
zu leicht die Methode der Erhebung nicht nach den in
der Statistik erprobten, unparteiischen Grundsätzen, son-
’) Vergl. Sozialpolitisches Centralblatt Bd. 1, S. 113 fg. und
Archiv tür soziale Gesetzgebung und Statistik. Bd. 5, S. 145 fg.
332
SOZIALPOLI TISCHES CENTRALBLATT.
No. 27.
dern in einer dem zu erzielenden Resultat absichtsvoll an-
gepassten Weise gewählt, die Ergebnisse der Untersuchung
werden dadurch in jedem Stadium ihrer Erhebung und
Feststellung direkt und indirekt beeinflusst, und zuletzt end-
lich wird das öffentliche Urtheil in einer solchen Statistik
nicht die zuverlässige Grundlage erblicken können, welche
dieselbe darbieten sollte.
Die fatale Thatsache, dass die Regierungen, statt schon
früher ihr Augenmerk auf eine gründliche und tadelfreie
Sozialstatistik zu richten, erst in einem Augenblick, in
welchem die von ihnen selbst herbeigeführte Gesetzgebung
eine Kenntniss der Arbeiterzustände voraussetzte, zu einer
Statistik ad hoc schritten, hat zu sehr unbefriedigenden
Massnahmen geführt. Von der Kommission für Arbeiter-
statistik haben wir seiner Zeit nachgewiesen, wie wenig
ihre Organisation den Ansprüchen genügt, die nach
dem Vorgang anderer Länder in den Einrichtungen für die
soziale Statistik sich bewährt haben, und wie verfehlt die
Methode ist, durch den von den Regierungen passend be-
fundenen Wahlmodus und die Zusammensetzung der Mit-
glieder dieser Kommission die Garantie der Unabhängigkeit
und gleichzeitig Selbstständigkeit und exekutivische Gewalt
zu verweigern.
Wie die Gestalt der Kommission, so erwecken auch ihre
bisherigen Arbeiten für das unternommene Werk manche Be-
sorgniss. Die Kommission hat zwei Fragebogen für das
Bäcker- und Konditor- und für das Handelsgewerbe fest-
gestellt und die Vorarbeiten für einen dritten, demnächst
definitiv zu erledigenden, auf die Müllerei bezüglichen
Fragebogen geliefert. Diese Fragebogen, deren wesent-
lichen Inhalt die Leser in dem weiter unten folgenden Be-
richt über die Verhandlungen der Kommission finden, sind,
(diese Erhebung, wie sie ist, nun einmal angenommen), zweck-
mässig aufgestellt. Die Fragebogen sollen Unternehmern
wie Arbeitern in gleicher Zahl zur Beantwortung vorge-
legt und ihr Ergebniss vervollständigt, resp. richtiggestellt
werden durch auf die schriftliche Erhebung folgende münd-
liche Vernehmungen wiederum von Unternehmern und Ar-
beitern sowie sonstigen Sachverständigen. Mit Rücksicht
auf den grossen Umfang der betreffenden Gewerbe —
(nach der Berufszählung von 1882 waren im Bäcker- und
Konditorgewerbe 53 178, im Müllergewerbe 40 515 und im
Handelsgewerbe über 155 000 Betriebe mit Gehilfen vor-
handen) — und um den Abschluss der Untersuchungen
nicht allzuweit hinauszuschieben, sollen die Fragebogen
nicht für jeden einzelnen Betrieb, sondern nach dem System
von Stichproben beantwortet werden, und nur in einer
Anzahl grosser, mittlerer und kleiner Städte wie in einer
Reihe ländlicher Ortschaften der verschiedenen Bundes-
staaten für etwa 10 pCt. der Gesammtzahl der Betriebe
zur Vertheilung kommen.
Ganz im Allgemeinen betrachtet könnte man mit dem
in Aussicht genommenen Modus, selbst mit dem der
Stichproben sich einverstanden erklären, wenn nicht gerade
hier Alles von der Durchführung im Einzelnen abhinge.
Nach dieser Seite sind aber zum Theil gar keine, zum Theil
nur unzureichende Garantien geboten. Die mündliche Ver-
nehmung ist gewiss unerlässlich und vermöchte viele Mängel,
die der schriftlichen Erhebung anhaften werden, auszu-
gleichen. Aber in Betreff derselben ist Alles vage und
unbestimmt geblieben. Der § 5 des Regulativs für die
Errichtung der Kommission spricht derselben die Befugniss
zu, Auskunftspersonen zu vernehmen. In der der Kom-
mission vorgelegten Denkschrift heisst es in dieser Hinsicht,
es werde zu erwägen sein, ob im einzelnen Fall die Ver-
nehmungen entweder durch die Kommission selbst oder
durch einen aus ihrer Mitte gewählten Ausschuss oder, auf
Vermittelung des Reichskanzlers, durch die Ortsbehörden
oder besondere von den Bundesregierungen zu beauftragende
Beamte vorgenommen werden sollen. Danach kann es leicht
geschehen, dass die Kommission sich vielleicht darauf be-
schränkt, solche Personen zu vernehmen, die in oder nahe bei
Berlin wohnen, und im übrigen Deutschland untergeordnete
Verwaltungsorgane, vielleicht gar die Polizei die Stelle eines
englischen parlamentarischen Ausschusses bei uns vertreten
wird. Aber angenommen auch die Fragestellung wäre ge-
eigneten Organen anvertraut, so bleibt immer noch die
Schwierigkeit, die aufgerufenen Zeugen zu wahrheits-
gemässen Aussagen zu verhalten. Dazu fehlt jede gesetz-
liche Handhabe, und da sehr häufig Interessenkollisionen
sich ergeben werden, ist es nur zu wahrscheinlich, dass in
vielen Fällen die Aussagen der betheiligten Zeugen an
Vertrauenswürdigkeit es werden fehlen lassen.
Nicht geringeren Schwierigkeiten wird die schriftliche
Erhebung in Folge des Systems der Stichproben begegnen.
Eine sozialstatistische Untersuchung, welche durch das letztere
Verfahren auf der einen Seite erleichtert, aber auf der anderen
wesentlich erschwert wird, bedarf zu ihrer glücklichen Aus-
führung der geeigneten Organe: einmal zur Wahl der um
ihres typischen Charakters willen zum Untersuchungsobjekt
geeigneten Bezirke, dann aber insbesondere innerhalb
der einzelnen Orte zur Wahl derjenigen Personen, an
welche die Fragebogen vertheilt werden sollen. In Bezug
auf die Unternehmer ergeben sich hier kaum Schwierig-
keiten, da die Kommission sich auf Antrag der Abgeord-
neten Hirsch und Hitze dahin geeinigt hat, dass dort, wo
eine Erhebung stattfindet, sämmtliche Betriebe befragt
werden. Dagegen soll, sofern in diesen Betrieben eine
Mehrzahl von Arbeitern vorhanden ist, der Fragebogen :
immer nur einem Arbeiter gegeben werden. Es leuchtet (
ein, dass das System der Stichproben gerade dort leicht n
Schiffbruch leiden kann, wo das Schwergewicht der ganzen
Erhebung ruht: bei der Befragung der Arbeiter. Bisher
ist bei allen arbeitsstatistischen Untersuchungen, mögen
sie von Behörden oder Privaten und in welchem Land
auch immer vorgenommen sein, festgestellt worden, dass f
den Auskünften der Arbeiter eine unvergleichlich höhere j
Verlässlichkeit innewohnt, als denen der Unternehmer. ;
Das ist psychologisch sehr einfach zu erklären. Der Ar-
beiter weiss sich frei von der Schuld an den schlechten ,
Zuständen, die in einem Betrieb herrschen mögen, und
kann uninteressirt darüber sich äussern. Dagegen ist
der Unternehmer an abnorm ungünstigen Verhältnissen in
seinem Etablissement regelmässig direkt schuld, und ihm
mangelt begreiflicher Weise die Unbefangenheit, die
Schäden darzulegen. Auf der anderen Seite ist -von den
Arbeitern alles eher zu fürchten als Schwarzmalerei. Der
Arbeiter ist leider zu sehr gewöhnt an elende Zustände,
als dass er in seiner Beurtheilung mit strengem Massstab
hantirte, dazu kommt, dass viele Arbeiter aus falschver-
standener Scham sich geneigt zeigen, ihre Verhältnisse
I eher in einem besseren Licht zu schildern als diese es ver-
dienen würden, und endlich sind es regelmässig relativ
günstig situirte Arbeiter, die sich an der Statistik betheili-
gen und von ihr erfasst werden. Das Loth der Statistik
dringt nicht allzutief ein in das unergründliche Meer unseres
gesellschaftlichen Elends.
Aus all’ diesen Gründen kann es für die Untersuchun-
gen der Kommission nichts Wichtigeres geben, als sich zu
vergewissern, dass die Arbeiter in zweckmässiger Auswahl
zur Beantwortung der Fragebogen und in der Folge auch
zur mündlichen Vernehmung herangezogen werden. Soll
dies gelingen, so giebt es dazu nur einen Weg. Man ziehe
die Organisationen der Arbeiter zur Mitwirkung heran. In
der der Kommission vorgelegten Denkschrift ist dies auch
als eine Eventualität hingestellt worden; es wird dort von
No. 27.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
333
den „Krankenkassen -Vorständen oder anderen geeigneten
Arbeiterorganisationen“ gesprochen.
Hier berühren wir einen Punkt, an dem sich eine
verkehrte Sozialpolitik auf das augenfälligste offenbart.
Die Verfolgung der gewerkschaftlichen Vereine der Ar-
beiter bestraft sich jetzt an der Regierung selbst Ge-
zwungen, an deren Unterstützung zu appelliren, wenn die
unzulängliche Arbeit der Kommission auch nur in den ihr
aufs engste gesteckten Grenzen nicht unfruchtbar verlaufen
soll, findet sie sich einem, Dank dem ungestümen Eifer,
mit welchem sie diese vortrefflichen Organisationen Jahr-
zehnte lang bedrängte, nunmehr einem ungenügenden,
relativ spärlich entwickelten Vereinsleben der Arbeiter
gegenüber
Kein Zweifel, ob die Regierung sich entschliesst,
eine Arbeitsstatistik in vollem Umfang ins Werk zu
setzen, oder ob sie sich damit begnügt, die Kommission
für Arbeiterstatistik walten zu lassen, zweierlei ist geboten,
den Gewerkschaften muss endlich unbeschränkte Freiheit
der Bewegung gewährt werden, und wäre es aus keinem
anderen Grund, als weil auch die staatliche Arbeitsstatistik
ihrer als Hilfskräfte nicht entbehren kann, und der Arbeits-
statistik selbst muss durch eine grössere Machtvollkommen-
heit, welche den ausführenden Organen in Bezug auf die
schriftliche wie die mündliche Erhebung eingeräumt wird,
eine weitere gleichfalls unerlässliche Garantie des Erfolgs
dargeboten werden.
Noch eine Betrachtung drängt sich angesichts der un-
zulänglichen und in mehr als einer Hinsicht unbefriedigen-
den Anfänge einer deutschen Arbeiterstatistik auf. Wie
die Arbeitergesetzgebung ihre eigentliche Quelle in der
Arbeiterbewegung hat und mit dem Fortschritt der letzteren
selber fortschreitet, so wird es an unserem Beispiel klar,
dass auch die amtliche deutsche Arbeiterstatistik veranlasst
ist durch die aus den Kreisen der Arbeiter hervorgegangenen
statistischen Untersuchungen. Insbesondere haben die
Enquete Bebel’s über die Lage der Bäcker und die Unter-
suchung Käppler’s über die Zustände in der Müllerei die Ver-
anlassung geboten, dass der Kommission für Arbeiterstatistik
in erster Linie gerade die Erhebungen über die Bäcker und
Müller aufgetragen worden sind. Und diese Statistik
zielt in weiterer Konsequenz auf eine Verstärkung
des Arbeiterschutzes ab. Bei dieser sinnenfälligen Sach-
lage ist nicht zu verstehen, dass die leitenden Persön-
lichkeiten in der Arbeiterbewegung sich nicht dazu
bereit finden, die arbeitsstatistische Arbeit, welche in den
Kreisen der Arbeiter so fleissig und in manchen
Fällen mit anerkennenswerthen Erfolgen betrieben wird, zu
organ isiren. Die von Arbeitern unternommenen Statisti-
ken leiden in Folge des Mangels einer einheitlichen, syste-
matischen und methodischen Leitung an zahlreichen Ge-
brechen, die wohl vermieden werden könnten, wenn ein
centrales statistisches Bureau in der Art einzelner ameri-
kanischer Aemter geschaffen würde welches die isolirt thäti-
gen und in der Statistik und Nationalökonomie zu wenig ge-
schulten Kräfte leitete. Bei der ansehnlichen Zahl wissen-
schaftlich gebildeter Statistiker, die ihre Kräfte der Ar-
beiterbewegung widmen, bei der ausserordentlich grossen
Zahl eminent begabter Hilfskräfte, welche unter den Ar-
beitern vorhanden sind und endlich bei den grossen materiellen
Mitteln, welche den organisirten Arbeitern zur Verfügung
stehen, wäre es leicht, ein musterhaftes Bureau ins
1 Leben zu rufen. Gewiss, ein solches würde nicht das
leisten können, was die staatliche Statistik, falls für sie alle
verfügbaren Mittel in Bewegung gesetzt wurden, vermöchte.
Aber es hiesse das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn
diese Erwägung zum Hinderniss für die Errichtung eines
solchen Bureaus würde. In Wirklichkeit könnte ein solches
aus dem Schooss der Arbeiterbewegung hervorgegangenes
sozialstatistisches Bureau der Arbeiterstatistik sehr werth-
volle Dienste leisten. Es würde aber gleichzeitig zu einem
wirksamen Mittel, die träge Entwicklung der Arbeiter-
schutzgesetzgebung zu befördern und schlösse eine nach
allen Seiten sich geltend machende, überaus heilsame
agitatorische Wirkung in sich. Wenn man paradox sein
will, könnte man sagen, ein solches Bureau würde in
gewissem Sinne mehr leisten als ein staatliches. Denn
nicht nur leistete es all das, was wir eben erwähnten, es
würde auch unausweichlich den Staat zwingen, selbst ein
solches Amt einzurichten, ein desto vollkommeneres, je
vollkommener die Leistungen der Arbeiter wären, genau
so wie ihre tastenden statistischen Leistungen zu den unzu-
länglichen Anfängen einer Arbeiterstatistik in der Reichs-
kommission geführt haben.
In unserem Vorschläge liegt für die leitenden Per-
sonen der Arbeiterbewegung eine Aufgabe vor, die im
ernstesten Sinne positiv und nützlich wirken und ein all-
seitig empfundenes, allgemeines Bedürfniss befriedigte. Es
ist merkwürdig, dass dies noch nicht als eine Verpflichtung
empfunden wurde, obwohl Kongress um Kongress die For-
derung immer von Neuem erhob. Würde die Erfüllung
derselben endlich erfolgen, dann böten die Anfänge der
deutschen Arbeiterstatistik erfreulichere Aussichten, als
die Reichskommission sie zu eröffnen vermag.
Berlin. Heinrich Braun.
Ein Wort über soziale Freiheit.
Gelegentlich des französischen Gesetzentwurfes, der
es den Unternehmern verbietet, Arbeiter auf Grund ihrer
Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft zu entlassen, entrollt
Herr Leo Frankel in No. 24 dieser Zeitschrift die Frage
nach dem Rechte der persönlichen Freiheit im Abschluss
des Arbeitsvertrages. Trotzdem diese Frage eine eminent
praktische geworden ist — mehr als sie je vor oder seit
dem Uebergange zur Gewerbefreiheit war — vielleicht aber
gerade weil ihre praktische Bedeutung so gross ist, mag
eine theoretische Erörterung der Prinzipien, aus denen sie
beantwortet werden kann, nicht ganz nutzlos sein.
Nachdem das Gesetz den Arbeitern die unbeschränkte
„Freiheit“ gegeben hat, sich in Syndikaten zusammenzu-
schliessen, machen die Unternehmer von ihrer „Freiheit“
Gebrauch, die Mitglieder solcher Syndikate zu entlassen,
resp. nicht anzustellen. Gegen den Antrag, dieses Ver-
fahren unter Strafe zu stellen, erhoben die Unternehmer
Protest im Namen der Freiheit, die ihnen gestatten müsste,
mit wem sie wollten Verträge zu schliessen oder sie zu
kündigen. Herr Frankel vergleicht das Verfahren der
Unternehmer mit der Erzwingung einer bestimmten poli-
tischen Wahl, indem es nach dem gleichen Prinzip doch
dem Arbeitgeber freistehen müsste, die Arbeiter zu ent-
lassen, die in einem dem seinen entgegengesetzten Sinne
wählten; und ebenso wie dieser Zwang unter der Maske
der Freiheit gesetzlich verboten sei, ebenso, meint er, müsse
es auch jener sein. Nicht ganz mit Recht, wie mir scheint.
Wäre nämlich das Wählen wirklich ein blosses Recht des
Einzelnen, so wäre nicht abzusehen, weshalb der Unter-
nehmer nicht den Verzicht des Arbeiters auf dasselbe
ebenso zur Bedingung seines Vertrages mit ihm machen
dürfte, wie er es bezüglich anderer Rechte thut. Es ist
zweifellos ein „Recht“ des Einzelnen, sich zu betrinken
oder Vormittags spazieren zu gehen; dennoch sagt der
334
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 27.
Unternehmer: einen Arbeiter, der nicht auf diese Rechte
verzichtet, stelle ich nicht an — und ist zweifellos dazu
berechtigt. Und genau so könnte er es auch mit dem
Rechte der politischen Wahl halten. Allein dieses Recht
ist zugleich oder vor allem eine Pflicht; der Staat hat ein
Interesse daran, dass jeder nach seiner Ueberzeugung
wähle, und legt dies jedem als, wenigstens moralische,
Pflicht auf, deren irgend wie gestaltete Beeinträchtigung
er deshalb bestraft. Denn es wäre ein Widerspruch der
staatlichen Macht gegen sich selbst, zu gestatten, dass
jemand an derjenigen Handlung gehindert werde, die sie
selbst von ihm verlangt. Auf jedes Recht, das wirklich
blos ein Recht ist, darf man verzichten und es als Gegen-
leistung in den Kaut geben, denn darum ist es ja eben ein
Recht, d. h. etwas, worüber ich Herr bin. Erst sobald in
das Recht sich Pflichten mischen, hört die Freiheit der
Verfügung auf; darum erklärt auch unser Recht einen \ er-
trag, nach dem sich jemand zum Sklaven eines anderen er-
klärt, für null und nichtig, weil der Sklave nicht nur an
der Ausübung seiner Rechte gehindert ist — das kann er
freiwillig aut sich nehmen — sondern auch an der Aus-
übung derjenigen Pflichten, die die Allgemeinheit von ihm
verlangt. Wenn der Staat also den Arbeiter verhindert,
auf sein Recht, einer Gewerkschatt beizutreten, zu ver-
zichten — und er thut dies, indem er einen derartigen Ver-
trag als für den Arbeitgeber strafbar erklärt — so kann er
dies nur von dem Gesichtspunkt aus, dass jener Beitritt
kein blosses Recht im gewöhnlichen Sinne, sondern eine
Pflicht ist.
An diesem Punkt öffnet sich ein Blick, in dem die
gesammte Sozialpolitik erst von einem einheitlichen Funda-
ment getragen erscheint. Die Erhöhung des Lebensniveaus
ist nicht nur ein individuelles Recht des Arbeiters, sondern
seine soziale Pflicht; er darf nicht nur für sie kämpfen,
er soll für sie kämpfen. Erst von hier gesehen sind die
Waffen, die man ihm für diesen Kampf in die Hand giebt,
wie das Koalitionsrecht, nicht Gunst und Gnade, sondern
die logische Konsequenz davon, dass wenn die Gesammt-
heit jemandem eine Pflicht auferlegt, sie ihm auch die
Mittel zu ihrer Erfüllung gewähren muss. Je mehr die
Irrthümlichkeit der individualistischen Weltanschauung er-
kannt wird; je tiefer man in die enge Wechselwirkung aller
Sozialelemente hineinblickt, die an jede Handlung eines
Jeden irgend welche Folgen tür die Gesammtheit knüpft,
um so lebhafter wird das Interesse der Gesammtheit auch
an den freien Handlungen der Individuen und um so mehr
also fällt jedes Dürfen unter den Gesichtspunkt des Sollens.
Diese Ausdehnung des Pflichtbegriffs giebt dem Leben des
Einzelnen eine ungeahnte Weihe, indem sie jede seiner
Handlungen von den Beziehungen zum grossen Ganzen ge-
tragen sein und seine individuellste That als integrirenden
Theil eines unermesslichen sozialen Lebens erkennen lässt.
Nun wird erst der eigentliche Sinn davon verständlich,
dass der Staat die Freiheit eines Jeden schützt: er hat dies
Interesse, wenn die Freiheit die Bedingung der Pflicht-
erfüllung gegen die Gesellschaft ist. Darum schützt er
diese Freiheit auch nicht unbedingt, sondern giebt in all
den Fällen zu, dass der Einzelne seine Freiheit verkauft
oder unterdrücken lässt, in denen die Bedingtheit seiner
Pflichterfüllung durch diese Freiheit noch nicht erkannt
ist. Die französischen Befürworter jenes Antrags würden
es nicht für strafwürdig halten wenn ein Unternehmer er-
klärt: ich stelle keine Juden, oder, ich stelle keine Christen
an — weil ihnen die Zugehörigkeit zu einer Kirche keine
Pflicht ist, sondern nur eine Freiheit schlechthin und des-
halb keinen Schutz seitens des Staates fordern kann.
Hier aber zeigt es sich, dass alles formale Recht, alle
logische Prinzipienmässigkeit sehr bald an eine Grenze der
Anwendbarkeit kommt, wo nur ein materieller Willensakt,
ein logisch unbegründbares Sic volo die Gestaltung der
Verhältnisse bestimmt. Wenn wir schon jedem das Recht
auf Pflichterfüllung zusprechen und die Freiheit jedes
andern insoweit beschränken: so folgt doch selbst aus
diesem allgemeinen Prinzip keineswegs mit gleicher Sicher-
heit, welches denn nun die realen Pflichten des Einzelnen
sind. Wir haben vorausgesetzt, dass die Erhöhung seines
Lebensniveaus und die Mittel derselben zu erstreben die
Pflicht des Arbeiters sei und dass deshalb dieser gegenüber
die Freiheit des Unternehmers ihre Grenze fände. Wie
aber wenn man dies leugnet? Wenn man diese Bestrebung
nicht für eine Pflicht, sondern für ein blosses Recht im
subjektiven Sinne, eine Freiheit schlechthin erklärt, ver-
gleichbar dem religiösen Bekenntniss? Man glaube nicht,
dass diese individualistische Ansicht logisch oder prinzipiell
zu widerlegen ist. Denn dazu bedürfte es für sie und ihre
Gegnerin gemeinsam anerkannter Obersätze — die sie nicht
haben; jede kann ihr Recht der andern gegenüber nur be-
weisen durch Berufung auf Prinzipien, deren Gültigkeit
diese ja eben ableugnet. Man gebe sich keiner Illusion
darüber hin: die prinzipielle Festsetzung des Maasses von
Freiheit und sozialer Verpflichtung der Einzelnen ist nicht
aus irgend welchen Rechtsprinzipien, ist nicht als begriff-
lich nothwendig zu demonstriren. Die Grenze zwischen
Pflicht und Freiheit legt jeder an den Punkt, an den sitt-
licher Charakter und persönliches Interesse ihn weisen, und ,
erst wenn sie gesetzt ist, kann logische Ueberlegung die
Einzelheiten gesetzlicher Bestimmung von ihr ableiten.
Als das Todesurtheil Ludwigs XVI. gefällt werden sollte, ;
verlangten einzelne gemässigtere Stimmen, der Konvent
solle auf den Richtertitel verzichten und nur „aus Gründen
des Staatswohles“ entscheiden. Dem lag das richtige Ge- '
fühl zu Grunde, dass in den letzten und höchsten Fragen
alle formal-rechtliche Deduktion versagt und die materielle
Bestimmung über das, was gut und erforderlich ist, an ihre
Stelle zu treten hat. Wenn heute den Unternehmern das I
Recht genommen wird, frei zu bestimmen, aus welchen |
Motiven sie ihre Arbeiter anstellen oder entlassen wollen, j
so habe man den Muth, dies einfach „aus Gründen des ;
Staatswohles“ zu verfügen, ohne sich eines streng logischen ;
Rechtes dazu anzumassen. Denn dieses hätte man nur
unter der Voraussetzung, dass die so gewonnene Macht und
Lebenserhöhung der Arbeiter deren Pflicht ist; ob sie dies
aber ist, ist nicht wieder logisch zu deduziren, sondern ist
vielmehr der letzte, nur durch den sittlichen Willen zu
fixirende Punkt, der oder dessen Verneinung jeder Deduktion
in sozialen Dingen erst zum Grunde liegt.
Um uns aber für die Grenzsetzung zwischen Recht
und Pflicht einen möglichst ungetrübten Blick zu bewahren,
thun wir gut, uns immer vor Augen zu halten, dass auch
die persönliche Freiheit ein aus bestimmten geschichtlichen
Gründen entstandenes Ideal ist. Trotz aller Heiligkeit, von
der sie umgeben, trotz alles Enthusiasmus, der daran ge-
knüpft ist, kann man doch überzeugt sein, dass sie nur ein
Mittel zu bestimmten sozialen und persönlichen Zwecken
ist und vielleicht durch ganz andere Ideale abgelöst werden
wird, wenn diese sich als geeignetere Mittel zu jenen
Zwecken heraussteilen würden. Das theologische Interesse
an der menschlichen Freiheit, die den Urheber der Welt
von der Verantwortung für die Sünde und das Elend in ihr
entlasten sollte; die Spekulationen der Philosophen über die
metaphysische, der Kausalverknüpfung der Dinge entzogene
Seele; endlich das Interesse der herrschenden Klassen, für
die die Freiheit eben die Bedingung ihrer Herrschaftsübung
war und die zugleich die furchtbare Macht besitzen, was
für sie vortheilhaft ist, zum sittlichen Ideal für die Gesammt-
heit auszuprägen — das alles hat sich vereinigt, um die
No. 27.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
335
Freiheit des Einzelnen, als absolutes Ideal, jenseits aller
relativen Werthe zu stellen und ihre Maximisirung zum
Maassstab alles sonst Erreichten zu machen. Es wird
niemand den Werth leugnen, den diese Idealisirung der
Freiheit für die innere und äussere Geschichte der euro-
päischen Völker gehabt hat, und niemand kann sagen,
welche Rolle ihr in der weiteren Kulturentwicklung noch
Vorbehalten ist. Aber die Einsicht in die Ursachen dieser
Idealisirung ist selbst eine Befreiung vom Dogma. Mit ihr
erscheint es wenigstens möglich, andere Ideale neben, über
das der persönlichen Freiheit zu setzen; denn überall wo
man zu erkennen begann, dass ein Ideal ein blos historisch
gewordenes ist, war dies ein Anzeichen, dass es ein
blos historisches zu werden begann. So ist vielleicht
die innere Lockerung des Freiheitsideales auch praktisch
wichtig, damit man nicht mehr mit der dogmatischen Be-
rufung auf dasselbe praktische Fragen zu entscheiden
meine. Vielleicht erleichtert das den Appell an die höchsten
sozialen Werthe, zu denen auch die Freiheit nur ein
historischer Durchgangspunkt ist und die in letzter Instanz
die Grenze zwischen Rechten und Pflichten des Einzelnen
zu setzen haben — nicht nach dem hier versagenden
Schema eines formalen Rechtes, sondern aus den Gründen,
aus denen überhaupt jedes Recht erst quillt — „aus Gründen
des Staatswohles“.
Berlin Georg Simmel.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Regelung der Lohnfristen. Der preussische Gewerberath
für den Regierungsbezirk Oppeln tlieilt in seinem neuen
Jahresbericht für 1891 S. 111) folgende Beobachtungen und Vor-
schläge zur Regelung der Lohnfristen in seinem Bezirke mit,
die auch für das Allgemeine von Wichtigkeit sind: „Die Ein-
führung kürzerer Löhnungsfristen wird durch das zeitraubende
Abrechnungswesen, welches die Akkordarbeit im Gefolge hat,
erschwert. Auf den meisten Werken ist es deshalb immer noch
üblich monatlich, und zwar um die Mitte des Monats für den
voraufgegangenen Monat, zu löhnen und am Ende des Monats
eine Vorschusszahlung auf den in dem abgelaufenen Monat ver-
dienten Lohn zu gewähren. Vielfach sincl zwei und drei der-
artige Vorschusszahlungen eingeführt worden. Eine vierwöchent-
liche Löhnung mit einmaliger Vorschusszahlung lässt sich meines
Erachtens mit Rücksicht auf die Gewohnheiten der hiesigen
Bevölkerung nicht als zweckmässig und den Bedürfnissen
entsprechend bezeichnen. Es hat nicht nur für den oberschlesi-
schen Arbeiter, sondern auch für andere Menschen Schwierig-
keiten, die ihnen für einen grösseren Zeitraum zufliessenden
Einnahmen haushälterisch zu verwerthen. Achttägige Löhnungen
entsprechen gleichfalls nicht dem Interesse des Arbeiters, und
zwar aus dem Grunde, weil er dann zu keiner Zeit so viel Geld
in die Hände bekommt, dass er die monatliche Miethe oder in
grösseren Zeiträumen wiederkehrende Ausgaben für Beschaf-
fung von Kleidungsstücken u. dergl.) ohne Schwierigkeit leisten
kann, wenn er nicht gerade besonders sparsam ist. Hingegen
entspricht es den wirthschaftlichen Bedürfnissen und Gepflogen-
heiten des Arbeiters, wenn er einmal monatlich eine grössere
Summe Geldes und 2 — 3 mal einen kleineren Betrag, der für die
Beschaffung der täglichen Bedürfnisse ausreicht, in die Hände
bekommt. Monatliche Löhnung mit 2 — 3 Vorschuss-
zahlungen ist deshalb meines Erachtens diejenige Löh-
nungsart, die den Interessen der Arbeiter am Meisten
entspricht. Die vierwöchentliche Abrechnung erspart den
Industriellen nicht nur Arbeit, sondern sie ist auch ein ge-
lindes Hinderniss für eine übertriebene Freizügigkeit.
Wenn es auch im Interesse des Arbeiters liegt, dass ihm die
Möglichkeit gesichert bleibt, seine Arbeitskraft möglichst unge-
hindert da zu verwerthen, wo sie ihm am besten bezahlt wird,
so hat doch der häufige Uebergang von einem Werke zum
andern nicht nur wirthschaftliche Nachtheile für den Arbeiter,
sondern er ist auch hinderlich für die Entwickelung eines guten
Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeiter und geeignet,
Unfälle herbeizuführen, da die Unfallgefahr für einen Arbeiter
in einem Betriebe, wo er so zu sagen zu Hause ist, weniger
gross ist, als in einem fremden.“ Ob die Arbeiter selbst die
letzten, angeblich „in ihrem Interesse“ gemachten Ausführungen
so ohne Weiteres unterschreiben, möchten wir einigermassen
bezweifeln.
Kommunale Besteuerung des Reichsfiskus. Im Reichs-
schatzamt ist man gegenwärtig mit der Ausarbeitung eines
Gesetzentwurfs betreffend die kommunale Besteuerung des
Reichsfiskus beschäftigt. Derselbe wird namentlich für
ärmere Gemeinden von Bedeutung sein. Für diese bedeutete
die Freilassung der Reichsanstalten (Postämter, Marine-
werften u. s. w.) nicht selten die Freilassung der reichsten
Gemeindeangehörigen zu Ungunsten der ärmeren. Die
Kommunalzuschläge haben ihre drückende Höhe _ unter
Anderem auch aus dem Grunde erreicht, weil noch immer
zu viel Befreiungen juristischer Personen bestehen. Das
preussische Kommunalsteuer-Nothgesetz, welches in dieser
Beziehung bereits einen Fortschritt bezeichnete, hat doch
die Steuerpflicht des Reichsfiskus nicht ausgesprochen. Die
preussische Regierung geht von der Ansicht aus, dass das
Reich durch das Gesetz vom 25. Mai 1873 nur die Erlaub-
niss zur Besteuerung der in seinem Eigenthum befindlichen
Gegenstände, und zwar entsprechend dem landesfiska-
lischen, gegeben habe, und dass im Uebrigen ohne eine
solche Erlaubniss die Landesgesetzgebung den Reichsfiskus
nicht steuerpflichtig machen könne. Diese Auffassung ist
zwar nicht richtig. “ Anstalten des Reichsfiskus unterliegen
an sich der Steuergesetzgebung des Landes, in _ welchem
sie sich befinden. Das Reichsgesetz von 1873 giebt nicht
eine Erlaubniss zu einer ausnahmsweisen Besteuerung, son-
dern will nur eine ausnahmsweise Grenze der Besteuerung
feststellen. Im Uebrigen hat jede Landesgesetzgebung an
sich das Recht, innerhalb dieser Grenzen die Materie zu
regeln. Dieses Recht ist freilich ein Grund mehr, das Zu-
standekommen eines allgemeinen Reichsgesetzes über diese
nicht unwichtige Materie zu wünschen.
Arbeiterwanderungen im Innern Deutschlands. Zur Sta-
tistik und Beschreibung der sozialen Wanderungen im Innern
Deutschlands giebt der Gewerberath für die Provinz Posen m
seinem neuen Jahresberichte für 1891 einen bemerkenswerthen
Beitrag. Er schreibt: „Der Abzug der Arbeiter nach dem Westen
ist noch immer ein bedeutender, angeblich Industrie und Land-
wirtschaft der östlichen Provinzen schwer schädigender. Er-
fahrungsmässig ist der Zuzug ausländischer, russischer unci
theilweise galizischer Arbeitskräfte _ nicht annähernd im Stande
gewesen, jene Schädigung auszugleichen. Insbesondere aus dem
Kreise Schildberg wird hierüber Klage geführt. An Stelle der
von dort nach Sachsen gegangenen 2480 inländischen Arbeiter
sind nur 150 russische daselbst eingezogen, von denen 97 aus
verschiedenen Gründen im Laufe der Zeit wieder entlassen
wurden. Im Kreise Lissa betrug der Abgang einheimischer Ar-
beitskräfte durch Sachsengängerei 174, der Zuzug aus Russland
und Oesterreich (Galizien) dagegen nur 118. Im Jahresberichte
des landwirthschaftlichen Provinzialvereins für die Provinz Posen
wird der Abgang durch Sachsengängerei aus der Provinz Posen
zusammen auf etwa 15 000 Personen geschätzt. Wenngleich
neuerdings im Osten theilweise die Löhne nicht wesentlich hinter
den im Westen gezahlten zurückstehen (insbesondere in Anbe-
tracht der grösseren Billigkeit der Lebensmittel im hiesigen
Bezirk), wird es gleichwohl schwer halten, die leider einmal ans
Wandern gewöhnte und durch den Reiz des Neuen angezogene
Bevölkerung an eine grössere Sesshaftigkeit zurück zu gewöhnen.
Eine Erschwerung der notorischen Verführung der Arbeiter
durch die im Lande umherziehenden Agenten, Ausweisung der
Letzteren, gesetzliche Massnahmen zur Erschwerung des Kon-
traktbruchs und dergleichen staatliche Mittel würden vielleicht
eine Besserung im Laufe der Zeit herbeizuführen geeignet sein,
fürs Erste aber gegenüber der eingewurzelten alten Gewohnheit
sich als machtlos" erweisen.“ Im Anschluss an diese Notiz ist
nur sehr zu bedauern, dass der Aufsichtsbeamte nicht positivere
Angaben über die Lohnhöhe, die Umstände, welche die Arbeiter
zum „Kontraktbruch“ treiben, sowie über die „notorische Ver-
führung durch Agenten“ macht. Mindestens die Radikalmass-
regel der „Ausweisung“ solcher Agenten müsste doch etwas
mehr begründet werden, als durch blosse Anschuldigungen.
Uebrigens macht der preussische Gewerberath für die Regierungs-
bezirke Breslau und Liegnitz bezüglich der Löhne ebenfalls
in seinem neuen Berichte für 1891 eine Mittheilung, welche
gerade umgekehrt lautet, wie diejenige des Posener Beamten.
Er schreibt nämlich: „Eine Erhöhung der Arbeitslöhne hat nur
in wenigen Industriezweigen, und auch da nur ortsweise statt-
gefunden. Im Allgemeinen stehen die Löhne in kleinen
und abgelegenen Orten unverhältnissmässig niedrig
gegenüber denen in grösseren Städten, und wird da-
durch der Zug der Arbeiter nach grösseren Städten
begünstigt.“ Solche Widersprüche gehören zu den herge-
brachten Eigenthümlichkeiten des preussischen Berichtsbandes.
336
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 27.
Das französische IJnternehmerthnm und das Gesetz
Bovier-Lapierre. Es war vorauszusehen, dass das Unter-
nehmerthum alles aufbieten werde, um das von der Kammer
votirte Gesetz, das die Arbeitgeber, die sich der Ausübung
der vom Syndikatsgesetze vom 21. März 1884 den Arbeitern
zuerkannten Rechte entgegenstemmen, mit Gefängniss oder
Geldstrafe belegt, im Senate, dem es gegenwärtig vorliegt,
zu Falle zu bringen. Den Anfang machte die Pariser
Handelskammer. Ihr folgte das Gross der übrigen Handels-
kammern sowie der Unternehmersyndikate. Wir sind weit
entfernt davon, ihnen das Recht absprechen zu wollen,
gegen ein Gesetz zu agitiren, das ihre Machtvollkommenheit
beschränkt, so sehr wir auch dasselbe im Interesse einer
friedlichen sozialen Entwickelung befürworten, Was man
aber billiger Weise verlangen kann, ist, dass sie dabei
ebenso offen und ehrlich zu Werke gehen, wie dies die
Arbeiter thun. Diesen fällt es nie und nirgends im Kampfe
um ihre Interessen ein, die Unternehmer vorzuschieben,
während das Unternehmerthum in solchen Fällen stets das
Interesse der Arbeiterschaft im Muxrde führt und von Frei-
heit, Eintracht und Brüderlichkeit spricht.
In der Versammlung, welche die Vertreter der Unter-
nehmerverbände eigens zum Zwecke ihrer Stellungnahme
gegen das Gesetz Bovier-Lapierre vor Kurzem in Paris ab-
hielten, haben sie nämlich folgenden Beschluss gefasst:
„Die Versammlung der Handels- und (Unternehmer-)
Syndikatskammern Frankreichs, sich dem Anträge der
Pariser Handelskammer anschliessend und ebenso besorgt
um die Interessen der Arbeiter wie um die der
Arbeitgeber, protestirt energisch gegen das Gesetz
Bovier-Lapierre als eine Verletzung der Freiheit, des
sozialen Friedens und des Geistes der Eintracht
und Brüderlichkeit, der unter allen Arbeitern, auf
welcher Stufe der sozialen Leiter sie auch stehen mögen,
herrschen muss und verlangt vom Senate, dass es dieses
Gesetz, dessen Hauptwirkung darin bestände, die grösste
Unordnung und Zerrüttung in unsere Nationalindustrie zu
bringen, aufs Neue ablehnen.“
Gegenüber diesem ablehnenden Beschluss der Unter-
nehmerverbände lässt sich zwar auch auf zustimmende Be-
schlüsse anderer und zwar massgebenderer weil unpartei-
ischer Körperschaften hinweisen. So hat der Generalrath
des Seinedepartements in seiner Eröffnungssitzung vom
20. Juni 1. J. einen Dringlichkeitsantrag angenommen, welcher
verlangt, dass das Parlament das Bovier-Lapierre’sche Ge-
setz, „bestimmt dem Syndikatsgesetze von 1884 seine Trag-
weite und Sanktion zu geben“, in möglichster Bälde votire.
Es steht jedoch zu befürchten, dass wenn nicht von allen
Seiten solche Beschlüsse kommen, so dass sie die öffentliche
Meinung stark beeinflussen, der Senat sich auch diesmal
Eins mit dem Unternehmerthum fühlen und den Entwurf
abermals zurückweisen wird. Es wäre denn, dass er den
Unternehmerverbänden damit ein Schnippchen schlüge, in-
dem er sich in Wirklichkeit „ebenso besorgt um die Inter-
essen der Arbeiter wie um die der Arbeitgeber“ zeigte und
eine „Verletzung der Freiheit sowie des sozialen Friedens“
hintanzuhalten suchte.
Die Auswanderung der deutschen Kolonisten aus
Russland nach Nordamerika. Die Ssaratower Blätter — das
Amtsblatt („Ssaratowskija Gubernskija Wedomosti“) und
der „Ssaratowskij Listok“ — bringen interessante Mittheilun-
gen über die Auswanderung der Deutschen aus Russland.
Die Kolonisten, sagt das Amtsblatt, verkaufen für einen
Spottpreis ihr Hab und Gut und reisen in die Vereinigten
Staaten ab. Mehrere Familien, welche früher nach Amerika
übersiedelt sind, fordern ihre Landsleute auf, dasselbe zu
thun. Für die Reise sind 100—140 Rubel per Mann nöthig
und „offenbar können viele Kolonisten solche immense (?)
Mittel nicht aufbringen“ und müssen in Russland bleiben.
Alle wohlhabenden Kolonisten werden aber wahrscheinlich
bald nach Amerika übersiedeln. In diesem Jahre reisen
30 Familien (120 — 150 Seelen) fort. Zur Ansiedelung werden
vornehmlich die Staaten Kansas und Washington gewählt.
Die Emigrationsbewegung, berichtet der Ssaratowskij
Listok, ergreift immer stärker und stärker die deutsche
Bevölkerung der Gouvernements Ssaratow und Ssamara.
Täglich sieht man in Ssaratow durchreisende Auswanderer.
Der Berichterstatter des genannten Blattes sagt, dass die
ihm begegnenden Auswanderer unentgeltliche Schiffskarten
mit sich führten, welche sie von ihren Verwandten bekom-
men hatten. Ihr ganzes Gepäck bestand aus 2 — 3 „Säck-
chen“ auf je eine Familie.
Noch früher berichteten russische Blätter, dass viele
Deutsche aus den Gouvernements Ssaratow und Ssamara
durch den Nothstand gezwungen worden sind, für den
Winter zu ihren Landsleuten in den südrussischen Gouverne-
ments Cherson und Taurien überzusiedeln, um sich bei
ihnen verpflegen zu lassen.
Arbeiterzustände.
Verhandlungen der Kommission für Arbeiterstatistik.
Die Kommission für Arbeiterstatistik erledigte, wie wir
dem Reichs-Anzeiger entnehmen, in ihrer Sitzung vom 23. d. M.
zunächst den ersten Gegenstand der Tagesordnung, in dem
sie sich über die Geschäftsordnung äusserte. Der § 8 des Re-
gulativs vom 1. April schreibt vor,- dass die Geschäftsordnung
zunächst vorläufig, demnächst nach Anhörung der Kommission
endgültig vom Reichskanzler zu erlassen ist. Die der Kommission
mitgeth eilte vorläufige Geschäftsordnung fand in allen wesent-
lichen Punkten Zustimmung. Es wurde anerkannt, dass diese
sich durchgehends innerhalb der durch das Regulativ gezogenen
Grenzen halte.
Von einer Seite wurde angeregt, in die Geschäftsordnung
eine Bestimmung aufzunehmen, nach welcher die Kommission
in ihrer Mehrheit den Zusammentritt der Kommission zu be-
schliessen befugt sein sollte Seitens des Vorsitzenden wurde
demgegenüber geltend gemacht, dass es den Mitgliedern trei
stände, Anträge auf Einberufung der Kommission zu stellen,
dass aber ein Zusammentreten der Kommission nach dem Re-
gulativ nur auf Anordnung oder mit Genehmigung des Reichs-
kanzlers zulässig sei. Diese Bestimmung sei selbstredend auch
für die der Kommission angehörenden Mitglieder des Reichstags
bindend, zumal ihre Wahl erfolgt sei, ohne dass gegen das Re-
gulativ irgend ein Einwand erhoben worden sei.
Des weiteren wurde die Frage erörtert, ob und in wel-
chem LTmfange der Kommission oder einzelnen Mitgliedern die
Befugniss zustände, Anträge auf Vornahme neuer Erhebungen
zu stellen. In Uebereinstimmung mit den dahin gehenden Aus-
führungen des Vorsitzenden erkannte die Kommission an, dass
solche Anträge zulässig wären, sich jedoch innerhalb der durch
das Regulativ für die Zuständigkeit der Kommission gezogenen
Grenzen zu halten haben würden.
Die Frage, ob nicht für die Kommission ein besonderes
Bureau einzurichten wäre, fand ihre Erledigung durch die Mit-
theilung des Vorsitzenden, dass die bureaumässigen Arbeiten
von Beamten des Reichsamts des Innern, die statistischen
Arbeiten im Kaiserlichen Statistischen Amt erledigt werden
würden
Hinsichtlich der Stellung der nach § 5 des Regulativs zu
den Sitzungen der Kommission zuzuziehenden Arbeitgeber und
Arbeiter erklärte sich die Kommission nach längerer Verhand-
lung in ihrer Majorität darin einverstanden, dass diesen nach
der Fassung des Regulativs nur berathende Stimmen, also nicht
das Recht der selbständigen Antragstellung zustehe
Zu § 9 der Geschäftsordnung wurde von einer Seite die
Aufnahme einer Bestimmung beantragt, wonach die Kommission
oder der Vorsitzende befugt sein sollte, Mitglieder der Kom-
mission mit Erledigung einzelner ihr obliegenden Geschäfte zu
beauftragen. Dieser Vorschlag fand die Zustimmung der Kom-
mission. .... r-
Bezüglich der von einigen Mitgliedern angeregten frage
der Oeffentlichkeit der Verhandlungen bemerkte der Vorsitzende,
dass es keinem Kommissionsmitgliede verwehrt wäre, Mitthei-
lungen über die Verhandlungen der Kommission nach aussen
gelangen zu lassen Allerdings aber müsste der "V orbehalt ge-
macht werden, dass in Fällen eines zwingenden sachlichen Be-
dürfnisses den Mitgliedern der Kommission die Verpflichtung
der Verschwiegenheit auferlegt werden könnte. Diese Auffas-
sung fand die Zustimmung der Kommission.
Zu § 12 des Regulativs wurde von einer Seite der Wunsch
geäussert, dass der Reichstag von den Verhandlungen der Kom-
mission Mittheilung erhalten möchte.
Bei der Berathung des zweiten Gegenstandes der 1 ages-
Ordnung: „gutachtliche Aeusserung der Kommission über die in
Aussicht genommenen Erhebungen in Betreff der Arbeitszeit im
Bäckerei- und Konditoreigewerbe, im Müllerei- und im Handels-
gewerbe“ wurde zunächst die prinzipielle Frage erörtert, in
welcher Weise die statistischen Erhebungen herbeigeführt
werden sollten. Die Kommission entschied sich für die Auf-
stellung von Fragebogen, welche sowohl an Arbeitgeber wie an
Arbeitnehmer zur Beantwortung gegeben werden sollten, und
unterzog demnächst den ihr vorgelegten Entwurf eines das
Bäckerei- und Konditoreigewerbe betreffenden Fragebogens
einer eingehenden Prüfung. Die Hineinbeziehung auch des
Konditoreigewerbes in die" in Aussicht genommene Erhebung
hielt die Kommission für zweckmässig, zumal dieses Gewerbe
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No. 27.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
337
mit dem Bäckereigewerbe häufig gemeinsam betrieben würde.
Nach eingehender Berathung wurden im wesentlichen Anschluss
an den Entwurf folgende Fragen für die auszusendenden Frage-
bogen empfohlen :
An wieviel Tagen der Woche werden Backwaaren her-
gestellt?
Wird täglich einmal oder mehrmals frische Waare her-
gestellt?
Wieviel Personen überhaupt ausser dem Geschäftsinhaber
sind regelmässig in der Bäckerei (Konditorei) und in dem da-
mit verbundenen Ladengeschäft beschäftigt?; ferner Fragen
über die Zahl der Werkführer (Schliesser u. s. w.), der Gesellen,
der Lehrlinge und der ungelernten Arbeiter, über ihre Beschäfti-
gungszeit und über die ihnen regelmässig gewährten Ruhezeiten
von mindestens 24 Stunden.
Der Sitzung wohnte ausser den bereits anderweit namhaft
gemachten Kommissionsmitgliedern auch der vom Reichskanzler
zum Mitglied der Kommission ernannte Direktor des Kaiser-
lichen Statistischen Amts Geheime Regierungs-Rath Dr von
Scheel bei.
In der Sitzung vom 24. d. M. wurde die Berathung über
den Fragebogen bezüglich der Erhebungen im Bäckerei- und
Konditoreigewerbe zu Ende geführt. Die Kommission entschied
sich nach längerer Debatte für den Vorschlag, für die mit
Bäckereien und Konditoreien verbundenen Ladengeschäfte fol-
gende Fragen in den Fragebogen aufzunehmen:
„Wie viele gegen Lohn beschäftigte Personen sind aus-
schliesslich für den Verkauf im Laden angenommen?“
„Wie lange dauert die Verkaufszeit an den Wochen-
tagen ?“
Sodann wurde erörtert, ob es sich empfehle, auch Fragen
bezüglich des Lehrlingswesens und der Wohnungs Verhältnisse
zu stellen
Rücksichtlich des Lehrlingswesens empfahl die Kommission
folgende Fragen: „Wird der Lehrvertrag schriftlich geschlossen ?“
„Wird Lehrgeld bezahlt?“ „Wie lange dauert die Lehrzeit?“
„Besuchen die Lehrlinge eine Fachschule, Fortbildungsschule,
Sonntags- oder Feiertagsschule?“ Wenn ja, „an welchen Tagen
der Woche und zu welchen Tagesstunden?“
Die Frage nach den Wohnungs Verhältnissen empfahl die
Kommission auf diejenigen Gesichtspunkte zu beschränken,
welche mit dem Zwecke der in Aussicht genommenen Erhebung,
die Feststellung der Arbeitsdauer, in unmittelbarem Zusammen-
hänge Ständen. Nach eingehender Berathung wurden folgende
Fragen vorgeschlagen: „Wohnung beim Meister haben wie
viele Lehrlinge? wie viele Gesellen?“ Vollständige Kost beim
Meister haben wie viele Lehrlinge? wie viele Gesellen ?“ „Theil-
weise Kost beim Meister haben wie viele Lehrlinge? wie viele
Gesellen?“
Ausserdem wurde es für zweckmässig erachtet, die Er-
hebung auch über die Frage der Bäckerei- und Konditorei-
gewerbe zur Anwendung gelangenden Arbeitsmaschinen auszu-
dehnen.
1 In der Nachmittagssitzung vom 24. d. Mts. erörterte die
Kommission für Arbeiterstatistik zunächst die Frage, ob für die
Bäckereien mit Tag- und Nachtschichten die Ausgabe eines
besonderen Fragebogens zu empfehlen sei. Mit Rücksicht auf
die geringe Anzahl der Betriebe dieser Art wurde die Frage
verneint
Darauf ging die Kommission zur Berathung des ihr vor-
gelegten Entwurfs eines Fragebogens für das Handelsgewerbe
(nur für Geschäfte mit offenem Laden) über. Zu demselben
waren von dem Referenten eine Reihe von Abänderungsanträgen
eingebracht.
Die erste Nummer des Fragebogens in der von der Kom-
mission gutgeheissenen Fassung bezieht sich auf die Zahl der
in offenen Ladengeschäften thätigen Personen und zwar geschie-
den nach der Stellung (Gehilfen — Lehrlinge), nach dem Alter
(über oder unter 16 Jahren) und dem Geschlecht Ueber die
Arbeitszeit wurden nach längerer Debatte folgende Fragen zur
Aufnahme in den Fragebogen empfohlen:
»Wie lange ist beim regelmässigen Geschäftsbetriebe an
1 Wochentagen der Laden für das Publikum geöffnet?“ „Wie
lange sind die zu 1 bezeichneten Personen beim regelmässigen
Betriebe an Wochentagen im Geschäft beschäftigt?“ „Wie viele
von den zu 1 bezeichneten Personen haben täglich eine bestimmte
Mittagspause? wie lange?“ „Ist der Laden zu Zeiten besonderen
Geschäftsandranges länger geöffnet als zu 2 angegeben? Wenn
ja: an wieviel Tagen etwa im Jahr? und an solchen Tagen um
wieviel Stunden länger?“
Zur Ermittelung der hinsichtlich der Kündigungsfristen
bestehenden Verhältnisse wurde die Aufnahme folgender Fragen
empfohlen: „Ist für die Gehilfen eine andere Kündigungsfrist
als die sechswöchentliche des Handelsgesetzbuchs vereinbart?
für wie viele? welches ist die Kündigungsfrist?“ „Ist die Kün-
digungsfrist für beide Theile gleich? wenn nicht, wie ist das
Verhältniss geordnet?“
j . Die in der Sitzung vom 23. d. M. bezüglich der Lehrlinge
m Bäckereien und Konditoreien formulirten Fragen sind nach
Ansicht der Kommission auch in den Fragebogen für das
[ Handelsgewerbe aufzunehmen. Ebenso stimmt die für diesen
t* ragebogen bezüglich der Wohnungs Verhältnisse von der Kom-
1 mission vorgeschlagene Frage mit der entsprechenden für das
Bäcker- und Konditoreigewerbe ihrem wesentlichen Inhalt nach
überein.
Hiermit waren die Erörterungen über den Fragebogen für
das Handelsgewerbe zu Ende geführt Die weitere Berathung
wurde auf den folgenden Vormittag vertagt.
In der Sitzung vom 25. d. M. berieth die Kommission zu-
nächst über den ihr vorgelegten Fragebogen bezüglich der Er-
hebungen über die Arbeitszeit in Getreidemühlen. Hierbei
wurde von verschiedenen Seiten ausgeführt, dass nach den ge-
machten Wahrnehmungen nicht nur bei Getreidemühlen, sondern
u a. auch bei den Öelmiihlen und Sagemühlen Klagen über
übermässige Arbeitszeiten laut geworden seien, welche die Aus-
dehnung der Untersuchung auf diese Betriebe wiinschenswerth
erscheinen liessen. Die Kommission beschloss, den Reichskanzler
zu ersuchen, auch über die Arbeitszeit in Oelmühlen und Säge-
mühlen Erhebungen in Aussicht zu nehmen und über den Ent-
wurf eines diesen Erhebungen zu Grunde zu legenden Frage-
bogens demnächst die Kommission gutachtlich zu hören.
Zu dem vorgelegten Entwurf eines Fragebogens über die
Arbeitszeit in Getreidemühlen wurden von mehreren Seiten
j Abänderungsanträge gestellt Nach längerer Berathung erachtete
die Kommission es für rathsam, dass diese Anträge vor der
I Beschlussfassung einer Prüfung, eventuell unter Zuziehung von
Sachverständigen, unterzogen würden. An der Hand dieser
Prüfung würde sodann ein neuer Fragebogen aufzustellen und
| der Kommission zur Begutachtung vorzulegen sein. Es wurde
; beschlossen, ein dahin gehendes Ersuchen an den Reichskanzler
zu richten.
In der Nachmittagssitzung wurde die Frage, in welcher
Weise die Erhebungen mittels der beratbenen Fragebogen
vorzunehmen seien, einer eingehenden Erörterung unterzogen.
Hierbei ergab sich Uebereinstimmung darüber, dass die Er-
hebungen sich nicht auf alle Betriebe erstrecken können, dass
man sich vielmehr, um in absehbarer Zeit zu einem Ergebniss
zu gelangen, mit Stichproben begnügen müsse. Die Kommission
hält es für ausreichend, in jedem Bundesstaat etwa 10 pCt der
vorhandenen Betriebe in die Erhebungen einzubeziehen.. Die
Auswahl dieser Betriebe würde nach Ansicht der Kommission
zweckmässig in der Weise erfolgen, dass jede Landesregierung
in ihrem Gebiet eine Anzahl von Ortschaften, — unter ent-
sprechender Berücksichtigung der grossen, mittleren und kleinen
Städte und der ländlichen Orte — , in den grossen Städten je-
doch nur einzelne räumlich abgegrenzte Bezirke, — bestimme,
in welchen für alle Betriebe der betreffenden Art Fragebogen
behufs Beantwortung auszugeben seien und zwar für die eine
Hälfte der Betriebe an die Arbeitgeber, für die andere Hälfte
an die Arbeitnehmer. Aushändigung und Einsammlung der
Fragebogen würde durch die Ortsbehörden erfolgen können.
Die weitere Behandlung der Angelegenheit wird sich nach der
Ansicht der Kommission so zu gestalten haben, dass bis zum
1. Oktober d. J. die Fragebogen für jeden Bundesstaat von den
Landes -Centralbehörden dem Kaiserlichen Statistischen Amt
übersandt werden, dass das letztere die eingegangenen Ant-
worten zusammenstellt und dass auf Grund eines die Ergeb-
nisse dieser Bearbeitung zusammenfassenden Berichts die
Kommission in eine erneute Berathung des Gegenstandes
eintritt, um sich über die Vornahme mündlicher Vernehmungen
oder sonstiger besonderer Ermittelungen schlüssig zu machen.
Die von einem Mitgliede angeregte Frage, ob es nicht
zweckmässig sein werde, schon bei den thatsächlichen Er-
hebungen auch die organisirten Verbände zu befragen, wurde
von der Kommission mit Rücksicht darauf verneint, dass es
nicht wohl thunlich sei, alle derartige Verbände zu hören, dass
die Befragung einiger aber zweifellos die LTnzufriedenheit
und das Misstrauen der anderen erregen würde Dagegen
wurde ausdrücklich konstatirt, dass es jedem Verein wie jedem
Privatmann freistehe, dem Reichskanzler oder der Kommission
im Anschluss an den Inhalt der Fragebogen, welche Jeder-
mann zugänglich sein würden, entsprechende Mittheilungen zu
machen.
Die Erhebungen bezüglich des Handelsgewerbes empfahl
die Kommission einstweilen auf folgende fünf Zweige zu be-
schränken: 1 Handel mit landwirthschaftlichen Produkten;
2. Handel mit Kolonial-, Ess- und Trinkwaaren; 3 Tabak- und
Cigarrenhandel; 4. Handel mit Manufaktur- und Schnittwaaren;
5. die in der Gewerbestatistik als Handel mit gemischten
Waaren bezeichneten Betriebe.
Nach Erledigung der Tagesordnung wurde von einem
Mitgliede der Kommission der Antrag auf Anregung einer
Untersuchung über die Arbeitszeit u. s. w. in der Hausindustrie
gestellt. Ein anderes Mitglied beantragte, bei dem Reichskanzler
die Vornahme lohnstatistischer Erhebungen in Vorschlag zu
bringen. Der Vorsitzende stellte in Aussicht, beide Anträge auf
die Tagesordnung der nächsten Sitzung zu setzen
Wirkungen der Frauenarbeit in Fabriken. Eine packende
Schilderung der demoralisirenden Wirkungen, welche die Be-
schäftigung weiblicher Arbeiter in den heutigen Fabriken nament-
lich auf ledige Mädchen ausübt, giebt der preussische Gewerbe-
rath für den Regierungsbezirk Schleswig in seinem soeben
amtlich veröffentlichten Bericht für 1891 mit folgenden Sätzen:
338
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 27.
„Nach den Andeutungen eines Arbeitgebers, welcher 308 Ar-
beiterinnen beschäftigt, hätten manche von ihnen gar keine
eigene Wohnung, sondern übernachteten einfach bei ihren
jeweiligen Liebhabern und blieben auch zeitweise von der
Arbeit so lange fort, als diese Liebhaber ihrer nicht überdrüssig
würden. Erst wenn das Letztere einträte, suchten sie wieder
von Neuem um Arbeit nach. Die Aufseherin, eine energische
Frau, klagte über die Schwierigkeit, unter dieser Gesellschaft
Ordnung "zu halten. Der Arbeitgeber betonte ferner, dass
sobald er nur ein paar Arbeiterinnen mehr brauchen könne,
sie sich gleich zu Hunderten meldeten, wohingegen es um so
schwerer wäre, ordentliche Dienstmädchen zu erhalten. Die
Arbeitgeber, welche Arbeiterinnen beschäftigen, sind sehr häufig
der Ansicht, dass sich zu Fabrikarbeiterinnen im Allgemeinen
nur Mädchen von geringerem sittlichem Fonds hergeben, denen
die mit dem Fabrikbetriebe verbundene Freiheit am Abend viel
zu verlockend ist, als dass sie sich als Dienstmädchen ver-
mietheten, und dass es gar nichts Seltenes wäre, dass die heim-
liche Prostitution in der täglichen Fabrikarbeit nur den er-
wünschten Deckmantel suche. Der technische Leiter einer der
bedeutendsten hiesigen Fabriken theilte mir mit, dass die Ehen
verschiedener seiner Arbeiter mit früheren Arbeiterinnen einer
in der Nähe befindlichen anderen Fabrik oft höchst unglück-
liche wären Diese Arbeiter wären tüchtige, nüchterne Leute
gewesen, die sich bald nach der Verheiratung dem Trünke
ergeben hätten, da ihre Frauen sich weder mit dem Lohne ihrer
Männer annähernd einzurichten, noch das Geringste vernünftig
zu kochen verständen, sowie ihren Hausfrauenpflichten über-
haupt nicht ernstlich nachzukommen bestrebt wären. Er machte
für diese Erscheinungen in erster Linie die Fabrikarbeit der
Mädchen verantwortlich, und behauptete, dass, wenn ein
in die Fabrik eintretendes Mädchen noch eine gewisse Moral
dorthin' mitbringe, ihm diese binnen kürzester Zeit von der
übrigen sittlich verwahrlosten Gesellschaft sicher ausgetrieben
würde. Einige verheirathete, alte Arbeiterinnen, die mit ihren
Männern zusammen in Zuckerfabriken arbeiten, erklärten eben-
falls unabhängig von einander, dass die Sittlichkeit in den
Kasernen trotz aller Strafen durch das entgegenkommende Ver-
halten der jungen Arbeiterinnen den Männern gegenüber mit-
unter gar zu arg gefährdet wäre und hielten deshalb den Aus-
schluss der unverh eirat heten Arbeiterinnen von den
Zuckerfabriken für wünschenswerth. Nach dem, was ich
auf diesem Gebiet namentlich in Altona erfahren habe, bin
ich ebenfalls überzeugt, dass die grosse Ausdehnung, welche
die heutige Fabrikarbeit der Mädchen gewonnen hat, allerdings
in mehr als einer Hinsicht ein sehr ernstes Moment in der
ganzen heutigen Arbeiterfrage bildet, welches um so schwerer
in’s Gewicht "fällt, als einzelne Industriezweige ihrem ganzen
Wesen nach lediglich auf Arbeiterinnen angewiesen sind, und
daher jeder Versuch, diesem schweren LTebelstande beizukommen,
von vornherein ziemlich aussichtslos erscheinen muss.“ Diese
Mittheilungen enthalten offenbar manches Wahre mit viel Irr-
thümlichem gemischt; ausserdem übertreiben sie wohl etwas
mit Bezug auf die Unsittlichkeit ..dieser Gesellschaft“, der
Fabrikmädchen, indem sie Beschwerden aus Unternehmerkreisen
beinahe wörtlich wiedergeben. Der Nachweis dafür, dass „ein-
zelne Industriezweige ihrem ganzen Wesen nach lediglich auf
Arbeiterinnen angewiesen sind“, dürfte beim heutigen Stande
des Maschinenwesens technisch ziemlich schwierig zu erbringen
sein Die Billigkeit der weiblichen Arbeitskraft wird vielmehr
von den Unternehmern geschätzt, und aus diesem Grunde füllen
dieselben ihre Arbeitsräume mit weiblichen Wesen, die dann
erst durch ihre ungünstigen Arbeitsbedingungen und durch die
verrohende Wirkung übermässiger und frühzeitiger Ausnutzung
zur Prostitution getrieben werden. Auch bezüglich der A.bhilte
urtheilt der Aufsichtsbeamte zu pessimistisch. Die Arbeiterinnen-
bewegung wird schon mit der Zeit dafür Sorge tragen, dass
„jeder Versuch diesem schweren Uebelstande beizukommen“,
nicht so „aussichtslos“ mehr erscheinen muss
Wirkungen verkürzter Arbeitszeit in der west-
deutschen Textilindustrie Die alte Erfahrung, dass ver-
nünftig verkürzte Arbeitszeit durchaus nicht gleichbedeutend
mit Verminderung der Arbeitsleistung ist, wird von Neuem
bestätigt durch eine Stelle des Jahresberichtes für 1891,
den der preussische Gewerberath für die Regierungsbezirke
Minden und Münster soeben amtlich erstattet hat. Da
heisst es: „Für das Jahr 1890 wurde berichtet, dass in den
Baumwollspinnereien zu Rheine, in Rücksicht auf die neuen
Bestimmungen der Gewerbeordnung, die tägliche Arbeits-
zeit vorläufig auf 1 1 V2 Stunden herabgesetzt worden war,
um die Leistungsfähigkeit der Arbeiter allmählig der
kürzeren Arbeitszeit entsprechend zu steigern. Der Ge-
werbeinspektor berichtet, dass nunmehr in einer grösseren
Zahl von Fabriken der Textilindustrie, gegen Ende des
Berichtsjahres, die Arbeitszeit von 1 1 ’/s auf H Stunden
gekürzt worden ist. Nach den Angaben einzelner Fabrik-
inhaber soll eine Mindererzeugung in Folge dieser
Herabsetzung der Arbeitszeit bei der Weberei überhaupt
nicht, bei der Spinnerei nur in geringem Umfange
eingetreten sein, und man erwartet, dass durch geeignete
Betriebsänderungen auch in den Spinnereien die frühere
Leistung wieder erreicht werden wird.“
Gesundheitliche Nachtheile der Beschäftigung jugend-
licher Arbeiter. Ueber diesen Gegenstand gingen die bisherigen
Berichte der preussischen Fabrikinspektoren mit wenigen Aus-
nahmen immer sehr flüchtig hinweg. Darin scheint eine Wendung
zum Besseren eintreten zu sollen. Wenigstens berichtet über
gesundheitsnachtheilige Einflüsse bei der Beschäftigung jugend-
licher Arbeiter der Gewerbeinspektor für den Bezirk Barmen •
aus seinen bisherigen Beobachtungen im neuesten Berichtsband
für 1891 Folgendes: „Der Einfluss der Fabrikarbeit auf die
körperliche Entwickelung macht sich im hiesigen Bezirk, be-
sonders in einzelnen Knopf- und Blechwaarenfabriken
geltend. Die einseitige Kraftanstrengung und Körperhaltung
bei der Beschäftigung jugendlicher, besonders weiblicher Ar-
beiter an den Stangen, Scheeren, Pressen u. s. w. benachteiligen 1
die Gesundheit. Ferner giebt die Beschäftigung jugendlicher
Arbeiter in den mit Tiegelgiesserei und Temperofenbetrieb
verbundenen Formereien zu Bedenken Veranlassung. Die
Luft ist ausserordentlich heiss und trocken, und die Arbeit
wird mit nur nothdürftig oder gar nicht bekleidetem Oberkörper
verrichtet. Auffallend ist in den Industrien zur Herstellung von i
schmiedbarem Guss zu Baubeschlägen, Schlössern und Schlüsseln
der häufige Wechsel der Arbeitsstelle bei den jugendlichen
Arbeitern. Die Arbeitsbücher weisen oft in einem Monat bis
zu drei Arbeitsstellen aut. Häufig ist mit dem Wechsel der
Arbeitsstelle auch ein Wechsel der Beschäftigungsweise ver-
bunden, so dass es den Anschein gewinnt, dass der häufige )
Wechsel der Arbeitsstelle und der Beschäftigungsweise bei den 1
sogenannten Formerlehrlingen der obengenannten Industrie
seinen Grund zum Theil in dar ungesunden Beschäftigung hat,
die zu Rheumatismus und Krankheiten der Luftwege V eran-
lassung giebt.“ Na h der Versicherung des Aufsichtsbeamten
soll diesen Punkten demnächst erhöhte Aufmerksamkeit zuge-
wandt werden. Das wäre im höchsten Grade nicht blos für
den Aufsichtsbezirk Barmen nothwendig.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Die deutschen Gewerkschaftsorganisationen.
Der Arbeiterbewegung im allgemeinen und in Deutsch-
land der Gewerkschaftsbewegung im besonderen wird in
allen Schichten der Bevölkerung gegenwärtig das leb-
hafteste Interesse entgegengebracht. Die gewerkschaftliche
Organisation konnte unter dem Drucke des Sozialisten-
gesetzes und kann bei den in Deutschland vorhandenen
Gesetzesbestimmungen über die Vereinsbildung, besonders;
aber bei der den gesetzlichen Bestimmungen durchaus nicht
entsprechenden Handhabung dieser Gesetze durch die Be-
hörden, nur unter den grössten Schwierigkeiten sich ent-
wickeln. Die Unternehmer sehen in jeder Organisation auf
gewerkschaftlichem Gebiet einen natürlichen Gegner und
wenden, wie die Erfahrung lehrt, jedes Mittel an, um den
Fortschritt der Organisationen zu hemmen. Während die
Arbeiter mit Rücksicht auf den § 153 der Gewerbeordnung
bei der Agitation unter den Berufsgenossen mit der grössten
Vorsicht vorgehen müssen, ist es den Unternehmern
unbenommen, die Arbeiter durch jeden möglichen Druck
zum Austritt aus den Organisationen zu zwingen. 1 rotz-
dem aber wird die Gewerkschaftsorganisation bestehen
bleiben und sich weiter entwickeln, denn sie ist bei den «
gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnissen eine Noth-
wendigkeit. ,Sie wird durch Erhöhung des Lohnes
und Verkürzung der Arbeitszeit die Lage der Ar-
beiter zu verbessern und durch regelmässige Auf-
nahme von Statistiken die Lage der Arbeiterklasse klar-
zustellen suchen, um auch diejenigen Kreise für die Emanzi-
pationsbestrebungen der Arbeiter zu interessiren, die bis;
dahin allen diesen Bestrebungen feindlich gegenüber standen;
dann aber werden die Organisationen darüber zu wachen
haben, dass die Arbeitgeber nicht das Wenige was zum
Schutze der Arbeiter durch die Gesetzgebung in Deutsch-
land geschaffen ist, illusorisch machen und umgehen. I m
beurteilen zu können, inwieweit die in Deutschland be-
stehenden Organisationen dieser Aufgabe gerecht zu werden
vermögen, ist es nothwendig ein Bild von der Stärke und
Leistungsfähigkeit der Gewerkschaften in ihrer Gesammt-
heit zu geben. Von der Generalkommission der Gewerk-
schaften Deutschlands ist eine Zusammenstellung über den
No. 27.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
339
Stand der Bewegung am Ende des Jahres 1891 gemacht
worden.
Nach dieser Statistik bestanden Ende 1891 in Deutsch-
land 61 Centralorganisationen und in vier Berufen war
eine Organisation in Form des Vertrauensmännersystems
vorhanden. Von den 61 Central vereinen sind die Zahlen
über die Anzahl der Mitglieder, die Jahreseinnahme, die
verschiedenen Ausgaben, sowie Beitragshöhe und Ver-
mögensstand am Schluss des Jahres, nur von 52 in der Zu-
sammenstellung angeführt. Diese 52 Organisationen hatten
eine Mitgliederzahl von 168 104 In der statistischen Zu-
sammenstellung fehlten die nachstehend genannten Berufe
mit dem beigefügten Mitgliederstand. Bergarbeiter (West-
falen, 45 000), Bergarbeiter (Saarrevier,?), Dachdecker (570),
Gasarbeiter (?), Maler (6603), Porzellanmaler (?), Schuhmacher
(9371), Tabakarbeiter (14389) und Tapezierer (1800). Die
Gesammtzahl der in den Centralvereinen organisirten Ar-
beiter betrug demnach 245 837. Von den durch Vertrauens-
männer centralisirten Berufen sind über drei nähere An-
gaben gemacht. Diese hatten 8560 Mitglieder. Die in der
Statistik angeführten 55 Organisationen haben eine Ge-
sammtmitgliederzahl von 176664 Mit den Mitglieder-
beständen der Organisationen, welche in der Statistik nicht
angeführt sind, die aber mit der Generalkommission Fühlung
haben, erhalten wir die Summe von 254 397 organisirten
Arbeitern. Eine Uebersicht über die Zahl der Mitglieder
in Lokalvereinen, die mit einer Centralstelle keinen Ver-
kehr unterhalten, fehlt vollständig. Es dürften in diesen
Organisationen in Deutschland wenig über 30 000 Arbeiter
sein. Wenn wir die in den Hirsch-Duncker’schen Gewerk-
vereinen, die eine andere Tendenz als die mit der General-
kommission Verbindung haltenden Organisationen haben,
befindlichen Arbeiter mit ca. 65 000 hinzurechnen, so kommen
wir zu dem Resultat, dass in Deutschland ungefähr 350 000
Arbeiter gewerkschaftlich organisirt sind. In der von der
Generalkommission gemachten Zusammenstellung ist neben
der Zahl der in den einzelnen Berufen organisirten Arbeiter
auch die Zahl der in den Industriezweigen thätigen Per-
sonen angegeben. Diese Zahlen können jedoch keinen An-
spruch auf Genauigkeit machen, da sie theils dem statisti-
schen Jahrbuch für das Deutsche Reich von 1884 entnommen,
theils in den einzelnen Organisationen abgeschätzt sind und
nur selten auf statistischen Aufnahmen beruhen. So sind
in den Angaben in der Statistik für das Deutsche Reich
fast immer auch die in den einzelnen Berufen beschäftigten
Hilfsarbeiter in der Gesammtzahl angeführt, während diese
Hilfsarbeiter nicht immer in den Organisationen Aufnahme
finden, hier vielmehr nur mit den geschulten Arbeitskräften
gerechnet wird. In den in der Statistik angeführten 55 Be-
rufen werden 3 079 698 Arbeiter beschäftigt, von denen
176 664 gleich 5,73 pCt. organisirt sind.
In den einzelnen Berufen waren die Arbeiter in
folgender Weise mit nachstehendem Prozentverhältn ss zu
den im Gewerbe thätigen Personen organisirt: Bäcker 1200
(1.1) , Barbiergehilfen 600 (3,8', selbständige Barbiere 370
(1.5) , Bauarbeiter (Hilfsarbeiter) 2500 (1,7), Bergleute in
Sachsen 7500 (26), Bildhauer 2976 (59), Böttcher 5000 (19),
Brauer 1300 (2,4), Buchbinder 3250 10,5), Buchdrucker 17 000
(53), Bürstenmacher 1356 (18), Cigarrensortirer 650 (32,5),
Drechsler 2589(9), Fabrikarbeiter 2000 (?), Fabrikarbeiterinnen
900 (?), Formenstecher und Tapetendrucker 550 (27,5),
Former 1785 (5), Gärtner 1100 (3,7), Lohgerber 1000 (5),
Weissgerber 1675 (67), Glaser 1700 r 20, 1 ), Glasarbeiter 1561
(3), Glacehandschuhmacher 2300 (76,7), Gold- und Silber-
arbeiter 2200 (11), Hafenarbeiter 4513 (5,6). Holzarbeiter
(Hilfsarbeiter) 500 (1,6), Hutmacher und Kürschner 4000 (20),
Konditoren 400 (4), Korbmacher 1400 (14), Kupferschmiede
2600 (37), Lithographen 4452 (23), Maurer 10 215 (3), Metall-
arbeiter 23 158 (6,9), Müller 1200 (1,7), Posamentire 530 (3',
Sattler 1450 (4,5), Schiffszimmerer und Werftarbeiter 3033
(18), Schmiede 2500 (3,1), Schneider 7700 (6,4', Seiler 500
(5.5) , Steinmetzen 2000 (2,9', Steinsetzer 1941 (17), .Stell-
macher 600 (2,2), Textilarbeiter 3500 (0,7), Tischler 16 600
(10,3), Vergolder 1100 (11), Ziegler 250 (0,2), Zimmerer 9800
(6.1) , Musikinstrumentenarbeiter 2000 (5), Stuckateure 1860
(31), Töpfer 4700 (18). _
Die im Verhältnis zu der Zahl der im Berufe be-
schäftigten Arbeiter am besten dastehende Organisation ist
gegenwärtig die der Handschuhmacher mit 76,7 pCt., dann
folgen die Weissgerber mit 67 pCt., dann die Bildhauer mit
59 pCt. und die Buchdrucker mit 53 pCt. Am schlechtesten
organisirt sind die Ziegler mit 0,2 pCt., dann folgen die
Textilarbeiter mit 0,7 pCt. und die Bäcker mit 1,1 pCt.
Die in den einzelnen Organisationen gezahlten Bei-
träge sind ausserordentlich verschieden. Den höchsten
Beitrag, 50 Pf. pro Woche, zahlen die Buchdrucker, den
niedrigsten, 20 Pf. pro Monat, die Fabrikarbeiterinnen.
(Diese Organisation wird sich in nächster Zeit dem Verband
der Fabrikarbeiter anschliessend An Wochenbeiträgen
werden bezahlt: 50, 45 und 35 Pf. in je einer Organisation
25 Pf. in 2, 20 Pf. in 3, 15 Pf. in 15, 10 bis 15 PL in 2 und
10 Pf. in 7 Organisationen. An Monatsbeiträgen: 75 und
60 Pf. in je einer Organisation, 50 Pf. in 5, 40 Pf. in 3,
35 Pf. in 1, 30 Pf. in 3, 25 Pf. in 2 und 20 Pf in 1 Organi
sation. Die Beiträge sind, gegenüber den Aufgaben der
Organisationen, fast durchgängig zu niedrig, doch werden
fast in allen Gewerkschaften regelmässig oder bei be-
sonderen Veranlassungen Extrabeiträge erhoben. So bei
den Maurern in den Sommermonaten regelmässige Extra-
beiträge von 20 Pf. bis zu 1 M., bei den Zimmerern von
jeder Mark Arbeitsverdienst pro Woche 1 Pf. Die auf
diese Weise und durch Verbandsbeiträge zusammenge-
brachte Jahreseinnahme der 52 Central vereine stellte sich
auf 1 088 856 M., in den Organisationen mit Vertrauens-
männern auf 27 732 M., zusammen auf 1 116 588 M. Von
den in der Statistik nicht angeführten Organisationen sind
über die Jahreseinnahmen folgende Zahlen bekannt: Berg-
arbeiter 77 880 M., Fabrikarbeiter 7203 M., Maler 27 563 M.,
Tabakarbeiter ca. 135 345 M., in den genannten 59 Organi-
sationen ergab sich demnach für 1891 eine Jahreseinnahme
von 1 364 579 M. Dies kommt einer Beitragsleistung pro
Mitglied und Jahr von 5,30 M. gleich. Die Organisationen,
welche in der Statistik mit Angabe der Jahreseinnahme
angeführt sind, hatten für 1891 eine Gesammteinnahme von
1 010 612 M., was bei der hierbei zur Berechnung kommen-
den Mitgliederzahl eine Beitragsleistung von 7,74 M. pro
Mitglied und Jahr ergiebt.
Diese Jahreseinnahme entspricht aber keineswegs den
von den deutschen Arbeitern alljährlich für gewerkschaft-
liche Zwecke aufgebrachten Summen. Es fehlen darin die
in den einzelnen Städten für lokale Unternehmungen, Unter-
stützung hilfsbedürftiger Kollegen und dergl. geleisteten
Beiträge. Besonders aber fehlen die Angaben über die für
Strikes durch freiwillige Beiträge aufgebrachten Mittel. In
den meisten Organisationen werden die Geldmittel zur
Unterstützung der Ausstände getrennt von der Organisation,
durch Sammellisten oder regelmässige Beiträge zu einem
Centralstrikefonds aufgebracht. Der grösste Theil der für
diese Zwecke nothwendigen Gelder wird von den Arbeitern
am Ausstandsorte geleistet und ist eine Kontrolle hierüber
gegenwärtig noch nicht möglich. Da auch in den Central-
organisationen über diese Seite der Bewegung keine, oder
nur ausnahmsweise statistische Daten geführt worden sind,
so lässt sich ein genaues Bild hierüber nicht geben. So
weit festgestellt worden ist, wurden in den Jahren 1890/91
durch freiwillige Beiträge für Strikes von den deutschen
Arbeitern 819 000 M. aufgebracht. Nehmen wir hiervon
als Ausgabe für 1891 die Hälfte, was wohl ziemlich zu-
treffen wird, da diejenigen Organisationen, welche 1890
Strikes durchzuführen hatten, nur vereinzelt Angaben ge-
macht haben, so erhalten wir mit den aus den Verbands-
kassen gemachten Aufwendungen für das Jahr 1891 eine
Ausgabe für Strikeuntersttitzung von 1 447 289 M Aus den
Verbandskassen wurde gezahlt I 037 789 M. Können diese
Zahlen auch keinen Anspruch auf absolute Genauigkeit
machen, so sind sie, wie aus den Ausführungen hervorgeht,
eher zu niedrig als zu hoch angegeben. Bemerkenswerth
ist noch, dass in den beiden letzten Jahren fast alle Aus-
stände durch das Vorgehen der Arbeitgeber, Lohnreduzirung,
Massregelung oder das Verlangen, die Arbeiter sollten aus
den Organisationen austreten, hervorgerufen wurden.
Die Gewerkschaften in Deutschland suchen ihre Auf-
gabe, trotz der enormen Aufwendungen für Strikes, nicht
ausschliesslich in dem Kampf um besseren Lohn und
Arbeitsbedingungen, sondern haben ihr Augenmerk auch
darauf gerichtet, die Nothlage der Mitglieder durch Unter-
stützungen zu mildern. Von den in der Statistik angeführten
Centralvereinen gewähren 12 ihren Mitgliedern Arbeitslosen-
unterstützung von 50 bis 150 Pfg. pro Tag. Die Ausgaben
für diese Unterstützung stellten sich in diesen Organisationen
(mit Ausnahme der Buchdrucker, die mit Rücksicht auf
ihren Ausstand hierüber keine Angaben machen konnten)
im letzten Jahre auf 64 290 M. Reiseunterstützung wird in
allen Organisationen gewährt, jedoch nicht überall aus der
Hauptkasse, sondern theilweise aus den Kassen der Zweig-
vereine gezahlt. Die aus den Centralkassen für Reise-
340
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 27.
Unterstützung gezahlte Summe betrug für 1891 144 338 M.
Zur Unterstützung an gemassregelte Mitglieder wurden in
den 55 Organisationen 14 737 M. gezahlt. Auch die Ge-
währung von Rechtsschutz ist als eine Unterstützung zu
betrachten, die den Mitgliedern direkt zu Gute kommt und
wurden hierfür 10 843 M. verwandt.
Die Gewerkschaften betrachten diese Unterstützung
nicht als Zweck der Vereinigung, sondern als Mittel zum
Zweck und hierin stehen sie im Gegensatz zu den erwähn-
ten Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereinen. Trotzdem aber
muss man unbedingt zugestehen, dass durch diese Unter-
stützungen manche Noth und Sorge beseitigt worden ist
und diese Thatsache sollte dazu beitragen, dass die
Gegner der Gewerkschaften diesen, wenn auch nicht Sym-
pathie, so doch eine weniger schroff-ablehnende Haltung
zeigen.
Dadurch, dass die Gewerkschaften es sich angelegen
sein lassen, auch für die Bildung ihrer Mitglieder zu sorgen,
beweisen sie gleichfalls, dass sie mit dazu beitragen wollen,
das Wissen und die Sittlichkeit unter der Bevölkerung zu
heben. So besitzen fast alle Organisationen Fachzeitungen,
die sich bemühen, aufklärend und bildend unter den Mit-
gliedern zu wirken. In 32 von 52 Centralvereinen erhielten
die Mitglieder die Fachzeitung gratis. Die Ausgabe, die
hierdurch den Hauptkassen erwächst, stellte sich im vorigen
Jahre auf 154 015 M. Rechnet man hierzu die Ausgabe für
Agitation, d. h. dafür, dass den Arbeitern in den ver-
schiedensten Gegenden belehrende Vorträge in den Ver-
sammlungen gehalten werden, wofür im letzten Jahre in
den 55 Organisationen 24 846 M. aufgewandt wurden, so
wird man zugestehen müssen, dass der Einfluss der Gewerk-
schaften auf die Erziehung und höhere geistige Entwickelung
der Mitglieder ein bedeutender ist. Die Ausgabe für Agi-
tation ist gleichfalls nicht in ihrer wahren Höhe angegeben,
da vielfach in den Organisationen von der Hauptkasse
getrennte Agitationsfonds bestehen. So gaben die Maurer
im vorigen Jahre allein aus einem besonderen Fonds circa
8000 M. für agitatorische Zwecke aus.
Die Verwaltungskosten in den Haupt- und Zweig-
verwaltungen inkl. Aufwendungen für Kongresse und
Generalversammlungen, sowie Ergänzung von Bibliotheken
und Anschaffung sämmtlichen Verwaltungsmaterials, stellten
sich in 44 Organisationen, von denen Angaben gemacht
sind, auf 155 676 M.
An Kassenbestand besassen die 55 Organisationen am
Schluss des Jahres 1891 427 058,81 M. Am günstigsten stehen
hier die Hutmacher mit 215 000 M., dann folgen, die Mit-
gliederzahl in Betracht gezogen, die Bildhauer mit 28 694 M.,
dann die Kupferschmiede mit 21 273,92 M. Bemerkenswert]!
ist, dass selbst die Organisationen, die in den letzten Jahren
grosse Strikes ununterbrochen, wie die Weissgerber, oder
doch wiederholt, wie die Handschuhmacher durchzuführen
hatten, heute trotzdem noch ein beträchtliches Vereins-
vermögen aufweisen. Bei den Weissgerbern beträgt das-
selbe 2,20 M., bei den Handschuhmachern 6,70 M. pro Kopf
der Mitglieder. Einzelne Gewerkschaften sind jedoch durch
Strikes in ihren Vermögensverhältnissen zurückgekommen.
Im Allgemeinen lässt sich bemerken, dass die Organisationen
in den letzten beiden Jahren ungemein gelitten haben.
Nicht nur dass in Folge der wirtschaftlichen Krise und
der damit verbundenen Arbeitslosigkeit die Zahl der Mit-
glieder zurückgegangen ist, es wurden auch die Kräfte der
organisirten Arbeiter oft bis aufs Aeusserste durch die von
den Unternehmern heraufbeschworenen Kämpfe angestrengt.
Es ist ein charakteristisches Zeichen der Gegenwart, dass
in den ungünstigen wirthschaftlichen Perioden die Unter-
nehmer eine Kürzung des Lohnes und eine Verlängerung
der Arbeitszeit erstreben und haben die Gewerkschaften
alle Mühe, dieses abzuwehren.
Trotzdem aber lässt sich mit Zuversicht behaupten,
dass die Kräfte der Organisationen keineswegs völlig ge-
schwächt sind. Diese werden nach wie vor jeden Angriff
mit der bisherigen Energie zurückweisen. Der Opfermuth
und die Standhaftigkeit der Arbeiter bei den Ausständen
lässt erkennen, dass man sich völlig bewusst ist, dass ein
Zurückweichen der Gewerkschaften gleichbedeutend mit
der Gefährdung der Existenz jedes Arbeiters, zunächst aber
derjenigen der organisirten Arbeiter ist. Das Bild, welches
wir in dieser Statistik von der gewerkschaftlichen Bewegung
in Deutschland erhalten, lässt erkennen, dass noch sehr
Vieles auf diesem Gebiete zu verbessern ist, und dass die
Organisationen sich zum grössten 1 heil im Anfangsstadium
der Entwickelung befinden. Sicher aber ist, dass die Ge-
werkschaften in einzelnen Berufen schon heute einen Ein-
fluss auf die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse auszuüben
vermögen und dass dieser Einfluss bei weiterer Entwickelung
wachsen wird.
Hamburg. C. Regien.
Gewerbeinspektion.
Mangelhaftigkeit der Fabrikaufsicht durch Polizeibehör-
den. Im „Sozialpolitischen Centralblatt“ ist schon mehrfach betont
worden, dass die Polizeibehörden sehr wenig qualifizirt für die
gewerbliche Inspektionsthätigkeit sind. Der neueste Bericht
des preus.sischen Gewerberathes für den Regierungsbezirk Kassel
über das Jahr 1891 liefert einen neuen und sehr drastischen Beleg
hierfür. Dieser Beamte schreibt aus dem anscheinend vorher be-
sonders vernachlässigten Bezirk: „Dabei habe ich ferner die auf-
fällige und recht ungünstige Erfahrung machen müssen,
dass eine grosse Zahl von Polizeibehörden in der irrigen An-
nahme, dass nicht die Zurücklegung des 14. Lebensjahres, son-
dern die Entlassung aus der Schule die Grenze zwischen den
beiden Kategorien der Kinder und der jungen Leute bilde, den
ersteren Arbeitsbücher statt Arbeitskarten ausstellen, darunter
solchen die erst im letzten Viertel des Kalenderjahres das
14. Lebensjahr erreichten. Hieraus leiteten viele Arbeitgeber,
allerdings ebenfalls irrthümlicher Weise, die Berechtigung für
sich ab, diese nicht mehr schulpflichtigen Kinder 10 Stunden,
statt nur 6 täglich, beschäftigen zu dürfen. In einzelnen
Kreisen war diese Gewohnheit eine fast allgemeine.
Soweit ich solche Uebertretungen der gesetzlichen Bestimmungen
nach dem I. Juli noch vorfand, habe ich sowohl persönlich auf
Abstellung gedrungen, als auch die Landräthe ersucht, die
Polizeibehörden ihrer Kreise noch ausdrücklich auf diese irr-
thümliche Auslegung des Gesetzes hinzuweisen. Es hatte
dies allerdings in einzelnen Fällen die Folge, dass die betreffen- 1
den Kinder aus der Arbeit entlassen wurden, weil die Arbeit-
geber sie bei 6 ständiger Arbeitsdauer angeblich nicht beschäf-
tigen. Da vom 1. April 1892 ab die Neuausstellung von Arbeits-
karten überhaupt ihr Ende nimmt, und allgemein nurmehr ;
Arbeitsbücher ausgestellt werden, wird eine vermehrte Auf-
merksamkeit darauf zu richten sein, dass die Arbeitgeber das ,
Alter der von ihnen anzunehmenden Arbeiter nicht blos nach f
dem Besitze eines Buches oder einer Karte bemessen, und dass, ,
entsprechend dem § 134, Absatz 2 der Gewerbeordnung, Arbeiter
unter 14 Jahren, auch wenn sie aus der Schule entlassen sind,
nur 6 Stunden beschäftigt werden. ‘‘ Man braucht dieser ein-
fachen Mittheilung nur noch anzufügen, dass das Gewerbegesetz,
welches die gar nicht misszuverstehenden Vorschriften bezüglich
der jugendlichen Arbeiter enthält, seit mehr als 10 Jahren in <
Kraft steht. Wenn die Polizei trotzdem seinen Sinn so „irr-
thümlich auszulegen“ vermochte, so kann sie unmöglich das j
geeignete Aufsichtsorgan sein.
Die Ausgaben für die eidgenössischen Fabrikinspek-
toren. In der eidgenössischen Staatsrechnung für das Jahr
1891 werden unter Posten F VI Fabrikwesen 48 342 Frcs.
90 Cent. (Voranschlag 40 300 Frcs. und Nachtragscredite
8000 Frcs.) verrechnet. Hievon entfallen auf die Besoldun-
en der drei Inspektoren 18 000, auf die der Adjuncten des
Kreises 4500 Frcs. und des III. Kreises 3000 Frcs., der
Assistent des III. Kreises bezog 3000 und der Kanzlist des-
selben Kreises 2100 Frcs., so dass für die Gehalte der In-
spectionsbeamten 30 600 Frcs. verausgabt wurden. An
Reiseentschädigungen wurden 14 042 Frcs. 90 Cent, und für
Aushilfe, Expertisen, Anschaffungen undKopiaturen 3700Frcs.
verauslagt. In der Staatsrechnung für 1890 wurden für die
Gehalte der Fabrikinspektoren und der ihnen unterstellten
Beamten 20 250 Frcs. ( — 10 350 Frcs.) und für das Fabrik-
wesen überhaupt 41 017,42 Frcs. ( — 3282,58 Frcs.) verausgabt.
Arbeiterversicherung.
Altersversicherung der Hausindustriellen. Die Frage
der Invaliditäts- und Altersversicherung der Hausindustriellen
kam, wie die-„National-Zeitung“ berichtet, am 20. Juni erneut
im Reichs versicherungsamt zur Entscheidung. Die \ erhand-
lung bot das besondere Interesse, dass der Geheime Kommer-
zienrath VVebsky als Mitglied des Vorstandes der schlesischen
No. 27.
SOZTAI .POLITISCHES CENTRALBLATT.
341
Versicherungsanstalt für die Versicherungspflicht und da-
mit Rentenberechtigung einer Hausspulerin plädirte, wäh-
rend der Staatskommissar die entgegengesetzte, auch vom
Schiedsgericht angenommene Meinung vertrat. Der Ge-
richtshof hielt auch im vorliegenden Falle seine früheren,
die Versicherungspflicht verneinenden prinzipiellen Ent-
scheidungen aufrecht, wobei der Vorsitzende Präsident
Bödiker erklärte, es werde Sache des Bundesraths sein, zu
erwägen, ob und in welcher Weise die Versicherungspflicht
auf die Hausindustriellen der Textilindustrie auszudehnen
sei. Zur Zeit schiebe das Gesetz dem Reichsversicherungs-
amt einen Riegel dagegen vor, dass es eine solche Ver-
sicherungspflicht ausspreche.1'
Unfallversicherung des Handwerks. Die Nahrungsmittel-
Industrie-Berufsgenossenschaft hat in ihrer letzten Generalver-
sammlung beschlossen, beim Bundesrathe einen Antrag auf
Ausscheidung der Gruppe des Fleischgewerks und Bildung einer
eigenen Fleischerei-Berufsgenossenschaft zu stellen. Bisher giebt
es, wenn man von dem Mühlengewerbe absieht, nur eine Hand-
werker-Berufsgenossenschaft, nämlich die der Schornsteinfeger.
Bisher haben die aus dem Schoosse der Berufsgenossenschaften
hervorgegangenen Anträge auf Aenderung ihres Bestandes beim
Bundesrathe sowohl wie beim Reichsversicherungsamte, welches
vom Bundesrathe in diesen Fragen stets um sein Gutachten
ersucht wurde, wenig Anklang gefunden. Sie sind durchweg
abgelehnt worden. Es ist aber möglich, dass dem Anträge auf
Errichtung einer eigenen Fleischer - Berufsgenossenschatt mit
Rücksicht auf die geplante Einbeziehung des gesummten Hand-
werks in die Unfallversicherung ein anderes Schicksal zu Theil
wird. Den letzten Satz äussern Blätter, welche der Regierung
nahe stehen. Müsste man aus dieser Andeutung schliessen, dass
die Unfallversicherung des Handwerks ebenfalls berufsgenossen-
schaftlich organisirt werden soll, statt im Anschlüsse an die
Krankenversicherung, wodurch allein eine Vereinfachung des
Ungeheuern Versicherungs-Apparates herbeigeführt zu werden
vermag, so könnten nicht früh genug gegen jene Absicht
im Interesse der Versicherung selbst Einwendungen erhoben
werden.
Armenwesen.
Die Elberfelder Armenpflege in Oesterreich.
/Mit dem Jahre 1889 führte die nordböhmische .Stadt
Trauten au als erste der österreichischen Städte die
Elberfelder Armenpflege ein. Der Versuch, der unter ver-
ständnisvoller Uebernahme dieses Systems und weit ent-
fernt von einfacher Nachahmung unternommen wurde, ge-
lang vollständig. In Folge der literarischen Berücksich-
tigung dieses Falles wurde die österreichische Regierung
auf denselben aufmerksam. Das Ministerium des Innern
machte mit Erlass vom 18. August 1890 von demselben
den Statthaltern Mittheilung, weiche ihrerseits wieder die
politischen Bezirksbehörden und Städte in Kenntniss
setzten. Dadurch entstand eine gewisse Bewegung, welche
bei dem erforderlichen Nachdrucke leicht zu einem guten
Erfolg hätte führen können. Es wendeten sich die Bezirks-
hauptmannschaften von Aussig, Böhm. Brod, Eger, Hohen-
elbe, Joachimsthal, Königgrätz, Kullenberg, Landskron,
Laun, Leitmeritz, Luditz, Moldenhain, Münchengrätz, Po-
litschka, Przibram, Reichenau, Smichow und Starkenbach
(alle in Böhmen gelegen) und die Städte resp. Bürger-
meistereien von Baden, Fischamend, Krems, St. Pölten,
Wiener-Neustadt in Niederösterreich, von Bärringen, Jaro-
mer, Jicin, Karbitz, Königinhof, Krumau, Leipa, Raudnitz,
Rokitzau, Saaz, Senftenberg, Tepl in Böhmen, dann von
Linz endlich zahlreiche Privatpersonen an die Stadt
Trautenau um Uebersendung ihrer „Denkschrift“ und
„Armenordnung“ — und damit war mit einer einzigen Aus-
nahme die Bewegung zur Ruhe gelangt. Diese Ausnahme
betrifft Wiener-Neustadt, welche thatsächlich bereits ihre
Armenverwaltung nach Elberfelder System und zwar nach
Trautenauer Muster eingerichtet hat. Ueberdies hat auch
die Stadt Reichenberg seit 1. Januar 1892 sich entschlossen,
zu dieser Einrichtung zu greifen. Abgesehen von diesen
praktischen Erfolgen wird wohl hie und da von der Elber-
felder Einrichtung gesprochen, es werden Studienreisen
nach Trautenau und nach Deutschland unternommen, so
auch von Wien aus, aber alle diese Bestrebungen sind vor
der Hand noch nicht zur Klärung gelangt.
In Trautenau ist, wie bemerkt, der Versuch geglückt,
was neuerlich wieder daraus ersichtlich ist, dass die
Armenziffer stetig zurückgeht ; sie steht heute auf 0,6 °/0f,
der Bevölkerung und davon stehen 70 % Personen im
Alter von 50- 90 Jahren. Von ganz besonderem Vorzug
ist die Reorganisirung der sogenannten Weihnachts-
bescheerungen für die Armen, welche seitens der Stadt
alljährlich als wesentlicher Bestandtheil der Armenpflege
vorgenommen werden und auf einer genauen Konskription
der armen Schulkinder unter Mitwirkung der Eltern der-
selben sowie der Schulbehörde beruhen, und zwar nicht
als Schau- und Rührstücke in öffentlichen Lokalen unter
grossem Pompe, sondern in der Familie der Armen durch
die Eltern. Ebenso wie in Elberfeld ist auch in Trautenau
ein Frauenverein, und zwar seit dem 1. März 1891 ins
Leben getreten, welcher seine Thätigkeit genau nach
diesem Vorbilde entfaltet.
Leider wird eine ganz befriedigende Thätigkeit nach
Elberfelder System in Oesterreich doch immer durch das
veraltete Heimathsgesetz beinträchtigt werden, welches die
Gemeinden nöthigt, einerseits für die Versorgung ihrer
auswärts befindlichen Zuständigen an andere Gemeinden
Entschädigungen zu zahlen, oder dieselben im Schubwege
zugesendet zu erhalten, und andererseits Personen, die mit
der Stadt in gar keinem sozialen Kontakt stehen, sei es
selbständig oder auf Rechnung anderer Gemeinden zu ver-
pflegen. Dass hiermit das streng geschlossene Elberfelder
System einigermassen durchbrochen werden muss, ist un-
ausbleiblich.
Vermischtes.
Oeffnung <ler Londoner Museen am Sonntag. Gegen die
puritanische Sonntagsheiligung in England macht sich eine
Reaktion geltend, wie u. a eine Versammlung von 3000 Mit-
gliedern von Arbeiterklubs, Gewerkvereinen etc. bewies, die
vor Kurzem in St. James, Hall, Piccadilly, London stattfand.
Zu den Rednern gehörte u. a. Tom Mann, der gegen die
Schliessung von Museen und ähnlichen Anstalten an dem Tage
protestirte, an welchem die grosse Masse der Bevölkerung allein
Müsse habe, solchen Nutzen von diesen Einrichtungen zu ziehen,
um die Lasten, welche die Steuerzahler dafür zu tragen haben,
zu kompensiren. Schliesslich wurde mit allen gegen eine
Stimme eine Resolution angenommen, in welcher die Regierung
aufgefordert wurde, für Oeffnung der Museen am Sonntag zu
sorgen.
Eingesendete Schritten.
(Besprechung Vorbehalten.)
Geschäfts- Bericht des Vorstandes der Hanseatischen
Versicherungsanstalt für In validitäts- und Alters-
versicherung in Lübeck für die Zeit vom I. August 1890
bis 31. December 1891. Hamburg. 4°. Selbstverlag. 37 S.
Kühne, Dr. Paul, Gerichts - Assessor, Krankenversiche-
rungsgesetz vom 15. Juni 1883/10 April 1892 nebst
den die Krankenversicherung betreffenden Bestim-
mungen des Gesetzes vom 5. Mai 1886, herausgegeben
und erläutert. Zweite völlig umgearbeitete Auflage. Stuttgart,
1892. Fr. Enke. 8°. XIV und 260 S.
Miller, Dr. med. Eugen, prakt. und Landwehrassistenzarzt
I. Klasse, Die Prostitution. Ansichten und Vorschläge
auf dem Gebiete des Prostitutionswesens zusammengestellt
und im Hinblicke auf den jüngst erschienenen kaiserlichen
Erlass veröffentlicht (Münchener medizinische Mittheilungen
VI. Reihe, 5. Heft.) München, 1892. j. F. Lehmann. 8°.
,1 und 114 S.
Queker, Ch. de, Secretaire de la Bourse de travail de Bruxelles,
Etudes sur les questions ouvrieres au point de vue
de l’intervention des pouvoirs publics, dans les differents
pays industriels et en Belgique. Bruxelles, 1892. Imprimerie
des institutions de prevoyance. 8°. IV und 641 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin,
342
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No. 27.
frcr&er’fdje IBerlafl&fianMmifl, grciburn im SBreiägc
©öm§, Dr. jur.
^ciitföjcn 9Scid)t§.
Soeben ift erfd)ieuen imb bnrd) alle Vitdjljanblungen 31t begießen:
ber ge fantut teu 9(rli e 1 1 er fl ef ctifleli 1111 fl de«
ßntbaltenb bie 2lrbeiter = Verficf)eruitgi = 11 n b
. , , © et) u ij g e f e tj g e b u n g , b. Ij. fämmtlic^e 9teid)dge=
feige über Siranfen», Unfall», SnoalibitätS» nnb 3Uterd=$krfid)erung, £itet VII ber ©e=
meybeorbmutg, ©efeij betr. bie ©emerbegeridjte, fomie einige fleinere ©efelge, nebft beit
Veid)3=2[ubfüt)rnngo=Verorbmtngeu, §3efamttmad)ungen beö' Vunbesvatlpi, 9Utnbfd)teibeu
bed 9teid)d=2Serfid)erungdamtd 1111b ©Haffen bed 3iei(^)d=ißoftamtd, nad) bent neueften
Staub ber ©efeiggebung, fomie als Stnfjang bad iReidgdgefeti betr. bie ©rmerbd» nnb
fffiirtbfdjaftdgenoffenfdgaften, bie einfdfiagigen ÜBeftintinnngen and bent ^anbeldgefetgbnd),
©trafgefetgbud), ©erid)td=S5erfaffungdgefe^ u. f. f. Vitt alpfjabetifdiem ©adjregifter,
©efebedregifter. dponologifdjem nnb ftgfteinatifdiem SnlgaltdoerreidjniB fomie einer lieber»
fidjt ber ©tvafbeftimmungen nnb ber unmittelbar in bad ($toil= ttnb ftkocefnedfi ein»
greifenben Vovfdiriften ber fotialen ©efeije.
ßtvjie Xirfcnnui. gr. 8". (IV tt. 16O ©.) M. 1.6O.
fBoUftänbig in 4— 5 Lieferungen junt greife non ä M. 1.60.
Hermann Walther.
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Deutsche Litteraturzeitung
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J.@Uffenfa.fl, Verlagebitdjfjanbluug in SSerlin.
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OF POLITICAL AND SOCIAL SCIENCE.
The Official Journal of the American Academy oj Political
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nebft 2lu3fiil)rntig£befttuimmtgcn.
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DO II
QL p f|. Brnjrv,
'JteitienntgSraü).
Safdjettformat, enrtonttirt.
1 m. 25 pp
®iefe Sluggnbe enthält ade big 311111 heutigen Sage
erlaffenen 3(u6fülfjnmggnnmeifuiigen.
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©erlag nun Xetmljarö Simioit
Verlin SW., 2öilf)ehnftrafje 121.
Sie nnitlidiE gtattltik
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Dr. Brt'fl|ult> UlitfjaEl.
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I. Jahrgang.
Berlin, den 11. Juli 1892.
Nummer 28.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT
Zur Auswanderungsfrage in
Russland. Von P. v. Struve.
Soziale Wirtschaftspolitik u.
W irthscliaftsstatistik :
Die Gutszertrümmerungen inBayern.
Von Dr. Arthur Cohen.
Arbeiterausschüsse in Oesterreich.
Minimallöhne für städtische Ange-
stellte in Zürich.
Arbeiterzustände:
Zur Entwicklung der Hausindustrie
in Preussen. Von Dr. Max
Quarck.
Arbeitslosigkeit in Chemnitz.
Eine englische Denkschrift über die
Arbeitslosigkeit.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Arbeitsordnungen als Strikeanlässe.
Unternehmerverbände:
1 )er Centralverband der Industriel-
lei< Oesterreichs.
Internationales Kartell der Papier-
fabrikanten.
Handwerkerfragen :
Innungsbewegung im Fleischerge-
werbe.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Arbeiterschutzmassregeln für die
Wiener Verkehrsanlagen.
Arbeitszeit der englischen Eisen-
bahnbediensteten.
Arbeiterversicherung:
Die Ergebnisse der österreichischen
Krankenversicherung im Jahre
1890. Von Dr. Adolf Braun.
Reform der deutschen Unfallver-
sicherung.
Normalstatut der Ortskrankenkassen
im Deutschen Reich.
Soziale Hygiene:
Hygienische Untersuchungen der
Buchdruckereien in Preussen.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Zur Auswanderungsfrage in Russland.
Die Auswanderungsfrage ist einer der wundesten
Punkte des wirthschaftlichen Lebens Russlands. Man hat
mehrere Wanderbewegungen zu unterscheiden. Erstens
findet eine grosse, noch sehr ungenügend registrirte1) Aus-
wanderung der russischen Bauern nach dem Süden und
Osten, d. h. nach dem Kaukasus, West- und Ostsibirien
statt. Zweitens dauert die Emigrationsbewegung unter den
polnischen Bauern noch immer fort und zeigt dieselbe in
') In den 80er Jahren wurde eine Art Inspektion der
inneren Auswanderung geschaffen. Zuerst wurde ein Aus-
wanderungsbureau mit einem Auswanderungsbeamten in ßatraki
(Gouvernement Ssimbirsk) errichtet. Das Bureau sollte die
Auswanderer, welche den genannten Punkt passiren, registriren
und ihnen eventuell mit Rathschlägen etc. zur Hilfe kommen.
Dieses Bureau wurde später, als die Zahl der durchreisenden
Auswanderer stark abgenommen hatte, aufgehoben und es
wurden drei neue Bureaus in Orenburg, Tjumen und Tomsk
errichtet. Die Thätigkeit der Auswanderungsbeamten verdient
alle Anerkennung, ihre Berichte enthalten die einzige fortlau-
fende Statistik der inneren Wanderungen, aber die Kräfte dieser
Beamten reichen nicht aus zur Bewältigung der schweren an
sie gestellten Aufgaben. Im Jahre 1889" wurden 6 Auswande-
rungsbeamte definitiv ernannt.
einigen Gouvernements nur eine ganz geringe Abnahme1 i.
Drittens hat als unmittelbare Folge des Nothstandes die
Auswanderungsbewegung auch die deutschen Kolonisten
in den östlichen russischen Gouvernements sehr stark er-
griffen. Und an vierter Stelle ist die Auswanderung der
russischen Juden hauptsächlich nach England, Palästina und
Amerika zu nennen.
Die drei ersten Bewegungen sind Ausflüsse sozialer
und zwar agrarischer Missstände, während die vierte zum
Theile politischen Ursachen entspringt. Plier werden wir
uns nur mit der inneren Auswanderung der russischen
Bauern befassen. Dieselbe beschäftigt schon seit langer
Zeit sowohl die Regierung2) - als auch die nationalökono-
mische Literatur'*) und die Presse4). An diesem Phänomen
tritt in normalen Zeiten die Unhaltbarkeit der agrarischen
Zustände am schroffsten hervor. Der sich mit dem An-
wachsen der Bevölkerung immer stärker entwickelnde
Mangel an verfügbarem Grund und Boden und die oft
totale Erschöpfung des letzteren durch Jahrzehnte lange
primitive Bewirtschaftung machen die Existenz des Bauern
ganz unsicher und geben ihn der Ausbeutung durch reiche
b (Jeher die Auswanderungsbewegung im Gouvernement
Ssuwalki liegt eine ausführliche statistische Untersuchung
des Warschauer Professors G. Sinronenko (auf Grund einer
amtlichen Enquete) vor. Dieselbe giebt folgende Daten: im
Jahre 1889 betrug die Gesammtzahl der nach Amerika ausge-
wanderten Personen 2947, im Jahre 1890: 3765 und in den 8 ersten
Monaten des Jahres 1891: 2494 (Trudy Warschawskago Statistit-
scheskago komiteta. Wypusk V. Sarabotki krestjan i emigra-
zija w Ameriku w gubernijach Zarstwa Polskago etc. Warschau
1891, Tabelle auf S. 123 — 130 und S. 139 ).
2) Schon im Jahre 1881 war die Auswanderungsfrage
Gegenstand einer Beratung durch eine Kommission von Ver-
tretern der „Zemstwo“, welche übrigens nur zu geringen prak-
tischen Resultaten führte.
3) Die innere Wanderung der russischen Bauern kann eine
ziemlich grosse Litteratur aufweisen. Wir nennen: Gjrigorjew
„Die Auswanderung der Bauern des Gouvernement’ Rjasan“,
Romanoff „Die Auswanderung der Bauern des Gouvernement
Wjatka“, Gurwitsch „Die Auswanderung der Bauern nach
Sibirien“, Issajeff „Die Auswanderung in der russischen Volks-
wirtschaft“, mehrere Aufsätze von Jadrinzeff. Im Jahre 1891
wurde durch die Initiative des russischen Nationalökonomen
Professor Issajeff eine „Gesellschaft für Unterstützung der not-
leidenden Auswanderer“ ins Leben gerufen. Was die Thätig-
keit dieses Vereines anbetrifft, so gehört dieselbe an und für sich,
insofern sie reine Wohltätigkeit ist, nicht dem Kreise sozial-
politischer Betrachtung an. Aber der Verein bezweckt auch die
Erforschung der Auswanderungsfrage und es wurde von ihm
eine Kommission eingesetzt, welche ein bezügliches Programm
ausarbeiten sollte. An dieser Arbeit haben u. A. Prof. Issajeff
und A. Kauffmann, der Verfasser einer ausführlichen wirthschafts-
statistischen Untersuchung über die Lage der Ivronbauern in
Westsibirien, theilgenommen.
4) Unter dem Ministerium des Grafen Tolstoi, welcher
rücksichtslos jede selbständige Regung der Gesellschaft und der
Presse bekämpfte, war die Diskussion über die Auswanderungs-
frage in den Zeitungen eine Zeit lang verboten.
344
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 28.
Standesgenossen preis. So geht die Loslösung des
Produzenten von den Produktionsmitteln aus der
unhaltbaren Produktionsweise, aus der wilden Raubwirth-
schaft und der Dreifelderwirthschaft mit unerbittlicher
Konsequenz hervor. Andererseits kann bei der Ver-
armung1 2) der Bauern — von anderen Momenten wie z. B.
dem Gemeindebesitze -J) ganz abgesehen — der Uebergang
zu einer rationellen Bewirthschaftung des Bodens nur sehr
langsam und eben nur unter der Voraussetzung
einer theilweisen P r oletar isi r un g der Landbe-
völkerung sich vollziehen. Dabei tritt ein zeitweiliger
Rückgang der ganzen Landwirthschaft, eine gewisse Ver-
ödung ein; als sprechendes Beispiel kann die für das
Gouvernement Ssamara konstatirte Abnahme des Viehstandes
während der letzten 20 — 25 Jahre dienen.
Diese Verhältnisse treiben die Bauern mit elementarer
Gewalt aus der Heimath und so entstehen: 1. Die perio-
dischen Sommerwanderungen der ländlichen Proletarier,
der ländlichen „Reservearmee“ nach dem Süden und Süd-
osten Russlands , wo im Grossen und Ganzen ein ent-
schiedener Mangel an Arbeitskräften vorhanden ist, und
2. die definitive Auswanderung nach dem Süden und dem
Osten. Der Verdienst der ländlichen Arbeiter, welche im
Sommer nach dem Süden (aus den Gouvernements Kursk,
Orel, Rjasan u. a. nach den Gouvernements Cherson,
Taurieh, in die Länder der donischen und kubanischen
Kosaken etc.) ziehen, hängt vollständig von dem jeweiligen
Ernteausfall ab. Im Jahre 1885 ergoss sich ein grosser
Strom der Arbeiter nach dem Süden, aber die Ernte war
eine schlechte und die Mehrzahl der Arbeiter bekam keine
Arbeit und musste unverrichteter Sache heimkehren. Im
nächsten Jahre ist die Ernte viel besser ausgefallen, aber
die „Reservearmee“ wusste das nicht und wollte sich nicht
dem Risiko einer mühevollen und erfolglosen Wanderung
unterziehen. Die Löhne haben deshalb eine enorme Höhe
erlangt. Während im Jahre 1887 sich die Geschichte vom
Jahre 1885 wiederholt hatte, ist im Jahre 1888 wieder ein
grosser Mangel an Arbeitern eingetreten und der Taglohn
hat die Höhe von 4 — 5 Rubel erreicht3). So schwankt der
Lohn der ländlichen Arbeiter thatsächlich von 0 — 5 Rubel.
Wir haben diese Thatsachen angeführt, um die Unsicherheit
der Existenz der ländlichen Arbeiter zu charakterisiren.
Ueberhaupt sind die wirthschaftlichen Verhältnisse noch
vollkommen im Flusse, haben sich keineswegs stabilisirt,
und dieses Gepräge der Unsicherheit trägt das ganze wirth-
schaftliche Leben in Russland.
Parallel mit diesen Arbeiterwanderungen geht die
Auswanderung nach dem Osten und dem Süden. Im Jahre
1889 sah sich die Regierung gezwungen, ein Gesetz über
die innere Auswanderung zu erlassen. Die Haupttendenz
desselben geht dahin, die Auswanderung unter staatliche
Kontrolle zu stellen und dadurch einerseits unvorsichtige
und unbegründete Auswanderungsversuche zu verhindern,
P Als Ausgangspunkt dieser Verarmung wird allgemein
— von der reaktionären Presse und einigen anderen Ausnahmen
abgesehen — die Unzulänglichkeit der Grundantheile, welche
die Bauern bei der Befreiung im Jahre 1861 erhalten haben und
die ganz unverhältnissmässige Höhe der auf den Bauern lasten-
den Steuern und Abgaben angenommen.
2) Die Frage über die Rolle des Gemeindebesitzes in dieser
Beziehung ist eine sehr strittige. Vor Kurzem ist der bekannte
Moskauer Nationalökonom N. Kablukow in „Russkija Wedo-
mosti“ (1892 No. 73) mit einem Artikel aufgetreten, wo er ent-
schieden die Meinung über die Unvereinbarkeit des Gemeinde-
besitzes mit dem Fortschritte der landwirthschaftlichen Technik
bekämpft. Aber auch die entgegengesetzte Ansicht ist ziemlich
stark vertreten.
') Diese Thatsachen sind der jüngst erschienenen anonymen
Schriit „Neuroschai i narodnoje bedstwie“ (Missernte uncl Volks-
noth), als deren Verfasser der Petersburger Departements-
direktor im Finanzministerium, Herr Ermoloff, genannt wird,
entnommen.
andererseits immer ein gewisses Gleichgewicht zwischen
der Auswanderungsbewegung und dem den Auswanderern
offenstehenden Areal zu erhalten'). Wir können hier nicht
den ganzen Inhalt des Gesetzes wiedergeben (die Haupt-
bestimmungen siehe bei Jollos, Die nationalökonomische
Gesetzgebung Russlands in den Jahren 1888 — 1890, Conrads
Jahrbücher, 1891. Dritte Folge, 1. Band, S. 105 ff.) und an
ihm eine ausführliche Kritik üben: eine solche würde uns
zu weit führen. Im Ganzen enthält das Gesetz vom Jahre
1889 neben unhaltbaren auch wichtige und zwar vom
sozialpolitischen Standpunkte entschieden zu beherzigende
Bestimmungen. Seine prinzipielle Bedeutung liegt darin,
dass es der Auswanderungsbewegung von Gesetzeswegen
die grossen unbenutzten Ländereien des Staates eröffnet
hat. Leider aber trifft die Voraussetzung, welche dem
ganzen Gesetze zu Grunde liegt, nämlich dass die aus-
wandernden Bauern Mittel zur Auswanderung besitzen, in
der Mehrzahl der Fälle nicht zu. Isajeff und nach ihm
Jadrinzeff (Westnik Evropy. August, 1891. „Zehn Jahre der
Auswanderung“, S. 790— 826 1 schätzen den Prozentsatz der
unbemittelten und hilfsbedürftigen Auswanderer auf ca. 50,
von welchen die Hälfte (also 25 pCt.) Bettler sind-). Was
die Ansiedelung anbetrifft, so enthält das Gesetz vom Jahre
1889 wichtige Begünstigungen: es sichert sogar den Ein-
wanderern ein Unterstützungsdarlehen für Bestellung der
Aecker und eigenen Unterhalt. Aber es muss in der
materiellen Unterstützung der Auswanderung3) viel weiter
gegangen werden, denn die Einwanderung der Bettler
birgt grosse soziale Gefahren in sich; es ist schon in
manchen sibirischen Gegenden eine grosse Zunahme der :
Steuerrückstände als Resultat der Einwanderung von unbe-
mittelten Bauern aus Russland konstatirt worden. Aber :
jede bedeutende materielle Förderung der Auswanderungs-
bewegung kann nur in einem innigen Zusammenhänge mit i
anderen durchgreifenden sozialpolitischen Reformen gedacht '
werden und wird mit so grossen Ausgaben verbunden sein,
dass in der nächsten Zukunft die Regierung sich nicht
anders als ablehnend verhalten wrird. Es tritt da noch ein ;
anderes Moment hinzu, nämlich dass die Auswanderung: <
d. h. das Abströmen von billigen Arbeitskräften keines- ;
wegs im Interesse des grossen und mittleren Grundbesitzes j
liegt; die Bevorzugung der Interessen des Adels ist aber
die Signatur der Regierungspolitik der letzten Jahre.
L Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass dieses
Ziel weit besser durch eine statistische Untersuchung der Aus-
wanderungsfrage erreicht werden könnte, d. h. durch eine ein-
malige annähernde Feststellung der Zahl solcher Bauern, welche
nur durch Auswanderung ihre wirthschaftliche Lage verbessern
können und durch eine Feststellung des Areals, welches den
Einwanderern zur Verfügung gestellt werden könnte. Aber da-
bei sieht man gleich, dass die Auswanderungsfrage nur als
Glied einer umfassenden sozialpolitischen Aktion gelöst werden
kann.
2) Da die Grundantheile in der Regel noch nicht abgelöst
sind und auf denselben sehr oft nicht unbedeutende Steuer- und
Abgabenrückstände lasten, spricht das Gesetz vom Jahre 1889
nur von einer unentgeltlichen Abtretung der Grundantheile
durch die auswandernden Mitglieder an die Heimathgemeinde,
wobei die letztere alle mit dem betreffenden Grundstücke ver-
bundenen Lasten übernimmt. Eine Entschädigung für die Ab-
tretung des Grundloses an die Gemeinde ist zwar juridisch
nicht ausgeschlossen, dürfte aber in Praxi ziemlich selten Vor-
kommen. So ist der Auswanderer thatsächlich auf den Erlös
aus der Veräusserung des Hauses und des dürftigen Mobiliars
angewiesen.
*) Vor der Bauernbefreiung hat die Regierung die Aus-
wanderung der Fronbauern materiell unterstützt und geleitet.
Im Jahre 1882 ist ein Projekt der Kolonisirung des Ussuri-
gebietes aufgestellt und theilweise ausgeführt worden. Es
werden jährlich 250 Familien per Schiff nach Wladiwostok ge-
bracht und bekommen dort Land und staatliche Naturalunter-
stützung (Arbeitsinstrumente, Samen etc.); sie erhalten auch auf
20 Jahre Befreiung von allen Steuern und Abgaben. In der
letzten Zeit wird aber von den Auswanderern in Odessa ein
gewisser Census 600 Rubel Baargeld) verlangt (vergl. Jadrinzeff,
L c. S. 801).
No. 28.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
345
Die Unzulänglichkeit des Gesetzes vom Jahre 1889
wird durch die unten angeführten statistischen Daten klar
bewiesen. Fast die ganze Bewegung findet sozusagen
ausserhalb des Gesetzes statt, weil die Interessenten das-
selbe entweder nicht kennen oder ignoriren.
Im Jahre 1891 wurden in Tomsk 3683 Auswanderer-
familien mit 21 603 Seelen registrirt (Russkija Wedomosti,
1892, No. 85), aber der offizielle statistische Ausweis fügt
noch hinzu, dass nach der Einstellung der Flussschiffahrt
noch 20 000 Seelen den Weg in den Altai -Kreis eing;e-
schlagen haben, aber nicht registrirt werden konnten. Diese
Zahl dürfte aber keineswegs alle Auswanderer umfassen -
und das ganz abgesehen von denjenigen, welche per Schiff
Odessa verlassen haben. Wenn man bedenkt, mit welchen
Hindernissen und Strapazen die Auswanderung verbunden
ist, so erscheint sogar die Zahl 40 000 als ganz stattlich;
Jadrinzeff schätzt das jährliche Kontingent der Auswanderer
nach Sibirien für das Dezennium 1880 — 1890 auf 40 000.
Wenn auch diese Zahl entschieden zu klein ist, so kann
man jedenfalls annehmen, dass die Auswanderungsbewegung
1891 und 1892 eher zu- als abgenommen hat. Das bestäti-
gen die neuesten Mittheilungen der Presse und die Kund-
gebungen und Massregeln der Regierung. 2099 von 2972
Auswandererfamilien (also 70 pCt.) ’) hatten nicht mehr als
zehn Rubel (resp. nichts) mit und 66 pCt. — keine offi-
zielle Erlaubniss zur Auswanderung, wie sie im Auswande-
rungsgesetze vom Jahre 1891 gefordert wird. Die grosse
Mehrzahl (78 pCt.) der Auswanderer, welche das Gouverne-
ment Tom.-.k passirten, hat die Auswanderung auf Grund von
vorherigen schriftlichen Ermittelungen unternommen, that-
sächlich also aufs Gerathewohl.
Die vorjährige Missernte, deren wirthschaftliche Folgen
geradezu unermesslich sind2), konnte auch auf die Aus-
wanderungsbew'egung nur fördernd einwirken. Im laufen-
den Jahre hat der Minister des Innern im Einvernehmen
mit den Ministern des kaiserlichen Hofes und der Staats-
domänen die Austheilung der Grundstücke an die ausge-
wanderten Bauern aus den Staatsdomänen und aus den
Gründen des kaiserlichen Kabinets auf unbestimmte
Zeit sistirt und dabei den Behörden streng vorgeschrieben,
jede ungesetzliche Auswanderung zu verhindern und solche
Bauern, welche ohne Erlaubniss ausgewandert sind, in die
Heimath — auf Kosten der betreffenden Gemeinden — ab-
zuschieben. Ferner wird den Verwaltungsbeamten, den
„Zemski natschalniki“, eingeschärft, dass sie das Gebahren
der bäuerlichen Selbstverwaltung in Sachen der Austheilung
von Reisepässen streng überwachen sollen, damit dieselben
nicht als Legitimationen zur Auswanderung benützt
werden3). In den Motiven zu dieser Verordnung (nach
der Juriditscheskaja Gazeta abgedruckt in Russkija
Wedomosti 1892, No. 87) wird ausgeführt, dass bei dem
starken Andrange der Auswanderer in den letzten Jahren
sich bereits ein Mangel an fertig vermessenen Grund-
b Die Untersuchung erstreckte sich also nicht auf alle
registrirten Auswanderer.
2) In diesem Sinne hat sich vor Kurzem der Präsident
der russischen kaiserlichen Freien Oekonomischen Gesellschaft,
Baron von Korf, ausgesprochen. Er sagte in seinem Vortrage,
in welchem er die Lage des Gouvernements Kursk auf Grund
persönlicher Beobachtungen schilderte, dass er es „nicht be-
greife“, was weiter folgen wird.
:f) Diese Reisepässe haben Giltigkeit nur für eine be-
stimmte Zeit; die Mehrzahl der ohne Erlaubniss ausgewanderten
Bauern ist mit solchen Pässen versehen und die Regierung sah
sich bis jetzt gezwungen, solche Auswanderung als fait
accompli hinzunehmen. Denn ein Abschieben dieser Leute
hat sich vom sozialpolitischen Standpunkte als ganz unhaltbar
herausgestellt und diese Erkenntniss hat ihren Ausdruck in den-
jenigen Bestimmungen des Gesetzes vom Jahre 1889 gefunden,
welche die vorangegangene ungesetzliche Auswanderung sozu-
sagen sanktioniren.
stücken herausgestellt hat. Dieser Mangel sei auf die Un-
zulänglichkeit der vorhandenen Vermessungsmittel zurück-
zuführen und in der nächsten Zukunft nicht zu beseitigen.
Andererseits sei in dem laufenden Jahre in Folge des Noth-
standes eine Vermehrung der Zahl der Auswanderer zu
erwarten. Da aber die Kosten der Auswanderung nur aus
der Veräusserung der Habseligkeiten der Bauern bestritten
werden, deren Werth wiederum in Folge des Nothstandes
gesunken ist, so rufe der vermehrte Andrang der Aus-
wanderer berechtigte Befürchtungen hervor.
Diesem Zirkular folgte vor Kurzem ein anderes,
welches speziell die Auswanderung nach dem Kaukasus zu
verhindern vorschreibt; gleichzeitig wurden die Gouverneure
der kaukasischen Gouvernements aufgefordert, arbeitslose
Auswanderer resp. eingewanderte Landarbeiter in die Hei-
math abzuschieben (Russkija Wedomosti, 1892, No. 142). Der
Gouverneur des kubanischen Gebietes hat seinerseits die
Centralregierung ersucht, den Andrang der Bauern aus dem
Nothstandsgebiete in das kubanische Gebiet zu verhindern,
da die betreffenden Bauern daselbst keine Arbeit finden
können.
Der stellvertretende Gouverneur von Tomsk kon-
statirte in einem Zirkular, welches der Ssibirski Westnik
(Russkija Wedomosti, 1892, No. 102) zum Abdrucke brachte,
dass schon seit Ende August 1891 aus den hungernden
Gouvernements in sein Gouvernement und weiter — nach
Ostsibirien eine Auswanderungsbewegung begonnen hat.
„Die Kräfte der Auswanderer“, sagt das offizielle Schrift-
stück, „sind erschöpft, ihre Beschuhung und Bekleidung ist
abgetragen, so dass sie weder Schuhe noch warme Kleidung
besitzen. Nicht mehr als 1 pCt. der Auswanderer hat ganz
heruntergekommene Pferde und diese krepiren unterwegs;
diejenigen Bauern, welche ihre Pferde verlieren, verkaufen
ihre elenden Habseligkeiten und setzen ihren Weo- wie
andere zu Fuss fort. Sie gehen in Gruppen von 2 bis 3
Familien; in der Mehrzahl sind es Männer, einige haben
auch Frauen und kleine Kinder mit, welche in Fetzen ein-
gehüllt, entweder auf kleinen Handschlitten gefahren oder
von den Frauen auf den Händen getragen werden. Unter
den Auswanderern grassiren Krankheiten: Diphteritis,
Typhus etc., mit welchen sie die passirten Ortschaften und
deren Einwohner infiziren. .Sie nähren sich ausschliesslich
vom Bettel und es kommt vor, das ganze Trupps sich bei
den Vorstehern der Gemeinden melden und ohne weiteres
Nachtquartier und Beköstigung fordern. Sie werden dann
in den Häusern der Dorfbewohner untergebracht. In den
Dörfern am Moskauer Trakt hat sich sogar die Sitte einge-
bürgert, in jedem Haus das Brot in doppelter Quantität zu
backen, speziell um es den Armen zu vertheilen.“ So der
stellvertretende Gouverneur von Ton». Wenn man sich
dabei noch das schon so oft geschilderte masslose Elend
der heimkehrenden Auswanderer („obratnyi pereselenzi“)
vergegenwärtigt1), so bekommt man ein Bild, welches an
Düsterkeit kaum übertroffen werden kann.
Die Peterburgskija Wedomosti berichten über die
Wirkung des Nothstandes auf die Auswanderungsbew^egung:
„Im vorigen Jahre hat die Volksphantasie, verwirrt durch
den Hunger, alle möglichen Grenzen überschritten. Die
Auswanderer gingen und sehnten sich in die „Indischen
Länder“, nach Brasilien, nach Afghanistan, nach Japan. . . .
Den grössten Prozentsatz der Auswanderer stellen die
Gouvernements Tambow, Kursk, Woronesch, Tschernigoff
und Poltawa, eben diejenigen Gouvernements welche in
') Bei der Armuth der Auswanderer, bei ihrem niedrigen
Bildungsgrad, bei ihrer gänzlichen Unkenntniss der Verhältnisse,
welche sie im Osten erwarten und der daraus resultirenden
Planlosigkeit der Auswanderung, finden missglückte Auswande-
rungsversuche leider nur zu oft statt.
346
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 28.
der offiziellen Nomenklatur als die „schwarzerdigen“ be-
zeichnet werden.“
Die oben angeführten Massregeln, durch welche die
Auswanderungsbewegung — so weit das in den Händen
der Regierung liegt — bis auf weiteres sistirt wird, dürften
wohl in der wirtschaftlichen und finanziellen Situation be-
gründet sein. Was die Abschiebung der Auswanderer und
der wandernden Landarbeiter anbetriftt, so kann diese
Massregel nur einen polizeilichen Sinn haben. Die
Bauern wandern aus, weil ihre Existenz in der Heimath
unsicher resp. ganz unmöglich geworden ist. Was kann
da eine Abschiebung helfen, wo es sich um Massenarmuth
handelt? Immer deutlicher zeigt sich die Notwendigkeit,
die Frage endlich in ihrem ganzen Umfange aufzuwerfen.
Die Auswanderungsfrage und die Landarbeiterfrage können
nur mit der gesammten Bauernfrage wirklich gelöst
werden. Diese neue Bauernfrage ist bedeutend schwieri-
ger als die Frage der Bauernbefreiung es war, denn man
hat hier mit viel komplizirteren wirtschaftlichen Zuständen
zu rechnen, aber wir glauben eine allgemeine Ueberzeugung
auszusprechen, wenn wir sagen, dass ihre Lösung in
gleichem Masse dringend ist. Es liegt in der Macht
des Staates, die Geburtswehen der kapitalistischen Wirt-
schaftsordnung für Russland zu lindern.
P. v. Struve.
Soziale Wirtschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Die Gutszertrümmerungen in Bayern.
Ein Lieblingthema der „konservativen Sozialpolitiken,
das von diesen von Zeit zu Zeit immer wieder aufgegriffen
wird, sind die „Gutszertrümmerungen“.
Zuletzt ist es vom deutschen Landwirthschaftsrath im
Jahre 1889 und von der 29. Wanderversammlung bayerischer
Landwirte zu Landshut im Jahre 1890 zum Gegenstand
von Resolutionen gemacht worden. Letztere gab den An-
stoss zu Erhebungen, die die bayerische Regierung über die
Gutszertrümmerungen der Jahre 1888—1890 veranstaltet hat.
Leider wird die Brauchbarkeit und Vergleichbarkeit dieser
Statistik durch den engen Rahmen beeinträchtigt, den man
ihr gegeben. Es wurden nämlich nur solche Gutszertrüm-
merungen berücksichtigt, welche dazu geführt haben, dass
ein bäuerliches Anwesen als solches nicht mehr
fortbesteht. Zertrümmerungen von Anwesen, bei welchen
ein sogenanntes „Hintergut“ verblieb, waren also ebenso
ausgeschlossen, wie solche von Zwerggütern und Lati-
fundien.
In den drei Jahren 1888, 1889 und 1890 wurden in
Bayern 1415 ländliche Anwesen mit einem Areal von
14 054,06 ha zertrümmert, das ist 0,21 pCt. der sämmtlichen
landwirtschaftlichen Betriebsstätten und 0,24 pCt. der ge-
sammten landwirtschaftlich bebauten Fläche. Von diesen
1415 Fällen waren bei 905 gewerbsmässige Unterhändler an
der Zertrümmerung beteiligt; ihre Zahl wird auf 637 an-
gegeben. Die meisten Zertrümmerungen, nämlich 350
(Prozentverhältniss zur Fläche: 0,37), fanden im Kreis
Schwaben, die wenigsten, nämlich 8 (Prozentverhältniss zur
Fläche: 0,01), in der Pfalz statt.
Die statistische Erhebung aus den Jahren 1888 — 1890
ist nicht die erste in Bayern. Schon 1844 fand eine solche
für die Jahre 1825 — 1844 statt. Die Gesammtzahl der
Güterzertrümmerungen betrug damals 42 1 66 mit 427 287 ha,
in 3169 Fällen unter Beteiligung von Unterhändlern; bei
1244 Fällen wurde ein nachtheiliger wirtschaftlicher Ein-
fluss konstatirt. Die Zahlen sind also ungleich höher wie
bei der letzten Untersuchung; jedoch lässt sich hieraus
nicht mit Sicherheit auf eine Besserung der Verhältnisse
schliessen, wegen der oben erwähnten Begrenzung der
neueren Erhebung.
Die Statistik über die Gutszertrümmerungen im Jahre
1890 wurde nicht veröffentlicht, sondern es wurden nur ihre
Hauptergebnisse vom Minister des Innern in der Landtags-
sitzung vom 19. Dezember 1891 bekannt gegeben und so-
dann das ganze Material dem Generalkomitee des land-
wirtschaftlichen Vereins in Bayern zur gutachtlichen
Aeusserung übermittelt. Hier referirte der jüngst verstorbene
Helferich') mit dem bei ihm gewohnten feinen Sinn für
Thatsachen und für das praktisch Erreichbare. Helferich
sprach sich gegen Strafmassregeln und für die Grundsätze
des noch jetzt bestehenden württembergischen Gesetzes
vom 23. Juni 1853 aus. Dieses Gesetz verbietet die Ver-
steigerung von Grundstücken in Wirthshäusern und setzt
mit zwingender Wirkung eine mindestens 3-tägige Reuezeit
für den Käufer fest. Die wichtigste Bestimmung enthält
aber Art. 1 1 : wer ein oder mehrere Grundstücke im Flächen-
gehalt von mindestens 10 Morgen (— 3,45 ha) aus einer
Hand durch Kauf oder Tausch erwirbt, soll die ersten
3 Jahre nicht mehr wie den vierten Theil veräusserungs-
weise davon abtrennen dürfen2). Es sind vom Gesetz Aus-
nahmen zugelassen worden, die wir nicht weiter in Betracht
ziehen wollen.
Fast gleichzeitig mit der württembergischen Regierung,
nämlich ebenfalls im Jahre 1852, hatte die bayerische dem
Landtag einen Gesetzentwurf unterbreitet, der eine dem
Art. 1 1 des württembergischen Gesetzes analoge Vorschrift
enthielt und ausserdem die gewerbsmässige Zertrümmerung
unter Strafe stellte. Aber während letzterer Vorschlag vom
Landtag angenommen wurde, wurde jene Vorschrift mit
grosser Mehrheit abgelehnt. Die Strafnorm bestand bis zur
Einführung des Strafgesetzbuchs von 1861; sie erlag —
trotz der Bemühungen der bayerischen Regierung sie auf- ,
recht zu erhalten — den liberalisirenden Ideen der 60 er
Jahre.
Helferich verspricht sich von einer Uebertragung der '
Prinzipien des württembergischen Gesetzes nach Bayern
durchaus nicht die Verhinderung aller schädlichen Zer-
trümmerungen, aber er glaubt, man könne den gewerbs-
mässigen Güterschlächtern das Geschäft so erschweren, dass ;
es in der Hauptsache lahm gelegt würde, und stützt sich >
dabei auf die in Württemberg von „authentischer Seite“
gemachte Beobachtung, dass die Gesuche um Erlaubniss, ;
vor Ablauf der Sperrfrist zu verkaufen, fast aufgehört und ,
die Gutszertrümmerungen sich sehr vermindert haben, so-
wie auf eine Bemerkung der Kreisregierung von Schwaben,
dass neuerdings mehrere gewerbsmässige Güterhändler aus
Württemberg den Schauplatz ihrer Thätigkeit nach Bayern
verlegt haben. Dieselbe Regierung klagt darüber, dass von
Notaren noch in später Abendstunde auf die Protokollirung
der betreffenden Verträge eingegangen und es dadurch den
Händlern erleichtert wird, dem durch alle Schliche „breit
geschlagenen“ und „mürbe gewordenen“, auch wohl „be-
denklich angezechten“ Landmann keinen Moment zur
ruhigen Ueberlegung und zum Rücktritt freizulassen. Dies
würde allerdings für die Einführung einer Reuefrist sprechen.
Im Allgemeinen aber ist es sehr fraglich, ob man den
Güterzertrümmerungen in Bayern mit einem den württem-
bergischen Bestimmungen nachgebildeten Gesetze auf die
Dauer mit Erfolg entgegentreten kann. Es wäre freilich
an sich wünschenswerth , dass man die wucherischen
Manipulationen, die blutsaugerischen Schliche und Kniffe
der gewerbsmässigen Güterschlächter unmöglich machen
könnte. Vielleicht lässt sich auch ein WTeg finden, sie zu
erschweren. Aber das, was man mit einem Gesetz gegen
die Güterzertrümmerungen eigentlich in erster Linie be-
') Zeitschrift des landwirtschaftlichen Vereins in Bayern.
April 1892. I. Beilage.
2) Eine ähnliche Bestimmung hatte ein jetzt aufgehobenes
preussisches Gesetz von 1875, wonach der Käufer eines Gutes
erst nach Jahresfrist wieder verkaufen konnte.
No. 28.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
347
zweckt und was auch in Bayern eingestandenermassen der
Ausgangs- und Zielpunkt der ganzen Bewegung ist, — der
Verminderung der Bauerngüter Einhalt zu thun — , lässt
sich entweder überhaupt nicht erreichen oder nur mit dem
Opfer der gewaltsamen Hemmung einer schliesslich doch
unaufhaltsamen wirthschaftlichen Entwicklung. Es lässt
sich nämlich die Thatsache nicht aus der Welt schaffen,
dass Altbayern, bisher der Typus eines agrarischen
Landes, einer immer grösseren Industrialisirung entgegen-
geht. München mit seinem ungemein raschen grossstädti-
schen und industriellen Wachsthum hat bereits seine Um-
gebung ihres rein ländlichen Charakters entkleidet und
droht, immer weitere Kreise in den Bann seines wirthschaft-
lichen Einflusses zu ziehen. Zahlreich sind die Fabrik-
unternehmungen, die in den letzten 10 — 15 Jahren, meistens
wegen des billigen Bodens und der niederen Löhne, in
Oberbayern auf dem platten Lande entstanden sind. Auch
diejenigen Theile des Königreichs, welche schon bislang
eine entwickelte Industrie besassen, vor allem Schwaben
und Mittelfranken, zeigen eine unverkennbare Tendenz zur
weiteren Verdrängung des agrarischen Elements, zur Hin-
austragung der Industrieen in ländliche Gegenden, zur
Durchdringung des Bauernstandes mit modernen — kapi-
talistischen oder sozialistischen — Ideen. Der erleichterte
Verkehr würfelt die städtische und ländliche Bevölkerung
durcheinander. Der „Bauernknecht“ wandert in die Stadt,
durch die höheren Löhne und das freiere Leben angelockt,
der städtische Arbeiter durchzieht bei ungünstiger Kon-
junktur das Land, Arbeit suchend. Der „Oekonom“ siedelt
sich, sobald es ihm die Verhältnisse einigermassen erlauben,
in der Stadt an, des bequemen Lebens und der Ver-
gnügungen halber. Dass bei solcher Sachlage die alte Sitte
der Geschlossenheit der Bauerngüter sich lockern, dass die
Idee von der Heiligkeit des väterlichen Erbes immer mehr
dahin schwinden muss, ist klar. Nicht also die Unreellität
einiger Güterhändler, sondern der eigene Wunsch des
Bauernstandes, in letzter Linie die Hereinziehung des platten
Landes in den Strudel des modernen Erwerbslebens, wo
der Grundsatz gilt: „mit möglichst wenig Kosten ein mög-
lichst grosser Gewinn“, der Sieg des Konkurrenzprinzips
über das Herkommen ist es, was die Bauerngüter bedroht.
Gegen solche Mächte aber „ist kein Kraut gewachsen“.
Augsburg. Arthur Cohen.
Arbeiterausscliüsse in Oesterreich. Nach Mittheilungen,
die in seiner letzten Generalversammlung vom 19. Juni d. J.
gemacht wurden, hat der Verein der österreichisch-
ungarischen Papierfabrikanten bezüglich des Gesetz-
entwurfes, betreffend die Einführung von Arbeiterausschüssen,
Fabriksgenossenschaften und Einigungsämtern, die vom Gewerbe-
ausschusse des Abgeordnetenhauses gestellten Fragen dahin
beantwortet, „dass bei der Papierindustrie eine Noth wendigkeit
für einen gesetzlichen Zwang zur Errichtung von Arbeiteraus-
schüssen absolut nicht vorhanden ist, wesshalb den Unternehmern
die freiwillige (fakultative) Bildung von Arbeiterausschüssen je
nach örtlichen Verhältnissen und Bedarf umsomehr überlassen
werden kann, als die Papierindustrie in ihrer überwiegenden
Majorität dieser Institution, sobald deren Durchführung den
Unternehmern überlassen ist, freundlich gegenübersteht Für
die Errichtung von Fabriksgenossenschaften macht sich nicht
nur gar kein Bedürfniss geltend, vielmehr muss die zwangs-
weise Errichtung solcher Genossenschaften als der nothwendigen
Fabriksdisziplin abträglich und zu einer direkten Schädigung
des bis nun ungetrübten Einvernehmens aller arbeitenden Fak-
toren führend erkannt werden“.
Minimallöhne für städtische Angestellte in Zürich.
Wir berichteten bereits im Sozialpolitischen Central-
blatt, dass der Nationalrath Vogelsanger in der Abge-
ordnetenversammlung zur Feststellung des Statuts für die
Gemeinde (Gross-) Zürich die Einführung eines Minimal-
taglohnes von 4 Frcs. für die Arbeiter in städtischen
Diensten beantragt hat. Am 11. Juni wurde sein Antrag
mit 46 gegen 38 Stimmen angenommen. Ausserdem
wurde einem Anträge Graf’s entsprechend der Minimal-
lohn für Handwerker auf 4'^ Eres, festgesetzt und
durch Annahme eines Antrags Dr. Amsler’s der Antrag
Vogelsangers noch bedeutend erweitert. Der Antrag
lautete: „Für Bauunternehmer und Akkordanten, welche
von der Stadt Arbeiten übernehmen, sind obige Grundsätze
ebenfalls massgebend und es sind bezügliche Bestimmungen
in die Verträge aufzunehmen. Die städtischen Behörden
haben die Erfüllung dieser Pflichten zu überwachen und
dafür zu sorgen, dass die Arbeiter dieser Unternehmer aus
den von der Stadt bezogenen Beträgen vertragsgemäss aus-
bezahlt werden.“
Arbeiterzustände.
Zur Entwickelung der Hausindustrie in Preussen.
Im Allgemeinen waren und sind die Mittheilungen
über die Hausindustrie, ihre Ausdehnung, Ab- oder Zu-
nahme, ihre Arbeiterverhältnisse u. s. w. in den Berichten
der preussischen Fabrikinspektoren recht dünn gesät,
| während z. B. einzelne österreichische Gewerbeinspektoren
schon als Anhänge zu ihren amtlichen Berichten ganze
Spezialstudien über dortige Hausindustrien lieferten. Auch
die neuesten, vor Kurzem ausgegebenen „Jahresberichte
der Königlich Preussischen Regierungs- und Gewerbe-
räthe für 1891, Amtliche Ausgabe“ (Berlin, 1892, W. J.
Bruer) enthalten keine solche Beigaben, wie die öster-
reichischen Referate. Aber sie bringen doch einiges
Material mehr als früher, namentlich über das Verhältniss
der Fabrikindustrie zur Hausindustrie, und diese Angaben
sollen im Nachfolgenden zusammengestellt und in ihrer
wirthschaftlichen Bedeutung gewürdigt werden.
Einen allgemeinen Situationsbericht aus der Textil-
hausindustrie seines Bezirks giebt zunächst der Gewerbe-
inspektor für Sigmaringen, indem er schreibt: „Die
Lage der Arbeiter der Hausindustrie ist wegen des einge-
tretenen flauen Geschäftsganges in der Trikotbranche inso-
fern ungünstiger geworden, als weniger Aufträge erfolgen,
und in Folge dessen die Stücklöhne einen wenn auch
nur geringen, Rückgang erlitten haben. Der Verdienst,
hauptsächlich der Arbeiterinnen, in dieser Industrie ist
überhaupt ein verhältnissmässig geringer. Es muss
vom frühen Morgen bis spät in die Nacht gearbeitet werden,
um 80 Pf. bis 1 M. zu verdienen. Der Umstand, dass die
Arbeiter und Arbeiterinnen der Hausindustrie meistens An-
gehörige kleiner Landwirthe und Gewerbetreibenden sind
und bei diesen Beköstigung und Wohnung haben, trägt
aber wesentlich dazu bei, dass diese Nachtheile weniger
schwer empfunden werden.“ Uebermässig lange Arbeitszeit
und sehr geringer Verdienst bilden also auch hier die her-
vorragenden Merkmale der Hausindustrie. Was das „weniger
schwere Empfinden dieser Nachtheile“ und die Begründung
desselben durch den Inspektor betrifft, so wird diese Seite
der Sache wohl wissenschaftlich richtiger umgekehrt zu
beurtheilen sein: eben weil die betreffenden Arbeiterinnen
billige Verpflegung bei ihren Angehörigen haben, bilden
sie besonders geeignetes Ausnutzungsmaterial für die Unter-
nehmer. Noch genauere Daten über die Ausbreitung der
hausindustriellen Lohnarbeit und ihre Bezahlung geben
aber zwei norddeutsche Gewerbeinspektoren. Zunächst
schreibt der Gewerberath für Pommern: „Bemerkens-
werth ist die Beschäftigung zahlreicher Mädchen und
Frauen in Stettin und nächster Umgebung durch die
grossen Konfektions- und Zuschneidegeschäfte in
Stettin. Dort bestehen 18 Engrosgeschäfte für Herren-
und Knabenkonfektion, 2 für Damenmäntel, 3 für Damen-
kleider, 4 für Weisswaaren. Die 3 Damenkleidergeschäfte
arbeiten nur auf Bestellung und beschäftigen zusammen
gegen 60 Mädchen und Frauen, aber nur im Geschäft selbst.
Letztere verdienen täglich 1 M. bis 2 M., im Durchschnitt
1,50 M., je nach der Leistung. In der Herren- und
Knabenkonfektion beschäftigen einige grössere Ge-
schäfte bis zu 70, kleinere bis zu 30 Mädchen und Frauen
mit Hausarbeit. Die .Stoffe werden im Geschälte zuge-
schnitten und vorgerichtet und von den Arbeiterinnen zu
Hause fertig genäht. Schwere Herrensachen werden an
Schneidermeister vergeben, welche Gesellen halten. Für
das Nähen von Kinder- und Knabenanzügen wird für den
Anzug 30 bis 80 Pf. bezahlt, im Durchschnitt 50 Pf. Durch-
schnittlich verdient ein Mädchen, welches ohne Hilfe
arbeitet, wenn es fleissig und geübt ist, 10 bis 12 M., bei
348
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 28
besseren Anzügen bis zu 15 M. wöchentlich. Nach Aus-
weis der Bücher verdiente eine Familie von Vater, Mutter
und 2 Töchtern wöchentlich gegen 45 M. Der Vater ist
jedoch schon alt und besorgt nur die Ausgänge. Eine
andere Frau mit 2 Töchtern verdiente 40 Iris 50 M. Für
das Nähen von gedruckten Parchendhemden (ordinäre
Waare) wird 1,50 bis 2 M. für das Dutzend bezahlt. Geübte
Arbeiterinnen nähen wöchentlich 6 bis 7 Dutzend. Für
weisse baumwollene Hemden mit fünf Knöpfen werden 1,50
bis 3 Mark für das Dutzend, je nach Ausschmückung, für
gute halbleinene Hemden mit Besatz 2 bis 3 M. für das
Dutzend bezahlt. Dabei nähen sehr geübte Arbeiterinnen
täglich bis 1 Dutzend Hemden. Persönliche Besprechung
mit einer geübten Arbeiterin ergab, dass diese mit Hilfe
einer jüngeren Schwester und der Mutter von Dienstag
Morgen bis Donnerstag Abend, bei einer Arbeitszeit von
7 Uhr Morgens bis 7 Uhr Abends und I Stunde Mittags-
pause, 40 Hemden gefertigt hat. Zwei junge Mädchen,
welche zusammen haushalten, haben ohne weitere Hilfe in
zwei Tagen zusammen 10,10 M. verdient. Sie sind sehr
fleissig und arbeiten manchmal von 5 Uhr Morgens bis
10 Uhr Abends, besorgen aber zugleich ihren Haushalt.
Die Löhne in hiesigen Fabriken für Arbeiterinnen betragen
1 bis 1 ,40 M. täglich, also 6 bis 8,40 M. wöchentlich, während
fleissige geübte Maschinennäherinnen bis zu 15 M. wöchent-
lich verdienen können. Handnäherinnen verdienen aller-
dings nur 5 bis 8 M. wöchentlich, mit Ausnahme geschick-
ter Monogrammstickerinnen, deren Verdienst bis auf 2 M.
täglich steigt. Die Zahl der in dieser Weise beschäftigten
Frauen und Mädchen in Stettin und den Vororten schwankt
nach meiner Schätzung, je nach der Saison, zwischen 600
und 1000.“ Das Bestreben dieser Schilderung ist offenbar,
die Lohnverhältnisse der haus industriellen Arbeiterinnen in
und um Stettin in einem möglichst vortheilhaften Lichte
erscheinen zu lassen. Nur krankt die Darstellung an eini-
gen nicht unwesentlichen Lücken. Für drei Hausarbeite-
rinnen ist die Arbeitszeit mit 1 1 Stunden für eine bestimmte
Sorte Arbeit angegeben. Bei zwei anderen Hausarbeiterinnen
wurde eine tägliche Arbeitszeit von „manchmal“ 17 Stunden
brutto ermittelt. Welche Arbeitszeit trifft nun für die
Mehrzahl der hausindustriellen Kleiderarbeiterinnen zu?
Es ist nicht unmöglich, dass dies mehr mit der übermässig
ausgedehnten der Fall ist, als mit der kürzeren 1 1 ständigen.
Dann erscheinen Tagesverdienste von „1,50 bis 2 M.“ für
ordinäre Parchenthemden, die wohl die Masse bilden, bei
„geübten“ Arbeiterinnen nicht sehr hoch Es kommt aber
hinzu, dass die Arbeiterinnen aller Wahrscheinlichkeit noch
Unkosten der Arbeit, vielleicht gewisse Zuthaten, mindestens
aber Arbeitsraum, Licht und Heizung und Werkzeuge
stellen müssen. Wenn dies zutrifft, so verschwindet bei
näherem Zusehen sehr schnell der Glanz, den die an-
scheinend hohen Lohnziffern auf den ersten Blick ver-
breiteten. Endlich ist auch noch die Frage offen, ob die
Beschäftigung regelmässig oder mit unfreiwilligen Pausen
stattfindet und ob nicht die Arbeit des Ablieferns ebenfalls
in Anschlag gebracht werden muss. Kurz - — es wäre sehr
dankenswerth, wenn der Gewerberath für Pommern in
seinem nächsten Berichte alle diese Dinge recht gründlich
auf klärte. Vielleicht kommt er dann zu ähnlichen Ergeb-
nissen, wie sein Kollege in Magdeburg. Derselbe schreibt:
„Für die niedrigen Löhne, welche, namentlich an Arbeite-
rinnen, bisweilen bezahlt werden, seien folgende Beispiele
angeführt. In Genthin ist ein Unternehmer ansässig, welcher
für berliner Engrosgeschäfte Borden und Besätze für Damen-
Konfektionsartikel anfertigen lässt. Er beschäftigt gegen
100 Arbeiterinnen, welche in den benachbarten Dörfern
wohnen. In Genthin selbst finden sich nur sehr wenige
Frauen, welche für die gezahlten Löhne Arbeit übernehmen.
Die Frau des Unternehmers, eine geschickte und geübte
Arbeiterin in diesem Fache, entwirft die Muster und fertigt
grössere Probestücke. Nach der darauf verwendeten Zeit
berechnet sie die zu zahlenden Arbeitslöhne, indem sie
einen Satz von 10 Pf. für die Stunde zu Grunde legt.
Die weniger geschickten ländlichen Arbeiterinnen können
diesen Höchstlohn natürlich nicht erreichen. Nach
den Angaben des Unternehmers verdienen die Arbeite-
rinnen wöchentlich durchschnittlich 3 bis höchstens
4 M. Die Anzahl der Stunden, die zur Erreichung
eines solchen Verdienstes aufgewendet werden muss, ist
schwer festzustellen, da es sich um eine Hausindustrie
handelt. In Aschersleben sind mehrere grössere Papier-
waaren- und 1 )th enfabriken, welche Arbeiterinnen theils in,
theils ausserhalb der Fabrik beschäftigen. Namentlich
Diiten für Ivolonialwaarengeschäfte, Cigarrenbeutel u. s. w.
werden viel im Hause geklebt Die Arbeiterinnen, meist
Frauen von Arbeitern und auch ältere Wittwen, welche
ihre kleinen Wirthschaften nebenbei besorgen und die
Kinder mit zur Arbeit heranziehen, erhalten die zuge-
schnittenen Papiere und den Kleister, kleben die Diiten in
ihren Wohnungen und liefern sie fertig wieder ab. Sie er-
halten je nach Art und Grösse der Düten 15 bis 40 Pf. für
je Tausend Stück. Nach den Umfragen, welche ich bei
10 Arbeiterinnen in ihren Wohnungen gehalten habe, stellt
sich der Verdienst für die Stunde auf 7,5 bis 8 Pf.
Der Mann einer dieser Arbeiterinnen, welche 2 Kinder im
Alter von 1 und 3 Jahren zu versorgen hatte, arbeitete in
der Fabrik gegen einen Wochenlohn von 15 M., die Frau
verdiente 50 Pf. täglich mit Diitenkleben nebenbei. Für
eine Wohnung von 2 Zimmern und Küche zahlte dieses
Ehepaar 120 M. jährlich. Nach den Mittheilungen der Frau
hatte es nach einer kleineren und billigeren Wohnung ge-
sucht, eine solche aber nicht gefunden.“ Das sind, wie
Jeder zugestehen wird, Lohnverhältnisse, die ganz ausser-
gewölmlich traurig genannt werden müssen. Sie werden
„nach Angaben des Unternehmers“ geschildert, sind also
gewiss nicht zu schwarz gefärbt; und was die Arbeitszeit
der ausgenutzten Frauen betrifft, so macht die Wendung,
dass dieselbe „schwer festzustellen“ sei, der Gewissenhaftig-
keit des magdeburger Aufsichtsbeamten alle Ehre. Der-
selbe verfährt hierin weit vorsichtiger, als der pommersche
Referent, und dass die Arbeitszeit eine besonders kurze sei,
soll gewiss mit der Aeusserung nicht gesagt sein.
Soweit die Angaben über die Statistik der preussischen
Hausindustrie. Besonders auffällige Symptome, die für das
Bestreben gewisser Unternehmer, die Hausindustrie aus-
zudehnen, sprechen, werden aber nun noch von zwei weite-
ren Beamten berichtet. Es schreibt nämlich der Gewerberath
für Berlin und Charlottenburg: „Auffällig ist es mir
gewesen, dass einzelne Fabriken, besonders solche zur An-
fertigung von Konfektionsartikeln, ihren Arbeiter.stand plötz-
lich bedeutend verringerten, während die Ausdehnung des
Geschäftes selbst dieselbe blieb. Die angestellten Ermitte-
lungen führten zu der Vermuthung, dass der grösste Theil
der entlassenen Arbeiter im Hause beschäftigt wird, und
dass die Absicht, sie von den Beiträgen zur Invaliditäts-
und Altersversicherung, vielleicht auch von den Beiträgen
zur Unfallversicherung zu befreien, auf die Aenderung nicht
ohne Einfluss gewesen ist. Ich werde es mir angelegen
sein lassen, dieser Angelegenheit näher zu treten.“ Man
wird zugeben, dass die Beweggründe der Ausdehnung der
Hausindustrie, welche der Beamte vermuthet, eines hohen
sozialpolitischen Interesses nicht entbehren und kann seinen
weiteren Mittheilungen nur mit grosser Spannung entgegen-
sehen. Nach einer anderen Richtung ergänzt werden diese
Daten durch eine Stelle im Berichte des Gewerberathes
für Ost- und Westpreussen. Dieselbe lautet: „Die Haus-
arbeit scheint in den grösseren Städten hauptsächlich in
Königsberg nicht unerheblich zugenommen zu haben.
Zu den ausserhalb der Fabriken geleisteten Arbeiten gehört
besonders das Kleben von Zündholzschachteln,
Düten und Kartonnagen, das Sortiren und Putzen von
rohen Bernsteinstücken, die Anfertigung von Nähe-
reien, Stickereien u. s. w. Es wird dieser Hausarbeit
in Zukunft eine grössere Aufmerksamkeit zugewendet
werden müssen, da die Zunahme weniger auf die Abneigung
der Mädchen, in den Fabriken zu arbeiten und als Fabrik-
arbeiterinnen zu gelten, als auf das Bestreben von Arbeit-
gebern zurückzuführen sein dürfte, sich durch Einschrän-
kung der in ihren Werkstätten beschäftigten Zahl von
Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern den Vorschriften
der Gewerbeordnung bezüglich der täglichen Arbeitsdauer,
Beschaffenheit und Grösse der Arbeitsräume u. s. w. mög-
lichst zu entziehen.“ Der letzte Satz des Aufsichtsbeamten
dürfte an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen.
Nur wäre die „grössere Aufmerksamkeit“, welche
der letztgenannte Beamte diesen wichtigen Verhältnissen
„in Zukunft“ zuwenden will, möglichst zu verallge-
meinern. Das preussische Handelsministerium hätte wohl
die dringende Aufgabe, alle Inspektoren an der Hand
der Aeusserungen des Beamten für Ost- und Westpreussen
zur schleunigen und eingehenden Beobachtung, sowie gründ-
lichen Berichterstattung über eine etwaige Ausdehnung der
Hausarbeit in Preussen zu veranlassen, die in der Haupt-
sache eine Umgehung der Arbeiterversicherungs- und
Arbeiterschutzvorschriften bedeuten würde. Schlüsse auf
die Nothwendigkeit gesetzgeberischer Massnahmen, die in
No. 28.
SOZIALPOl .ITISCHES CENTRALBLATT.
349
Gestalt einer Ausdehnung des Arbeiterschutzes auf die
Hausindustrie von der volksthümlichen Sozialpolitik schon
sehr lange gefordert werden, dürften sich dann sehr rasch
ergeben. Selbstverständlich müsste bei der Beobachtung
und der Berichterstattung zwischen den bekannten zwei
Kategorien der Hausarbeit scharf unterschieden werden:
Der Hausarbeit auf eigene Rechnung und mit Material, das
der Hausindustrielle selbst beschafft, und der Hausarbeit
auf fremde Rechnung mit fremdem Material. So berichtet
der Gewerberath für Aachen und Trier von Selbsthilfe-
massnahmen selbständiger Hausindustrieller seines Bezirkes
Folgendes: „Auf dem „Hochwald“ im Landkreis Trier, wo
die Industrie sehr spärlich vertreten ist, ernähren sich viele
Leute durch Schmieden von Nägeln in Hausarbeit. In
den letzten Jahren war der Verdienst dieser fleissigen
Nagelschmiede sehr zurückgegangen, was zum grössten
Theil dem Umstande zugeschrieben wurde, dass immer
grössere Theile des sauer Verdienten in den Händen ge-
wisser Zwischenhändler verblieben. Im Laufe des Bericht-
jahres bildeten sich nun in Hermeskeil und Nonnweiler
„Genossenschaften der Nagelschmiede mit unbeschränkter
Haftpflicht.“ Diese Vereinigungen bezwecken „die gemein-
schaftliche Beschaffung der zur Anfertigung der Nägel er-
forderlichen Rohstoffe für die Mitglieder und den gemein-
schaftlichen Verkauf der daraus von den Mitgliedern ge-
fertigten Nägel, sowie die sittliche Hebung der Mitglieder.“
Den beiden Genossenschaften traten sofort die meisten
Nagelschmiede der obengenannten Ortschaften und der
Umgegend bei, so dass die Vereinigung jetzt rund 300 Mit-
glieder zählt, welche mit der Neueinrichtung ganz be-
sonders zufrieden sind. Mancher Nagelschmied des Hoch-
waldes erzählte mir mit freudigem Stolz, dass sein Verdienst
jetzt mindestens doppelt soviel betrage, wie vor einem
Jahre.“ Bezüglich dieser selbständigen Hausindustriellen
wäre die Dringlichkeit einer aufmerksamen Beobachtung
und eines eventuellen gesetzgeberischen Eingreifens wohl
nicht ganz so gross, als bezüglich der Lohnhausarbeiter.
Ter Wunsch jedes Arbeiterfreundes kann es nur sein, dass
die auf diese Weise scharf umgrenzte und wichtige Auf-
gabe von der preussischen Gewerbeverwaltung entschlossen
in Angriff genommen wird.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Arbeitslosigkeit in Chemnitz. Der Chemnitzer Verein
,. Arbeit für Bettler und vorübergehende Beschäftigungslose“
unterstützte durch Nachweis von gelegentlicher Arbeit u s. w.
im Jahre 1890/91 3599 Personen gegen 5229 im Jahre 1891/92. Die
Zahl der Unterstützten hat sich im Laufe eines'Jahres um 45 pCt.
vermehrt. 4651 der Unterstützten entstammten dem deutschen
Reiche, von welchen nur 1837 die sächsische Staatsangehörigkeit
besassen, 496 waren Oesterreicher und 86 sonstige Ausländer.
Die verhältnissmässig geringe Zahl der Sachsen illustrirt die
allgemeine wirtschaftliche Depression und nicht nur die des
Ortes Chemnitz, sie kann auch als Beweis für die Stärke der
inneren Wanderungen betrachtet werden, welche soziale Noth
intensiver gestaltet. Nur 70 der Unterstützten, also ca. I1/? pCt.,
waren Strafentlassene. Nach dem Alter vertheilten sich die
Unterstützten wie folgt:
Alter:
U nters
1892
tiitzte:
1891
15-
-16
Jahre . . .
82
55
17-
-18
y> ...
846
582
19-
-20
j, ...
1366
733
21-
-22
i) ...
775
462
23-
-25
5) ...
539
404
26-
-30
)) ...
493
414
31-
-35
5)
287
219
36-
-40
206
179
41-
-45
V) ...
320
162
46-
-50
5) ...
123
111
51-
-55
jj ...
117
113
56-
-60
D ...
45
45
61-
-65
55 ....
23
18
66-
-70
)) ...
6
2
71-
-75
1
— .
Nach den Geweifäen gruppirten sich die Unterstützten
wie folgt:
1892
1891
Handarbeiter. . . .
794
616
Schlosser
485
267
Tischler
244
129
Schneider
232
160
Bäcker
183
129
Weber
174
160
1892
1891
Schuhmacher . . .
169
139
Sattler
163
139
Fabrikarbeiter . . .
141
179
Klempner ....
139
95
Schmiede
1 17
60
Maurer
103
85
Buchbinder . . .
89
55
Brauer
81
40
Fleischer ....
82
91
Dreher
77
43
Strumpfwirker . .
76
64
Dekorationsmaler . .
59
30
Porzellanmaler . . .
51
12
Steinmetzen . . .
49
30
Zimmerleute ....
46
60
Töpfer
46
60
Bergarbeiter ....
44
54
Gärtner
43
42
Stellmacher ....
42
29
Glasmaler
41
24
Spinner
40
12
Cigarrenarbeiter . .
40
32
Schriftsetzer ....
37
19
Barbiere
32
31 u. s. w.
Bei den Arbeitern aller Gewerbe, fünf blos ausgenommen, steigerte
sich die Zahl der Unterstützten.
Nach Monaten geordnet gruppirt sich die Gesammtzahl
folgendermassen :
1891: April 354 Personen, Mai 286, Juni 473, Juli 451, August
507, September 439, Oktober 538, November 470, Dezem-
ber 464.
1892: Januar 447, Februar 423, März 377 Personen.
Der Verein verabreichte 942 Portionen Frühkaffee, 1190
Frühstücke, 887 Mittagessen, 3197 Nachmittagskaffee, 4027 Abend-
brote, 4548 Nachtquartiere. In den meisten Fällen gab man den
Beschäftigungslosen also Abendbrot und Nachtquartier, auch
Kleidungstücke, Röcke und dergleichen, an baarem Gelde nur
252 M. 15 Pf.
Eine englische Denkschrift über die Arbeitslosigkeit.
Eine interessante Denkschrift über die Arbeitslosigkeit hat der
Stadtdistriktsvorstand von Bermondsey kürzlich dem Premier-
minister Salisbury zugeschickt. Die Denkschrift glaubt, dass
die Ursachen der Arlfeitslosigkeit, die dem Vorstand in den
letzten Jahren viel zu schaffen machte, daran liegen, dass das
grosse Heer von Arbeitern, welche im Postamt, in den Staats-
departements, in den Parks, den Gefängnissen, der Armee,
Marine und Polizei beschäftigt sind, ausserordentlich lange
Arbeitszeit haben, während ihre Löhne entsetzlich niedrig sind.
Die grossen Aktiengesellschaften, welche London mit Gas,
Wasser u. s. w. versorgen und den Verkehr halb monopolisiren,
haben das böse Beispiel, welches die Regierung ihnen gegeben
hat, nachgeahmt. Im Eisenbahndienst ist die Arbeitszeit noch
länger als im Postamt und die gezahlten Löhne sind wahre
Hungerlöhne Die Denkschrift macht die Regierung für diesen
Zustand der Dinge verantwortlich Auch die Schnapskneipen
tragen viel Schuld an der bestehenden Arbeitslosigkeit. Das
Volk müsse direkt mitzureden haben, ob und wem Schank-
gerechtigkeiten ertheilt werden sollten.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Arbeitsordnungen als Strikeanlässe. Den vom Sozialpoli-
tischen Centralblatt schon erwähnten Fällen, in welchen die vom
neuen Gewerbegesetz vorgeschriebenen Arbeitsordnungen Aus-
stände veranlasst haben, reiht sich ein neuer an, über welchen
halbamtliche badische Blätter folgende Darstellung bringen:
„Aus Anlass der Erlassung der neuen Arbeitsordnungen in den
Fabriken auf Grund des Gesetzes vom 1 Juni 1891 hat im
Lande (Baden) nur eine Arbeitseinstellung stattgefunden, welche
wohl deswegen grösseres Aufsehen erregt hat. Sie betraf eine
der namhaftesten Eisengiessereien des Landes, diejenige von
Flink in Mannheim. Auch diese Arbeitseinstellung ist nach nur
kurzem Bestehen am 17. Juni beendigt worden, nachdem schon
in einer am 10. d. M. unter Zuzug eines Vertreters der Fabrik-
inspektion stattgehabten Verhandlung zwischen dem Arbeit-
geber und einigen Abgeordneten der Arbeiter eingehende Be-
sprechungen über die Grundlagen einer Verständigung statt-
gefunden hatten. Bezüglich der Arbeitsordnung hancfelte es
sich hierbei nur um untergeordnete Differenzpunkte, über die
ohne Schwierigkeit Verständigung herbeigeführt werden konnte.
Das weitere Verlangen der Arbeiter nach Einsetzung eines
ständigen Arbeiterausschusses, welches bisher von dem Arbeit-
geber abgelehnt worden war, -wurde von demselben zugestanden,
und es wurden bezüglich dieses Ausschusses die wichtigeren
350
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 28.
Bestimmungen vereinbart. Das Verlangen nach Entlassung des
Giessmeisters, welches zudem mit den eigentlichen Differenz-
punkten nicht zusammenhing, war unannehmbar und wurde
fallen gelassen. Von den im Prinzip zwischen dem Arbeitgeber
und sämmtlichen Ausständigen geschlossenen Ausgleiche musste
nur Einer ausgenommen werden, der sich böswillige und be-
leidigende Verunglimpfungen des Arbeitgebers durch die Presse |
hatte zu Schulden kommen lassen Die Verzögerung der end-
gültigen Beilegung des Ausstandes nach den gemeinsamen Ver-
handlungen entstand dadurch, dass verlangt wurde, die Aus-
ständigen sollten sämmtlich, mit Ausnahme des Genannten,
sofort wieder in die Arbeit eintreten. Die Erfüllung dieser
Bedingung lag ausserhalb der Macht des Arbeitgebers, da
einerseits sein Geschäft seit dem Ausstande in Folge von
Zurückziehens oder Rückgängigmachens von Aufträgen abge-
nommen hatte, andererseits einzelne Arbeiter neu eingestellt
worden waren. Er konnte nur Zusagen, so viel Arbeiter wieder
aufzunehmen, und keinen Fremden mehr einzustellen, so lange
noch einer der früheren Arbeiter ohne Beschäftigung sei Nach
einigem Zögern wurde auf diese nach den Verhältnissen noth-
wendige und ausserhalb jeder Willkür liegende Art der Wieder-
aufnahme der Arbeit ei'ngegangen Die Beilegung des Aus-
standes ist dem an den Tag gelegten guten Willen des Arbeit-
gebers sowohl, wie der Arbeiter und den besonders am Schlüsse
in der gleichen Richtung eintretenden Bemühungen der Führer
der Arbeiter zu danken.“
Unternehmerverbände.
Der Central verband der Industriellen Oesterreichs.
Die Statuten des Centralverbandes der Industriellen Oester-
reichs haben die vom österreichischen Vereinsgesetz er-
forderliche Bescheinigung am 15. Juni erhalten. Nach dem
Statut können nur solche Vereine, respective Verbände,
Mitglieder des Centralverbandes sein, „welche statuten-
gemäss die Interessenvertretung einer bestimmten Industrie
(Branche) bezwecken.“ Einem Verein wird jährlich die
Geschäftsführung übertragen, welcher mit zwei anderen
das ständige Komitee bildet. Alljährlich findet ein gemein-
samer Verbandstag statt, auf welchem sich jeder Verein
(Verband) durch vier Delegirte vertreten lassen kann. Die
übrigen Bestimmungen des Statuts beziehen sich auf die
durch das Vereinsgesetz vorgeschriebenen formalen Bedin-
gungen. Die „Neue Freie Presse“ vergleicht den österreichi-
schen Centralverband mit dem Centralverband deutscher In-
dustrieller in Berlin und bemerkt: Der Zweck und die Mittel
sind allerdings hier wie dort die gleichen; in der Organi-
sation jedoch weichen beide Institute nicht unwesentlich
von einander ab. Der deutsche Centralverband ist auf viel
breiterer Basis aufgebaut; es können ihm nicht nur Vereine
beitreten, „welche wirtschaftliche, technische und kauf-
männische Zwecke verfolgen“, sondern auch „Handels- und
Gewerbekammern und ähnliche Verbindungen, Erwerbs-
gesellschalten, Firmen und einzelne Personen (Industrielle
und Freunde der Industrie)“. Der österreichische Central-
verband besteht lediglich aus Fachverbänden, welche nur
je eine Stimme haben.
Internationales Kartell der Papierfabrikanten. Ein
solches wird geplant und für die Rentabilität der Industrie als
dringend notwendig bezeichnet in Aeusserungen, welche auf
der 19. Generalversammlung des „Vereins österreichisch-unga-
rischer Papierfabrikanten in Wien“ (19. Juni d. J.) fielen. Die
Mehrheit der Anwesenden sprach sich dahin aus, dass es zur
Besserung der Lage der Papierindustrie, respektive behufs Ent-
lastung des. Marktes wünschenswert sei, eine allgemeine Be-
triebsreduktion, sei es auf dem Wege gemeinsamer freiwilliger
Beschränkung der Produktion oder durch die gesetzliche Ein-
führung der Sonntagsruhe, auch bei der Papierindustrie, für den
Fall eintreten zu lassen, wenn diese Massregel, d. i. die Betriebs-
reduktion im Wege internationaler Vereinbarung auch bei den
anderen Industriestaaten des Kontinents zu erzielen wäre.
Handwerkerfragen.
Inmingsbewegung im F 1 ei scjherge werbe. Am 23. und
24. Juni d. J. tagte in Metz der XV. deutsche Fleischer-
verbandstag, dem rund 900 Innungen mit 22 000 Mit-
gliedern angehören. Erschienen waren 103 Delegirte aus
allen Theilen Deutschlands. Es wurde eine ganze Anzahl
von Beschlüssen gefasst, von denen die meisten in Gestalt
von Anträgen dem Bundesrath zugehen werden. Eine lange
Erörterung entspann sich über die staatliche Viehversiche-
rung. Man einigte sich dahin, die Reichsversicherung für
Verluste durch Tuberkulose zu erstreben. Schliesslich
wurde ein neues Statut für die Verbandsbücher angenommen.
Die Verbandsbücher sind Eigenthum des Verbandes und
sollen denjenigen Gesellen zeitweilig oder dauernd entzogen
werden, welche Veruntreuungen u. s. w. begangen oder an
sozialdemokratischen Umtrieben sich betheiligt haben !
Dresden wurde als Ort der nächstjährigen Zusammenkunft
gewählt.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Arbeiterscbutzmassregcln für die Wiener Verkehrs-
anlagen. Anlässlich der Berathung der Regierungsvorlage
über die Wiener Verkehrsanlagen ist im österreichischen
Abgeordnetenhause eine Reihe von Schutzmassregeln für
die beim Baue beschäftigten Arbeiter vorgeschlagen wor-
den. Es sind dies zunächst ein Antrag der Abgeordneten
Baernreither und Russ, wonach die Arbeiterschutzbestim-
mungen des sechsten Hauptstückes der Gewerbeordnung
auf alle Arbeitspersonen ausgedehnt werden sollen, die bei den
Wiener Bauten beschäftigt sein werden, und ein besonderer
Gewerbeinspektor zur Ueberwachung dieser Arbeiten eingesetzt
werden soll, ferner ein Antrag des Abgeordneten Kaizl auf all-
gemeine Ausdehnung des Arbeiterschutzes ohne Rücksicht auf
die Wiener Bauten; endlich Resolutionen, welche den Ausschluss
von Nichtösterreichern und Subunternehmern, Schaffung von
kleinen Bauloosen und die Festsetzung eines Minimallohnes von
fl. 1.30 im Vereine mit einer Maximalarbeitszeit von 10 Stunden
verlangen.
Sämmtliche Anträge wurden vom Abgeordnetenhause dem
Gewerbeausschusse zur Berichterstattung zugewiesen, welcher
sich kürzlich seiner Aufgabe entledigt hat. (Referent Abgeord-
neter Baernreither.) Der Ausschuss empfiehlt dem Hause, den
Antrag Baernreither - Russ nebst einer Resolution anzunehmen,
durch welche die Regierung aufgefordert wird, bei Ausführung
der erforderlichen Bau-, Erd- und Wasserarbeiten durch ver-
tragsmässige Bestimmungen die Gleichstellung, bezw. Unter-
ordnung sämmtlicher Bei diesen Arbeiten beschäftigten Personen
unter die Gewerbeordnung zu sichern und bei diesen Personen
auch die Handhabung der Vorschriften über den Maximal-
arbeitstag, das Verbot der Kinderarbeit und der Nachtarbeit bei
Frauen sowie die Einschränkung der Arbeit jugendlicher Per-
sonen durch Vereinbarung mit den Unternehmern und auf dem
Wege der Arbeitsordnungen zu veranlassen; hierbei soll jedoch
dem Handelsminister freistehen, dieselben Ausnahmen zu-
zulassen, welche die Gewerbeordnung als statthaft bezeichnet.
Endlich solle die Regierung auf die sanitären Verhältnisse
und die Unterkunft der aus Anlass der Ausführung der Ver-
kehrsanlagen sicli in Wien ansammelnden Arbeiter ihre Auf-
merksamkeit richten, wenn nöthig Begünstigungen für die An-
lage provisorischer Unterkunftsbauten gewähren und die Auf-
nahme erkrankter Arbeiter in die Spitäler zu sichern. Hin-
sichtlich des Antrages Kaizl solle sich das Haus bis zum Ein-
langen genügender Materialien seitens der Handelskammern,
Genossenschaften und Gewerbebehörden die Entscheidung Vor-
behalten. Die erwähnten Resolutionsanträge lehnt der Aus-
schuss ab; es wurde lediglich eine neue Bestimmung in das
von den Abgeordneten Baernreither und Russ beantragte Gesetz
aufgenommen; demach ist der für die Wiener Verkehrsanlagen
einzusetzende Gewerbeinspektor verpflichtet, in dem von ihm
alljährlich zu erstattenden Berichte genaue Angaben über die
Lohn-, Wohnungs- und Sanitätsverhältnisse der bei diesen
Bauten beschäftigten Arbeiter sowie über die Art der Arbeits-
vergebung und über die Arbeitszeit zusammenzustellen
Arbeitszeit der englischen Eisenbahnbediensteten.
Der Parlamentsausschuss zur Untersuchung der Arbeitszeit
der Eisenbahnbediensteten hat kürzlich unter Vorsitz des
Präsidenten des Handelsamtes, Sir M. Hicks Beach, seinen
Bericht festgestellt. Derselbe tritt der Festsetzung eines
gesetzlich geregelten Arbeitstages für Eisenbahnbedienstete
als unausführbar entgegen, ist jedoch der Ansicht, dass die
Eisenbahngesellschaften in der Beschränkung der Arbeits-
zeit ihrer Angestellten noch viel weiter gehen sollten, als
sie es bisher gethan. Signalbeamte und Weichensteller an
Punkten, wo grosser Verkehr herrscht, sollten nicht länger
als 8 Stunden per Tag, andere Beamte nicht länger als
10 Stunden per Tag, die Zeit für Mahlzeiten nicht einge-
No. 28.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
351
rechnet, zu arbeiten haben. Einzelne Ausnahmen werden
angeführt.
Für Maschinenführer, Heizer und Schaffner von Güter-
zügen wird eine 66 Stunden per Woche oder 12 Stunden
täglich nicht überschreitende Arbeitszeit vorgeschlagen.
Die Gesellschaften sollen angehalten werden, dem Handels-
amt regelmässige Berichte über die Arbeitszeit ihrer Be-
diensteten einzureichen. Wenn ein solcher unbefriedigend
ausfällt, solle das Handelsamt ermächtigt werden, die Ge-
sellschaft zur Herabsetzung der Arbeitszeit innerhalb be-
stimmter Frist aufzufordern, und bei weiterer Weigerung
derselben die Sache vor die Eisenbahnkommissäre zu brin-
gen, welchen das Recht zustehen sollte, die Gesellschaft
zur Erfüllung ihrer Verpflichtung durch eine Konventional-
strafe von 20 Pfd. Sterl. per Tag anzuhalten. Der Ausschuss
spricht sich energisch gegen jede Verminderung der Ver-
antwortlichkeit der Gesellschaften für die Verwaltung ihrer
Bahnlinien aus.
Arbeiterversicherung.
Die Ergebnisse der österreichischen Kranken-
versicherung im Jahre 1890.
Ueber die Gebarung und Ergebnisse der Krank-
heitsstatistik der nach dem Gesetze vom 30. März 1888
(Krankenversicherung der Arbeiter) eingerichteten Kranken-
kassen im Jahre 1890 veröffentlichen die „Amtlichen Nach-
richten des K. K. Ministeriums des Innern betreffend die
Unfallversicherung und die Krankenversicherung der Ar-
beiter“ in ihrer Nummer vom 1. Mai den ersten Theil, aus
dem wir die wichtigsten Daten hier zusammenfassen.
Während der ersten ganzjährigen Gebarungsperiode
der obligatorischen Krankenversicherung ( 1 890) befand sich
dieselbe noch vielfach im Stadium der Entwicklung. Die
ungünstigen Morbiditätsverhältnisse1) (Influenza) zu Beginn
des Jahres übten auf den finanziellen Stand der Kassen
naturgemäss einen starken Einfluss. 87,9 pCt. der Kassen-
beiträge MO 096 740 fl.), welche 11489 862 fl. betrugen,
wurden als Krankenunterstützungen u. dergl. ausbezahlt.
Die Reservefonds stiegen von 4 028 789 fl. auf 5 047 805 fl.
Nahezu ein Drittheil der Kassen (818) schlossen mit höheren
Jahresausgaben als Jahreseinnahmen ab, das Defizit bei
denselben betrug 123 065 fl., während 1031 Kassen ihren
Reservefonds 20 und mehr, 891 weniger als 20 pCt. der
laufenden Kassenbeiträge zuführen konnten.
Bringen wir die Mitgliederzahl der Kassen zu diesen
Ueberschüssen und Defiziten in Beziehung, so zeigen sich
eigenthümliche Resultate. Wir ordnen hier die Kassen-
kategorien nach ihrer Mitgliederzahl und erhalten dann:
Krankenkassen
Durch
liehe
d
Kassen
schnitt-
Zahl
er
Mit-
glieder
Zahl der
Mit-
glieder
einer
Kasse
Durch
lic
Ueber-
schuss2
einer
fl.
schnitt-
her
Defizit
Kasse
fl.
Durchschnitt-
lieh er
UjberV Defizit
schuss^l
auf ein
Kassenmitglied
fl. i fl.
Bezirkskassen . .
545
550606
1010
755,80
199,80
0,75
0,20
Betriebskassen . .
1427
505642
354
514,76
104,75
1,45
0,30
Vereinskassen .
Genossenschafts-
53
261336
4931
857,68
2003,59
0,17
0,41
kassen
632
230578
365
350,87
45,42
0,96
0,12
Baukassen
3
663
221
17,00
887,66
0,08
3,87
Alle Kassen ....
2660
1548825
582
531,89
148,81
0.91
0,26
Wir ersehen aus vorstehender Tabelle, dass der Ueber-
schuss der Kassen auf den Kopf des Versicherten berechnet
bei den Betriebskassen um 0,54 fl. und bei den Genossen-
schaftskrankenkassen um 0,04 fl. grösser, bei den Bezirks-
krankenkassen um 0,16 fl., bei den Vereinskrankenkassen
um 0,74 fl. und bei den wegen ihrer unbedeutenden Mit-
gliederzahl nicht weiter in Betracht gezogenen Baukranken-
1) In dem Berichte heisst es merkwürdiger Weise mit
Konsequenz: Morbilitätsverhältnisse.
2) Der Ueberschuss, der in der obigen Tabelle nach Ab-
zug des Defizits berechnet ist, ist diesen Berechnungen ohne
Abzug des Defizits zu Grunde gelegt.
kassen um 0,83 fl. geringer war als der durchschnittliche
Ueberschuss überhaupt. Zum durchschnittlichen Defizit
fehlten den Genossenschaftskrankenkassen 0;14 fl., den Be-
zirkskassen 0,06 fl pro Kopf der Mitglieder, es wurde über-
schritten von den Betriebskrankenkassen um 0,04 fl. und
von den Vereinskrankenkassen um 0,15 fl. pro versichertes
Mitglied.
Diese Ergebnisse könnten leicht ein abfälliges Urtlieil
über die versicherungstechnischen Grundlagen der öster-
reichischen Krankenversicherung oder wenigstens bezüglich
einzelner Kategorien derselben veranlassen. Uns scheint
dies aber nicht am Platze zu sein, da das Berichtsjahr in
Folge der Influenzaepidemie ein durchaus exeptionelles war,
und die Krankenversicherung sich erst einleben musste,
Erfahrungen bez. der Verwaltung der Krankenkon-
trolle etc. noch nicht in genügendem Masse gemacht waren.
Das einzige etwa, was sich auf Grund dieser Ergebnisse
empfehlen liesse, wäre höchstens die Auflassung der Bau-
krankenkassen, deren geringe Zahl und Mitgliederstärke es
gestattet, auf diesem Wege die Organisation der Kranken-
versicherung weit einfacher zu vereinfachen.
Auf 1000 Mitglieder am 1. Januar kamen am 31. De-
zember 1890
bei den Bezirkskrankenkassen .... 1099,
„ ,, Betriebskrankenkassen .... 1076,
„ „ Genossenschaftskrankenkassen. 1187,
„ „ Vereinskrankenkassen . . . . 1115,
„ sämmtlichen Kassen 1107.
Die Zahl der gegen Krankheit überhaupt versicherten
stieg, von einer Unterbrechung im Februar abgesehen,
stetig bis zum 1. Juli auf 1180, sie blieb im August stationär
und sank dann bis zum 31. Dezember auf 1107.
Auf 1000 Versicherte kamen 781 Männer und 219 Frauen,
in den Betriebskrankenkassen der Tabakfabriken 897 Frauen,
in den Krankenkassen der Eisenbahnen 979 Männer auf
1000 Versicherte.
Das österreichische Kranken -Versicherungsgesetz
schreibt als Regel vor, dass 20 pCt. der Kassenbeiträge den
Reservefonds zugeführt werden sollen. Diese starke Do-
tirung des Reservefonds wird kaum in den günstigsten
Jahren stattfinden können. In dem ausserordentlich un-
günstigen Jahre 1890 konnte keine Kassenkategorie dem
Gesetze nach dieser Richtung Rechnung tragen. Die Be-
triebskrankenkassen führten 14,52 pCt., die Genossenschafts-
krankenkassen 1 1 ,74 pCt. und die Bezirkskrankenkassen
8,67 pCt. ihrer Einnahmen den Reservefonds zu, während die
Vereinskrankenkassen denselben keine Beiträge zuführten,
sondern 2,63 pCt. ihrer Kassenbeiträge denselben entnehmen
mussten. Die relativ hohe Reservefonddotirung der Betriebs-
krankenkassen erklärt sich aus ihrer geringen Belastung
mit Verwaltungskosten und aus dem Umstande, dass nur
die privaten Unternehmungen mit besten Morbiditäts- und
Mortalitätsverhältnissen Betriebskassen errichteten, während
die ungünstig gestellten zum grossen Theile schon vor der
Einführung des Krankenkassengesetzes ihre Arbeiter bei
den Vereinskassen versichert hatten.
Auf ein Mitglied kamen im Jahre 1890 an laufenden
bei den
Beiträgen der
Mit- Unter-
glieder ; nehmer
zu-
sammen
Ein-
nahmen
über-
haupt
Bezirkskrankenkassen . .
4,14
2,21
6,35
6,57
Betriebskrankenkassen . .
5,25
2,73
7,98
9,03
Baukrankenkassen . . .
Genossenschaftskranken-
5,06
2,48
7,54
8,16
kassen
4,80
2,33
7,13
7,58
Vereinskrankenkassen . .
7,53
1,30
8,83
9,27
Bei allen Krankenkassen .
5,17
2,25
7,42
7,98
Die Ausgaben vertheilen sich folgendermassen: für
Krankengeld 6 144113 fl. (54,2 pCt. der Gesammtausgaben),
für ärztliche Hilfe 1800 023 fl. (15,9 pCt.), für Medikamente
1374 528 fl. (12,1 pCt.), für Spitalverpflegung 444322 fl.
(3,9 pCt.), für Beerdigungskosten 333 754 fl. (2,9 pCt.), für
vorstehende Ausgabenposten zusammen 10 09674011. (89pCt.),
für Verwaltungskosten 897 97811. (7,9 pCt.), für andere Aus-
gaben 346 009 fl. (3,1 pCt.)
Auf die einzelnen Krankenkassen vertheilen sich diese
Ausgaben in Prozenten der Gesammtausgaben folgender-
massen.
352
SOZIALPOLITISCHES CENTR AI .BLATT.
No. 28.
Bei den Krankenkassen
Bezirks-
,, , • , Genossen-
Betriebs-j schafts.
Krankenkassen
Vereins-
Krankengeld
45,4
55,2
51,8
65,8
Aerztl. -Hilfe
17,4
19,1
12,6
10,6
Medikamente ....
11,1
14,8
10,0
10,5
Spitalverpflegung . . .
5,1
2,5
7,2
25
Beerdigungskosten . .
2,0
3,0
3,7
3,7
Zusammen
81,0
94,6
85,3
93,1
Verwaltungskosten . .
15,8
1,0
13,0
5,3
übrige Ausgaben . . .
3,2
4,4
1,7
1,6
Von anderen Gesichtspunkten aus gruppirt ergeben
sich folgende Relativzahlen:
Be-
zirks-
Be- Ge' Ver-
, • , nossen- • r
tnebs- schafts- eins‘
Krankenkassen
bei
allen
Krankengeld
in pCt. der laufenden Beiträge
43,0
2,73
54,4
49,0
3,49
70,8
53,5
in fi. auf ein Mitglied . . .
4,35
6,25
3,97
Aerztliche Hilfe
in pCt. wie bei Krankengeld
16,5
18,9
11,9
0,85
11,4
15,7
in fl. „ „ „
1,05
1,51
1,01
1,16
Medikamente
in pCt. wie bei Krankengeld
10,5
14.6
9,5
11,4
11,9
in fl. „ „ „
0,67
1,16
0,67
1,01
0,89
Spital Verpflegung
in pCt. wie bei Krankengeld
4,8
2,4
6,8
2,6
3,9
in fl. „ „
0,31
0,20
0,49
0,23
0,29
Beerdigungskosten
in pCt. wie bei Krankengeld
1,9
2,9
3,4
4,0
2,9
in fl. ,, ,, ,,
0,12
0,23
0,25
0,35
0,21
Zusammen
in pCt. wie bei Krankengeld
76,7
93,2
80,6
100,2
87,9
in fl. „ „
4,88
7,45
5,75
8,85
6,52
Verwaltungskosten
in pCt. wie bei Krankengeld
15,0
1,0
12,3
5,8
7,8
in fl.
0,95
0,07
0,88
0,51
0,58
Die übrigen Ausgaben
in pCt. wie bei Krankengeld
3,0
4,4
0,35
1,6
1,6
3,0
0,22
in fl. „ „ „
0,19
0,11
0,14
Ein anderes Bild ergiebt sich, wenn man die Kosten
der ärztlichen Hilfe und der Medikamente auf den Kranken-
tag bezieht:
Kosten eines
Krankheitstages in fl. ö. W.
Krankenkassen
überhaupt
ärztliche Hilfe
Medikamente
an d. Mitgl.
Bezirks- ....
0,77
0,17
0,11
Betriebs- ....
0,74
0,16
0,12
Genossenschafts-.
0,94
0,14
0,12
Vereins- ....
0,80
0,10
0,09
Alle
0,79
0,15
0,11
Ueber die Morbidität giebt folgende Tabelle näheren
Aufschluss, in der in Relativzahlen die statistisch erfass-
baren Erscheinungen sich gruppirt finden:
Be-
zirks-
Be- ( Ge; Ver-
triebH schafts- eins-
Krankenkassen
Alle
Es erkrankten von 1000 Mitgl.
36,6
47,0
27,5
47,4
40,5
männliche
36,7
48,4
27,6
48,7
40,5
weibliche
35,6
44,0
27,3
43,7
40,4
Es entfielen Erkrankungsfälle
auf 1000 Mitglieder ....
42,2
59,9
32,8
61,0
49,8
männliche
42,4
62,6
32,8
62,7
49,9
weibl. excl. Entbindung
41,2
53,9
33,2
56.2
49,5
Es starben von 1000 Mitgl. .
0,79
1,15
0,92
1,38
1,03
männliche
0,79
1,12
0,95
1,37
1,00
weibliche
0,79
1.23
0,73
1,40
1,12
Es entfielen Krankentage auf
1 Mitglied
5,93
9,00
5,62
9,96
7,57
auf ein männliches . .
5,81
8,93
5,61
9,92
7,32
auf ein weibliches excl.
Entbindungen . . .
6,70
9,14
5,65
10,07
8,44
Be-
zirks-
Be- Ge' Ver-
. ■ u nossen-
triebs' schafts- eins’
Krankenkassen
Alle
Durchschnittliche Kranken-
tage auf 1 Mitglied . . .
14,0
15,0
17,1
16,3
15,2
auf ein männliches . .
137
14,3
17,1
15,8
14,7
auf ein weibliches excl.
Entbindungen . . .
16.3
17.00
17,0
17,9
17,1
Es entfielen Entbindungen auf
100 weibl. Mitglieder . . .
5,93
8.24
5,55
10,41
7,90
Auf ein weibl. Mitgl. entfielen
Krankentage f. Entbindung.
1.62
2.26
1,45
2,27
2,04
Es entfielen Kranken tage über-
haupt auf ein Mitglied . .
6,15
9,71
5,83
10,56
8,01
auf ein männliches . .
5,81
8,93
5,61
9,92
7,32
auf ein weibliches excl.
Entbindungen . . .
8,32
11,40
7,10
12,34
10,48
Auf die Verschiedenheit der Morbidität und Mortalität
sind wohl in erster Linie die erheblichen Abweichungen
der einzelnen Kassen in der folgenden Tabelle zurückzu-
führen :
Krankenkassen
Krankheits-
tages
Kosten eines
Erkrankungs-
falles
in fi. ö. W.
Sterbefalles
Bezirks- . . .
0,77
11,04
15,04
Betriebs- ....
0,74
11,88
20,35
Genossenschafts-.
0,94
16,33
26 91
V ereins- ....
080
13,33
25,56
Alle
0,79
12,22
20,96
Damit sind im Wesentlichen die Ergebnisse der be-
sprochenen Publikationen erschöpft. Eine Ergänzung der-
selben: Scheidung des krankheitsstatischen Materials nach
Alter, Beschäftigungsart und Krankheitsform wird für einen
späteren Zeitpunkt in Aussicht gestellt.
So interessant die versicherungstechnischen Ergebnisse
der österreichischen Krankenkassenstatistik sind, so wenig
berechtigen sie aus den oben angegebenen Gründen vorerst
zu einer eingehenden kritischen Untersuchung. Eines sei
nur bemerkt, die Befürchtungen der Vereinskassen, dass
das Krankenversicherungsgesetz ihre Lage bedeutend ver-
schlechtern wird, haben sich vorerst wenigstens bewahr-
heitet. Wenn die nächsten Jahre nicht bedeutend günstigere
Ergebnisse für die österreichischen Vereinskassen zeitigen,
dürften diese seit langem auf dem Prinzipe der Kassen-
freiheit bestehenden Institutionen gefährdet sein und Oester-
reichs Krankenversicherung sowie die Deutschlands sich
zum Systeme der Zwangskasse entwickeln.
Berlin. Adolf Braun.
Reform der deutschen Unfallversicherung. Die Vor-
arbeiten, welche zur Umgestaltung der Unfallversicherung
vorgenommen werden, erstrecken sich nach Mittheilungen
der Regierungsorgane auf zwei Gebiete. Einmal wird be-
absichtigt, einen Gesetzentwurf über die schon lange ge-
wünschte und geplante Ausdehnung der Unfallversicherung
auf das Handwerk und zweitens eine Novelle zu der bereits
vorhandenen Unfallversicherungsgesetzgebung auszuarbei-
ten. Was die letztere betrifft, so sind im Laufe der nun-
mehr bereits nahezu siebenjährigen Praxis den Berufs-
genossenschaften sowohl von Seiten der Arbeitgeber wie
der Versicherten vielfache Wünsche nach Abänderungen
ausgesprochen, welche nunmehr zur Berücksichtigung
kommen sollen. Auch hat der Reichstag mehrfach Veran-
lassung genommen, einzelne auf die Unfallversicherung be-
zügliche Fragen theils bei den Berathungen des Etats des
Reichsversicherungsamtes, theils bei anderen Gelegenheiten
zu diskutiren. Es liegt demnach für die Ausarbeitung der
Novelle ein reiches Material vor. Die Ausdehnung der Un-
fallversicherung auf das Handwerk ist von den berufenen
Vertretern des letzteren mehrfach nicht blos als zweck-
mässig, sondern als nothwendig bezeichnet worden Die
Arbeiten an beiden gesetzgeberischen Werken sind bereits
so weit gediehen, dass sie demnächst werden zum vorläufi-
gen Abschluss gebracht werden können. Dem Vernehmen
nach wird auch hier die Reichsregierung, wie sie es in
früheren ähnlichen Fällen gethan hat, bevor die Gesetz-
No. 28.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLA I T.
853
entwürfe im Bundesrath zur Berälhung gelangen, dieselben
veröffentlichen, damit allen Interessenten ausgiebige Ge-
legenheit gegeben wird, sich über die einzelnen Fragen zu
äussern, und damit diese ihre etwaigen Wünsche nach
anderweitiger Gestaltung der verschiedenen Bestimmungen
rechtzeitig den zuständigen Stellen kundgeben können.
Normalstatut für Ortskraiikenkassen im Deutschen Reich.
Der Bundesrath hat sich mit der Berathung des Entwurfs
eines Normalstatuts für Ortskrankenkassen beschäftigt. Nach
dem neuen Kranken versieh erungsgeffetze müssen bekanntlich
sämmtliche Kassen ihre Statuten bis zum 1. Januar 1893, dem
Tage des völligen Inkrafttretens der Novelle, den abgeänderten
Bestimmungen angepasst haben Das neue Normal"statut soll
den Ortskrankenkassen diese Arbeit erleichtern. Nach Erlass
des Krankenversicherungsgesetzes vom 15. Juni 1883 war ausser
fiir die Orts- auch für die Fabrikkrankenkassen ein solches
Statut veröffentlicht. Man scheint diesmal von einer Revision
des letzteren absehen zu wollen, weil für die Fabrikkranken-
kassen nur wenige und unwesentliche Aenderungen in der
Novelle getroffen sind Der Inhalt des neuen Normalstatuts
für die Ortskrankenkassen ist natürlich ebenso wie derjenige
des alten in keiner Weise verbindlich, weder für Diejenigen,
welchen die Errichtung oder Abänderung des Kassenstatuts
obliegt, noch für die Behörden, welchen die Genehmigung
zusteht. Bei der grossen Verschiedenheit der Verhältnisse, auf
welche bei der Errichtung von Kassenstatuten für Ortskranken-
kassen Rücksicht zu nehmen ist, kann auch kein Entwurf ge-
gegeben werden, welcher ohne Aenderung für jede Ortskranken-
kasse verwendbar wäre. Es wird daher jede Bestimmung
daraufhin zu prüfen sein, ob sie unverändert in das Statut für
eine bestimmte Kasse aufgenommen werden kann. Während
einerseits der ins Auge gefasste neue Entwurf von der Voraus-
setzung ausgeht, dass eine Ausdehnung der Versicherungspflicht
auf die im § 2 des Krankenversicherungsgesetzes bezeichneten
Klassen von Personen nicht erfolgt ist, sind darin andererseits
durchgehends die Verhältnisse von Ortskrankenkassen berück-
sichtigt, welche für mehrere verwandte, dem Bereiche des
Handwerks angehörende Gewerbszweige errichtet sind. Das
Statut wird jedoch auch für Kassen, welche nur für einen
Gewerbszweig, sowie für solche, welche für sämmtliche Ge-
werbszweige in einer Gemeinde errichtet werden sollen, eine
ausreichende Anleitung bieten. Was durch gesetzliche Vor-
schrift in der Weise geregelt ist, dass den einzelnen Kassen-
statuten ein Spielraum für besondere Bestimmungen nicht
zugelassen wird, z. B. Vorschriften über die Beaufsichtigung j
und Schliessung der Kassen, soll in das Statut nur soweit auf- !
genommen werden, als es nothwendig erscheint, um das Ver- !
ständniss der getroffenen Bestimmungen zu sichern oder den
Kassenmitgliedern eine ausreichende Kenntniss ihrer Rechte
und Pflichten zu vermitteln. Musterstatuten für die eingeschrie-
benen Hilfskassen wurden auch bekanntlich sowohl für die
Hamburger Krankenkassenkonferenz als von Dr. Max Hirsch
ausgearbeitet.
Soziale Hygiene.
Hygienische Untersuchungen der Buchdruckereien in
Prenssen. Der preussische Handelsminister hat Untersuchungen
über die sanitären Verhältnisse in den Buchdruckereien anstellen
lassen; das Schriftstück, welches die Untersuchung anordnet,
hat folgenden Wortlaut:
Während des letzten Buchdruckerausstandes ist von den
Ausständigen zur Begründung ihrer Forderung einer Verkürzung
der Arbeitszeit vielfach darauf hingewiesen worden, dass die
Gesundheitsverhältnisse der Buchdrucker in Folge ihrer ange-
strengten und ungesunden Thätigkeit besonders ungünstig seien,
wie sich namentlich daraus ergebe, dass ein unverhältnissmässig
grosser Prozentsatz von ihnen an der Lungenschwindsucht ster-
ben. Letztere Behauptung wird für die Buchdrucker in Berlin
durch das Ergebniss mehrerer in jüngster Zeit angestellter
Untersuchungen bestätigt. So ist von dem Direktorium der
Reichsdruckerei festgestellt worden, dass von den Todesfällen,
welche während der Jahre 1881 bis 1891 unter den in der
Reichsdruckerei beschäftigten Personen vorgekommen sind, sich
61.81 pCt. auf Lungenleiden und dann wieder 32,72 auf Lungen-
schwindsucht zurückführen lassen. Das Ergebniss dieser für die
Reichsdruckerei aufgestellten Statistik deckt sich im Wesent-
lichen mit denjenigen der Untersuchungen des Dr. H. Albrecht
(zu vergleichen der Aufsatz: „Die Berufskrankheiten der Buch-
drucker“ in Schmollers Jahrbüchern für Gesetzgebung, Verwal-
tung und Volkswirtschaft im Jahrgang 1891, Heft 2, S. 213 ff.),
wonach von der Gesammtzahl der in den Jahren 1857 bis 1889
gestorbenen Kassenmitglieder der Berliner Ortskrankenkasse der
Buchdrucker 48,13 pCt. der Lungenschwindsucht erlegen sind.
Das auch durch frühere Untersuchungen ermittelte, verhältniss-
mässig häufige Vorkommen von Erkrankungen der Athmungs-
organe unter den Buchdruckern wird von Albrecht, Hirt und
Anderen namentlich auf die mangelhafte Reinigung und Lüftung
der Arbeitsstätten zurückgeführt. Eine besonders sorgfältige
Reinigung der Setzersäle wird deshalb für nothwendig erachtet,
weil der in ihnen verbreitete Bleistaub, wenn er eingeathmet
und verschluckt werde, oder wunde Hautstellen berühre, den
Organismus vergifte. Hierdurch werde dann bewirkt, dass der
an sich gefahrlose, nicht verletzende Staub, indem er mit
schlaffen, des Widerstandes unfähigen Organen in Berührung
komme, leicht chronisch-entzündliche Zustände der Lunge er-
zeuge. Was die Lüftung anlangt, so wird bemerkt, dass in den
Setzersälen die Hitze in Folge der vielen Gasflammen sich oft
zu einer kaum erträglichen Höhe steigere, dass die Empfindlich-
keit gegen Temperaturunterschiede die Buchdrucker vielfach das
Oeffnen der Fenster oder die Benutzung der Lüftungseinrich-
tungen vermeiden lasse und dass in Folge hiervon die Empfäng-
lichkeit für Erkältungen eine grössere werde und der Staub,
sowie die mit dem Auswurfe Lungenschwindsüchtiger in Ecken
und Winkel gerathenen Krankheitskeime leichter in den Luft-
raum und durch diesen in die Lungen gelangten. Mit Rücksicht
hierauf wird zu erwägen sein, ob zur Verbesserung derGesund-
heitsverhältnisse der Buchdrucker auf Grund des § 120e Abs. i
der Gewerbeordnung in der Fassung des Reichsgesetzes vom
1. Juni 1891 für Buchdruckereien neue Vorschriften namentlich
über Mindestluftraum, Lüftung und Reinigung der Arbeitssäle
vom Bundesrath zu erlassen sein würden, wie es für Cigarren-
fabriken bereits geschehen ist. Um übersehen zu können, ob
für den Erlass solcher Vorschriften ein allgemeines Bedürfniss
vorliegt, ist es mir erwünscht, über die Gesundheitsverhältnisse
der Buchdruckereigehilfen auch in anderen Städten als Berlin
zuverlässiges statistisches Material zu erhalten. Ew. Hochwohl-
geboren ersuche ich daher ergebenst, durch Vermittelung der
im dortigen Bezirke bestehenden Orts-(Betriebs-)Krankenkassen
für Buchdrucker gefälligst feststellen zu lassen, welcher Prozent-
satz der seit Errichtung der Kasse oder — in Ermangelung der
erforderlichen Unterlagen für die ganze Zeit — innerhalb eines
anderen näher anzugebenden Zeitraumes verstorbene Kassen-
mitglieder der Lungenschwindsucht und sonstigen Lungenleiden
erlegen sind.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
Cohen, Dr. jur. Gustav, Ueber die Strafgewalt des Staates.
Ein mahnendes Wort an alle Diejenigen, welche ein thätiges
Interesse an der Entwicklung des öffentlichen Lebens
nehmen, insbesondere Parlamentarier, Volkswirthschaftler
und Juristen. Hannover, 1892. Pli. Cohen. 8°. 31 S.
Eschenbach, A., Für Börsenreform. Berlin, 1892. Putt-
kammer & Mühlbrecht, gr. 8’. II und 56 S.
Fritz, Peter, XIII. Gesetzesartikel vom Jahre 1891 über
die Sonntagsruhe der gewerblichen Arbeiter. Mit
Erläuterungen und Anmerkungen. 2. mit der neuesten
Ministerial - AusfLihrungs - Verordnung, vermehrte Auflage.
Budapest, 1892 Moritz Rath. 8". 19 S.
XIV. Gesetzesartikel vom Jahre 1891 über die
Unterstützung in Krankheitsfällen der gewerb-
lichen Fabriksangestellten. Mit Erläuterungen, An-
merkungen und Parallelstellen. 1. Heft mit der am 11. März
1892 erlassenen Durchführungs-Verordnung vermehrte Aus-
gabe. Budapest, 1892. Moritz Rath. 8°. 59 S.
Hallier. Prof. Dr. Ernst, Die sozialen Probleme und das
Erbrecht. Eine rechtsphilosophische Studie. München, 1892.
Dr. E. Albert & Cie. 8U. 45 S.
Jäger, Adolf, Pastor, Die soziale Frage nach ihrer wirth-
schaftlichen und ethischen Seite. III. Band. I. Theil.
Neu-Ruppin, 1892. Ruch Petrenz. 8". VIII und 120 S.
Ley, Conrad Albrecht, A. Bebel und sein Evangelium.
Sozialpolitische Studie. 3. gänzlich umgearbeitete Auflage.
Düsseldorf (1892). L. Schwan. 8°. VIII und 104 S.
The Ben Tillet, Election Fuiul. London, 1892. Fabian Society.
4n. Flugblatt.
The ninih animal Report of the work of the Fabian Society
fort the year endet 31 st March 1892. Also the Basis and
Rules of the Society and a Summary of the Reports of all
other Fabian Societies. London, 1892. Fabian Society. 8n 23 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
354
ANZEIGEN.
No. 28.
SPHINX
B)unat5|ü|vift für en- mttr Qktptesielnm.
(Serttralorgcm für beit JbealtSrmiS in neujeitlic^er natiimliftifd)er Raffung.
perauS g e g e beit non
Hübbe- Schleiden,
Dr. J. U.
2)ie ©pl)üu; ääijlt 311 iljren ^Mitarbeitern eine Sinjal)! ber erften, tbeal beufenben unb
f djriftftcUcrifdj luie fünftterifd) teiftungsfähigen Ärcifte ®eutfc^Ianbs unb ©eftcrreidjs, wie:
ß«tt§ Strnotb, Dr. (fugen ®ret)er, Arthur Jitger, Dr. tpugo ©oering, Prof. Dr.
©ruft »aüier, Dr. ft-raitj .Startmann, ftarl Äieen) etter, Dr. Mapl). non ft'oeber,
Dr. Subü). £ul)Ienbctf, Dr. ©arl bu tyrel, Steffel, '}3. St Stofegger, SJtorife
©arrtere, ©eorg ©bere, SJtnrtin ©reif, ©buarb 0. .fjartmann (mit Slusnabme ber
ilnfterblidjfeitsfragej, .Stto n. Vcirner, öerntantt u. Singg, ©mit ißefcljfau, Julius
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Verantwortlich fiir den Anzeigentheil : O. Schuchardt in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 18. Juli 1892.
Nummer 29.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostiimter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT
Die Arbeiter Statistik der
preussischen Gewerbein-
spektorenberichte für das
Jahr 1891. Von Dr. Max
Quarck.
Soziale Wirtschaftspolitik u.
Wirthschaftsstatistik:
Die sozialstatistischen Ergebnisse
der schweizer Rekrutirung im
Herbste 1890. Von Dr. Adolf
Braun.
Arbeitsnachweis in Karlsruhe.
Minimallohn und Arbeitsvermitte-
lung in Gross-Zürich.
Arbeiterzustände:
Zur Kritik der Arbeitsstatistik der
deutschen Gewerkvereine für das
Jahr 1891.
Die Lage der Arbeiter im Wupper-
thale.
Fabrikarbeiterlöhne in Sachsen-
Altenburg.
Statistik der Leipziger Buchdrucker-
lehrlinge.
Forderung der Arbeitsstatistik für
Paris.
Politische Arbeiterbewegung:
Kommunales Programm der fran-
zösischen Arbeiterpartei.
Kaufmännische Bewegung:
Organisation der Angestellten im
Handelsgewerbe.
Arbeiterschutzgesetzgebung :
Möglichkeit der Arbeitszeitver-
kürzung.
Sonntagsruhe für die Landarbeiter
der k. preussischen Domänen.
Beschränkung der Sonntagsarbeit
auf Schiffen.
Entscheidung des schweizerischen
Bundesrathes über den Inhalt
von Arbeitsordnungen.
Gewerbeinspektion :
Die Berichte der schweizerischen
Fabrikinspektoren für 1890 und
1891. Von Kantonsstatistiker
Fl. Naef.
Arbeiterversicherung:
Die eingeschriebenen Hilfskassen
und die Krankenkassennovelle.
Krankenstatistik der oberschlesi-
schen Knappschaftsvereine.
Litteratur:
Görres, Dr. jur. K , Handbuch der
gesammten Arbeitergesetzgebung
des deutschen Reiches.
Bart, O. te, Die Versicherungs-
pflicht nach dem Invaliditäts-
und Altersversicherungsgesetz.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Arbeiterstatistik der preussischen Ge-
werbeinspektoren-Berichte für I891.
Keine leichte Aufgabe ist es, aus den in dieser Zeit-
schrift schon mehrfach erwähnten, neuen preussischen Ge-
werbeinspektoren-Berichten für 1891 eine arbeiterstatistische
Uebersicht zu geben. In No. 15 des „Sozialpolitischen
Centralblattes“ wurde an dieser Stelle dargelegt, dass die
sächsische Gewerbeinspektion neben derjenigen einiger
kleinerer Staaten die einzige ist, welche fortlaufend eine
sozialpolitisch verwerthbare Arbeiterstatistik liefert, — das
Studium der neuesten preussischen Berichte kann Jeden, der
es gründlich wissen will, darüber belehren, wie unzureichend
dieser wichtige Zweig von der preussischen Gewerbe-
inspektion gepflegt wird.
Selbstverständlich ist zunächst für Jeden, der die Art
der Herausgabe der Inspektorenberichte seitens der Central-
stelle kennt, dass der amtliche Band trotz seiner Dickleibig-
keit nicht die geringste zusammenfassende Darstellung des
etwa vorhandenen arbeiterstatistischen Materials enthält.
Alles ist im Text und in den Beilagen auf die Einzelberichte
zerstreut. Lässt man sich dadurch nicht abschrecken und
beginnt die Sammelarbeit nachträglich von Seite zu Seite,
so findet man, dass drei und ein halber Aufsichtsbezirk
überhaupt keine brauchbaren Ziffern liefern. Es sind dies
Oppeln, Schleswig, Münster und Minden sowie der Regie-
rungsbezirk Köln aus dem Inspektionsbezirk Köln-Koblenz.
Der Inspektor des Bezirks Oppeln giebt sich redliche Mühe,
alljährlich eine schöne tabellarische Uebersicht über die in
seinem Bezirk geleisteten Schichten und verdienten Löhne
zu liefern. Was nützt dieses Material aber, wenn man
seinem neuesten Berichte über die Gesammtzahl der er-
wachsenen männlichen Arbeiter gar Nichts, und über die
jugendlichen bezw. kindlichen Arbeiter nur sehr Unvoll-
kommenes entnehmen kann. In der einen Tabelle trennt
der Beamte nämlich wohl kindliche und jugendliche, aber
nicht männliche und weibliche Arbeiter; in der anderen
thut er das letztere, aber nicht das erstere. Der Schleswiger
Inspektor findet uns mit der Bemerkung ab, dass „bemer-
kenswerthe Veränderungen nicht eingetreten sind“, der
Gewerberath für Minden und Münster macht über die Zahl
der erwachsenen Arbeiter gar keine und über jugendliche
und kindliche Arbeiter ähnlich unvollständige Angaben, wie
der Inspektor für Oppeln. Für den Regierungsbezirk Köln
endlich ist erst jetzt eine Zählung im Gange. Lediglich
aus den übrigen Bezirken ist nachfolgende Uebersicht zu-
sammengestellt, deren Mängel dem Verfasser nicht unbe-
kannt sind, die er aber in der glücklichen Lage ist, sammt
und sonders auf seine Gewährsmänner, die preussischen
Gewerberäthe, zurückführen zu können.
(Siehe umstehende Tabelle.)
Die oben erwähnten Mängel dieser Uebersicht be-
stehen darin, dass Angaben über die erwachsenen Arbeiter,
ohne welche sich die Zahlen der jugendlichen und kind-
lichen Arbeiter niemals richtig beurtheilen lassen, aus nicht
weniger als acht Bezirken gänzlich fehlen und für drei [Be-
zirke nur für das Jahr 1891 vorhanden sind, im vorliegenden
Berichtsbande wenigstens. Bleiben also nur fünf Bezirke,
nämlich Berlin -Charlottenburg -Teltow, Breslau-Liegnitz,
Magdeburg, Merseburg-Erfurt und Sigmaringen mit einer
vollständigen Arbeiterstatistik, und auch Sigmaringen ge-
hört nur halb dazu, weil der dortige Inspektor männliche
und weibliche Arbeiter in allen Kategorien nicht trennt.
So reduzirt sich das brauchbare Material eigentlich auf vier
Bezirke. Aber auch aus dieser kleinen Zahl sind -wieder
zwei auszuscheiden, weil hier bei den jugendlichen Arbeitern
entweder die Geschlechter nicht getrennt oder die ge-
trennten Zahlen nicht auch für 1890 zur Vergleichung her-
angezogen sind (Merseburg-Erfurt bezw. Magdeburg). Und
so bleiben also schliesslich ganze zwei Bezirke von den
356
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
Nu. 29.
Es betrug die Zahl
im
Aufsichtsbezirk
der erwachsenen Arbeiter
der j u
gendlichen Arbeiter
der kindlichen Arbeiter
männliche
weibliche
männliche
weibliche
männliche
weibliche
1890
1891
1890
1891
1890
1891
1890
1891
1890
1891
1890
1891
1. Ost- und Westpreussen . . .
—
—
—
1 089
1 062
776
842
54
17
24
22
2. Posen ...
—
31 307
—
3 947
1890:
1 345
1890
: 50
1891 :
1 289
1891
: 23
3. Berlin-Charlottenburg-Teltow .
122 866
125 320
36 639
38 460
4 663
5 125
3 243
3 180
68
55
9
12
4. Frankfurt a./O. -Potsdam . . .
—
-
—
—
3 590
3 345
2 526
2 091
438
434
258
206
5. Pommern
—
—
—
—
1 183
1111
467
453
124
47
44
32
6. Breslau-Liegnitz
100816
117 434
45 638
44 536
6 631
7 498
3 549
3 443
425
411
281
179
7. Magdeburg
61 369
61 847
8 070
7 179
1890:
4 501
1890
102
1891 :
4 888
1891
40
?
4 069
P
819
?
29
: ?
11
8. Merseburg-Erfurt
69 132
71 300
13813
13 894
1890:
7 739
1890
442
1891 :
7913
1891
421
9. Hannover
—
—
—
—
3 670
4015
1 079
1 155
257
220
145
132
10. Arnsberg
—
—
—
—
8 394
9 003
1 457
1 527
205
198
88
54
11. Kassel
—
25 227
—
6318
—
2 793
—
1 356
—
144
—
50
12. Wiesbaden
—
—
—
—
2 220
—
965
—
46
—
36
13. Koblenz
—
19219
—
2 177
—
1 814
—
612
—
115
—
63
14. Düsseldorf
—
—
—
—
1890:
18 376
1890
481
1891 :
17 364
1891
393
15. Aachen-Trier
—
5 433
4 834
2 627
2 386
33
38
16
6
16. Sigmaringen
1890:
4 551
1890
430
1890
: 12
1991 :
4 454
1891
374
1891
: 21
gesammten 19, für welche die Inspektionsbeamten wissen-
schaftlich verwerthbare Zahlenangaben lieferten. Ein sehr
trauriges Resultat! Dass die Zahlen für 1890 oder für die
gesondert zu haltenden Arbeiterkategorien dabei vom Be-
arbeiter vielfach erst durch Subtraktion oder Addition be-
rechnet werden mussten, möge nur nebenbei erwähnt sein.
Von den beiden Bezirken mit vollständiger Statistik
(Berlin-Charlottenburg und Breslau-Liegnitz) soll deshalb
bei einer kurzen Besprechung unserer Tabelle ausgegangen
werden. Was Berlin-Charlottenburg anbetrifft, so fällt
zunächst die Verminderung der Kinder und der jugend-
lichen weiblichen Arbeiter wohlthuend auf, während sich
die Zahl der männlichen erwachsenen und jugendlichen
Arbeiter, die letzteren nicht gerade anormal, vermehrte,
und nur die Zahl der erwachsenen weiblichen Arbeiter
auffallend stark zunahm. Diese ungesunde Mehrung der
Frauenarbeit wird im Bericht des Gewerberathes auch für
die einzelnen Kreise des Bezirkes noch näher nachgewiesen;
es betrug nämlich die Vermehrung bezw. Verminderung
(+ bezw. — ) in Prozenten ausgedrückt gegen das Vorjahr
bei den Männern bei den Frauen
für Berlin +1,8 +5,7
„ Charlotten bürg . . — 5,8 + 3.0
„ Teltow u. s. w. . . +5,5 + 5,0.
Also nur in dem mehr ländlichen Theile des Aufsichts-
bezirkes eine Vermehrung der Männerarbeit, welche die-
jenige der Frauenarbeit übersteigt; in Berlin ein ganz
bedenkliches Ueberwiegen der Entwickelung der Frauen-
beschäftigung, in Charlottenburg sogar eine Verminderung
der Männer, der eine Vermehrung der Frauen gegenüber-
steht — Niemand wird in diesen Dingen erfreuliche
Symptome erkennen. Nach einer Erklärung derselben
sucht man im Text des Berichtes freilich vergebens; der
Gewerberath der Reichshauptstadt scheint es nicht als
seine Aufgabe zu betrachten, solchen wichtigen Fragen
nachzugehen. Im Bezirk Breslau-Liegnitz, dem zweiten
mit vollständiger Arbeiterstatistik im vorliegenden Berichts-
bande, ist die Entwickelung eine weit gesündere. Eine
namhafte Vermehrung der Beschäftigung männlicher er-
wachsener und jugendlicher Arbeiter, demgegenüber eine
Abnahme der Frauenarbeit, sowie der Beschäftigung
jugendlicher weiblicher und kindlicher Personen. Doch
fallen auch hier in Folge spezieller Nachweisungen des
arbeitsstatistisch sehr fleissigen und gewissenhaften Auf-
sichtsbeamten Schatten in das erquickliche Gesammtbild: ,
im Bezirk Liegnitz vermehrte sich die Zahl der beschäf-
tigten Kinder, und zwar der Mädchen, von 1890 auf 1891
um beinahe 68 Prozent, von 81 auf 136, freilich, ohne dass !
auch hier näher zu ersehen wäre, welcher Geschäftszweig
diese ungesunde Fieranziehung kindlicher Kräfte verur-
sachte. Wann wird die preussische Gewerbeinspektion
diesen Dingen endlich sorgfältiger nachgehen?
Aus den übrigen Bezirken lassen sich vollends an der
Hand unserer Uebersicht nur eben die Punkte herausheben, {
an welchen eine bessere Statistik und Forschung: einzusetzen <
hätte; sozialpolitische Urtheile sind bei der Lückenhaftigkeit
des Materials gänzlich unzulässig. In Ost- und Westpreussen
fällt die Mehrung der weiblichen jugendlichen Arbeiter auf,
in Merseburg-Erfurt wäre festzustellen, welches Geschlecht
die Kosten der Zunahme jugendlicher Arbeit trägt, in Minden,
Münster und Sigmaringen, warum die Zahl der Kinder zu-
nahm, da in allen übrigen Bezirken eine erfreuliche Ver-
minderung der absoluten Kinderzahl stattfand, während sich
freilich das Verhältniss zu den erwachsenen Arbeitern nur
in den oben besonders erwähnten Distrikten berechnen
lässt. Die neuen Spezialerhebungen in den Bezirken
Koblenz und Kassel werden, wenn man sie regelmässig
jährlich wiederholt, die Grundlage für interessante Ver-
gleichungen in den nächsten Jahren geben. Schon jetzt
stellte der Gewerberath für Kassel fest, dass in den Glas-
hütten, Metall waaren-, Maschinen-, Textil-, Papier-, Stuhl-
und Stock-, Cigarren- und Tabakfabriken, sowie in den
Buchdruckereien seines Bezirkes eine ganz anormale Heran-
ziehung jugendlicher Kräfte stattfand, die bis 26 Prozent
der beschäftigten Arbeiter überhaupt ausmachten. Solche
Feststellungen müssen alle Jahre systematisch fortgesetzt
werden, wenn die Inspektion wirklich Material für die Ge-
setzgebung liefern will.
Nach allen diesen Aussetzungen soll nicht verkannt
werden, dass sich eine Besserung in den arbeiterstatistischen
No. 29.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
357
Erhebungen der preussischen Gewerbeaufsichtsbeamten
vollzieht. Früher wurden Angaben über die erwachsenen
Arbeiter überhaupt höchst selten, Mittheilungen über die
jugendlichen Arbeiter nur alle zwei Jahre gemacht. Die
neuen Berichte sind in diesen Beziehungen schon reich-
haltiger, und die als Anlagen 14 und 15 dem Berichtsbande
für 1891 beigegebenen Anweisungen und Formulare des
Regierungspräsidenten aus dem Bezirk Köln können als
Muster für alle übrigen Distrikte dienen, nach welchen die
Verwaltungsbehörden den Aufsichtsbeamten die nöthigsten
Unterlagen alljährlich liefern. Nur ist damit noch lange
nicht Alles gethan. Bemerkungen der Gewerberäthe für
Ost- und Westpreussen und Kassel lassen die Nachweise
der Verwaltungsbehörden ebenfalls noch als sehr mangel-
haft erscheinen. Es müssen also den Inspektoren mehr
arbeitsstatistische Kräfte zugewiesen werden, welche end-
lich eine laufende preussische Arbeiterstatistik herstellen
helfen, die des ersten deutschen Staates würdig ist.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Die sozialstatistischen Ergebnisse der schweizer
Rekrutirung im Herbste 1890.
Ueber die physische Beschaffenheit der Bevölkerung
fehlen uns allgemeine sozialstatistische Erhebungen. Nur
für das männliche Geschlecht vor seinem Eintritt in die
volle Manneskraft werden gelegentlich des Aushebungsge-
schäftes in den Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht Er-
hebungen über die körperliche Beschaffenheit mit Rück-
sicht auf Grösse, Körperumfang, Ausbildung der Extremi-
täten, Gesundheit der Sinnes- und Athmungsorgane etc.
vorgenommen. In der Schweiz und in Oesterreich werden
die Ergebnisse dieser Erhebungen in leicht zugänglichen
Publikationen veröffentlicht.
Die soeben erschienene 85. Lieferung der schweize-
rischen Statistik: „Ergebnisse der ärztlichen Rekruten-
untersuchung im Herbste 1890“'), enthält eine Tabelle mit
den Verhältnisszahlen nach Berufsarten. Diese Verhältniss-
zahlen beruhen zum weitaus grössten Theile auf dem Ge-
sammtergebniss der Jahre 1884- 1890, nur bezüglich des
Brustumfanges auf Ergebnissen der Jahre 1886 — 1890 und
die Angaben über den Oberarmumfang auf Ergebnissen
der Jahre 1885—1890. Mit Ausnahme der Angaben über
die Diensttauglichkeit beziehen sich die Daten ausschliess-
lich auf Männer des jeweilig jüngsten Rekrutirungsj ahr-
ganges. Wir finden in Tabelle 2 die allgemeinen Verhält-
nisse der Dienstuntauglichkeit und die Gründe der Untaug-
lichkeit bei den im Herbste 1892 untersuchten Rekruten
nach dem Berufe der letzteren geordnet und ausserdem für
die Jahre 1884—1890 (bezw. 1885—1890 und 1886—1890) die
Dienstuntauglichen ihrer Zahl nach und die Ergebnisse der
Untersuchung ihrer Körperlänge, Brust- und Oberarmum-
fangs wie Sehschärfe auch nach Berufen gruppirt.
Bevor wir auf die Einzelheiten eingehen, mögen die
allgemeinen Resultate der Erhebung in Kürze vorgeführt
werden.
Die Untersuchungen haben, da sie mit dem Meter-
band vorgenommen werden, im Allgemeinen weit mehr
Anspruch auf Exaktheit als andere sozialstatistische Er-
hebungen, doch dürfen die Schwierigkeiten technischer
Natur nicht vollkommen übersehen werden insbesondere
bei den Messungen des Brust- und Oberarmumfanges, der
je nach Haltung der Muskeln und Luftinhalt der Athmungs-
i) Herausgegeben vom Statistischen Bureau des eidge-
nössischen Departements des Innern. Bern, 1892. 4". 49 S.
organe auch bei grösster Sorgfalt des untersuchenden
Arztes wechselt und deshalb oft nicht mit vollster Genauig-
keit festgestellt werden kann. Man begnügte sich in der
Schweiz früher für jeden dienstuntauglich erklärten Stellungs-
pflichtigen einen Untauglichkeitsgrund namhaft zu machen.
Von statistischer Seite wurde aber mit berechtigtem Nach-
druck darauf aufmerksam gemacht, wie mangelhaft und
irreführend diese Angaben seien, wenn sie dafür benutzt
werden wollten, die Häufigkeit der verschiedenen Untaug-
lichkeitsgründe für die verschiedenen Gegenden und Berufe
festzustellen. Seit dem Jahre 1884 sollen nun alle Untaug-
lichkeitsgründe festgestellt werden, aber in der Praxis
bürgerte sich diese Uebung erst langsam ein und auch
heute kann noch nicht behauptet werden, dass die einzelnen
Untersuchungskommissionen diesen Anordnungen vollständig
nachkommen. Aber die Ergebnisse der Erhebungen zeigen
doch, dass die Untersuchungen immer genauer werden,
was folgende auch sonst bemerkenswerthe Tabelle beweist:
Untersuchungs-
jahr
Zahl der
untauglich
Erklärten
Gesammtzahl Auf je 100
der festge- Untaugliche
stellten Ün- kamen Untaug-
tauglichkeits- ! lichkeits-
gründe gründe
1884 . . .
9358
10 208
109
1885 . . .
9548
11 691
122
1886 . .
8976
11 520
128
1887 . . .
8473
11 142
132
1888 . . .
8431
1 1 705
139
1889 . . .
8521
12 074
142
1890 . . .
8997
12 867
143
Im Herbste 1890 stellten sich 30 348 Personen, von
diesen stammten 23 101 aus dem Jahre 1871 und 7247 aus
älteren Jahrgängen. 5842 wurden zurückgestellt und zwar
4123 auf ein Jahr und 1719 auf 2 Jahre, sonst wurden
24 506 junge Männer endgültig beurtheilt, 15 509 derselben
wurden für diensttauglich befunden, 8997 für dienstuntaug-
lich erklärt. Von den Diensttauglichen entstammten 3311
älteren Jahrgängen.
Die 12 867 Untauglichkeitsgründe vertheilten sich
folgendermassen :
Es wurden zurückgestellt 2507 Rekruten wegen
mangelhafter körperlicher Entwicklung, Schwäche, Anämie
u. dergl., 2048 wegen Kropf, 1712 wegen Sehschwäche ohne
Kurzsichtigkeit, 1116 wegen Plattfuss, 847 wegen Hernien,
836 wegen Augenleiden, 555 wegen Verstümmelungen der
unteren Gliedmassen, 415 wegen Kurzsichtigkeit, 326 wegen
Schweissfuss, 325 wegen Krankheiten des Herzens und der
grösseren Gefässe, 257 wegen geistiger Beschränktheit, 234
wegen Verstümmelung oder Gebrechen der oberen Glied-
massen, 229 wegen Missbildung des Brustkorbes, 156 wegen
Skrophulose, Rhachitis und Caries, 139 wegen mangelnder
Gehörsschärfe u. dergl., 131 wegen Krampfadern und Bein-
geschwüren, 130 wegen Krampfadernbruch, 1 13 wegen nicht
näher bestimmten Krankheiten der Athmungsorgane, 93
wegen Epilepsie, 84 wegen nicht gesondert angeführten
Leiden der Harn- und Geschlechtsorgane, 81 wegen nicht
angeführter oder unbestimmter Krankheiten oder Gebrechen,
79 wegen Schwindsucht, 71 wegen Taubheit und Stumm-
heit, 65 wegen Hautkrankheiten, 58 wegen Nasen-, Mund-
und Rachenleiden, 51 wegen Stottern, 40 wegen Rheumatis-
mus oder Gicht, je 34 wegen nicht gesondert angeführter
Leiden der Verdauungsorgane und wegen Fettleibigkeit,
33 wegen unbestimmter Krankheiten des Nervensystems,
31 wegen Missbildung oder Krankheiten des Schädels, 16
wegen Geisteskrankheit, 13 wegen Blindheit beider Augen,
5 wegen Syphilis, 1 wegen Alkoholismus und 2 wegen
anderer Intoxikationen.
Bei der Berufsscheidung werden 78 Berufe berück-
sichtigt, hierzu kommt noch eine 79. Gruppe, welche 32
Berufe mit zusammen nur 269 Untersuchten umfasst. Es
würde den Rahmen dieser Zeitschrift überschreiten, wollten
wir die Ergebnisse der Untersuchung für sämmtliche Berute
hier vorführen, wir müssen uns deshalb bescheiden, auf die
358
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 29.
angeführte Quelle zu verweisen und die durch Zahl der
Untersuchten oder besonders charakteristische Ergebnisse
bemerkenswerthe Bernte nach den wichtigsten Untauglich-
keitsgründen anzuführen, wobei wir einige Gruppen, wo
dies nöthig erschien, zusammen fassten.
Die zahlreichste Gruppe (12 723) bilden die Land-
arbeiter mit Ausschluss der Gärtner. Während von den
30 348 überhaupt Untersuchten 1 92,5 °/00 überhaupt zurück-
gestellt wurden, stellte man von den Landarbeitern 191,95 %„
zurück, so dass der Unterschied im allgemeinen Gesund-
heitszustände der Landarbeiter und der männlichen schweize-
rischen Bevölkerung überhaupt im stellungspflichtigen Alter
nur ein ganz unbedeutender zu Gunsten der Landarbeiter
ist. Der Grund dieser im ersten Augenblicke im Wider-
spruche mit den herrschenden Ansichten stehenden Er-
scheinung beruht auf zwei Ursachen, erstens auf dem Um-
stande, dass die Schäden gesundheitsgefährdender Be-
schäftigungen im jugendlichen Alter noch nicht so stark
in die Erscheinung treten wie in späteren Jahren und dann
in der T hatsache, dass die schweizer Industrie eine topo-
graphisch weit mehr dezentralisirte ist, als die Englands
und Deutschlands, somit die industriellen Arbeiter weniger
unter den ungesunden Folgen der Konzentrirung in Gress-
städten leiden als die Arbeiter in anderen Ländern.
Bei den 3802 für untauglich erklärten Landarbeitern
wurden 5347 Untauglichkeitsgründe konstatirt. Die be-
merkenswerthesten derselben sind: Bei 999 mangelhafte
körperliche Entwicklung, Schwäche, Anämie u. dergl., bei
965 Kropf, bei 11 29 Schwäche und andere Leiden des Auges,
bei 342 Hernien, bei 108 Verstümmelung oder Gebrechen
der oberen Gliedmassen, bei 890 verschiedene Leiden der
unteren Gliedmassen, bei 59 Skrophulose, Rhachitis, Caries
und bei 178 geistige Beschränktheit.
Für die Nahrungsmittelindustrie (Müller, Bäcker,
Zuckerbäcker, Chocoladenarbeiter, Metzger, Bierbrauer und
Tabakarbeiter) ergaben sich folgende Resultate:
Von 1408 Rekruten (605 Bäckern1) wurden für untaug-
lich erklärt 401 (175), demnach 284,8 %9 (289,3 u/00). Das
Untauglichkeitsverhältniss ist demnach bei diesen Gewerben
um mehr als 50 °/0 ungünstiger als bei der Gesammtbe-
völkerung und bei der Landwirthschaft. Es wurden in
diesen Gewerben untauglich befunden wegen mangelhafter
körperliche Schwäche, Anämie u. dergl. 71 (32), wegen
Gebrechen an den Augen 147 (67), wegen Missbildung der
Wirbelsäule und des Brustkorbs 7 (4), wegen Kropf 67 (36),
wegen Hernien 55 (21 ), wegen Krankheiten oder Diformi-
täten der unteren Extremitäten 137 (52).
Von 1093 Schneidern und Schuhmachern wurden 378
für untauglich erklärt, demnach 345,9 %0 und zwar 151 Re-
kruten wegen mangelhafter körperlicher Entwicklung,
Schwäche, Anämie etc., 87 wegen Augenleiden, 89 wegen
Kropf, 30 wegen Hernien, 81 wegen Gebrechen an den
unteren Gliedmassen.
Von 778 im Baugewerbe thätigen Rekruten (Bau-
meister und Bauunternehmer, Kalk- und Ziegelbrenner,
Asphalt- und Cementarbeiter, Steinhauer, Maurer und
Gypser, Dachdecker) wurden 239 für untauglich erklärt
(307,2 1 /00) und zwar wegen mangelhafter Körperschwäche etc.
64, wegen Augenleiden 68, wegen Kropf 60, wegen Hernien
15, wegen Gebrechen an den unteren Extremitäten 59.
Aon 1217 dem Llolzbearbeitungsgewerbe (Säger,
Zimmerleute, Schreiner, Glaser und Drechsler) angehörenden
Stellungspflichtigen wurden 336 (276,1 u/ „) militäruntauglich
befunden und zwar 58 wegen mangelhafter körperlicher
Entwicklung, Schwäche und Anämie, 1 1 1 wegen Gebrechen
an den Augen, 94 wegen Kropf, 43 wegen Hernien, 86 wegen
Mängel an den unteren Extremitäten.
Unter 196 Buchdruckern wurden 57 (290,8 ft/no) für un-
tauglich erklärt, hiervon 12 wegen mangelhafter körper-
licher Entwicklung etc. und 25 wegen verschiedener Augen-
leiden.
Von 1426 der Textilindustrie (Spinner, Weber u. dgl.
') Die Zahlen in den Klammern beziehen sich auf die Bäcker.
Sticker, Färber, Bleicher, Ausrüster, Zeugdrucker) ange-
hörenden Stellungspflichtigen wurden 507 (355,5 %0) als
militäruntauglich befunden und zwar 206 wegen mangel-
hafter körperlicher Entwickelung u. dergl., 155 wegen Ge-
brechen an den Augen und 108 wegen Mangel an den
unteren Extremitäten.
Von 1278 Uhrmachern wurden 344 (269,1 %0) für un-
tauglich erklärt u. z. 95 wegen mangelhafter körperlicher
Entwickelung, 122 wegen Augenleiden, 38 wegen Kropf,
241 wegen Hernien und 96 wegen Mangel an den unteren
Extremitäten.
Von 1151 in der Metallindustrie (Kupferschmiede,
Mechaniker, Eisengiesser, Schmiede, Büchsenmacher, Feilen-
hauer und Schleifer) thätigen Stellungspflichtigen wurden
272 (236,1 1°/nn) untauglich erklärt und zwar 49 wegen man-
gelhafter körperlicher Entwickelung u. dgl., 84 wegen ver-
schiedener Augenleiden, 64 wegen Kropf, 34 wegen Her-
nien, 91 wegen Gebrechen an den unteren Extremitäten
und 7 wegen Gebrechen an den oberen Extremitäten.
Unter 584 Fabrikarbeitern ohne nähere Bezeichnung
wurden 262 (448,6 °/00J für untauglich erklärt u. z. 120
wegen mangelhafter körperlicher Entwickelung, 74 wegen
Gebrechen an den Augen, 71 wegen Kropf, 32 wegen Her-
nien, 66 wegen Mängel bei den unteren Gliedmassen.
Betrachten wir endlich einige Gruppen der liberalen
Berufsarten (Advokaten und Notare, öffentliche Beamte und
Angestellte, Aerzte , Zahnärzte, Thierärzte, Geistliche,
Lehrer und Studenten). Unter 1209 in diesen Berufen
thätigen Stellungspflichtigen befanden sich 297 (245,7U/0U)
militäruntaugliche Personen. 81 wurden wegen mangel-
hafter körperlicher Entwickelung, 1 70 wegen Gebrechen an
den Augen, 46 wegen Kropf, 30 wegen Herzleiden für ,
militäruntauglich befunden.
Wir müssen es uns versagen von den zahlreichen
weiter mitgetheilten sozialstatistischen Einzelheiten weiteres
mitzutheilen und schliessen unser Referat mit einem Ver- 1
gleiche der Diensttauglichkeit in einer Reihe wichtiger ,
Berufe. t
Von je 100 in den Jahren 1884—1890 endgültig Beur- ;
theilten waren bleibend untauglich: 67 ohne Beruf oder
ohne Angabe desselben, 60 Korb- und Sesselflechter, 57
Tabakarbeiter, 56 Schneider, 50 Spinner, Weber u. dergl.,
49 Buchbinder, 48 Angehörige „anderer“ chemischer Ge-
werbe, 48 Tagelöhner ohne nähere Bezeichnung, 46 Geist-
liche, 44 Bürstenbinder, je 43 Sticker, Schuhmacher, Hut-
macher, je 42 „andere“ Metallarbeiter, Dienstmänner und :
Holzhacker, je 41 Haarschneider, Vergolder und Rahmen-
macher, je 40 Buchdrucker, Steindrucker, Kupferstecher, '
Photographen , Zeugdrucker , Bildhauer , Holzschnitzer,
Papierarbeiter, öffentliche Beamte und Angestellte, je 39
Dienstboten, Flach- und Dekorationsmaler, Zuckerbäcker
und Chocoladenarbeiter, je 38 Landarbeiter, Kalk- und
Ziegelbrenner, Drechsler, Gold- und Silberarbeiter, Färber,
Bleicher, Ausrüster, Sieb-, Leisten- und Rechenmacher, je
37 Zeugdrucker, Glasarbeiter, je 36 Waldarbeiter, Köhler,
Handelsleute, Schreiber und dergl., Post- und Telegraphen-
arbeiter und Angestellte , je 35 zum Gastwirthschafts-
gewerbe gehörende Personen, Messerschmiede und Ban-
dagisten, Spengler, Tapezierer und Matrazenmacher , je 34
Säger, Schreiner, Glaser, Sattler, Hafner, Küfer, je 33 Berg-,
Kohlen-, Steinbruch- und Salinenarbeiter, Gärtner, Dach-
decker, Uhrmacher, je 32 Bäcker, Maurer und Gypser,
Kaminfeger, Feilenhauer und Schleifer, Musikinstrumenten-
macher, je 31 Steinhauer, Kupferschmiede, Eisengiesser,
Advokaten und Notare, je 30 Fischer, Müller, Gerber, A\Tag-
ner, Strassen- und Gewässerarbeiter, Lehrer, je 29 Bau-
meister und Bauunternehmer, Optiker und Kleinmechaniker,
Studenten, je 28 Asphalt- und Cementarbeiter, Schlosser,
Mechaniker, Eisenbahnarbeiter und Angestellte , je 27
Schmiede und Apotheker, je 26 Maschinentechniker, Ar-
beiter und Angestellte des Fuhrwesens, Zimmerleute, je
25 Metzger, Bierbrauer, 22 Büchsen- und Waffenschmiede,
21 Schiffer und Flösser, 15 Aerzte und Chirurgen, 12 Hand-
langer ohne nähere Bezeichnung, 1 1 Thierärzte.
No. 29.
SOZIALPOLITISCHES CENTRAI .BLATT.
359
So wenig manche dieser Zahlen, da in ihnen das I
Gesetz der „grossen Zahl“ nicht zum Ausdruck kommt,
auch zu weiteren Schlüssen berechtigen, so sind sie doch
als werthvoller Betrag zu einer Vergleichung der Gesund-
heitsverhältnisse in den verschiedenen Berufen von Werth.
Es darf aber bei ihnen nicht ausser Acht gelassen werden,
dass die meisten Personen, über die Angaben vorliegen,
erst 4 — 5 Jahre in ihrem Berufe thätig sind, dass der Ein-
fluss des Berufes auf den Gesundheitszustand und die phy-
sische Beschaffenheit bei einer Untersuchung in späteren
fahren viel schärfer zum Ausdrucke käme.
Berlin. Adolf Braun.
Arbeitsnachweisaustalt in Karlsruhe. Die Karlsruher An-
stalt hat auch für die ersten sechs Monate des Jahres 1892 befriedi-
gende Betriebsergebnisse zu verzeichnen. Die Zahl sämmtlicher
Einschreibungen hat sich auf 1646 belaufen, von denen 549, also
2 pCt. mehr als im verflossenen Jahre, befriedigt werden konnten.
Hiervon entfallen auf gewerbliche Arbeiter 307 und auf gewerb-
liche Arbeitsuchende 892. Bei den ersteren betrug die Zahl der
Befriedigten 207 oder 67 pCt. bezw. 5pCt. mehr als im Vorjahre
und bei den letzteren 243 oder 27 pCt., hier ist die Prozentzahl
die gleiche geblieben. Der Rückgang in den Einschreibungen
hat seinen Grund vor allem in der noch immer andauernden
Geschäftsstille, sowie auch darin, dass viele Arbeitsuchende auf
eine Einschreibung verzichtet haben, nachdem ihnen auf ihre
Nachfrage nach Arbeit vorläufig ein verneinender Bescheid ge-
geben werden musste Die "Zahl derselben berechnet sich
nach Hunderten und manchen mag der Zustand seiner vorüber-
gehenden vollständigen Mittellosigkeit zu diesem Verhalten ge-
zwungen haben. Die Benützung der Anstalt durch Betheiligte,
welche ausserhalb Karlsruhe wohnen (im Ganzen 98 Fälle) ist
eher in der Zunahme begriffen. Von der Einrichtung des halben
Abonnements zu 1 M. mit fünf Abschnitten wurde häufiger Ge-
brauch gemacht. Ihre Gesammtzahl beläuft sich auf 26, zu
denen 15 ganze Abonnements, darunter fünf, die von auswärts
hinzugetreten sind. Der Verkehr mit einzelnen Filialen, wie
Kehl, Pforzheim, Gernsbach, Ettlingen, Durlach u s. w. hat sich
bereits zu einem für die Arbeitvermittlung im allgemeinen sehr
förderlichen und für die Zukunft vielversprechenden gestaltet.
Die Zahl sämmtlicher Einschreibungen bei denselben beläuft
sich auf 142. Auswärts wohnenden Arbeitgebern, welche an der
raschen Zuweisung der erforderlichen Arbeitskräfte ein grosses
Interesse haben und unter Umständen auch zur Bestreitung der
Reisekosten bereit sind, kann die Benützung der Filialen ihres
Bezirks nur dringend empfohlen werden. Auch wurden 29 Ge-
suche um Vermittlung von Stellen für entlassene Gefangene
eingereicht.
Minimallohii und Arbeitsvermittlung in Gross- Zürich.
In der, abgesehen von der Volksabstimmung, nunmehr zum
Beschluss erhobenen Gemeindeordnung sind zwei sozial-
politisch beachtenswerthe Bestimmungen festgesetzt worden.
Nach Art. 152 bestimmen nicht die Aufseher und unter-
geordneten Beamten sondern der Stadtrath die Lohnansätze
der im Taglohn beschäftigten Bediensteten und Arbeiter.
Dabei ist, als Mindestlohn, nicht etwa als gleichmässiger
Normal-, auch nicht als Maximallohn, und zwar bei zehn-
stündigem Arbeitstag für erwachsene Handlanger ein An-
satz von Fr. 4 und für erwachsene Handwerker ein Ansatz
von Fr. 4,50 zu Grunde zu legen. Bei der Anstellung sind
.Schweizerbürger in erster Lime zu berücksichtigen. Ausser-
dem sollen Einrichtungen für die Arbeitsvermittlung ge-
troffen werden, sei es in Form eines städtischen Arbeits-
nachweisebureaus oder einer Arbeitsbörse.
Arbeiterzustände.
Zur Kritik der Arbeitsstatistik der deutschen Gewerk-
vereine für das Jahr 1891.
Wenige Wochen vor Zusammentritt der Reichskom-
mission für Arbeiterstatistik erschien die Arbeitsstatistik der
deutschen (Hirsch-Duncker’schen) Gewerkvereine für das
Jahr 1891 1). Die Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereine
b Nach den Angaben der Gewerk- und Ortsvereine Zu-
sammengestellt von Alb. Pioch und Carl Schumacher, Mitglieder
des Centralrathes und mit Erläuterungen herausgegeben von
Dr. Max Hirsch, Verbandsanwalt. Berlin, 1892. Selbstverlag des
Verbandes der deutschen Gewerkvereine gr. 8°. 108 S.
können das unbestreitbare Verdienst in Anspruch nehmen,
stets für die Statistik der Arbeiterverhältnisse Interesse ge-
zeigt zu haben. Schon in den „Musterstatuten der deut-
schen Gewerkvereine“ vom Oktober 1868 ist in § 2 als ein
Hauptmittel zur Erreichung des Gewerkvereinszweckes
„die Aufstellung und Fortführung einer Arbeitsstatistik
des betreffenden Gewerkes und hierauf begründete Arbeits-
vermittlung“ angeführt und § 51 bestimmt des Näheren:
„Die Ortssekretäre (die geschäftsführenden Beamten der
einzelnen Ortsvereine) haben nach Massgabe allgemeiner
Formulare allmonatlich über die Höhe der Löhne, die
Dauer der Arbeitszeit, den Gang des Geschäftes, die An-
zahl der Lehrlinge und alle anderen für die Lage der be-
treffenden Arbeiter an ihrem Orte erheblichen Verhältnisse
nach genauer Erkundigung an den Generalsekretär (den
geschäftsführenden Beamten des ganzen nationalen Gewerk-
vereines) zu berichten und stellt letzterer daraus die
Arbeitsstatistik des Gewerkvereines zusammen.“ Aber erst
im Jahre 1879 wurde aut dem Nürnberger Verbandstage
die Aufnahme einer periodischen Arbeitsstatistik für den
ganzen Verband nach einheitlichem Schema beschlossen.
Der Düsseldorfer Verbandstag von 1889 entschied, dass die
statistischen Aufnahmen in Zwischenräumen von drei Jahren
vorgenommen werden sollen. Seit dem Jahre 1880 liegen
fortlaufende Hefte der Gewerkverbandsarbeitsstatistik vor,
welche nach wesentlich gleichen Gesichtspunkten erhoben
und zusammengestellt wurden. Dieselbe beruht auf direkten
Angaben der Arbeiterorganisationen selbst, dehnt sich auf
sehr viele Orte und eine grosse Zahl von Berufsgruppen
aus, so dass man lobend anerkennen muss, dass die Statistik
der Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereine die auf der
breitesten Basis beruhende deutsche Arbeiterstatistik ist.
Die eben erschienene Publikation ist die 14. in der Reihe
der arbeitsstatistischen Veröffentlichungen der deutschen
Gewerkvereine. Die ersten 13 folgten rasch aufeinander in
den Jahren 1880 — 1887. An der Statistik betheiligten sich
im Jahre 1880: 280, 1885/86: 604, 1887: 765 und 1891: 924
Gewerkvereine. Die Statistik des Jahres 1891 dehnte sich
auf 16 Berufsgruppen aus und zwar auf 306 Gewerkvereine
der Maschinenbauer, auf 129 der Fabrik- und Handarbeiter,
85 der Tischler, 72 der Schuhmacher, 45 der Stuhlarbeiter,
39 der Klempner, 51 der Schneider, 47 der Bauhandwerker,
31 der graphischen Berufe, 26 der Cigarrenarbeiter, 24 der
Berg- und Grubenarbeiter, 20 der Töpfer, 1 1 der Bildhauer,
6 der Schiffszimmerer, 12 der Konditoren, 19 der Kaufleute
und auf I selbständigen Ortsverein. Von 1313 Ortsver-
einen betheiligten sich 924 an der Statistik.
Die Angaben der Statistik beziehen sich auch auf den
Monat Dezember 1891, erheblichere Abweichungen in an-
deren Monaten sollten besonders erwähnt werden.
Bedauerlich ist, dass befriedigende Angaben über die
Methode der Erhebung fehlen. Die Fragebogen scheinen
nicht von den einzelnen Arbeitern, sondern von den Orts-
vereinen ausgefüllt worden zu sein. In welcher Weise der
Ausfüller des Fragebogens sich seine Informationen ver-
schafft hat, lässt sich nicht ersehen. So sehr wir auch
mangels besserer Erhebungen auch diese begrüssen müssen,
so muss doch auf augenfällige Mängel aufmerksam gemacht
werden.
Abgesehen von freiwilligen Angaben über sonstige
Lohn-, Arbeits-, Einkommens- und Verbrauchsverhältnisse
wird in Tabellenform eine Lohn- und Arbeitszeit-Statistik
der Gewerk- und Ortsvereine und eine Zusammenstellung
der Angaben nach Gewerkvereinen geordnet geboten. Ge-
fragt wurde: I. nach dem durchschnittlichen Wochenlohn
I . für erwachsene Arbeiter, 2. für erwachsene Arbeiterinnen,
3. für jugendliche Arbeiter mit Einschluss der Lehrlinge;
II. nach dem Akkordlohn, und zwar 1. ob diese die Regel
bildet, 2. u. 3. auf wieviel sich der Wochenverdienst eines
erwachsenen Akkordarbeiters und einer erwachsenen Ar-
beiterin beläuft; III. ob die Löhne im Steigen oder Fallen
begriffen sind bezw. ob sie sich nicht verändert haben;
IV. die Lohnzahlung anlangend, wurde nach den Lohnfristen
und nach den Zahlungsterminen gefragt. In Bezug auf die
Arbeitszeit wurde nach der durchschnittlichen Stundenzahl
der Wochentagsarbeit a) für erwachsene männliche, b) für
erwachsene weibliche Arbeiter gefragt. Ferner wird be-
züglich der Ueberarbeit an Wochentagen gefragt, ob die-
selbe überhaupt stattfindet und wieviel Stunden sie pro
Tag beträgt. Endlich sollte erforscht werden, ob die Be-
schäftigung im Jahre 1891, von Einzelfällen abgesehen,
ungestört war; falls sie gestört war, sollte Art und Ursachen
der Störung ermittelt werden, und zwar ob bezw. wie lange
360
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 29.
mit beschränkter Arbeitszeit gearbeitet wurde, und wie viele
Wochen gänzlicher Arbeitslosigkeit a) durch die „todte
Saison“, b) durch aussergewölmliche Arbeitsstockungen,
c) durch Arbeitsstreitigkeiten verursacht wurden.
Bedauerlich ist, dass nicht zu erfahren ist, auf wie
viele Arbeiter absolut und in annähernden Prozentzahlen
überhaupt an den betreffenden Orten und in den betreffen-
den Gewerben die Erhebungen bezw. Schätzungen des
„durchschnittlichen“ Wochenlohnes und des Akkordlohnes
sich beziehen, ob die Angaben sich nur auf Arbeiter oder
auch auf Werkführer und in ähnlichen Stellungen befind-
liche Personen Bezug haben, wie viele Arbeiter unter und
über dem Durchschnittsverdienste entlohnt wurden; ferner
vermissen wir die Scheidung von gelernten und ungelernten
Arbeitern. Die Antworten auf die Frage, wie viel Ueber-
stunden auf den Tag entfielen, musste zu falschen Angaben
führen, es hätte nach der Zahl der Ueberstunden im Jahre
oder zum mindesten im Monate Dezember 1891 gefragt
werden müssen. Auch hätte die Ausdehnung der Sonntags-
und Feiertagsarbeit erforscht werden sollen. Die Fragen
bezüglich der Arbeitszeit und der Ueberstunden hätten für
Akkord- und Zeitlohnarbeiter geschieden werden sollen.
Welche Mängel eine sich nicht auf ein ganzes Jahr
erstreckende Erhebung über die Arbeiterverhältnisse stets
im Gefolge hat, ergiebt sich z. B. aus der Beantwortung
der Frage nach dem durchschnittlichen Arbeitslöhne durch
die Ziegeleiarbeiter von Heegermühle. Dieselbe lautet:
„M. 8, im Sommer M. 15—20“. Beider haben sich die Be-
antworter der Fragen sonst nicht die Mühe gegeben, den
Wechsel der Arbeitsbedingungen nach den Jahreszeiten zu
charakterisiren, so geben z. B. die Ziegler von Uellnitz bei
Stassfurt ihren Wochenlohn mit 10 M. an, sie verdienen
aber bei regelmässiger Akkordarbeit im Sommer 14 M.
Wie viel verdienen sie nun im Winter? Dies geht nicht
aus der Statistik hervor, ebensowenig, ob der Lohnsatz von
14M. für die regelmässige Arbeitszeit oder für dieselbe mit
Einschluss eventueller Ueberstunden bezahlt wird. Angaben
wie die der Fabrik- und Handarbeiter von Schönbeck a. E.,
dass der durchschnittliche Wochenlohn 15 — 24 M. betrage,
müssen als werthlos angesehen werden, obgleich sie viel-
leicht viel mehr auf thatsächlichen Erhebungen beruhen,
wie anscheinend sehr genaue Angaben etwa der Bauhand-
werker in Königsberg i. Pr., welche ihren durchschnittlichen
Wochenlohn mit M. 13,10 angeben.
Zur Beurtheilung des Werthes der Angaben wäre,
wie schon bemerkt, entschieden erforderlich, zu erfahren,
auf wie viele Arbeiter und welcher Art sich die Angaben
beziehen. Wenn z. B. mitgetheilt wird, dass Arbeite-
rinnen der graphischen Berufe und der Maler in Elbing
durchschnittlich pro Woche 3 — 6, in Gera aber 16 M. ver-
dienen, so wird dies auf dem ersten Blicke die Statistik kaum
besonders glaubhaft erscheinen lassen, obgleich wohl beide
Angaben richtig sein können, so z. B., wenn die Arbeite-
rinnen in Elbing mit Falzen, die in Gera dagegen als Vor-
arbeiterinnen den betreffenden Lohnsatz verdienen.
Ueber das Verhältniss der Tag- zu den Akkordlöhnen
fehlen leider auch die zur Beurtheilung der Lohnangaben
nöthigen Daten. Die gleichmässige Befragung aller Ge-
werkvereinsmitglieder, so sehr sie prinzipiell richtig ist,
hat auch ihre unleugbaren Schattenseiten; besondere Spe-
zialfragen für die einzelnen Gewerbe hätten nicht ver-
mieden werden sollen, so z. B. für die Bergarbeiter be-
züglich der Arbeitszeit, ob über oder unter der Erde
der angegebene Lohnsatz verdient wird, ob die Einfahrt
miteingerechnet wird oder nicht, ob die tägliche Arbeits-
zeit mit der Schicht zusammenfällt beziehungsweise ob
die Zahl der Werktage der der wöchentlichen Schichten
entspricht.
In Betreff der Lohnzahlung hätte interessirt, ob der
Lohn während oder nach der Arbeitszeit ausgezahlt wird.
Eine schärfere Scheidung nach Berufsgruppen fehlt
auch; so finden wir eine Gruppe Maschinenbau- und
Metallarbeiter, dann eine Klempner- und Metallarbeiter.
Wäre die Statistik mit von den einzelnen Arbeitern direkt
auszufüllenden Zählkarten aufgenommen worden, so hätten
sich Klempner, Former, Schlosser, Schmiede, Dreher,
Walzer, Kupferschmiede etc. etc. leicht scheiden lassen,
so erhalten wir aber abgesehen von wenigen Einzelan-
gaben über diese Berufe Zahlenangaben, welche einen
Durchschnitt ganz verschiedener nicht combinirbarer
Grössen bilden. Das Gleiche gilt von den Gruppen der
Fabrik- und Handarbeiter, der Schuhmacher und Leder-
arbeiter, der graphischen Berufe und Maler.
Zur Beurtheilung der Reallöhne fehlt, abgesehen von
vereinzelten, meist wenig präzisen freiwilligen Angaben
jeder Anhaltspunkt. Eine Ergänzung der Lohnangaben
durch Haushaltungsbudgets wäre sehr fruchtbringend ge-
wesen.
Wenn wir in so eingehender Weise die Mängel dieser
Statistik hervorheben, so geschieht dies, weil man gerade
jetzt, wo die Arbeitsstatistik von Reichswegen in die Hand
genommen wird, an die mehr privaten Erhebungen der
Arbeiterorganisationen die höchsten Ansprüche stellen
muss. In allen Gewerkschaften ist man der Meinung,
dass auch gegenüber den offiziellen arbeitsstatistischen
Erhebungen von den Arbeitern selbst die Statistik ihrer
Verhältnisse weiter gepflegt werden soll. Und dies mit
vollem Rechte. Dadurch wird nicht nur die amtliche Sta-
tistik kontrollirt, sondern sie wird auch gezwungen sich
immer grössere Aufgaben zu stellen. Je besser die statisti-
schen Leistungen der Arbeiterorganisationen sein werden,
desto tiefer wird die amtliche Statistik das bisher brach-
liegende Gebiet beackern.
Die Lage (1er Arbeiter im Wuppertliale. Die Gewerk-
schaftskommission für Elberfeld-Barmen hat eine Statistik
über die Lage der Arbeiter im Wupperthale aufgenommen.
Circa ein Sechstel der Arbeiter dieser Gegend betheiligten
sich an der Erhebung.
Die Ausführung derselben fand in der Weise statt,
dass für jede Fabrik resp. Werkstelle je ein Fragebogen
bestimmt war. Die Hauptfragen bezogen sich auf die Zahl
der Arbeiter resp. Arbeiterinnen, Arbeitszeit, Pausen, Lohn-
höhe, Strafen etc.
Im Ganzen waren 950 Fragebogen ausgegeben worden,
welche sich unter 18 Berufszweigen verthenten. Ausgefüllt
zurückgekommen sind davon jedoch nur419. DieGesammtzahl
der Arbeiter, betreffs welcher Ermittelungen angestellt wor-
den, beträgt 11627; davon 7890 männliche, 2537 weibliche
und 1200 jugendliche Arbeiter resp. Lehrlinge.
Wir theilen hier die interessantesten Ergebnisse der
Statistik mit: 132 männliche, 108 weibliche und 82 jugend-
liche Buchbinder betheiligten sich an der Erhebung.
Ihre Arbeitszeit (1 1 V2 Stunden) wurde durch zahlreiche
Ueberstunden ausgedehnt. Der durchschnittliche Arbeits- *
lohn war für männliche Arbeiter 15,40 M., für weibliche '
7,60 M. 116 Böttcher gaben ihren Durchschnittslohn bei
lOstündiger Arbeitszeit mit 21,50 M. an. In den Brauereien
ist bei längerer Arbeitszeit vielfach noch Naturallohn üblich.
Von Ungelernten, Fabrikarbeitern betheiligten sich 1874
männliche, 340 weibliche und 439 jugendliche an der Stati-
stik. Ihre Arbeitszeit wird mit 10 und 11 Stunden ange-
eben, über Unregelmässigkeit der Pausen und Häufigkeit |
er Ueberstunden (5145 pro Woche) wird Klage geführt.
Der durchschnittliche Lohn betrug für männliche Arbeiter
17 M., für weibliche 9,50 M. und für jugendliche 7 M. Ueber
Häufigkeit und Höhe der Strafen (bis 6 M.) für die kleineren
Versehen wird geklagt. 103 Maurer hatten bei einer
lO'Astündigen Arbeitszeit 21 M. Wochenlohn, sie mussten
380 Ueberstunden pro Woche arbeiten. 567 Metallarbeiter
und 60 Lehrlinge geben ihre Arbeitszeit mit 9 '/2 bis 12 Stunden
an und verzeichneten ausserdem 1669 Ueberstunden pro
Woche. Die Löhne variiren zwischen 14,50 — 22,50 M. Von
Häufigkeit und Höhe der Strafgelder (bis zu 6 M. in den
städtischen Gas- und Wasserwerken), sowie von zahlreichen
Unfällen wird berichtet. Schneider (53 männliche, 9 weib-
liche und 4 Lehrlinge) geben ihre Arbeitszeit mit 12 — 13
Stunden als Regel und 15 — 18 Stunden als Ausnahme und
ihren Durchschnittslohn mit 16,50 M. an. Sie klagen über
die Länge der todten Saison. Bei den Schuhmachern
(52 Arbeiter) herrscht die gleiche Arbeitszeit wie bei den
Schneidern. Neben Kost und Wohnung, über welche ge-
klagt wird, erhalten sie einen Lohn von 3 — 7 M., der
Durchschnittslohn soll 4,50 M. nicht erreichen. 83 erwachsene
und 10 jugendliche Stukkateure geben ihren Durchschnitts-
lohn bei lOstündiger Arbeitszeit im Sommer mit 25 M. an,
im Winter sind sie meistens ohne Beschäftigung.
994 männliche, 91 weibliche und 39 jugendliche in
Färbereien beschäftigte Arbeiter haben eine Arbeitszeit
von durchschnittlich 11 Stunden, sie verzeichneten pro
Woche 13 711 Ueberstunden, der Lohn schwankt für er-
wachsene Arbeiter zwischen 13 — 18 M. und beträgt für
Arbeiterinnen im Durchschnitte 9,75 M. Ueber sehr schlechte
Behandlung, häufige Lohnstreitigkeiten und ungesunde
Arbeitsräume wird Klage geführt. Von den übrigen Textil-
Nu. 29.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBI „ATT.
361
arbeitern betheiligten sich 2468 männliche, 1926 weibliche
und 293 jugendliche Arbeiter an der Erhebung. Ihre durch-
schnittliche Arbeitszeit beträgt 1 1 Stunden. Löhne zwischen
13 und 21 M. wurden notirt, der Durchschnittslohn dürfte
16 M. kaum übersteigen. 4107 U eberstunden pro Woche
wurden von diesen Arbeitern verzeichnet. In den Kiemen-
drehereien, welche hauptsächlich Arbeiterinnen beschäf-
tigen beträgt die Arbeitszeit 12 Stunden. Der Lohn über-
steigt fast nie II M.
Bei den Tischlern (951 Erwachsene, 158 Lehrlinge
beträgt der Lohn bei einer Arbeitszeit von 9s/.j resp. lOStunden
20 M. Die Zimmerleute (124) verdienten bei einer 1072 stän-
digen Arbeitszeit 21 M. in der Woche.
Fabrikarbeiterlöhne in Sachsen-Altenburg. In seinem
vor Kurzem erschienenen Jahresbericht für 1891 giebt der
Fabrik- und Berginspektor für das Herzogthum Sachsen-Alten-
burg den Versuch einer Lohnstatistik. Nach derselben betrug
der vVochenlohn:
für Männer für Frauen
höchster
niedrigster
höchster
niedri
gstev
Dampfziegeleien . . .
• 24,—
M.
7,— M.
14,-
M.
4,80
M.
Thonwaarentabriken
. 28,—
8 „
10,80
6,—
Porzellanfabriken . .
. 40,—
9,- „
18 —
5-
Maschinenfabriken . .
. 36,—
7, — „
12,-
7,—
Webereien u. Spinnereien 45. —
7,— „
17,50
5,—
Knopffabriken ....
. 30,—
V
6,— „
15,-
11
5,-
11
Harmonikalabriken . .
. 24,—
9,- ,,
6,-
5,-
Wurstfabriken ....
. 23,-
10,- ,
Brennereien ....
. 26,-
10,- „
—
—
Cigarrenfabriken . . .
• 27,-
11
11
17-
11
3,50
Huttabriken
. 40,—
n
10,- „
15,—
11
4-
11
Sehr richtig sagt der
Aufsichtsbeamte,
dass
diese
Zu-
sammenstellung der Wochenverdienste nur ein Bild geben kann
von dem, was ein geschickter und fleissiger Arbeiter zu er-
reichen vermag, und mit wie wenig andererseits ein weniger
brauchbarer auskommen muss.'
Statistik der Leipziger Buchdruckerlehrlinge. Der deut-
sche Buchdruckertarif enthält Bestimmungen über die Zahl der
Lehrlinge, welche im Verhältniss zu der Zahl der Gehilfen
stehen müssen. Zur Kontrolle der richtigen Durchführung dieser
Bestimmungen hat die Tarif kommission für Leipzig so wie in
vorangegangenen Jahren auch im Jahre 1892 Erhebungen vorge-
nommen, welche ergaben, dass in 38 Druckereien neben 625 Ge-
hilfen 229 Setzerlehrlinge, demnach 85 mehr als die Skala zu-
lässt, und in 36 Druckereien neben 195 Maschinenmeistern 133
Druckerlehrlinge, somit 56 mehr als die Skala zulässt, beschäftigt
wurden.
Zum Vergleiche mit den Daten früheren Jahre können die
folgenden Zahlen dienen:
1886 1888 1889 1890 1891 1892
Setzerlehrlinge . .
303
319
336
326
351
412
Druckerlehrlinge .
176
185
178
178
197
220
Giesserlehrlmge .
—
—
—
—
45
43
479
504
514
504
593
675
Die Zahl der Setzerlehrlinge hat um 61 zugenommen,
während die Anzahl der Druckerlehrlinge um 23 gestiegen ist.
Zum Vergleiche mit den Vorjahren dienen folgende Zahlen,
sowohl über die Anzahl der Firmen, welche gegen die Skala
verstossen, als auch über die Anzahl der überzähligen Lehrlinge.
1888 Setzerlehrlinge 28 Druckereien 63 überzählig
Druckerlehrlinge 30 ,, 55 „
Summa 118 überzählig
1889 Setzerlehrlinge 27 Druckereien 48 überzählig
Druckerlehrlinge 27 ,, 39 „
Summa 87 überzählig
1890 Setzerlehrlinge 24 Druckereien 41 überzählig
Druckerlehrlinge 17 u 29 „
Summa 70 überzählig
1891 Setzerlehrlinge 23 Druckereien 32 überzählig
Druckerlehrlinge 24 ,2 35 „
Summa 67 überzählig
1892 Setzerlehrlinge 38 Druckereien 85 überzählig
Druckerlehrlinge 36 ,, _56 „
Summa 141 überzählig
Da den in der ersten Tabelle aufgeführten 1618 Setzern
412 Lehrlinge und den 481 Druckern 220 Lehrlinge gegenüber-
stehen, ist das Verhältniss der Gehilfen zu den Lehrlingen
wie folgt:
bei den Setzern wie 5,24 : 1
„ „ Druckern „ 2,63 : 1
Ein Vergleich mit den früheren Jahren giebt folgendes Bild:
1878 1880 1885 1888 1889 1890 1891 1892
Setzer 3,19:1 2,91:1 4,47:1 4:1 4,5:1 4,71:1 5,24:1 3,93:1
Drucker 2,12:1 2,26:1 2,20:1 2 :1 2,5:1 2,74 :1 2,63 :1 2,19:1
Nicht mitgerechnet sind die Volontäre, deren Zahl 34 beträgt.
Forderung der Arbeitsstatistik für Paris. Dem Pariser
Stadtrathe liegt folgender Antrag Dr. Vaillant’s und Chan-
viöre’s vor:
Der Rath, in Erwägung
dass, wenn nächstens ein städtisches Bureau für Arbeits-
statistik errichtet wird, ähnlich demjenigen der Vereinigten
Staaten, so weit es gesetzlich gestattet ist, es sehr wichtig ist,
von Anfang an die Existenz- und Betriebsbestimmungen fest-
zustellen;
dass überdies, wie bei der Arbeitsbörse, es nöthig ist, dass
das vorgeschlagene Institut nicht nur bezwecke, Aufklärung zu
schaffen, die Verhältnisse zwischen Kapital und Arbeit, Lohn
und Geschäftsgewinn, die Bedingungen der Produktion, der
Vertheilung der Güter und Reichthümer, den Gesundheitszustand
der Industrie, ihre Gefahren, die Dauer und Bezahlung der
Arbeit, die Arbeitslosigkeit, die Ernährung, die Wohnungen, die
Gesundheit der Einzelnen, sowie der Familien und Klassen etc.
etc. kennen zu lernen, und dass es ebenso nöthig ist, dass das
Institut danach trachte, die freie Organisation zu begünstigen
und die Arbeiterklasse zu vertheidigen;
bezüglich dieses Punktes ist besonders zu beachten: der
Vortheil, von Anfang an die Grundlagen einer Arbeiterstatistik
durch Erhebungen und Angaben der organisirten und vereinig-
ten Arbeiter zu schaffen;
die Noth wendigkeit, dass die Erhebungen, Korrespondenzen
und Studien ihren ungehinderten Fortgang haben, und dass der
Sekretär, der damit betraut wird, das volle Zutrauen seiner
Kameraden und Kollegen habe, dass er von ihnen gewählt werde
und eine tägliche Entschädigung von 8 Frs oder von 3000 Frs.
per Jahr erhalte;
die, sowohl im Interesse der Arbeiterorganisation als auch
im Interesse desWerthes des so erhaltenen und dem nationalen
oder städtischen Bureau übermittelten statistischen Materials
liegende Bedeutung, dass, sofern der Sitz des Sekretariates in
Paris ist, diese Genossenschaften, Gewerkschaften und Gewerk-
schaftsbünde so viel als möglich die Gesammtheit ihrer Mit-
glieder im Departement und in der Stadt in sich fassen,
beschliesst:
Jede Arbeiterkorporation oder Vereinigung ähnlicher Kor-
porationen, die als Gewerkschaft oder Gewerkschaftsbund orga-
nisirt ist und in Paris oder im Seine-Departement mehr als
1000 Mitglieder zählt, die aus ihrer Mitte einen in Paris wohn-
haften Sekretär wählt, dessen einzige Aufgabe es ist, alle An-
gaben, alle auf das Leben der Arbeiter bezüglichen statistischen
Angaben zu sammeln, hat das Recht, von der Stadt Paris eine
jährliche Entschädigung von 3000 Frs. zu verlangen, die für den
Unterhalt und die Thätigkeit dieses Arbeitersekretariates bewil-
ligt werden unter der einzigen Bedingung, dass ein vierteljähr-
licher summarischer Bericht über die erhaltenen statistischen
Angaben dem nationalen Arbeitersekretariate, der Verwaltungs-
kommission der Arbeitsbörse, sowie dem städtischen statistischen
Bureau zur Beglaubigung übermittelt werden soll;
die jährliche Subvention für das Arbeitersekretariat jeder
Korporation soll vermehrt werden können, falls die Wichtigkeit
der Arbeiten und Erhebungen eine Vermehrung rechtfertigren,
und wenn durch die Statistik selbst bewiesen werden sollte,
dass die Arbeiter der Korporation, sowohl die des Departements
als die in Paris in ihrer grossen Mehrheit der durch ihren
Sekretär beim städtischen statistischen Bureau vertretenen Ge-
werkschaftsorganisation beigetreten sind.
Politische Arbeiterbewegung.
Kommunales Programm der französischen Arbeiterpartei.
Bei den letzten am 1. Mai stattgefundenen Gemeinderathswahlen
in Frankreich haben die sozialistischen Gruppen in einer Reihe
von Gemeindevertretungen die Majorität, in einer Anzahl anderer
ansehnliche Minoritäten erstritten. Deshalb wird das kommunale
Programm der französischen Arbeiterpartei nicht nur ein theo-
retisches Interesse beanspruchen. Dasselbe lautet nach dem
„Vorwärts“:
Art. 1 : Errichtung von Schüler - Speisehallen, wo den
Kindern zwischen den Morgen- und den Nachmittagsstunden zu
ermässigten Preisen oder umsonst eine Fleischmahlzeit verab-
folgt wird und zweimal im Jahr, zu Anfang des Winters und
des Sommers eine Vertheilung von Schuhwerk und Kleidungs-
stücken stattfindet.
Art. 2: Einfügung von Klauseln (in die die Bedingungen
für die Ausführung städtischer Arbeiten enthaltenden Verträge),
welche den Arbeitstag auf 8 Stunden einschränken, ein durch
den Rath im Einvernehmen mit den Arbeiterverbänden festge-
setztes Lohnminimum garantiren und die durch ein Dekret von
1848 abgeschaffte Akkordarbeit verbieten. — Einrichtung einer
Inspektion zur Ueberwachung der Befolgung dieser Klauseln.
362
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT,
No. 29.
Art. 3: Arbeiterbörsen zu gründen, die von den Arbeiter-
syndikaten und den korporativen Gruppen verwaltet werden.
Art 4: Aufhebung der städtischen Thorsteuern auf Lebens-
mittel.
Art. 5: Befreiung der kleinen Miethswohnungen von den
auf ihnen lastenden Mobiliar- und Personalsteuern und LTeber-
wälzung derselben auf die grösseren, progressiv zu besteuern-
den Miethswohnungen. — Reinigung und Ausbesserung der als
ungesund erkannten Wohnungen auf Kosten der Eigenthümer.
- Besteuerung unbebauter Flächen gemäss ihrem Kaufpreise
und der nicht vermietheten Lokalitäten entsprechend ihrem
Miethspreise.
Art. 6: Vergebung aller Arbeiten durch die Gemeinde-
verwaltungen an die Arbeiterbörsen oder die Syndikate und
Zurückziehung aller an Vermittler vergebenen Vollmachten.
Art 7: Gründung von Entbindungsanstalten mit Wöchne-
rinnen-Heimen und von Asylen für Greise und Gebrechliche —
Asyle für nächtliche Unterkunft und Vertheilung von Lebens-
mitteln an Durchreisende und an Arbeiter, die auf der Suche
nach Arbeit ohne festen Wohnsitz sind.
Art. 8: Stellen, an denen unentgeltliche ärztliche Hilfe
geleistet und Arzneimittel zu herabgesetzten Preisen verkauft
werden.
Art. 9: Erbauung von öffentlichen, unentgeltlichen Bade-
und Waschanstalten.
Art. 10: Schöptung von Pflegeanstalten (Sanatorien) für
die Kinder der Arbeiter und Sendung und Aufnahme derselben
in diese Anstalten auf Kosten der Gemeinde.
Art. 11: Stellen, an denen unentgeltlicher juristischer Bei-
rath in allen die Arbeiter betreffenden Prozessen gewährt wird.
Art. 12: Entschädigung für die Thätigkeit im Gemeinde-
rath nach der Maximaltaxe der Arbeitslöhne, damit nicht eine
ganze Klasse von Bürgern, die zahlreichste Klasse, diejenige,
welche nichts als ihre Arbeitskraft besitzt, von der Verwaltung
der Gemeinde ausgeschlossen sei.
Art. 13: Unter der Voraussetzung, dass die Rechtsprechung
der gewerblichen Schiedsgerichte (prud’hommes) in einem den
Interessen der Arbeit entsprechenden Sinne umgeändert wird.
Entschädigung der Arbeiterschiedsrichter nach einer Taxe, die
ihnen völlige Unabhängigkeit gegenüber dem Unternehmerthum
sichert.
Art. 14: Bekanntmachung eines amtlichen Berichtes über
die Gemeinderathssitzungen und Veröffentlichung der vom Rath
gefassten Beschlüsse durch Anschlag
Programmpunkte die nur für gewisse Städte in
Betracht kommen (Programme local).
Art. 15: Gründung eines Gasthauses für Seeleute unter
dem Namen Sailor’s Home (Seemanns-Heim), um der schänd-
lichen Ausbeutung, der die in Lohn stehenden Seeleute wäh-
rend ihres Aufenthaltes auf dem Festlande zum Opfer fallen, ent-
gegenzutreten.
Art. 16: Aufstellung von Zelten auf den Docks und den
Quai’s entlang, um den arbeitsuchenden Arbeitern Schutz und
Zuflucht zu gewähren; Einrichtung von Brunnen und Water-
klosets in diesen Zelten; Umgebung der Dockbassins mit Schutz-
geländern.
Art. 17: Zurückziehung aller den Pferdebahn-, Omnibus-,
Gas- und Begräbnissgesellschaften verliehenen Konzessionen;
Umwandlung dieser Monopole in kommunale Arbeiten, deren
Ausführung den Arbeitersyndikaten unter der Kontrolle der Ge-
meindeverwaltung zu übergeben ist.
Art. 18: Strenge Handhabung der gesetzlichen Bestim-
mungen, welche den Mitgliedern der vertretenden Körperschaften
verbieten, Submissions- und Verkaufsgeschäfte mit der Stadt
abzuschliessen
Art. 19: Verbesserung des Reinigungsdienstes und Neu-
organisation der hygienischen Kommissionen, denen mindestens
2 Arbeiter als Mitglieder angehören müssen.
Art 20: Gründung eines Laboratoriums zu unentgeltlichen
chemischen LIntersuchungen
Kaufmännische Bewegung.
Organisation der Angestellten im Handelsgewerbe.
Handlungsgehilfen und Gehilfinnen, Geschäftsdiener,
Packer u. s. w. planen die Gründung eines Verbandes
über ganz Deutschland. Die Konferenz der Delegirten aus
allen Gegenden Deutschlands, welche über die Gründung
des Verbandes beschliessen soll, wird am 1 I. September d. J.
in Berlin stattfinden. Eine Versammlung von Handlungs-
gehilfen hat sich mit einer solchen Zentralisation aller An-
gestellten im Handelsgewerbe bereits einverstanden erklärt
und vier Delegirte, welche noch eine Handlungsgehilfin
hinzuziehen sollen, zu der Konferenz gewählt. Eine Ver-
sammlung von Haus- und Geschäftsdienern, Packern u. s. w.
erklärte sich mit der Gründung eines solchen Verbandes
gleichfalls einverstanden und wählte ihrerseits sechs Dele-
o'irte. Dieselben wurden zugleich beauftragt, für die Grün-
dung einer Zeitung als Verbandsorgan zu stimmen. Die
Versammlung beauftragte ferner das Bureau der Versamm-
lung, das Reichsamt des Innern zu ersuchen, die Forschungen
der Reichskommission für Arbeiterstatistik auch auf die
Arbeitszeit der Hausdiener, Packer, Komptoirboten auszu-
delmen — Die Zahl der Haus- und Geschäftsdiener,
Packer u s. w. in Berlin wird auf 35 000 angenommen.
Davon sind 1100 in dem „Verein der Haus- und Geschäfts-
diener, Packer u. s. w.“ und weitere 600 im „Verein Ber-
liner Hausdiener“ organisirt.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Möglichkeit der Arbeitszeitverkürzung. Zu den
Stimmen aus dem Lager der Unternehmer, welche das
Sozialpolitische Centralblatt über diesen Gegenstand schon
gesammelt hat, fügen wir heute drei weitere. Die Handels-
kammer von Karlsruhe schreibt in ihrem neuesten Jahres-
berichte: „Die Arbeiterzahl der Gesellschaft für Spinnerei
und Weberei Ettlingen (Badem betrug 1200. Die Arbeits-
zeit wurde im Hinblick auf die am 1. April 1892 in Kraft
tretende Novelle zu Titel VII der Gewerbeordnung in der
Weberei bereits auf 11 Stunden reduzirt, ohne dass dadurch
ein Lohnausfall konstatirt werden konnte, da die im Stück-
lohn arbeitenden Arbeiter die ausfallende Stunde durch in-
tensivere Thätigkeit einzubringen im Stande waren, wäh-
rend die Taglöhne für 11 Stunden gleich wie vorher für
12 Stunden zur Auszahlung gelangten.“ Ferner findet man
im kürzlich erschienenen Jahresbericht der Handelskammer
Frankfurt a. M. folgende Stelle: „In Betreff der Arbeiter-
verhältnisse (in den Schriftgiessereien) wird berichtet, dass
an geschulten Arbeitern trotz guter Bezahlung, welche die
in vielen anderen Gewerbszweigen sogar erheblich über-
wiegt, fortdauernd Mangel herrscht. Andrerseits wird aus-
gesprochen, dass man mit dem in einem Theil der Schrift-
giessereien eingeführten neunstündigen Arbeitstag befrie-
digende Erfahrungen gemacht habe.“ Und endlich berich-
ten englische Blätter, dass Herr Allan, der Eigenthümer
der Scotia Maschinenbauanstalt in Sunderland, mit der ,
Einführung des achtstündigen Arbeitstages in seiner Fabrik
nur gute Erfahrungen gemacht habe. Als vorsichtiger Ge- ;
schäftsmann behielt er anfangs einen Theil des Lohnes mit 1
Einwilligung der Arbeiter zurück, um nicht bei dem Ver-
such zu Schaden zu kommen, allein er konnte diese Summe ;
in der letzten Woche den Arbeitern zurückzahlen. Er hatte die
Erfahrung gemacht, dass eine achtstündige Arbeitszeit
nicht minder im Interesse der Fabrikanten, wie des Arbeiters
ist. Gladstone hatte Allan gebeten, ihm eingehenden Be-
richt über seine Erfahrungen zukommen zu lassen, und
dies hat nun Allan gethan, gleichzeitig aber sein Bedauern
ausgesprochen, dass Gladstone der Forderung eines acht-
stündigen Normalarbeitstages so abgeneigt sei. Allan war
früher selbst Arbeiter.
Sonntagsruhe für die Landarbeiter der königl. preus-
sischen Domänen. Um die Sonntagsarbeit der landwirth-
schaftlichen Arbeiter bei Bewirthschaftung ihrer Deputat-
länder zu beschränken, sind die Pächter der königlichen
Domänen aufgefordert, hierbei den übrigen Landwirthen
mit gutem Beispiele voranzugehen und ihren Arbeitern an
den Wochentagen Zeit zu lassen, ihre kleinen Aecker zu
bearbeiten Hoffentlich folgen dieser kleinen Schutzvor-
schrift für ländliche Arbeiter bald weitere mit Gesetzes-
kraft nach
Beschränkung der Sonntagsarbeit auf Schiffen Der
Regierungspräsident von Altona hat die betheiligten Kreise
auf ein von dem Gouverneur der britischen Kolonie Strates
Settlements erlassenes Gesetz, betreffend die Beschränkung
der Sonntagsarbeit an Bord von Schiffen, welche sich in
den Gewässern der Kolonie befinden (The Sunday labour
Ordinance 1892) aufmerksam gemacht. Die wesentliche Be-
stimmung des Gesetzes ist, dass an Sonntagen keine Fracht
No. 29.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
363
an Bord gebracht, geladen, verarbeitet oder entladen wer-
den soll ; doch hat der Gouverneur die Befugniss, unter
besonderen Umständen hiervon nach seinem Ermessen Aus-
nahmen zu gestatten. Die Ausladung von Kohlen soll ge-
stattet sein, sofern keine Europäer, Eurassier ( Abkömmlinge
von Europäern und Asiaten) oder eingeborene Christen
dabei beschäftigt sind. Auf solche Schiffe, welche im Eigen-
thum von Nichtchristen stehen und nur von solchen be-
dient werden, findet das Gesetz keine Anwendung. Da-
gegen bezieht es sich auf alle Dampf- und Segelschiffe von
europäischer oder amerikanischer Konstruktion oder Bauart,
mit Ausnahme von Kriegsschiffen der Königin von Gross-
britannien und Irland oder einer anderen Regierung, sowie
von solchen Postschiffen, welche durch Bekanntmachung
des Gouverneurs davon ausgenommen werden. Das Gesetz
ist bereits in Kraft getreten.
Entscheidung des schweizerischen Bnndesrathes über
den Inhalt von Arbeitsordnungen. Eine Schifflistickerei in
St. Gallen wollte in ihrem Fabriksreglement ihren Arbeitern
untersagen, binnen 3 Jahren in ein Etablissement einzu-
treten, „wo dergleichen oderein ähnlicher Artikel fabrizirt
wird“, ferner sollten alle Anstände zwischen Unternehmern
und Arbeitern endgültig und ausschliesslich durch ein
Schiedsgericht, bestehend aus je einem Vertreter der Par-
teien und einem vom Gerichte bestimmten Vorsitzenden
entschieden werden. Nachdem das St. Gallen’sche Polizei-
departement die Genehmigung des Fabrikreglements ver-
weigerte, reichte die Firma eine Beschwerde an den Bundes-
rath ein, welcher sie aber als unbegründet abwies. Der
Bundesrath erklärte, dass eine Fabrikordnung .sich nur auf
das Verhalten der Arbeiter im Geschäfte, nicht aber auf
beliebige andere Gegenstände ausdehnen dürfe, er bezieht
sich hierbei auch auf frühere Entscheidungen, wonach eine
Fabrikordnung, auch wenn sie vom Arbeiter anerkannt und
unterschrieben ist, nicht Vertragscharakter hat.
Bezüglich des Schiedsgerichtes bemerkt der Bundes-
rath, dass nach dem eidg. Fabrikgesetz Art. 9 Al. 2 der
zuständige Richter, demnach nicht ein Schiedsgericht die
aus dem Arbeitsverhältnisse entstehenden Streitigkeiten zu
entscheiden hat. Es heisst dann wörtlich weiter:
„Wenn nun die Beschwerdeführer in ihrem Fabrik-
reglement ein Schiedsgericht vorsehen und die ordentlichen
Gerichtsinstanzen ausschliessen, so schaffen sie ein für den
Arbeitnehmer unter Umständen höchst ungünstiges, durch
das Gesetz nicht gewolltes Verhältniss. Dieser kann bei
Ausschluss jeder Vertretung als der rechtlichunerfahrenere,
sowie auch bei einem eventuell nothwendig gewordenen
Wegzug und dergl. in Nachtheil kommen
Durch die Ausschliessung der ordentlichen Gerichte
würde es zudem ermöglicht, dass die schwersten Zuwider-
handlungen gegen das Gesetz gar nicht zur Kenntniss der
Behörden kämen , und dass dessen Wirkungen vereitelt
würden.“
Eine Fabrikordnung beruht nach dem schweizeri-
schen Bundesrathe nicht auf übereinstimmender gegen-
seitiger Willensäusserung, sondern ist ein einseitiger Akt,
der vom Arbeiter beanstandet, aber nicht verhindert wer-
den kann.
Gewerbeinspektion.
Die Berichte der schweizerischen Fabrikinspektoren
für i8go und i8gi.
Nach den soeben im Druck erschienenen Amts-
berichten der eidgenössischen Fabrikinspektoren1), standen
Ende 1891 gegen 4400 Etablissements unter der Fabrik-
inspektion, im Ganzen 400 mehr als vor zwei fahren.
Diese bedeutende Zunahme verdankt ihren Ursprung zu
einem grossen Theil dem Bundesrathsbeschluss, welcher
tiir diejenigen Betriebe, welche bisher erst mit mehr als
25 Arbeiter unter das Fabrikgesetz fielen, die Grenzzahl
K — - —
') Berichte der Schweiz. Fabrikinspektoren über ihre Amts-
thätigkeit in den Jahren 1890 und 1891. Veröffentlicht vom
Schweiz. Industrie- und Landwirthschaftsdepartement. Aarau,
1892. H. R. Sauerländer.
aut 10 heruntersetzte. Wie es scheint, lässt aber die gleich-
mässige Ausführung dieses Beschlusses noch viel zu wün-
schen übrig. So erklärt der Inspektor des II. Kreises
(Westschweiz), dass bei einheitlicher und ernsthafter
Durchführung in mehreren Kantonen des Kreises, beson-
ders in den Gebieten der Uhrenindustrie, doppelt so viele
Etablissements dem Fabrikgesetz unterstehen müssten. Diese
ungleiche Behandlung erregt begreiflicher Weise bei den Ge-
schäftsinhabern grosse Unzufriedenheit. Auch bezüglich
derjenigen Geschäfte, welche weniger als 6 Arbeiter be-
schäftigen, aber unter das Fabrikgesetz zu stellen sind,
weil sie aussergewöhnliche Gefahren für Gesundheit und
Leben bieten, oder den unverkennbaren Charakter von
Fabriken aufweisen, entstehen viele Anstände. Gegen ein
strenges Vorgehen machen die Geschäftsbesitzer häufig die
Einrede der schlechten Geschäfte und des gegenwärtigen
Rückgangs der Industrie geltend Damit kontrastirt aber
die Klage über den Arbeitermangel. Versuche, fremde
Arbeiter aus Böhmen und Mähren herbeizuziehen, schlugen
zum Theil nicht zum Vortheil der importirenden Betriebe
aus. Auch Italien liefert ein bedeutendes Kontingent in
die schweizerischen Fabriken, so in Graubünden und den
benachbarten Gegenden, wo die einheimische Bevölkerung
sich mit Vorliebe der Fremdenindustrie zuwendet.
Ueber den Gang der Industrie wissen, mit Ausnahme
der Maschinenindustrie und des Baugewerbes, die Inspek-
toren leider wenig Erfreuliches zu berichten. Besonders
schwer ist die Stickerei von der Krisis betroffen. Die Ur-
sache derselben ist in der massenhaften Produktion geringer
Waare durch unfähige Arbeiter zu suchen. Bereits hat
der Ausscheidungsprozess begonnen. In Schaaren wenden
sich Sticker wieder der Landwirthschaft oder sonst einem
für sie passenden Beruf zu; aber mancher ist, durch die
.Stickerei verweichlicht, unbrauchbar für alles andere ge-
worden. Grosse Anstrengungen werden in jüngster Zeit
für bessere Ausnützung der Wasserkräfte für Industrie und
Gewerbe gemacht. Zahlreiche Projekte für elektro-moto-
rische Kraftgewinnung sind aufgetaucht.
Bezüglich der Arbeitsräume zeigten sich namentlich bei
in letzter Zeit dem Fabrikgesetze neu unterstellten, kleineren,
dem handwerksmässigen Betriebe sich nähernden Etablisse-
ments am häufigsten grelle Uebelstände Es fehlte sowohl an
genügendem Licht als an Lüftung. Von Neubauten erhalten
die Behörden in vielen Fällen immer noch zu spät oder
gar nie Kenntniss, weshalb ein strengeres Vorgehen
gegen Unterlassung der Planvorlegung empfohlen wird.
Immerhin wird konstatirt, dass bei den Neubauten den
hygienischen Anforderungen fast anstandslos entsprochen
wird. Schwieriger gestaltet sich die Sache bei Umbauten
und Reparaturen. Beim gegenwärtigen ungünstigen Ge-
schäftsgang kostet es viel Mühe, die Fabrikbesitzer zu
Aenderungen zu veranlassen, daneben gilt es manche Vor-
urtheile zu bekämpfen, namentlich hinsichtlich der Venti-
lation. Als Beispiel wird angeführt, dass ein Fabrikant
über die vom Inspektorate aufgestellten Normen für Fa-
brikbauten, die ihm zur Begutachtung überwiesen wurden,
zu den Forderungen die Ventilation betreffend, bemerkt:
„Haben sie (die Fabrikinspektoren) wohl auch bedacht,
dass wir in der Schweiz von vornherein bessere
Luft haben, als die Konkurrenz in jenen (ausländischen)
Verkehrs-Centren?“ !
Für die Jahre 1890 und 1891 werden 16 498 Unfälle
verzeichnet, wobei indessen vom II. Kreis (Westschweiz)
in Folge Erkrankung des früheren Inspektors nur für die
Zeit vom 1 . Juli bis 31. Dezember 1891 Angaben gemacht
werden konnten. Die grosse Vermehrung der Unfälle ge-
genüber den Jahren 1888 und 1889 dürfte nicht etwa in
einer Vermehrung der den Arbeiten bedrohenden Gefahren
und auch nur theilweise in einer Vermehrung der haft-
pflichtigen Gewerbe, als vielmehr in der erfreulichen That-
sache ihren Grund haben, dass zur Zeit wenig Unfälle
mehr Vorkommen können, ohne zur Kenntniss der Be-
hörden zu gelangen. Sehr beachtenswerth sind die Bemer-
kungen des Inspektors Dr. Schüler, wonach eine ungeheure
Zahl der Unfälle hätte verhütet werden können. Eine
364
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 29.
Durchsicht der 1890er Untälle zeigte, dass 482 mal dieselben
höchst wahrscheinlich nicht vorgekommen wären oder nur
geringe Folgen gehabt hätten, wenn die nöthigen Schutz-
vorrichtungen vorhanden gewesen oder auch, wenn sie
benützt worden wären. Solche Zustände sind nur möglich
bei der grenzenlosen Gleichgültigkeit, die noch so häufig
bei Arbeitgebern und leider auch bei Arbeitern in dieser
Hinsicht vorkommt. Viele Arbeitgeber denken: „Komme,
was kommen mag, meine Arbeiter sind gegen Unfall ver-
sichert“. Andere lassen die Schutzvorrichtungen durch
die Arbeiter wieder wegnehmen, angeblich weil diese be-
haupten, sie würden durch diese Apparate in der Arbeit
gehindert. Da wie bereits erwähnt, die Angaben des
II. Kreises unvollständig sind, so können für das statistische
Detail der Unfälle nur diejenigen des I. und III. Kreises
verwerthet werden. Bei 146 380 Arbeitern treffen in diesen
beiden Kreisen 1 1 245 Unfälle auf Fabriken, wovon 1382
sich auf Arbeiter unter 18 Jahren, 9349 Unfälle auf andere
haftpflichtige Betriebe beziehen. Die Summe der ausge-
richteten Entschädigungen beläuft sich im Jahre 1890 auf
Fr. 792 280. Die Zahl der Unfälle erreichte wiederum ihr
Maximum in den Industrien der Holz- und Metallindustrie,
sodann beim Hochbau und beim Eisenbahnbetrieb, in den
Gruben und Steinbrüchen. Mit tödlichem Ausgang werden
im Fabrikbetrieb 51 und in anderen haftpflichtigen Be-
trieben 98 aufgeführt. Die meisten der Todesfälle fallen
auf Bauarbeiter aller Art. Dr. Schüler hat noch ein-
gehende Untersuchungen angestellt über die Vertheilung
der Unfälle auf die verschiedenen Wochentage und als
unheilvollen Tag den Montag, theilweise auch den Dienstag
gefunden, was er auf die Alkoholwirkung zurückführt, der
Montag wird aber eigentlich gefährlich nur den besser be-
zahlten Arbeitern. Bei den Frauen und jugendlichen
Arbeitern der Textilindustrie steigt, wohl in Folge zu-
nehmender Ermüdung, die Zahl der Unfälle mit dem Vor-
rücken der Woche. Auch der Samstag ist ein gefährlicher
Tag, wohl weil er Putztag ist und das Putzen an den Ma-
schinen vielfach mit grosser Sorglosigkeit vorgenommen
wird. Mit vollem Recht rügt Dr. Schüler die häufig feh-
lenden Schutzvorrichtungen gegen Feuersgelahr in den
Batteurräumen der Baumwollspinnerei.
In den Haftpflichtfällen sehen sich die Fabrikinspek-
toren sehr oft zur Intervention veranlasst. Noch vielfach
werden den Arbeitern ungesetzliche Beiträge zu den Ver-
sicherungsprämien zugemuthet, die zahlreichen Haftpflicht-
Streitigkeiten lassen es immer dringender wünschen, dass
bald eine andere Organisation der Unfallversicherung Platz
greife, welche es ermöglicht, ohne Prozesse mit ihrem ver-
bitternden Treiben dem Verletzten sein Recht werden zu
lassen.
Die Arbeitszeit ist in den letzten Jahren in vielen
Betrieben auf 10 Stunden heruntergesetzt worden. So fast
durchweg in den grossen mechanischen Werkstätten, in
sehr vielen Schlossereien, Schreinereien, Glasereien u. dergl.,
wo die Gewerkschaften sehr strenge über die pünktliche
Beachtung des 10- Stundentages wachen. Während in den
meisten Werkstätten der Holzindustrie ein Zurückgehen
der Produktion nicht bemerkt worden sei, klagen verschie-
dene Vertreter der Maschmenindustrie über Produktions-
verminderung. Sie behaupten, dass der gute und fleissige
Arbeiter allerdings in 10 Stunden gleich viel leiste, wie
früher in 1 1 Stunden, dass aber diese Leistungen nament-
lich dort durch das Gros der mittelmässigen, weniger
fähigen oder gleichgültigen Arbeiter beeinträchtigt werde,
wo man sich gegenseitig in die Hand arbeiten müsse, wie
dies z. B. beim Bau von Maschinen der Fall sei. Es sind
aber auch von Leitern von Maschinenfabriken günstige
Zeugnisse abgegeben worden. Jedenfalls soll die Leistung
bei Handarbeit gleich sein, bei reiner Maschinenarbeit wird
sie um 5 pCt. geringer taxirt. „Bei möglichst guter Ord-
nung und bequemer Einrichtung kann fast jeder Unter-
schied ausgeglichen werden. Was den Chef die Für-
sorge hiefür mehr kostet gewinnt er durch den Einfluss
derselben auf die moralische Haltung des Arbeiters,“ so
äusserte sich ein sonst gar nicht optimistisch gestimmter
Arbeitgeber. Schreinereibesitzer, Ofenfabrikanten stimmten
darin überein: „man bemerkt den Unterschied gegenüber
den früheren IO1/,, Stunden kaum.“
In der Zündholzindustrie des Berner Oberlandes ist
das Trucksystem immer noch in Anwendung. Nach Ansicht
dortiger Fabrikanten ist es ganz selbstverständlich, dass es
sich die Arbeiter gefallen lassen müssen, wenn ihnen 50 pCt.
des Lohnes in Waaren (meistens Esswaaren) und nur die
andere Hälfte in baarem Gelde ausgezahlt wird. Es steht
zu hoffen, dass das projektirte Zündholzmonopol diesen mit
den anderen argen Missständen der Zündholzindustrie gründ-
lich beseitige.
Um Anstände zwischen Arbeitgeber und Arbeiter zu
verhindern, sind in mehreren grösseren Fabriken der Ost-
schweiz Arbeiterkommissionen geschaffen worden. Die-
selben scheinen aber, obwohl sie von den Arbeitern gewählt
sind, wenig Kompetenzen und geringen Einfluss zu besitzen,
blos als Sprachrohre für die Reklamationen der Arbeiter zu
dienen. Die grösste Tragweite wird der Form beigelegt,
in welcher das schweizerische Industriedepartement den
Streit zur Erledigung brachte, der sich zwischen den In-
habern einiger Maschinenbauanstalten und deren Arbeitern
über die Definition von Hilfsarbeit und Notharbeit erhoben
hatte. Der Entschluss, zuerst Vertreter jeder Partei einzeln,
dann das Für und Wider verfechtend, in gemeinsamer Ver-
sammlung unter Beizug der Inspektoren anzuhören und
darauf gestützt die Entscheidung zu fällen, hat vom ersten
Moment an beruhigend und versöhnend gewirkt, und es
dürften auch in Zukunft ähnliche Streitigkeiten mit bestem
Erfolge in dieser Weise erledigt werden. Sehr anerkennend
äussert sich Dr. Schüler über die durch einen fast aus-
schliesslich hierfür bestimmten Beamten in St. Gallen besorgte
Ueberwachung des Vollzugs des Gesetzes, wobei die Ge- 1
schäfte sich ausserordentlich prompt abwickeln.
Ueber die Wirksamkeit des kantonalzürichischen
Fabrikinspektors wird gesagt, dass derselbe nicht nur der ,
Behörde treffliche Dienste leistet, sondern auch von Arbei-
tern und Arbeitgebern immer mehr beansprucht wird, was
als ein Zeichen des bereits erworbenen Zutrauens gelten '
kann. Es wäre zu wünschen, dass auch die übrigen in-
dustriellen Kantone dem Beispiel von St. Gallen und Zürich
folgen würden, denn mit dem Vollzug des Gesetzes durch
Lokal- und Bezirksbehörden steht es vielorts übel. Die
ausgesprochenen Bussen sind meistens so minimine, dass j
sie gar keine abschreckende Wirkung haben. Die meisten
Bussen bewegen sich zwischen 5 und 20 Fr. und nur in ,
einem (strafrechtlichen) Falle war der Bussenbetrag höher :
als 100 Fr. Es zeigt sich eben beim Fabrikgesetz wie bei
anderen eidgenössischen Gesetzen der Mangel einer einheit-
lichen Vollziehungsverordnung. Bei der beabsichtigten Aus-
dehnung der Fabrikgesetzgebung wird eine solche um so
nöthiger werden, wenn die dieser Gesetzgebung zu Grunde
liegenden Ideen voll und ganz zur Geltung kommen sollen.
Mit Genugthuung ersieht man übrigens aus den Amts-
berichten der Fabrikinspektoren, dass sie ihre Aufgabe voller
Ernst und mit grosser Gewissenhaftigkeit ausführen.
Aarau. E. Naef.
Arbeiterversicherung.
Die eingeschriebenen Hilfskassen und die Kranken-
kassennovelle. In der letzten Zeit haben eine Reihe von
Generalversammlungen freier Hilfskassen stattgefunden, in
welchen über die 'Stellung zu den Anforderungen der
Krankenkassennovelle Beschlüsse gefasst wurden. Theils
entschied man sich für Auflösung der Kassen, theils für
ihre Umwandlung in Zuschusskassen, meist aber für Er-
haltung der Kassen unter Vornahme der durch das Gesetz
nöthig gewordenen Abänderungen der Statuten.
Die grösste eingeschriebene Hilfskasse, die Central-
kranken- und Sterbekasse der Tischler und anderer gewerb-
No. 29.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
.'(65
Hoher Arbeiter, welche mehr als 80 000 Mitglieder zählt,
sprach sich mit überwiegender Majorität für die Erhaltung
der Kasse aus und beschloss mit knapper Majorität, sich dem
Gesetze anzupassen. Trotz Erhöhung der Mitgliedsbeiträge
musste die Krankenunterstützung herabgesetzt werden. Die
Kasse soll dem zu errichtenden Krankenkassenverband bei-
treten, und der Vorstand wurde ermächtigt, die Verschmel-
zung mehrerer Kassen herbeizuführen. Ein grosser Theil der
Mitglieder der Kasse konnte sich mit den Beschlüssen der
Generalversammlung nicht befreunden und forderte Urab-
stimmung der Mitglieder über dieselben. Diese wird zwar
nicht stattfinden, doch ist eine weitere Generalversammlung,
welche neuerdings über die Umgestaltung der Kasse be-
sehliessen soll, in Aussicht genommen.
Die Generalversammlung der allgemeinen Kranken-
und Sterbekasse der deutschen Drechsler und deren Berufs-
genossen beschloss mit knapper Majorität den Fortbestand
der Kasse in alter Form und beauftragte den Vorstand da-
hin zu wirken, dass eine allgemeine Centralkasse ins Leben
gerufen werde und dass die Berufskasse sich an dieselbe
anschliessen solle. —
In der Generalversammlung der allgemeinen Deutschen
Kranken- und Begräbnisskasse für Wirker, Weber etc.
sprach sich wohl eine zwei Drittel Majorität für die Auf-
lösung der Kasse aus. Da aber zu einem dahingehenden
Beschlüsse eine 4/s Majorität durch die Statuten gefordert
wird, bleibt die Kasse fortbestehen.
Die Buchdrucker beschlossen in der Generalversamm-
lung ihrer Krankenkasse, dieselbe aufzulösen, ihre Mitglieder
werden den Ortskassen beitreten. Ergänzende Kranken-
unterstützung übernimmt der neugegründete Verband der
deutschen Buchdrucker.
Die Centralkranken- und Begräbnisskasse der Buch-
binder beschloss unter Abänderung der Statuten als Hilfs-
kasse weiter zu bestehen. Den gleichen Beschluss fasste
die Hilfskasse des Gewerkvereins der Stuhlarbeiter in
Spremberg.
In der Generalversammlung der Central-Kranken- und
Sterbekasse der Maurer, Steinhauer und Berufsgenossen
Deutschlands wurde mit 3/r> Majorität die Auflösung der
Kasse beschlossen. Da aber diese Majorität den Kassen-
statuten nach, welche bei Anträgen auf Auflösung 4/5
Majorität nothwendig machen, nicht ausreichte, konnte dem
Anträge nicht stattgegeben werden. Die Anträge auf Um-
wandlung der Kasse in eine Zuschusskasse wurden hierauf
abgelehnt. Der Antrag, die Beiträge zu erhöhen, fand bloss
die einfache, nicht aber die statutengemäss erforderliche
-/a Majorität und erscheint somit als abgelehnt. Es wurde
ferner beschlossen, Steinhauer wegen ihrer übergrossen
Morbidität nicht mehr in die Kasse aufzunehmen und die
Generalversammlung fortzusetzen, falls von Seite der Be-
hörden gegen die von der Versammlung angenommene
Statutenvorlage Einwendungen erhoben werden sollten.
Endlich wurde beschlossen, dem „Verbände der freien
Krankenkassen zur Regelung der Arzt- und Medizinalange-
legenheiten für die Ivrankenkassen-Mitglieder“ beizutreten.
Die Central-Kranken- und Begräbnisskasse für Frauen und
Mädchen Deutschlands entschied sich für den Weiterbestand
als freie Hilfskasse.
Die Vorstände der Central-Kranken- und Sterbekasse
des deutschen Glacehandschuhmacher- Verbandes und der
Central-Ivranken- und Sterbekasse der Tabakarbeiter em-
pfehlen den Generalversammlungen Weiterbestand der
Kassen als freie Hilfskassen. Der Vorstand der Hutmacher-
krankenkasse empfieht Umwandlung in eine Zuschusskasse.
Die Generalversammlungen der grössten Zahl der übrigen
Kassen dürften in der nächsten Zeit stattfinden, wir werden
dann auch ihre Beschlüsse registriren und einen Ueberblick
über dieselben geben. Aber auch heute kann schon gesagt
werden, dass die freien Hilfskassen in Folge der ~Noth-
wendigkeit, die Beiträge zu erhöhen und gleichzeitig die
Krankenkassengelder zu vermindern, viele Mitglieder ver-
lieren dürften. ■ —
Krankenstatistik des obersclilesisclien Knappschafts-
Vereines. Die „Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesund-
heitsamtes“ vom 6. Juli publiziren einen Auszug aus dem
Sanitätsberichte des oberschlesischen Knappschaftsvereines für
das Jahr 1890. Demselben gehörten am Jahresschlüsse 69 149 Mit-
glieder, darunter 8 628 weibliche an, hierzu treten noch 5 787 In-
valide. 63 084 Mitglieder gehörten dem bergmännischen und
6 065 dem hüttenmännischen Berufe an.
Erkrankt sind im Laufe des Jahres 14 186 Vereinsmitglieder
(und 1 541 Invaliden), beim Hüttenbetrieb etwa 47, beim Berg-
baubetrieb 18 pCt. der dabei Beschäftigten.
Den wesentlichsten Antheil an der Krankheitsstatistik
hatten, wie in den Vorjahren, neben Rheumatismus (2000 Er-
krankungen) die Krankheiten der Verdauungs- und Athmungs-
organe, sowie die mechanischen Verletzungen. An den
Athmungsorganen waren 2 071 Mitglieder erkrankt, davon litten
mehr als die Hälfte an akuten Katarrhen, 121 an Lungen-
schwindsucht, 487 an Lungen- und Brustfellentzündung. Mecha-
nische Verletzungen hatten 3 853 Personen erlitten und zwar
46,6 von je I 000 beim Bergbaubetriebe, 9,1 von je 1 000 beim
Hütten bet riebe.
Es starben in Folge von Unfällen 53, in Folge von Krank-
heiten 262 Vereinsmitglieder, darunter 74 an Lungenentzündung,
67 an Lungenschwindsucht, 17 am Typhus.
Hinsichtlich der Erkrankungsziffer waren die Monate
Januar, Februar und März, wie im Vorjahre, die ungünstigsten,
die Monate Juni, September, Oktober, wie im Vorjahre, die
günstigsten.
Sämmtliche Kranke erforderten zu ihrer Heilung 304 059
Tage oder im Durchschnitt jeder Kranke 18,4, jeder Lazareth-
kranke aber 21,3 Tage. Die Gesammtkosten der Krankenpflege,
einschl. Krankengeld betrugen 616 793,05 M., d. h. auf jeden
Kranken kamen 37,325 M. und auf jeden Lazarethkranken einschl.
| Krankengeld 43,225 M. Von der Gesammtsumme wurden rund
121224 M. (ca. 20 pCt.) für Krankengelder, 29419 (ca. 4,8 pCt.i
an Aerztegehalt und rund 66 480 (10,8 pCt.) für Arzeneien, Ver-
bandstoffe und sonstige Behandlung, ausschl. Lazarethverpfle-
gungskosten verausgabt.
Litteratur.
Görres, Dr. jur. K., Handbuch der gesammten Arbeiter-
gesetzgebung des deutschen Reiches. Freiburg i. B.,
1892 Herder’sche Verlagsbuchhandlung. 1. Lieferung. 8°.
160 S.
Durch die Revision der Gewerbeordnung und des Kranken-
versicherungsgesetzes ist das vielbenützte Buch von T. Boediker,
„Die Gewerbe- und Versicherungsgesetzgebung des deutschen
Reiches“ für den praktischen Gebrauch nicht mehr verwendbar,
j Das hier angezeigte Werk dürfte die entstandene Lücke aus-
I füllen. Boediker’s Buch diente mehr dem Geschäftsmanne,
während das neue Werk wohl diesem auch sehr nützlich
werden kann, aber in erster Linie den speziellen Interessenten
unserer Arbeitergesetzgebung dienlich sein wird. Handelsver-
träge, Markenschutz-Literarkonventionen, Press-, Viehseuchen-,
Nahrungsmittel-, Markenschutz- und ähnliche Gesetze, welche
für den Sozialpolitiker ein höchstens sekundäres Interesse haben,
hat Görres im Gegensätze zu Boediker nicht aufgenommen, da-
gegen sollen die Arbeiterversicherungsgesetze , die Arbeiter-
schutzbestimmungen, das Gesetz über die Gewerbegerichte etc.
sowie die hierzu erlassenen Verordnungen des Reichskanzlers
und des Bundesrathes in dem Werke enthalten sein. Das erste
Heft enthält das Krankenversicherungsgesetz in der alten und
neuen Fassung, das Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871 und das
Unfallversicherungsgesetz. Hoffentlich liegt das auf 4 — 5 Liefe-
rungen berechnete Werk bald vollständig vor. Es wird dann
für viele ein angenehmes und bequemes Handbuch sein, in dem
man alle die Arbeitergesetzgebung betreffenden Gesetze in einem
Bande gesammelt findet, besonders wird dies der Fall sein,
wenn die in Aussicht gestellten Register durch gut gewählte
Schlagworte die Auffindung der gesuchten und mit ihnen in
Zusammenhang stehenden Gesetzesbestimmungen auch dem
weniger Kundigen erleichtern werden.
Bart, O. te, Die Versicherungspflicht nach dem In-
validitäts- und Altersversicherungsgesetz vom
22. Juni 1889. Berlin 1892, Siemenroth 8c Worms, kl. 8°.
72 S.
Der Verfasser erläutert an der Hand oberbehördlicher
Entscheidungen die Anleitung des Reichsversicherungsamtes
vom 31. Oktober 1890 und die betreffs der Befreiung vorüber-
gehender Beschäftigungen und der Behandlung gewisser mit
persönlichen Dienstleistungen beschäftigten Personen vom
Bundesrathe getroffenen Anordnungen.
Das Schriftchen, das praktischen Zwecken dienen will,
erscheint uns sehr nützlich, sein Werth wird durch ein aus-
führliches Sachregister erhöht. Da über die Frage der Ver-
sicherungspflicht in der Invaliditäts- und Altersversicherung
noch immer viel Unklarheit herrscht, ist das Erscheinen des
Schriftchens willkommen zu heissen.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
ANZEIGEN.
„EXPORT“
Organ des Central Vereins für Handelsgeographie
und Förderung Deutscher Interessen im Auslande.
XIV. Jahrgang.
Herausgegeben
von
R. Jannasch,
Dr. jur. et p'hil.
Redaktion und Expedition: Berlin W., Magdeburgerstrasse 36.
Die seit 1879 erscheinende Wochenschrift „Export“ ist bestrebt, die Interessen
des deutschen Exports thatkräftig zu vertreten, sowie dem deutschen Handel und der
deutschen Industrie wichtige Mittheilungen über die Handelsverhältnisse des Aus-
landes in kürzester Frist zu übermitteln.
Inserate im „Export“ sind erfolgreich, wie das andauernde, langjährige Annonciren
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verein M. 3,75, im Vereinsausland M. 4,50.
Man abonnirt bei der Post, im Buchhandel bei Walther & Apolant's Verlags-
buchhandlung Hermann Walther, Berlin W., Keithstr. 16/17 und bei der Expedition.
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3» '.Berlin bei freier 3l*fenbung . . „ 1,—
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profeJl'or Dr. Bnfrulf innt (Smeilf in Berlin,
al§ SBorfiljenbem beS ©entratüerans.
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Das
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Der Mangel einer Gesammtdarstellung des österreichischen Staatsrechtes hat sich in den
letzten Jahren insbesondere in Folge einschneidender Umgestaltungen und Neubildungen auf dem
Gebiete des österreichischen Verwaltungsrechtes nicht nur in Kreisen der Studirenden, sondern
auch aller derjenigen, die am öffentlichen Leben theilnehmen, fühlbar gemacht. Es sei nur
darauf hingewiesen, dass seit den jüngsten Neuregelungen des Militärrechtes, des Gewerberechtes,
des Arbeiterschutzrechtes noch keine Gesammtdarstellung des österreichischen Staatsrechtes, welche
dieselben berücksichtigen würde, erschienen ist und dürfte daher obiges Werk den interessirenden
Kreisen gewiss willkommen sein.
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lex. 8°. 91 Beilen. Breis 2 Mark.
Ste ©cfjrift enthält oötlig neue ©efidjtspunfte
unb IBorfcglcige.
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1
Verantwortlich für den Anzeigentheil : O. Schuchardt in Berlin. — Druck von FI. S. Fiermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 25. Juli 1892.
Nummer 30.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr, Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
I. Guttentaer, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT
XVIII. italienischer Arbeiter-
kongress. Von Prof. Dr. Wer-
ner Sombart.
Soziale Wirtlischaftspolitik u.
W irthscliaftsstatistik :
Noch ein Wort zum Koalitions-
recht der Arbeiter in Frankreich.
Von Prof. Dr. v. Schubert-
Soldern.
Zur Frage der Einführung der
obligatorischen Berufsgenossen-
schaften in der Schweiz. Von
Kantonsstatistiker E. Naef.
Obligatorische Fortbildungsschulen
für Kellnerlehrlinge und Lauf-
burschen in Stuttgart.
Grossbetriebe im französischen
Detailhandel.
Schweizerischer Arbeiterbund und
schweizerisches Arbeitersekre-
tariat.
Arbeiterzustände:
Beschäftigung jugendlicher Arbeiter
im preussischen Bergbau.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Bergarbeiterbewegung in Rhein-
land-Westfalen und im Saar-
revier.
Katholische Arbeitervereine in
Deutschland.
Statistik des schweizerischen Ge-
werkschaftsbundes.
LTnternehmerverbände :
Deutscher Tabakverein.
Kaufmännische Bewegung:
Verbandstag der kaufmännischen
Ver :ine Württembergs.
Hand werkerfra gen :
Regelung der Lehrzeit im öster-
reichischen Kleingewerbe.
Arbeiterversicherung:
Die Reform der österreichischen
Bruderladen. Von Dr. Leo
Verkauf.
fahres - Versammlung deutscher
Zwangskassenverbände.
Zur Reform der deutschen Unfall-
versicherung.
Zur Statistik der deutschen Inva-
liditäts- und Altersversicherung.
Arbeiterversicherung der Seeleute.
Unfallversicherung im Tiefbau-
gewerbe.
Wohnungszustände und Woh-
nungsgesetzgebung:
Missstände in Fabrikwohnungen.
Wohnungszustände in Frank-
furt a. M.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
XVIII. italienischer Arbeiterkongress.
Diese Bezeichnung für den Ende Mai in Palermo ab-
gehaltenen Kongress, über den erst jetzt die italienische
Arbeiterpresse genauere Berichte veröffentlicht, ist nicht
vollständig. Vielmehr müsste sie lauten: „XVIII. italieni-
scher Arbeiterkongress der verbrüderten und der mit diesen
sympathisirenden Gesellschaften“; XVIII. congresso operaio
italiano delle societä affratellate ed aderenti ist der offizielle
Titel. Societä affratellate sind diejenigen Vereine, welche
Mitglieder des von Mazzini gegründeten Patto di fratellanza
sind, aderenti solche, welche zwar nicht als Mitglieder dem
Patto angehören, wohl aber ein dem seinigen verwandtes
Programm haben und mit ihm fraternisiren. Die Verhand-
lungen des Kongresses, auf dem 415 Brüdervereine und
274 Anschlussvereine, wie wir der Kürze halber sagen
wollen, durch insgesammt 217 Delegirte vertreten waren,
sind höchst lehrreich wie Alles, was die Arbeiter- und
sozialistische Bewegung in Italien betrifft. Diese befinden
sich in einem Keim- und Gährungsprozesse; die Entwicklung
j einer Arbeiter- bezw. Sozialistenpartei kann nirgends deut-
j licher verfolgt werden, als eben jetzt in Italien.
Wir beobachten zur Zeit auf der Appeninenhalbinse
J verschiedene soziale Strömungen, die zum Theil erst ent-
I stehen, zum Theil bereits in einander einmünden. Die
italienische radikale Demokratie Mazzinischer Observanz
befindet sich in einem Häutungsprozesse; sie ist eben dabei,
den Uebergang von der politischen zur sozialen Demokratie
| zu vollziehen; von Kongress zu Kongress wird ihr Programm,
das bis vor Kurzem noch wesentlich einen politischen Inhalt
hatte, mit sozialen Elementen mehr durchsetzt. Der italie-
! nische Sozialismus anderseits fängt an, die Klublokale und
Redaktionsstuben zu verlassen, sich auf die Strasse, unter
die Massen zu begeben und versucht, die Arbeiterschaft in
Besitz zu nehmen, die zum Theil organisirt aber unpolitisch,
zum Theil politisch-demokratisch aber nicht organisirt, zum
grössten Theil aber, und das gilt vor Allem von der Land-
bevölkerung, weder organisirt noch politisch gefärbt ist.
Für den Patto di fratellanza, die alte bewährte Or-
ganisation des „Meisters“ Mazzini, dessen Name einstweilen
noch für den Italiener einen annähernd gleich zauberischen
Klang wie der Garibaldis besitzt, für den Patto und die auf
dem Kongress vereinten Br üder vereine ergiebt sich
aus diesem Stand der Dinge eine mehrfache Aufgabe,
i Einmal und vor Allem handelt es sich darum, im eigenen
Lager Klarheit über Ziel und Zweck zu schaffen: die Stel-
lung zur Politik, zur sozialen Frage, zu den einzelnen
Differenzpunkten der sozialen Richtungen zu präcisiren.
Sodann kommt es darauf an, den Anschluss an die übrigen
sozialpolitischen Organisationen, namentlich die sozialistischen
Vereinigungen bei Zeiten zu finden, ohne die Fühlung mit
der rein politischen Demokratie zu verlieren; endlich aber
liegt ihm daran, den breiten Boden der Volks- und Arbeiter-
massen als Grundlage zu gewinnen, d. h. die Arbeiterschaft
zu mobilisiren und zu organisiren. Der erste Punkt betrifft
die Prinzipienfrage, das Programm; der zweite die Taktik;
der dritte die Agitation. Diese drei Punkte sind es denn
auch, die den XVIII. Kongress zu Palermo vor Allem be-
schäftigt haben.
Die Programmfrage hat sich im Laufe der letzten
Kongresse des Patto di fratellanza (1886 in Florenz, 1889 in
Neapel) zu der Alternative zugespitzt: Individualisten oder
Kollektivsten in Bezug auf die Eigenthumsordnung. Jenes
sind diejenigen Elemente, welche die Nothwendigkeit ein-
sehen, die Mazzinischen Gedankenreihen zwar mit sozialen
Gesichtspunkten neu zu beleben, welche aber den indivi-
dualistischen Grundanschauungen des Meisters soweit thun-
lich treu biedren wollen. Aus diesen Vermittelungsbestre-
bungen ergiebt sich denn ein reichlich unklarer Standpunkt.
368
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 30.
Die abfällige Kritik der heutigen Eigenthums- und Wirth-
schaftsordnung wird von den Sozialisten herübergenommen;
man versucht aber, sich mit einer Reihe von Klauseln und
Verlegenheitsphrasen um die Konsequenzen der sozialisti-
schen Kritik herumzudrücken und das „Prinzip des indivi-
dualistischen Eigenthums“ aufrecht zu erhalten. Demgegen-
über zieht die kollektivistische Gruppe aus der sozialistischen
Kritik als unabweisliche Konsequenz die Forderung der
Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Hiei folgen die
beiden Tagesordnungen, welche je die Individualisten und
Kollektivsten auf dem jüngsten Kongresse durch ihre Ver-
treter beantragt haben. Sie lauten in der Ueber.setzung,
wie folgt:
I. Tagesordnung der Nicht-Kollektivisten:
„Der Kongress:
In Erwägung dass alle sozialen und wirthschaftlichen
Fragen von den moralischen und politischen untrennbar sind,
so wie dass das Ziel der Menschheit die gröstmöglichste Voll-
kommenheit der Gesellschaft und des Individuums ist,
In Erwägung dass die heutige Institution des Eigenthums,
welches theils von Raub und Gewaltthaten stammt, theils durch
ungerechte Vertheilung sich angehäuft hat, die freie Entwicklung
der menschlichen Fähigkeiten und den sozialen Fortschritt
hindert,
In Erwägung dass eine solche Institution nur legitim und
zweckentsprechend ist, wenn sie vollständig der geistigen oder
körperlichen Arbeit entstammt, der Arbeit, welche uns allein
adelt und welche der kommenden Generation einzig Sporn und
Antrieb sein wird,
In Erwägung dass die Arbeit weder frei noch ertragsfähig
sein kann, wenn sie dem Kapital unterthan ist, dass sie andrer-
seits wiederum nicht von diesem getrennt werden darf,
In Erwägung dass eine Hauptquelle des modernen Eigen-
thums das Erbrecht ist das heute in der Intestaterbfolge mehr
als nöthig ausgedehnt und mittelst der Testamentsbestimmungen
fast grenzenlos ist, während es nur soweit zugelassen werden
sollte, als es die Familie, den Sitz der Arbeit und die erste na-
türliche Vereinigung, zusammenhält, der Produktion einen natür-
lichen Stimulus gewährt, und so lange es nur das persönliche
Ergebniss der Arbeit vermehren wird;
In Erwägung dass die Ausdrücke „Freiheit und Vereini-
gung“1) in Wirklichkeit die Vereinigung des sozialen und indi-
viduellen Besitzes voraussetzen, daher folgerichtig das Zusam-
menwirken des Staates und der einzelnen Individuen, sowie die
Gegenseitigkeit und Solidarität der Interessen,
spricht aus:
dass das Leben eines jeden Individuums heilig ist, dass
lol glich allen in Gemässheit der verschiedenen Thätigkeiten der
Erwerb und die Ausübung des Eigenthumsrechts gesichert sein
muss,
dass um diesen Zweck zu erreichen in dem neuen Staat
den wir auf streng volksmässigen Grundlagen neu ordnen wollen,
aller Besitz, — sei es Grundeigenthum oder anderes — der un-
rechtmässig erworben oder ungerecht vertheilt worden ist, in
die Hände der Arbeiter überführt werden muss, damit auf
diese Art ihr Recht des Eigenthums auf Grund der genossen-
schaftlichen Arbeit anerkannt, ihnen ihr Recht auf Existenz
gewahrt und jedem nöthigen Fortschritt freie Bahn geöffnet
werde ;
dass zu diesem Zweck der Wettbewerb zwischen der pri-
vaten Initiative und der des Staates beitragen müsse, welch’
letzterer aber nur existenzberechtigt ist, sofern er einer hohen
sozialen Auffassung entspricht, sei es dadurch, dass er durch
die Gemeinden den Genossenschaften Kredit gewährt, sei es
indem er die soziale und wirtschaftliche Umgestaltung dadurch
erleichtert, dass er den Uebergang des öffentlichen Eigenthums
n die Hände der Arbeitergenossenschaften einleitet, sei es dass
er mit allen erlaubten Mitteln die Errichtung von landwirt-
schaftlichen, industriellen und kommerziellen Genossenschaften
1 nterstützt, dann auch durch die Einziehung des Bodens und
der Produktionsmittel, dort wo dieses die besonderen Umstände
der Zeit und des Ortes erheischen, damit die Bestrebungen der
italienischen Demokratie verwirklichend, d. h. die Arbeit zum
Herrn des Bodens und des Kapitals Italiens machend.
Und schliesslich hält er dafür, dass zu solchem Ende,
nämlich zur energischen Lösung des verwickelten Problems im
fortschrittlichen Sinne, die partiellen Reformen und die ausge-
klügelten Kolonisationsbestrebungen, welche auf einen neuen
Betrug des herrschenden Systems hinauslaufen, vollständig un-
zulänglich sind, und dass es zudem eines gleichzeitigen und ge-
schlossenen Zusammenwirkens sämmtlicher sozialer und politi-
scher Richtungen, wie verschieden sie auch von einander sein
mögen, bedarf, um die Emanzipation der Arbeiter zu beschleunigen
und zu sichern, die Emanzipation der Arbeiter, die den höchsten
Sieg der Gerechtigkeit und Civilisation bedeutet.“
II. Tagesordnung der Kollektivisten:
„Der Kongress:
In Erw'ägung dass das bestehende industrielle System eine
fortwährende und steigende kapitalistische Belastung auf Kosten
der Arbeiter bedeutet.
In Erwägung dass die unmittelbaren Ursachen der be-
stehenden wirthschaftlichen Uebelstände im Allgemeinen, und
im Besondern der heutigen Ausbeutung der Arbeit durch das
Privatkapital darin zu suchen sind, dass die Industrie sich in
privaten Händen und im Dienste der individualistischen Speku-
lation befindet d. h. in dem Mangel einer einheitlichen nationalen
Organisation des industriellen Lebens; — erwogen dass das
einzige Heilmittel bei dem jetzigen Industrialismus nur ein
neues industrielles System sein kann, welches, auf dem Kollek-
tiveigenthum fussend, eine nationale zentralistische Organisation
der Industrie schafft, das zugleich den Produktionsbedarf regelt
und den gesellschaftlichen Reichthum vertheilt,
erkennt die Nothwendigkeit einer Umwandlung des be-
stehenden kapitalistischen Privateigenthums an Produktions-
mitteln und Privatgrundeigenthum in Kollektiveigenthum an.“
Wie man sieht, lässt die erstere Tagesordnung- nichts
an Unklarheit, die letztere wenig an Klarheit zu wünschen
übrig. Das Interessante ist nun folgendes: Während auf
dem Kongress zu Neapel (1889) die von Fratti vertretene
Tagesordnung der Individualisten, die der diesjährigen ganz
ähnlich war, vom Kongress zum Beschluss erhoben und
diejenige der Kollektivisten verworfen wurde, hat sich jetzt
die Lage wesentlich verändert. Man hat zwar die kollek-
tivistische Tagesordnung nicht angenommen, aber auch
nicht mehr die gegnerische, sondern hat sich auf einen,
wesentlich politischen, ökonomisch nichtssagenden Vermitt-
lungsbeschluss geeinigt, der folgende Fassung hat:
„Der Kongress nimmt Kenntniss von den seitens der
kollektivistischen und mazzinistischen Republikaner überreichten
Tagesordnungen und stellt fest:
dass in der Organisation des „patto di fratellanza“ alle
diejenigen national-ökonomischen Schulen Aufnahme finden
müssen, die als erstes und nöthigstes Mittel zur bestmög-
lichen Lösung der sozialen Frage die Regelung der poli-
tischen Ordnung auf der Basis der absoluten Volkssouveränität
annehmen;
der Kongress spricht auch seine Ueberzeugung dahin aus,
dass in allen gesellschaftlichen Institutionen, die jetzt auf
Privilegium beruhen, nach und nach eine Umgestaltung bis
zur vollständigen politischen und sozialen Emanzipation voll-
zogen werden muss.“
Das bedeutet einen entschiedenen Sieg der Kollek-
tivisten und es scheint mir nur eine Frage der Zeit zu
sein, dass der Patto di fratellanza, also die bei weitem be-
deutendste politisch-soziale Vereinigung der italienischen
radikalen Demokratie den kollektivistischen Sozialismus
offiziell in sein Programm aufnimmt. Einstweilen spinnt
sich die Diskussion des Kongresses, auf dem übrigens die
Kollektivisten bereits die grosse Mehrzahl gebildet haben
sollen, in der Weise fort, dass man die Frage aufwirft: ist
der Mazzinianismus nicht doch vielleicht mit dem Kollek-
tivismus verträglich? Was die Einen verneinen, die andern
bejahen. Zu den letzteren gehört, und das ist gewiss be-
deutsam, der Chefredakteur der „Emancipazione“, des
Hauptorgans des Mazzinianismus, insbesondere des Patto di
fratellanza: Felice Albani. Damit erhält seine Zeitung
naturgemäss ebenfalls eine kollektivistische Richtung. In
der letzten Nummer vertheidigt sich das Blatt mit allen
Kräften gegen den Vorwurf, dem Programm des „Meisters“
untreu geworden zu sein, weil es den Kollektivismus ver-
fechte. Beides sei sehr gut zu vereinigen.
‘) Libertä ed Assoziazione — die bekannte Parole Mazzinis.
No. 30.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
369
Es ist nun aller keineswegs anzunehmen, dass die
Kollektivsten, auch wenn ihr Einfluss wächst, etwa gewillt
wären, die in sozialen Dingen Andersgläubigen schroff von sich
zu stossen. Im Gegen theil, man bestrebt sich allseitig, den
Boden gemeinsamen Handels nicht unter den Füssen zu
verlieren, man fürchtet Schismen sehr. Daher betonen die
verschiedenen sozialen Richtungen stets mit Nachdruck,
dass sie ein gemeinsames Band Zusammenhalte: das sei
das Streben nach politisch radikal-demokratischer Staats-
verfassung , nach „volkstümlichen“ politischen Institu-
tionen. Unter dieser Flagge will man denn auch versuchen.,
die sämmtlichen in Italien bestehenden republikanischen,
demokratischen, sozialistischen und Arbeiter-Vereine zunächst
zu sammeln. Dies ist der Beschluss des Kongresses, der sich
auf die Taktik bezieht und ebenso wie in der oben mit-
getheilten, auch in folgender Tagesordnung seinen Ausdruck
findet:
„Der Kongress beschliesst, dass alle Republikaner,
welches auch die wirtschaftliche Richtung sein mag, der
sie angehören, wenn sie nur die Grundsätze der politischen
Freiheit und ökonomischen Gleichheit anerkennen, sich als
Brüder betrachten, sich Toleranz und gegenseitige Hilfe
zusichern und vereint dahin streben, den gemeinsamen
Idealen zum Siege zu verhelfen.“ Ferner hat der Kongress
eine Spezialkommission zu dem Zwecke eingesetzt, inner-
halb 6 Monaten mit den übrigen nationalen und regionalen
Arbeiterverbänden in Unterhandlung zu treten behufs Be-
gründung einer „Vereinigung der italienischen Arbeiter“
(Federazione dei lavoratori d’Italia) und zwar auf Grund
der Erwägung, „dass das moderne Leben sich ausdrückt im
Kampfe des Proletariats gegen den Kapitalismus zwecks
Erlangung wirthschaftlicher Gerechtigkeit, wozu als einziges
Mittel die Besitznahme der politischen Macht tauglich ist,
sowie dass zu diesem Ende das gemeinsame Vorgehen aller
italienischen Arbeiter nöthig ist.“ Wie man sieht, ist der
Rahmen, in den man eine grosse demokratische Arbeiter-
bewegung fassen will, thunlichst weit gesteckt. Man will
vor Allem die bereits vorhandenen Elemente zusammen-
schaaren, in der Voraussicht wohl, dann, wenn erst Alle
unter einen Hut gebracht sind, mit Leichtigkeit dem kollek-
tivistischen Sozialismus ebenso in der grösseren Vereinigung
zum Siege zu verhelfen, wie jetzt schon innerhalb des
Patto di fratellanza.
Der dritte wichtige Beschluss des Kongresses betrifft
die Art und Weise der Agitation unter den bisher noch
völlig unberührten Volksmassen. Er bietet nichts, was
besonderer Erwähnung werth wäre: es wird den ein-
zelnen Brüdervereinen warm empfohlen, neue Mitglieder zu
werben und neue Arbeitervereine zu gründen, wo solche
noch nicht bestehen; in sehr abgelegenen Orten soll ein
besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, Arbeiter-
Abendschulen, Fortbildungs- und gewerbliche Fachkurse
u. dergl. einzuführen, „um die Masse über ihre Rechte und
Pflichten zunächst aufzuklären“.
So ist die soziale Bewegung in Italien ohne Zweifel
in ein neues Stadium getreten. Taktisch das eifrige Be-
streben, einen Zusammenschluss herbeizuführen, zunächst
unter demokratisch-politischer Flagge; programmatisch die
Zurückdrängung des individualistischen Mazzinianismus, Vor-
dringen des sozialistischen Kollektivismus. Dass dieser kein
Marxismus ist, geht aus dem oben mitgetheilten Programm
deutlich hervor.
Man wird mit Interesse die soziale Bewegung in
Italien von jetzt ab auch bei uns verfolgen. Mit Span-
nung darf man dem XIX. nationalen Kongress ent-
gegensehen, der in Bologna September-Oktober 1893 ab-
gehalten werden soll; nicht mehr wie bisher nach 3,
sondern nur nach 1'/?jähriger Zwischenpause. Auf ihm
wird die „Sozialistische Arbeiterpartei Italiens“ wahrschein-
lich begründet werden.
Breslau. Werner Sombart.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Noch ein Wort zum Koalitionsrecht der Arbeiter
in Frankreich.
Herr Simmel l) ist auf mancherlei Umwegen zu dem
Resultat gelangt, dass dem französischen Arbeiter das
Recht gebühre, sich in Syndikaten zu.sammenzuschliessen,
ohne durch die Arbeitgeber darin behindert werden zu
dürfen. Ohne Zweifel muss jedes Gesetz aus dem Erfor-
derniss des Staatswohls, besser des Allgemeinwohls hervor-
gehen, es handelt sich nur darum, was man darunter ver-
stehen soll, und vor Allem darum, was die herrschenden
Klassen darunter verstehen Ich glaube aber, dass es ge-
nügt, sobald man dem Arbeiter überhaupt das positive
Recht, sich in Syndikaten zusammenzuschliessen, zugesteht,
sich auf den Boden der positiven Gesetzgebung zu stellen,
um den Arbeitgebern die Pflicht auferlegen zu müssen, sie
in diesem Recht nicht durch Entlassungen (resp Nicht-
anstellungen) zu beeinträchtigen.
Man muss vor Allem zweierlei Arten von Rechten
unterscheiden. Ich habe gewiss das Recht, spazieren zu
gehen, das ist aber kein positives Recht; kein Gesetz
spricht mir dieses Recht zu, aber auch kein Gesetz spricht
mir dieses Recht ab. Das Recht, „spazieren gehen zu
dürfen“, fällt in jene Sphäre meiner Handlungen, die vom
Gesetz nicht bestimmt ist. Ich habe aber im Allgemeinen
das Recht, das zu thun, was mir das Gesetz nicht verbietet
und eben deswegen haben alle Andern die Pflicht, mich
darin nicht gewaltsam zu hindern, denn Gewalt darf nur
der Staat brauchen, jedes Recht auf der einen Seite ist
Pflicht auf einer andern, die Pflicht erstreckt sich aber
nur so weit, als das Recht geht. Ich habe das Recht, auf
einem öffentlichen Spazierweg mich auf eine Bank zu
setzen, und ein Anderer hat das Recht, sich ebenfalls hin-
zusetzen und mir vielleicht dadurch den Aufenthalt zu ver-
leiden. Ich habe gleichsam nur ein negatives Recht, ich
bin nur durch das Gesetz nicht verhindert, mich auf diese
Bank zu setzen, der Andere darf daher nicht von mir ver-
langen, mich zu entfernen, aber er hat das gleiche Recht,
auch er kann sich hinsetzen. Wäre die Bank mein, dann
würden die Gesetze über das Eigenthum mir das posi-
tive Recht geben, sowohl auf der Bank zu sitzen, als auch
jeden Andern fortzuweisen. Darnach muss auch das Koa-
litionsrecht der Arbeiter gegenüber den Arbeitgebern be-
urtheilt werden.
Haben die Arbeiter blos das negative Recht, sich zu-
sammenzuschliessen, weil kein Gesetz besteht, das es ihnen
verbietet, dann dürfen die Arbeitgeber sie zwar nicht ge-
waltsam daran hindern, aber sie können ihrerseits Alles
das dagegen thun, was das Gesetz nicht verbietet, und
dieses verbietet nur Gewalt, Betrug u. s. w., in der Regel
nicht kontraktmässige Entlassung der Arbeiter aus welchem
Grunde immer. Auf dem Gebiete der durch das Gesetz
nicht beschränkten Handlungen kann Jeder thun, was er
will. Ist aber dem Arbeiter durch ein Gesetz seine Freiheit,
sich in Syndikaten zusammenzuschliessen, gewährleistet,
dann ist doch wenigstens dem Geist des Gesetzes nach
allen Andern verboten, dieses Gesetz durch Gegenmass-
regeln illusorisch zu machen. Es wäre doch höchst sonder-
bar, dem Einen gesetzlich ein Recht zuzugestehen und
einem Anderen wieder, dass er dieses Recht thatsächlich
zunichte machen kann; ein solches Gesetz hätte gar keinen
1) Vgl. Simmel, Ein Wort über soziale Freiheit in No. 27,
S. 333 fg- des Sozialpolitischen Central blatts.
370
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 30.
Sinn. Wenn aber den Arbeitgebern das Recht zusteht,
alle Arbeiter, die an Syndikaten betheiligt sind, zu ent-
lassen, so haben sie die Macht, es den Arbeitern unmöglich
zu machen, sich an ihnen zu betheiligen, weil die Arbeiter
dann keinen Verdienst bekommen können. Wollte man
aber die Arbeiter blos gesetzlich nicht hindern, sich in
Syndikaten zusammenzuschliessen, dann war kein Gesetz
noth wendig, sondern nur eine Aufhebung aller gesetzlichen
Beschränkungen dieser Freiheit. Dasselbe gilt in Bezug
auf die Freiheit der politischen Wahlen; diese Freiheit ist
durch das Gesetz nicht nur nicht verhindert, sondern po-
sitiv gewährleistet; ihre Beschränkung ist deswegen ge-
setzlich verboten. Bietet daher das vorhandene Gesetz in
Frankreich keine Handhabe gegen die Arbeitgeber, Ent-
lassungen von Arbeitern aus oben genanntem Grunde zu
verhindern, so ist es eine im Geiste des Gesetzes über die
Syndikate der Arbeiter gelegene Forderung, eine solche
Handhabe gesetzlich zu schaffen. Mit dem Worte persön-
licher, sozialer oder menschlicher Freiheit lässt sich aber
ebensowenig etwas begründen, wie mit den allgemeinen
Menschenrechten. Jeder ist soweit frei, als ihn nicht Ge-
setze des positiven Rechts, der Gesellschaft, der Sitte be-
schränken resp. er sich durch sie beschränken lässt. Die
Freiheit ist daher allerdings allein ein Produkt historisch
rechtlicher, sozialer und ethischer Entwicklung der Völker.
v. Schubert-Soldern.
Zur Frage der Einführung der obligatorischen Berufs-
genossenschaften in der Schweiz.
Allgemein fühlt man die Nothwendigkeit der Organi-
sation des Gewerbewesens. Die alten Zünfte hatten sich
überlebt, gegenüber den modernen Betriebsformen konnten
sie nicht mehr bestehen; aber der grosse Fehler war, dass
man nicht den neuen Verhältnissen entsprechende Gebilde
an deren Stelle setzte, so dass nun eine wilde, für das Ge-
werbe höchst nachtheilige Anarchie entstand. Wie die
neue Organisation vorgenommen werden soll, darüber
gehen die Meinungen weit auseinander. Die Einen wollen
alles der Freiwilligkeit überlassen, während die Anderen
sich einen wirksamen Erfolg nur von obligatorischen
Berufs genösse ns cha ft en versprechen. Einer der rührig-
sten Verfechter der letzteren ist der Genfer Favon. In der
letzten Session der eidgenössischen Räthe stellte er im
Nationalrath ein Antrag auf Einführung obligatorischer
Berufsgenossenschaften, welche folgenden Wortlaut hatte:
„Der Bundesrath ist eingeladen, Bericht und Anträge
zu stellen über die Thunlichkeit, den Art. 31 der Bundes-
verfassung, der den Grundsatz der Handels- und Gewerbe-
freiheit aufstellt, zu ändern, um die Errichtung von obliga-
torischen Berufsgenossenschaften zu ermöglichen, welche
die Aufgabe hätten:
1 . die Arbeitsverhältnisse in den verschiedenen Berufs-
arten zu reguliren;
2. die Elemente für permanente Schiedsgerichte zu
liefern, welche gesetzlich alle Anstände zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer schlichten.
Er ist insbesondere eingeladen, folgende Punkte zu
prüfen:
Ist es nützlich, in der Schweiz obligatorische Berufs-
genossenschaften zu schaffen?
Ist es vorzuziehen, den freien Berufsgenossenschaften
gesetzliche Kompetenzen einzuräumen, um in jeden Beruf
zu regeln:
a) den Normalarbeitstag;
b) den Minimallohn;
c) die Lehrlingsverhältnisse, und um über die strikte
Vollziehung des Fabrikgesetzes wie auch über die
sanitären Verhältnisse in den Werkstätten zu wachen.
Zur Begründung brachte Favon nach französischen
Zeitungen u. A. folgendes vor:
Die Mittelklasse verschwindet, der unabhängige Ar-
beiter, der Fatjonschneider, der Dorfschuhmacher haben
schon längst der Konfektion weichen müssen; ähnlich er-
geht es dem Handweber, sie alle werden durch die Gross-
industrie erdrückt. Wie lange wird es dauern, bis der
Bäcker der Brodfabrik Platz machen muss? Die Mittel, um
trei und unabhängig zu leben nehmen immer mehr ab, die
Arbeiter werden je länger je mehr vom Kapital abhängig.
Entweder zu verhungern oder sich allen Lohnbedingungen
zu unterwerfen, das ist je länger je mehr das Loos der
Arbeiter. Einst wurde man mit einem kleinen, durch per-
sönliche Arbeit erworbenen Kapital unabhängig, heute kann
dieses gleiche Kapital nur fruchtbringend werden, wenn es
sich unter der Form von Aktien oder Obligationen der
Masse des anonymen Kapitals anschliesst. Dieses saugt die
Ersparnisse der Kleinen auf und es bleiben auf der anderen
Seite nur noch die Lohnarbeit.
Die Konzentration der Kapitalien, die Organisation
der Arbeiter hat die Bildung von Berufsgenossenschaften
veranlasst. Organisation für den Krieg, die Strikes, die
heftigen Debatten, die Drohungen, der Appell an die revo-
lutionäre Solidarität, das sind die Aussichten für die Zukunft.
Es ist nothwendig, in diese Verhältnisse einzugreifen.
Freiwillige Berufsgenossenschaften taugen hier nichts,
man muss den Entscheiden der Berufsgenossenschaften ge-
setzliche Sanktion geben. Man muss sich sagen, dass der
Lohn der Arbeiter nicht eine Waare ist, welche dem An-
gebot und der Nachfrage unterworfen ist; er soll nicht die
Grenze der Ungenügenden erreichen, jeder muss leben
können. Die freiwillige Berufsgenossenschaft erreicht das
Ziel nicht, sondern nur die obligatorische.
Die Befürchtungen, welche man wegen der auswärti-
gen Konkurrenz hegt, sind haltlos, denn es handelt sich '
hier hauptsächlich um die Konkurrenz der einheimischen
Gewerbetreibenden unter sich. Diese muss bekämpft
werden. Die Organisation soll zu diesem Zwecke zunächst .
ortsweise, dann kantonsweise, dann für die ganze Schweiz
und schliesslich international erfolgen. Man überlasse den
Kantonen das Recht, die Berufsgenossenschaft obligatorisch
zu erklären; es wird natürlich nur da geschehen können,
wo die Vorbereitungen schon vorhanden sind. Das Beispiel
wird Nachahmung finden.
Indem wir die Lehrzeit reguliren, verschliessen wir
den Beruf nicht wie zur Zeit der Zünfte; wir verlangen :
nur Garantie für die berufliche Erziehung, um tüchtige i
und unabhängige Arbeiter zu schaffen. Was den Normal- I
arbeitstag betrifft, so sehen wir, dass derjenige von elf <
Stunden zu lang ist. Das Gesetz aber kann nur allgemeine
Bestimmungen aufstellen, die Berufsgenossenschaften sind
dagegen dazu wie geschaffen, um die Arbeitszeit den An-
forderungen der verschiedenen Berufsarten anzupassen.
Was den Lohn betrifft, so ist es nothwendig, dass er den
Mann mit seiner Familie ernähre, von diesem Gesetz aus
muss die Bestimmung des Minimallohnes ausgehen. —
In der Diskussion fand der Antrag Favon Unterstützung
beim Staatsrath Comtesse aus Neuenburg und Steiger aus
St. Gallen. Letzterer erinnerte an die Erfolge des grossen
ostschweizerischen Stickereiverbandes. Bekämpft wurde
der Antrag von Tissot aus Neuenburg und vom Bundesrath
Dr. Deucher. Ersterer stellte sich auf den Standpunkt der
vollen unbeschränkten Gewerbefreiheit. Letzterer verwies
aut die bevorstehende Revision des Artikels der Bundes-
verfassung, der von der Handels- und Gewerbefreiheit
handelt, wobei denn auch die Frage der Einführung der
obligatorischen Berufsgenossenschaften studirt werden soll.
In Folge dessen wurde der Antrag mit grosser Mehrheit
abgelehnt.
Soviel lässt sich heute schon sagen, dass die reaktio-
nären zünftlerischen Regungen, wie sie sich in Handwerker-
kreisen hie und da geltend machen, keinen grossen Erfolg
haben werden. Von einem Obligatorium der Berufsge-
nossenschaften in der Weise, dass von Staatswegen alle
Gewerbe zwangsweise in Berufsgenossenschaften organisirt
werden, kann nicht die Rede sein, noch viel weniger wird
No. 30.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
371
I
der von einzelnen Berufsverbänden verlangte Befähigungs-
nachweis eingeführt werden. Wohl aber wird man den
gewerblichen Interessen verbänden, welche bereits bestehen
oder sich neu bilden, auf ihr Verlangen gewisse Kochte für
Regelung der Arbeitszeit, des Lohnes, der Lehrlingsverhält-
nisse und der Gewerbepolizei ertheilen. Es ist aber klar,
dass dies, weil sich die Verbände meistens über mehrere
Kantonsgebiete erstrecken, nicht, wie Favon vorschlug, von
den Kantonen, sondern einzig nur vom Bund zu geschehen
hat. Daneben sind allerdings gleichzeitig das Lehrlings-
wesen, die Sühn- und Schiedsgerichte und die Gewerbepolizei
analog der Fabrikpolizei von Gesetzes wegen allgemein zu
reguliren.
Aarau. E. Naef.
Obligatorische Fortbildungsschulen für Kellnerlehrlinge
und Laufburschen in Stuttgart. Durch § 120 des Reichsgesetzes
vom 1. Juni 1890, betreffend die Abänderung der Gewerbeord-
nung, ist bekanntlich die Möglichkeit geboten, durch statuta-
rische Bestimmung seitens einer Gemeinde für die männlichen
Arbeiter unter 18 Jahren auch unter den Kellnern, Hausknechten
und Laufburschen in Wirthschaften, Köche u. s. w. die Ver-
pflichtung zum Besuch einer Fortbildungsschule zu begründen.
Welche Motive manche Behörden bei Benutzung dieser Bestim-
mung leiten, davon geben folgende Verhandlungen zwischen
Stuttgarter Behörden eine Vorstellung. Der dortige Gesammt-
kirchengemeinderath war zu der Ueberzeugung gelangt, dass
gerade in Bezug auf diese jungen Leute, welche das ganze
Jahr, Sonntags wie Werktags unausgesetzt angespannt und der
sittlichen und religiösen Verwahrlosung preisgegeben sind, die
genannte gesetzliche Bestimmung als ein geeignetes Mittel
dienen könnte, um sie unter einen sittlichen erziehlichen Ein-
fluss zu bringen, und richtete daher das Ersuchen an die Stutt-
garter Gemeindebehörde, die Einrichtung einer solchen zwangs-
weisen Fortbildungsschule in Erwägung zu ziehen. Er würde
sich seinerseits, beim Zustandekommen einer solchen Einrich-
tung gerne verpflichten, anschliessend an den Stundenplan der
Schule eine freiwillige kirchliche Unterweisung in Form
eines Lehrlingsgottesdienstes oder einer Christenlehre etwa durch
den Jugendgeistlichen anzufügen, so dass den jungen Leuten
zugleich ein Ersatz für den sonntäglichen Kirchenbesuch, der
ihnen ja thatsächlich unmöglich gemacht ist, geboten wäre. Die
Zuschrift des Gesammtkirchengemeinderathes wurde in der
Sitzung des Stuttgarter Gemeinderathes vom 14. Juli d. J. mit
dem Anfügen verlesen, dass der Ortsschulrath für die evange-
lische Volksschule u. s. w. sich am 20. Juni im Grundsatz gut-
achtlich dafür ausgesprochen habe, dass hier von dem Abs. 3
des § 120 der Gewerbeordnung, wonach durch statutarische
Bestimmung einer Gemeinde oder eines weiteren Kommunal-
verbandes für männliche Arbeiter unter 18 Jahren die Verpflich-
tung zum Besuch einer Fortbildungsschule begründet werden
kann, Gebrauch gemacht werden solle, und dass dem Gesammt-
kirchengemeinderath unter Mittheilung dieser gutachtlichen
Aeusserung zu erwidern sein werde, dass man auf die von ihm
aufgeworfene Frage zurückkommen werde, wenn die zunächst
anhängige Frage der Einführung eines obligatorischen Fort-
bildungsunterrichtes entschieden' sei. Von sämmtlichen Mit-
gliedern des Kollegiums wurde das Bedtirfniss eines obligato-
rischen Fortbildungsunterrichtes in Stuttgart für junge Leute,
I welche eine Innungs- oder andere Fortbikfungs- oder Fachschule
nicht freiwillig besuchen, ebenfalls prinzipiell anerkannt. An-
dererseits wurde aber auch geltend gemacht, dass man dafür
zu sorgen hätte, dass die neue Einrichtung irgend welchen
konfessionellen Beigeschmack nicht erhält und nicht ein gewisser
Zwang auf die Theilnehmer der obligatorischen Fortbildungs-
schule zum Besuche von Gottesdiensten u. s. w. ausgeiibt wird.
Die Schule müsse sich, von Religions- und Fachunterricht
grundsätzlich absehend, auf allgemein bildende Fächer und
insbesondere auf das in der Schiffe Gelehrte beschränken Nur
zwei Redner machten gegen die Ertheilung dieses Unterrichtes
an Werktagen das Bedenken geltend, dass die jetzt schon be-
stehenden Schwierigkeiten, ordentliche Lehrer bei Handwerkern
zu finden, sich dann noch erheblich vermehren würden. Der
Antrag des Vorsitzenden, dem Gesammtkirchengemeinderath in
der erwähnten Weise zu erwidern, wurde hierauf angenommen.
Grossbetriebe im französischen Detailhandel. Das Be-
streben, dem Ueberhandnehmen des kapitalkräftigen Gross-
betriebes (Riesenmagazine) beim Detailhandel, welches die
kleinen Kaufleute ruinirt, in Frankreich und namentlich in
Paris entgegenzuarbeiten, hat zur Vorlage einer Reform der
Geschäftssteuer geführt, die zur Zeit im Pariser Kammeraus-
schusse geprüft und behandelt wird. Der Abgeordnete Terrier
theilte letzthin dem Ausschüsse die von der Finanzverwaltung
vorgeschlagene Gruppirung der Artikel in den grossen Kauf-
läden mit. Darnach sollten zehn Gruppen für Nahrungsmittel,
I Toilettegegenstände, Möbel, Spielwaaren, Wagen, Kleider, Er-
ziehung, Hausgeräthe, Kunstgegenstände und Gewerbe geschaffen
werden, die für die Berechnung der Patentsteuer (Gewerbe-
steuer) in Betracht zu ziehen wären. Der Ausschuss fand aber
diese Gruppen zu weit und genehmigte deshalb die von dem
Pariser Abgeordneten Mesureur in Vorschlag gebrachte Ein-
theilung in 19 Gruppen. Dabei wurden noch folgende Bestim-
mungen angenommen. Für Geschäfte, die bis zu 50 Angestellte
beschäftigen, bleibt die Taxe ohne Rücksicht auf die Anzahl
der zum Verkaufe gelangenden Artikel auf Frcs. 200 angesetzt.
Für Geschäfte mit 51 bis 100 Angestellten sind für jede der
vorhandenen Waarengruppen Frcs. 100, für Geschäfte mit 101
bis 200 Angestellten Frcs. 200, für Geschäfte mit 201 bis 300
Angestellten Frcs. 400, für solche mit 301 bis 600 Angestellten
Frcs. 1000, für die mit weniger als 1800 Angestellten Frcs. 1500,
für die mit weniger als 2100 Angestellten Frcs. 2000 und für
die mit mehr als 2100 Angestellten Frcs. 3000 einzuheben.
Auch die Abgabe, die nach der Miethe berechnet wird, soll eine
im Verhältniss zu der Zahl der Angestellten stehenden Steige-
rung erfahren, so zwar, dass die Magazine, die zwischen 50 und
300 Angestellte haben, den zehnten, die, welche zwischen 300
und 700 Angestellte haben, den achten, und die grossen Ge-
schäfte mit mehr Angestellten den siebenten Theil der Miethe
als Zuschlag zu entrichten hätten. Die Geschäftshäuser, die,
wie z. B. die Möbelhändler und Wagenfabrikanten, grosse Räume
nöthig haben, sollen dagegen nur den zwanzigsten Theil der
Miethe zu entrichten haben.
Schweizerischer Arbeiterbund und schweizerisches
Arbeitersekretariat. Soeben ist der vierte und fünfte
Jahresbericht des leitenden Ausschusses des schweizerischen
Arbeiterbundes und des schweizerischen Arbeitersekretariats
mit dem gedruckten Protokoll der Verhandlungen des
Arbeitertages in Olten zu Ostern 1890 erschienen. Der
Jahresbericht des Ausschusses behandelt die Stellungnahme
des Arbeiterbundes zu den verschiedenen in den eidge-
nössischen Käthen gestellten sozialpolitischen Motionen, von
denen im Sozialpolitischen Centralblatt mehrmals die Rede
war. Bezüglich der projektirten Kranken- und Unfallver-
sicherung und der in der Arbeiterschaft abweichenden
Meinungen über die Ausdehnung der Versicherungspflicht
warnt der Ausschuss, die Nebensache zur Hauptsache zu
machen und ermahnt die Arbeiter, ihre ganze Kraft gegen
die prinzipielle Gegnerschaft zu konzentriren. Da es sich
hier nicht um eine politische Streitfrage handle, sei zu er-
warten, dass der schweizerische Arbeiterbund in allen seinen
verschiedenen Sektionen für die gesetzliche Durchführung
des Versicherungsgedankens eintrete, welcher später, wie zu
hoffen sei, auch auf die wegen Alters und Invalidität arbeits-
unfähigen Existenzen hin Ausdehnung finde. Dann erst werde
man sagen können, dass die grössten Härten und Unbilligkeiten
des gegenwärtigen Produktionssystems von Staats wegen
beseitigt seien.
Mit Genugthuung wird der Erhöhung der vom Bunde
gewährten Subventionssumme für das schweizerische
Arbeitersekretariat auf 20 000 Frcs. erwähnt, wodurch die
Anstellung eines französischen Adjunkten ermöglicht
wurde. Der leitende Ausschuss bemerkt, es werde der
Förderung der gemeinsamen Interessen aller Arbeiter nur
dienlich sein, wenn die Arbeiterorganisationen der welschen
Schweiz sich zusammenthun, sich mehren und stärken, in
lebendigen Kontakt zu einander treten und dadurch den
Boden der öffentlichen Meinung zu Gunsten der Arbeiter-
frage bearbeiten. Aber der Romanische Arbeiterbund
müsste ein Glied des allgemeinen schweizerischen Arbeiter-
bundes sein und bleiben und in diesem die ihm mit allen
anderen Sektionen des Bundes gemeinsame Organe haben.
„Wir wollen nicht einen welschen und einen deutsch-
schweizerischen Arbeiterbund, wir wollen nicht eine Er-
rungenschaft, welcher die gesammte schweizerische Arbeiter-
schaft bereits manchen Erfolg verdankt, wieder preisgeben
und uns in Sonderbünde auflösen.“ Leider scheinen diese
Ermahnungen wenig Eindruck zu machen. Die Sonderbe-
strebungen der romanischen Sektionen machen sich heute
mehr denn je bemerkbar und die Trennung ist fast unver-
meidlich.
Das schweizerische Arbeitersekretariat beklagt sich in
seinem Berichte, dass die Arbeiterpresse von seinen statis-
tischen Arbeiten so wenig Notiz nehme. Dasselbe hat im
Berichtsjahre eine Enquete über die Stellungnahme der
Arbeiterschaft zur Bundesgesetzgebung betreffend Kranken-
und Unfallversicherung durchgeführt, welche für die gesetz-
geberischen Arbeiten werthvolles Material bietet, da man
es hier mit Meinungs- und Willensäusserungen zu thun hat,
die unmittelbar aus der Masse der Arbeiterschaft stammen.
Eine sehr praktisch ausgearbeitete Instruktion des Sekre-
tariats hat die Beantwortung der Fragebogen sehr er-
leichtert. Es sind im Ganzen 767 Fragehefte beantwortet
worden.
372
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 30
Der neuangestellte romanische Sekretär, welcher sein
Bureau in Biel eingerichtet hat, aber nach Bedürfniss auch
aufs Hauptbureau nach Zürich berufen werden kann, hat
in der Uhren-Arbeiterbewegung sehr vieles zur zweck-
mässigen Entwicklung der Arbeiterorganisation gethan. Es
zeigt sich, dass die Vermengung ganz verschiedener Ele-
mente — Geschäftsinhaber, Arbeiter auf eigene Rechnung
und Lohnarbeiter im gleichen Verband, eine durchaus
falsche Organisationsgrundlage bildet.
Von den Beamten des Arbeitersekretariats wurden im
Ganzen 52 Vorträge gehalten. Die Zahl der notirten
Audienzen ist 357, diejenigen an Abenden und Sonntagen
nicht gerechnet. Die im Berichtsjahr vom Arbeitersekretariat
durchgeführte Lohnstatistik in Winterthur liegt in den
tabellarischen Zusammenstellungen bereits vor, doch ist
noch eine Umarbeitung nothwendig. Im neuen Arbeits-
programm figurirt eine Untersuchung über die Einwirkung
der Krisen auf die Arbeitsverhältnisse, speziell der Krisen
in der Uhrmacher- und Stickerindustrie. In der letzten
Sitzung des Bundesvorstandes ist das Arbeitersekretariat
eingeladen worden, den vorkommenden Verletzungen des
Vereinsrechts der Arbeiter Aufmerksamkeit zu schenken,
darüber Akten zu sammeln und dem eidgenössischen Justiz-
departement resp. dem Bundesrathe jeweilen davon Mit-
theilung zu machen.
Arbeiterzustände.
Beschäftigung jugendlicher Arbeiter beim preussischen
Bergbau.
Eine mechanisch aus den neuesten Jahresberichten
der preussischen Gewerbeinspektoren und Bergbehörden
für 1891 ausgeschriebene Notiz über die Zahl der jugend-
lichen Arbeiter auf den preussischen Bergwerken, wie
sie letzthin die Runde durch die Tagespresse machte,
dient der sozialen Erkenntniss sehr wenig. An dieser Stelle
wird deshalb auf die Wiedergabe der blossen Zahlen für
1891 verzichtet und im Nachfolgenden versucht, mit Zu-
hilfenahme früherer Berichte eine vollständigere Uebersicht
über die Ausnutzung jugendlicher Arbeitskräfte in den ge-
sammten Bergwerken des Königsreichs Preussen zu geben.
Diese Uebersicht kann erst mit dem Jahre 1879 beginnen,
weil erst von diesem Zeitabschnitt ab gleichzeitig mit den
damals auf Grund der 1878 er Gewerbeordnungsnovelle zu-
erst erscheinenden Fabrikinspektorenberichten ausGesammt-
deutschland eine Veröffentlichung der einschlägigen Zahlen
stattfand. Eine Lücke ergiebt sich sodann noch für das
Jahr 1885. In diesem Jahre verliess man das System, nach
welchem die Berichte der Fabrikinspektoren und Bergbe-
hörden gemeinsam in extenso an einer Stelle veröffentlicht
wurden und ging zu den sogenannten „Amtlichen Mitthei-
lungen“ aus den Berichten über, zu schmal gehaltenen
Auszügen, bei welchen die Berichte der Bergbehörden gar
nicht mehr berücksichtigt wurden. Erst die vom Jahre 1888
ab wieder separat herausgegebenen Jahresberichte der
preussischen Aufsichtsbeamten bringen wieder die Fest-
stellungen der Bergbehörden, und zwar auch rückwärts bis
1886 einschliesslich. Vielleicht ist es einer amtlichen Stelle
möglich, mindestens die Lücke für 1885 nachträglich noch
summarisch auszufüllen. Nach unserer Zusammenstellung
zählte man nun:
im
Jahre
Gesammt-
belegschaft
kindliche
Arbeiter
j ugendliche
Arbeiter
jugend-
liche
Arbeiter
über-
haupt
m.
w.
zus.
m.
w.
ZUS.
1879
1878: 232,064
?
?
497
?
?
6,703
7,200
1880
?
?
?
521
?
?
7,822
8,343
1881
?
?
?
492
?
?
8,090
8,582
1882
?
?
p
576
?
p
8,609
9,185
1883
p
578
68
646
8,855
526
9,381
10,027
1884
?
447
23
480
8,818
504
9,322
9,802
1885
?
?
?
P
?
P
P
P
1886
?
287
26
313
7,288
486
7,774,
8,087
1887
>
293
31
324
7,778
546
8,324
8,648
1888
?
263
23
286
9,010
538
9,548
9,834
1889
317,124
283
24
307
9,827
544
10,371
10,678
1890
341,931
297
32
329
1 1 ,007
732
11,739
12,068
1891
361,508
268
28
296
12,031
653
12,684
12,980
In dieser Uebersicht offenbart sich eine allmähliche
aber sehr langsame Verbesserung der Statistik preussi-
scher Bergarbeiter. Die jugendlichen Arbeiter werden
erst vom Jahre 1883 ab nach dem Geschlecht getrennt, und
regelmässige Angaben über die Stärke der Gesammtbeleg-
schaft werden erst von 1889 ab gemacht. Nun ist aber
nicht blos die Ziffer der Gesammtbelegschaft, sondern
auch die Zahl der erwachsenen männlichen und weib-
lichen Arbeiter getrennt unbedingt nothwendig zur rich-
tigen Beurtheilung der Veränderungen, welche die Ziffern
der jugendlichen Arbeiter von Jahr zu Jahr erleiden. Es
wäre dringend zu wünschen, dass die Arbeiterstatistik der
preussischen Bergwerke, die ausserdem die verschiedenen
Grubenarten und Bezirke von einander trennen müsste, in
diesen Richtungen künftig gründlich vervollkommnet würde.
Nachdem dies vorausgeschickt ist, kann zu einer kurzen
Erläuterung unserer Tabelle übergegangen werden. Wenn
es zugleich gestattet ist, die uns für 1878 in den Berichten
vorhandene Zahl der Gesammtbelegschaft auch für 1879
als ungefähr zutreffend anzunehmen, so ergiebt sich in
erster Linie, dass seit 1879 eine Vermehrung der Gesammt-
belegschaft nur um 55 pCt., dagegen eine solche der
jugendlichen Arbeiter überhaupt um nicht weniger als
80 pCt. stattgefunden hat - eine sehr ungesunde Erschei-
nung, besonders beim Bergbau! Allerdings rührt dieses
Gesammtergebniss von der beinahe 1 00 prozentigen Zu-
nahme der jugendlichen, 14 — 16jährigen Arbeiter her, wäh-
rend die Zahl der kindlichen, 12 — 14jährigen Arbeiter im
Ganzen abnahm, bis 1888 beinahe stetig, um 1889 90 wieder
etwas anzuschwellen und 1891 von Neuem abzunehmen.
Aber es ist jedenfalls eine hygienische Anomalie ersten
Ranges, dass auf preussischen Bergwerken überhaupt noch
ca. 300 Kinder, und darunter ca. 30 Mädchen, wenn auch
angeblich mit den leichtesten Arbeiten und lediglich über
Tage, beschäftigt werden können. Ferner ist die regel-
mässige Zunahme weiblicher jugendlicher Kräfte von 14
bis 16 Jahren kein erfreuliches Symptom. Der amtliche •
Kommentar für 1891 meint, die Erscheinung fände u. A.
„in dem Bestreben der Zechenverwaltungen, angesichts j
der hohen Löhne für Erwachsene durch Annahme jugend-
licher Arbeiter Ersparnisse zu erzielen, ihre Erklärung“. !
Die volksthümliche Sozialpolitik kann sich aber kaum bei
dieser „Erklärung“ beruhigen. An dieser Stelle müssen J
diese kurzen Erläuterungen zu dem erstmaligen Versuch, ,
eine nach Möglichkeit vollständige Uebersicht über die
Entwicklung der jugendlichen Arbeit auf preussischen
Bergwerken aufzustellen, genügen. Eingehendere For-
schungen über das Schwanken der einzelnen Ziffern in
den einzelnen Jahren, Bezirken und Grubenkätegorien sind
an andere Stelle und auf die Zeit zu verweisen, in welcher '
die preussischen Bergbehörden eine vollkommenere Ar-
beiterstatistik liefern werden, nachdem ihnen das Bild \
der gegenwärtigen, unvollkommenen zum ersten Male vor- 1
gehalten worden ist.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Bergarbeiterbewegung in Rheinland- Westfalen und im
Saarrevier. Neuerlich ist die Bergarbeiterbewegung in West-
deutschland aus zwei Ursachen wieder besonders lebhaft ge-
worden Zunächst fährt eine Anzahl von Zechen fort, mit Hin-
weisen auf die Misslichkeit der allgemeinen wirthschaftlichen
Lage Arbeiter zu entlassen und die Löhne der Beschäftigten zu
verringern. Namentlich das Organ der westfälischen Stein-
kohlengrubenbesitzer, der „Glückauf“ in Essen fordert ganz
offen zu Arbeiterentlassungen auf, indem es schreibt: „Die vor-
handene Arbeiterzahl steht in gar keinem Verhältnisse zur För-
derung, und es ist unbedingte Pflicht der Grubenverwaltungen,
die erstere ganz energisch zu reduziren. Sie können es mit
gutem Gewissen thun, denn sie sind nicht schuld daran, dass
dieselbe so über Gebühr gestiegen ist. Thun sie das nicht, dann
tragen sie selber die Verantwortung, wenn die Rentabilität der
Bergwerke binnen Kurzem in noch ungünstigere Bahnen kommt,
wie sie früher war.“ Diese Aulforderung scheint besonders be-
folgt worden zu sein auf der Zeche Herkules bei Essen; denn
die Belegschaft dieser Grube hat wegen unerwarteter Kündigung
einer Anzahl Kameraden schon mehrfach erregte Versammlungen
abgehalten. Ueber die letzte vom 17. Juli berichtet die „Köln.
Volksztg.“ Folgendes: „Zunächst berichtete ein Bergmann über
die am Mittwoch stattgehabte Besprechung der Deputation mit
No. 30.
S< )ZIALPOLITISCHES CENTRAT, BLATT.
373
dem Herrn Grubenrepräsentanten Funke. Letzterer sei den zu
ihm entsandten Bergleuten in so freundlicher Weise begegnet,
wie man das von keinem Beamten, selbst nicht dem untersten,
bisher erfahren habet!).. Die Deputation habe die Wünsche der
Belegschaft in Bezug auf die grossen Wagen, auf das Abbrechen
der Gedinge, die Verantwortlichkeit für gelieferte Gezähestücke,
Schichtdauer u. s. w. vorgebracht, und von Herrn Funke die
Erwiderung erhalten, dass das Vorgebrachte doch nur unter-
geordneter Natur sei (!). Eine bindende Zusage habe Herr Funke
nicht geben wollen, jedoch bemerkt, dass ihm sein Entgegen-
kommen von den Arbeitern nicht gut gelohnt sei. Das Eingehen
auf die früher vorgebrachten Wünsche derselben habe anscheinend
dahin geführt, dass er jetzt eine grosse Anzahl Sozialdemokraten
auf der Zeche habe. Letztere Ansicht des Herrn Grubenreprä-
sentanten bezeichnete Redner als nicht zutreffend. Ein folgender
Redner theilte mit, dass er am Freitag die Kündigung mit vielen
anderen Kameraden erhalten habe, tro tzdem er bereits sieben
Jahre auf „Herkules“ sei, sich niemals etwas habe zu Schulden
kommen lassen und sechs Kinder zu versorgen habe. Einen
Grund für die Kündigung habe man ihm nicht mittheilen wollen;
er werde denselben von dem Herrn Grubenrepräsentanten er-
fragen, der stets dem Arbeiter gegenüber human verfahren sei
und gewiss nicht mit dem Verfahren des Herrn Betriebsführers
einverstanden sei. Gegen Letzteren richteten die darauf folgen-
den Redner, welche durchweg verheirathet -und mit starker
Kinderzahl gesegnet sind, wegen der ihnen überreichten Kün-
digung und der ihnen zu Theil gewordenen Behandlung bittere
Klagen, welche nicht geringe Erregung hervorriefen. Von
mehreren Seiten wurde behauptet, dass gestern und vor wenigen
Tagen noch Leute angelegt worden seien. Die Zahl der Ge-
kündigten konnte nicht genau ermittelt werden, da den Leuten
die Kündigung einzeln ausgesprochen wurde; sie wird auf 50—70
angegeben. Wie es heisst, sollen alle diejenigen durch Kün-
digung bestraft werden, welche die letzten Versammlungen
besuchten. Ob die in Aussicht genommenen Schritte zur Rück-
gängigmachung der Kündigung von Erfolg begleitet sein werden,
erscheint fraglich. Die Thatsache, dass diese Belegschaftsver-
sammlung_ von etwa 300 Personen, also ungleich stärker besucht
war, als die früheren, lässt erkennen, dass die Unzufriedenheit
eine tiefgehende ist.“ Da sich leicht aus diesen Vorkomm-
nissen eine grössere Bewegung entwickeln kann, so wurden die
Einzelheiten genau mitgetheilt. Aehnlich liegen die Verhältnisse
im Saarrevier, nur dass man dort mehr zu Lohnreduktionen
allein, als zu Entlassungen greifen zu wollen scheint. So sind
auf der lothringischen Grube Kleinrosseln die Löhne soweit
heruntergesetzt worden, dass in letzter Zeit beispielsweise Tag-
löhne von 2,20 M. ausbezahlt wurden. Dabei wird von den Berg-
leuten beklagt, dass der durch das Vertrauen der Bergleute
gewählte Grubenausschuss sich der Sache nicht annimmt, über-
haupt seit den zwei Jahren seiner Wahl noch keine gemeinsame
Sitzung mit der Direktion gehabt hat Dieser Ausschuss dürfte
auch auf Lohnfragen kaum einen Einfluss haben; er steht be-
kanntlich vollständig unter der fiskalischen Verwaltung.
Neben diesen Vorkommnissen geht aber als zweiter Grund
für eine ziemlich heftige Bewegung die Unzufriedenheit eines
Theiles der westdeutschen Bergleute mit ihren Organisationen
Im Saarrevier scheint diese Unzufriedenheit allerdings mehr
künstlich genährt zu werden durch die Centrumspartei. Ein
in St. Johann erst dieser Tage von einem katholischen Rechts-
anwalt gemachter Versuch, den sozialdemokratischen Rechts-
schutzverein zu sprengen, scheiterte durchaus am Widerspruch
der Vertrauensmänner der Bergleute. Ernster sind dagegen wohl
die Differenzen im Lager der Bergarbeiter in Rheinland-
Westfalen zu nehmen. Wenigstens fand am 17. Juli d J. zu
Bochum eine sehr ernsthafte und gründliche öffentliche Be-
sprechung der Vertrauensmänner aus Rheinland und Westfalen
statt behufs Vorberathung zu der am 31. Juli stattfindenden
Generalversammlung des Deutschen Bergarbeiter-Ver-
bandes. Der Vorsitzende bat bei Eröffnung der Versammlung
die Erschienenen, alle persönlichen Angriffe im Interesse der
Sache zu vermeiden, damit die Versammlung zum Wohle des
Verbandes und aller Bergarbeiter zu einem gedeihlichen Ab-
schluss gelange. Nachdem von verschiedenen Vertrauensmännern
eine Abänderung des Statuts für durchaus nothwendig erklärt,
ferner die jetzige Leitung des Verbandes und die Haltung des
Verbandsorgans kritisirt und schliesslich ein ausführlicherer
Rechenschaftsbericht als bisher verlangt worden, wurde ein-
stimmig beschlossen , folgende Resolutionen der nächsten
Generalversammlung zur Beschlussfassung zu unterbreiten:
1. In Erwägung, dass durch das Vorgehen einzelner leitender
Personen im Verbandsvorstande der Verband geschädigt ist und
noch wird, spricht die Versammlung denselben ihren Tadel aus
mit dem Hinweis, dass es Pflicht des Vorstandes ist, den Ausbau
der gewerkschaftlichen Organisation des Verbandes nach Kräften
zu fördern und das Verständniss hierfür zu wecken. 2. Es wird
eine einjährige Wahlperiode und die direkte Wahl sämmtlicher
Vorstandsmitglieder verlangt 3 Das überflüssige Verbandsgeld
soll dem Vorstande des Consum Vereins leihweise für 2Va prozen-
tige Zinsvergütung zur Errichtung von Consumanstalten über-
lassen werden. 4. Das Verbandsbureau soll von Gelsenkirchen
nach Bochum verlegt werden 5 Die besoldeten Vorstandsmit-
glieder müssen stets auf dem Verbandsbureau anzutreffen sein.
Agitationsreisen sind von denselben an den Werktagenmur dann
zu unternehmen, wenn der gesammte Vorstand dieselben dazu
ermächtigt. Die Dienststunden sind an den Werktagen Morgens
von 3 — 12, Nachmittags von 2 -7 Uhr und Sonntag Morg( m on
8 — 11 Uhr 6. Der Verbandsvorsitzende hat vor dem Druck des
Verbandsorgans sich über den Inhalt desselben zu orientiren,
ob politische Anspielungen vorhanden sind und wenn dieses der
Falf ist, dieselben zu entfernen. Das Verbandsorgan soll nur
dem bergmännischen Interesse dienen und nicht für eine gewisse
Partei ausgebeutet werden. 7. Ein genauerer Rechenschafts-
bericht, wie früher, ist auszufertigen, in dem die einzelnen Ein-
nahmen und Ausgaben angeführt sind. 8. Die Verhandlungen
auf der Generalversammlung sind nicht früher abzubrechen, bis
dieselben zu Ende geführt sind. Desshalb werde, wenn nicht
ein Tag genügt, zwei zur Tagung derselben verlangt. 9. Die
Tagung der Vorstandssitzungen sind durch das Verbandsorgan
vorher anzugeben, damit auch Vertrauensmänner Theil daran
nehmen können. Abgelehnt wurden die Anträge über die Ueber-
nahme der Presse Seitens des Verbandes und Unterstützung der
gemassregelten Agitatoren und Vertrauensmänner aus der Ver-
bandskasse, weil jeder der Unterstützungskasse beitreten könne,
allseitig getheiltaber die Beschwerde darüber, dass der Verbands-
vorstand viel zu spät in die Agitation über die Berggesetz-
novelle eingetreten sei. Der unparteiische Beobachter muss
einen grossen Theil dieser sehr sachlich vorgebrachten Klagen
billigen.
Katholische Arbeitervereine in Deutschland. In No. 10
des Sozialpolitischen Centralblatts wurde über Pläne zur Re-
organisation der katholischen Arbeitervereine in Deutschland
berichtet. Jetzt bringt die neueste Nummer der Kölner Kor-
respondenz für die geistlichen Präsides der Katholischen Arbeiter-
vereinigungen eine Ergänzung der Statistik der katholischen
Arbeitervereine. Die frühere Statistik wies über 65 000 Mit-
glieder in 254 Vereinen auf; hierzu treten nun in der neuesten
Nummer noch 14 Vereine mit rund 2400 Mitgliedern. Eine ganz
genau bestimmte Zahl der sämmtlichen Vereine lässt sich nicht
gewinnen, da einzelne der in der ersten Zusammenstellung auf-
geführten Vereine auch in der neuesten, aber mit erhöhter Mit-
gliederzahl vertreten sind, andere keine Mitgliederzahl angegeben
haben, also auch nicht mitgerechnet werden können. In Süd-
deutschland haben sich 27 Vereine mit 6000 Mitgliedern zu
einem Verbände katholischer Arbeitervereine vereinigt. Es
giebt ausserdem noch 10 Vereine in Süddeutschland mit etwa
5000 Mitgliedern, welche dem Verbände nicht angehören, auch
nicht alle in der Statistik enthalten sind. In der früheren Graf-
schaft Mansfeld (Eisleben und Umgegend) bestehen 14 katho-
lische Arbeitervereine, die zusammen den Verband der Mans-
feld’schen katholischen Arbeitervereine bilden. Die Mitglieder-
zahl dieses Verbandes ist nicht angegeben; schätzt man dieselbe
auf nur 4000, so kann man die Gesammt-Mitgliederzahl der
sämmtlichen katholischen Arbeiter- Vereine Deutschlands mit
75000 Personen berechnen.
Statistik des schweizerischen Gewerkschaftsbundes.
Das Bundeskomitee des schweizerischen Gewerkschafts-
bundes versendet an seine Sektionen Erhebungsformulare
für Schaffung einer Lohn- und Arbeitsstatistik. Die Karten
sind für 13 Zahltage berechnet und beziehen sich die Fra-
gen auf den Zivilstand, Alter, Heimath, Wohnort und Beruf
(ob gelernt oder ungelernt), auch die Dauer der Innehabung
der jetzigen Arbeitsstelle, auch eventuell Verpflegung beim
Arbeitgeber und deren Preis, ebenso die Lohnform (ob
Akkord- oder Taglohn), auch eventuell Arbeitslosigkeit und
deren Ursachen (Krankheit, Arbeitsmangel u. s. w.) und
auch die Arbeitszeit.
Unternehmerverbände.
Deutscher Tabakverein. Bis vor Kurzem war die
Organisation der Lhrternehmer der deutschen Tabakbranche
eine sehr unvollkommene und zersplitterte. Erst am
29. Mai 1. J. wurden in Kassel die beiden Interessenten-
gruppen: der Verein deutscher Tabakfabrikanten und Händ-
ler (gegründet 1879, reorganisirt in Bremen 20. Juni 1890)
und die Vereinigung deutscher Tabak- und Cigarrenindu-
strieller (gegründet 1888) in eine, den deutschen Tabak-
verein, verschmolzen, dessen Organisation sich enge an die
deutsche Tabakberufsgenossenschaft und ihre fünf Sektionen
anlehnt Am 11. Juli d. Js. wurde nun in Heidelberg unter
dem Vorsitze von Thorbeck-Mannheim die Abtheilung 5,
umfassend Baden, Bayern, Württemberg und Elsass-Loth-
ringen konstituirt. Während der Gesammtverein bereits
ca. 700 Firmen als Mitglieder aufweist, gehören der Abthei-
374
No. 30.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
luno; 5 bis jetzt 120 Firmen an. Zu den Fragen, welche
auch weitere Kreise interessiren und welche diese Ver-
sammlung, die sich an eine Vollversammlung der Sektion V
der Tabakb.erufsgenossenschaft unmittelbar anschloss, be-
rieth, gehört speziell das neue Krankenversicherungsgesetz.
Nicht minder wurden auch die Bestimmungen der Sonntags-
ruhe_ eingehend besprochen. So sehr man derselben sym-
pathisch zugethan ist, fand man es doch bedauerlich, dass
der Cigarrendetailhandel darunter leiden muss, insoweit an
Sonn- und Festtagen Wirthe und andere Gewerbe im Ver-
kaute von Cigarren unbeschränkt sind. Es wurde ein-
stimmig eine Resolution in diesem Sinne angenommen.
Kaufmännische Bewegung.
Verbamlstag der kaufmännischen Vereine Württembergs.
Derselbe fand am 17. Juli d. J. in Ludwigsburg statt und be-
schältigte sich u. A. mit lehrreichen Erfahrungen bei der
Arbeit s- und Stellenvermittelung. Besonders wurde be-
tont,^ dass sich die Forderungen der Lfandelswelt immer mehr
auf Spezialitäten herausbilden und dass es ohne sehr gründliche
Branchekenntnisse schwer sei, günstige Anstellung zu finden;
auch tritt die Schwierigkeit hervor, im reiferen Alter stehende
Bewerber anzubringen, da fast 70 pCt. aller gesuchten Leute in
sehr jungem Alter stehen sollen, ca. 15 pCt. von 20 bis 25 Jahren,
ca. lOpCt. bis 30 Jahren alt gesucht würden, während sich nicht
vereinzelt selbst 50jährige Bewerber anmelden. Diese Zahlen
werfen sehr grelle Streiflichter auf die soziale Lage der deut-
schen Handlungsgehilfen. In Sachen des Lehrlingswesens
wurde beschlossen, auf ein gemeinsames Vorgehen zur Errich-
tung von Lehrstellenvermittelung hinzuwirken und dadurch die
Ablenkung ungeeigneter Kräfte vom Kaufmannsberuf, sowie von
übersetzten Lehren zu erzielen. Bei Besprechung der Sonn-
tagsruhe wurde die Unthätigkeit mancher Gemeindebehörden,
die Ortsstatute noch nicht erlassen haben, beklagt und das
Stuttgarter Ortsstatut als Muster empfohlen. Im klebrigen steht
der württembergische Vorstand mehr aut dem Boden der Selbst-
hilfe, ähnlich wie die Vereine der norddeutschen Seestädte, und
möchte gesetzliche Massnahmen zu Gunsten der Angestellten
möglichst vermieden haben. Deshalb entstand schliesslich eine
lebhafte Erörterung anlässlich des Berichtes des Vorsitzenden
über den Verbandstag der deutschen kaufmännischen Vereine
und des Vortragsverbandes vom 12 Juni in Köln. Die damaligen
Beschlüsse decken sich nicht in allem mit den württembergiscnen
Wünschen; der Kaufmannsstand möge sich mehr auf die eigene
Kraft stellen. Doch wurden eigene Beschlüsse gegen die Reso-
lutionen des Kölner Verbandstages, welche das Sozialpolitische
Centralblatt seiner Zeit mittheilte, nicht gefasst.
Handwerkerfragen.
Regelung der Lehrzeit im österreichischen Kleingewerbe.
Unterm 15. Juli d. Js. ist eine Verordnung des österreichischen
Handelsministeriums erschienen, welche die Bestimmungen über
die Dauer der Lehrzeit im Handwerke theilweise abändert. Auf
Grund der neuen Verordnung kann für Lehrlinge, welche eine
dreiklassige allgemeine Handwerkerschule absolvirt haben und
sich einem Gewerbe zuwenden, für welches sie in der bezüg-
lichen Werkstätte der Handwerkerschule oder unter der Auf-
sicht der Direktion derselben in einer Privatwerkstätte den
Handfertigkeitsunterricht mit Erfolg genossen haben, die Lehr-
zeit unter das zweijährige Minimum Iris zur Mindestdauer der-
selben von einem und einem halben Jahre herabgesetzt werden
In jenen Fällen, in welchen die Lehrzeit mehr als zwei Jahre
beträgt, kann dieselbe für die oben bezeichnten Lehrlinge
daher auch um mehr als ein halbes Jahr bis zur Mindestdauer
derselben von einem und einem halben Jahr herabgesetzt werden.
Bisher war überhaupt zum Betriebe eines handwerksmässigen
Gewerbes der Nachweis einer Lehrzeit von mindestens zwei
Jahren erforderlich. Durch die neue Verordnung wird für solche
Lehrlinge, welche eine dreiklassige allgemeine Handwerker-
schule absolvirt haben, die Minimaldauer der Lehrzeit um ein
halbes Jahr gekürzt.
Arbeiterversicherung.
Die Reform der österreichischen Bruderladen.
Wieder hat das österreichische Abgeordnetenhaus sich
mit einer Novelle — der dritten — zum Bruderladengesetze
vom 28. Juli 1889 zu beschäftigen gehabt. Die Hoffnungen,
welche sich an das letztere knüpften und die dahin gingen,
dass nunmehr nach jahrelangem Suchen der richtige Weg
zur Beseitigung der unhaltbaren Zustände der meisten
Bruderladen gefunden sei, haben sich als trügerisch er-
wiesen. Die österreichische Gesetzgebung steht wieder vor
dem ungelösten Problem, die Fehler der Vergangenheit in
einer Weise gutzumachen, dass die gegenwärtigen wie die
künftigen Ansprüche der Bergleute völlig gesichert werden.
Die Frage der Reform der Bruderladen spitzt sich eben in
Oesterreich zu einer Frage der Sanirung zu.
Selbstredend kann es sich nun dabei keineswegs blos
um die Deckung der heute schon vorhandenen Fehlbeträge
handeln. Rationeller Weise muss das Entstehen von Aus-
fällen für die Zukunft verhindert werden. Ein Modus, der
am gründlichsten zu solchen Resultaten führen könnte, wäre
eine Beseitigung der gegenwärtigen Organisation der Ver-
sicherung nach Betrieben und eine Ersetzung derselben
durch centralisirte Bruderladen. Völlig unbegreiflicher
Weise wurde und wird das Betreten dieses Weges mit
der grössten Beharrlichkeit perhorreszirt, gleich als wenn
das Gesetz der grossen Zahlen für Oesterreich keine Gel-
tung hätte. Mit der nichtssagenden Phrase von der Erhal-
tung der altehrwürdigen — freilich dem Bankerotte unaus-
weichlich verfallenen — Werkbruderladen glaubt man die
Durchführung der Invaliden-, Wittwen- und Waisenver-
sicherung in zwerghaften Institutionen rechtfertigen zu
können.
Das Schwergewicht wurde demnach auf die Beseitigung
des versicherungstechnischen Defizites gelegt, welches schon
im Jahre 1889 mit 21 Millionen Gulden beziffert worden ist.
Es dürfte von Interesse sein, hier die gesetzgeberischen
Sanirungsversuche zu skizziren, da ohne Kenntniss der-
selben die letzte Phase unverständlich bleiben würde.
Das Gesetz vom 28. Juli 1889 glaubte das Defizit durch
nachfolgende Massregeln beseitigen zu können. In erster
Linie sollte die Erhöhung der Beiträge, unter gleichzeitiger
Heranziehung der Unternehmer zur Tragung der Hälfte
der Prämie, vorgenommen werden. In zweiter Reihe sollte
eine Herabsetzung der künftigen Leistungen der Bruder-
laden bis auf die Hälfte des Minimalausmasses der §§ 4 und
5, daher der Invalidenrente auf 50 und 25 fl., der Wittwen-
und Waisenrente auf 16,66 und 8,33 fl. erfolgen dürfen.
Wenn auch dadurch das Gleichgewicht nicht hergestellt
wird, so ist der Werksbesitzer verpflichtet, zu diesem
Zwecke weitere jährliche Beiträge bis zur Höhe von 2 pCt.
der gesammten in seinem Werksbetriebe jeweils von ihm
bezahlten Arbeitslöhne und längstens auf die Dauer des
Lebens der durch das Defizit bedrohten Mitglieder und
Provisionisten zu leisten. Genügt auch dies nicht und wird
der Ausfall nicht freiwillig durch den Werksbesitzer ge-
deckt, so hat die Berghauptmannschaft eine den Bedürf-
nissen angemessene Reduzirung der liquiden Provisionen
anzuordnen.
Durch diese Massnahmen hoffte man das Defizit bis
auf einen Betrag von 4 Millionen Gulden zu beseitigen.
Es kam jedoch gar nicht dazu, die Probe auf das Exempel
zu machen. Die Werksbesitzer, auf deren Betreiben die
sog. individuelle Sanirung, das ist die Heranziehung der
Unternehmer lediglich zur Deckung des Defizites ihrer
Werksbruderladen, ins Gesetz Aufnahme gefunden hatte,
protestirten gegen die Durchführung der Massregel, als die
Regierung dieselbe verwirklichen wollte. Man schützte
Besorgnisse um allzuweit gehende Schädigung der Arbeiter
vor, während man in Wirklichkeit fürchtete, zu allzu grossen
Leistungen herangezogen zu werden. Dabei erklärte man
sich trotzdem zu allen nothwendigen Opfern bereit.
Die Regierung nahm die Montanindustriellen beim
Worte und legte nunmehr dem Parlamente einen neuen
No. 30.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
375
Plan fiir die Sanirung der Bruderladen vor. Von der An-
sicht ausgehend, dass die grösste Härte darin bestehe, dem
Arbeiter Opfer aufzuerlegen, die vorwiegend zur Deckung
der Ansprüche der bereits im Provisionsbezuge stehenden
Personen dienen, während gleichzeitig die eigenen An-
sprüche eine Reduzirung erfahren, schlug die Regierung-
Folgendes vor. An Stelle der früher auferlegten 2 pCt.
der ausgezahlten Lohnsumme sollte der Werksbesitzer nebst
der Beitragsleistung in der Höhe der Mitgliederbeiträge
auch noch die Zahlung der bis einschliesslich 31. Mai 1891
liquid gewordenen Provisionen und die zukünftigen An-
sprüche der Wittwen und Waisen der Provisionisten in
dem Masse aut sich nehmen, als nothwendig erscheint, um
eine Erhöhung der Beiträge der aktiven Mitglieder und
eine Herabsetzung ihrer Provisionsansprüche zu vermeiden.
Erst wenn auch durch diese Massregel und durch etwaige
freiwillige Beiträge des Unternehmers das Gleichgewicht
nicht herzustellen ist, solle der Rest des Defizites durch
eine Erhöhung der Beiträge der aktiven Mitglieder und
des Werksbesitzers oder durch Herabsetzung der künftigen
Leistungen gedeckt werden.
Die Belastung der Unternehmer rechtfertigt die
Regierungsvorlage damit, dass die Provisionisten im lang-
jährigen Dienste des Werkes invalid geworden sind und
dass die Werksbesitzer bisher meist zu den Lasten der
Bruderladen Nichts oder viel zu wenig beigetragen haben.
Ueberdies würden mit dem Wegsterben der Provisionisten
die Opfer, die von den Unternehmern zu tragen wären,
immer geringer, während sie jetzt, wo sie am grössten
sind, Dank der Lage der Montanindustrie sich nicht allzu
empfindlich fühlbar machen würden.
Dieser Vorschlag suchte somit die Herabsetzung der
liquiden Provisionen vollständig zu vermeiden und zieht
in erster Reihe zur Deckung des Defizites die Unternehmer
heran. Die „zu allen nothwendigen Opfern bereiten“
Grubenbesitzer vermochten aber auch an diesem Sanirungs-
plane kein Wohlgefallen zu finden Sie konnten in ihm
zwar nicht eine Verletzung der Interessen der Arbeiter
erblicken, dennoch waren sie bemüht, ihn durch einen
anderen zu ersetzen. Der Gewerbeausschuss des Abgeord-
netenhauses änderte in der That die Regierungsvorlage in
einer den Werksbesitzern günstigen Weise und unter-
breitete dem Plenum folgendes Projekt, das in seiner
Gänze Annahme gefunden hat.
Vor allem steht der Verwaltung der Bruderladen in
Gemeinschaft mit dem Werksbesitzer — beide fallen in der
Wirklichkeit zusammen — das Recht zu, einen Sanirungs-
plan, der den speziellen Verhältnissen der einzelnen Bruder-
lade angepasst ist, vorzulegen. Der Inhalt dieser Vorlage
ist nur durch die eine gefährliche Bestimmung beschränkt,
dass die Leistungen der Provisionskasse höchstens um
50 pCt. gegenüber dem Minimalausmasse der §§ 4 und 5
verringert werden dürfen. Dadurch ist den Unternehmern
eine Handhabe gegeben, die Sanirung unter ausschliess-
licher Berücksichtigung ihrer eigenen Interessen und auf
Kosten der Arbeiter durchzuführen. Sie können in erster
Linie die Kürzung der künftigen Ansprüche ins Auge
fassen; sie sind befugt, das Defizit ganz oder zum grossen
Theile den Bergleuten aufzuhalsen, ohne dass aus dem Wort-
laute des Gesetzes dagegen ein Einwand erhoben werden
könnte, sobald nur die Reduzirung der Provisionen das zu-
lässige Mass nicht überschreitet.
Der erste von der Novelle gewählte Weg stellt sich
sonach als eine offenbare Verschlechterung des Gesetzes
vom 28. Juli 1889 dar. Dass aber möglichst viele Unter-
nehmer selbst einen Sanirungsplan in Vorlage bringen, da-
für trägt der zweite Weg Sorge, der nur für den Fall ein-
zuschlagen ist, dass die Grubenbesitzer keinen selbständigen
Vorschlag machen. Es treten dann die Bestimmungen des
§ 41a in Wirksamkeit. Nach diesen ist zur Herstellung des
Gleichgewichtes zunächst eine Regelung der Beiträge und
künftigen Leistungen, letzterer unter Festhaltung des ge-
setzlichen Minimalausmasses, vorzunehmen, eine Reeelunar,
welche insbesondere in der Festsetzung fixer statt in Lohn-
prozenten ausgedrückter Beiträge, in einer Erhöhung der
letztem und in einer Abänderung der Abstufung der Pro-
visionssätze bestehen kann. Gelingt auf diesem Wege die
Herstellung des Gleichgewichtes nicht, so ist der bleibende
Bilanzabgang, sofern der Werkbesitzer sich zu freiwilliger
Deckung desselben nicht verpflichtet, durch 25- 30 jährige
Annuitäten zu tilgen, welche je zur Hälfte vom Werks-
besitzer und von den Versicherten zu leisten sind.
Können die Annuitäten nicht so hoch bemessen werden,
um das Defizit zur Gänze zu tilgen, so kann eine Ver-
ringerung derselben eintreten; dafür sind aber die künftigen
Leistungen der Provisionskasse für jene Mitglieder ent-
sprechend zu verringern, welche der Bruderlade am Tage
der bergbehördlichen Genehmigung des Statutes angehören.
Ein Vergleich zeigt, dass auch der zweite Weg eine
Verschlechterung gegenüber der Regierungsvorlage be-
deutet. Was diese als eine grosse Härte bezeichnet, dass
nämlich die aktiven Mitglieder zu Leistungen für die Pro-
visionisten herangezogen werden, gleichzeitig aber trotz
erhöhter Beiträge ihre eigenen Ansprüche vermindert
sehen, das ist geradezu die Basis, auf der sich der Sanirungs-
plan des Abgeordnetenhauses auf baut. Nicht mehr, wie
bei allen bisherigen Projekten, sollen die Werksbesitzer
allein den erheblichen Rest des Defizites decken, der nach
Erhöhung der Beiträge zurückbleibt, ein vollgemessen
Theil, die Hälfte, wird den Arbeitern aufgehalst und nicht
einmal die Sicherheit wird ihnen dabei gewährt, dass ihre
künftigen Ansprüche einer Reduktion unter das Minimal-
ausmass entgehen werden.
So endigt denn die Aktion, die unter dem tönenden
Titel: „Erleichterung der Lasten für die Arbeiter“ begonnen
hat, wie zu erwarten war: mit einer schweren Schädigung
der Bergleute. Dabei haben wir noch gar nicht in Betracht
gezogen, dass auch der Werksbeitrag bald in grösserem,
bald in geringerem Masse auf die Arbeiter überwälzt werden
dürfte. Anläufe dazu sind von einigen Grubenbesitzern seit
Beginn dieses Jahres, dem Zeitpunkte der Heranziehung
der Unternehmer zu Beitragsleistungen, bereits gemacht
worden, ohne dass die nichtorganisirten Knappen erfolg-
reichen Widerstand entgegenzusetzen vermocht hätten.
Ausser den schweren Lasten des neuen Sanirungs-
planes bringt die Novelle zum Bruderladengesetze, d*en
Wünschen der Grubenbesitzer willig Folge leistend, noch
eine Reihe weiterer Nachtheile für die Arbeiter.
Während es sich früher von selbst verstanden hat,
dass die Krankengelder wöchentlich auszuzahlen sind, geht
die Novelle vom Standpunkte aus, dass auch der kranke
Arbeiter dem Borgsystem preiszugeben ist: die Auszahlung
hat nämlich spätestens in den für die Lohnzahlungen be-
stimmten Terminen, also nach 4 bis 6 Wochen zu er-
folgen.
Bei der Umbildung der Statuten der Bruderladen
kann die Beitrittspflicht neu eintretender Hüttenarbeiter
ausgeschlossen werden. Es handelt sich dabei um die Er-
füllung eines Wunsches der Gewerke nach Auflösung der
Bruderladen, welche für Hüttenarbeiter bestimmt sind.
Dabei ist man den Wünschen in einer Weise nacho-ekom-
men, welche den geltenden Rechtsgrundsätzen Hohn spricht.
Es können nämlich Hüttenarbeiter, welche bereits als aktive
Mitglieder der Bruderlade angehören, ja sogar die im
Provisionsbezuge stehenden Bediensteten aus der
Bruderlade ausgeschieden werden. Dem wird nur die eine
Bedingung angehängt, dass die Provisionisten ausdrücklich
erklären, dass sie mit ihren Ansprüchen an die Bruderlade
vollkommen befriedigt sind und keine weiteren For-
derungen an dieselbe zu stellen haben.
Aktive Mitglieder können also bedingungslos ihrer
wohlerworbenen Rechte beraubt werden, für die sie jahre-
lange Zahlungen geleistet haben! Krüppel und Greise
können mit irgend einem beliebigen Betrage abgefunden
werden! Es ist schwer zu glauben, dass sich das Ab-
geordnetenhaus der Konsequenzen seines Beschlusses be-
wusst war, dass es sich insbesondere vor Augen hielt, eine
wie geringe Schutzwehr die Bedingung der Einwilligung
der Provisionisten für dieselben ist. Zum mindesten die
376
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 30.
Regierung hätte gegen eine Sanktionirung eines Rechte-
bruches Stellung nehmen müssen.
Einen weiteren Wunsch der Bergwerksbesitzer sucht
Art. III der Novelle zu erfüllen. Bergleuten solcher Werke,
bei denen zur Zeit der beginnenden Wirksamkeit der No-
velle eine Bruderlade nicht besteht, sind, wenn sie am
Tage der bergbehördlichen Genehmigung des Statutes das
40. Lebensjahr bereits überschritten haben, lediglich gegen
Betriebsunfälle und Krankheit versicherungspflichtig. Die
Versicherungspflicht dieser Personen erfährt auch im Falle
des Uebertrittes an ein anderes Werk keine Erweiterung.
Die Grubenbesitzer haben es sonach nicht nur ver-
standen, die Durchführung eines seit drei Jahren publizirten
Gesetzes zu verhindern, es ist ihnen auch gelungen, alle
jene Aenderungen durchzusetzen, die zur Abwälzung der
Lasten von ihren Schultern auf die der Arbeiter ihnen als
wünschenswerth erschienen sind. Sie können mit dem Er-
gebnisse ihrer Aktion zufrieden sein: Ob auch Regierung
und Parlament ein Recht haben, mit Befriedigung auf die
jüngste Novelle zum Bruderladengesetze zu blicken, das
dürfen wir wohl bezweifeln.
Wien. Leo Verkauf.
Jahresversammlungen deutscher Zwangskassenver-
hände. Die diesjährige Konferenz der „Freien Vereinigung
sächsischer Ortskrankenkassen“ wurde Ende Juni d. Js.
ab<>'ehalten Von allgemeinem Interesse ist eine Statistik
über die wirtschaftliche Lage von 109 zur Vereinigung
gehörenden Kassen, welche zu diesem Zweck dem \ orort
Mitteilung gemacht hatten. Es wird dadurch bekannt, dass
am Schlüsse des Betriebsjahres 1891 diese Kassen 268 107
Mitglieder hatten, welche die erhebliche Summe von
4 349 896 M. durch Beiträge aulbrachten. Hiervon sind
u. A. verausgabt worden für Krankenunterstützung an Mit-
glieder und deren Angehörige 1 268 425 M. oder 41,85 pCt.
der Ausgabe, für ärztliche Hilfe und Arzneien 1 167 866 M.
oder 38,1 pCt. der Ausgabe, 286 395 M. auf Verwaltungs-
kosten oder 9,3 pCt., für Krankenhausverpflegung 156 696 M.
oder 5,1 pCt. Im Ganzen sind für diese Zwecke, sowie
ausserdem noch für Wöchnerinnenunterstützung und Sterbe-
gelder von diesen 109 Kassen verwendet worden 3 063 316 M.
Einen sehr wichtigen Gegenstand für die Beratung der
Konferenz bildete der von einer Kommission festgestellte
Entwurf eines einheitlichen Statuts. Infolge der
Novelle zum Krankenversicherungsgesetz sind sämmtliche
Krankenkassen in die Lage gebracht, Aenderungen m ihren
Statuten vorzunehmen. Der durchberathene Entwurf soll
den Kassen zur Erleichterung bei Bearbeitung des Statuts
dienen. Die örtlichen Verhältnisse sollen nach wie vor
Beachtung finden. Mit nur wenigen Aenderungen wurde
der Kommissionsentwurf genehmigt. Ebenso soll der Vor-
ort für das nächste Jahr, Ortskrankenkasse Dresden, darüber
Erörterungen anstellen, welches von den empfohlenen
Quittungsbüchern der Kassenmitglieder als Einheits-
quittungsbuch zur Verwendung kommen soll. Eine
derartige Einrichtung soll den Versicherten Erleichterungen
bei Verlegung ihres Wohn- und Beschäftigungsortes ge-
währen. Mit vielem Interesse wurde ferner ein Antrag der
Ortskrankenkasse Dresden behandelt, welcher die Errich-
tung gemeinschaftlicher Rekonvaleszentenstationen
will. Die Berathung hierüber führte zur Einsetzung einer
Kommission, welche diese Angelegenheit betreiben wird.
Die weiteren Berathungen bezogen sich aut die Invaliditäts-
und Altersversicherung und auf die Handhabung der den
Ortskrankenkassen übertragenen Geschäfte für dieselbe.
Obwohl letztere die Kassen erheblich in Anspruch nehmen,
führte die Besprechung über den im Invaliditäts- und Alters-
versicherungsgesetz erläuterten Hausgewerbebetrieb des-
wegen zu lebhaften Aussprachen, weil diejenigen Arbeiter
und Arbeiterinnen, die das 70. Lebensjahr vollendet haben
und zum Bezug der Altersrente bei Erfüllung aller dafür
gestellten Bedingungen berechtigt sind, wegen einer diese
Lohnarbeiter betreffenden Entscheidung des Reichsver-
sicherungsamtes von der Versicherungspflicht ausgeschlossen
werden und daher die Altersrente ihnen nicht gewährt wird.
Die Versammlung beschloss, an den Bundesrath die Bitte
zu richten, von dem ihm durch § 2 des Invaliditäts- und
Altersversicherungsgesetzes zustehenden Recht Gebrauch
machen, Hausgewerbetreibende für versicherungs-
pflichtig zu erklären, ähnlich wie dies schon mit den
Hausarbeitern der Tabaksbranche geschehen ist. Ein an-
wesender Vertreter der sächsischen Regierung theilte mit,
dass die Ortskrankenkassen, wenn ihnen Quittungskarten
übergeben werden, zwar verpflichtet sind, diese entsprechend
aufzubewahren, die Kassen jedoch nicht verpflichtet werden
können, die ihnen nicht abgelieferten Karten einzufordern
Es wurde zu diesem Gegenstand noch betont, dass es
Pflicht jedes Versicherten sei, bei Aufgabe eines Beschäf-
tigungsortes von der betreffenden Kasse gegen eine Arbeits-
bescheinigung die niedergelegte Quittungskarte abzuver-
langen, um sie beim Eintritt in die neue Beschäftigung dem
Arbeitgeber einzuhändigen. Dadurch würde die bis jetzt
nothwendig gewordene Zeit und Kosten beanspruchende
Schreiberei an die Kasse des früheren Beschäftigungsortes
zur Erlangung der Quittungskarte vermieden werden. -
Auch die Ortskrankenkassen von Thüringen bilden einen
Verband, der zusammen 30 Kassen mit 66 Vertretern am
21. Juni in Gera vereinigt hatte. Bei dieser Versammlung
wurde erwähnt, dass Fürst Reuss Heinrich XIV. ein Ge-
nesungshaus in Niederndorf gegründet hat, welches den
Rekonvaleszenten in Waldluft Gelegenheit zur Erholung
nach schwerer Krankheit bietet. Man wünschte in der Nähe
jeder grossen Krankenkasse die Nachahmung dieses Vor-
bildes.
Zur Reform der deutschen Unfallversicherung. Mit
Bezug auf die in Vorbereitung befindliche Novelle zum
Unfallversicherungsgesetz bringen die Organe der Re-
gierung die folgende Mittheilung: „Die Berathungen über
die durch den Minister v. Bötticher in Aussicht gestellte
Novelle zum Unfallversicherungsgesetz werden gegenwärtig
sehr eifrig betrieben, um auf Grund ausführlicher statisti-
scher Erhebungen den Wünschen der Arbeitnehmer wie
der Arbeitgeber thunlichst entgegenzukommen. Die Aus-
dehnung der Unfallversicherung auf das Handwerk, welche
wiederholt gefordert wurde, scheint in der geplanten Aus-
führung aut Schwierigkeiten zu stossen, da, abgesehen von
den grösseren Betrieben, die zur Bildung einer Berufs-
genossenschaft wohl geeignet sind, die Kleinmeister nach
der gegenwärtigen Sachlage eine besondere Organisation
vielleicht erfordern könnten. Es ist früher schon die Rede
davon gewesen, dass die Behörden Bedenken tragen, die
Befugnisse der Berufsgenossenschaften zu erweitern, wäh-
rend es andererseits grösseren kommunalen Verbänden so-
gar gestattet wird, von der Berufsgenossenschaft sich los-
zusagen , sobald sie für leistungsfähig erklärt werden.
Unter diesen Verhältnissen wird man trotz mancher Ver-
änderungen im Einzelnen schliesslich auch bei der für
1893 geplanten Novelle eine organische Umgestaltung des
jetzigen Zustandes wohl nicht annehmen.“
Zur Statistik der deutschen Invaliditäts- und Alters-
versicherung. Wie der „Reichsanzeiger“ vom 20. Juli mittheilt,
betrug nach den im Reichsversicherungsamt angefertigten Zu-
sammenstellungen, welche auf den von den Vorständen der
Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalten und der vom
Bundesrath zugelassenen besonderen Kasseneinrichtungen ge-
machten Angaben beruhen, am 30. Juni 1892 die Zahl der seit
dem Inkrafttreten des Invaliditäts- und Altersversicherungs-
gesetzes erhobenen Ansprüche auf Bewilligung von Alters-
renten bei den 31 Versicherungsanstalten und den 9 vorhandenen
Kasseneinrichtungen 205 076. Von diesen wurden 158 246 Renten-
ansprüche anerkannt und 37 072 zurückgewiesen, 5617 blieben
unerledigt, während die übrigen 4141 Anträge auf andere Weise
ihre Erledigung gefunden haben.
Von den erhobenen Ansprüchen entfallen auf Schlesien
23 339, Ostpreussen 19 524, Brandenburg 15 664, Rheinprovinz
13 759, Hannover 11964, Sachsen-Anhalt 11321, Posen 10 474,
Schleswig-Holstein 7895, Westfalen 7709, Westpreussen 7557,
Pommern 6959, Hessen-Nassau 4423, Berlin 2157. Auf die 8 Ver-
sicherungsanstalten des Königreichs Bayern kommen 20733 Alters-
rentenansprüche, auf das Königreich Sachsen 8509, Württemberg
4638, Baden 3829, Gr. Hessen 3687, beide Mecklenburg 4191,
Thüringische Staaten 4276, Oldenburg 727, Braunschweig 1457,
Hansestädte 1322, Elsass-Lothringen 6236 und auf die 9 zuge-
lassenen Kasseneinrichtungen insgesammt 2726.
Die Zahl der während desselben Zeitraums erhobenen
Ansprüche auf Bewilligung von Invalidenrenten betrug bei den
31 Versicherungsanstalten und den 9 zugelassenen Kassenein-
richtungen insgesammt 19 859. Von diesen wurden 5591 Renten-
ansprüche anerkannt und 7861 zurückgewiesen, 5516 blieben un-
erledigt, während die übrigen 891 Anträge auf andere Weise
ihre Erledigung gefunden haben.
Von den erhobenen Invalidenrentenansprüchen entfallen
auf Schlesien 2937, Ostpreussen 1875, Rheinprovinz 1415, West-
No. 30.
SOZIALPOLITISCHES CENTE AI, BLATT.
377
preussen 1047. Hannover 1024, Brandenburg 872, Sachsen-Anhalt
753, Posen 734, Pommern 685, Westfalen 536, Hessen-Nassau 433,
Berlin 298, Schleswig-Holstein 285. Auf die 8 Versicherungs-
anstalten des Königreichs Bayern kommen 2670 Invalidenrenten-
ansprüche, auf das Königreich Sachsen 594, Württemberg 567,
Baden 562, Gr. Hessen 227, beide Mecklenburg 207, Thüringische
Staaten 304, Oldenburg 41, Braunschweig 105, Hansestädte 83,
Elsass-Loth ringen 432 und auf die 9 zugelassenen Kasseneinrich-
tungen zusammen I 173.
Unter den in den Genuss der Invalidenrente tretenden
Personen befanden sich 256, welche bereits vorher eine Alters-
rente bezogen.
Arbeiterversicheriing der Seeleute. In der am
17. Juli stattgefundenen Jahresversammlung der See-Berufs-
genossenschaft (Sektion VI) theilte der Vorsitzende, Geh.
Kommerzienrath Gibsone, mit, dass an das Reichsver-
sicherungsamt eine Petition gerichtet werden soll, man
möge die Verwaltung der Invaliditäts- und Altersversicher-
ung für Seeleute in die Hände der Berufsgenossenschaft
legen, da diese nur etwa ein Drittel der hierfür ausgesetzten
Summe (400 000 M.) beanspruchen werde. Seeleute würden
fast nie als solche 70 Jahre alt, da sie in späteren Lebens-
jahren zu andern Erwerbszweigen überzugehen pflegen.
Es ist zu bedauern, dass nur die Unfälle, welche an Bord
geschehen, rentenpflichtig sind, Krankheits- und Todesfälle
dagegen nicht. Grade die Seeleute sind, zumal in den
fieberreichen südlichen Zonen, zahlreichen Erkrankungs-
fällen ausgesetzt. Die Berufsgenossenschaft strebt auch
eine Berücksichtigung der Krankheitsfälle an.
Unfallversicherung- im Tiefbaugewerbe. Die deutsche
Tiefbauberufsgenossenschaft hielt am 12. Juli ihre diesjährige
ordentliche Genossenschaftsversammlung in Berlin ab, zu welcher
zahlreiche Vertreter von Gemeinden und Verbänden erschienen
waren. An die Mittheilung des Verwaltungsberichtes knüpfte
sich. eine erregte Erörterung über eine Agitation der Kreise,
Regierungen und Städte zu Gunsten einer besseren Vertretung
ihrer Interessen, die angeblich durch die Einschätzung der
Wegebauarbeiten benachtheiligt sein sollten. Die Behauptungen j
des Freiherrn v. Gemmingen, welcher den Standpunkt der kom-
munalen Verbände vertrat, wurden von dem Vorsitzenden Bau-
meister Bandke und anderen Vorstandsmitgliedern zahlenmässig
widerlegt. Ein Antrag auf Aenderung des Kapital-Deckungs-
verfahrens in das Umlage verfahren wurde nicht angenommen,
der Vorstand aber ermächtigt, alle möglichen Schritte zu thun,
um durch Heranziehen aller wirklichen Tiefbauten und die
schärfere Fassung des Begriffs der Nebenbetriebe eine Besse-
rung der gegenwärtigen Lage herbeizuführen. Die zweite Re-
vision des Gefahrentarifs wurde mit der Massgabe angenommen,
dass falls das Reichsversicherungsamt zu den vorgeschlagenen
Abänderungen seine Zustimmung versagt oder selbst Äende-
rungen vornehmen sollte, der alte Tarif vorab noch ein Jahr bei-
zuhalten sei. Aus der neunstündigen Verhandlung sei nur noch
hervorgehoben, dass die Pensiomrung der Beamten der Ge-
nossenschaft im Prinzip beschlossen, dem Ausscheiden mehrerer
Staaten (Bayern, Reuss j. L., Schwarzburg-Rudolstadt) die Zu-
stimmung prinzipiell versagt und die Beschaffung eines eigenen
Geschäftshauses abgelehnt wurde. Betreffs der Beiträge der
Mitglieder, die für einzelne jährlich 120 000 bis 150 000 Mk. be-
tragen, wurde durch einen Vertreter des Berliner Tiefbauvereins
mit Erfolg der Gesichtspunkt der Billigkeit geltend gemacht
und ein Beitrag von etwa 40 000 Mk., der zum Theil durch eine
zu hohe Schätzung herbeigeführt war, auf ein ]ahr gestundet.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung
Missstände in Fabrikwohiningen. Welche Missstände
vielfach auch in sog. „Wohlfährtseinrichtungen“ der Unter-
nehmer namentlich in von ihnen errichteten Arbeiterwoh-
nungen existiren, davon giebt neben dem Berichtsband der
preussischen Gewerberäthe für 1891 der Bericht des Fabrik-
inspektors im Herzogthum Sachsen-Alten bürg für 1891
einen drastischen Beleg. Dieser Aufsichtsbeamte schreibt:
„Leider muss ich zum Schluss auch von einem Falle be-
richten, wo eine von einer grösseren Fabrik getroffene
Einrichtung, ihren unverheiratheten Arbeitern Unterkunft
zu gewähren, infolge der mangelnden Aufsicht kaum noch
als eine Wohlthat bezeichnet werden konnte. Die Fabrik,
in der viele auswärtige Arbeiter, vor allem Polen, beschäf-
tigt werden, hat ein Schlafhaus eingerichtet, in dem unge-
fähr 200 Leute beiderlei Geschlechts unentgeltlich ein-
quartirt sind. Bei einer Revision stellten sich dort ganz
unhaltbare Zustände heraus. Die einzelnen Stuben waren
überfüllt (in einem Zimmer von 50 cbm Rauminhalt wohn-
ten z. B. 10 Mädchen); die Trennung der beiden Ge-
schlechter war nicht ausreichend streng durchgeführt; in
der Abtheilung der Männer besonders starrte alles vor
Schmutz; die Bettwäsche, die nur alle 8 Wochen gewechselt
wurde, war von der traurigsten Beschaffenheit, die Aborte
gleichfalls in einer kläglichen Verfassung u. s. w. Dazu
lag die Aufsicht in der Hand eines Hausmeisters, der nur
durch die wüstesten Schimpfworte seinem Regiment Nach-
druck verschaffen zu können meinte. Es wurde die
sofortige Beseitigung all der angeführten Uebelstände ge-
fordert, von der Fabrik auch sofort in Angriff genommen,
und es konnte dann binnen Kurzem bei den von dem Be-
zirksarzte, sowie von dem Unterzeichneten vorgenommenen
Revisionen ein befriedigender Zustand des Schlafhauses
festgestellt werden.“
Wohmingszustände in Frankfurt a. Main. Der Ma-
gistrat der Stadt Frankfurt a. Main hat jetzt zum ersten
Mal eine erschöpfende statistische Beschreibung der Stadt
veranlasst. Dieselbe ist in ihrem ersten Theile, bearbeitet
von Dr. Bleicher, Vorsteher des Statistischen Bureaus, er-
schienen, und behandelt u. A. auch die Bauthätigkeit in
den Jahren 1880/91. Bei Gegenüberstellung der beiden
Perioden 1880/85 und 1885/90 ergiebt sich, dass die Häuser
mit 4 Obergeschossen — höhere sind, nach der Bauordnung
nicht zulässig — , welche 1880/85 wenig mehr als ein Viertel
aller neuentstandenen Wohnhäuser umfassten, 1885/90 nahezu
die Hälfte ausmachten, und dass andererseits die Zahl der
kleineren Wohnungen bis zu 3 Zimmern in der früheren
Periode massig über ein Drittel, in der späteren noch mehr
wie die Hälfte des gesammten Angebots an neuen Woh-
nungen betragen hat. In dem sich anschliessenden Jahr-
gange 1890/91 traten die geschilderten Verhältnisse ebenso
prägnant zu Tage. Man sieht also, dass sich auch hier die
Wohnungsverhältnisse immer mehr verschlechtert haben
schon mit Bezug auf die Qualität der angebotenen Woh-
nungen. Ueber die Bewegung der Miethpreise der neuen
Wohnungen innerhalb des verflossenen Jahrzehntes konnten
Untersuchungen nicht mehr angestellt werden, dagegen hat
man Zahlenmaterial gesammelt, welches sich auf das Jahr
1889/90 bezieht. Hiernach stellen sich die Durchschnitts-
preise für eine Wohnung
2
von
3
4
im Stadttheil
heiz'
aren Zimmern
M.
M.
M.
Südwesten
368
535
752
Westend
398
590
820
Nord westen
509
543
801
Nordend
374
504
659
Nordosten
360
488
718
Ostend
335
517
766
Aeusseres Sachsenhausen . .
265
489
828
im Durchschnitt für die ganze Stadt
364
526
754
Die Wohnungen mit nur 2 Zimmern sind hiernach in
Sachsenhausen am billigsten, im Nordwesten auffallend
theuer; bei den dreizimmerigen sind die Preisschwankungen,
abgesehen vom Westend, keine grossen. Die vierzimme-
rigen Wohnungen scheinen im Nordend, entsprechend der
grösseren Zahl leerstehender Wohnungen, am billigsten zu
sein. Leerstehende Wohnungen wurden am 1. Dezember
1890 1260 gezählt, und zwar mit: 1 Zimmer 89, mit 2 Zim-
mern 198, mit 3 Zimmern 335, mit 4 Zimmern 251, mit 5
Zimmern 174, mit 6 und mehr Zimmern 213. Von diesen
entfallen auf: die Altstadt 104, die westliche Neustadt 69,
die nördliche Neustadt 50, die östliche Neustadt 89, Süd-
westen 120, das Westend 64, Nord westen 148, das Nordend
221, Nordosten 117, das Ostend 76, Alt-Bornheim 48, Inneres
Sachsen hausen 29 und äusseres Sachsenhausen 89 Woh-
nungen.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
378
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OF POLITICAL AND SOCIAL SCIENCE.
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Preis 1 M. 50 Bf.
Verantwortlich für den Anzeigentheil: O. Schuchardt in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 1. August 1892.
Nummer 31.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
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Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHAL T
Die Durchführung der kauf-
männischen Sonntagsruhe
im Deutschen Reiche. Von
Dr. Max Quarck.
Soziale Wirtschaftspolitik u.
W irthschaftsstatistik :
Die Auswanderung aus Oesterreich-
Ungarn. Von Prof. Dr. Ernst
Mischler.
Staatlicher Arbeitsnachweis in
Neu-Seeland. Von Staatssekretär
Edward Tregear.
Die Reichspostverwaltung und die
Vereinsfreiheit.
Hausindustrie und Fabrikindustrie.
Berufsgenossenschaften und Berufs-
sekretäre in der Schweiz.
Arbeiterzustände :
Lohn- und Arbeitsverhältnisse der
Böttcher Deutschlands.
Ergebnisse der Fabrikaufsicht auf
dem thüringer Wald.
Politische Arbeiterbewegung:
Kongress zur Organisirung der
italienischen Arbeiterschaft.
Gewerbeinspektion :
Bergbauinspektoren in Oesterreich.
Arbeiterversichernng:
Reorganisation der deutschenUnfall-
versicherung.
Die eingeschriebenen Hilfskassen
und die Krankenversicherungs-
novelle.
Gewerbegerichte, Einigungs-
ämter u. Arbeiterausschüsse:
Die österreichische parlamenta-
rische Enquete über Arbeiteraus-
schüsse etc.
Die Gewerbeschiedsgerichte in
Belgien.
Wohnungszustände und Woh-
nungsgesetzgebung :
Bau von Arbeiterwohnungen aus
den Ueberschüssen der deutschen
Invaliditäts- und Altersversiche-
rung.
Wohnungsuntersuchung in Braun-
schweig.
Die Zahl der Wohnungen und
Haushaltungen in Belgien.
Soziale Hygiene:
Statistik der Schankstätten in
Berlin.
Eingesendete Schriften
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Durchführung der kaufmännischen Sonn-
tagsruhe im Deutschen Reiche.
Darüber, wie sich die Vorschriften über die kauf-
männische Sonntagsruhe im Deutschen Reiche auf Grund
des § 105 b, Absatz 2 der neuen Gewerbeordnung der
kaiserlichen Verordnung vom 28. März dieses Jahres, sowie
auf Grund der Anordnungen provinzieller und lokaler
Behörden im Grossen und Ganzen am 1. Juli dieses
Jahres gestaltet haben, sind die Leser des Sozial-
politischen Centralblattes ziemlich vollständig unterrichtet
worden, ln Preussen und Hessen ist fast allgemein zwei Uhr,
in Sachsen, Bayern, Württemberg und Baden, sowie den
thüringischen Staaten sind vielfach auch spätere Zeiten als
Schliessstunde für die fünfstündige Sonntagsarbeit im Han-
delsgewerbe bestimmt worden; zahlreiche Ausnahmen für
Lebensmittel Verkaufsgeschäfte gehen nebenher. Nur in
wenigen Städten, die das Sozialpolitische Centralblatt
ebenfalls mittheilte, fand durch Ortsstatut eine Verkürzung
der Arbeitszeit auf unter 5 Stunden statt; Süddeutschland
stellt hier fast alle diese Plätze und zeichnet sich dadurch
vortheilhaft vor Norddeutschland aus. Bei der Kürze der
Geltung jener Vorschriften wäre es nun unter anderen
Umständen kaum geboten, jetzt, vier Wochen nach dem
Inkrafttreten, bereits auf die Art und Weise einzugehen,
in welcher die behördlichen Vorschriften durchgeführt wer-
den. Allein gerade die Durchführung der kaufmännischen
Sonntagsruhe hat, wie die kaum einer anderen sozialpoli-
tischen Reform vorher, eine so heftige Bewegung in den
Interessentenkreisen, vorwiegend bei den Geschäftsinhabern,
hervorgerufen, dass es nicht überflüssig erscheint, die An-
gelegenheit einmal von der Warte des ruhigen Beobach-
ters zu überschauen und darzustellen.
Gar keine Schwierigkeiten macht augenscheinlich die
Durc' führung der kaufmännischen Sonntagsruhe in den
Comptoren der Bank-, Engros- und Fabrikgeschäfte.
Selbst aus den Städten, in welchen die Arbeitszeit durch
Ortsstatut auf 2 bis 3 Stunden beschränkt oder für Comp-
tore ganz verboten ist, kommen nicht die geringsten
Klagen. Es zeigt sich eben, dass hier die Gestattung der
Sonntagsarbeit überhaupt nicht nothwendig gewesen wäre,
und es behalten Diejenigen Recht, welche von vornherein
einer differentiellen Behandlung des Gross- und Klein-
geschäftes das Wort redeten. In Frankfurt a. Main z. B.
sind eine Reihe einsichtiger Prinzipale des Grossgeschäftes
aus freien Stücken zum völligen Schluss übergegangen,
nachdem die Arbeitszeit durch Ortsstatut auf 2XL Stunden
beschränkt und auf die unbequeme Zeit von x/2\ 1 bis 1 Uhr
Mittags verlegt war, und mehrere Mitglieder der Frank-
furter „Effektensozietät“, welche bisher in den Winter-
monaten den Sonntags börsen verkehr hauptsächlich ver-
mittelt haben, für eine ausserordentliche Generalversamm-
lung vom 8. August d. Js. ebenfalls den gänzlichen Schluss
beantragten. Auch für Berlin wurde der „Voss. Ztg.“ vom
13. Juli d. Js. geschrieben: „Man öffnet die (Engros- und
Fabrik-) Geschäfte meistens an Sonntagen überhaupt nicht
mehr“, während der Münchener „Allg. Ztg.“ gemeldet
wurde: „In Berlin dürfte betreffs der Handhabung der
Sonntagsruhe in der Bankbranche ein einheitlicher Modus
nicht statthaben. Die meisten Banken des Platzes, sowie
eine Anzahl grösserer Firmen werden ihre sämmtlichen
Büreaus künftig am Sonntag vollständig geschlossen halten,
während in anderen Geschäften in den behördlicherseits
gestatteten Morgenstunden die nothwendigsten Arbeiten er-
ledigt werden sollen. Eine wesentliche Förderung der Ar-
beiten ist hiervon jedoch kaum zu erwarten, da zu der
frühen Stunde die zur Erledigung der Arbeiten erforder-
liche Post noch nicht in den Händen der Empfänger ist.“
Aber die Hoffnung, dass die wohl in der Minderzahl
befindlichen „anderen Geschäfte“ mit der Zeit ebenfalls
380
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 31.
auf die Sonntagsarbeit gänzlich Verzicht leisten, wird frei-
lich getrübt durch eine Bewegung, die auf eine Anpassung
der Poststunden an den Vormittagsverkehr der Comptore
hinarbeitet und allem Anscheine nach gerade von solchen
Grossgeschätten ausgeht, die an einigen Arbeitsstunden für
den Sonntag festhalten möchten. Schon Ende Juni wurde
in der Berliner „Deutschen Volkswirtschaftlichen Correspom
denz“sehr ärgerlich darauf hingewiesen, dass dieNachmittags-
stunden von 5 — 7 Uhr dem Kaufmann Nichts mehr nützen
würden. Unter Hinweis auf den in Berlin um 2Uhr Nachmittags
eintretenden Geschäftsschluss heisst es: „Die sonderbare
Konsequenz dieser Einrichtung ist nun die, dass der Kauf-
mann zwar durch seine Angestellten an Sonn- etc. Tagen
in zeitlich beschränktem Umfange dringliche Arbeiten aus-
führen lassen darf: aber es hilft ihm nichts, wenn er von
dieser „Freiheit“ Gebrauch macht, da er die fertig gestellte
Korrespondenz, Geldsendungen, Packete etc der Post nicht
übergeben kann. Es müssen diese Dinge vielmehr bis
Montag hegen bleiben, d. h. da die Hauptzüge meist
Nachts laufen, gehen volle 24 Stunden verloren, und die
ganzen, angeblich auf das wirkliche Bedürfniss des Ge-
schäftsverkehrs Rücksicht nehmenden, als zulässig erklärten
Ausnahmen vom Sonntagsarbeitsverbote haben nach dieser
Richtung hin gar keine Wirkung.“ Als praktische Conse-
quenz dieser geschäftseifrigen Betrachtungen ist die schon
erwähnte Petitionsbewegung anzusehen, die bei allen
deutschen Handelskammern von derjenigen in Bonn an-
geregt wurde und zum Anschluss an eine Eingabe beim
Bundesrath bezw. Reichskanzler auffordert, in welcher um
Oeffnung der Postschalter „während einer Stunde nach
dem Hauptgottesdienste“ gebeten wird. Einzelne Handels-
kammern, so die von Frankfurt a. Main, wenden sich ausser-
dem an die lokale Postbehörde und verlangen die Oeffnung
der Schalter von 11 — 1 Lhr, also sogar während zweier
Stunden. Von einem Wegfall der Dienststunden, die bis-
her von 5 — 7 Uhr Nachm, lagen, ist, soweit man sehen
kann, nur in der Eingabe der Handelskammer Karlsruhe
die Rede, so dass es den Anschein gewinnt, als wolle man
den Postbeamten zu Gunsten des kaufmännischen Geschäfts-
nutzens am liebsten eine dreifache Sonntagsdienstzeit zu-
muthen. Die obersten Behörden werden diesen Gesichts-
punkt mit Hinblick auf ihre vielgeplagten Beamten jeden-
falls beachten, ebenso wie den anderen, dass die Oeffnung
der Schalter von 11 — 12 oder 11 — 1 Uhr Mittags eine
Verewigung der Sonntagsarbeit in den Comptoren be-
deutet, während sonst die Verhältnisse sich ohne Zweifel
allmählich zur völligen Beseitigung der Sonntagsarbeit in
den Comptoren entwickeln dürften.
Wenn sich also die Inhaber der Engros-, Bank- und
Fabrikgeschäfte den neuen Vorschriften ziemlich leicht an-
passen, so gilt das Gegentheil von einem grossen, jeden-
falls sehr lauten Theil des Inhabers offener Verkaufs-
geschäfte. Ausgeschieden seien hier von vornherein die
Barbiere und Friseure, die zum Theil durch eine irr-
thümliche Auffassung der Behörden (z. B. in Frankfurt a. M.)
als mit ihrem ganzen Geschäftsbetrieb unter § 105b, Abs. 2
der G.-O. fallend betrachtet und auf diese Weise in eine leb-
hafte Gegenagitation hinein getrieben wurden. Nach der
richtigen Auffassung fällt ausschliesslich ihr kleiner, neben-
sächlicher Handelsbetrieb unter die kaufmännische Sonn-
tagsruhe, nicht ihr handwerksmässiger Hauptbetrieb, der
erst durch die später in Kraft zu setzenden Sonntagsruhe-
vorschnften für Industrie und Kleingewerbe geregelt wer-
den wird. In dieser Richtung haben die Behörden auch
ihren Irrthum korrigirt; in Frankfurt a. M. wollen die Be-
troffenen deshalb Schadenersatzklagen (pro Sonntag 6 M.
\ erlust) anstrengen. Wenn daneben bezüglich des kauf-
männischen Betriebes der Friseure aus Spandau der „Voss.
Ztg.“ unterm 6. Juli gemeldet wurde: „Vierzehn Inhaber
hiesiger Barbiergeschäfte , welche nebenbei noch einen
Handel mit kleinern Gebrauchsgegenständen, auch Cigarren
etc. betreiben, haben ihr Gewerbe abgemeldet; da sie an
den Sonntagen während der Hauptgeschäftszeit fortan
nichts verkaufen dürfen, so glauben sie, dass der Handel
nicht mehr lohnend genug sein werde, um dafür etwa 50 M.
Abgaben jährlich zu entrichten, und sie geben ihn daher
auf“ so dürfte das Verschwinden dieser kaufmännischen
Zweiggeschäfte im Nebenbetrieb volkswirthschaftlich kaum
zu beklagen sein, ebenso, wie das Sonntagsverbot für Hau-
sirer, so traurig es auch zunächst wirken mag, vielleicht
eine reinigende Wirkung ausübt.
Dafür macht der mit der Sonntagsruhe unzufriedene
1 heil der Ladeninhaber in beinahe allen Gegenden des
Reichs, namentlich aber in Nord- und Nordwestdeutsch-
land sehr energische Opposition gegen die neuen Vor-
schriften. Volle Berechtigung darf man ohne Weiteres den
Beschwerden über die unhaltbaren Folgen der Regelung
nach Regierungsbezirken oder Provinzen zugestehen. Auch
die kaufmännische Sonntagsruhe wird sicher sehr bald ein-
heitlich vom Reich festgesetzt werden müssen, — das be-
stätigen diese Erfahrungen von Neuem. Nur ein Beispiel
für viele: nach den in Berlin gütigen Polizeivorschriften
schliessen die Bäcker ihre Läden von zehn bis zwölf L’hr
Vormittags und von drei Uhr Nachmittags ab, im Kreise
Teltow dagegen sind die Zeitpunkte des Oeffnens und
Schliessens auf anderthalb Stunden früher verlegt worden
Dies hat im Süden Berlins eine eigenartige Wirkung her-
vorgebracht. Der Kottbuserdamm gehört mit der einen
Seite zu Berlin, mit der andern zu Rixdorf. Nachdem die
Bäcker des letzteren Ortes um 1 1/2 Uhr geschlossen hatten,
suchten deren Kunden die Berliner Geschäfte auf, welche
bis drei Uhr verkauften. Das ist nicht haltbar, und es wird
begreiflich, dass der Kommunalverein der östlichen Char-
lottenburger Stadtbezirke schon in der zweiten Juliwoche
an den Regierungspräsidenten die Bitte richtete, eine ein-
heitliche Regelung der Sonntagsruhe in Berlin und Char-
lottenburg durch Festsetzung gleicher Geschäftsstunden
herbeizuführen und dadurch die grossen Nachtheile abzu-
wenden, welche den Charlottenburger Kaufleuten in den
östlichen Stadtbezirken dadurch drohen, dass die Geschäfte
in dem angrenzenden Berlin Sonntags Vs Ws 1 Vs Stunde
später geschlossen werden. Eine solche einheitliche Rege-
lung muss eben zunächst im ganzen Umkreise von Berlin
und später im ganzen Reiche eintreten. Damit verschwindet
dann vielleicht auch ein Theil der Klagen, die in lärmen-
dem Durcheinander namentlich von den Lebensmittel- und
Zigarrenhändlern vorgetragen werden. In der Haupt-
sache richtet sich freilich der Widerstand einzel-
ner Kleinhändlergruppen gegen die Beschränkung
der bisherigen Sonntagsarbeit überhaupt. Spezerei-
händlern in Essen z. B. sind fünf Stunden Verkaufszeit zu
wenig; sie wollen wohl in der Zeit von 10—12 Uhr Vor-
mittags, während des dahin zu verlegenden Hauptgottes-
dienstes schliessen, aber sonst den ganzen Sonntag auf-
behalten. Dass diese Forderung übertrieben ist, zeigt eine
zweite Eingabe Essener und Dortmunder Kauf leute, die den
Gottesdienst auf die Zeit von 7 — 9 Uhr Vormittags und die
Verkaufszeit auf 9 — 2 Uhr Nachmittags verlegt haben will.
Im Interesse ähnlicher Wünsche erliess der Regierungs-
präsident zu Oppeln bereits eine Verfügung an die Land-
räthe seines Bezirks, nach welcher die gottesdienstliche
Pause nicht übermässig auszudehnen ist, damit für den
Verkehr möglichst viel Zeit übrig bleibt. Während die
ministerielle Ausführungsverordnung vorschreibt, dass für
den Colonialwaarenhandel keine Ausnahmen zu gewähren
sind, wollen die bezüglichen Interessenten einzelner Aussen-
No. 31.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
381
viertel in Magdeburg und Frankfurt a. M. den Verkauf in
einigen Abendstunden erlaubt haben. Um die Festsetzung
der Zeit drehen sich auch die Forderungen der Bäcker in
Düren, die neben den sonstigen 5 Stunden bis 2 Uhr auch
noch Verkaufszeit von 7 — 9 Uhr Abends haben wollen,
während umgekehrt die Bäcker in Frankfurt a. M. be-
haupten, kein Interesse an den Abendstunden von 5-6 Uhr
zu haben, sondern lieber bis 3 Uhr Nachmittags offen halten
wollen. In Karlsruhe verlangen Bäcker, Conditoren und
Metzger eine Ausdehnung der Arbeitszeit auf Nachmittag
und Abend, in Hessen finden sich Gewerbevereine, die
solche Forderungen vertreten. Aus diesen verschiedenen
Begehren bleibt unseres Erachtens lediglich das Bestreben,
durch allerlei Ausnahmen die alte, missbräuchliche
Ausdehnung der Sonntagsarbeit wieder herzu-
stellen und die Profitsucht der Geschäftsinhaber, ohne jede
Rücksicht aut die Interessen der Hilfsarbeiter jede mögliche
Verkaufszeit am Sonntag herauszuschlagen. Klagen des
Publikums, des Hauptbetheiligten, auf welches sich die
Kleinhändler regelmässig berufen, sind so gut wie gar
nicht laut geworden, höchstens bezüglich des Milch-
handels für Säuglinge, den die Behörden in Berlin deshalb
fast unbeschränkt gestattet haben, sowie bezüglich der
Collision einer zu späten Lohnzahlung (Samstag Abend)
an gewerbliche Arbeiter mit der Beschränkung des Sonn-
tagsverkaufsgeschäftes, die eine Festsetzung des Lohnzahl-
tages auf Freitag Abend durch Ortsstatut räthlich erscheinen
lässt. Für die unkontrolirbaren Verlustlisten, die einzelne
Detailhändler, wie es scheint namentlich der Manufaktur-
und Zigarrenbranche, in den Lokalblättern veröffent-
lichen, gilt das Wort des Vorsitzenden des Karlsruher
Bezirksrathes und des Präsidenten der Handelskammer
von Pforzheim , die den Interessenten sehr richtig
sagten, dass die an wenigen Sommertagen gemachten
Erfahrungen nicht genügen , um ein abschliessendes
Urtheil zu fällen. Wie lärmende Versammlungen in
Berlin gezeigt haben , widersprechen sich auch heute
noch in der Branche , welche die lautesten Klagen
erhebt, im Zigarrenhandel, die Ansichten der Prinzipale
vollständig. Desto bedauerlicher ist es freilich, wenn in
Bayern und Baden doch bereits behördliche Zugeständ-
nisse an die Inhaber offener Verkaufsgeschäfte gemacht und
die fünf Arbeitsstunden ganz gegen den Geist des Reichs-
gesetzes bis in die späten Nachmittagsstunden verlegt
werden. Die preussischen Behörden werden an einer inter-
essanten Stelle eine Kraftprobe abzulegen haben: Freiherr
von Stumm hat sich im Saarrevier an die Spitze einer Be-
wegung von Detailhändlern gestellt, die auf dem Umwege
des Ortsstatuts für Saarbrücken und St. Johann die vom
Regierungspräsidenten blos bis 2 Uhr erstreckten Arbeits-
stunden bis weit in den Nachmittag verlegt haben wollen.
Nicht mit der zeitlichen Ausdehnung, sondern mit der
Konkurrenzfrage beim sonntäglichen Detail verkauf be-
schäftigt sich schliesslich eine weit mehr berechtigte Be-
wegung der Kleinhändler gegen den Lebensmittelverkauf
in Gasthäusern und Schankstätten. Hier sind Uebel-
stände vorhanden, denen mit der Zeit begegnet werden
muss, ohne dass übrigens die Sonntagsruhe puritanisch
gemacht zu werden braucht. Den Zigarrenhändlern könnte
jetzt schon Beruhigung dadurch geboten werden, dass der
Sonntagsverkauf von Zigarren in Wirthshäusern gänzlich
untersagt würde; denn das stundenweise Verbot lässt sich
nicht kontrolliren. Im Uebrigen aber trifft wohl die Ver-
fügung des Berliner Polizeipräsidenten das Richtige, die
besagt: „Der Betrieb des Gast- und Schankwirthschatts-
gewerbes, welcher nach § 105 c der Gewerbeordnung von
den Bestimmungen über die Sonntagsruhe berührt wird,
begreift es in sich, dass diejenigen zum Genuss fertigen
Speisen und Getränke, welche im Lokale an anwesende
Gäste verabfolgt werden, auch an Personen, welche es vor-
ziehen oder genöthigt sind, ausserhalb der Gastwirthschaften
die dort eingeführten Genussmittel zu verzehren, gegen
Entgelt überlassen zu werden pflegen. Nur in dieser der
gesetzlichen Lage entsprechenden Begrenzung ist
der sogenannte „Verkauf über die Strasse“ im Betriebe der
Gastwirthschaften für einen Bestandtheil der letzteren und
demnach als von der Sonntagsruhe nicht betroffen zu er-
achten. Jeder Handel dagegen mit Lebensmitteln und
Waaren irgend welcher Art, welche auch in eigentlichen
kaufmännischen Geschäften verkauft werden, insbesondere
der mit Bäcker- und Fleischwaaren, ist im Verkehr nach
aussen als ein mit der Gastwirthschaft nicht zusammen-
hängender Handelsbetrieb anzusehen. Es kommt also im
einzelnen Falle lediglich darauf an, zu beurtheilen, ob der
Begriff einer zum „Genuss fertigen“ Speise, beziehungsweise
eines „zum sofortigen Genuss bestimmten“ Getränkes vor-
liegt“. Das entspricht durchaus der unbefangeneren deut-
schen Auffassung von der Sonntagsfreiheit, die in keiner
Weise durch ein Gesetz verkümmert werden darf, welches
gerade für die rein menschliche Erholung der kaufmänni-
schen Angestellten geschaffen ist. Damit im Zusammenhang
steht wohl auch die Erlaubniss zu erweitertem Eis- und
Biervertrieb (in Gebinden), welche der Polizeipräsident für
Frankfurt a. M. gab. Der Kleinhändler kann nicht aus
Gewinnsucht und Konkurrenzneid das Erquickungsgewerbe
unterbinden wollen.
Soviel hässlichen Leidenschaften gegenüber, die von
der Einführung einer keineswegs idealen kaufmännischen
Sonntagsruhe für die Uebergangszeit entfesselt worden sind,
sollten die Behörden grosse Ruhe und Strenge bewahren,
für den Augenblick und für später. Für den Augenblick:
weil es kühl zu bleiben und festzuhalten gilt an dem be-
rechtigten Gedanken mindestens eines halben Ruhetags in
der Woche für die Arbeiter des Handelsstandes, denen
gerade in Folge der Sonntagsruhe schon wieder in einzelnen
Geschäften die Wochenarbeitszeit bis 10, ja bis 12 Uhr
Nachts verlängert worden ist. Für später: weil es gilt ein
klares und ungetrübtes Urtheil zu gewinnen über die Mög-
lichkeit der Ausdehnung einer vorläufig nur halben Sonn-
tagsruhe zu einer vollständigen und wirksamen, trotz des
Widerstandes der Gewinnsucht.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Die Auswanderung aus Oesterreich-Ungarn.
Während aus den meisten europäischen Staaten Jahr
für Jahr unaufhaltsam gewaltige Menschenmassen entströmen
und sich eine neue Heimath in den anderen Kontinenten
zu gründen suchen und ihre Zahl in den 4 — 5 grösseren
Reichen allein gewiss auf 1/2 Million veranschlagt werden
kann, schien es bis vor Kurzem, dass Oesterreich-Ungarn
der an Territorium zweite und an Bevölkerungszahl dritte
Grossstaat Europas, von dieser Wanderbewegung ausge-
nommen sei. Die Auswandererziffern, welche die offizielle
Statistik für Oesterreich und Ungarn beibrachte, waren so
geringfügig, dass der Anschein erweckt wurde, als sei die
Erscheinung nicht der Beachtung werth. Damit ist ein
Seitenstück zu der noch von Vielen getheilten Ansicht ge-
geben, dass die soziale Frage in Oesterreich nicht mit
gleicher Gewalt zur Lösung dränge, wie anderwärts. Nun,
von der letzteren Behauptung ist man doch in den letzten
382
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 31.
Jahren nachgerade abgekommen, wenn auch nicht mit
vollem Nachdrucke. Weil in Oesterreich noch nicht jene
grossen und eindringlichen Enqueten vorgenommen wurden
wie in England, in Belgien und Italien, weil daher die Zu-
stände noch vielfach nicht in ihrer wahrenGestalt bekannt sind,
deshalb verkennt man sie. So erging es auch mit der Frage
der Auswanderung. Erst in der unmittelbarsten Gegen-
wart, d. i. seitdem die amtliche Statistik der Auswanderung
auf eine völlig neue und die einzig mögliche Basis der Er-
fassung der Auswanderer an den wichtigsten Einschiffungs-
orten gestellt wurde, zeigt sich die Erscheinung in ihrer vollen
Tragweite. Im Jahre 1890 betrug die Zahl der über-
seeischen Auswanderer aus Österreich-Ungarn in den wich-
tigsten Einschiffungshäfen etwa 75 000; damit stellt sich
dieses Reich unmittelbar nach Deutschland (ca. 100 000) und
England (200 000) an die dritte Stelle in den europäischen
Staaten. Es kann aber mit voller Berechtigung die Ziffer
von 75 000 für die Gesammtauswanderung als zu gering-
angenommen werden. Die Nachweisungen sind allerjüngsten
Datums und zeigen ein stetiges Anwachsen in solchen
Dimensionen, wie sie den vorliegenden konstanten Ursachen
nicht entsprechen; vermuthlich liegt also einfach eine Er-
höhung der Richtigkeit, d h. der Vollständigkeit der Ziffern
zu Grunde. Ueberdies ist zu bemerken, dass es für Oester-
reich nicht genügt, die überseeische Auswanderung, nament-
lich jene über die von der Auswanderungsstatistik allge-
mein acceptirten Hafenorte allein ins Auge zu fassen. Es
ist vielmehr nothwendig, dem Umstande gerecht zu werden,
dass Oesterreich-Ungarn von jeher einen engen Zusammen-
hang mit dem Oriente, auch mit dem Balkan, besessen hat,
und dass sich dahin ein grosser Theil der Auswanderer
wenden dürfte. Darnach steht es ausser Zweifel, dass
Oesterreich unter jene Staaten Europas zählt, deren Aus-
wanderung, und zwar dauernd, die grösste ist, und dass für
seine inneren Verhältnisse das Problem alle Beachtung er-
heischt. Deshalb dürfte es nicht ohne Interesse sein, die
Ursachen klarzulegen, welche diese Erscheinung hervor-
rufen. Die Aufsuchung derselben wird dadurch erschwert,
dass ein genügendes Ziffernmaterial noch nicht zu Gebote
steht. Andererseits wird die Sache dadurch erleichtert, dass
die Erscheinung sowie ihre Ursachen permanent, chronisch
sind und deshalb aus der Berücksichtigung allgemeiner
innerer, wirthschaftlicher und politischer Vorgänge abge-
leitet werden können.
Vor rund 100 Jahren wurde der inneren Kolonisation
im Staate ein grosses Augenmerk zugewendet. Aus den
dichter bewohnten, deutschen, industriellen Gegenden des
Westens, aus den vorderösterreichischen Gebieten, aus
Böhmen u. s. f. wurden Bauern und Handwerker nach
Ungarn, Galizien und der Bukowina versetzt, und schwä-
bische, sächsische und deutsch-böhmische Kolonien in den
genannten Gebieten gegründet. Diese Bewegung gerieth
sehr bald ins Stocken, wenn auch naturgemäss der Familien-
zusammenhang, die Bekanntschaft und Freundschaft viel-
fach Veranlassung war, dass noch lange Zeit nachher, ja
hie und da bis heute noch, kleinere Bevölkerungstheile aus
diesen ehemaligen Herkunftsorten den Vorangegangenen
nachfolgen. Die inneren Verhältnisse haben sich eben der-
massen gestaltet, dass eine solche innere Kolonisation un-
endlich erschwert und vielfach ganz verhindert wird. Eine
wichtige Vorbedingung derselben ist die centralistische
Staatsform. Der Auswandernde wählt im Staate einen
anderen Wohnsitz mit Vorliebe nur so lange, als er die ge-
wohnten und liebgewordenen Verhältnisse anderwärts zu
finden hofft. Das hat nun vielfach aufgehört. Die Wande-
rungen nach Ungarn haben seit den stürmischen Zeiten um
die Mitte des Jahrhunderts und mit Begründung der Staats-
hoheit um 1867 aufgehört. Galizien und die Bukowina,
zwei ehemals mit Vorliebe von den Westländern aufge-
suchte Gegenden, haben ihren Charakter geändert. In
Galizien hat das polnische Element ausschliesslich die Ober-
hand gewonnen und überdies ist das Land in agricoler
Hinsicht ebenso wie in industrieller kaum vorwärts ge-
schritten. Der Bauernstand ist durch den bäuerlichen
Wucher und die ungemein zahlreichen Exekutionen herab-
gekommen, die Städte aber haben keinen Mittelstand, keine
Gewerbetreibenden im richtigen Verhältnisse, sie sind Markt-
und Binnenaustauschplätze geworden und dienen in immer
erhöhterem Masse der jüdisch-orthodoxen Bevölkerung als
Wohnsitze, welche sich in den letzten Jahren allmählich
auch der gewerblichen Thätigkeit zuwendet. Hält man
dazu den Umstand, dass der Süden der Monarchie eigent-
lich niemals ein Attraktionsgebiet für innere Kolonisation
war, so kann somit behauptet werden, dass der inneren
Wanderung heute nahezu unübersteigliche Schwierigkeiten
entgegenstehen, welche überdies durch Verwaltungsmass-
nahmen nicht überwunden werden. Der Bevölkerung der
dichten, industriellen und agricol-intensiv wirthschaften-
den Länder des Westens steht dieses Ventil nicht mehr zu
Gebote, sie musste ein anderes öffnen, es blieb ihr nichts
anderes als die Auswanderung aus dem Staate übrig. Aber
auch die ehemaligen Attraktionsgebiete der inneren Wande-
rung, Galizien und die Bukowina sowie Ungarn haben sich
in dieser Hinsicht vollständig geändert, sie sind heute Aus-
wanderungsgebiete, und es dürfte nicht angezweifelt
werden, dass auch die Bewohner des verarmten Südens des
Staates, welcher schon seit langer Zeit eine Anziehung auf
die anderen Theile desselben nicht mehr auszuüben ver-
mochte, ihr bedeutendes Kontingent zu der Auswanderung,
wenigstens zu den temporären Wanderungen stellen. Der
Westen des Landes endlich, der in richtiger Erkenntniss
der populationistischen Tendenzen zu Ende des vorigen
Jahrhundert von Obrigkeitswegen entleert wurde, besitzt
heute ganz im Gegentheile eine grosse Anziehungskraft auf
die ehemaligen Kolonisationsgebiete und seine Bevölkerung
verdichtet sich demgemäss nicht nur durch innere Zunahme
immer mehr.
Nun gab es in den jüngsten Dezennien in Oesterreich
einen Umstand, der die innere Wanderung noch ermöglichte,
welcher sich so erhebliche Hemmnisse entgegenstellten; dies
war der Mangel an grossen Städten. Oesterreich-Ungarn hat ,
heute nur 1 Millionenstadt, 1 Stadt mit 1/2, 1 mit 7,3 Mill. und
sonst nur 3 Städte mit etwas über 100 000, endlich noch
9 Städte mit über 50 000 Einwohner. Es ist somit heute
noch der städtischen Entwickelung die Thüre weit geöffnet
und vorauszusehen, dass die inneren Wanderungen für eine
Zeit lang hierin ein Ventil finden werden. Nur ist dabei
zu sagen, dass dieses Auskunftsmittel eben unvollkommen
ist und dass die Städte immer nur einen Bruchtheil der zur
Wanderung Genöthigten in sich aufnehmen können. Andrer-
seits ist es noch fraglich, ob das rasche Anschwellen der <
Städte als ein günstiger Entwickelungsfaktor mit Beziehung \
auf das ganze Volk angesehen werden kann. Jedenfalls j
vermag das Anwachsen der Städte, das in der unmittel-
barsten Gegenwart auch in Oesterreich zu bemerken ist,
die allgemeinen Migrationstendenzen nicht wesentlich zu
berühren.
Hinsichtlich dieser liegen nun die Verhältnisse in den
einzelnen Theilen des Reiches, was die Wanderungsursachen
anbelangt, sehr verschieden. Die Bevölkerung hat sich im
19. Jahrhundert in Uebereinstimmung mit anderen Staats-
bevölkerungen etwa verdoppelt, und damit erhebliche
Anforderungen an die wirthschaftlichen Existenzmittel ge-
stellt. Die letzteren haben sich in den einzelnen Haupt-
gebieten des Staates sehr verschiedenartig entwickelt.
Die dichtest bewohnten, besten Länder des Reiches
sind Böhmen, Mähren, Schlesien, Nieder- und Oberösterreich
und Nordsteiermark. Hier war die Bevölkerungsvermehrung
im 19. Jahrhundert weitaus grösser als 1 : 2. Die Grossbe-
sitze und die Latifundien sind hier ebenso wie in Deutsch-
land als solche erhalten geblieben, wenn auch häufig die
Besitzer gewechselt haben; es fand aber nicht etwa jene
grossartige Güterzerschlagung der Latifundien statt, welche
der französischen Revolution folgte und dem Bauernstände
die Bahn auf ein Jahrhundert frei machte. Der starken
Vermehrung der bäuerlichen Bevölkerung steht immer nur
dieselbe Anzahl der Besitzungen gegenüber und da in diesen
Gegenden die Gütertheilung nicht nur, wie in Oesterreich
überall, rechtlich, sondern auch faktisch üblich ist, so ist
dieselbe vielfach in eine Zersplitterung ausgeartet. Dort
No. 31.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
383
wo dies der Fall ist, muss zum Wanderstab gegriffen
werden. In Böhmen speziell, dessen Auswanderung sprich-
wörtlich geworden ist, ist der Spielraum der bäuerlichen
Bevölkerung zur Ausbreitung ein sehr geringer. Die In-
dustrie dieser Länder hat sich zweifellos enorm entwickelt,
aber auch mehrfach tiefgreifende Krisen erfahren. Gewisse
Theile, wie z. B. weite Gegenden im nördlichen Böhmen
siechen chronisch seit Jahrzehnten dahin und bilden eine
offene Wunde am wirthschaftlichen Körper. Einzelne In-
dustrien, so z. B. die hervorragend wichtige Zuckerfabri-
kation haben in den 80er Jahren eine heftige Erschütterung
erfahren. In Wien und seiner Umgebung sind gleichfalls
manche Industriezweige, wie etwa die Perlmutterdrechslerei
lahm gelegt worden. Trotz des unleugbaren Aufschwunges
sind somit, seien es lokale, seien es berufliche Ursachen zur
Genüge vorhanden, welche die Auswanderung stetig im
Gange erhalten. Dieselbe muss sich nach dem Auslande
wenden, da die Zeiten der inneren Migrationen zu Ende
sind, und da sogar an deren Stelle ein Zuströmen der Be-
völkerung aus dem Osten nach dem Westen, also in ent-
gegengesetzter Richtung getreten ist.
Eine zweite tiefgreifende Ursache der Wanderungen
ist dann die wesentliche Veränderung, welche die Stellung
Oesterreichs resp. Osterreich-Lbigarns zum Oriente erfahren
hat. Grosse Gebietstheile des Reiches, so Siebenbürgen,
die Bukowina und Theile Ungarns (und in mittelbarer und
entfernterer Weise auch der Westen mit seiner Industrie),
kamen früher als Handelsemporien oder als jene Länder,
welche den Orient mit Gewerbserzeugnissen versorgten, in
hervorragendem Masse in Betracht; ja es lässt sich sogar
sagen, dass für manche und grosse Gebiete Oesterreich-
Ungarns die Wirtschaftsbeziehungen mit dem Oriente den
Lebensnerv bildeten. Hierin hat sich nun ein für Oester-
reich-Ungarn ungünstiger Wechsel vollzogen. Die Balkan-
länder sind allmählich nicht nur politisch selbstständig ge-
worden, sondern vielfach auch wirtschaftlich und speziell
gewerblich erstarkt und tragen diesem Umstande, wie z. B.
Rumänien, durch eine hochschutzzöllnerische, geradezu die
fremden Erzeugnisse ausschliessende Zollpolitik Rechnung.
In der entfernteren Levante hat der Seeweg den Land-
und Flussweg überwunden und andere Exportländer sind
an die Seite oder an die Stelle Oesterreichs getreten. In
jenen Ländern und Gebieten Oesterreichs und Ungarns,
wo die Verkehrsbeziehungen zu den Balkanländern einen
integrirenden Faktor der einheimischen Wirthschaft bilde-
ten, ist ein auffallender Rückgang der Volkswirtschaft zu
konstatiren; das Gewerbe der Bukowina ist durch den Zoll-
tarif Rumäniens von 1886 nahezu ruinirt und Siebenbürgen
seufzt gleichfalls tief unter diesen Verhältnissen. Gerade
aus diesen zwei Gebieten ist in Folge dessen die Auswan-
derung enorm stark. Allerdings ist sie nicht durchwegs
eine überseeische, auch tritt sie desshalb nicht vollkommen in
den Ziffern der Hafenämter zu Tage. Es unterliegt daher
auch keinem Zweifel, dass durch diesen Umstand die Aus-
wanderer - Ziffer von 75 000 eine Erhöhung erfährt. Wohin
diese Personen gehen, ist unschwer zu sagen: eben in jene
Balkanländer, welche ehemals in viel intensiverem Masse
als wirtschaftliche Hinterländer Oesterreichs in Betracht
kamen als heute. Der gewerbliche Aufschwung der in
manchen Balkanstaaten in unseren Tagen zu beobachten
ist, dürfte zum nicht geringen Theile deutschen Arbeitern
und Gewerbetreibenden aus den östlichen Gegenden Oester-
reich-Ungarns zu verdanken sein. Alle diese Gegenden
galten noch vor 50 Jahren als Anziehungspunkte der Be-
völkerung des Westens, heute sind sie selbst Auswande-
rungsgebiete geworden. Speziell die Bukowina, die seit
wenig mehr als 100 Jahren der Cultur zugeführt und
deren Volkszahl in dieser Zeit im Verhältnisse von 1 : 10
angewachsen ist, muss heute als übervölkert bezeichnet
werden. Die Hälfte des Landes ist von Wäldern und von
den Besitzungen des griechisch -orientalischen Religions-
fondes okkupirt, und sonst ein grosser Theil vom Gross-
grundbesitze, d i. von den Gutsgebieten, so dass für die
bäuerliche Bevölkerung nur ein ganz enger Spielraum der
Ausdehnung verbleibt. Das Gewerbe des Landes ist durch
den Abbruch der Wirthschaftsbeziehungen mit Rumänien
ins Herz getroffen und seine Bedeutung als Handelsempo-
rium ist vorüber.
Will man die Auswanderung aus Oesterreich-Ungarn
namentlich insofern die bäuerlichen Kreise in Betracht
kommen in ihren Ursachen richtig würdigen, so darf ferner,
insbesondere rücksichtlich Galiziens, der Bukowina und
grosser Theile Ungarns ein weiterer Umstand nicht über-
sehen werden, und das ist die Bewucherung des Bauern-
standes, welche in letzter Linie mit der Exekution der An-
wesen endet. Es theilen sich hier grössere Kreditinstitute
und zahllose kleinere Wucherer in die Arbeit und die
letzteren treiben nicht nur Geld- sondern auch Vieh-, Ge-
treide- und sonstigen Naturalienwucher. Während der Zeit
der aufgehobenen Wuchergesetze gingen diese unlauteren
Geschäfte bis ins Masslose, und seit der Wiedereinführung
beschränkender Massnahmen bestehen sie unter verschie-
denartigen Masken fort. In allen diesen Gegenden, also in
Galizien, in der Bukowina und in Theilen Ungarns, kommt
für die ländliche Bevölkerung noch der Umstand in Be-
tracht, dass in ihrem Umkreise die Städte mit dem offenen
Lande nicht organisch Zusammenhängen Sie erhalten
ihren Zuzug nicht aus den zugehörigen Landestheilen, son-
dern aus anderen Städten und von auswärts, so dass die
Landbevölkerung für ihren Ueberschuss in der Abgabe an
die Stadt nicht, wie anderwärts, ein Gegengewicht findet.
Im Uebrigen bestehen in diesen Ländern ausgedehnte Lati-
fundien, grosse Wälder und extensiver Landwirtschafts-
betrieb. Ein Fortschritt zu intensiverer Bewirthschaftungs-
weise findet nicht statt und es sieht somit der Bauer auch
hierin nicht die Möglichkeit, für seine zweiten und dritten
Söhne zu sorgen. "Dazu kommt, dass hier vielfach die
ländliche Bevölkerung zur Erlernung und Ausübung von
Handwerk und Gewerbe ungeeignet ist, was namentlich für
die Rumänen gilt.
Endlich ist zum Schlüsse für Ungarn darauf hinzu-
weisen, dass die mit allem Nachdrucke vorgenommene Ma-
gyarisirung des Landes, die Bevorzugung des ungarischen
Elementes und die häufigen Missstände in der magyarischen
Beamtenschaft, die durch die avitische Staatsorganisation
begünstigt werden, für die nicht-magyarischen Elemente
ein wichtiger Impuls zur Auswanderung sind, was nament-
lich für die rumänische Bevölkerung Siebenbürgens sowie
der an dieses angrenzenden Comitate gilt Bekannt ist ja
auch, dass die Slowaken des nordwestlichen Ungarn seit
jeher in grösserem Umfange auswandern, oder vielfach tem-
porär wandern, was mit der Dichtigkeit der Bevölkerung und
Unergiebigkeit des Bodens, zumal auch bei der ungeeig-
neten Bewirthschaftungsweise, zusammenhängt.
Mit der Auswanderung, namentlich aus den genannten
minder entwickelten Staatstheilen, steht das Gewerbe der
Auswanderungsagenten in ursächlichem Zusammenhang,
wobei nicht zu übersehen ist, dass diese Agenten vielfach
die wenig urtheilsfähigen Landleute durch Vorspiegelung
utopistischer Hoffnungen veranlassen, Haus und Hof um
Geringes zu verkaufen und den Wanderstab zu ergreifen.
Diese Verhältnisse sind den politischen Behörden meist
wohl bekannt und hier und da dringen durch den einen
oder anderen grossen Auswanderungsagenten-Prozess diese
sozialen Gebrechen an die Oberfläche. Doch scheint jetzt
in Oesterreich-Ungarn, sowie in anderen Staaten, gegen-
über den Anschauungen des vorigen Jahrhunderts die ent-
gegengesetzte Ansicht zu herrschen; es scheint in der All-
gemeinheit und auch in den Kreisen der Verwaltung die
Meinung verbreitet zu sein, dass eine konstante Auswan-
derung nothwendig sei, um den zurückbleibenden Bevölke-
rungstheil im richtigen Verhältnisse mit den Subsistenz-
mitteln zu erhalten, obgleich diese Behauptung für Ungarn
entschieden sehr anfechtbar ist, da dieses Land eine mini-
male Bevölkerungszunahme hat, falls die Ziffern der offizi-
ellen Statistik mit der Wahrheit übereinstimmen.
Mit der nun zum erstenmal authentisch bekannt ge-
wordenen eigentlichen Auswanderungsziffer von 75 000
stellt sich das Auswanderungsproblem Oesterreich-Lngarns
als ebenso bedeutsam heraus wie in den anderen grossen
384
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 31.
Auswanderungsstaaten. Thatsächlich aber ist man über
den Umfang, die Ursachen und die lokale Vertheilung der
Erscheinung noch völlig im Unklaren. Ich glaube, dass es
hoch an der Zeit wäre, durch eine grosse, von unbefange-
nen Männern geleitete, und unter den Auspizien der amt-
lichen Statistik vorgenommene Enquete, wenigstens was
Oesterreich anbelangt, die erforderlichen Einblicke in diese
Erscheinung zu gewinnen, an welcher, abgesehen von dem
allgemeinen sozialpolitischen Interesse, auch zahlreiche
Kreise im Einzelnen lebhaft betheiligt sind. Ungarn muss
hier allerdings seinen Weg allein gehen, doch könnte auch
hier, bei der Energie mit der daselbst so manche Aktion
ins Werk gesetzt wirdjj eine Enquete Hoffnung auf Erfolg
haben.
Prag. Ernst Mischler.
Staatlicher Arbeitsnachweis in Neu-Seeland.1)
Zu Beginn des Jahres 1891 herrschte unter den arbeiten-
den Klassen in Neu Seeland aus verschiedenen Gründen
eine Nothlage. Etwa zwei Jahre früher waren im Budget
der Regierung starke Abstriche gemacht worden, da man
sich dafür entschieden hatte, von weiteren Anleihen auf
den europäischen Geldmärkten Abstand zu nehmen. Durch
mehrere Jahre waren mittelst fremder Kapitalien öffentliche
Arbeiten ausgeführt worden und diese letzteren hatten
wieder eine grosse Anzahl von Personen nach Neu-Seeland
gezogen, welche an dem Eisenbahnbau und anderen Unter-
nehmungen sich betheiligen wollten und Arbeit suchten.
Mit dem Aufhören dieser Arbeiten in Neu-Seeland und mit
der Fortsetzung derselben in den benachbarten australischen
Kolonien, die in ähnlicher Weise mittelst europäischer An-
leihen betrieben wurde, begann die Auswanderung dieser
Leute mit ihren Familien von Neu-Seeland nach anderen
Ländern. Die Regierung hielt es für wünschenswerth, die
wahren Ursachen und den Umfang dieser Erscheinung fest-
zustellen und womöglich den Verlust einer Bevölkerung
hintanzuhalten, welche viele, für die Besiedlung des Landes
werthvolle Elemente enthielt. Ausserdem schienen bestän-
dig Personen in die Städte zu strömen, welche die länd-
lichen Distrikte mancherorten beschäftigungslos verlassen
hatten, während die „Arbeitslosen“ in grosser Zahl in den
hauptsächlichsten städtischen Centren sich ansammelten.
Es wurde nun ein Bureau of Industries eingesetzt,
welches sich mit dieser Frage in der Weise befassen sollte,
dass es Informationen sammelte und auf praktische Weise
den Zufluss der Arbeit nützlichen Gebieten zuführen sollte.
Seine Thätigkeit begann im Juni 1891; als Vorstand des
Departaments fungirte der Unterrichtsminister Hon. W. P.
Reeves und Mr. E. Tregear wurde als Sekretär dieses
Büreaus mit den zu unternehmenden Schritten betraut.
Zweihundert Agenturen wurden errichtet und ihre
Verwaltung Regierungsbeamten, welche bereits im Dienste
standen, anvertraut; aut dem Lande wurde dieselbe vor-
nehmlich durch Sergeants und die Ortspolizeiorgane (Local
Constables) versehen, welche in Folge ihrer gründlichen
Kenntniss der Arbeiterbevölkerung in den entlegeneren
Theilen des Landes am besten in der Lage w'aren, über
den Arbeitsbedarf verschiedener Ortschaften am Ende jedes
!) Der nachstehende Bericht, dessen Uebersetzung den
Lesern des Sozialpolitischen Centralblattes hiermit geboten wird,
ist mir im Aufträge des Herrn W. P. Reeves, Arbeitsminister
in Neu-Seeland, in einem vom 3. Juni 1892 datirten Schreiben
aus Wellington zugeschickt worden. Er enthält die letzten
authentischen Nachrichten über eine der sozialen und bevölke-
rungspolitischen Reformen, welche die im Juni des vorigen
Jahres ans Ruder gelangte Regierung ins Werk setzte. Der Ur-
heber der speziell die gewerlfliche Arbeiterschaft berührenden
Massnahmen, ist der genannte, gegenwärtige Arbeitsminister
Mr. Reeves, der als Kandidat der Arbeiterpartei in das Parlament
gewählt und nach dem Siege der liberal-radikalen Parteien in
das Kabinet Bailance berufen wurde. Ihm, sowie dem Verfasser
der folgenden Mittheilungen Mr. Edward Tregear, Staatssekretär
für Industrie, sei hiermit für dieselben der beste Dank ausge-
sprochen. Dr. Stephan Bauer.
Monats, wenn nicht öfter Bericht zu erstatten. In besonderen
Fällen werden an das Centralamt gedruckte Berichtsformu-
lare geschickt, welche den Stand des Arbeitsmarktes in
jedem der zweihundert Distrikte anzeigen.
Auf diese Weise ist das Departement im Stande den
Ueberschuss an Arbeitskraft aus einem Lokale in ein
solches zu befördern, wo Nachfrage nach Arbeitern besteht.
Die Leute, welche als „Arbeitslose“ in den Städten
sich angesammelt hatten und Willens waren auf dem Lande
zu arbeiten, verlangten Eisenbahnkarten nach Orten mit
Arbeitsbedarf. So oft dies angemessen schien, wurden
ihnen diese Karten kostenfrei eingehändigt; viele aber ver-
langten Stundung ihres Fahrgeldes, und der von ihrem
Arbeitgeber vom Lohne abgezogene Betrag wurde sodann
dem Amte pünktlich zurück erstattet. Die Zahl der in
dieser Weise Beförderten beträgt 2400; hiervon wurden
1600 Arbeiter Privatunternehmern und 800 Arbeiter den
öffentlichen Arbeiten zugeführt.
Die Hon. Mr. Seddon, Minister für öffentliche Ar-
beiten und Hon. Mc. Kenzic, Minister of lands, haben in
ihren betreffenden Departements das sogenannte „Co-ope-
rative contracts System“ eingeführt, welches den Zweck hat,
die Mittelspersonen zu beseitigen (to do away with the
middle-man) und den Arbeitern zu ermöglichen, in direkte
Berührung mit dem Unternehmer zu kommen. Kleine
Gruppen (gewöhnlich aus je 6 Mann bestehend) übernehmen
einen kleinen Theil der Eisenbahnstrecke oder Strasse zu
einem vom Ingenieur bestimmten Preise. Jede Gruppe er-
nennt drei Mitglieder als Trustees und diese Trustees unter-
zeichnen eine Vertragsurkunde mit der Regierung. Manch-
mal wird nur ein Trustees ernannt; aber in allen Fällen
erhalten die Leute Vorschüsse um ihnen die Erhaltung ihrer
Frauen und Familien zu ermöglichen, bis sie die gesammte
vereinbarte Summe, nach Erfüllung des Kontraktes er-
halten.
Zum Zwecke des Abschlusses dieser Kontrakte auf :
den Staatsstrassen und Eisenbahnen wurden die früherge-
nannten Leute von dem Biireau entsendet. Nicht nur die
Frage der Entledigung der mit Arbeitsbedürftigen über-
füllten Städte wurde von der Regierung ins Auge gefasst,
als sie dieses Abströmen von den Centren nach dem Lande
veranlasste; wären die Leute nicht weiterhin unterstützt
worden, so würden sie nach Beendigung der kontraktlichen
Arbeiten oder im Besitze von Baarmitteln ohne Zweifel j
nach Hause gekehrt sein. So aber erhielten viele dieser
Familien Fahrgelder nebst Mobiliar- und Einrichtungsstücken <
in der Erwartung, sie dadurch in ländlichen Distrikten zur
ständigen Ansiedelung zu bewegen. Grundstücke werden
zur Vermessung und zur Bildung von Dorfniederlassungen
ausgewählt und es wird beabsichtigt, werkthätigen Arbei-
tern kostenfrei Grundstücke zuzuweisen, wo sie ihr Heim
errichten können.
Die Organisation des Erkundigungsdienstes des Büreaus
hat seine Nützlichkeit bewährt, indem dasselbe nicht nur
den Arbeitern bei ihrer Fahrt nach verschiedenen Orten
Unterstützungen gewährt, sondern auch in der Lage ist,
Personen die nothwendige Auskunft zu ertheilen, welche
im Stande und willens sind, ihre Fahrt zu bezahlen, aber
ohne die durch das Biireau verschaffte Information Zeit und
Geld auf der Suche nach Arbeit unnütz verschwendet
haben würden. Einwanderer, welche aus dem Mutterlande
kommen, finden es daher vom Vortheil, die Beamten des
Büreaus über die Aussichten ihrer Verwendung in ver-
schiedenen Theilen dieser Insel um Rath zu fragen.
Verschiedene andere Massregeln, welche die Unter-
stützung arbeitsbedürftiger Personen zum Zwecke haben,
sind in jüngster Zeit hier getroffen worden. Zu diesen
Massregeln gehört unter anderen die Ausgabe von Labour-
Coupons (Arbeits-Coupons), welche den auf der Reise be-
findlichen Arbeitsuchenden für geringe Bezahlung in ge-
wissen Hotels und Logierhäusern Speise und Nachtlager
verschaffen. Sie werden in geringer Zahl ausgegeben und
zwar lediglich an Arbeitslose, da den Lokalbeamten die
Leute seines Distriktes, welche in ständiger Verwendung
stehen, ziemlich bekannt sind. Es ist dies eine Anwen-
SOZIALPOLITISCHES CENTRAL«! , (VIT.
385
No. 31.
düng des Cook’schen Touristen-Kouponsystems auf Leute,
die nicht zum Vergnügen reisen.
Industrielle Farmen werden demnächst in der Nähe
der grossen Städte errichtet und arbeitslose Personen
dahin geschickt werden, welche gegenwärtig zur landwirth-
schaftlichen und gelernten schweren Arbeit unfähig sind.
Sie werden daselbst in den gewöhnlichen land- und forst-
wirthschaftlichen Arbeiten unterwiesen werden und Nah-
rung und Wohnung so lange erhalten, bis sie fähig
sind, ihre Arbeitskraft zu laufenden Lohnsätzen zu vei>
werthen.
Es mag dahingestellt bleiben, ob die jüngsten Ergeb-
nisse des statistischen Amtes, welche das Aufhören der
Auswanderung und die Umkehrung dieser Erscheinung
aufweisen, im grossen Masse auf die Einrichtung des
Büreaus zurückzuführen sind. Es kann jedoch wenig
Zweifel darüber bestehen, dass ein grosser Theil jener
Nothlage, welcher früher herrschte, beseitigt und eine
grössere Nothlage dadurch verhütet wurde, dass man zur
rechten Zeit das „Bureau of Industries“ in Neu-Seeland be-
gründete.
Edward Tregear.
Die Reichspostverwaltung mul die Vereinsfreiheit.
Der Berliner „Vorwärts“ vom 26. Juli veröffentlicht folgendes
Rundschreiben der dritten Abtheilung des Reichspostamts:
Berlin W., den 4. Juli 1892.
Vertraulich.
Reichs-Postamt.
III. Abtheilung.
Nach einer Angabe in der Nummer 6 der Zeitschrift des
Verbandes Deutscher Post- und Telegraphen-Assistenten vom
1. Juni soll am 5. und 6. August in Berlin ein Verbandstag ab-
gehalten werden. Ew. Hochwohlgeboren wollen geeignete Vor-
kehrungen treffen, dass etwaige Versuche von Beamten, an dieser
Versammlung Theil zu nehmen, thunlichst vereitelt werden, und
dass insbesondere der etwa bereits ertheilte Erholungsurlaub
nicht dazu benutzt werde, die Betheiligung an der Versammlung
zu ermöglichen.
Fischer.
An
den Kaiser« Ober-Postdirektor Herrn N. N.
Hoch wohlgeboren
Eigenhändig. in X
Das hier abgedruckte Schreiben bildet nur ein Glied
in der langen Kette von Drangsalirungen, denen die Orga-
nisation der Subalternbeamten von Seiten des Reichspost-
amts seit dem ersten Versuch einer durchaus legalen Inter-
essenvertretung ausgesetzt gewesen ist. Indem wir uns
Vorbehalten, che angesichts ihrer kläglichen ökonomischen
Situation wie der ihr zugemutheten politischen Bevormun-
dung doppelt traurige Lage dieser Beamtenkategorie dem-
nächst im Zusammenhang zu beleuchten, begnügen wir uns
für heute mit der Konstatirung, dass die gesammte öffent-
liche Meinung ohne Unterschied der Parteistellung einig ist
in dem entschieden missbilligenden Urtheil über die Ver-
wahrung staatsbürgerlicher Rechte, welche die Reichspost-
verwaltung in jenem Rundschreiben sich zu Schulden kom-
men liess.
Hausindustrie und Fabrikindustrie. Ein beachtens-
werthes Urtheil über Hausindustrie und Ziele hausindu-
strieller Politik enthält die Resolution, welche der 26. Schle-
sische Gewerbetag unlängst beschlossen hat. Auf der
Tagesordnung der am 28. Juli in Schweidnitz abgehaltenen
Jahres-Versammlung dieser Körperschaft, die aus den Ver-
tretern sämmtlicher schlesischer Gewerbevereine, gewerb-
lichen Korporationen etc., gross- wie kleinindustriellen
Charakters gebildet wird, stand als wichtigster Gegenstand
die Stellungnahme zur Frage der Hausindustrie. Referent
zu diesem Punkt der Tagesordnung war Professor Sombart-
Breslau, Korreferent Geheimrath E. Websky-Wüste-Walters-
dorf. Beide Referenten vertraten den gleichen Standpunkt;
beide sprachen sich dahin aus, dass eine thunlichst allge-
meine Beseitigung der Hausindustrie in volkswirtschaft-
licher wie sozialer Hinsicht anzustreben sei. Alle jene
kümmerlichen Versuche, die man während der letzten Jahre
und Jahrzehnte unternommen habe, um den Untergang der
wichtigsten Hausindustrien aufzuhalten, hätten sich als er-
folglos erwiesen und nur dazu beigetragen, den erstrebens-
werthen Uebergaug zum fabrikmässigen Betriebe unnöthig
aufzuhalten, die Gesundung der Verhältnisse zu verschleppen.
Geheimrath Websky wies auf Grund seiner reichen Er-
fahrung insbesondere für die schlesische Textilindustrie
nach, wie gänzlich verfehlt die bisherigen Massnahmen zur
Erhaltung der Hausindustrie seien. Aus der Mitte der Ver-
sammlung erhob sich gegen diese Ausführungen nur von
zwei Seiten her ein Widerspruch. Dr. Stegemann-Oppeln
wollte das Verdammungsurtheil über die Hausindustrie im
Allgemeinen für einige ihm bekannte Hausindustrieen im
Handelskammerbezirk Lennep nicht gelten lassen, stimmte
aber im Uebrigen dem Referenten zu. Der zweite Opponnent
dagegen erwies sich als Lobredner der Hausindustrie
schlechthin; es war ein Verleger aus Lauban! Seine apo-
logetischen Ausführungen vermochten jedoch die Stimmung
der Versammlung, die sich auf den Standpunkt des Refe-
renten gestellt hatte, nicht zu Gunsten der Hausindustrie
umzuändern. Auf Antrag der Referenten nahm der Ge-
werbetag vielmehr einstimmig folgende Resolution an:
„Die Massenfabrikation industrieller Produkte durch die
Hausindustrie birgt für viele besonders umfangreiche Zweige
derselben in unserer Zeit eine grosse Gefahr für die Be-
ständigkeit des Wohlergehens der in derselben beschäftigten
Bevölkerung, während fabrikmässig betriebene Industrieen
dieser Gefahr in wesentlich geringerem Grade unterliegen.
Es ist daher die Ueberführung der in diesen Hausindustrien
beschäftigten Arbeiter zur Fabrikthätigkeit möglichst zu
fördern. Unbedingte Vorbedingung für die Entwickelung
der Fabrikbetriebe sind gute und billige Verkehrsmittel.
Desshalb erachtet der Schlesische Gewerbetag es für die
Pflicht des Staates, in Gegenden mit starker Hausindustrie
für den Ausbau von Eisenbahnen in möglichst grossem
Umfange zu sorgen.“ Die Wendung im Eingang der Re-
solution „für viele besonders umfangreiche Zweige der-
selben“ wurde auf Wunsch des einen Opponenten in die
ursprüngliche Fassung der Resolution aufgenommen, ohne
von den Referenten beanstandet zu werden. Sie ist von keiner
grossen Bedeutung. Dass stets sich Spezialitäten-Hausindu-
strien erhalten werden und mögen, ist selbstverständlich, aber
irrelevant. Um sie kümmert sich der Volkswirth in gerin-
gem Masse und braucht sich der Sozialpolitiker gar nicht
zu kümmern. Gerade wie das Kunsthandwerk nehmen sie
eine ganz gesonderte Stellung ein ; sie verschwinden in der
grossen Menge. Diese Zweige rechtfertigen sich am besten
als existenzberechtigt dadurch, dass sie ohne künstliche Hilfe
aus eigener Kraft weiterblühen Für die hausindustrielle
Politik ist es ausschlaggebend, ob man im grossen Ganzen
die Hausindustrie für eine volkswirthschaftlich oder sozial
bevorzugte Organisations- und Unternehmungsform er-
achtet und sich bestrebt, sie nöthigensfalls mit allerlei
künstlichen Massnahmen vor dem Uebergang in die Fabrik-
industrie zu bewahren oder ob man in allen Fällen, in
denen die letztere natürliche technische oder ökonomische
Vortheile aufweist, deren Vordringen nicht hindert, sondern
nach Kräften sogar beschleunigt. Letzteres ist der Stand-
punkt, den der 26. Schlesische Gewerbetag eingenommen
hat und das ist eine bemerkenswerthe Thatsache, um so
bemerkenswerther als die Resolution von den anwesenden
Regierungspräsidenten von Breslau in keiner Hinsicht bean-
standet worden ist.
ßerufsgenossenscliaften und Berufssekretäre in der
Schweiz. Der Verband der Bleicherei- und Appretur-
arbeiter der Ostschweiz hat an den Bundesrath eine Ein-
gabe gerichtet, in welcher der Wunsch ausgesprochen wird,
dass die Schaffung von Berufssekretariaten bei der Be-
rathung über die Errichtung von Berufsgenossenschaften
in die Diskussion einbezogen werde. Die Petenten fordern
vorerst die Errichtung von vier Berufssekretariaten für die
Hauptindustrien der Schweiz und zwar je eines für die
Stickerei, für die Weberei, Spinnerei und Färberei, für die
Uhrmacherei und für die Giesserei, Schlosserei und den
Maschinenbau. Die Aufgaben derselben werden folgender-
massen umschrieben: 1. Förderung der bestehenden und
Bildung neuer Organisationen, 2. Studium der Arbeiter-
verhältnisse und der Arbeiterschutzgesetze sowohl der be-
stehenden, als auch der im Entwurf oder in Vorberathung
befindlichen, 3. die Ausführung der Verfügungen des
schweizerischen Arbeitersekretariates, 4. Vertretung der
Arbeiter bei Unterhandlungen mit den Arbeitgebern, 5. Ver-
bindung mit den Arbeitern des Auslandes. Neben diesen
386
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 31.
Aufgaben dürfte vielleicht noch die Regelung des für die
Arbeiter womöglich kostenfreien Arbeitsnachweises und die
Unterstützung der staatlichen Organe bei der Aufsicht über
die Handhabung der Arbeiterschutzgesetze in den Bereich
der Thätigkeit der Sekretariate gezogen werden.
Arbeiterzustände.
Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Böttcher Deutsch-
lands. Die „Deutsche Böttcher-Zeitung“ veröffentlicht in
ihrer Nummer vom 23. Juli 1892 eine Uebersicht über die
für das Jahr 1891 vorgenommenen statistischen Erhebungen
über die Lohn und Arbeitsbedingungen der Böttcher
Deutschlands. Leider war die Betheiligung an der Statistik
nur eine sehr geringe. Es sollen sich, was freilich kaum
kontrollirt werden kann, nur die bessergestellten Böttcher
an der Statistik betheiligt haben. 522 Fragebogen gingen
aus 66 Orten ein, aus Hamburg 106, aus Elberfeld 68,
aus Magdeburg 43, aus Flensburg 26, aus Stassfurt 24,
aus Braunschweig 22, aus Bremen 20 u. s. w., dagegen aus
München nur 8, aus Köln a. Rh. nur 3 und aus Berlin nur
2 (!). 350 Beantworter der Fragebogen waren verheirathet,
aut diese kamen im Durchschnitte 2,1 Kinder. In 4 Orten
betrug der Wochenlohn 6 M., in je einem 7, 10, 13,50,
14,40 M., in 5 Orten 15 M., in 4 Orten 16, in 2 16,50 M., in
3 Orten 17 M, in je einem 17,40 und 17,50 M., in 16 Orten
18 M., in einem 19 M., in 3 Orten 20, in 12 21, in 3 22 M.,
in 4 Orten 24, in einem 25 und in zweien 27 M., demnach
in 6 Orten 10 oder weniger Mark, in 38 13,50 — 20 und in
22 Orten 21—27 M.
Ihre wöchentliche Ausgabe geben die Verheiratheten
in einem Orte mit 9, 10, 10,50, 12, 12,05, 12,50, 13,60, 13,88 M.,
in 5 Orten mit 14 M., in 11 Orten mit 15, in vieren mit
15,50 M., in einem mit 15,90 M., in 6 Orten mit 16 M., in
einem mit 16,60 M., in zweien mit 16,80 M., in einem mit
17, in zweien mit 18, in einem mit 18,50, in zweien mit 19
und in einem mit 20 M. an. Die Ledigen gaben aus in
einem 6 M., in vieren 10 M.. in zweien 10,50~M., in einem
11,10 M., in sechsen 12 M„ in vieren 12,50 M., in zweien
13 M., in einem 13,20 M., in sechsen 14 M., in je einem
14,35 und 14,50 M., in neun 15 M., in je einem 15,10 und
15,45, in dreien 16 M., in dreien 16,50 M., in je einem 17,50
und 18,87 M. Der durchschnittliche Miethspreis der Woh-
nung betrug in je einem Orte 70, 75, 80, in zwei Orten 90,
in je einem 95, 100, 105, in je vieren 120, in fünfen 130, in
einem 135, in zweien 140, in einem 144, in fünfen 150, in
einem 170, in fünfen 180, in dreien 200, in zweien 2 J0 und
240 und in einem 244 Mark.
Das Durchschnittsalter der sich an der Statistik Be-
theiligenden betrug in 30 Orten 25 und weniger Jahre, in
15 Orten 25 — 30 Jahre, in 14 Orten 30 — 35, in 4 Orten 35 — 40,
in 3 Orten 40 — 45 Jahre.
Aus 50 der 66 Orte liegen Angaben über Arbeits-
losigkeit vor. ln diesen Orten waren 332 Gehilfen arbeits-
los von den 470, welche die Fragebogen beantworteten.
Auf diese kamen 10 042 durch Arbeitsmangel und 348 durch
Strike verursachte arbeitslose Tage, somit auf jeden ein
durch Arbeitsmangel verursachter arbeitsloser Monat und
ein durch Arbeitseinstellung verursachter arbeitsloser Tag.
Ergebnisse der Fabrikaufsicht auf dem thüringer
M ald. Der neue Bericht des Fabrikinspektors Baurath
Brecht für das Fürstenthum Scharzburg-Rudolstadt über
das Jahr 1891 gestattet wieder interessante Einblicke in die
Verhältnisse eines Theiles der ländlichen Fabrikindustrie auf
dem thüringer Wald. Der Genannte ist einer der wenigen deut-
schen Aufsichtsbeamten, welche alljährlich eine vollständige
Arbeiterstatistik nach eigenen Feststellungen geben (vgl. So-
zialpolitisches Centralblatt No. 6 für die früheren jahre).
Fs schreibt: „Als im Jahre 1879 die Beaufsichtigung der
Fabriken eingeführt wurde, fand ich 93 Anlagen mit 3518
Arbeitern vor, im Jahre darauf 102 Anlagen mit 3893 Ar-
beitern, jetzt im Jahre 1891 aber 146 Anlagen mit 5988 Ar-
beitern. Von dem Jahre 1890 bis jetzt ist die Zahl der Ar-
beiter um 415, also verhältnissmässig gegen früher ziemlich
stark gestiegen. Wie segensreich im Uebrigen die Ge-
werbegesetzgebung auf die Zahl der beschäftigten jugend-
lichen Arbeiter gewirkt hat, lässt sich leicht durch eine
Vergleichung mit dem Ergebniss des ersten Revisionsjahres
ermessen. Im Jahre 1879 waren 2623 männliche, 895 weib-
liche Arbeiter, zusammen 3518 vorhanden, jetzt 4601 und
1387 also zusammen 5988. Damals waren jugendliche
von 14—16 Jahren vorhanden: 154 männliche und 139
weibliche, zusammen 293; jetzt sind es 246 und 195 =
441 ; damals Kinder 31 männliche und 35 weibliche, zusam-
men 66, gegen jetzt 18 männliche, 9 weibliche, zusammen
27. D. h.: im Jahre 1879 waren 8,3 pCt. jugendliche Arbei-
ter unter 14— 16 Jahren und 1,8 pCt. Kinder, im Jahre 1891
dagegen 7,3 pCt. jugendliche und nicht ganz 0,5 pCt. Kinder
vorhanden. Die meisten jugendlichen Arbeiter kommen auf
die allein 2964 zählende Industrie der Steine und Erden
(Porzellan), auf die Textilindustrie und auf die Industrie der
Holz- und Schnitzstoffe. Die Anzahl der weiblichen Ar-
beiter ist seit vorigem Jahre in gleichem Verhältniss mit
der der Männer gestiegen, dagegen im Vergleich zum
Jahre 1879 gefallen. Sie betrug damals 25,4 pCt. der sämmt-
lichen Arbeiter und beträgt jetzt nur 23,1 pCt. Die meisten
weiblichen Arbeiter finden sich in der Porzellanindustrie,
bei der Anfertigung der Richter'schen Steinbaukasten, in
Spinnereien und Färbereien und bei der Cigarrenfabrika-
tion. Dass die Beobachtung der Schutzvorschriften für
jugendliche Arbeiter gerade in solch’ einer ländlichen In-
dustrie noch sehr viel zu wünschen übrig lässt, geht aus
folgender Wendung des Fabrikinspektors hervor: „Es ist
immer wieder darüber Klage zu führen, dass die Ortspolizei-
behörden ihre Schuldigkeit nicht thun; wenigstens finden
sich selten Revisionsvermerke auf den Arbeiterverzeich-
nissen.“ Und ausserdem heisst es im Bericht: „Hier und
da war auch von Ueberlastung der Lehrlinge im Handwerk
die Rede.“ Geschlossen sei mit folgenden Sätzen des Be-
richtes, die viel zwischen den Zeilen lesen lassen: „Die
weitere Herstellung von Wohlfahrtseinrichtungen ist zu er-
kennen, Fabrikräume werden besser und reinlicher ausge-
stattet, wofür die Arbeiter sich dankbar aussprechen, Ver-
köstigungen in der Fabrik oder im Anschluss an dieselbe
mehren sich, Schlafgelegenheiten werden beschafft, aber
es kann mehr geschehen, hauptsächlich hinsichtlich der
sauberen Ausstattung der Fabrikräume und des !
Baues von Arbeiterwohnungen, der erst schüchtern be-
gonnen hat. Hier wird und kann zweifellos mehr geschehen,
namentlich in der Nähe der Hauptstadt, wo die Arbeiter
schon eng zusammengedrängt werden, wenn auch
die Wohnungszustände grosser Städte mit hiesigen besseren
Verhältnissen nicht in Vergleich zu stellen sind.“ Ueber die
Lohnverhältnisse des interessanten stark mit Hausindustrie
durchsetzten Bezirks wird nach dem Aufsichtsbeamten an
besonderer Stelle dieses Blattes berichtet.
<
'i
Politische Arbeiterbewegung.
Kongress zur Organisirnng der italienischen Arbeiter-
schaft (Congresso per l'organizzazione operaia italiana)
soll der zum 14. und 15. August nach Genua vom „Central-
komitee der italienischen Arbeiterpartei“ kürzlich einberufene
Kongress genannt werden. Zum besseren Verständniss für
unsere Leser, die gerade mit der Arbeiterbewegung in
Italien am wenigstens vertraut sein dürften, bemerken wir
folgendes. In der vorigen Nummer dieses Blattes hat Pro-
fessor Sombart über den XVIII. Kongress des Patto di
fratellanza berichtet; dort tagte die radikale politische
Demokratie Italiens, die augenblicklich anfängt, sich mit
sozialen Elementen zu durchtränken und die das Streben
kundthut, mit der Arbeiterschaft und den sozialistischen
Parteien Fühlung zu nehmen. Hier handelt es sich um die
wichtigste Arbeitergruppe sozialistischer Färbung, welche
auf ihrem vorjährigen Kongresse (2. u. 3. August in Mailand)
als „Italienischer Arbeiterkongress“ zusammentrat und den
Beschluss fasste, eine „Italienische Arbeiterpartei“ zu be-
gründen. Um diesen Plan durchzuarbeiten, wurde ein
Centralkomitee, bestehend aus 6 Männern und 1 Frau, ein-
gesetzt mit dem Aufträge, nach genügender Vorbereitung
einen konstituirenden Kongress jener italienischen Arbeiter-
partei zu berufen. Das ist nunmehr mit der Ankündigung
des oben genannten Congresso per l’organizzazione operaia
italiana geschehen. Aber die prinzipiellen Grundlagen der
No. 31.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
387
neuzugründenden Partei hatte man sich auf dem Mailänder
Kongress im vorigen Jahre bereits geeinigt. Es waren dort
3 Hauptströmungen vertreten gewesen: 2 Minoritäten, die
gleichsam den rechten und linken Flügel bildeten, von
denen die eine eine rein gewerkschaftliche, nicht sozia-
listische, die andere eine wesentlich revolutionäre Politik
verfochten. Diesen Minoritäten gegenüber hatte die grosse
Majorität den Standpunkt einer gewerkschaftlichen Arbeiter-
bewegung mit sozialistischem Glaubensbekenntniss ver-
treten. Man weist den Klubrevolutionarismus ebenso wie den
unpolitischen „reaktionären“ Trade Unionismus ab. Nach
den Beschluss des vorjährigen Kongresses sollen in die zu
bildende Arbeiterpartei aufgenommen werden können: „alle
Vereinigungen von Arbeitern, städtischen wie ländlichen,
beiderlei Geschlechts, mögen sie im Entlohn ungs- oder Be-
soldungsverhältniss stehen oder auch selbständig sein, wenn
sie nur nicht die Stellung von Ausbeutern oder Arbeit-
gebern haben.“ Ausgeschlossen von der Partei sind prin-
zipiell diejenigen Arbeitervereine, welche von Nichtarbeitern
geleitet werden. Die 3 Programmpunkte, welche die Grund-
lage der neuen Partei bilden sollen, sind folgende: Bildung
einer grossen Arbeiterpartei, die unabhängig von allen
andern Parteien ist; Ziel der Organisirung: die Zurück-
führung alles Grund- und Kapitaleigenthums in die Hände
der Gesammtheit der Arbeiter; einziges Mittel, um zur
Emanzipation der Arbeit zu gelangen: die Besitznahme der
politischen Macht. Man beabsichtigt also, konnte man nach
Analogie der deutschen Verhältnisse es ausdrücken, eine
sozialdemokratische Partei und eine gewerkschaftliche
Centralisirung in Einem zu schaffen. Die Seele dieses
Unternehmens ist der Advokat Turati, Herausgeber der gut-
redigirten Wochenschrift „La critica sociale“, eines Organs,
das mit der „Neuen Zeit“ sich vergleichen lässt. Lim
jedoch die neuzubildende Partei auch mit einem populären
Zeitungsblatt zu versehen, beabsichtigt man vom 31. Juli
ab die Herausgabe einer Arbeiterzeitung unter dem Titel
La lotta di classe.
Das Programm für den konstituirenden Kongress in
Genua ist folgendes:
1. Bericht des Centralkomitees und des internationalen
Arbeitersekretärs (der ebenfalls im vorigen Jahre
ernannt wurde, um Fühlung mit den sozialistischen
Parteien des Auslandes zu erhalten);
2. Diskussion und Annahme des Parteistatuts und Ein-
setzung des ständigen Centralkomitees;
3. Parteiorgan;
4. Anschluss an und Vorschläge für den internatio-
nalen sozialistischen Arbeiterkongress in Zürich 1893;
5. Gewerkschaftliche Spezialkongresse;
6. Wahl des Ortes für den nächsten Kongress.
Man darf gespannt sein, welchen Ausgang der Genueser
Kongress nehmen wird. Es ist ein neues Wahrzeichen für
das Bestreben der italienischen Arbeiterfaktionen sich zu
gemeinsamen Handeln zusammen zu schliessen. Wir werden
s. Z. über die Verhandlungen und Ergebnisse des Kongresses
an dieser Stelle berichten.
Gewerbeinspektion.
Bergbauinspektoren in Oesterreich.
In der Sitzung vom 7. Juli d. J. wurde im österreichi-
schen Abgeordnetenhause von den Abgeordneten Baern-
reither und Genossen ein Gesetzentwurf, betreffend die Be-
stellung von Bergbauinspektoren eingebracht, dessen
wesentlicher Inhalt im Nachfolgenden wiedergegeben
werden soll.
Dem Ackerbauminister soll die Ernennung der Inspek-
toren sowie der Assistenten obliegen, die ihm unmittelbar
untergeordnet sein und den Charakter von Staatsbeamten
haben sollen. Zum Bergbauinspektor kann nur ernannt
werden, wer neben der erforderlichen sachlich-theoretischen
Bildung auch praktische Erfahrung im Bergbaubetriebe be-
sitzt und der in seinem Amtsgebiete üblichen Sprachen
mächtig ist. Eigenthümer, Pächter, Aktionäre, Bevoll-
mächtigte, Werkleute, Ingenieure etc. einer Bergbauunter-
nehmung sind zur Ausübung des Amtes eines Inspektors
oder Assistenten unfähig.
Die Thätigkeit der Inspektoren soll sich erstrecken
auf die Ueberwachung der Durchführung der gesetzlichen
Vorschriften, betreffend 1. die Sicherheit des Betriebes gegen
die Gefahren für Personen und Eigenthum, 2. das Verhält-
niss der Unternehmer zu ihren Arbeitern, 3. die Beschäfti-
gung von jugendlichen Arbeitern und Frauenspersonen,
dann die tägliche Arbeitsdauer und Sonntagsruhe, 4. die
Handhabung des Bruderladengesetzes, 5. die Wahrung der
öffentlichen Sicherheit im Falle der Auflassung eines Berg-
baues.
Ausserdem hat der Bergbauinspektor sein besonderes
Augenmerk auf das Vorkommen und die Ursache von Un-
fällen, auf die Vorkehrungen zur Verhütung derselben, auf
drohende oder eingetretene Bergschäden und die Lohn-,
Wohnungs- und Sanitätsverhältnisse der Bergarbeiter zu
richten.
Die Bergbauinspektoren sind berechtigt, die Gruben
in allen ihren Theilen zu befahren, alle Maschinen- und
Arbeitsräume über Tag, die mit dem Bergbau in Verbindung
stehen, sowie die Arbeitshäuser zu besuchen und in etwaige
Wohlfahrtseinrichtungen Einsicht zu nehmen, ferner den
Unternehmer, sowie die am Werke beschäftigten Beamten
und Arbeiter an Ort und Stelle zu befragen und falls es
sich um Bergschäden handelt, die Grundstücke der Ober-
fläche, sowie Gebäude, Wasserleitungen u. s. w. zu be-
sichtigen. Die Besichtigungen können bei Tag oder Nacht
vorgenommen werden, im letzteren Falle nur während des
Betriebes, der überdies durch den Besuch keine Störung-
erfahren darf.
Der Unternehmer ist verpflichtet, dem Bergbau-
inspektor die Betriebspläne und Dienstordnungen mitzu-
theilen und alle nothwendigen Aufklärungen zu geben, da-
gegen auch berechtigt, den Inspektor bei Befahrung und
Besichtigung des Werkes zu begleiten. Fernere Pflichten
des Unternehmers sind: l.von jedem Unfälle mit tödtlichem
Ausgange, sowie von solchen mit Folgen von voraussicht-
lich mehr als vierwöchentlicher Dauer dem Inspektor An-
zeige zu erstatten; 2. ein Verzeichniss über alle durch das
Gesetz vom 21. Juni 1884 R. G. Bl. No. 115 geschützten
Personen zu führen und dem Inspektor über Verlangen vor-
zuweisen.
Findet der Bergbauinspektor, dass beim Betriebe eines
Werkes gesetzliche Bestimmungen ausser Acht gelassen
werden oder sonstige Uebelstände hervortreten und kann
er durch seine Intervention eine Aenderung nicht herbei-
führen, so hat er die Anzeige an die kompetente Bergbe-
hörde zu erstatten. Nur im Falle unmittelbarer Gefahr für
die Sicherheit des Lebens oder fremden Eigenthums,
kann der Inspektor geeignete provisorische Verfügungen
treffen.
Alljährlich sind dem Ackerbauminister Berichte zu
erstatten, welche eine Uebersicht über die Amtsthätigkeit,
eine Zusammenstellung der Unfälle sammt ihren Ursachen,
sonstige Wahrnehmungen und legislative Vorschläge zu
enthalten haben und dem Reichsrathe jährlich in geeigneter
Bearbeitung vorzulegen sind.
Der Ackerbauminister ist berechtigt zur Untersuchung
der Ursachen eines grösseren Grubenunglückes, des Zu-
standes von Werken, welche die Sicherheit oder Gesundheit
der Arbeiter fortgesetzt gefährden, endlich alle Uebelstände,
die in grösserem Umfange vorhanden sind, eine Unter-
suchungskommission zu ernennen. In derselben hat ein
Beamter des Ackerbauministeriums den Vorsitz zu führen,
ausserdem sind für dieselbe zu ernennen: der Bergbau-
inspektor des betroffenen Bezirkes, ein Vertreter des Revier-
bergamtes sowie der Berghauptmannschaft, der Unter-
nehmer des betheiligten Werkes sowie zwei von der Beleg-
schaft aus ihrer Mitte zu wählende Personen, endlich Ver-
treter der Eigenthümer der Oberfläche. Die Untersuchungs-
kommission hat ihre Erhebungen an Ort und Stelle zu
pflegen und ist zu diesem Zwecke mit den gleichen Befug-
nissen wie der Bergbauinspektor ausgerüstet. Sie ist auch
berechtigt, Sachverständige beizuziehen und hat ein Gut-
achten zu erstatten, welches mit dem Berichte der Inspek-
toren zu veröffentlichen ist
388
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 31.
Arbeiterversicherung.
Reorganisation der deutschen Unfallversicherung.
Die Unhaltbarkeit der berufsgenossenschaftlichen Organi-
sation der deutschen Unfallversicherung mit ihren Ehren-
ämtern ergiebt sich auch aus folgenden, von halbamtlichen
Blättern mit grosser Aufmerksamkeit verfolgten Vorkomm-
nissen. Die Mitwirkung der Städte und Verbände bei der
Durchführung der sozialpolitischen Gesetzgebung, insbe-
sondere bei den Arbeiten auf dem Gebiete der Unfallver-
sicherung, ist, wie die „Voss. Ztg.“ bemerkt, nach verschie-
denen Mittheilungen in mehreren Fällen versagt worden.
So ist kürzlich auf einem Genossenschaftstage zur Sprache
gekommen, dass die Städte Fürth, Nürnberg und Erlangen
sich weigern, ihren Technikern die Annahme von Ehren-
ämtern bei der Tiefbauberufsgenossenschaft zu gestatten.
Dieses Verhalten, so bemerken die halbamtlichen Blätter,
wäre um so bedauerlicher, als die Stadtbehörden damit ein
schlechtes Beispiel geben und die für die Lösung der so-
zialpolitischen Aufgaben im Wege der Selbstverwaltung
erforderliche Wahl von Vertrauensmännern erschweren.
Obwohl nach § 24 Abs. 3 des Unfallversicherungsgesetzes
und nach § 4 des Statuts solche Mitglieder (bezw. Städte),
die ohne ausreichende Gründe derartige Wahlen ablehnen,
zu erhöhten Beiträgen herangezogen ' werden können, so
bleibe ein solcher Ausweg im Ganzen immer sehr misslich.
Es werde daher in diesem Falle voraussichtlich die Ver-
mittelung des bayerischen Ministeriums angerufen werden,
weil sonst die Gefahr vorliege, dass gerade die besten und
geeignetsten Kräfte für die berufsgenossenschaftliche Ver-
waltung verloren gingen. Nun mag ja das Zwangsmittel
der Anrufung einer höheren Aufsichtsbehörde augenblick-
lich Erfolg haben. Dass aber der Unfallversicherung in
ihrer jetzigen Organisation dadurch eifrige und freudige
Mitarbeiter zugeführt werden, dürfte wohl Niemand be-
haupten, und so wird sich der ungeheure berufsgenossen-
schaftliche Apparat doch mit der Zeit als unzweckmässig
und unhaltbar erweisen.
Die eingeschriebenen Hilfskassen und die Kranken-
versicherungsnovelle. Die Generalversammlung des Kranken-
unterstützungsbundes der Schneider beschloss mit grosser
Majorität den Weiterbestand der Kasse und die Anpassung
an die Bestimmungen des § 75 des Krankenkassengesetzes,
den gleichen Beschluss fasste die Centralkranken- und
Sterbekasse der Schuhmacher und verwandter Berufsge-
nossen Deutschlands. Die Schuhmacher beschlossen ferner
sich dem geplanten Verbände der freien Krankenkassen
anzuschliessen. Die Generalversammlung der nationalen
Krankenkasse der deutschen Gold- und Silberarbeiter und
verwandten Berufsgenossen entschied sich einstimmig für
den Fortbestand als eingeschriebene Hilfskasse. Die' Ge-
neralversammlung der Kranken- und Begräbnisskasse des
Gewerkvereins der deutschen Klempner und Metallarbeiter
entschied sich fast einstimmig für die Auflösung der Kasse
und für die Gründung einer Zuschusskasse.
Gewerbegerichte, Einigungsämter und
Arbeiterausschüsse.
Die österreichische parlamentarische Enquete über
Arbeiterausschüsse etc. Die vom Gewerbeausschusse des
Abgeordnetenhauses einberufene mündliche und schrift-
liche Enquete von Gewerbeunternehmern und Arbeitern
ist bereits abgeschlossen. Diese Enquete hatte sich be-
kanntlich über die Regierungsvorlage, „betreffend Einfüh-
rung von Einrichtungen zur Förderung des Einvernehmens
zwischen Gewerbeunternehmern und deren Arbeitern“ aus-
zusprechen, und zwar auf Grundlage eines vom Gewerbe-
ausschusse entworfenen Fragebogens. Diese Regierungs-
vorlage beantragte die Schäftung dreier obligatorischer In-
stitutionen: der Arbeiterausschüsse, der Genossenschaften
und der Einigungsämter. Die Ergebnisse der Enquete über
diese drei Institutionen sind nun, dem Wiener „Fremden-
blatt“ zufolge, folgende: Die Arbeiterausschüsse anlan-
gend, hat sich die Gruppe der Gewerbeunternehmer mit
überwiegender Majorität für die fakultative Einführung- mit
der Motivirung ausgesprochen, dass nur eine solche zweck-
entsprechend. sein kann, eine Minderzahl erklärte sich mit
der obligatorischen Einführung einverstanden, während eine
gelinge Anzahl die ganze Institution als unzweckmässm
und überflüssig bezeichnete. In analoger Weise haben sich
auch die Arbeiter über diese Institution geäussert: die
Mehrzahl hielt diese Institution nicht für geeignet, den
frieden zwischen ihnen und den Unternehmern zu fördern,
eine Minderheit erklärte sich, unter Vorbehalt einschnei-
dender Aenderungen an den organischen Bestimmungen,
für diese Institution. Die zweite, in der Regierungsvorlage
intendirte Institution: die Genossenschaften, wurde einstim-
mig sowohl von der Gruppe der Unternehmer als auch
jener der Arbeiter abgelehnt. Die Unternehmer motivirten
ihr Votum mit der Befürchtung, dass diese Genossen-
schaften, statt das bezweckte Einvernehmen zu fördern, es
vielmehr stören würden, und es wäre zu besorgen, dass
eine solche Organisation die Möglichkeit der Agitation
gegen die Unternehmer in sich trage. Die Motivirung der
Arbeiter beruht aut dem Begehren der uneingeschränkten
Handhabung des Vereins-, Koalitions- und Versammlungs-
rechtes. Die Arbeiter begehren die unumschränkte ge-
nossenschaftliche Organisation ohne jede polizeiliche Mass-
regelung. Bezüglich der Einigungsämter waren die An-
schauungen der Enquete getheilt. Während ein kleinerer
Theil der Unternehmer die jetzt bereits bestehenden Ge-
werbe- und Schiedsgerichte für ausreichend hält, hat ein
grösserer Theil die Einrichtung von Einigungsämtern für
territorial abgegrenzte Industriezentren als erspriesslich an-
erkannt. Die Arbeiter halten in ihrer Mehrheit die Eini-
gungsämter für zweckentsprechend, doch sei die in der
Regierungsvorlage vorgesehene Organisation derselben eine
unzweckmässige. Die Minorität der Arbeiter aber perhor-
reszirte aus prinzipiellen Gründen die Einführung der Eini- 1
gungsämter. Falls sich die Regierung und der Ausschuss-
referent von den in der Enquete gemachten Aeusserungen ’
bestimmen lassen, kann man den obligatorischen Arbeiter-
ausschuss als gefallen betrachten, ebenso die Institution der !
Genossenschaften, während die Institution der Einigungs-
ämter in beschränkter Form beibehalten werden dürfte. °
Die Gewerbeschiedsgerichte in Belgien. Im Jahre
1890 waren ebenso wie in den Jahren 1886—1890 25 Conseils
de Prud'hommes in Belgien thätig. Sie entschieden über
im Bereiche ihrer Kompetenz liegende 212 Streitigkeiten ;
zwischen Arbeitern, 4235 Streitfälle zwischen Unternehmern ,
und Arbeitern und über 84 ausser ihrer Kompetenz liegende :
Streitfälle zwischen Arbeitern und Unternehmern, somit im :
Ganzen über 4531 Fälle, von diesen wurden durch Vergleich ;
3399, durch Urtheil 457 erledigt. 667 Fälle wurden von den l
Parteien nicht weiter verfolgt und 8 harrten der Erledigung. ;
Den Conseils de Prud’hommes lagen vor im Jahre &1 862:
2761, 1865: 3382, 1875: 4158, 1885: 3336 und 1889: 4578 Fälle.
Von diesen wurden durch Vergleich (in Klammern durch
Urtheil) erledigt: 1862: 2345 (179), 1865: 2712 (419), 1 875 -
2750 (578), 1885: 2365 (322), 1889: 3391 (477).
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung
Bau von Arbeiterwolmungen aus (len Ueberschüssen
der deutschen lnvaliditäts- und Altersversicherung. Der
Vorstand der lnvaliditäts- und Altersversicherungsanstalt
für Sachsen- Anhalt hat beschlossen, ein Viertel der vor-
handenen Ueberschüsse, ungefähr eine Million Mark, in
Wohlfahrtseinrichtungen für die arbeitende Bevölkerung
anzulegen. Es ist der Bau von Arbeiterwohnungen oder
Beihülte dazu durch Darleihung von Kapitalien zu ganz
mässigem Zinsfuss in Aussicht genommen. Der gleiche
Plan sollte vor Jahresfrist von einer Versicherungsanstalt
der Provinz Brandenburg ausgeführt werden, fand aber
Widerspruch seitens der Arbeiter und blieb, soweit be-
kannt, unausgeführt.
No. 31.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
389
Wolimingsmitersuchung in Braunschweig. Der „Verein
für öffentliche Gesundheitspflege in Braunschweig will probe-
weise eine Wohnungsuntersuchung auf dem Klint, in der
Jedutenstrasse und m der Kitterstrasse veranstalten, um sich
dann auf Grund der gewonnenen Erfahrungen an die Stadt
bezw. Regierung zwecks Vornahme einer Gesammtunter-
suclmng zu wenden. Der angeblich bestehende Plan der
Regierung, gelegentlich der Volkszählung 1895 eine Woh-
nungsuntersuchung zu veranstalten, erfuhr eine abfällige
Kritik, weil — so wurde ärztlicherseits geltend gemacht —
bei Verbindung der Volkszählung mit der Wohnungsunter-
suchung die letztere jedenfalls nicht mit der erforderlichen
Sorgfalt ausgeführt werden würde.
Die Zahl der Wohnungen und Haushaltungen in
Belgien. Aehnlich wie in Deutschland wurde auch in
Belgien anlässlich der Volkszählung vom Jahre 1890 eine
Zählung der Häuser und Wohnungen vorgenommen. Die
vorläufigen Ergebnisse sind im Annuaire Statistique de la
Belgique (XXII. Annee1891) publizirt. Es wurden I 195 218
bewohnte und unbewohnte Häuser und 45 964 nicht zu
Wohnungen bestimmte Häuser gezählt. Von der ersteren
Kategorie kamen auf 100 Hektare 41 Häuser und 508 Ein-
wohner wurden auf 100 Wohnhäuser (bewohnte und nicht
bewohnte) gezählt. In Brüssel kamen auf 100 Häuser 953,
in Antwerpen 709, in Lüttich 786, in Seraing 561, in Gent
474 Bewohner, lieber 1000 Einwohner in 100 Häusern
wurden konstatirt in den Gemeinden Molenbeek - St. Jean
(Brabant) 1005, in Dison 1012 und Verviers 1062 (Beide in
der Provinz Lüttich). Ueber dem Landesdurchschnitte waren
die Häuser der Provinzen Brabant (597), Antwerpen (572),
Lüttich (566) und Limburg (509) bewohnt.
Das Königreich zählte im Jahre 1890 1339 843 Haus-
haltungen, gegen 890 566 im Jahre 1846, 936 284 im Jahre
1856, 1038 898 im Jahre 1866, 1202 919 im Jahre 1880. Im
Jahre 1890 kamen, sowie in den Jahren 1856 und 1866 112,
im Jahre 1880 113 und im Jahre 1846 111 Plaushaltungen
aut 100 Häuser. Auf 100 Haushaltungen kamen im Jahre
1890: 453, 1880: 459, 1866: 465, 1856: 484 und 1846: 487 Ein-
wohner.
Soziale Hygiene.
Statistik der Schankstätten in Berlin. Der jüngst heraus-
gegebene Verwaltungsbericht des Polizeipräsidiums von Berlin
enthält ausführliche Angaben über die Zahl und Art der
Berliner Schankstätten. Danach besass Berlin im Jahre 1890
291 Gastwirthschaften, 253 Lokale für Wein, 6243 Lokale für Bier,
35 Lokale für Kaffee, Thee, Chokolade, 719 Lokale für Bier, j
Kaffee, Thee. 823 Lokale für Branntwein, 142 Konditoreien, also
8506 Schanklokalitäten, deren Zahl sich auf 10 913 steigert, wenn
man noch die 103 Selterwasserbuden und die 2304 Kleinhand-
lungen mit Branntwein dazu rechnet. Gegen ein Jahrzehnt
vorher, gegen das Jahr 1881 giebt die letztere Zahl ein
Plus von 2806 dem Trinken geweihten Stätten. Seit 1881
haben sich vermehrt die Gastwirthschaften um 84, die Wein-
schänken um 127, die Bierschanklokale um 1060, die Bier-,
Kaffee- und Theeschankstätten um 226, die Branntweinschank-
stätten um 232, die Kleinhandlungen mit Branntwein um 1004;
dagegen vermindert die Kaffee-, Thee- und Chokoladenschank-
lokale um 23, die Konditoreien um 7 und die Selterwasser-
schankstätten um 5. Berlin hatte nach der Volkszählung vom
1. Dezember 1890 eine Einwohnerzahl von 1 578 794. Danach
kam eine Schankstätte auf 185 Seelen. Im Jahre 1885 kam eben-
falls auf 185 Seelen eine Schankstätte im Jahffe 1881 dagegen
auf je 170 Seelen eine. Die Gesammtzahl der Schank-
lokale ist also seit 1881 im Verhältniss zur Anzahl der
Einwohner geringer geworden. Das Polizeipräsidium hat
an der Ansicht festgehalten, dass in Berlin ein Bedürfniss zur
Errichtung neuer Branntweinschankstätten im Allgemeinen nicht
vorhanden sei und daher Widerspruch gegen die Errichtung
neuer Anlagen erhoben werden müsse. Von Bedeutung ist
ferner die Erörterung der Frage, in welchem Verhältniss die
Anzahl der Einwohner zu der Anzahl derjenigen Schankstätten
steht, in welchen vorherrschend oder nahezu ausschliesslich
Spirituosen ausgeschänkt werden, da der starke Verbrauch der
letzteren als Genussmittel insbesondere als schädlich für das
Gemeinwohl anzusehen ist. Von solchen Lokalen waren vor-
handen: 1881 bei 1 156 382 Seelen 591, also eine Branntwein-
schänke auf 1956 Seelen, 1890 bei 1 578794 Seelen 823, also eineBrannt-
weinschänke auf 1918 Seelen. Es ergiebtsich hieraus, dass seit
1881 eine nicht nen n ens werth e V erm ehr ung der Brannt-
weinschänken im Verhältniss zur Einwohnerzahl ein-
getreten ist Eine besondere Besprechung widmet der Bericht
j den sogenannten „Wiener Cafes“ und den Schanklokalen mit
j weiblicher Bedienung. Bezüglich der ersteren, welche sich im
I letzten Jahrzehnt sehr vermehrt haben, ist aus .sittenpolizeilichen
Gründen durch Verfügung vom 18. November 1886 angeordnet
j worden, dass diesen die Polizeistunde nur bis 2 Uhr Morgens,
und zwar immer nur für drei Monate verlängert wird. Diejenigen
I Konzessionäre, welchen bereits eine längere Polizeistunde be-
I willigt war, sind bis auf Weiteres im Besitze derselben belassen
worden Halten die Inhaber jedoch nicht auf Ordnung in ihren
Lokalen und lassen sie sich Ausschreitungen zu Schulden
kommen, so werden sie, falls eine Verwarnung fruchtlos ge-
blieben ist, in Betreff der Polizeistunde beschränkt. Diejenigen
Schanklokale, in welchen die Bedienung durch weibliche Per-
sonen erfolgt, haben leider zugenommen; es bestehen zur Zeit
924 mit 2022 Kellnerinnen, sie bilden also beinahe den neunten
Theil sämmtlicher Schanklokale. Es wurde daher allgemein an-
geordnet, dass die Polizeistunde für die Schankstätten in keinem
Falle mehr über 12 Uhr verlängert wird, und bis 12 Uhr nur
dann, wenn die Geschäftsführung eine erprobt zuverlässige ist.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
Adler, Dr. Karl, Das österreichische Lagerhausrecht.
Berlin, 1892. Carl Heymann’s Verlag. 8". 234 S.
Annuaire de la Bourse du travail (Annexe A.). 1890,91. Paris,
1892. 467 S.
Appelius, Dr. H, Die Behandlung jugendlicher Ver-
brecher und verwahrloster Kinder. Bericht der von
der internationalen kriminalistischen Vereinigung (Gruppe
Deutsches Reich) gewählten Kommission. Im Aufträge der
Kommission verfasst. Berlin, J. Guttentag, Verlagsbuchhand-
lung. 234 S.
Engels. Ernst, Oberbergrath und Mitglied des Hauses der Abge-
ordneten, Allgemeines Berggesetz für die Preussi-
schen Staaten. Berlin, 1892. J. Guttentag. 16°. 232 S.
Kautsky, Karl, Das Erfurter Programm. Stuttgart, 1892.
J. H. W. Dietz. 8°. 262 S.
Marx, K., Das Elend der Philosophie. Deutsch von E. Bern-
stein und K. Kautsky. Mit Vorwort und Noten von F. Engels.
2. Aull. Stuttgart, 1892. f. H. W. Dietz. 8". XXXIII und
188 S.
Minzes, Boris, Die Nationalgüterveräusserung während
der französischen Revolution mit besonderer Berück-
sichtigung des Departements Seine und Oise. Ein Beitrag
zur sozialökonomischen Geschichte der grossen Revolution.
Auf Grund ungedruckter Quellen. (A) u. d. T. Staats-
wissenschaftliche Studien. Herausgegeben von Dr. Ludwig
Elster. 4. Bd. 2. Heft.) Jena, 1892. G. Fischer. VII und
167 S.
Statistisches Jahrbuch für das deutsche Reich. Herausgegeben
vom Kais. Statistischen Amt. 13. Jahrgang, 1892. Berlin,
1892. Puttkammer & Mühlbrecht.
Statistique de la Belgique. Tableau General du Commerce avec
les pa}^s etrangers pendant l’annee 1890. Publie par le
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Chemins de fer. Postes, Telegraphes, Marine. Compte rendu
des operations pendant l’annee 1890. Brüssel, 1891.
Recensement göneral de la population au 31. Decembre 1890.
Brüssel, 1892. 16 S.
Annuaire statistique de la Belgique. XXII. annee 1891.
Brüssel, 1891. IX und 367 S.
Suchsland, Dr. H., Verbandsdirektor und Saeiiberlich, A., Ober-
amtmann, Verbände ländlicher Arbeitgeber. Berlin,
1892. Walther & Apolants Verlagsbuchhandlung. 8°. 29. S.
Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin für die Zeit
vom 1. April 1890 bis 31. März 1891. No. VIII. Bericht
über die städtische Armenpflege. Folio. 18 S.
Vogt, J. G., Eine Welt- und Lebensanschauung für das
Volk mit besonderer Berücksichtigung der wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen Fragen. 1. — 11.
Lieferung. Leipzig, 1892 Ernst Wiest. 8°. VIII und 9— 160 S.
Warno, Unitas. Hülfe in ernsten Zeiten. Ein zuverlässiger
Führer in Religion, Politik und Wirthschaft. Zürich, 1892.
Verlagsmagazin (J. Scbabelitz). 8°. 96 S.
* * * Wilhelm II. Romantiker oder Sozialist. Zürich. 1892.
Verlagsmagazin (J. Schabelitz). 8°. 34 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
390
ANZEIGEN.
No. 31.
23ertag Pon Sol) •‘öcinöl in SSicit. I. tSej. ©tepljouöplati Dir. 7 ffinftLer^b. Calais).
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Jahrgang I— X fohtcif her Bortaffjr rticfjt, Tratten fl. 3.- ö. H>. = 6 BMt.
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Sott
Emil Strauss, Verlagshandlung in Bonn.
Mit Januar 1892 begann ein neues Abonnement auf den XI. Jahrgang des
Centralblattes
für
allgemeine Gesundheitspflege.
Herausgegeben von
Di*. Finkelnburg, Dp. Lent, Dr. Wolffberg,
Professor a. d. Universität Bonn. Geh. Sanitätsrath in Cüln. Künigl. Kreisphysikus in Tilsit.
Jährlich erscheinen 12 Hälfte 8 ' mit zahlreichen Abbildungen und Tafeln.
Abonnements]» reis M. 10. — pro anno.
Das Programm des „Centralblattes für allgemeine Gesundheitspflege“ stellt sich
im Wesentlichen zusammen aus: Originalartikeln über alle Zweige der Gesundheits-
pflege, Berichten aus den Krankenhäusern der grösseren Städte, Sterblichkeits-
statistik mit Berücksichtigung der Todesursachen, Berichten über epidemische
Vorgänge, Seuchestatistik, Uebersiehten der hygienischen Bestrebungen des In- und
Auslandes, Medizinalgesetzgebung. Auszügen und Referaten über die neu erschienene
Literatur des In- und Auslandes etc etc.
Ferner enthalten die Hefte zahlreiche „Kleinere Mittheilungen“ ans dem
Gebiete der Hygiene, Literaturberichte, regelmässige monatliche Nachweisungen
über Krankenaufnahme und Bestand in den Krankenhäusern von 54 Städten der
Provinzen Westfalen, Rheinland und Hessen-Nassau etc. etc.
Abonnements auf den XI. .lalirgang nehmen alle Buchhandlungen und Post-
anstalten zum Abonnementspreise von M. 10. — pro anno entgegen. Die bereits
erschienenen Jahrgänge können zum Preise von M 10.— pro Jahrgang nachbezogen
werden.
Verlag der Manz’schen k. und k. Hof-Verlags- und Universitäts-Buchhandlung in Wien.
Di*. Bctfll|ttlb ÜUidjacl.
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Soeben erfcfjieit :
Jillpinius fniütffl
für bie
JJmtfnfrijcu finitt*»«.
33om 24. 3itnt 1865,
in ber Raffung ber 4JooeUe Pom 24. Sunt 1892,
mit ben für ben SSergbau geltenben SBeftimmungen ber
Dlooelle jur ©enierbeorbnung oom l.$uni 1891.
Xept-2(ui3gabe mit Slnmerfungcn unb ©adjvegifter ■
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(Prntf (Engels,
©bev^SergvaU) uitb SJlitglieb bc*3 £iau|e5 her Stbgcorbneten. J
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Die
• •
Österreichische Handelspolitik
im neunzehnten Jahrhunderte.
pdpfdjrift nir Brömnifi riner frteülicijcit
Suiiatafnrm.
©rgait bes ©Etflftfjßtt Buntes für Bobeit-
teflfjrEform.
Von
Dr. -A-d-olf Beer,
k. k. Ministerialrath und Beichstags- Abgeordneter.
Gr. 8. 3972 Bogen. Preis broscbirl 12 Mark.
Zum ersten Male wird in diesem Werke eine Darstellung der leitenden Gesichts-
punkte österreichischer Handels- und Zollpolitik, ausschliesslich auf handschriltlichen
Quellen fussend, gegeben. Besonders ausführlich werden die Bestrebungen Oester-
reichs zur Bildung einer Zolleinigung mit dem deutschen Zollvereine geschildert. Das
Werk liefert auch für die Würdigung der österreichischen Politik in den letzten Jahr-
zehnten manchen Beitrag und dürfte auch in weiteren Kreisen lebhaftes Interesse er-
wecken.
grfdjcint jebeit ÜJloittag.
21 b o n n e m e n 1 3 b e b i n g u n g e n :
23ei allen flSoftanftalten (91r. 2272
ber SPoftgeitungMiftel .... 93?f. 0, 0
23ei btrelter Äreusbaubfenbung:
in Seutfdflanb unb Oefterreict) . „ 1,20
im SBeltpofiüerein „ 1,50
Stt 23erlin bei freier ßufenbung . . „ R—
©iß (Expebilion
K. Hrclts, *0taUfrf|mtrßr|ir. 55.
Verantwortlich für den Anzeigentheil : O. Schuchardt in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 8. August 1892.
Nummer 32.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle BuchhandlungenjZeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT
Statistik der Haus weber ei im
schlesisch enE ul engebirge.
V on Prof. Dr.WernerSombart.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirthschaftsstatistik :
Enquete über Anstalten für Arbeits-
vermittelung in Deutschland.
Vorschriften für Kellnerinnenwirth-
schaften in Berlin.
Ziehkinderwesen in Leipzig.
Gesetzliche Regelung der Ausver-
käufe in Oesterreich.
Nothlage in der schweizerischen
Landwirthschaft.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Internationaler Typographenkon-
gress.
Verband deutscher Bergleute.
Die Kosten des letztenBuchdrucker-
strikes in Leipzig.
Politische Arbeiterbewegung:
Sozialistische Bauernbewegung in
Oesterreich.
Schweizerischer Grütli verein.
Unternehmerverbände :
Das gescheiterte Projekt eines
rheinisch- westfälischen Kohlen-
syndikats.
Die Aussperrung von Schuhmacher-
gesellen in Barmstedt.
Arbeiterschutzgesetzgebung :
Die schweizerische Bundesgesetz-
gebung über die Arbeitszeit beim
Betriebe der Eisenbahnen und
anderer Transportanstalten. Von
Kantonsstatistiker E. Naef.
Ausführungsverordnung zur neuen
Gewerbeordnung, betr. die Rege-
lung der Frauenarbeit inPreussen,
Die Sonntagsruhe im Eisenbahn-
güterverkehr.
Zur Sonntagsruhe in den berliner
Vororten.
Arbeiterschutzgesetz in New- Jersey.
Arbeiterversicherung:
Zwei Vorschläge zur Revision des
deutschen Unfallversicherungsge-
setzes. Von H. Horn.
Anweisung zur Ausführung des
deutschen Krankenversicherungs-
gesetzes v. 10. April 1892.
Die Invaliditäts- und Altersver-
sicherung im Stadtbezirke Berlin
im Jahre 1891.
Haftpflichtschutz verband Deutscher
Industrieller.
Jahresversammlung des wiirttem-
bergischen Krankenkassenver-
bandes.
Besitzvertheilung und Unfallstatistik
in der thüringischen Landwirth-
schaft.
Die Kaufleute und die Kranken-
und Unfallversicherung in der
Schweiz.
Gewerbegerichte , Einigungs-
ämter u. Arbeiterausscniisse :
Gewerbegerichte und Aufsichtsbe-
hörden in Württemberg und
Baden.
Statistik der Gewerbegerichte in
Baden.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Statistik der Hausweberei im schlesischen
Eulengebirge.
Zu denjenigen preussischen Handelskammern, welche
es von jeher als ihre Aufgabe betrachtet haben, auch Stati-
stik zu treiben, gehört in hervorragendem Masse die Handels-
kammer für die Kreise Reichenbach, Schweidnitz, Striegau
und Waldenburg, d. h. die Vertreterschaft des wichtigen
niederschlesischen Industriebezirks. Dass in diesem neben
Kohle, Steinen und Erden die Gewebeindustrie eine be-
deutende Rolle spielt, ist bekannt. Diese in ihrer Entwicke-
lung zu verfolgen, lässt sich daher die Handelskammer stets
besonders angelegen sein. Sie hat bereits eine Reihe werth-
voller Erhebungen auf diesem Gebiete veranstaltet und
j theilt jetzt in ihrem soeben erschienenen Jahresbericht für
das Jahr 1891 wiederum die Ergebnisse einer sehr gründ-
| liehen statistischen Aufnahme der Handweberverhältnisse
in ihrem Bezirke mit. Dieser umfasst zwar ein erheblich
weiteres Gebiet als das Eulengebirge, als Sitz der Haus-
weberei kommt jedoch dieses mit seinen hügeligen Ausläufern
vornehmlich in Betracht.
Die Erhebungen der Handelskammer sind sehr sorg-
fältig mittelst Individualfragezetteln, deren Vertrieb die
Ortspolizeibehörde besorgt hat, veranstaltet worden, so dass
sie uns ein getreues Bild von der heutigen Ausdehnung der
Hausweberei im Eulengebirge und den angrenzenden Ge-
bieten verschaffen. Die Aufnahme ist im Februar 1892 er-
folgt. Die wichtigsten Ergebnisse sind folgende:
Handweber wurden in 153 Ortschaften des Bezirks
insgesammt 7658 ermittelt. Davon waren männlichen Ge-
schlechts 4156, weiblichen 3502. Hauptsitz der Hausweberei
ist der Kreis Reichenbach mit 2265 männlichen und 1515
weiblichen Handwebern. Wenn wir von der Gesammtsumme
der Handweber 99 sog. Fabrikhandweber abziehen, d. h.
Handweber, welche in Räumen des Unternehmers weben,
so erhalten wir die Zahl der eigentlichen Hausweber: 7559.
Hiervon sind „Meister oder selbständige Weber“ 4342,
„Gehilfen“ (wozu auch die webenden Hauskinder über 14
Jahre — das Hilfspersonal unter 14 Jahren ist ausser Acht
gelassen — und die mitwebenden Ehefrauen gerechnet
werden) 3316. Die Familienzugehörigkeit der Gehilfen darf
in der Hausweberei als der weitaus häufigste Fall angesehen
werden, so dass jene Zahlen wesentlich das Verhältniss
zwischen Familienvätern bezw. Müttern und beschäftigten
sonstigen Hausgenossen darstellen.
Die Stoffe, welche in der Hausweberei des Bezirks
hergestellt werden, sind vorwiegend baumwollene Gewebe.
Mit der Erzeugung derselben befassen sich 4279 Weber,
mit der halbleinener Stoffe 1659, mit der leinener 1602,
mit der halbwollener 65, mit der wollener 53. Hauptsitz
der Leinenweberei ist der Kreis Waldenburg, in dem allein
von jenen 1602 Leinenwebern 1373 gezählt wurden; die
übrigen Branchen vertheilen sich ziemlich gleichmässig.
Sehr lehrreich sind ferner die Zahlen, welche den
Prozentsatz der Nebenbeschäftigten angeben. Es besteht
in weiten Kreisen immer noch die Wahnvorstellung, als sei
die Verbindung der Hausindustrie, insonderheit auch der
Hausweberei mit anderen, namentlich landwirthschaftlichen
Berufen die Regel. Dass diese Annahme grundfalsch ist,
lehren uns wieder einmal die Zahlen unserer Statistik. Sie
hat diejenigen Weber, welche sich nur mit Weberei von
denjenigen geschieden, welche sich auch mit anderen Er-
werbsarbeiten als Weberei und Spulerei beschäftigen-
392
SOZIALPOLJTIS« HES CENT RALBI, ATT.
No. 32.
Letztere Zahl drückt also das Maximum erwerbender Neben-
beschäftigung aus. Solcher nebenbeschäftigter Weber
wurden im Ganzen 1386 gezählt, während 6272 sich nur
mit Weberei beschäftigten. Im Kreise Reichenbach (Eulen-
gebirge) ist gar noch nicht ein Sechstel der Hausweber
nebenbeschäftigt (612 von 3780 1.
Alle diese Zahlen erscheinen nun aber in einem viel
hellerem Lichte, wenn wir sie in Vergleich stellen mit den
E r g e b n i s s e n f r ti h e r e r A u f n a h m e n , welche die Schweid-
nitzer Handelskammer gleichfalls veranstaltet hat. Zwar ist
der Erhebungsmodus in früheren Jahren nicht ganz der-
selbe wie im letzten Jahre gewesen; es ist nicht mittelst In-
dividualzählkarten, sondern nur durch Umfrage bei den
Ortspolizeibehörden die Zählung veranstaltet. Immerhin
werden wir die Ergebnisse der verschiedenen Erhebungen
vergleichen dürfen, wenn wir uns gegenwärtig halten, dass
die Ziffern aus früheren Jahren kleine Abweichungen von
der Wirklichkeit aufweisen können. Die grossen Züge der
Entwickelung lassen sich trotzdem mit ziemlicher Gewiss-
heit aus dem Vergleiche entnehmen.
Entwickelung der Hausweberei kann trotz aller mütter-
lichen Sozialpolitik nur Rückgang, Verfall bedeuten. In
der That ergiebt sich aus den Erhebungen der Schweid-
nitzer Handelskammer, dass die Zahl der Hausweber sich
seit 1871, also innerhalb zweier Jahrzehnte, um rund 50 pCt.
vermindert hat. Während 1891, wie wir sahen, 7668 Hand-
weber in dem Bezirke gezählt wurden, gab es 1871 deren
noch 15 326. Also trotz aller Hausmittelchen, die man zur
Erhaltung der Hausindustrie angewandt hat, eine Ver-
minderung auf die Hälfte. Das ist immerhin eine recht
erfreuliche Thatsache für alle diejenigen, die mit ihrem
Herzen nicht an der Hausindustrie hängen. Verringerung
des hausindustriellen Bodensatzes in einem so wichtigen
Gewerbszweige wie der Weberei, in einem so berüchtigt
wichtigen Hausindustriegebiete wie dem unsrigen, darf ge-
wiss als ein volkswirthschaftlich wie sozial bedeutsamer
Fortschritt angesehen werden. Interessant ist auch zu ver-
folgen, in welchen Etappen die Tödtung der Hausweberei
stattgefunden hat. Die purgirenden Jahre sind, wie leicht
begreiflich, die Jahre niedersteigender Konjunktur. Erfolgt
ein Aufschwung des Industriezweiges , dann vermag
auch die Hausweberei sich wieder ein Bischen zu er-
holen und bleibt stabil. So vermindert sich die Zahl
der Hausweber in den guten Jahren 1871 — 76 nur
von 15 326 auf 14047. Die Depression des Endes der 1870er
Jahre reisst dann aber empfindliche Lücken in die Reihen
der Handweber; sie vermindern sich bis 1881 auf 11752,
um zu Beginn des 9. Jahrzehntes sogar sich noch einmal
unter der verbesserten Geschäftslage auf 12 878 zu ver-
mehren (diese Zahl wird allerdings von Eingeweihten als
die zweifelhafteste bezeichnet!. Immerhin wird es der
Wirklichkeit entsprechen, wenn wir bis in die Mitte des
9. Jahrzehnts das 1881 erreichte Niveau annehmen. Nun aber
kommt der furchtbare Niedergang der Industrie 1885 bis
1888 und mit ihm hält Schritt die rasche Verringerung-
der Hausweberei. Das niedrige Niveau des Jahres 1891
darf bereits Ende der 1880 er Jahre als erreicht gelten. Die
vorübergehende Haussebewegung in der Textilindustrie
während der Jahre 1889/90 hat zu einer Vermehrung der
Hausweberei doch nicht mehr geführt. Und nun frisst der
Wurm an den letzten Resten. Die böse Zeit, welche
während der vei'gangenen Jahre wieder über die Textil-
industrie, gerade auch die Baumwoll- und Halbstoffweberei
hereinbrach, hat zu der Vergrösserung des Elends in Haus-
weberkreisen wesentlich beigetragen. Es ist aber auch be-
greiflich, dass die Beseitigung der jetzt noch bestehenden
Reste die furchtbarsten Konvulsionen verursacht, deshalb,
weil es jetzt mehr und mehr den „selbständigen“ Webern,
d. h. den Familienvorständen selbst an den Kragen geht.
Bisher hat sich die Verminderung noch viel mehr auf
Kosten der Hilfspersonen, sei es fremder, sei es Familien-
angehöriger vollzogen, die begreiflicher Weise noch eher
ein anderes Gewerbe ergreifen, oder, weil jünger, leichter
in die mechanische Weberei übergehen oder auch besser
wegwandern können. Unsere Statistik zeigt uns, dass die
Zahl der „Selbständigen“ sich seit 1871 um 40,2 pCt., die
der Unselbständigen dagegen um 54,2 pCt. vermindert hat.
Während 1871 noch 89,4 Unselbständige auf 100 Selbständige
entfielen, wurden 1891 nur noch 76,5 gezählt. Im Zu-
sammenhänge mit dieser Entwickelung steht wohl die That-
sache, dass die Zahl der Nebenbeschäftigten verhältniss-
mässig geringer wird. Während 1871 noch 17,2 pCt. der
Hausweber einen Nebenerwerb hatten, war diese Kategorie
1891 auf 12,8 pCt. herabgesunken.
In ebenso erfreulichem Masse wie die Hausweberei
zurück geht, blüht die Maschinenweberei in unserem
Bezirke auf. Sie weist, trotz aller zeitweiligen Baissebe-
wegungen doch eine stetige Zunahme der mechanischen
Webstühle auf, deren Zahl sich in den 12 Jahren von 1879
bis 1891 mehr als verdoppelt hat. Die Zahl der Maschinen-
stühle betrug im Bezirke:
1879 = 2536
1880 = 2668
1881 = 2794
1882 = 3058
1883 = 3143
1884 = 3476
1885 = 3810
1886 = 3907
1887 = 3932
1888 = 4413
1889 — 4817
1890 = 5289
1891 = 5439.
Es wird in Zukunft nur dafür gesorgt werden müssen,
dass die mechanische Weberei sich gerade in den Brenn-
punkten der Hausweberei ansiedele und ausdehne. Zu
diesem Ende, um den Todeskampf der Hausindustrie zu er-
leichtern, werden deren Sitze zuvörderst dem Verkehr er-
schlossen werden müssen. Zögert dann die private Speku-
lation, in die entlegenen Gebiete der Hausweberei mit der
Anlage von Fabriken einzudringen, so wird der Staat direkt
oder indirekt stimulirend nachhelfen müssen. Wenn nur
erst die sentimentale Vorliebe für altfränkische Betriebs-
formen aus den massgebenden Kreisen vollständig verbannt
ist, dann wird sich die Gesundung der Verhältnisse schon
rasch genug vollziehen.
Zum Schluss möchten wir aber doch noch des
Urtheils Erwähnung thun, welches die S chweidnitzer
Handelskammer selbst, offenbar eine der kompetentesten
Körperschaften, über die Ziele hausindustrieller
Politik fällt. Vielleicht, dass wir darin einer eventuell
nothwendig werdenden staatlichen Unterstützung der Fabrik-
anlagen gedacht sehen möchten — freilich eine Erwägung,
die über den Rahmen einer Interessenvertretung privater
Industrieller hinausfällt — sonst stimmen wir der Handels-
kammer vollkommen bei, wenn sie in ihrem diesjährigen
Bericht (S. 5) sagt: „wir sind der Ueberzeugung, dass alle
anderen Versuche, die Erwerbsverhältnisse zu bessern (sc.
ausser der Hebung des Verkehrs, Erschliessung der Gegen-
den durch Eisenbahnen) nur zu Palliativmitteln führen
werden, die lediglich vorübergehend wirken können und
für eine so grosse Bevölkerung völlig unzureichend sind.
Namentlich darf nicht vergessen werden, dass die Neuein-
führung anderer Hausindustrien grossen Bedenken unter-
liegt. Alle reinen Hausindustrien sind in ähnlicher Lage
wie unsere Handweberei, sie werden schlecht bezahlt. Sie
sind meist der Mode unterworfen und ihr Absatz ver-
schwindet zuweilen ganz plötzlich, auch sind sie fast alle
der Gefahr ausgesetzt, von der mechanischen Industrie bei
der rapiden Entwickelung unseres Maschinenwesens ver-
drängt zu werden. . . . Auf die Förderung und Entwicke-
lung des grösseren mechanischen Fabrikbetriebes muss da-
No. 32.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
T
393
her vor allem das Augenmerk gerichtet werden. Von
diesem Standpunkt aus sind wir für die Errichtung einer
Webeschule in Reichenbach und namentlich dafür sehr
dankbar, dass dieselbe vor allem die Förderung der mecha-
nischen Weberei ins Auge gefasst hat. Die mechanische
Weberei ist ohne Frage der naturgemässeste Ersatz
für die Hand web er ei und ihre Entwickelung hat die
meiste Zukunft in unseren Weber tretenden.“
o o
Breslau. Werner Sombart.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Enquete über Anstalten für Arbeitsvermittelung in
Deutschland. Die Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrich-
tungen in Berlin veranstaltet jetzt, um, wie sie sagt, eine bessere
Organisation der Arbeitsvermittelung herbeizuführen und dadurch |
die Beziehungen zwischen Angebot und Nachfrage von Arbeit
zu vermehren und zu erleichtern, eine Ermittelung über die im
Deutschen Reiche vorhandenen Arbeitsnachweisestellen. In
grösseren Blättern erlässt Geheimer Regierungsrath Dr. Post in
Berlin die Aufforderung, dass die ,, Leser“, sofern ihnen irgend
eine solche Vermittelungsstelle, und sei sie noch so klein, bekannt
ist, ungesäumt der Centralstelle davon Nachricht geben, damit
die Fragebogen an die in Frage kommenden Personen versendet
werden können. „Namentlich sollte man auch daran denken,
auf die von Arbeitern, Gewerk- oder Fachvereinen eingerichteten
Arbeitsnachweise aufmerksam zu machen“, heisst es in den
bezüglichen Bekanntmachungen. Deutsche Ärbeiterblätter kriti-
siren dieses Vorgehen deshalb, weil sich die Centralstelle nicht
direkt an die zahlreichen Arbeitsvermittelungen wende, welche
von den Gewerkschaften betrieben werden, und tordern die
letzteren auf, ihr Material auch ohne besondere Aufforderung
an die „Centralstelle“ zu schicken.
Vorschriften für Kellnerinnen-Wirthschaften in Berlin.
Der Berliner Polizeipräsident hat eine neue Polizeiverordnung
für Wirtschaften mit Kellnerinnenbedienung veröffentlicht; die-
selbe tritt mit dem 1. Oktober d. J. in Kraft. Gegenüber den
bisherigen Vorschriften ist Folgendes neu. In den Schankräumen
der Gast- und Schankwirthschaften, in welchen Kellnerinnen
zur Bedienung der Gäste gehalten werden, sind alle Einrich-
tungen verboten, durch welche Räume oder Plätze versteckt,
verhüllt oder in irgend einer Weise dem freien Ein- und Ueber-
blick entzogen sind. Der Betrieb des Schankgewerbes darf
Morgens nicht vor 7 Uhr beginnen. Die Kellnerinnen beschäf-
tigenden Wirthe haben dem Polizeireviere, in welchem die
Wirthschaft belegen ist, ein Verzeichniss der Kellnerinnen,
welches den Vor- und Zunamen, das Datum der Geburt, den
Geburts- und Heimathsort, den Namen, Stand und Wohnort des
Vaters oder Vormundes, den Aufenthalt während der letzten
drei Jahre, die Wohnung und den Tag des Eintrittes enthalten
muss, einzureichen und demnächst in gleicher Weise jeden Ein-
und Austritt der Kellnerinnen binnen 24 Stunden zu melden.
Die_ Kellnerinnen haben anständige und durchaus unauffällige
Kleidung zu tragen. Die Kleider müssen insbesondere am Halse
geschlossen sein und mindestens bis zum Fussgelenk herab-
reichen. Es ist den Kellnerinnen verboten, in unanständiger
oder auch nur auffälliger Weise an den Fenstern oder Thüren
der Schankräume oder an den Hausthüren zu verweilen und
Personen in die Schankräume anzulocken; sie dürfen weder für
sich noch für Andere Speisen oder Getränke von Gästen erbitten,
noch Gäste zum Trinken auffordern oder bereden. Es ist ihnen
ferner unbedingt untersagt, an den Gasttischen in Gemeinschaft
mit Gästen Platz zu nehmen. Für die Beachtung der Vorschriften
sind sowohl die Kellnerinnen, wie ihre Arbeitgeber oder deren
Stellvertreter verantwortlich. Zuwiderhandlungen werden, sofern
nicht die Strafbestimmungen des § 365 des St.-G.-B. Anwendung
finden, mit Geldstrafe bis zu 30 Mi geahndet.
Ziehkinderwesen in Leipzig, ln dem reichhaltigen
jüngsten Verwaltungsberichte der Stadt Leipzig berichtet
Dr. Taube über die Fortschritte, welche die jüngst ge-
schaffene Einrichtung der Ziehkinder und der städtischen
Obervormundschaft aufweist. Bei dieser Gelegenheit ge-
langte die Verwaltung auch in den Besitz einiger Angaben
über den Beruf der Mütter und Väter von 731 unehelichen
Kindern. Als deren Mütter wurden konstatirt: 7 Gesell-
schafterinnen, 161 Näherinnen, Stickerinnen, Verkäuferinnen,
201 Dienstmädchen, 182 Fabrikarbeiterinnen, 59 Hand-
arbeiterinnen, 28 Kellnerinnen, Sängerinnen, 10 Kranken-
wärterinnen, 25 Wäscherinnen, Plätterinnen, 7 Prostituirte,
ferner 19 Wittwen und 31 bei den Eltern wohnhafte Mäd-
chen. Als Väter wurden angegeben: 185 Handwerker,
80 Handarbeiter, 44 Markthelfer, 35 Oekonomen, Kutscher,
58 Maurer, Zimmerleute, 73 Fabrikarbeiter, 12 Künstler,
18 Diener, Kellner, 76 Kaufleute, 21 Beamte, 3 Lehrer,
1 8 Studenten, 4 Aerzte, Rechtsanwälte, Gelehrte, 26 Offiziere
und Unteroffiziere, 58 Soldaten, 9 Rentiers und nur bei
11 Fällen blieben die Väter unbekannt. Mag man auch
über das Ziehkinderwesen resp. über die Massnahmen mit
Unehelichen leicht anderer Ansicht sein als die Stadtver-
waltung von Leipzig, so muss man doch den an dieser
Stelle des Verwaltungsberichtes gemachten nachdrücklichen
Aeusserungen beipflichten. Es wird hervorgehoben, dass
der Durchschnitt (?) der Mütter die unehelichen Kinder
nicht zu ernähren vermag, weder selbst noch durch Ver-
mittelung von Pflegeeltern, welche mindestens 4 M. wöchent-
lich Entlohnung erhalten müssen. Es ist somit absolut un-
ausweichlich, dass bei Fortbestand des ungeregelten Zustandes
die grosse Masse der unehelichen Kinder in Grossstädten
verkommt. Dagegen ist es im Allgemeinen leicht die Väter
zu ermitteln und von ihnen die Alimentationsbeträge zu
erhalten, falls sich eine Administrationsbehörde zwischen
das uneheliche Kind und dessen Mutter stellt, während
dann, wenn die Verhältnisse ausschliesslich im Rechtsweg
geregelt werden, die Väter der unehelichen Kinder zu
grossem Prozentsätze entweder unbekannt bleiben oder sich
der Pflicht zur Zahlung der Beiträge entziehen. Darin liegt
entschieden ein Hinweis, in welcher Richtung die Sorge
für die uneheliche Propagation ihre Normirung finden sollte.
Andere Behauptungen des Referenten sind von brutaler
Härte; so z. B. die folgende: es würden sich gar manche
kinderlose, gutsituirte Personen finden, welche verlassene
uneheliche Kinder aufnehmen und aufziehen würden, ohne
Ersatz zu beanspruchen, doch scheuen sie dies aus dem
Grund, weil sie fürchten, von der Mutter des Kindes Er-
pressungen zu erfahren unter der steten Androhung der
Wegnahme des Kindes. Der Referent behauptet geradezu,
dass die Mutter des unehelichen Kindes in der Regel ge-
neigt ist, gewinnsüchtige Vortheile anzustreben und dass
es dann, wenn sich die Mutter von ihm lossagt, überflüssig
sei, ihr in einem solchen Falle den Aufenthalt des Kindes
mitzutheilen ; es genüge, wenn er der Obervormundschaft
bekannt sei. Ja, in vielen Fällen schlägt dieser gewinn-
süchtige Vorgang der Mütter zum grössten Nachtheile des
Kindes aus. . . . Nun zugegeben, dass dies in umfassendem
Masse richtig sei, so zeigt es nur, zu welch’ unnatürlichen
Zuständen unsere Gesetzgebung und soziale Lage die
heiligsten Gefühle der Menschen verzerrt. Der Referent
aber dürfte in seiner Forderung nach Verheimlichung des
Aufenthaltsortes des Kindes der Mutter gegenüber kaum
Anhänger finden.
Gesetzliche Regelung der Ausverkäufe in Oesterreich.
Das österreichische Handelsministerium hat einen Gesetzentwurf
betreffend die Regelung der Ausverkäufe ausgearbeitet, dem zu
Folge die Veräusserung eigener oder fremder Waaren mittelst
eines auf Massen- oder Schnellverkäufe abzielenden öffentlichen
Ausverkaufs nur mit Bewilligung der Gewerbebehörde gestattet
sein soll. Diese Bewilligung'' soli in der Regel nur auf die Dauer
von höchstens drei Monaten sich erstrecken. Für solche Ge-
schäfte, deren Besitzer gestorben sind, oder welche bereits seit
wenigstens drei Jahren' bestehen, kann jedoch die Dauer des
Ausverkaufs bis zu sechs Monaten, in besonders berücksichtigens-
werthen Fällen bis zu einem Jahre verlängert werden. Die Be-
willigung wird an die Entrichtung einer besonderen Gebühr
geknüpft, und zwar für Wien 10 bis 100 Gulden, für Städte mit
mehr als 50 000 Einwohnern 5 bis 50 Gulden, für alle übrigen
Orte 2 bis 30 Gulden. Auf Verkäufe, welche in Folge richter-
licher oder behördlicher Anordnung erfolgen, würde das Gesetz
natürlich keine Anwendung finden.' Die wichtigste Bestimmung
desselben dürfte sein, dass der Bewerber um eine Bewilligung
zum Ausverkauf die Menge und Beschaffenheit der zu ver-
äussernden Waaren behördlich anzumelden hat, und dass der
Ausverkauf nur auf die ursprünglich angemeldeten Waaren sich
erstrecken darf. Das österreichische Handelsministerium hat
über den Entwurf, bevor derselbe zur parlamentarischen Behand-
lung gestellt werden soll, eine Enquete bei den Handels- und
Gewerbekammern eingeleitet.
Nothlage in (1er schweizerischen Land wirthschaft.
In Folge des konstatirten Nothstandes in der Landwirth-
schaft hat der Züricher Regierungsrath eine besondere
Untersuchungskommission von 21 Mitgliedern aufgestellt,
welche nunmehr nach eifrigen Berathungen ein umfang-
reiches Programm für die Staatshilfe aufgestellt hat. Nach
394
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 32,
demselben soll durch Reform der Steuergesetzgebung eine
bedeutende Entlastung der Landgemeinden ermöglicht
werden, indem der Staat beträchtliche Mehrleistungen für
das Strassen-, Schul- und Armenwesen zu übernehmen
hätte, dem Staat sollen zu diesem Zwecke vermehrte Ein-
nahmen zugeführt werden durch ein neues Erbschaftsge-
setz, Stempeltaxen auf Aktien, Obligationen und Wechsel,
Einführung des Tabakmonopols durch den Bund in der
Erwartung , dass die Ueberschüsse wie beim Alkohol-
monopol den Kantonen zufallen, ferner Erhöhung des
steuerfreien Einkommensminimum, Besteuerung- der land-
wirthschaftlichen Liegenschaften nach dem Ertragswerth
statt nach dem Verkehrs werth. Die Aktiengesellschaften
sollen gleichzeitig mit den Aktien besteuert werden. Weiter
ist vorgeschlagen obligatorische Selbsteinschätzung der
Steuerpflichtigen mit amtlicher Inventarisation im Todesfall.
Die obligatorische Viehversicherung .wurde als dringende
Nothwendigkeit anerkannt und ein Entwurf hierfür aus-
gearbeitet. Derselbe erklärt die Vieh Versicherung für Gross-
vieh obligatorisch, überlässt die Versicherung von Schweinen
und Ziegen dem freien Entschlüsse der Versicherungskreise,
schliesst die Pferde wegen des zu grossen Risikos und weil
schon anderwärts für diese Versicherungsgelegenheiten be-
stehen, aus, sieht einheitliches Rechnungswesen vor, lässt
im Uebrigen die Organisation der Versicherung innerhalb
grössererVersicherungskreise frei, verlangt für die Bestreitung
der Kosten Beiträge vom Bund, vom Kanton und von der
Kantonalbank, schliesst Handelsvieh von der Versicherung
aus und stipulirt eine Entschädigung, auszahlbar spätestens
binnen 10 Tagen, von 90 pCt. des Schadens auf Grundlage
des Geldwerthes und der letzten Schätzung vor dem Um-
stehen.
Als eine der wichtigsten, zugleich aber auch schwierig-
sten Fragen wurde die Verschaffung von Nebenverdienst
neben dem rein landwirtschaftlichen Betrieb behandelt und
anerkannt. Die Kommission weist in dieser Hinsicht auf die
genossenschaftliche Organisation für Einführung der Fabri-
kation von Konserven, namentlich Obstkonserven hin, womit
dann im Allgemeinen eine bessere Organisation des Obst-
handels durch mehr kaufmännischen Betrieb verbunden
sein müsste.
Eine Reihe von weiteren Vorschlägen betreffen das
landwirthschaftliche Bildungswesen, die Hebung der Boden-
kultur, Förderung der Viehzucht, Revision der Hypothekar-
gesetzgebung. Eine Herabsetzung des Schuldbriefzinses
wird als zur Zeit unthunlich erklärt, dagegen soll nach den
Vorschlägen des Bankrathes mit Hilfe der Kantonalbank die
Landwirthschaft durch Erleichterungen bei der Verzinsung
der Grundschulden unterstützt werden. Das staatliche
Getreidemonopol lehnte die Kommission mit allen gegen
die Stimme des schweizerischen Arbeitersekretärs ab, da-
gegen beschloss sie, es dürfte von Staats- und Bundeswegen
Bedacht genommen werden auf die Errichtung von Sortir-
und Lagerräumen für einheimisches Getreide, und es wünscht
die 21er Kommission in diesem Sinne nähere Prüfung durch
den Regierungsrath.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Internationaler Typographenkongress. Nach der
„Typographia“ soll vom 25. — 27. August in Bern die
II. Tagung dieses Kongresses stattfinden. Bis jetzt sind
bereits Vertreter aus Frankreich, Luxemburg, Rumänien,
Deutschland, Ungarn und der Schweiz angemeldet, doch
werden noch solche aus Amerika, Belgien, Bulgarien, Däne-
mark, England, Holland, Italien, Spanien und Oesterreich
erwartet. Zur Berathung ist angemeldet der Statutenent-
wurf für den internationalen Verband, dazu kommt der
Bericht, betreffend Regulirung der Reiseunterstützung vom
internationalen Standpunkt aus und die Regulirung des
Lehrlingswesens.
Aus Deutschland ist folgender Beschlussentwurf ein-
gegangen:
„Der internationale Buchdruckerverband schliesst sich
der allgemeinen Arbeiterbewegung behufs Erlangung des
Achtstundentages an.“
Verband deutscher Bergleute. Am 1. August fand die
zweite Generalversammlung des Verbandes deutscher Bergleute
in Bochum statt. Anwesend waren 54 Delegirte mit 69 Stimmen-
in Rheinland und Westfalen sind die Delegirten nach Bezirken
von je 500 Mitgliedern gewählt worden, während für die übrigen
deutschen Bezirke ein Delegirter 2000 Mitglieder vertritt.
Nach dem Jahresberichte hat der Verband 1891 infolge
des unglücklichen Strikes an Mitgliedern gewonnen, ist dann
aber zurückgegangen, infolge von allerlei gegen ihn angewandte
Mittel wie die Schank- und Lokalsperre. Durch die Gründung
des christlich-patriotischen Verbandes zersplitterten sich eben-
falls die Kräfte. Die Agitationsreise der Delegirten Siegel und
Schröder nach Schlesien und der Provinz Sachsen brachten dem
Verbände einen merklichen Zuwachs. Der Vorsitzende Schröder
hat auf seiner Agitationsreise im Saarrevier 40 Versammlungen ab-
gehalten und erfahren, dass die Saaltreiberei dort im Grossen
betrieben wird. Die klerikale Presse hat nach seinen Ausfüh-
rungen an Einfluss verloren, dagegen ist das Verbandsorgan
dort eingeführt. Die Agitation zur Zeit der Knappschaftsältesten-
wahlen hat den Erfolg gehabt, dass achtzig Aelteste und die
doppelte Zahl an Ersatzmännern gewählt worden sind. Die
Berggesetznovelle ist dem Verbände zu unerwartet gekommen
und es konnte deshalb wenig gethan werden. Es sind in Rhein-
land und Westfalen 380, im Saarrevier 40 und anderswo etwa
120 öffentliche Versammlungen abgehalten worden.
Meyer erstattet den Rechenschaftsbericht für die Zeit
vom 1. Juli 1891 bis zum 1. Juli 1892. Die Einnahmen betrugen
57 950,91 M., die Ausgaben 57 166,77 M., der Ueberschuss 783 M.
Auf Rheinland und Westfalen entfiel von der Einnahme 50 192 M.,
auf das Saarrevier 1666 M., auf Niederschlesien 2231 M., auf
Sachsen 2542 M., auf das Wurmrevier 687 M., auf Nassau und
den Plauenschen Grund 629 M. Für Agitation wurde ausgegeben
6336,51 M, für Rechtsschutz 6140 M., für Verwaltung 6790 M , für
Fachzeitung 33 963 M., für Miethe, Heizung 2143 M. u. s. w. Meyer
fährt fort: Wir haben in 170 Ortschaften Mitglieder. Jedes Mit-
glied kostet uns 1 ,30 M. In 75 Ortschaften sind die Mitglieder unter
den Selbstkosten geblieben. Einzelne Bezirke mussten abgemel-
det werden, weil sie der Existenz ihrer Mitglieder wegen sich
der Gefahr der polizeilichen Anmeldung nicht unterziehen
wollten. Sie fürchteten, die Polizei könne bei den Zechen den
Denunzianten machen.
Der Verband ist in letzter Zeit fortgesetzt den Krebsgang
gegangen, die Einnahmen zeigen es. Im vorigen Jahre betrug
die Monatseinnahme 2040 M. mehr als in diesem Jahre; das be-
deutet für jetzt einen Verlust von 7000 Mitgliedern. Die Sache
muss nothwendig auf einen anderen Karren geladen werden.
Der Druck und die Verhältnisse haben ja viel gethan, aber
sehr viel liegt an der Leitung des Verbandes. Vor Allem muss
von jetzt ab das Parteigetriebe aus dem Verbände ferngehalten
werden.
Die gefassten Beschlüsse waren nicht von allgemeinem
Interesse, wohl aber die Debatten, indess auch diese'nur inso-
weit, als sie zeigten, dass die Leistungsfähigkeit des Verbandes
nach innen und aussen ebenso wie die Einigkeit und die
Schaffensfreude der Mitglieder erheblich geschwächt ist. Ein
grosser Theil der alten Vereinsfunktionäre wurde wiedergewählt,
einige aber lehnten verbittert eine ihnen angebotene Wieder-
wahl entschieden ab. Der Verband wurde in „Verband deut-
scher Berg- und Hüttenleute“ umgetauft. Von verschiedener
Seite, besonders von den Delegirten aus dem Saarreviere und
denen aus Schlesien und Sachsen war der Antrag gestellt wor-
den, von jetzt ab auch die Hüttenleute zuzulassen. Dieser An-
trag wurde damit begründet, dass verschiedene Zechen Erze
förderten und diese selbst verarbeiteten. Die Bergleute hätten
dort mit den Hüttenleuten eine und dieselbe Knappschaftskasse
und Verwaltung, und es wäre deshalb nothwendig, den Wünschen
der Hüttenarbeiter, Verbandsmitglieder werden zu können, nach-
zukommen. Es wurde beschlossen, von jetzt ab auch Hütten-
arbeiter in den Verband aufzunehmen, da hierdurch eine Stär-
kung des Verbandes eintreten würde.
Die Kosten des letzten Buchdruckerstrikes in Leipzig.
Der Vertrauensmann des Unterstiitzungsfon.ds der in den Buch-
druckereien beschäftigten Arbeiterinnen und Hilfsarbeiter ver-
öffentlicht die Abrechnung über den Buchdruckerstrike, an dem
sich auch viele Hilfsarbeiterinnen betheiligten. Die Einnahmen
beliefen sich hiernach in der Zeit vom I. Oktober 1891 bis
31. März 1892, einschliesslich eines am 30. September 1891 vor-
handen gewesenen Kassenbestandes von 300 M., auf 51 943 M.
und die Ausgaben auf 51 138 M. Die Einnahmen setzen sich
aus den Wochenbeiträgen und Extrasteuern in Höhe von 1902 M.,
den Beiträgen der Tarif kommission Leipziger Buchdrucker-
gehilfen: 19637 M, des Vereins Gewerkschaftskartell: 7533 M.
zusammen, vom „Wähler“ wurden übermittelt 14 860 M., ausser-
dem kamen ein: vom Leipziger Maifonds (1891) 1366 M., durch
Sammellisten 4043 M. und 2300 M. sonstige Einnahmen. Für
Unterstützung sind 50 174 M., der Rest der Ausgaben ist für
Gerichts-, Verwaltungskosten, Entschädigungen u. s. w. ausge-
geben worden. Der noch vorhandene Kassenbestand von
805 M. ist zur Unterstützung derjenigen Hilfsarbeiter und Hilfs-
arbeiterinnen verwendet worden, die nach dem Ausstand keine
Arbeit wieder erhielten.
No. 32.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALÜLATT.
395
Politische Arbeiterbewegung.
Sozialistische Bauernbewcgung in Oesterreich. Die
sozialistische Bauernbewegung, deren Anfänge das Sozial-
politische Centralblatt schon in seiner No. 14 aus der
Umgebung von Wien melden konnte, scheint sich weiter-
zuentwickeln. Wenigstens schreibt jetzt auch das „N.
W. Tgbl.“ über die Entwickelung der sozialdemokrati-
schen Agitation unter den Bauern: „Schon seit längerer
Zeit versuchen es die Sozialdemokraten, auf dem flachen
Lande und unter den Bauern Propaganda für ihre Ideen
zu machen. Diese Agitation hatten die „oppositionellen“
Sozialisten begonnen und jetzt treten die offiziellen in ihre
Fusstapfen. Verflossenen Sonntag fand in Atzgersdorf
eine in diesem Sinne veranstaltete sozialdemokratische
Volksversammlung statt, zu der Bauern aus der Umgegend,
wenn auch in nicht zu grosser Anzahl erschienen waren.
Die Arbeiterredner warnten in ihren mit Beifall aufgenom-
menen Ausführungen das Landvolk vor den Liebeswer-
bungen der Christlich-Sozialen. Der Beifall, den die Aus-
führungen der Redner, von denen einer den Bericht über
den dritten Parteitag der Sozialdemokratie in einer für das
Landvolk leicht fasslichen Weise erstattete, fanden, veran-
lassten die Sozialdemokraten, auch für nächsten Sonn-
tag nach Krems a. d. Donau eine Volksversammlung ein-
zuberufen, für die hauptsächlich unter den Bauern und
ländlichen Dienstboten agitirt wird. Das Programm der
Versammlung bringt die Lage der Bauern und Landarbeiter
in Beziehung zur Lage der Fabrikarbeiter und propagirt
den Eintritt der ersteren in die sozialdemokratische
Bewegung. Ein Aufruf, der die Prinzipien der Sozial-
demokratie in einer für das Landvolk berechneten Form
darlegt und auch die religiösen Ueberzeugungen desselben
berücksichtigt, ist in Vorbereitung und wird in zehntausen-
den von Exemplaren verbreitet werden. Auch wird beab-
sichtigt, ein aus sozialdemokratischen Bauern bestehendes
Bauernkomite zu errichten, das die Agitation auf dem
flachen Lande in seine Hände nehmen wird. In weiterer
Folge wird ein Bauernblatt mit sozialdemokratischer
Tendenz gegründet werden, das die Bestimmung haben
soll, die „zerstörten Einzelexistenzen“ unter der Bauern-
schaft, die „Landproletarier“, in die Arme der Sozialdemo-
kratie zu führen.“
Schweizerischer Griitliverein. Der vor Kurzem ver-
öffentlichte Jahresbericht des schweizerischen Grüt'.ivereins
bietet ein sehr erfreuliches Bild von der regen Thätigkeit
dieses Vereins im verflossenen Jahre. Wie im Bericht des
Arbeiterbundes wird auch hier der verschiedenen sozial-
politischen Anregungen in den eidgenössischen Räthen
gedacht. Hinsichtlich der Revision des Fabrikgesetzes
bemerkt das Centralkomite, dass es von Seite der Arbeiter
noch vieler Thatkraft und Anstrengung bedürfe, um in
nächster Zeit einer gesetzlichen Reduktion des Maximal-
arbeitstages auf 10 Stunden zum Durchbruch zu verhelfen.
Durch die internationale Arbeiterschützkonferenz in Berlin
sei dem schweizerischen Bundesrath die Wiederaufnahme
internationaler Verhandlungen in der von ihm ursprünglich
verfolgten Angelegenheit erschwert. Die Arbeiterschaft
werde nur dadurch zu dem für ihre Interessen ebenso wie
für die allgemeine Kulturentwickelung wünschbaren Ziele
gelangen, wenn sie selbst in allen Ländern der Industrie
den internationalen Arbeiterschutz im Allgemeinen und die
Regulirung der Arbeitszeit im Besonderen als die aller-
dringlichste Forderung der Gesetzgebung in den Vorder-
grund stelle. Inzwischen aber werde gleichwohl auch auf
dem Boden der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Ent-
wickelung nicht stille stehen können und sei es Sache des
Grütlivereins, das Banner voranzutragen. Die kantonalen
Verbände und die einzelnen Sektionen werden ermahnt,
immer wieder die Ergänzung des eidgenössischen Fabrik-
gesetzes durch kantonale Gesetzesbestimmungen zu fordern,
wobei an die kantonalen Erlasse zum Schutze der Frauen
und Mädchen in den dem eidgenössischen Gesetze nicht
unterstellten Konfektions- und ähnlichen Geschäften er-
innert wird.
Ueber die Stellung und Ziele des schweizerischen
Grütlivereins spricht sich der Bericht u. A. folgendermassen
aus: „Auf dem grossen Kampffelde der sozialen Demokratie
bildet der Griitliverein die schweizerische Vorhut, die an
der Spitze marschirt und das Terrain aufklärt, ohne die
Verbindung mit den übrigen Theilen und den vaterländisch-
nationalen Charakter zu verlieren. Darum werden in den
verschiedenen Kantonen die Sektionen eintreten für die
Hebung und Verbesserung des Schulwesens, für die volle
Unentgeltlichkeit der Volksschule, für erleichterten Zutritt
zur höheren Schulbildung auch für die unbemittelten Volks-
klassen, für Verbesserungen auf dem Gebiete der Kranken-
pflege, bis das eidgenössische Gesetz hier eintritt, für eine
bessere Fürsorge des Staates für Waisen und andere arme
Kinder, für Unentgeltlichkeit der Beerdigung, für den Er-
lass kantonaler Gesetze zum Schutze der Arbeiterinnen, für
die Ergänzung und Unterstützung der eidgenössischen
Fabrikinspektion durch kantonale Organe, für Einführung
eines gerechten, die Arbeit und die unbemittelten Existenzen
entlastenden Steuersystems, Einschränkung des Erbrechts
und Erhöhung der Erbschaftssteuer. Der Griitliverein wird
auch immer wieder Fühlung suchen mit dem nach besseren
Existenzbedingungen ringenden Kleinbauernstand, für
welchen die Zinstrage gerade so brennend ist, wie für den
Arbeiter die Lohnfrage. Das Programm des Grütlivereins
ist nicht die Herrschaft eines Standes über die anderen
Stände, sondern die Förderung der allgemeinen Wohlfahrt
auf Grundlage praktischer Sozialpolitik.“
Am Ende des Berichtsjahres zählte der Grütliverein
352 Sektionen mit 15 241 Mitgliedern. Die Gesammtausgaben
belaufen sich auf 246 000 Frcs., die Bibliotheken der Sek-
tionen zählen 48 603 Bände. Es wurden 644 Vorträge ver-
anstaltet, namentlich über eidgenössische und kantonale,
soziale und volkswirthschaftliche, gewerbliche und wissen-
schaftliche Fragen. Unterricht wurde in 8390 Stunden
ertheilt.
An freiwilligen Unterstützungen und Hilfe für bedürf-
tige Mitglieder wurden von den Sektionen gegen 8000 Frcs.
zusammengesteuert. Daneben besitzt der Verein noch eine
weitverzweigte Kranken- und Sterbekasse.
Unternehmerverbände.
Das gescheiterte Projekt eines rheinisch-westfälischen
Kolilensyndikat-s. Nächst der Eisenindustrie und der chemischen
Industrie hatten in Deutschland bisher die Kartelle in der Kohlen-
produktion die grösste Ausdehnung gewonnen, aber im Gegensätze
zu den Kartellen der Eisenindustrie umfassen die Kohlenkartelle
nur verhältnissmässig kleine Reviere. Ein weiterer Schritt in der
Entwickelung der Kohlenkartelle sollte in den letzten Wochen
gemacht werden, indem man sämmtliche oder wenigstens den
weitaus grössten Theil der Kohlenzechen des Dortmunder Reviers
(Ruhrkohlengebiet) in eine „Actiengesellschaft rheinisch-west-
fälisches Kohlensvndikat“ vereinigen wollte. Das geplante Syn-
dikat sollte das Recht der Umlage des Bedarfes auf die Mit-
glieder geben, ähnlich wie das Kokessyndikat und das Recht
der Preisfestsetzung und der Förderungsbeschränkung auf zehn
Jahre, es sollte als einheitliche Verkaufsstelle funktioniren, indem
Preisbemessung und Verkauf dem Vorstande übertragen worden
wäre. Für das Kohlensyndikat wurde einerseits der angeblich
bevorstehende „Kohlenkrach“ vorgeführt, andererseits versichert,
dass die Vereinigung, auch wenn sie die Verkaufspreise vorzu-
schreiben vermöchte, diese nicht „willkürlich hoch“ bemessen
würde, und dass auch den Verbrauchern mit „massigen, aber
stetigen Preisen“ gedient sei. Ueber den Verlauf der zu diesem
Zwecke in Dortmund geführten Verhandlungen berichtet die
Münchener „Allgemeine Zeitung“ wie folgt: „Der Einladung, an
den Berathungen zur Errichtung einer gemeinsamen Verkaufs-
stelle für Kohlen theilzunehmen, waren etwa 90 pCt. der Zechen
gefolgt. Verschiedene Zechen hatten überhaupt keine Einladung
bekommen, und zwar diejenigen, welche im Besitz von Hütten-
werken sind, also Hasenwinkel, die Zechen der Guten Hoffnungs-
hütte, der Firma Krupp u. s. w. Bei der Frage, ob das Prinzip
eines zu errichtenden Verkaufssyndikats genehmigt werde, ergab
sich Einstimmigkeit. Als aber dann in die Spezialdebatte ein-
getreten wurde, riefen die Ansprüche der Zechen Hibernia,
Friedrich der Grosse, Ewald und Königsborn eine lebhafte und
erregte Diskussion hervor. Diese Zechen verlangten, da bei
ihnen neue Schächte im Bau sind, für sich Ausnahmebestim-
mungen und wenigstens die Zusage, dass, bevor ein Vertrag mit
dem Syndikat abgeschlossen werde , ihnen ein bestimmtes
Förderquantum für ihre neuen Schächte unter allen Umständen
bewilligt werden müsste. Das Wort in der Angelegenheit führte
Herr Bergrath Behrens von der Zeche Hibernia und die Vertreter
der genannten anderen Zechen schlossen sich ihm an. Es
konnte eine Einigung nicht erzielt werden, und bei der Abstim-
mung ergab sich zwar eine grosse Majorität für die Kohlen-
veremigung, aber die genannten Stimmen waren gegen die-
selbe. Da nun die Vertreter verschiedener grösserer Gesell-
396
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT,
No. 32.
schäften, so der Gelsenkirchener Bergwerksgesellschaft, Harpener,
Consolidation und Dannenbaum, sich nicht binden wollten, nach-
dem ein so gewichtiger Konkurrent wie die Zeche Hibernia
ihren eigenen Weg zu gehen erklärt hatte, wurde die Versamm-
lung trotz der grossen Majorität, die sich für das Projekt aus-
gesprochen hatte, als resultatlos bezeichnet. Der Vorsitzende,
Direktor Kirdorff, erklärte, dass er dieselbe auflöse und dass
die Kommission ihr Mandat als erloschen betrachte. So "stehen
die Dinge heute; ob nun in der Preisgestaltung der Kohlen-
industrie erst recht ein gegenseitiges Unterbieten stattfinden
oder ob der Selbsterhaltungstrieb die Zechen veranlassen
wird, doch noch die Möglichkeit einer Vereinigung anzustreben,
wird erst die Zeit lehren. Dass ein allgemeines Kohlensyndikat
nicht nur wegen der verschiedenen Rivalitäten und Verlässlich-
keit, der schwer auszugleichenden Machtstellung der kleinen
und der grossen Produzenten, sondern auch wegen der grösseren
oder geringeren Güte und Beliebtheit der verschiedenen Kohlen
und wegen der Erschliessung neuer Produktionsstätten sehr
schwer auf die Dauer zu halten wäre, ist ja ohnedies zweifellos.
Auch müsste es natürlich zu seiner Berechtigung den Interessen
der Konsumenten möglichst Rechnung tragen. Solche Zustände,
dass der ausländischen Industrie viel billiger geliefert wird als
der inländischen, worüber besonders die deutsche Eisenindustrie
längst laute Klagen erhoben, sind auf die Dauer unerträglich.
Allerdings ist ja Gleiches oft genug auch seitens der Eisen-
industriellen geschehen, welche besonders Eisenbahnschienen
dem Auslande um ein Drittel billiger lieferten als dem Inlande.“
Die unzweifelhaft wohlunterrichtete „Rheinisch-westfälische Zei-
tung“ bestätigt diese Darstellung. Die „Kölnische Zeitung“, die
gleichfalls für das Syndikat eintrat, meinte vor Abhaltung der
Versammlung, dass die Resultatlosigkeit der Versammlung vor-
aussichtlich jedes Vereinigungsstreben der Ruhrzechen auf ab-
sehbare Zeit hinaus vereiteln würde, nach Abhaltung der Ver-
sammlung schreibt sie, dass an einem endgiltigen Erfolg der
schwebenden Verhandlungen, obwohl sie mehr Schwierigkeiten
bieten, als Urheber und Betreiber des Planes geglaubt hatten,
noch keineswegs zu verzweifeln sei. Diese optimistische An-
schauung der Vertreterin der Kartellirungspläne scheint nicht
berechtigt, denn die Wiener „Neue Freie Presse“ erfährt aus
Berlin, dass nunmehr auch die bisherige Kohlengemeinschaft
unhaltbar geworden sei und dass die Gemeinschaftspreise be-
reits um 20 pCt. unterboten werden.
Die Aussperrung' von Schuhmachergesellen in Barmstedt.
„Jetzt ist die schwarze Liste“, schreibt das „Schuhmacher-Fach-
blatt“, „welche von den Innungsmeistern und Innungsgesellen
ausgearbeitet worden ist, uns in die Hände gekommen. Auf der
ersten Seite sind diejenigen Gesellen verzeichnet, welche nie
wieder Arbeit erhalten sollen. Seite 1 lautet: „Verzeichniss der-
jenigen Schuhmachergesellen Barmstedt’s, welche von Innungs-
meistern nicht wieder in Arbeit genommen werden. (Nun folgen
die Namen der Personen und zwar nicht weniger als 128.)
Seite 2: V erzeichniss derjenigen Schuhmachergesellen Barmstedt’s,
welche vom 28. Juni 1892 an bis auf Weiteres ausgesperrt sind
(Folgen 53 Namen). Dann folgen Beschlüsse der gemeinsamen
Kommission. 1. Die Aussperrung derjenigen Schuhmacherge-
sellen, die am 28 Juni 1891 ausgesperrt wurden, dauert bis auf
Weiteres fort. 2. Diejenigen aber, die hier als Haupträdelsführer
bekannt sind und sich als ruchlose Personen betragen haben,
sollen hier bei Innungsmeistern in Barmstedt keine Arbeit mehr
erhalten. 3. Diejenigen Gesellen, die dem „Fachverein“ ange-
hören und noch bei Innungsmeistern in Arbeit stehen, sollen,
wenn Ersatz dafür da ist, aus ihrer Arbeit entlassen werden und
können hier bei Innungsmeistern keine Arbeit mehr erhalten
4. Bei einer Aufhebung der Aussperrung unterbreitet die Kom-
mission der Innungsmeister der Kommission der Innungsgesellen
einen bezüglichen Antrag und hat die letztgenannte Kommission
in der zwecks Beschlussfassung über diesen Punkt abzuhaltenden
Versammlung ebenfalls Stimmrecht. Die Kommission der Schuh-
macher-Innungs-Gesellen und Meister.“
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Die schweizerische Bundesgesetzgebung über die Arbeits-
zeit beim Betriebe der Eisenbahnen und anderer Trans-
portanstalten.
Die Bundesverfassung erklärt den Bau und Betrieb der
Eisenbahnen als Bundessache. Bis jetzt hat sich die Gesetz-
gebung auf die Aufsicht beschränkt Als im Jahre 1872
das Bundesgesetz über Bau und Betrieb der Eisenbahnen
erlassen wurde, nahm man in Art. 9 eine Bestimmung auf,
wonach den Bahnbeamten und Angestellten wenigstens je
der dritte Sonntag treizugeben war, welche Bestim-
mung auch Anwendung auf andere vom Bund konzessionirte
o o
oder von ihm selbst betriebene Transportanstalten (Dampf-
schiffe, Posten u. s. w.) finden sollte. In der ganzen Dis-
kussion herrschte die gleiche Ansicht von der Nothwendig-
keit und Wohlthäigkeit der Sonntagsruhe für den Arbeiter
vor. Gegenüber einem Vorschlag, dass die Angestellten in
jeder Woche einen Tag frei haben sollten, und dass unter
sieben freien Tagen jedenfalls ein Sonntag sein müsse,
wurde geltend gemacht, dass gerade der Sonntag frei ver-
langt werde, und dass eben nur dieser Tag die geistige
Erholung gewähre, deren Mangel Gegenstand der zahl-
reichen Klagen sei. Diese Ansicht siegte. Als es aber
zum Vollzug kam, leisteten die Eisenbahngesellschaften
grossen Widerstand. Sie machten in ihren Eingaben
geltend, dass die strenge Einhaltung der Gesetzesvorschrift
vielfach geradezu Gefährdung der Betriebssicherheit herbei-
führen müsste. Auch die Arbeiter, sagten sie, wollten der
grössten Zahl nach nicht gezwungen sein, ihren Ruhetag
gerade an Sonntagen wählen zu müssen. Da die Klagen
sich mehrten, wurde 1878 ein Nachtragsgesetz erlassen,
welches dem Art. 9 folgende Fassung gab: „Den Bahnbe-
amten und Angestellten ist wenigstens je der dritte Sonn-
tag freizugeben. Für diejenigen Kategorien von Beamten
und Angestellten, deren Ersetzung an Sonntagen mit be-
sonderen Schwierigkeiten verbunden oder im Interesse der
Betriebssicherheit nicht thunlich ist, können die Bahnver-
waltungen, unter Genehmigung des Bundesrathes, die An-
ordnung treffen, dass der Freisonntag durch einen Frei-
werktag ersetzt werden soll. Ein solcher Tausch darf aus-
nahmsweise auch für andere Beamte und Angestellte statt-
finden, wenn diese selbst bei ihren zuständigen Vorge-
setzten darum nachsuchen. Diese Bestimmungen finden
auch Anwendung auf andere vom Bunde konzessionirte oder
von ihm selbst betriebene Transportanstalten (Dampfschiffe, ■
Posten u. s. w.).“
In Vollziehung dieses Nachtragsgesetzes gestattete
hierauf der Bundesrath, dass bei allen grösseren Eisen- ,
bahnen für das Zugs- und Maschinenpersonal, bei einzelnen
auch für das Lokomotiv-, Wagenwärter-, Bahnaufsichts-
und Bahnhofpersonal, für die Bahn- und Weichenwärter, *
ferner bei einem Unternehmen für das Dampfschiffpersonal,
die Freisonntage durch Freiwerktage ersetzt werden durften.
Die verschiedenartige Behandlung wurde mit der ver-
schiedenartigen Organisation des Dienstes begründet.
Damit waren die vor 1872 bestandenen Verhältnisse ,
wieder hergestellt und überdies legalisirt, mit der Errungen-
schaft allenfalls dass die Gesellschaften ein Recht ihrer •
Angestellten auf mindestens 17 bis 18 Ruhetage im Jahr !
ausdrücklich anerkannt haben. Der Grundgedanke des
Gesetzes von 1872, die Sicherung eines sonntäglichen
Ruhetages, aber ist faktisch dahingegeben worden. Auch
hat das Nachtragsgesetz Gelegenheit gegeben, das Personal
in möglichst weitgehender Weise auszubeuten und zu redu-
ziren. Die täglichen Präsenz- und Arbeitszeiten wurden
um so länger, je mehr der Wegfall der Freisonntage an
sich eine intensive Ausnützung des Personals gestattete.
Denn das vermehrte Ersatzpersonal für den Sonntag war
ja auch an den Werktagen vorhanden und nahm einen
Theil der Arbeit auf sich. Mit der durch die Verlegung
der Ruhetage auf den Werktag möglich gewordenen Ver-
minderung des Ersatzpersonals mussten die Arbeitsleistungen
des letzteren von den verbleibenden Angestellten über-
nommen werden.
Die Missbrauche und Uebelstände wurden schliesslich
so arg, dass an Stelle des vorerwähnten Nachtraggesetzes
im Jahre 1890 ein besonderes Bundesgesetz, betreffend die
Arbeitszeit beim Betriebe der Eisenbahn und anderer
Transportanstalten erlassen wurde, mit folgenden Bestim-
mungen: Dem Gesetze sind unterstellt: die Eisenbahn- und
Dampfschiffsnnternehmungen, die Postverwaltung, sowie
andere vom Bunde konzessionirte oder von ihm selbst be-
triebene Transportanstalten. Dasselbe findet Anwendung
aut die im Betriebsdienste solcher Transportanstalten mit
der Verpflichtung zur gewöhnlichen Arbeitszeit angestellten
Personen, wobei die Bestimmungen der Fabrikgesetzgebung-
Vorbehalten bleiben. Die Arbeitszeit der Beamten, Ange-
No. 32.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
397
stellten und Arbeiter, soweit der Betrieb eine mehr als ge-
wöhnliche Arbeitszeit erfordert, soll 12 Stunden täglich
nicht übersteigen. Die ununterbrochene Ruhezeit ist für
das Maschinen- und Zugspersonal wenigstens 10 Stunden
und für das übrige Personal wenigstens 9 Stunden oder,
wenn Wohnung auf dem Bahnhof oder an der Bahnlinie
angewiesen ist, wenigstens 8 Stunden. Nach ungefähr der
Hälfte der Arbeitszeit ist Ruhe von wenigstens einer Stunde
zu gewähren. Den Beamten, Angestellten und Arbeitern
sind im Jahre, angemessen vertheilt, 52 Tage freizugeben,
wovon jedenfalls 17 auf den Sonntag fallen sollen. Ein
Abzug am Gehalt oder Lohne darf wegen der Dienstbe-
freiung nicht stattfinden. An Sonntagen ist der Güterdienst
untersagt. Vorbehalten bleibt die Beförderung von Gütern
und Vieh in Eilfracht. Wo besondere Verhältnisse es noth-
wendig machen, ist der Bundesrath ermächtigt, gegenüber
den Bestimmungen dieses Gesetzes ausnahmsweise Anord-
nungen zu treffen. Uebertretungen werden mit Geldbussen
bis zu 500 Franken, im Wiederholungsfälle bis zu 1000
Franken bestraft. Der Verzicht auf die gesetzlich zuge-
sicherte Dienstbefreiung schliesst die Strafbarbeit der
Zuwiderhandlung nicht aus.
Die meisten Anstände beim Vollzug dieses Gesetzes,
den die Eisenbahngesellschaften umsonst um zwei Jahre
hinauszuschieben suchten, ergaben sich aus der Forderung
der 17 Freisonntage, die Einstellung der Güterzüge an
Sonntagen hat aber die Gewährung der Forderung, insbe-
sondere bei den grossen Gesellschaften, sehr erleichtert.
Nach den Behauptungen der Eisenbahnverwaltungen soll
die Beschränkung, welche im Gesetz liegt, eine Vermehrung
der Betriebsangestellten bis auf 20 und mehr Prozent zur
Folge gehabt haben. Da nun nach dem Gesetz immer noch
eine Inanspruchnahme des Betriebspersonals der Eisenbahnen
gestattet ist, welche nicht allzuweit von der Grenze der
Leistungsfähigkeit entfernt steht, so müssten die Zustände
vor dem Gesetze schlimmer gewesen sein, als sie voraus-
gesetzt waren.
In dem seiner Zeit vom Bundesrath den eidgenössischen
Räthen unterbreiteten Entwurf eines Gesetzes über die
Arbeitszeiten war auch der Bethätigung der Frauen im
Eisenbahndienste gedacht und vorgesehen, dass über die
tägliche Arbeitszeit dieser der Bundesrath besondere Vor-
schriften aufstellen könne. Die Bundesversammlung hat
diesen Vorschlag gestrichen, und es stützt sich hierauf der
Anspruch der Eisenbahn Verwaltungen, dass für die Frauen
der gleiche Maximalarbeitstag gelte, wie für die männ-
lichen Angestellten im Betriebsdienst. Aus diesem An-
spruch ist der Barrierendienst der Frauen entstanden, der
den Eisenbahngesellschaften nach ihren eigenen Angaben
jährlich eine Ersparniss von 840 600 Frcs. einträgt! Wo
nur wenig Züge fahren, ist die Belastung der Barrieren-
wärterinnen nicht unerträglich; wenn dieselben aber auf
stark befahrenen Strecken den Dienst wahrzunehmen und
daneben auch noch die Hausgeschäfte zu besorgen haben,
so mag gar oft und vielleicht regelmässig die Nachtruhe
unter 8 Stunden herabsinken. Jedenfalls hebt die kleine
Zulage von monatlich 25 — 30 Frcs., welche der Bahnwärter
für den Barrierendienst seiner Frau erhält, die Nachtheile
derselben bei weitem nicht auf.
Die Frage, welches eine angemessene Vertheilung
der Ruhetage sei, wie sie das Gesetz vorsieht, ist vielfach
Gegenstand der Verhandlungen in den eidgenössischen
Kommissionen und Räthen gewesen. Es ist den Eisenbahn-
verwaltungen das Zugeständnis gemacht worden, von den
52 Ruhetagen deren 10 — 14 zu beliebiger Verfügung zu
reserviren, im Ganzen ist aber der Grundsatz der möglichst
regelmässigen Vertheilung der Ruhetage in dem Umfang
aufrecht erhalten worden, dass die durch dieselben ausein-
andergeschiedenen Arbeitsperioden nicht länger als unge-
fähr 10 Tage sein sollen. In der ausserordentlichen Session
der Bundesversammlung vom Januar dieses Jahres ist von
den Nationalräthen Comtesse, Favon und Jean Henry der
Antrag gestellt worden, der ßundesrath möge die Frage
einer den Anforderungen des Betriebes und der öffentlichen
Sicherheit besser entsprechenden und für das Personal
selbst vortheilhafteren Vertheilung der Feiertage prüfen.
Der Antrag wurde, wie im Sozialpolitischen Centralblatt
bereits erwähnt worden, erheblich erklärt. Mittlerweile ist
ein ausführlicher Bericht des Bundesrathes erschienen,
worin er an den bisherigen Vorschriften entschieden
festhält.
Der Bundesrath beharrt dabei, dass nur die möglichst
regelmässige Ausmessung der Ruhetage der Absicht des
Gesetzgebers entspricht. Die Sicherheit des Betriebes ist
daran gebunden, dass eine Ueberanstrengung des Dienst-
personals vermieden wird. Das geschieht, neben der Be-
grenzung der täglichen Arbeitszeit, am besten dadurch,
dass, ähnlich wie im bürgerlichen Leben, auf eine be-
schränkte Anzahl von Arbeitstagen ein Ruhetag folgt. Die
der Zahl von 52 Ruhetagen zu Grunde liegende Idee ist
die, dass eigentlich für das Personal des Transportdienstes
ein allwöchentlicher Ruhetag ebenso nöthig wäre, wie für
das bürgerliche Leben überhaupt. Man modifizirte dieselbe
nur soweit, als es nicht angeht, den Eisenbahnbetrieb am
Sonntag einzustellen. Die dienstfreien Tage, wenn sie
Ruhetage sein sollen, dürfen nicht in grösserer Anzahl zu-
sammen gelegt oder gar auf die Zeiten des geringeren Ver-
kehrs verschoben werden. An der Hand der Zahlen weist der
Bundesrath nach, dass der Rückgang der Reineinnahmen
bei den Eisenbahnen ausschliesslich oder auch nur in der
Hauptsache auf das neue Gesetz nicht zurückgeführt
werden dürfe. Die Mehrausgaben fallen zum grössten Theil
auf die sachlichen Bedürfnisse für den Unterhalt und die
Erneuerung der Bahnanlagen u. s. w. Auch die Behaup-
tung der Betriebsgefährdung namentlich an Sonntagen, wo
ein Drittheil des Personals beurlaubt werde, könne nicht
durch Thatsachen erhärtet werden, wenigstens habe sich
bisher die Sonntagsstellvertretung nicht als eine besondere
Ursache von Unfällen herausgestellt. Hinsichtlich der von
Nationalrath Curti geforderten besonderen Kontrole über
die Ausführung des Gesetzes, wünscht der Bundesrath noch
weitere Erfahrungen vorausgehen zu lassen.
Der Bundesrath hatte das Gesetz dahin interpretirt,
ass auch die Bahnhofsrestaurants demselben unterstellt
werden sollen. Die Besitzer derselben rekurrirten an die
Bundesversammlung und beide Räthe erklärten in der ver-
flossenen Junisession nach langen Debatten die Beschwerde
als begründet, immerhin genehmigte der Nationalrath einen
von v. Steiger gestellten Antrag, wonach der Bundesrath
eingeladen wurde, in Verbindung mit der Frage der Re-
vision des Art. 31 der Bundesverfassung (zum Erlass eines
schweizerischen Gewerbegesetzes) zu prüfen und darüber
Bericht und Antrag zu stellen, ob der Bund über den
Schutz weiblicher Arbeiter, insbesondere über die Arbeits-
zeit des Dienstpersonals in Wirthschaften ein Gesetz er-
lassen solle. Ferner wurde in der Junisession nach Antrag
von Curti und Vogelsanger beschlossen, den Bundesrath
einzuladen in analoger Anwendung des Gesetzes betreffend
die Arbeitszeit beim Betriebe der Eisenbahnen und
anderer Transportanstalten, Vorsorge zu treffen, dass die
Beamten, Angestellten und Arbeiter der Telegraphen-
und Telephonver waltung mit Bezug auf die Ruhezeit
möglichst denen der Postverwaltung gleichgestellt und dass
denselben demgemäss ebenfalls mindestens 52 Feiertage im
Jahr eingeräumt werden.
Das Gesetz ist ein anerkennenswerther Anfang, die
Wohlthat der staatlich beschränkten Arbeitszeit auf eine
grosse Zahl von Angestellten und Arbeitern auszudehnen,
welche zum Theil bis jetzt unter dem System rücksichts-
losester Ausbeutung gestanden haben. Die in diesem Ge-
setze liegenden Gedanken und Tendenzen sind weiterer
Entwickelung fähig bis zur Durchführung des einheitlichen
Normalarbeitstages und des staatlichen Inspektorats auch
in diesen Betrieben. Hat das Gesetz schon jetzt eine sehr
erhebliche Vermehrung der bei den Eisenbahnen u. s w.
beschäftigten Arbeitskräfte zur Folge gehabt, so wird seine
strikte Durchführung und weitere Entwickelung noch für
viele zur Wohlfahrt werden. Dasselbe hat seine unver-
kennbare Bedeutung auch für die in Aussicht genommene
Verstaatlichung der schweizerischen Eisenbahnen oder ihres
398
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 32.
Betriebes. Mag durch solche Gesetze auch eine eventuelle
Minderung des mühelosen Gewinns der Eisenbahnaktionäre
eintreten, so gewinnen dafür die Interessen der Arbeiter-
schaft. Mit dem Centralkomitee des schweizerischen Griitli-
vereins wünschen wir, dass bei allen Versuchen, das Gesetz
zu umgehen oder rückwärts zu revidiren, Bundesrath und
Bundesversammlung sich stets auf Seite der Interessen
der Arbeiterschaft und nicht der Aktionäre stellen mögen.
Aarau. E. Naef.
Ausführungsverordnung zur neuen Gewerbeordnung, be-
treffend die Regelung der Frauenarbeit in Preussen. Nach
§§ 137 und 138a der neuen Gewerbeordnung dürfen erwachsene
Arbeiterinnen in Fabriken in der Nachtzeit von 8V2 Uhr Abends
bis 5*/2 Uhr Morgens nicht beschäftigt werden, und nur „wegen
aussergewöhnlicher Häufung der Arbeit“ auf Antrag des Unter-
nehmers bis 10 Uhr Abends auf die Dauer von 2 Wochen. Hin-
sichtlich der letztgenannten Ueberzeitarbeit der Arbeiterinnen
über 16 Jahren hat nun der preussische Handelsminister be-
stimmte Grundzüge aufgestellt, die in der Münchener „Allgem.
Ztg.“ wie folgt bezeichnet werden. Voraussetzung zur Erthei-
lung der Genehmigung der Ueberarbeit ist sowohl bei der
unteren wie der höheren Verwaltungsbehörde eine ausserge-
wöhnliche Häufung der Arbeit. Diese tritt regelmässig ein bei
den sogenannten Saisonindustrien, d. h. solchen, die zwar
während des ganzen Jahres betrieben werden, aber zu regel-
mässig wiederkehrenden Zeiten im Jahre einen verstärkten Be-
trieb haben. Zu ihnen gehören zunächst manche auf den
Winter- oder Sommerbedarf arbeitende Gewerbe, insbesondere
verschiedene Zweige der Textilindustrie, Fabriken für Kon-
fektion und Putzmacherei 11. s. w., sodann die für den Bedarf
an gewissen Festen arbeitenden Gewerbe. Einen verstärkten
Betrieb können beispielsweise haben Zuckerwaaren, Chokolade-,
Luxuspapier-, Masken-, Spielwaaren- u. s. w. Fabriken. Dieser
vermehrte Bedarf zu gewissen Jahres- und Festzeiten recht-
fertigt aber die Genehmigung der Ueberarbeit nur dann, wenn
durch Produktion auf Vorrath oder Lager diesem Bedarf nicht
Rechnung getragen werden kann. Dies trifft ohne Weiteres zu
für Waaren, die dem Verderben ausgesetzt sind, wenn sie über
eine gewisse Zeit hinaus lagern. Diese Voraussetzung kann
ferner zutreffen für Waaren, die nur auf Bestellung angefertigt
werden, oder für Waaren, die von der Mode abhängen. Für die
Saisonindustrien ist die Ueberarbeit also nur zu gestatten, wenn
und soweit eine verstärkte Nachfrage vorliegt, für deren Be-
friedigung nicht in der stillen Zeit cles Jahres vorausgearbeitet
werden konnte. Nicht unter die Saisonindustrie fallen die so-
genannten Kampagneindustrien, deren Betrieb auf bestimmte
Jahreszeiten beschränkt ist, und während des übrigen Jahres I
ganz ruht, wie die Rübenzucker- und andere Industrien. Hier
kann aussergewöhnliche Arbeitsanhäufung zu unregelmässig
wiederkehrenden Zeiten des Jahres oder in nicht vorherzusehen-
den Fällen Vorkommen. Für alle diese Betriebe kann die Ueber-
arbeit nur gestattet werden, wenn die aussergewöhnliche Ar-
beitshäufung nicht vorherzusehen war oder durch wichtige
wirthschaftliche Gründe gerechtfertigt wird. Als solche Gründe
sind insbesondere hervorzuheben die Gefahr eines Verderbens
oder einer Verschlechterung der Stoffe bei Frucht- und Fleisch-
konserven, Stärkereien und Brennereien u. s. w., die Rücksicht
auf die Transportgelegenheit (z. B. wenn wegen plötzlich ein-
tretenden Frostes ein frühzeitiger Schluss der Schiffahrt in Aus-
sicht steht), die Rücksicht auf öffentliche Interessen (z. B. bei
grossen Lieferungen für die Militärverwaltung), die Unmöglich-
keit der Innehaltung der Lieferungsfristen wegen nicht vorher-
zusehender Hindernisse. Dagegen ist die Uebernahme zu grosser
Bestellungen, deren Nichtbewältigung innerhalb der vereinbarten
Lieferungsfrist von dem Fabrikbesitzer vorherzusehen war, nicht
als Grund zur Genehmigung von LTeberarbeit anzusehen. Ueber-
haupt ist die Genehmigung der Regel nach dann zu versagen,
wenn die aussergewöhnliche Häufung der Arbeit von dem
Fabrikbesitzer selbt freiwillig herbeigeführt oder durch unge-
schickte Dispositionen verschuldet ist, und wenn nur die eigenen
Interessen des Fabrikbesitzers, nicht auch öffentliche oder andere
erhebliche Privatinteressen in Frage kommen.
Die Sonntagsruhe im Eisenbahngüterverkehr dürfte
in nächster Zeit in Preussen allgemein eingeführt werden.
Wie wir früher meldeten, ist auf einzelnen Strecken der
preussischen Staatsbahnen seit Kurzem auf Anordnung des
Eisenbahnministers der Güterverkehr an den Sonntagen
ganz oder zum grössten Theil eingestellt worden. Da sich
hieraus Unzuträglichkeiten nicht ergeben haben, auch Be-
schwerden seitens der gewerblichen Kreise nicht einge-
gangen sein sollen, so dürfte, wie offiziös gemeldet wird,
eine allgemeine Einstellung oder erhebliche Beschränkung
des Güterverkehrs der preussischen Staatsbahnen an Sonn-
und Feiertagen in naher Zeit erfolgen.
Zur Sonntagsruhe in den berliner Vororten. Neue Aus-
nahmen von der Sonntagsruhe sind nach einer Verfügung des
Regierungspräsidenten Grafen Hue de Grais für die Vororte von
Berlin gestattet worden. Die näheren Bestimmungen hierüber
werden von den Ortspolizeibehörden getroffen werden. Die
Ausnahmen beziehen sich auf den Verkauf von Back- und
Konditorwaaren, auf den Milchhandel, auf das Feilbieten von
Blumen, gernwwerthigen Gebrauchsgegenständen, Erinnerungs-
zeichen und ähnlichen Gegenständen auf öffentlichen We^en,
Strassen, Plätzen und an anderen öffentlichen Orten: erstens
bei öffentlichen Festen, Truppenzusammenziehungen oder sonsti-
gen aussergewöhnlichen Gelegenheiten; zweitens in Ortschaften,
in denen an Sonn- und Festtagen regelmässig durch Fremden-
besuch ein gesteigerter Verkehr stattfindet — an Sonn- und
Festtagen. Jedoch darf das Feilbieten während des Gottes-
dienstes nicht gestattet und kann auf einzelne Stunden be-
schränkt werden. Die Ortsbehörden werden noch besonders
darauf aufmerksam gemacht, dass die bisher in Kraft getretenen
Vorschriften über die Sonntagsruhe sich nur auf das Handels-
gewerbe beziehen und auf den Betrieb von Würfelbuden,
Schiessständen und ähnlichen Veranstaltungen, die vorwiegend
zur Volksbelustigung dienen, keine Anwendung finden.
Arbeiterschutzgesetz in New-Jersey. Im Staate New-
Jersey (Vereinigte Staaten von Amerika) ist seit dem
6. Juli ein Arbeiterschutzgesetz für sämmtliche gewerbliche
Arbeiter in Kraft, welches bestimmt, dass die wöchentliche
Arbeitszeit 55 Stunden nicht übersteigen darf. Vor 7 Uhr
Morgens und nach 6 Uhr Abends dürfen Knaben unter
18 Jahren und Frauen nicht beschäftigt werden, Mittags ist
eine Stunde Pause zu gewähren. An Sonnabenden darf
blos von 7 Uhr Morgens bis Mittag gearbeitet werden.
Ausnahmen bez. der Frauen und jugendlichen Arbeiter
sind nur für Früchtenkonserven- und Glasfabriken ge-
stattet. Auf Uebertretungen des Gesetzes sind Strafen von
100 Dollars gesetzt.
Arbeiterversicherung.
Zwei Vorschläge zur Revision des deutschen Unfall-
versicherungsgesetzes.
Im Reichstage ist schon mehrfach darüber verhandelt
worden, dass das Unfallversicherungsgesetz einer Verbesse-
rung in manchen Punkten bedürftig sei; ein Antrag der
Sozialdemokraten zählte einige dieser Punkte auf, die man
leicht noch vermehren könnte. Gegen diesen Antrag aber
sprachen sich im Reichstage und namentlich ausserhalb
desselben die Vertreter der Berufsgenossenschaften, nament-
lich auch der Verband der deutschen Berufsgenossen-
schaften aus. Man hatte in diesen Kreisen das Gefühl, dass |
eine Umgestaltung des Unfallversicherungsgesetzes leicht
dahin führen könnte, die Berufsgenossenschaften zu besei-
tigen, nachdem man sowohl bei der landwirtschaftlichen
Unfallversicherung als namentlich bei der Invaliden- und
Altersversicherung sich dem Grundsätze der territorialen
Abgrenzung zugewandt hatte.
Inzwischen scheint man solche Befürchtungen nicht
mehr zu hegen; auch in diesen Kreisen spricht man schon
von einer bevorstehenden Revision des Unfallversicherungs-
gesetzes, und während bisher die Anregungen auf Aende-
rung meist den Wünschen der Arbeiter entsprachen, kom-
men jetzt auch Anregungen aus dem Kreise der Unter-
nehmer, deren Werth für die Arbeiter ein sehr zweifel-
hafter ist.
Einer dieser Vorschläge bezieht sich auf die Kapital-
abfindung kleiner Renten, die damit empfohlen wurde, dass
der Arbeiter durch Abhebung der kleinen Rentenbeträge
Laufereien und Zeitversäumnisse habe. Gewiss für die
Postverwaltung, welche die Renten auszuzahlen hat, für
die Beamten der Berufsgenossenschaften, welche die Ver-
rechnungen nachher vorzunehmen haben, verursachen die
zahlreichen kleinen Posten eine mühsame Arbeit. Allein
das kann doch nicht entscheidend sein. Als das Unfallver-
sicherungsgesetz vorgelegt wurde, war der Hauptgrund
dafür der Gedanke, dass das Haftpflichtgesetz den Arbeiter
nicht genügend schütze; dem Arbeiter lag die Beweislast
No. 32.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
309
ob, dass der Unternehmer den Unfall verschuldet habe;
der Arbeiter stand meist nicht dem Unternehmer gegen-
über, sondern der hinter demselben stehenden Unfallver-
sicherungsgesellschaft. Die Ausführungen gingen dahin,
dass diese Gesellschaften sich eine Kentenzahlung nur im
Prozesswege abringen Hessen, dass sie aber auch fast
immer den Versuch machten, den Arbeiter mit einem sehr
gering bemessenen Kapital abzufinden. Gerade diese Ka-
pitalabfindungen wurden getadelt, weil mit Recht hervor-
gehoben wurde, dass dem Arbeiter das Kapital nur selten
lange verbleibe, dass es bald aufgebraucht werde. Nun
mag allerdings richtig sein, dass es sich damals mehr um
die schwereren Fälle handelte ; denn wiegen einer kleinen
Verletzung werden die Arbeiter die Kosten eines Prozesses
nicht auf sich genommen haben. Aber wächst denn die
Gefahr, dass dem Arbeiter das Kapital unter den Händen
verschwindet, dass er es verbraucht, nicht mit der Klein-
heit der Rente? Eine Rente von 5 pCt mag dem in jünge-
ren Jahren stehenden Arbeiter, der trotz dieser kleinen
Verminderung seiner Erwerbsfähigkeit vielleicht noch guten
Verdienst hat, zunächst unerheblicherscheinen; aber wenn
seine Arbeitsfähigkeit durch Alter abnimmt, wird eine
solche kleine Rente von immer grösserer Bedeutung. Die
Unbequemlichkeit der Erhebung der Rente kann doch
wirklich nicht so gross sein. Die Zahl der Postanstalten im
Deutschen Reiche ist eine grosse und vermehrt sich
hoffentlich alljährlich im entsprechenden Masse, dass diese
Schwierigkeit sich vermindert. Andernfalls könnte man ja
auch die Vorschrift, dass die Renten monatlich im voraus
zu zahlen sind, dahin abändern, dass dem Rentenberech-
tigten freisteht, sie in vierteljährlichen Beträgen nachträg-
lich abzuheben.
Ein anderer, gleichfalls aus Unternehmerkreisen stam-
mender Vorschlag ist noch bedenklicher, weil er mit dem
Geiste der Unfallversicherung im schroffsten Widerspruch
steht: sämmtliche auf die Leichtfertigkeit der Arbeiter
zurückzuführenden Unfälle sollten geringer entschädigt
werden als die durch Betriebsgefahren veranlassten Unfälle.
Begründet wurde dieser Vorschlag damit, dass es ja in den
Berichten der preussischen Regierungs- und Gewerberäthe
festgestellt sei: „dass die Berufsgenossenschaften auf dem
Gebiete der Unfallverhütung den höchsten Anforderungen
entsprechen.“ Obwohl dies keineswegs „festgestellt“ ist,
wird aus dieser Behauptung überdies ohne Weiteres gefol-
gert, dass die Arbeiter, welche den von den Berufsgenos-
senschaften erlassenen Unfallversicherungsvorschriften zu-
widerhandeln, durch Zubilligung einer geringeren Rente
bestraft werden.
Dass die Arbeiter in dieser Beziehung leichtfertig ver-
fahren, ist eine ebenso oft aufgestellte Behauptung wie die,
dass sie „frivole“ Berufungen einlegen gegen die Entschei-
dungen der berufsgenossenschaftlichen Schiedsgerichte.
Der Ausspruch des durchaus nicht durch besondere Arbeiter-
freundlichkeit sich auszeichnenden Regierungs- und Ge-
werberathes Trilling in Oppeln in seinem Berichte für 1891
dürfte zur Widerlegung ausreichen; er schreibt: „Die An-
sicht, dass die Arbeiter in Folge der Ansprüche, welche sie
auf Grund des Unfallversicherungsgesetzes bei Unfällen er-
heben können, weniger vorsichtig der Unfallsgefahr gegen-
über wären als früher, kann nur von Jemandem ausge-
sprochen werden, der mit den Verhältnissen der Industrie
und der Arbeiterschaft nicht vertraut ist. Im Uebrigen be-
weisen die Anzeigen eine ganz erhebliche Minderung der-
jenigen Unfälle, welche ihre Ursachen in grobem Verschul-
den der Arbeiter . . . finden.“
Nun ist es ja allerdings richtig, dass Fälle vorgekommen
sind, in denen die Arbeiter eine vorhandene Schutzvorrich-
tung entfernt und dadurch einen Unfall veranlasst haben.
Aber auch hierfür ergeben sich aus den Jahresberichten
der Fabrikaufsichtsbeamten Entschuldigungsgründe. Dass
einige Berufsgenossenschaften überhaupt noch keine Unfall-
verhütungsvorschriften erlassen haben, soll nur nebenbei
erwähnt werden. Der Beamte für die Regierungsbezirke
Potsdam und Frankfurt a. O. meint, „dass die Schutzvor-
richtungen, besonders an Holzbearbeitungsmaschinen in ein-
zelnen Fällen so schwer und wenig zweckmässig gebaut
sind, dass die Arbeiter sich nicht leicht an ihre Benutzung
gewöhnen.“ Er theilt ferner mit, dass in landwirthschaft-
lichen Betrieben die Schutzvorrichtungen von den Maschi-
nen nach dem Gebrauch abgenommen werden , dass man
bei der Wiederbenutzung der Maschinen vergisst, sie anzu-
bringen, ferner dass man mit der Bedienung der Maschinen
oft junge Leute beauftragt, welche weder die Kenntnisse,
noch die nöthige Ueberlegung, ja oft nicht einmal die
nöthige Kraft dazu besitzen.
Derselbe Beamte spricht von der „nicht unbegründe-
ten“ Abneigung der Arbeiter gegen das Tragen von Schutz-
brillen; ähnlich spricht sich auch der Beamte für die Re-
gierungsbezirke Breslau und Liegnitz aus. In dem Berichte
aus Arnsberg heisst es: „Gross ist auch die Zahl der Un-
fälle auf der Röhrengiesserei des Schalker Gruben- und
Hüttenvereins in Hüllen. . . . Bei letzterem Werke liegt der
Hauptgrund für die zahlreichen Einfälle in den zu be-
schränkten Raumverhältnissen der Giesserei für stehend
gegossene Rohre. . . . Hierzu kommt der dort ganz beson-
ders häufige Wechsel der Arbeiter.“
Diese Entschuldigungsgründe für die einzelnen Fälle
sollte man nicht unbeachtet lassen. Dazu kommt aber nun
noch eine allgemeine Erwägung. In den Jahresberichten
der Fabrikinspektoren wird, wie in früheren Jahren, so auch
1891 darüber geklagt, dass für dieselben Maschinen die
Berufsgenossenschaften verschiedene Vorschriften erlassen
haben. Bei dem Wechsel der Arbeiter aus dem Betriebe
einer Berufsgenossenschaft in den einer anderen, hat das
bedenkliche Folgen. Die Arbeiter müssen durch solche
Verschiedenartigkeit verwirrt werden; jedenfalls steigt da-
durch nicht ihre Achtung vor den Unfallverhütungsvor-
schriften.
Wenn eine Vernachlässigung derselben vorkommt, so
kann sie in den angeführten Verhältnissen viel leichter
ihren Grund haben, als in der Leichtfertigkeit der Arbeiter.
Die Missachtung der Unfall verhüt ungs Vorschriften kann man
aber nicht mit einer Verminderung der Rente, d. h. mit
einer dauernden Benachtheiligung eines Verunglückten und
seiner Familie bestrafen, sondern höchstens mit den üblichen
Ordnungsstrafen. Denn in erster Linie ist der Unternehmer
für die Beachtung dieser Vorschriften verantwortlich; er
muss dafür sorgen, dass sie nicht nur auf dem Papier stehen,
dass die Schutzvorrichtungen nicht nur vorhanden sind,
sondern dass auch die Verhältnisse die Verwendung der-
selben ermöglichen, was nach den obigen Anführungen aus
den Jahresberichten der Fabrikinspektoren, die leicht noch
vermehrt werden könnten, nicht überall der Fall ist. Wie
in anderen Punkten, so wird auch hier die erzieherische
Wirkung der Schutzmassregeln nicht ausbleiben. Aber
durch Verkürzung des Renten betrages wird man die Er-
ziehung nicht beschleunigen.
Berlin. H. Horn.
Anweisung zur Ausführung des Krankenversiche-
rungsgesetzes vom 10. April 1892. Eine Anweisung der
preussischen Minister des Innern und des Handels vom
10. Juli d. Js., die Ausführung des neuen Krankenversiche-
rungsgesetzes betreffend, erscheint soeben in den Amts-
blättern. Unter Ziffer 59 heisst es in derselben bezüglich
der freien Hilfskassen: „Für die Entscheidung der Frage,
ob ein Mitglied einer Hilfskasse von der Verpflichtung, der
Gemeindekrankenversicherung oder einer organisirten Kasse
beizutreten, befreit ist, ist die Bescheinigung (der Aufsichts-
behörde darüber, dass die Hilfskasse den gesetzlichen An-
forderungen genügt, § 75 a d. G.), soweit ihr Inhalt reicht,
massgebend. Dagegen verbleibt den Verwaltungen der
Gemeindekrankenversicherung, den Vorständen der einzel-
nen Kassen, sowie den zur Entscheidung von Streitigkeiten
berufenen Behörden die Pflicht zur Prüfung, ob das Kranken-
geld die Hälfte des ortsüblichen Lohnes gewöhnlicher Tage-
arbeiter am Beschäftigungsorte des Mitgliedes erreicht.“
Diese Anweisungsbestimmung ist eine Folge der bekannten
neuen Fassung des § 75 des K.-V.-G.
400
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 32.
.. ®.ie Invaliditats- und Altersversicherung: im Stadtbezirke
Kerlin im Jahre 1891. Die Versicherungsstelle Berlin umfasst
ca. 470 000 Versicherte d. h. also beinahe den dritten Theil der
gesammten Berliner Bevölkerung. Dieser grossen Mitgliederzahl
gegenüber erscheint der Umfang der Rentenfestsetzung als sehr
gering. Es wurden nämlich im Jahre 1891 insgesammt nur 1859
Altersrentenansprüche erhoben, von denen nur 1218 Ansprüche
anerkannt wurden. In den höheren Instanzen wurden noch
145 Altersrenten festgesetzt, so dass insgesammt 1363 Renten
mit einer Jahresausgabe von 215 376 M. 20 Pf (einschliesslich des
Reichszuschusses von 50 M. für jede Rente) bewilligt worden
sind; die durchschnittliche Höhe der Rente betrug hiernach
rund 158 M. pro Jahr, oder etwas über 40 Pf. pro Tag. 46 Renten-
empfänger starben schon im ersten Jahre des Rentengenusses.
Die geringe Anzahl der Altersrenten ist augenscheinlich auf die
Verhältnisse der Grossstadt zurückzuführen. Wenigstens hat
eine Umfrage der Berliner Versicherungsanstalt bei denjenigen
Anstalten, in welchen sich Städte von mehr als 100 000 Ein-
wohnern befinden, ergeben, dass auch in diesen Bezirken die
Zahl der Altersrenten in Prozenten der Civilbevölkerung in den
Grossstädten weit geringer ist, als in dem jjesammten Bezirke.
kamen auf 100 000 Einwohner in der Provinz Ostpreussen
377 Rentenanträge, in der Stadt Königsberg dagegen nur 118,
m der Provinz Pommern 271 Anträge, dagegen in der Stadt
Stettin nur 84. Von den Rentenempfängern sind 1020 Männer
und 343 Frauen. Nach dem Berufe gehörten 1 1 zur Land- und
P orstwirthschaft, 423 zur Industrie, 52 zum Handel und Verkehr,
796 zur Lohnarbeit wechselnder Art, 35 zum Staats- u. s. w.
Dienst und 46 zum Gesindedienst.
Der Kapitalwerth der sämmtlichen im Jahre 1891 für Rech-
nung der Berliner Versicherungsanstalt zur Auszahlung gelangten
Renten beträgt 749 055 M. 80 Pt. Diesem Kapitalwerth steht eine
Einnahme aus dem Markenverkauf von rund 5 Mill. M. gegen-
über, so dass die finanzielle Grundlage der Anstalt bis fetzt
über jeden Zweifel gesichert erscheint. Die Verwaltungskosten
der Anstalt waren verhältnissmässig gering, sie betrugen blos
98 000 M. 877 491 Stück Quittungskarten sind bis 31. März 1892
Stadtbezirk Berlin zur Ausgabe gelangt und 32 200 000 Stück
Marken sind der kaiserlichen Postkasse zum Verkaut iiber-
worden. Der durchschnittliche Monatserlös betrug
400 000 M. In 374 Fällen wurde gegen die Entscheidungen des
Anstaltsvorstandes das Schiedsgericht angerufen, das in 139
rällen den Anfechtern des Bescheides zustimmte. Bezüglich
der wichtigen Kontrolle, ob die Versicherungsmarken richtig
eingeklebt werden, scheint sich die Versicherungsanstalt auf
Stichproben beschränkt zu haben, Zu diesem Zwecke haben
vier Kontrollbeamte im ersten Jahre 4884 Betriebe revidirt und
m 1726 Fällen Unregelmässigkeiten gefunden. Es war ganz
naturgemäss, dass gerade bei den komplizirten Bestimmungen
über die Lohnklassenberechnung vielfach nicht die richtigen
Marken eingeklebt wurden. Der Vorstand hat weniger durch
„Ordnungsstrafen11 als durch Belehrung einzuwirken gesucht.
< cf 'I!r lm Ganzen nur neun Ordnungsstrafen im Betrage von
1 — 5 M. zur Festsetzung gelangt.
... . Die Aufbewahrung der vollgeklebten Quittungkarten bildet
für jede Anstalt ein schwieriges Problem. Die Berliner Anstalt
hat einstweilen nur eine „vorläufige“ Einrichtung getroffen, fügt
aber hinzu: „Der Bau eines besonderen Gebäudes zur Aufbe-
wahrung der Karten soll demnächst ... in Angriff genommen
werden. Dieser Bau von besonderen Gebäuden bildet aber
nicht etwa für Berlin eine Ausnahme, sondern verschiedene
Anstalten haben bereits derartige Baulichkeiten mit einem grossen
Kostenaufwande hergestellt und hierfür einen grossen Beamten-
amiarat eingerichtet. Hier ist einer der wundesten Punkte in der
Organisation, und man wird sich wohl zu einer tiefgreifenden
Aenderung entschliessen müssen — sobald man etwas besseres
getunden hat.
Haftpflichtschutzverband Deutscher Industrieller. Am
28. Juni fand in Köln unter dem Vorsitze des Reichtagsabgeord-
neten Th. Möller eine zahlreich besuchte Versammlung zur
Gründung eines „Haftpflichtschutzverbandes Deutscher In-
dustrieller“ statt. Nach den Erörterungen des Vorsitzenden
will der Verband folgende Thätigkeit entwickeln:
T Es soll durch fachwissenschaftliche Untersuchungen und
durch Y erwerthung der Erfahrungen des praktisch-gewerblichen
Lebens dahin gewirkt werden, dass die nach dem Unfallver-
sicherungsgesetz verbliebene und durch die sozialpolitische
Gesetzgebung überhaupt begründete bezw. neugeschaftene Haft-
pflicht derart beschränkt werde, dass dieselbe nicht über die
Grenze der Billigkeit hinausgeht bezw. in den Kreis der berufs-
genossenschaftlichen Unfallversicherung einbezogen wird. Dem-
gemäss wird der Verband seine Ziele zu erreichen suchen, a)
durch die Sammlung des einschlägigen Materials betreffend die
Unfallversicherung (Urtheile des Reichsversicherungsamtes und
der Schiedsgerichte betreffend Abweisungen von Schadensersatz-
ansprüchen, ferner der Urtheile der Gerichtshöfe in Haftpflicht-
und Strafjirozessen, endlich Entscheidungen der höheren Yrer-
waltungsbehorden , betreffend die Handhabung der Reichsge-
werbeordnung vom 1. Juni 1891, das Krankenkassen-, sowie das
Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz); b) durch Vor-
stellungen bei den gesetzgebenden Körperschaften und Be-
hörden.
2. Den Verbandsmitgliedern werden durch sachverstän-
digen Rath und Auskunft möglichst wirksame Rathschläge in
den aus der Civil- und Strafgesetzgebung herrührenden Haft-
pflichtstreitfällen gewährt oder vermittelt. Der Verband wird in
zwanglosen Heften Mittheilungen über die einschlägigen Fragen
der gewerblichen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung
liefern.
3. Der Verband bezweckt die Einführung einer die Inter-
essen der Industriellen thunlichst vollkommen d. h. alle mög-
lichen Fälle der Haftpflicht deckenden Versicherung, insbeson-
dere durch Aufstellung von Normativbestimmungen.
Jahresversammlung des württembergischen Krauken-
kassenverbandes. Der Vorstand des württembergischen Kranken-
kassenverbandes hielt am 7. Juli d.Js. in Stuttgart seine ordent-
liche Jahressitzung ab. Den Hauptgegenstand der Verhandlungen
bildete die Stellungnahme der Gemeinden und Krankenkassen
mit Beitrittszwang zur Krankenversicherungsnovelle vom
10. April 1892. Hierbei handelte es sich darum, zu berathen,
welcher Gebrauch von dem neuen Recht der statutarischen
Regelung des Krankenversicherungswesens allgemein ange-
rathen werden kann Mit Bezug auf den Kreis der statuta-
risch zu versichernden Personen wurde der gemeindlichen
Ausdehnung der Versicherungspflicht das Wort nicht geredet:
1. auf diejenigen im § 1 der Novelle bezeichneten Personen,
deren Beschäftigung auf einen Zeitraum von weniger als einer
YVoche beschränkt ist, weil die Beitragsleistungen zu dem
Kassenrisiko ausser allem Verhältniss stehen würden; 2. auf die-
jenigen Familienangehörigen eines Betriebsunternehmers, deren
Beschäftigung in dem Betriebe nicht auf Grund eines Arbeits-
vertrages stattfindet, da es sich nicht empfehle, ohne dringenden
Anlass in die familiären Beziehungen der Einzelnen regulirend
einzugreifen, und 3. auf die Hausgewerbetreibenden, weil sonst
mancher Arbeitgeber sich veranlasst sehen könnte, die Geschäfts-
aufträge zurückziehen, wodurch die ohnedies gefährdete Haus-
industrie in eine noch kritischere Lage versetzt werden würde.
Unbedingt befürwortet wurde dagegen die Erstreckung der Ver-
sicherungspflicht auf die in Kommunalbetrieben und im Kom-
munaldienst beschäftigten Personen, auf welche die Anwendung
des cit. § 1 nicht durch anderweitige reichsgesetzliche Vor-
schriften erstreckt ist, weil diese den in anderen Betrieben und
Diensten beschäftigten Berufsarbeitern wirthschaftlich voll-
kommen gleichstehen, also auch denselben Anspruch auf öffent-
liche Fürsorge hätten, wie die letzteren. Von einer Seite wurde
darauf hingewiesen, dass für die im württembergischen Kom-
munaldienste beschäftigten Personen eine allgemeine Fürsorge
vorbereitet werde, es sich somit vielleicht empfehlen möchte,
bezüglich dieser Kategorie von Bediensteten eine abwartende
Stellung einzunehmen. Von dem Recht, n ichtversich er ungs-
pflichtigen Personen die Aufnahme in die Gemeinde-
krankenversicherung zu gestatten oder den Beitritt zur Kranken-
kasse einzuräumen, könne und sollte jetzt ein ausgiebigerer Ge-
brauch gemacht werden, da durch die Zulassung der ärztlichen
LTntersuchung der sich freiwillig meldenden Personen der früheren
Ausnutzung der Versicherung ziemlich feste Schranken gezogen
worden sind. Mit Stimmeneinhelligkeit sprach sich die Y^er-
sammlung sodann für Beibehaltung der 3 tägigen Karenz-
zeit für die Gewährung des Krankengeldes aus, wenn die Er-
werbsunfähigkeit die Dauer von 3 YVochen nicht übersteigt,
wobei zwischen Krankheit und Betriebsunfall kein Unterschied
gemacht werden soll, desgleichen sei auch das Krankengeld
auch für Sonn-, Fest- und Feiertage zu gewähren. Sehr
zu begrüssen sind folgende von liberalem Geist getragene Be-
schlüsse der Versammlung. Die gänzliche oder nur theilweise
Nichtgewährung des Krankengeldes an Versicherte, welche die
Gemeindekrankenversicherung oder die Krankenkasse durch
eine mit dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte bedrohte
strafbare Handlung geschädigt haben, für die Dauer von zwölf
Monaten nach Begehung der Strafthat (§ 6 a Abs. 1 Z. 2, § 26 a
Abs. 2 Z. 2) sei nicht zu befürworten, weil, solange die LTnter-
stützung solchenfalls nicht ganz ausgeschlossen werden kann,
diese Massregel in dem Augenblick eintreten würde, wo das
betreffende Mitglied freie Kur und Verpflegung in einem Kranken-
hause ansprechen könne. Ebenso sei es bei den Versicherten,
welche sich eine Krankheit vorsätzlich oder durch schuldhafte
Betheiligung bei Schlägereien oder Rauf hän dein, durch Trunk-
fälligkeit oder geschlechtliche Ausschweifungen zugezogen
haben, wozu aber noch komme, dass die absichtliche Herbei-
führung einer Krankheit , welche meistens mit der Unzu-
rechnungsfähigkeit bereits Geistesgestörter verwechselt wird,
an und für sich schwer festzustelten sei, und die Entziehung
des Krankengeldes im Falle der Verletzung bei einem Raui-
handel vorzugsweise dem zum Schadenersatz verpflichteten
Thäter zum Vortheil gereichen würde. Moralisch gebühre ja
sicherlich dem Lasterhaften nicht dasselbe Recht wie dem
Tugendhaften, da die Ar be iter Versicherung aber nicht
den Zweck habe, das Unmoralische zu ahnden, sondern
die unteren weniger gebildeten Volksschichten, also auch die
aus immer welcher Ursache gefallenen Arbeiter sammt ihren
Familien wirthschaftlich zu unterstützen, so dürfe hier nicht
mit einem zu engen Mass gemessen werden, wenn das
LTebel nicht vergrössert werden soll. Wichtig für die freien
Hilfskassen in YVürttemberg ist Folgendes: Für die Kürzung
No. 32.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBI .ATT.
401
des Krankengeldes im Falle der Doppel versichern ng konnte
sich die Versammlung nicht erwärmen. Es herrschte die Mei-
nung vor, dass, da Jedermann sich privatim versichern könne,
wo er wolle, selbst denjenigen Kassenmitgliedern, welche einer
Hilfskasse ohne Beitrittszwang angehören, nach strengem Recht
die Unterstützung voll und ganz gewährt werden müsse, da
auch der Beitrag voll und ganz zu leisten sei. Die Möglichkeit,
dass auf diese Weise ein kranker Arbeiter unter Umständen
mehr an LTnterstiitzung beziehe, als ein gesunder Arbeiter an
Lohn, könne jene im Selbstbewusstsein tief eingewurzelte
Rechtsanschauung nicht auf den Kopf stellen. Empfehlenswert!!
sei ferner die Einführung der Bestimmung, dass die ärztliche
Behandlung, die Lieferung der Arznei und die Kur und Ver-
pflegung nur durch bestimmte Aerzte, Apotheken und
Krankenhäuser gewährt und, von dringenden Fällen abge-
sehen, die Bezahlung der durch Inanspruchnahme anderer
Aerzte, Apotheken und Krankenhäuser entstandenen Kosten ab-
gelehnt werde. Wo jedoch mehrere Aerzte etc. zur Verfügung
ständen, solle man den Anträgen der Mitglieder auf Einführung
möglichst freier Aerzte wähl thunlichst entgegenkommen,
auch ohne das Einschreiten der Aufsichtsbehörde. Unumgäng-
lich sei endlich der Erlass von Vorschriften über die Kranken-
meldung, über das Verhalten der Kranken und über die
Kranken aut sicht und die Einführung von Ordnungsstrafen
gegen Versicherte, welche diesen Vorschriften und den Anord-
nungen des behandelnden Arztes zuwiderhandeln. Muster hier-
für gäben die Statuten der freien Hilfskassen an die Hand.
Letzteres zeigt, wieviel die Zwangskassen noch jetzt von den
freien Kassen lernen können.
Besitz vertheilnng- mul Unfallstatistik in der thüringischen
Landwirtschaft. Der Geschäftsbericht der land- und forstwirth-
schaftlichen Berufsgenossenschaft für Reuss j. L., welcher kürz-
lich erschien, enthält einige nicht uninteressante Daten. Die
Zahl der beitragspflichtigen Betriebe für 1892 betrug 9245, von
denen 3043 bis zu 1 Hektar Land umfassten, über 1 — 5 Hektar
3027 = 48,8 pCt., über 5-10 Hektar 1452 = 23,4 pCt., über 10—20
Hektar 1203 = 19,4 pCt., über 20—50 Hektar 437 = 7 pCt., über
50 Hektar 83 ~ 1,4 pCt., Summa 6202 = 100 pCt. Da landwirt-
schaftliche Betriebe mit weniger als 5 Hektaren erfahrungs-
mässig nicht mehr Getreide produziren, als der Bauer zu seinem
eigenen Unterhalte selbst braucht, so ergiebt sich aus jener
Statistik, dass zwei Drittel der reussischen Bauern etc. von den
Getreidezöllen keinen Vortheil, sondern eher noch Schaden haben,
weil sie Getreide nicht verkaufen können, sondern solches zum
I heil noch hinzukaufen müssen, um sich genügend Brot zu
schaffen. Die Unfallstatistik jener Berufsgenossenschaft ist auch
von Interesse, sie giebt die Zahl der Unfälle nach der Tages- !
zeit an, in welcher sich dieselben ereigneten Das Resultat ist,
dass ebenso wie_ bei der Unfallstatistik der Industrie die Zahl
der Unfälle zunimmt mit dem Grade der Ermüdung des Ar-
beiters; danach ist die sogenannte Unvorsichtigkeit des Arbeiters
meist nur natürliche Folge der LTeberanspannung seiner Kräfte.
Die Statistik stellt sich folgendermassen. Er verunglückten:
früh von 4-5 Uhr 2, von 5 — 6 3, von 6—7 5, von 7 — 8 10, von
8- 9 11, von 9 — 10 17 von 10 — 11 17, von 11—12 14; Mittags von
12 — 1 Uhr 4, Nachmittags von 1 -2 8, von 2—3 13, von 3—4 19,
von 4 — 5 14 von 5—6 13, von 6 — 7 8, von 8 — 9 1. Man muss hier-
bei in Betracht ziehen, bemerkt der Hannoversche „Volkswille“,
dem diese Mittheilung entnommen ist, dass bei der Landwirth-
schaft frühzeitig angefangen wird zu arbeiten. Die Zunahme
der LTnglücksfälle hält bis 11 Uhr an und lässt auf die zunehmende
Ermüdung der Arbeiter schliessen Von 11 — 12 dürfte die Ver-
minderung davon herrühren, dass die Arbeiter in der Arbeit
bereits etwas nachlassen und sich auf den Mittag vorbereiten.
Von 1 - 2 Uhr. wo dieselben etwas ausgeruht sind, beträgt die
Zahl der Unfälle 8, während sie von 3— 4 Uhr auf 19 steigt. Die
Vesperzeit hat wieder eine kleine Verminderung zur Folge. Dass
von 6 Uhr ab die Zahl der LTnfälle abnimmt, liegt wohl haupt-
sächlich darin weil während des grössten Theils im Jahre in
dieser Zeit nur ein geringer Theil der Arbeiter beschäftigt ist.
Bie Kauflente und die Kranken- und Unfallversicherung
in der Schweiz. Das Centralkomitee der schweizerischen kauf-
männischen Vereine hat nach eingehender Besprechung der
Arbeiterversicherungsfrage in seinen Sektionen seine Wünsche
in einer Resolution, welche dem schweizerischen Industrie- und
Landwirthschaftsdepartement zugestellt wurde, zusammengefasst.
Dieselbe lautet: 1. Der Verein beantragt grundsätzlich die Aus-
dehnung der Unfall- und Krankenversicherung auf alle Be-
völkerungsklassen, insbesondere auch auf die kaufmännischen
beziehungsweise administrativen Angestellten, wie auch die
Lehrlinge. Aber auch die selbstständig erwerbenden Personen,
Geschäftsinhaber, Prinzipale u. s. w. sind von der Verpflichtung
nicht auszuschliessen. 2. Neben der staatlichen Versicherung
soll auch die private zulässig sein und erstere nicht verlangt
werden können, wenn eine private Versicherung vorhanden ist,
welche das staatliche Minimum erreicht. 3. Die Prämien fallen
zu Lasten theils der Versicherten, theils des Staates. Die
Prinzipale übernehmen die Prämienlast für ihre Lehrlinge,
aber keinerlei Belastung für die bezahlten Angestellten. 4. Die
staatliche Unfallversicherung soll nicht für alle kaufmännischen
beziehungsweise administrativen Angestellten gleich hoch sein,
sondern nach dem Einkommen oder Vermögen oemessen werden
und im Minimum 2000 Frcs. Kapitalsumme für den Todesfall und
Vs pro Mille (im Minimum 2 Frcs.) tägliche Entschädigung im Falle
vorübergehender Erwerbsunfähigkeit betragen. Das Maximum
der staatlichen Unfallversicherung soll 20 000 Frcs. Kapitalsumme
und 10 Frcs. tägliche Entschädigung betragen; innerhalb dieser
Grenzen soll den zu Versichernden ein Einfluss auf die Bestim-
mung der Versicherungssumme gestattet werden. 5. Der Begriff
grober Fahrlässigkeit, nach welchem ein gegen Unfall Versicherter
der Schadenvergütung verlustig gehen könnte, soll nicht zulässig
sein, sondern die Versicherung bei allen Unfällen Gültigkeit
haben. 6. Die bestehenden, privaten Krankenkassen sollen unter
staatliche Aufsicht gestellt werden, aber unter privater Ver-
waltung bleiben. Der Staat hat über deren Organisation und
Minimalleistungen Vorschriften zu erlassen. 7. Sofern die pri-
vaten Krankenkassen den staatlichen Anforderungen entsprechen,
sollen sie auch Anspruch auf staatliche Beiträge haben. 8. Mit-
glieder privater Krankenkassen unter staatlicher Aufsicht sollen
nicht zum Beitritt in die staatliche Krankenversicherung ange-
halten werden können. 9 Wie für die Unfallversicherung sollen
| auch bei der Krankenversicherung Kategorien nach Einkommen
und Vermögen gebildet werden, in gleicher Höhe, wie sie unter
Ziffer 4 angegeben sind. 10. Die obligatorische Unfall- und
Krankenversicherung hat nur die erwerbenden Personen zu um-
fassen; für die übrigen sei der Beitritt fakultativ.
Gewerbegerichte, Einigungsämter und
Arbeiterausschüsse.
Gewerbegerichte und Aufsichtsbehörden in Württem-
berg und Baden. Für das Königreich Württemberg ist
Ende Juli d. Js. der Regierungsentwurf eines Gesetzes, be-
treffend die Dienstaufsicht über die Gewerbegerichte er-
schienen. Danach sind der Dienstaufsicht der Landgerichte
auch die in Gemässheit des Reichsgesetzes vom 29. Juli 1890
errichteten Gewerbegerichte unterstellt. Ueber alle Ge-
richte übt das Justizministerium die Dienstaufsicht aus. Die
Motive führen aus: „Die Gewerbegerichte sind ohne Rück-
sicht auf den Werth des Streitgegenstandes zuständig für
Streitigkeiten der in den §§ 3 und 4 des erwähnten Reichs-
gesetzes bezeichneten Art. Auf das Verfahren vor den
Gewerbegerichten finden, soweit nicht besondere Bestim-
mungen getroffen sind, die für das amtsgerichtliche Ver-
fahren geltenden Vorschriften der Civilprozessordnung ent-
sprechende Anwendung. Die Berufung ist nur zulässig,
wenn der Werth des Streitgegenstandes den Betrag von
100 M. übersteigt. Als Berufungs- und Beschwerdegericht
ist das Landgericht, in dessen Bezirk das Gewerbegericht
seinen Sitz hat, zuständig. Ausserdem erfolgt die Amtsent-
setzung eines Mitglieds des Gewerbegerichts, welches sich
einer groben Verletzung seiner Amtspflicht schuldig macht,
nach Massgabe der näheren Vorschriften in § 19 Abs. 2 des
R.-Ges. durch das Landgericht; desgleichen findet gegen
die von dem Vorsitzenden des Gewerbegerichts den Bei-
sitzern zuerkannten Ordnungsstrafen, gemäss § 21 Abs. 2
des R.-Ges., Beschwerde an das Landgericht statt. Im
Hinblick auf diese reichsgesetzlichen Vorschriften können
wohl nur die Landgerichte als geeignete Behörden
zur Ausübung der unmittelbaren Dienstaufsicht in Betracht
kommen. Die Zulässigkeit der Uebertragung eines solchen
Geschäfts der Justizverwaltung ergiebt sich aus § 4 des
Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz vom
27. Januar 1877. Auch im Gross herzogthum Baden ist
ein Gesetz in gleichem Sinne zur Verabschiedung gelangt.“
Statistik der Gewerberichte in Baden. Nach einer
Ende Juli d. Js. erflossenen badischen Ministerialverordnung
haben die Gewerbegerichte Tabellen zu führen über ihre
Rechtsprechung, über ihre Thätigkeit als Einigungsamt und
über ihre Gutachten und Anträge. Aus diesen Tabellen
sind Darstellungen für die Reichs- und Landesstatistik zu
fertigen. Entsprechende Vorschriften sind auch für die
Gemeindevorsteher gegeben. Die Verordnung tritt sofort
in Kraft.
Verantwortlich für die Redaktion: I)r. Heinrich Traun in Berlin.
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Unterschied von den Fachzeitschriften allen denen entgegenzukommen, welchen es
Bedürfniss ist, nicht nur mit den Fortschritten ihres Faches, sondern auch mit der
Entwickelung der übrigen Wissenschaften und mit den hervorragenden Leistungen
der schönen Litteratur vertraut zu bleiben.
In ihren Mittheilungen bringt die Deutsche Litteraturzeitung eine Uebersicht
über den Inhalt in- und ausländischer Zeitschriften, wie sie in dieser Reich-
haltigkeit sonst nirgends geboten wird, ferner ständige Berichte über die Thätigkeit
gelehrter Gesellschaften, Nachrichten über wissenschaftliche Entdeckungen und litte-
rarische Unternehmungen, Personalnotizen und Vorlesungsverzeichnisse.
Durch die Unterzeichnung aller Besprechungen mit dem vollen Namen des
Referenten bietet die Deutsche Litteraturzeitung die Gewähr einer gediegenen
und würdigen Kritik.
in ber Raffung ber 'JtoticUe turnt 24. $uni 1892,
mit ben für ben Bergbau gelteitbeu Beftimmungen ber
Booetle jur ©eroerbeorbnung tont l. 3'uui 1891-
£ejt=2lu§guk mit 2Inmerftmgen unb Sadjregifter
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STafdfjenformat, cartonnirt.
Preis I BL 50 pf.
Verantwortlich für den Anzeigentheil : O. Schuchardt in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 15. August 1892.
Nummer 33.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierten ährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Die Rechtskraft der Renten-
festsetzungsbescheide des
Reic&s Versicherungsamts.
Soziale Wirtschaftspolitik u.
Wirthschaftsstatistik :
Arbeitsnachweis in Oesterreich.
Entwurf eines badischen Anerben-
rechtsgesetzes.
Ortsstatut über Lohnzahlung in
Augsburg.
Reform derGesindeordnunginWien.
Der Montag und die Fabrikunfälle.
Nothlage in der schweizerischen
Uhrenindustrie.
Arbeiterzustände :
Lohnverhältnisse und Arbeitszeit
der Fabrikarbeiter auf dem
thüringer Walde.
Arbeiterstatistik des Fabrikinspek-
tors für das Grossherzogthum
Altenburg.
Politische Arbeiterbewegung:
Handhabung des Vereinsgesetzes
in Schwarzburg-Rudolstadt.
Parteitag der deutschen Sozial-
demokratie.
Das kommunale Wahlprogramm
der Arbeiter Zürichs.
Ein englisches Arbeiterprogramm.
Kaufmännische Bewegung:
Kaufmännische Sonntagsruhe in der
Schweiz.
Kaufmännisches Berufssekretariat
in der Schweiz.
Arbeiterschutzgesetzgebung :
Die Stellung der schweizerischen
Handwerker- undGewerbevereine
zur Erweiterung des Fabrikge-
setzes. Von Kantonsstatistiker
E. N a e f.
Durchführung der neuen Schutz-
vorschriften für Arbeiterinnen
in Baden.
Gewerbeinspektion :
Reorganisation der Fabrikinspek-
tion in Preussen.
Arbeiterversicherung:
Die Krankenversicherung in den
deutschen Grossstädt ,-n. Von
Dr. Max Quarck.
Die Selbstverwaltung der Berufs-
genossenschaften.
Die eingeschriebenen Hilfskassen
und die Krankenkassennovelle.
Krankenkassengesetzgebung in
Dänemark.
Gewerbegerichte , Einigungs-
ämter und Arbeiteraus-
schüsse:
Errichtung eines Gewerbegerichts
in Augsburg.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Rechtskraft der Rentenfestsetzungs-
bescheide des Reichsversicherungsamts.
In einer Revisionsentscheidung vom 31. Oktober 1890
No. 85, Amtl. Nachr. 1892, S. 1 — hat das Reichsver-
sicherungsamt das Verfahren einer Versicherungsanstalt,
welche sich für berechtigt hielt, eine gewährte Altersrente
durch einen neuen Bescheid wieder zu entziehen, weil sich
herausgestellt hatte, dass der Bewilligung ein Irrthum über
die tatsächlichen Voraussetzungen des Rentenanspruchs zu
Grunde lag, für dem Gesetze zuwiderlaufend und deshalb
unzulässig erklärt. Die Begründung der Entscheidung ist
ausserordentlich knapp gehalten — wenigstens in der amt-
lichen Publikation. Sie begnügt sich damit, festzustellen,
dass das Gesetz die Abänderung des rechtskräftigen Be-
scheides nur in den Formen und aus den Gründen des
Wiederaufnahmeverfahrens gestatte, dass für diese Gründe
die Vorschriften der Civilprozessordnung massgebend seien,
und dass zu denselben ein blosser Irrthum des Feststellungs-
organs nicht gehöre. Die ganze Fassung macht unver-
kennbar den Eindruck, man habe die getroffene Entschei-
dung für so unzweifelhaft und selbstverständlich gehalten,
dass es nicht erforderlich schien, noch viele Worte zu
machen.
Nachträglich scheinen aber solche Zweifel entstanden
zu sein. Aus der Sitzung des Reichsversicherungsamts
vom 13. Juli er. wird berichtet, dass der in Präjudiz 85
ausgesprochene Grundsatz von dem Vertreter einer Ver-
sicherungsanstalt sehr eingehend und energisch bekämpft
worden und darauf hingewiesen ist, wie er eine grosse Un-
billigkeit gegenüber der Versicherungsanstalt enthalte und
deren Stellung wesentlich ungünstiger als die des Ver-
sicherten gestalte. Denn der letztere könne den Bescheid
durch die gesetzlichen Rechtsmittel, und selbst nach er-
langter Rechtskraft noch im Wiederaufnahmeverfahren an-
fechten; die Anstalt aber solle an denselben unabänderlich
und für alle Zeit gebunden sein. Es gebe keine Möglich-
keit, einen einmal begangenen Irrthum zu berichtigen. Sei
aut Grund einer von dem Landrath aus Versehen oder in
Folge einer missverständlichen Gesetzesauffassung ausge-
stellten Bescheinigung die Rente einmal bewilligt, so müsse
sie weiter gezahlt werden, selbst wenn die Unbegründet-
heit des Anspruchs zweifellos und Jedermann bekannt sei.
Ja, es sei sogar vorgekommen, dass sich eine Frau von
ihrem Schwiegersohn zur Erlangung der Rente habe ein
falsches Attest ausstellen lassen; den Aussteller habe man
wegen Betrugs verurtheilt, aber der Frau habe man die
„rechtskräftig“ bewilligte Rente belassen müssen. — Diese
Ausführungen machten auf den Gerichtshof insoweit Ein-
druck, als er beschloss, die Entscheidung auszusetzen und
dieselbe der erweiterten Spruchkammer, also derjenigen
Instanz vorzubehalten, welche berufen ist, über Gesetzes-
auslegungen von grundsätzlicher Wichtigkeit zu befinden,
und welche zugleich ermächtigt ist, von den seitens des
Gerichtshofs in früheren Entscheidungen aufgestellten
Rechtsgrundsätzen abzuweichen.
Die streitige Frage scheint uns in der That von so
weitgehender prinzipieller Wichtigkeit, dass gerade in
diesem Stadium eine kurze Besprechung derselben gestattet
sein mag. Eines zunächst, was freilich ihre Bedeutung
keineswegs erschöpft, scheint ganz unzweifelhaft: dass
nämlich nach gegenwärtiger Lage der Gesetzgebung gar
nicht anders entschieden werden konnte, als dies seitens
404
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 33.
des Reichsversicherungsamts in jenem Urtheil vom 31. Okto-
ber 1890 geschehen ist.
Das Rentenfeststellungsverfahren hat in der Invaliditäts-
und Altersversicherung, wie vorher schon in der Unfallver-
sicherung, eine etwas eigenthtimliche Gestaltung erhalten.
Es beginnt mit dem Festsetzungsbescheide, welcher von
dem Organe derjenigen Korporation, gegen welche der
Rentenanspruch erhoben wird, von dem Vorstande der
Versicherungsanstalt, bezw. der Berufsgenossenschaft, er-
lassen wird. Dieser Bescheid hat aber nicht nur die Kraft
einer Parteierklärung, einer Kundgebung des Inanspruch-
genommenen darüber, ob und in welcher Höhe er die
Forderung anerkennt, sondern er ist vom Gesetze mit allen
rechtlichen und prozessualen Wirkungen eines Instanz-
urtheils ausgestattet. Er ist in bestimmten Formen zu er-
lassen, dem Antragsteller zuzustellen; er erlangt Rechts-
kraft, wenn er nicht binnen bestimmter Frist angefochten
wird; das zulässige Rechtsmittel wird nicht als Klage,
sondern als Berufung bezeichnet, u. s. w. Diese Gestaltung
ist, wie gesagt, eine eigenartige. Sie ist nicht ganz ohne
Vorgang; das preußische Verwaltungsstreitverfahren ins-
besondere hat ein wenigstens analoges System, indem es
die Polizeibehörde, welche eine autoritative und häufig
vorläufig vollstreckbare Verfügung erlassen hat, dieselbe
demnächst im Prozess als Partei vertreten lässt. Neu aber
war die Uebertragung dieses Prinzips auf das vermögens-
rechtliche Gebiet, das Gebiet der reinen Geldforderung.
Dass hiergegen sich Ausstellungen erheben lassen, kann
nicht verwundern, wenn man sie auch vielleicht nicht
gerade von dieser Seite erwartet hätte. Es lässt sich viel-
leicht in Zweifel ziehen, ob es billig oder auch nur zweck-
mässig war, die erstinstanzliche Entscheidung in einem
Streite um eine Entschädigungsforderung der einen der
beiden Parteien zu übertragen. Aber dass gerade diese
Partei sich deshalb in einer ungünstigeren und beengteren
Position befinde, dass ist doch kaum die Folgerung,
auf welche ein Unbefangener ohne weiteres verfallen
würde.
Das Gesetz hat nun einmal diese Form gewählt, und
die daraus von dem Reichsversicherungsamt gezogenen
Konsequenzen sind ganz unabweisbar. Sie ergeben sich
aus der Doppelstellung der Versicherungsanstalt als Partei
und Richter, und wenn bei der Sache etwas unnatürlich
erscheint, so kann es eben nur diese Doppelstellung sein.
Weil die Versicherungsanstalt Richter ist, deshalb kann sie
nicht gegen das von ihr selbst gefällte Urtheil Berufung
einlegen ; und weil sie Partei ist, deshalb muss das Urtheil
so gut ihr als dem Gegner gegenüber Rechtskraft erlangen.
Sie kann ebensowenig befugt sein, nachträglich einen er-
lassenen Bescheid wieder aufzuheben oder abzuändern, weil
sie erkennt, dass sie sich zu ihrem Nachtheil versehen
habe, als es dem Rentenempfänger gestattet ist, eine Ab-
änderung herbeizuführen, wenn er erst nach Ablauf der
Rechtsmittelfrist gewahr wird, dass er in seinen Rechten
verletzt sei. Das Eine wie das Andere würde den
Grundsätzen von der Rechtskraft der Urtheile zuwider-
laufen.
Nur eine Ausnahme gestatten diese Grundsätze: die
nachträgliche Anfechtung eines rechtskräftigen Urtheils und
Bescheides durch ein ausserordentliches Rechtsmittel in den
gesetzlich vorgesehenen Fällen und Formen. Dabei ver-
steht sich eins von selbst und wird auch von Niemand be-
zweifelt: dass diese ausserordentlichen Rechtsmittel, wo sie
überhaupt zulässig sind, beiden Parteien gleichmässig zu-
stehen, und dass die Wiederaufnahmeklage in den ein-
facheren Formen dieses Feststellungsverfahrens ersetzt
wird durch den Antrag auf Abänderung des Bescheides von
Seiten des Versicherten, durch den Erlass eines neuen Be-
scheides von Seiten der Versicherungsanstalt. Aber auch
darüber lässt das Gesetz keinen Zweifel, wann eine solche
Abänderung der formell rechtskräftigen Rentenfestsetzung
gestattet sein soll.
Bei der Unfallversicherung soll die Rente eine Ent-
schädigung gewähren für die durch einen speziellen Unfall
herbeigeführte Verminderung der Erwerbsfähigkeit. Wie
die Folgen des Unfalls sich zu verschiedenen Zeiten ver-
schieden gestalten können, wie der Zustand des Verletzten
sich bessern oder verschlimmern, seine Erwerbsfähigkeit
zunehmen oder sich weiter vermindern kann, so muss auch
die Rente im Laufe der Zeit hinsichtlich ihrer Höhe eine
Aenderung erfahren können, sie muss je nach dem wechseln-
den Zustande des Verletzten erhöht, erniedrigt, entzogen
und wiedergewährt werden können. Deshalb berechtigt
dort schon jede wesentliche Aenderung in den für die
Rentenfestsetzung massgebend gewesenen Verhältnissen
zum Erlass eines neuen Bescheides, bezw. zum Antrag auf
solchen Erlass. Aber auch dort ist das Reichsversicherungs-
amt stets mit Entschiedenheit jedem Versuch entgegenge-
treten, die ohnehin weitgehende Bestimmung des § 65 des Un-
fallversicherungsgesetzes auch auf solche Fälle auszudehnen,
wo es sich nicht sowohl um die Berücksichtiouns; einer
nachträglich eingetretenen Veränderung als vielmehr um
die Korrektur eines in dem früheren Verfahren gemachten
Fehlers handelte.
Wesentlich einfacher liegt die Sache bei der Invalidi-
täts- und Altersversicherung. Eine Veränderung, welche
zu einer Abänderung der Rentenfestsetzung führen müsste,
kann bei der Altersrente überhaupt nicht, bei der Invaliden-
rente wenigstens nicht hinsichtlich der Höhe der Rente
eintreten, da diese von dem Grade der Erwerbsunfähigkeit,
der allenfalls wechseln kann, nicht abhängig ist. Nur eine
Veränderung kann solchen Einfluss haben: wenn nämlich
der Rentenempfänger nachträglich wieder erwerbsfähig
wird. Für diesen Fall ist denn auch die Wiederentziehung
der Rente vorgesehen. Abgesehen von diesem einen Falle
ist aber die Abänderung oder der Antrag auf Abänderung
einer rechtskräftigen Rentenfestsetzung nur aus den gleichen
Gründen zulässig, aus welchen auch rechtskräftige gericht-
liche Urtheile im Wiederaufnahmeverfahren umgestossen
w'erden können. Das ist das geltende Recht, und dem ent-
spricht vollkommen die bisherige Haltung des Reichsver-
sicherungsamts und insbesondere die Revisionsentschei-
dung 85.
Eine ganz andere Frage ist es nun, ob dieser Zustand
so erhebliche Unzuträglichkeiten mit sich führt, dass man
an eine Abänderung desselben denken müsste. Dazu würde
es eines Akts der Gesetzgebung nicht gerade bedürfen, da
die Abänderung der Bestimmungen über die Wiederauf-
nahme durch kaiserliche Verordnung mit Zustimmung des
Bundesraths vorgesehen ist. Wir nehmen jedoch keinen
Anstand, unsere Ansicht dahin auszusprechen, dass zu einer
solchen Abänderung, wenigstens in dem Sinne, wie es in
dem erwähnten Falle von der Versicherungsanstalt ge-
wünscht wurde, unseres Erachtens kein ausreichender Grund
vorliegt.
Die Behauptung, dass sich die Versicherungsanstalt
dem Versicherten gegenüber in einer ungünstigeren Lage
befinde, dass man ihr unbilliger W eise versage, was diesem
gewährt wird, scheint uns theils ganz unzutreffend, theils
mindestens arg übertrieben. Was zunächst das Beispiel
von der durch Betrug erschlichenen Rente betrifft, so hat
sich, w^enn der Bericht korrekt ist, der Vertreter der Ver-
sicherungsanstalt einfach geirrt. Denn das kann gar keinem
Zweifel unterliegen, dass in diesem Falle die Voraussetzun-
gen der §§ 543 Ziffer 2, 544 Civilprozessordnung — Urtheils-
fällung auf Grund einer falschen Urkunde und Feststellung
No. 33.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
405
durch den Strafrichter — vorliegen; hier gestattet also
schon das gegenwärtige Gesetz die Restitutionsklage,
d. h. den Erlass eines neuen Rentenbescheides, und
wenn die Versicherungsanstalt die Rente gleichwohl weiter
zahlt, so liegt der Fehler an ihr und nicht an dem
Gesetze.
Sehen wir aber hiervon ab und beschränken wir uns
auf den Fall eines im Wiederaufnahmeverfahren nicht
redressirbaren Irrthums, so können wir nicht zugeben, dass
die Lage des Versicherten eine begünstigte sei. Soweit es
sich um einen Irrthum handelt, der erst nach eingetretener
Rechtskraft des Bescheides entdeckt wird, ist die Stellung
beider Theile genau die gleiche; keiner von beiden kann
eine Berichtigung verlangen. Und dass die Wahrschein-
lichkeit eines Irrthums zu Gunsten des Versicherten etwa
grösser sei als die eines solchen zu seinem Nachtheil, wird
man doch kaum behaupten können. Liegt dagegen ein
YTrsehen vor, das alsbald ermittelt wird, so kann allerdings
der Versicherte gegen den erlassenen Bescheid Berufung
einlegen, die Versicherungsanstalt kann es nicht. Aber ehe
man deswegen über Unbilligkeit klagt, sollte man sich doch
die Sache näher ansehen. Der Versicherte hat allerdings
vier Wochen Zeit, nach Erlass des Bescheides sich zu
überlegen, ob derselbe zutreffend ist oder seinen Rechten
zu nahe tritt. Die Versicherungsanstalt hat dagegen eine
gesetzlich unbeschränkte Frist zu dieser Prüfung vor Er-
lass des Bescheides, und ihr steht zugleich ein so voll-
ständiges Material dafür zur Verfügung, wie es der Ver-
sicherte niemals besitzt und garnicht besitzen kann. Es
kommt nur darauf an, dass von diesem Material, bezw. von
der Möglichkeit, sich dasselbe zu verschaffen, auch der
rechte Gebrauch gemacht wird. Wenn freilich eine Ver-
sicherungsanstalt nur danach sieht, ob die Arbeitsbescheini-
gungen formell in Ordnung sind, deren Inhalt und die
darin bekundeten thatsächlichen Verhältnisse aber ohne
jede Kontrolle als wahr annimmt, dann können leicht
Irrthtimer in grosser Zahl Vorkommen, Renten bewilligt
werden, die nicht hätten bewilligt werden dürfen; aber die
Schuld darf die Versicherungsanstalt dann kaum irgendwo
anders als bei sich selber suchen. Und dann noch eins.
Der Versicherungsanstalt steht ein Recht, gegen ihren
eigenen Bescheid Berufung einzulegen, freilich nicht zu.
Wohl aber hat dieses Recht der Staatskommissar. Lind es
müsste doch seltsam zugehen, wenn der Vorstand der Ver-
sicherungsanstalt nicht soviel Fühlung mit dem Staats-
kommissar besitzen sollte, dass es ihm ein Leichtes wäre,
denselben in solchen Fällen zu veranlassen, von seinem
Rechte Gebrauch zu machen. Also auch hier bietet
sich immer noch ein Ausweg, um die Interessen der
Anstalt gegen ihre eigene Nachlässigkeit in Schutz zu
nehmen.
Weiter reicht diese Möglichkeit allerdings nicht als
bis zum Ablauf der gesetzlichen Rechtsmittelfrist. Aber
weiter darf sie auch nicht reichen, wenn man, und das ist
doch ganz ausser Frage, auch auf dieses Gebiet die Grund-
sätze von der Rechtskraft der Entscheidungen anwenden
will, und weiter reicht sie auch für die Gegenpartei nicht.
Wer das nicht für ausreichend hält, der sollte sich wohl
überlegen, wohin sich der Vorwurf richtet, den er erhebt.
Wenn der Anstaltsvorstand alle nur irgend zu wünschende
Gelegenheit hat, die Sache genau zu untersuchen und zu
prüfen, ehe er die Entscheidung trifft, wenn er dann noch
die gleiche Frist wie der Versicherte hat, um durch Ver-
mittelung des Staatskommissars auf die Berichtigung eines
gleichwohl unterlaufenen Fehlers hinzuwirken, und wenn
er trotzdem nicht im Stande ist, sich gegen die Folgen
seiner eigenen Irrthümer in ausreichendem Masse zu
schützen, dann allerdings ist es nicht wohlgethan gewesen,
ihm das wichtige Amt der Rechtssprechung zu übertragen,
von dem er den rechten Gebrauch nicht zu machen
versteht.
Wir meinen also, dass de lege lata das Reichs ver-
sicherungsamt garnicht anders wird entscheiden können,
als es bereits entschieden hat, und dass auch de lege ferenda
die Forderung, dass es der Versicherungsanstalt freistehen
solle, jederzeit einen begangenen Irrthum durch Erlass
eines neuen Bescheides zu korrigiren, ganz undiskutirbar
ist, weil damit dem Rentenempfänger jede Rechtssicherheit
genommen würde. Wohl aber lässt sich über etwas anderes
reden. Die neue sozialpolitische Gesetzgebung hat ja mit
neuen Verhältnissen auch manche neuen Spezialitäten des
Betruges und der Täuschung geschaffen. Wohl möglich,
dass zur Erschleichung von Renten und zur Hintergehung
von Versicherungsanstalten häufig Praktiken angewendet
werden, welche unter die Vorschriften des § 543 Civil-
prozessordnung sich nicht bringen lassen und daher keine
Handhaben zur Wiederaufnahme des Verfahrens bieten.
Hat die Erfahrung das gelehrt, so muss solchem Unwesen
ein Riegel vorgeschoben werden. Dazu kann aber das
Reichsversicherungsamt nichts thun — wenigstens nicht
direkt, sondern nur, indem es den Erlass einer kaiserlichen
Verordnung beantragt, die auch für solche Fälle das Wieder-
aufnahmeverfahren zulässt. Auf Schutz gegen Betrügerei
haben die Versicherungsanstalten allerdings Anspruch.
Gegen Irrthümer, die ihre Organe begehen, ohne dass sie
der Gegner durch Täuschung dazu veranlasst hat, mögen
sie sich selbst schützen.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Arbeitsnachweis in Oesterreich.
Der im Jahre 1885 gegründete „Verein für Arbeitsver-
mittlung“ in Wien ist das erste und bis jetzt einzige Institut
in Oesterreich, das es sich zur Aufgabe gemacht, einem,
durch die Entwickelung der Grossindustrie und die Er-
weiterung des Arbeitsmarktes überaus drückend gewordenen
Uebelstande abzuhelfen.
In Bezug auf seine Organisation im wesentlichen dem
Stuttgarter Vereine nachgebildet, bietet er auf vollkommen
paritätischer Grundlage Unternehmern und Arbeitern die
Gelegenheit auf dem Gebiete des Arbeitsnachweises regelnd
einzugreifen. Leider vermag die in dem Vereine verkör-
perte _ sozialpolitisch werthvolle Idee bei dem Mangel
energischer Förderung seitens öffentlicher Körperschaften
und bei dem Umstande, als die Fabrikanten in ihrer über-
wiegenden Mehrheit jedem Versuche, den Arbeitsnachweis
zu organisiren, passiven Widerstand entgegensetzen, nur
langsam Wurzel zu fassen. Nichts destoweniger weist der
Verein seit seinem Bestände eine stetige Steigerung seiner
Fhätigkeit auf. Er konnte in Brünn eine Filiale und in
Wiener-Neustadt eine Anmeldestelle errichten.
Die Vermittlungsthätigkeit umfasst beinahe ausschliess-
lich qualifizirte Arbeiter, was sich aus dem LImstande er-
klärt, dass die an den Verein sich wendenden Gewerbsin-
haber und Fabrikanten nur solche verlangen und der Mangel
eines Arbeitsnachweises für qualifizirte Arbeitskräfte be-
sonders fühlbar hervortritt. Indem der Verein nach Mass-
gabe seiner knappen Mittel die Härten der Arbeitslosigkeit
zu mildern und diese selbst so rationell als möglich abzu-
kürzen sucht, repräsentirt er einen vielversprechenden Keim,
der sich zu einer umfassenden Organisation des Arbeits-
nachweises zu entwickeln vermag.
Zum I heile erstreckt sich die Thätigkeit des Vereins
auch auf kleingewerbliche Arbeiter; vorwiegend aber macht
die mittlere Grossindustrie von der Vermittlung Gebrauch,
am wenigsten der Handel.
406
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 33.
Es gelangten an das Bureau
Nach dem letzten Geschäftsberichte pro 1891 er-
streckte sich die Thätigkeit des Vereins auf folgende Ge-
werbe:
Im
ganzen
vorge-
merkt
Hiervon
ver-
mittelt
Anstreicher und Zimmermaler
96
33
Bildhauer
73
37
Binder
60
14
Buchbinder
147
54
Buch-, Stein- und Kupferdrucker
20
10
Ciseleure und Emailleure
33
20
Dreher
937
313
Drechsler . •
193
34
Eisen-, Metall- u. Glockengiesser u. Former
263
102
Färber
5
4
Glaser
20
2
Gold-, Silber- und Juwelenarbeiter ....
4
i
Graveure
13
2
Gürtler und Broncearbeiter
260
105
Hafner und Thonöfenmacher
1
—
Handschuhmacher
1
1
Huf- und Wagenschmiede
1
—
Installateure
161
58
Kesselschmiede .
106
43
Kupferschmiede
37
11
Lackirer
186
68
Maschinenbauer
984
291
Maschinenwärter und Heizer
632
212
Mechaniker
142
38
Müller
2
1
Riemer und Peitschenmacher
101
32
Sattler
216
61
Schlosser
1098
310
Schmiede
303
64
Spengler
556
219
Tapezierer
76
20
Taschner
31
12
Tischler und Parquettenmacher
1830
861
Uhrmacher
20
5
Vergolder
25
11
Wagner
3
1
Zimmerleute
6
1
Zinngiesser
10
2
Comptoiristen, Bureau-, Haus- und Geschäfts-
diener
5
3
Fabriksarbeiterinnen
487
98
Diverse Gewerbe
600
228
Kutscher
209
44
Laufburschen
191
31
Metallhilfsarbeiter
124
38
571
202
Zusammen . . .
10749
3698
Aus dieser Zusammenstellung ergiebt sich, dass die
Metallbranche das grösste Kontingent an Stellensuchenden
(ca. 55 pCt.) stellte; ihr zunächst kam die Holzbearbeitung.
Seit dem Bestand des Vereins werden stellensuchende
Personen
Im Jahre
vorgemerkt
vermittelt
absolut in %
1885
1 616
162
10
1886
3 886
852
22
1887
5 514
1 866
34
1888
6 948
2 660
38
1889
7 334
2 962
40
1890
8 132
3 409
42
1891
9 540
3 698
39
Zusammen . . .
Im Durchschnitt .
. 42 970
6 138
15 582
2 226
36
36
Ueber ein Drittel der vorgemerkten Personen erhielten
also Arbeit zugewiesen, ein Resultat, das erst dann richtig
beurtheilt werden kann, wenn man bedenkt, dass die Vor-
merkung arbeitsuchender Personen nach Möglichkeit be-
schränkt wird, und dass nicht wenige der Stellensuchenden
ihr Vermerkgebühr (10 Kr.) verfallen lassen und dann aus
den Evidenzlisten ausgeschieden werden.
In welchem Grade die Arbeitgeber die Thätigkeit des
Vereins in Anspruch nehmen, ergiebt sich aus folgender
Tabelle.
Im Jahre
Aufträge
für Stellen
hiervon wurden
besetzt
absolut in u/0
1885
286
300
162
41
1886
1 019
1 318
825
62
1887
1 539
2 524
1 866
74
1888
1 924
3 433
2 660
77
1889
2219
3 587
2 962
82
1890
3311
4 748
3 409
72
1891
3 758
4 985
3 698
74
Zusammen . . .
. 14 053
20 985
15 582
74
Im Durchschnitt .
. 2 007
2 998
2 226
74
Auch das Verhältnis der besetzten Stellen zu den
angemeldeten ist kein sonderlich günstiges zu nennen; noch
ungünstiger würde es sich gestalten, wenn auch die uner-
ledigt gebliebenen Aufträge in Evidenz behalten würden,
was übrigens seit 1890 geschieht, wodurch der scheinbare
Rückgang in diesem und dem folgenden Jahre sich erklärt.
Was die Nachfrage nach Arbeitskräften in Bezug auf
die Jahreszeit betrifft, so ist dieselbe in den Monaten August
und September am stärksten, also im Hochsommer und vor
Beginn des Herbstes, da die Arbeitsthätigkeit in allen Ge-
werben der höchsten Anspannung bedarf, um die Anforde-
rungen der kommenden Wintersaison zu befriedigen.
Im Jahre 1891 vertheilten sich die Aufträge der Arbeit-
geber nach Monaten, wie folgt:
Monat
Aufträge
für Stellen
Januar . . . .
215
287
Februar . . .
226
305
März
274
356
April . . . .
317
400
Mai
359
497
Juni
339
463
Juli
364
471
August . . . .
394
542
September . .
418
564
Oktober . . .
387
531
November . .
277
348
Dezember . .
188
221 (
Zusammen . .
3758
4985 1
Im Durchschnitt
313
415.
Der Wirkungskreis des Vereins erstreckt sich auf ganz
Cisleithanien; die meisten Stellen werden für Wien und
Umgebung, dann für das übrige Niederösterreich vermittelt;
doch gelangen selbst Arbeitsstellen in den Balkanstaaten
zur Besetzung.
Im Jahre 1891 werden besetzt in
Stellen
Wien und Umgebung 3148
Niederösterreich ... .... 345
Oberösterreich und Salzburg ... 20
Steiermark und Kärnten 17
Tirol 3
Mähren 34
Schlesien 4
Böhmen 15
Ungarn 93
Bosnien 8
Rumänien 6
Serbien 2
Bulgarien 3
Zusammen . . . 3698.
Die Brünner Filiale hat seit ihrer im Jahre 1889 er-
folgten Gründung 1630 Arbeitszuweisungen vorgenommen;
wie in der Centrale Wien überwiegt natürlich auch hier
das Angebot der Arbeitskräfte weitaus die Nachfrage. Als
wesentliche Ursache wird der flaue Geschäftsgang ange-
geben.
Aber abgesehen davon sowie von der Thatsache, dass
die Gewerkschaften und Fachvereine dem Arbeitsnachweise
erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden beginnen, will es dem
Verein aus einem anderen Grunde nicht recht gelingen, die
Arbeitsvermittlung in seinem Bereiche zu vereinen und
massgebenden Einfluss auf den Arbeitsmarkt zu gewinnen:
Die mangelnde Unterstützung der Interessentenkreise, vor
allem der Fabrikanten, und die fehlende Förderung durch
die staatlichen und kommunalen Faktoren verhindern den
Verein an der Durchführung der nothwendigen Dezentrali-
sation und Ausbreitung seiner Thätigkeit. Ohne die ener-
No. 33.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
407
gische Förderung der genannten Faktoren wird der Verein
in absehbarer Zeit nicht im Stande sein, den Bedürfnissen
der eigentlichen Grossindustrien, für die er in erster Linie
berechnet ist und die sich gegenwärtig von ihm noch ferne
hält, zu entsprechen.
Der Arbeitsnachweis bedarf in Österreich einer grund-
legenden Regelung; erst durch die Organisation desselben
wird das immer dringender werdende Bediirfniss nach einer
Statistik der Arbeitslosen befriedigt werden können.
Entwurf eines badischen Anerbenrechtsgesetzes. Im
badischen Justizministerium ist eine auf das bäuerliche Erb-
recht in Baden bezügliche Denkschrift nebst dem Entwurf eines
Gesetzes über das Änerbenrecht ausgearbeitet und Ende Juli
d. Js. an die in Betracht kommenden Stellen im Lande zur Be-
gutachtung übermittelt worden. Der Zweck des Anerbenrechts-
Gesetzentwurfs ist, eine Ueberlastung des Anerben zu ver-
hindern, indem dem Anerben das Recht zustehen soll, zu ver-
langen, dass ihm bei der Auseinandersetzung das Anerbengut
mit Zubehör gegen Ersatz der Hälfte des laufenden Verkaufs-
werths überlassen wird, soweit dieses geschehen kann, ohne
dass der Pflichttheil der Miterben auf weniger als ein Viertheil
des gesetzlichen Erbtheils beschränkt wird. Der Anerbe ist
verpflichtet, für die Forderungen, welche den Miterben wegen
Uebernahme des Gutes gegen ihn zustehen, hypothekarische
Sicherheit an dem Anerbengut und erforderlichenfalls an anderen
inländischen Grundstücken innerhalb der ersten zwei Drittheile
des Werthes zu bestellen. Soweit er solche Hypotheken nicht
zu gewähren vermag, hat er tüchtige Bürgen zu stellen. Tritt
das Anerbenrecht ein, so kann bis zur Auseinandersetzung der
Antheil eines Anerben an dem Anerbengut ohne Zustimmung
der übrigen Erben nicht veräussert oder belastet werden, unbe-
schadet der Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung wegen einer
Nachlassverbindlichkeit. Gehören zu einem Nachlass mehrere
Anerbengüter, so kann jeder Berechtigte nach der Reihenfolge
seiner Berufung die Ueberlassung eines Anerbenguts verlangen.
Eheliche Kinder gehen den unehelichen vor; legitimirte Kinder
stehen den ehelichen gleich. Der Erblasser kann durch Ver-
fügung von Todeswegen das Anerbenrecht ausschliessen oder
beschränken; er kann einen seiner Abkömmlinge nach freier
Wahl zum Anerben ernennen. Liegt eine solche Verfügung
nicht vor, so ist als Anerbe berufen der jüngste Sohn und in
Ermangelung von Söhnen und Abkömmlingen von solchen die
älteste Tochter. An Stelle eines vorverstorbenen Kindes treten
dessen Abkömmlinge nach den für die Kinder geltenden Grund-
sätzen. Weitere Bestimmungen betreffen das Anerbenrecht bei
Gütergemeinschaft. Dem Anerbenrecht sollen nach dem Gesetz-
entwurf unterliegen: 1. die geschlossenen Hofgüter mit Zube-
hör, 2. alle sonstigen landwirthschaftlichen Wohnungen, ein-
schliesslich Scheuer, Stallung, Hof und Hausgarten. Der im
Anschluss an die landwirthschaftlichen Erhebungen des Jahres
1883 in der ersten Kammer der Landstände gegebenen Anregung
auf Adoptirung des in Preussen geltenden Systems der Höfe-
rolle werde, so heisst es in der Begründung, wohl kaum Folge
zu geben sein, da die Erfahrung gezeigt hat, dass die bäuerliche
Bevölkerung von dem Recht des Eintrags in die Höferolle
keinen oder nur selten Gebrauch macht und dass daher, wo
diese Eintragung die Voraussetzung der Wirksamkeit der Anerben-
rechtsvorschriften bildet, die erwarteten Wirkungen der betr.
Gesetzgebung ausblieben. Man wird deshalb erwägen müssen,
ob etwa die Erlassung eines gesetzlichen Intestatanerbenrechts
zu befürworten ist, der Art also, dass, sofern der Gutsbesitzer
unter Lebenden oder auf den Todesfall nichts anderes verfügt
hat, das Gut kraft Gesetzes an eines der Kinder ungetheilt
übergeht und von diesem Kind unter den besonderen Normen
des Anerbenrechts übernommen werden kann Die Schwierig-
keit einer Regelung des Anerbenrechts in diesem Sinne liegt
nun offenbar darin, dass das Geltungsgebiet solcher Vorschriften
über das Anerbenrecht und die dem Anerbenrecht zu unter-
werfenden Arten von landwirthschaftlichen Anwesen durch das
Gesetz selbst die nähere Begrenzung erfahren müssen Das
Geltungsgebiet zu fixiren, würde zwar überwiegende Schwierig-
keiten nicht bieten, da hierfür füglich die seitherige Gewohnheit
und LTebung als massgebend erklärt werden könnte, wohl aber
wird es nicht leicht sein, die landwirthschaftlichen Anwesen
selber, für welche innerhalb der betreffenden Gemeinden ein
Bedürfniss der Unterstellung unter das Anerbenrecht besteht
(jedenfalls nur für die Anwesen grösseren und mittleren Um-
fangs) als solche zu charakterisiren und eine Untergrenze der
Anwesen festzustellen, jenseits deren die Anwendung des Ge-
setzes entfallen soll; namentlich kommt hierbei in Betracht, ob
etwa der Flächengehalt oder wohl besser der Steuerkapitalwerth
des Anwesens das entscheidende Kriterium abzugeben und von
welcher Grösse bezw. welchem Werthbetrag an aufwärts die
Unterstellung unter das Anerbenrecht zu beginnen habe. Es
könnte wohl auch in Frage kommen, ob festzustellen wäre, ob
und in welchem Umfang bestehender Uebung gemäss bäuer-
liche Anwesen in Erbfällen ungetheilt an einen Erben über-
gehen und dann die Fortdauer dieser Uebung innerhalb
der ermittelten Grenzen durch gesetzliche Vorschrift zu
sichern sei.
Ortsstatut über Lohnzahlung in Augsburg. Eine
empfehlenswerthe Massnahme traf der Augsburger Magistrat,
indem er unter Hinweis auf § 115 a der Gewerbeordnung
verordnete, dass in der Regel Wirthschaften oder sonstige
Schankstätten oder Verkaufstellen zur Vornahme von Lohn-
auszahlungen nicht benützt werden dürfen und dass eine
Abweichung von dieser Regel nur mit besonderer polizei-
licher Genehmigung zulässig ist. Eine solche — stets
widerrufliche - — Genehmigung wird, wie es in der Bekannt-
machung heisst, nur in seltenen Ausnahmefällen ertheilt
werden.
Reform der Gesindeordnung in Wien. Ueber den Stand
derselben wurde in der Sitzung des wiener Gemeinderathes
vom 1. August d. Js. auf Anfrage eines Mitgliedes folgende amt-
liche Auskunft ertheilt. Die Revision ist seit 1883 (!) im Gange
und hat nach mehrfachen Differenzen mit der staatlichen Auf-
sichtsbehörde zur Ausarbeitung eines Entwurfes geführt, der
jetzt folgende Bestimmungen unter möglichster Berücksichtigung
der von Anton Menger in seinen Abhandlungen über das bürger-
liche Recht und die besitzlosen Volksklassen aufgestellten
Forderungen enthält Das Dienstverhältniss beruht auf einem
schriftlichen oder mündlichen Dienstvertrage zwischen Dienst-
herrn und Dienstboten. Auch Ammen unterstehen der Dienst-
botenordnung. Das Geben und Nehmen der Angabe gilt als
Beweis, dass der Dienstvertrag abgeschlossen worden ist. Das
Dienstverhältniss kann nach vorausgegangener vierzehntägiger
Kündigung gelöst werden, soferne nicht eine andere Verein-
barung getroffen ist. Der Dienstherr kann den aufgenommenen
Dienstboten die Aufnahme verweigern, wenn er dies dem Dienst-
boten 48 Stunden vorher bekannt giebt und demselben den
vierten Theil des bedungenen Monatslohnes bezahlt. Auch der
Dienstbote kann binnen 24 Stunden nach erfolgter Aufnahme
zurücktreten, in welchem Falle die erhaltene Angabe zurückzu-
stellen ist. Weigert sich der Dienstbote, ungerechtfertigt den
Dienst anzutreten, so ist er polizeilich zu bestrafen und eventuell
zwangsweise zum Dienstantritte zu verhalten. Weiter ist be-
stimmt, dass der Dienstbote durch den Dienstesantritt Hausge-
nosse des Dienstherrn und unter dessen Aufsicht gestellt wird.
Der Dienstherr hat das Recht, dem Dienstboten Zurechtweisungen
zu erth eilen, denselben unter gewissen Voraussetzungen sofort
zu entlassen und eventuell die Hilfe der Behörde in Anspruch
zu nehmen. Dem Dienstboten dürfen nicht schwerere Arbeiten
aufgebürdet werden, als derselbe nach seinen Kräften zu leisten
vermag. Auch darf die tägliche Arbeitszeit des Dienstboten
nicht zum Nachtheile seiner Gesundheit über das seinem Lebens-
alter entsprechende Ausmass verlängert werden. Der Dienst-
bote darf gegen das Verbot des Dienstherrn keine Besuche
empfangen; dagegen hat der Dienstherr dem Dienstboten eine
freie Zeit zu seiner Erholung und zur Besorgung seiner eigenen
Angelegenheiten zu bewilligen. Der Lohn ist monatlich nach-
hinein auszubezahlen. Zu den Gründen, welche den Dienst-
boten berechtigen, den Dienst sofort zu verlassen, gehören
unter Anderm, wenn der Dienstbote ohne Schädigung seiner
Gesundheit oder Ehre den Dienst nicht fortsetzen kann; wenn
der Dienstbote misshandelt oder zu unsittlichen oder unerlaubten
Handlungen verleitet wird; wenn der Dienstherr sein Domicil
ausserhalb Wien verlegt; wenn die Eltern des Dienstboten plötz-
lich erkranken und der Dienstbote zu deren Pflege nothwendig
ist; wenn erwiesenermassen die Verpflegung zur Sättigung nicht
hinreichend oder das Obdach gesundheitsschädlich oder anstand-
verletzend ist. Endlich soll die Regierung gebeten werden, die
Stempel- und Gebührenfreiheit für Dienstbotenstreitigkeiten zu-
zugestehen, was sie bisher verweigerte. Ob die Revision nun-
mehr schneller vorrücken wird, ist aus der Gemeinderathsver-
handlung nicht zu ersehen.
Der Montag und die Fabrikunfälle. Bei der Unter-
suchung, welcher Wochentag der unfallreichste sei, hat der
schweizerische Fabrikinspektor Dr. .Schüler den Montag am
stärksten belastet gefunden und daraus geschlossen, es
müsse hier der am Sonntag genossene Alkohol nachwirken.
Der „St. Galler Stadtanzeiger“ bezweifelt dies und beruft sich
auf eine andere Untersuchung, auf diejenige des Gewerbe-
inspektors in Wien. Des Letztem Untersuchung, die ver-
gangenes Jahr stattgefunden, hat ergeben, dass am Montag
682, am Dienstag 776, am Mittwoch 789, am Donnerstag 713,
am Freitag 776, am Samstag 775 und am Sonntag 134 Un-
fälle vorgekommen sind. Es entfällt also hier auf den Mon-
tag die kleinste Zahl von Unfällen. „Man wäre“, bemerkt
hierzu der Gewerbeinspektor, „versucht, aus diesem Re-
sultate den Schluss zu ziehen, dass der Montag hinsichtlich
der Linfallgefahr der günstigste Wochentag ist, weil die
meisten Arbeiter an diesem Tage mehr ausgeruht zur Arbeit
kommen.“
408
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 33.
Nothlage in der schweizerischen Uhrenindustrie. Von
Seite der Arbeitervertreter wurde im Grossen Rath von
Neuenburg die Bildung einer Kommission angeregt und gut-
geheissen, die Mittel und Wege zur wirksamen Bekämpfung
der Krisis in der Uhrenindustrie studiren und besonders die
Frage der Errichtung von Leihkassen untersuchen sollte. Die
Kommission empfiehlt nun heute die Inangriffnahme öffent-
licher Arbeiten. Die Errichtung einer Industriebank, welche
bedrängten Fabrikanten gegen Hinterlegung von Waaren
Vorschüsse leistet und Errichtung von Leihkassen, denen
keine Zinsen bezahlt werden müssen. Diese letzteren
Kassen würden zu Gunsten derjenigen Arbeiter zu errichten
sein, welche keine Armenunterstützung begehren und doch
einer augenblicklichen Hilfe bedürfen. Es soll den Ge-
meinden überlassen werden, zu bestimmen, auf welche
Weise die Kassen zu alimentiren sind. Die Darlehen werden
nicht den Gesuchstellern baar bezahlt, sondern werden in
der Weise geleistet, dass die Kasse bei Lieferanten und
Vermiethern während einer gewissen Zeit für einen be-
stimmten Betrag garantirt. Der von diesem Kredit Gebrauch
machende Arbeiter ist für den von ihm beanspruchten Be-
trag Schuldner der Leihkasse; an diese ist die Schuld in
bestimmten Raten zurückzubezahlen; dem Schuldner bleibe
überlassen, freiwillig einen Zins von 1 pCt. zu entrichten.
Arbeiterzustände.
Lolinverliältiiisse und Arbeitszeit der Fabrikarbeiter auf
dem thüringer Walde. In seinem neuen Jahresberichte für
1891 macht der Fabrikinspektor für das Fürstenthum Schwarz-
burg-Rudolstadt folgende werthvolle Angaben: „Nachdem
ich vor 12 Jahren kurze Angaben über den Tagesverdienst der
Arbeiter gemacht habe, bin ich in diesem Jahre bemüht gewesen,
eine Lohnstatistik aufzustellen, welche folgendes Ergebniss ge-
habt hat: Beim Eisensteinbergbau wird in 9stündiger
Schicht 2,5 M. verdient. In den Kohlengruben bei 10 stündiger
Schicht 2,6— 2,9 M. Bei Gewinnung von Kupferschiefer in acht
Stunden 2,6 M. Bei der Saline 1,25— 1,5 M., ausserdem für jede
Sonntags- oder Nachtschicht 1,5 M. Im Sommer wird 9 Stunden,
im Winter 8 Stunden gearbeitet, ausserdem in bestimmtem
Wechsel das Feuer unter den Siedepfannen Sonntags und in
der Nacht unterhalten. In den Schieferbrüchen zahlt man
im Allgemeinen bei 10 stündiger, im Sommer bei 11 stündiger Arbeit
2,1 M an erwachsene Arbeiter, 2,5—2,75 M. an Vorarbeiter, 1,35
an Frauen, 0,7— 1,1 M. an jugendliche Arbeiter. Bei starkem
Betriebe kommen auch" ausnahmsweise 12 Arbeits-
stunden vor. Griffelschieferarbeiter verdienen etwa 1,75 M.
bei 10 stündiger Arbeit. In den Ziegeleien wird meist zehn
Stunden, aber auch II Stunden, ‘ in sehr seltenen Fällen
11 V2 Stunden, gearbeitet. Vorarbeiter verdienen bis 3 M. Die
Porzellanfabriken arbeiten meist 10 Stunden, eine einzige
arbeitet 9 Stunden, wenige arbeiten im Sommer 11 Stunden,
in manchen kommen zur Herbstzeit besonders bezahlte U eber-
stunden vor. Die Akkordarbeiter binden sich nicht an die
vorgeschriebene Zeit, arbeiten oft nur 8—9 Stunden, ebenso die
Frauen, welche in der Wirthschaft zu thun haben. Abgesehen
von den künstlerisch ausgebildeten Modelleuren, zum Theil auch
Malern, welchen ein Gehalt von 1500—3000 M. gezahlt wird,
verdienen die Obermaler 4M., meistens aber in besseren Fabri-
ken 5 M. Bei den Lohnsätzen der gelernten Arbeiter macht
sich ein Unterschied nach der Richtung hin nicht bemerkbar,
ob sich die Fabrik in einer Stadt, in der Nähe derselben oder
auf dem Gebirge befindet. Der Lohnsatz steht eher im
Gebirge höher. Der Verdienst stellt sich im Durchschnitt so,
dass die jugendlichen Arbeiter mit 0,8— 1,0 M. beginnen, wobei
der niedrigere Satz für Mädchen gilt, bis zum 2lf Jahre 1,5— 2,0
Mark erreichen und als ausgelernte Arbeiter im Durchschnitt
2.5 aber auch 3,0 M erhalten. Die Frauen verdienen im Tage-
lohn 1,5 — 2,0 M, können als Formerinnen und dergl. aber bis auf
2.5 M., wenn auch ausnahmsweise, kommen. Selbstverständlich
hängt gerade in der Porzellanfabrikation alles von der Geschick-
lichkeit und dem Fleisse des einzelnen Arbeiters ab, es steht
damit im Zusammenhänge die Qualität des Produktes, insofern
für schlechte Massenartikel auch weniger an Arbeitslohn gezahlt
wird. Mädchen fangen da mit 0,7 M. an und Frauen erhalten
nur 1,3— 1,6 M., halten aber oft die Arbeitszeit nicht inne.
Noch geringeren Verdienst erzielen in der Haus-
industrie die Verfertiger von Puppenbälgen, welche
letztere in den Porzellanfabriken abgenommen und weiter ver-
breitet werden. In den Glashütten erhält der Auszieher,
nämlich derjenige Arbeiter, welcher die Rohre zieht und
die Geschicklichkeit besitzt, den jedesmal vorgeschriebenen
äusseren und inneren Durchmesser zu treffen, 4,0 ja bis 6,5 M.
Aeltere Glashüttenarbeiter verdienen bis 4,0 M. im Akkord, im
Durchschnitt 2,5— 3,0 M, Tagelöhner 1,7 M. Die Schicht dauert
10 Stunden. Thermometermacher arbeiten ebenfalls 10, aber
auch 11 Stunden und verdienen 2,0, jugendliche 0,5 M. Da, wo
feinere Arbeiten, Alkoholometer und dergl. gefertigt werden,
erreicht der Verdienst bis 3,0 M Die Glasbläser, Verfertiger
von Perlen und Blumen, beschäftigen vielfach Frauen und
Mädchen zum Füllen und Färben der Fabrikate. Bei Ver-
arbeitung der Metalle stellt sich der Verdienst auf 2,2 bis
2.4 M. In Maschinenfabriken und Eisengiessereien wird 11 Stun-
den gearbeitet. Es erhalten die Schmiede 2,0— 3,0, die Schlosser
und Dreher 2,5 — 4,0, die Giesser 3,0— 4,0 M. In der Pianoforte-
und Klaviaturfabrikation wird bei 10, selten 11 Stunden
Arbeit 2,5 — 3,0, von einzelnen 4,0, im Durchschnitt 2,75 M. ver-
dient In Bleiweissfabriken wird im Winter 9 Stunden, im
Sommer 10 Stunden, selten 1 0l/a Stunden gearbeitet, die Arbeiter
erhalten durchschnittlich 2,3, aber auch 2,0 und dazu 0,13 M.
Kostgeld. Die Zündholzarbeiter erhalten 2,0, Frauen 1,0,
jugendliche Arbeiter 0,7 und Kinder 0,25 M. (! !) Die Spin-
nereien arbeiten meist 10 Stunden im Winter und 11 Stunden
im Sommer. Die Meister verdienen 2l/2 — 4,0, die Männer 2,0,
die Frauen 0,9 — 1,0, an Stühlen 1,5, die Mädchen 0,6 — 1,0 M,
Kinder unter 14 Jahren für die Stunde 5—6 Pf. In den
Schlauch- und Gurtwebereien und Seilereien ist die
Arbeitszeit die gleiche, die Weber erhalten 3,0—2,75, die Spinner
1,5— 2,0, jugendliche Arbeiter 0,8 — 1,1, Mädchen 0,75 M In der
Färberei wird II Stunden gearbeitet. Die Gerber arbeiten
11 Stunden, die Gesellen erhalten durchschnittlich 2,5, selten
2,0, die gewöhnlichen Arbeiter 1,7— 2,0, jugendliche 1,0 bis
1.5 M. In den Holzstofffabriken dauert die Schicht 10 bis
11 Stunden; der Durchschnittsverdienst der Männer ist 2,0,
seltener 2,5, es kommt aber auch 3,0 M. vor, der der Frauen
1,0— 1,3, der jugendlichen Arbeiter 1,0 M. In der Holzindustrie,
Kistenmacherei, wird 10—11 Stunden gearbeitet. Die Männer
verdienen 2,0— 2,5, gelernte Arbeiter 3,0, in Akkord bis 4,0 M.
Vergolder bis 5,0 M. Kinder unter 14 Jahren erhalten für die
Stunde 4 Pf., können aber in Akkord bis 80 Pf. verdienen.
Perlmutterarbeiter erhalten 1,5— 2,0 M. bei 10 stündiger
Arbeitszeit, bei gewissen Arbeiten, z. B. Oesenknöpfen, kann
ausnahmsweise einmal 4 M verdient werden. Cigarren-
arbeiter erhalten 1,2 — 1,8 M., dazu noch wöchentlich 21 bis
30 Stück Cigarren, weibliche Arbeiter 1,2 — 1,3, Wickelmache-
rinnen 0,7— 0,9 M. In der Zuckerfabrik dauert die Schicht
10 Stunden, der Durchschnittsverdienst der Männer beträgt 1.6,
der der Frauen 0,9 M. Ueberstunden werden besonders
vergütet. In den Brauereien kann man den Durchschnitts-
verdienst zu 2,5 annehmen, sonst wird auch meist neben 1,4 bis
1.6 M. Lohn noch die Kost gewährt. Ausserdem erhält jeder
Arbeiter täglich 4 Liter Bier. In der Filzhutfabrik wird nur
9 Stunden gearbeitet, der Verdienst ist je nach der Geschick-
lichkeit sehr verschieden 2,5 -4,0 M. Frauen erhalten 1,0, selten
1,5 M. In der Strohhutfabrik dauert die Arbeit 11 Stunden, (in
der Saison mit 3 Ueberstunden) bei einem Verdienst von 2,0 bis
2,3 M. Frauen erhalten 1,1 M In den Druckereien
wird 10 Stunden gearbeitet, die Meister erhalten 4,0 — 5,0, die
Setzer 3,0— 4,0, die Drucker 3,0, die Frauen 1,5 M.“ Und zu
diesen, mindestens mit Bezug auf die Bezahlung weiblicher und
jugendlicher Arbeit, sowie die Arbeitszeit nicht sehr erfreulichen
Ergebnissen seiner fleissigen Erhebung macht der Fabrikinspektor
folgende bezeichnende Anmerkung: „Auflallend erscheint mir,
dass seit zwölf Jahren eine Steigerung der Löhne nicht
deutlicher zu erkennen ist. Man wird wohl annehmen dürfen,
dass die verzeichneten Löhne dem Durchschnitt in Deutschland
entsprechen. Die Lebensmittel im thüringer Walde sind
theurer, als im freien Lande, weil Brodkorn, Kolonialwaaren
und dergl. herangeschafft werden müssen und man zufrieden
ist, wenn die Lieblingsspeise der Bewohner, die Kar-
toffel, in ausreichender Menge geerntet wird. Auch das Brenn-
material ist nicht so billig, als man anzunehmen pflegt. Trotz-
dem glaube ich, dass der Verdienst für eine ordentliche und
sparsame Familie leidlich ausreicht, treten indessen Krank-
heiten und Theuerung ein, wie im letzten Jahre, dann
mag es einem Familienvater recht sauer werden, in
Ehren durchzukommen und der Wunsch liegt nahe, es möchte
sich der Weltmarktpreis der Erzeugnisse, der durch Ueber-
produktion, mehrfach zu niedrig stehen soll, so gestalten, dass
es dem Arbeitgeber möglich wäre, seinen Arbeitern einen aus-
kömmlicheren Verdienst zu gewähren.“
Arbeiterstatistik des Fabrikinspektors für das Gross-
herzogthum Altenburg. Zu den wenigen deutschen Ge-
werbeaufsichtsbeamten, welche ausserhalb des Königreichs
Sachsen eine regelmässige und vollständige Arbeiterstatistik
führen, gehört auch der Fabrikinspektor für das Gross-
herzogthum Altenburg, aus dessen neuesten Bericht für
1891 kürzlich (in unserer No. 29) interessante Lohndaten
mitgetheilt wurden. Nunmehr soll die Entwickelung der
altenburgischen Fabrikarbeiter bevölkerung seit 1888 nach
den Jahresberichten dieses Beamten dargestellt werden.
Danach betrug die Zahl:
No. 33.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
409
im
Jahre
der erwachsenen
Arbeiter
der jugendlichen
Arbeiter
der kindlichen
Arbeiter
männl.
weibl.
männl. weibl.
männl.
weibl.
1888
7230
2842
448
276
245
111
1889
7804
3055
478
337
238
108
1890
8188
3339
803
324
1891
8756
3690
554
266
243
87
An dieser Statistik ist erfreulich, namentlich angesichts
des vielfach ländlichen Charakters der altenburgischen
Industrie, die regelmässige Abnahme der kindlichen und die
nicht anormale Zunahme der jugendlichen Arbeit, auffällig
dagegen die 30 prozentige Vermehrung der Frauenbeschäfti-
gung von 1888 aut 1891, gegenüber der nur 20 prozentigen Zu-
nahme der Männerarbeit. Diese Anomalie ist um so uner-
freulicher, als sich die Zunahme der Frauenarbeit neben
der Textilindustrie namentlich bei der Cigarrenfabri-
kation und der Industrie der Holz- und Schnitzstoffe zeigt
Politische Arbeiterbewegung.
Handhabung des Vereinsgesetzes in Schwarzburg-
Rudolstadt. Aut einen Rekurs in Vereinsangelegenheiten
gegen eine Entscheidung des fürstlichen Landrathes von
Königsee hat das schwarzburg-rudolstädtische Ministerium
entschieden, „dass der Auffassung des fürstlichen Landrathes
zu Königsee, wonach diese Versammlung als eine unter
das Verbot des § 8 der landesherrlichen Verordnung vom
25. Mai 1856 fallende Vereinigung zu betrachten sei, nach
Lage der Umstände nicht entgegen getreten werden kann“.
Der § 8 lautet: „Arbeitervereine und Verbrüderungen,
welche politische, sozialistische oder kommunistische Zwecke
verfolgen, werden andurch als ordnungswidrig verboten“.
Damit, dass diese obsolete Verordnung wieder in’s
Gedächtniss gerufen wurde, schafft man für Schwarzburg-
Rudolstadt ein Sonderrecht, das mit der Aufhebung des
Sozialistengesetzes in nicht zu vereinbarendem Wider-
spruche steht.
Parteitag (1er deutschen Sozialdemokratie. Der dies-
jährige Parteitag der sozialdemokratischen Partei Deutsch-
lands findet in Berlin statt, und zwar in den Tagen vom
16. Oktober ab. Sonntag, den 16. Oktober, Abends 7 Uhr,
treten die Delegirten zur konstituirenden Versammlung zu-
sammen. Als I agesordnung des Parteitags sind folgende
Punkte ausersehen: Geschäftsbericht des Parteivorstandes;
Bericht der Kontrolleure; Bericht über die parlamentarische
Thätigkeit der Reichstags-Fraktion; die Maifeier 1893; der
internationale Kongress in Zürich; das Genossenschafts-
wesen; die wirthschaftliche Krise und ihre Folge, der all-
gemeine .Nothstand; der Antisemitismus und die Sozial-
demokratie; Berathung derjenigen Anträge der Partei-
genossen, welche bei den vorausgehenden Punkten der
1 agesordnung nicht bereits ihre Erledigung gefunden h&ben;
Wahl der Parteileitung und Bestimmung des Ortes, wo sie
ihren Sitz zu nehmen hat.
Das kommunale Wahlprogramm der Arbeiter Zürichs
lautet: 1. Die Arbeitsbedingungen für Arbeiten im städti-
schen Dienst (Art. 152 der Gemeindeordnung) sollen auch
für städtische Arbeiten gelten, die im Akkord oder von
Unternehmern ausgeführt werden. 2. Einrichtung des Ar-
beitsnachweises (Arbeitsbörse) unter Selbstverwaltung der
Arbeitergewerkschaften. Zuzug von Vertretern der Arbeiter-
vereine zur Verwaltung der Naturalverpflegung. 3. Anhand-
nahme einer Wohnungsuntersuchung und Erstellung von
billigen, gesunden Wohnungen durch die Stadt. 4. Unent-
geltliche ärztliche Hilfeleistung (Poliklinik) durch den Stadt-
arzt und seine Assistenten. 5. Erweiterung der Ferien-
kolonien und Milchkuren durch städtische Mittel. 6. Errich-
tung von Schulküchen und Vertheilung von Schuhen und
Kleidern an bedürftige Schüler. 7. Unentgeltliche öffent-
liche Bäder zu allen Jahreszeiten.
Ein englisches Arbeiterprogramm. Der bei den allge-
meinen Wahlen ins Parlament gewählte Keir Hardie stellte
folgendes Programm auf:
In ökonomischer Beziehung: Rückerstattung von
Grund und Boden an den Staat; Einführung des acht-
stündigen Arbeitstages; Beschäftigung der Arbeitslosen;
Pensionen für Greise und Invalide; progressive Einkom-
menssteuer; Arbeiterversicherung; gewissenhafte Inspektion
der Werkstätten, Eisenbahnen und Minen; genügenden
Schutz für die Seeleute; Errichtung eines Arbeitersekreta-
riats; Vereinigungsrecht für die Staatsangestellten.
In sozialer Beziehung: direkte Abstimmung in Bezug
auf den Verkauf geistiger Getränke und keinerlei Ent-
schädigung an die aufgehobenen Verkaufsstellen; Schliessung
der Verkaufsstellen am Sonntag; Vergrösserung und Ver-
mehrung von Promenaden und öffentlichen Plätzen; Er-
stellung von gesunden Wohnhäusern, Bade- und Wasch-
anstalten, Lese- und Erholungslokalen; Unentgeltlichkeit
der Schulen; Trennung von Kirche und Staat.
In politischer Beziehung: Home-Rule (Anerkennung
der Unabhängigkeit Irlands); das allgemeine Wahlrecht;
Entschädigung der Abgeordneten; Bezahlung der Wahl-
kosten durch den Staat; Festsetzung des Samstags als Ab-
stimmungstag und Erklärung dieses Tages als gesetzlichen
Festtag; Wahl des Parlaments für drei Jahre; Einführung
der Stichwahlen und des Referendums (Volksabstimmung über
Gesetze); Aufhebung der Kammer der Lords; das Recht
für die Gemeinderäthe, die Polizei, das Personal der Wasser-
und Gaswerke, der Strassenbahnen und der Seehäfen zu
kontroliren etc.
Kaufmännische Bewegung.
Kaufmännische Sonntagsruhe in der Schweiz. Die
Degl^irten Versammlung (jer schweizerische kaufmännischen
Vereine (Vereine von Handelsangestellten) hat nach Antrag
der Sektion Zürich beschlossen, es habe das Centralkomitee
bei sämmtlichen kaufmännischen Vereinigungen der Schweiz
über die Sonntagsarbeit im Handelsstande und die Büreau-
zeit überhaupt genaue Erhebungen zu veranstalten und
gestützt hierauf der nächstjährigen Delegirtenversamm-
lung Bericht .und Antrag vorzulegen, wie bestehenden
Uebelständen im allseitigen Interesse am besten zu be-
gegnen wäre.
Kaufmännisches Berufssekretariat in der Schweiz.
Aehnlich dem Gewerbe- und Arbeitersekretariate und dem
ständigen Sekretariate für den Handelsstand, soll, wie in
einer Eingabe an den Bundesrath seitens der kaufmännischen
Vereine ersucht wird, ein kaufmännisches Sekretariat mit
Bundesunterstützung errichtet werden.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Die Stellung der schweizerischen Handwerker- und
Gewerbevereine zur Erweiterung des Fabrikgesetzes.
In Folge der im Vorjahre bei der Maifeier von den
Arbeiterversammlungen kundgegebenen Wünschen für Aus-
dehnung des Fabrikgesetzes im Sinne der Reduktion des
Normalarbeitstages auf 10, bezw. 9 oder 8 Stunden, des
Verbots der Arbeit verheiratheter Frauen und der Ver-
mehrung der Zahl der eidgenössischen Fabrikinspektoren,
hat das schweizerische Industriedepartement unter Anderem
auch die Meinungsäusserungen des schweizerischen Ge-
werbevereins eingeholt. Die Sektionen dieses Verbandes
behandelten die Frage einlässlich und es ist ein umfang-
reicher Bericht über das Ergebniss dieser Besprechungen
im Druck unlängst veröffentlicht worden.
Wie zu erwarten war, ist die Stellung des Verbandes
zum weiteren Ausbau des Fabrikgesetzes nicht gerade eine
freundliche. Die Reduktion der Arbeitszeit wird haupt-
sächlich in der Befürchtung bekämpft, dass dieselbe bei der
410
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 33.
erfolgten Ausdehnung des Fabrikgesetzes auf Kleinbetriebe
auch das Handwerk treffe, während einer Reduktion der
Normalarbeitszeit in Industriebetrieben prinzipiell nicht
opponirt würde. Die Verhältnisse des Kleingewerbes, wird
argumentirt, gestatten nicht eine für alle Berufsarten und
alle Jahreszeiten genau fixirte Norm; dasselbe sei auch
anderen Produktions- und Konkurrenzbedingungen unter-
worfen und bedürfe ebenfalls eines Schutzes.
Die Unterstellung von Handwerk und Kleingewerbe
unter das Fabrikgesetz, statt unter ein den eigenartigen
Verhältnissen des Gewerbes angepasstes Gesetz müsste
als eine die Interessen des Standes schädigende Verfügung
in hohem Grade bedauert werden und es müsse sich
daher das Handwerk mit aller Entschiedenheit gegen die
in Frage stehende Verkürzung der Arbeitszeit aussprechen.
Es wird auch auf die Erschwerung der Konkurrenz hin-
gewiesen und die Nothwendigkeit einer internationalen
Regelung der Arbeitszeit besonders betont. Bis dahin könne
die Schweiz ohne Gefährdung ihres Wohlstandes nur stufen-
weise durch gutes Beispiel voranmarschiren und jeweilen
erst dann wieder einen Schritt weiter gehen, wenn die
grossen, sie umgebenden Staaten wenigstens eine Stufe
nachgefolgt seien.
Immerhin stimmen drei Sektionen der Reduktion der
Normalarbeitszeit zu. So erklärt sich der Kantonalvorstand
der Bernischen Gewerbevereine mit Einführung des zehn-
stündigen Maximalarbeitstages, welche Neuerung berechtig-
ten Wünschen in vollständig genügenderWeise entspreche,
einverstanden. Ein anderer Verein erklärt sich einverstanden
mit Einführung des gesetzlichen Zehnstundentages für die
ungefährlichen, des Neun- und Achtstundentages für die
gesundheitsmörderischen Industrien und Gewerbe. Ein
dritter Verein hält die Reduktion der Arbeitszeit auf 10
Stunden als eine Wohlthat für die Fabrikarbeiter, da da-
durch Vielen ermöglicht wäre, z. B. im Sommer für ihre
Haushaltung landwirthschaftliche Arbeiten zu verrichten
oder die Hausgeschäfte entsprechend zu besorgen. Dies
würde auch in gesundheitlicher Beziehung auf die in ge-
schlossenem Raume Arbeitenden wohlthätig wirken und
zugleich eine Besserung ihres sonst so kläglichen Lohnes
herbeiführen. Dem achtstündigen Arbeitstage wäre diese
Sektion nicht abgeneigt, wenn er international eingeführt
würde.
Die Forderung der Handwerker, dass man sie nicht auf
gleiche Stufe wie die Fabrikanten stelle, hat ihre Berech-
tigung, ein Gewerbegesetz kann den besonderen Arbeits-
verhältnissen im Kleingewerbe besser gerecht werden, aber
zur wirksamen Geltung muss auch hier der Arbeiterschutz
kommen, denn er ist für die Handwerksbetriebe oft noch
viel nöthiger als für die Fabrikindustrie.
Die Forderung des Verbots der Frauenarbeit wird
blos von zwei Sektionen befürwortet. Die eine stellt sich
auf den Standpunkt, man sollte durch ein strenges Gesetz
verhindern können, dass ein Familienvater seinen Lohn
vertrinke, seine Angehörigen darben lasse und seine Frau
zwinge, selbst dem Verdienste nachzugehen. Sie fordert
den Schutz der Frauen und strengste Massnahmen gegen
solche pflichtvergessene Familienväter. In den übrigen
Berichten geht die Meinung dahin, dass das Verbot zu be-
grüssen wäre, wenn man es durchführen könnte. Einzelne
Sektionen sprechen die Ansicht aus, dass auch diese Frage
nur durch internationale Vereinbarung glücklich gelöst wer-
den könne. Massnahmen, welche einen wirksamen Schutz
der Frauen und Kinder nicht nur in der Fabrikindustrie,
sondern auch in der Hausindustrie bezweckten, wären
höchst zeitgemäss.
Die Frage der Vermehrung der Zahl der eidgenössi-
schen Fabrikinspektoren oder Inspektionskreise wird nur
von wenigen Sektionen ablehnend begutachtet. Bezüglich
des Modus der Vermehrung gehen die Meinungen ausein-
ander. Die Einen wünschen die Kreise so zu vermehren,
dass jeder Inspektor ohne Gehilfen seinen Kreis besorgen
kann; sie wünschen also so viel Kreise, als heute Inspektoren
und Adjunkten vorhanden sind. Die Gefahr für Bildung
einer Büreaukratie sei zu gross, wenn man unter den In-
spektoren verschiedene Rangstufen sich bilden lasse. Die
Anderen sprechen sich dahin aus, dass die Vermehrung der
Zahl der Fabrikinspektoren eine mehr von den Behörden zu
entscheidende Sache sei. Wichtiger als die Zahl erscheine
die Qualität der Inspektoren. Lieber deren zehn, die das
Gesetz mit Einsicht und Erfahrung interpretiren, als einen
einzigen, dessen Wirksamkeit oft in eine quälende Pedan-
terie ausartet.
Die Antwort des schweizerischen Gewerbevereins
schliesst mit dem Verlangen nach baldiger Inangriffnahme
eines schweizerischen Gewerbegesetzes und mit einem
Protest gegen weitere Ausdehnung des eidgenössischen
Fabrikgesetzes auf Kleinbetriebe.
Aarau. E. Naef.
Durchführung der neuen Schutzvorschriften für
Arbeiterinnen in Baden. Nach einer in den badischen
Regierungsblättern veröffentlichten Notiz begegnen dort
die zum Schutze der Arbeiterinnen durch das Gesetz
vom 1. Juni v. Js. erlassenen Bestimmungen der Ge-
werbeordnung im Allgemeinen in der Praxis wenig
Schwierigkeiten. Die Beschränkung der Arbeitszeit der
über 16 Jahre alten Arbeiterinnen auf 11 Stunden täglich
betraf im Grossherzogthum im Wesentlichen nur die Textil-
industrie. Nachdem aber schon vor dem Inkrafttreten
der neuen Vorschriften ein grosser Theil der Baumwoll-
spinnereien und Webereien die 11 ständige Arbeitszeit ein-
geführt hatte, vollzog sich dieser Uebergang in den-
jenigen Anlagen, welche noch die ohnedem lange 12sttindige
regelmässige Arbeitszeit hatten, ziemlich leicht. In der
Regel hat auch diese Reduktion der Arbeitszeit keine
nennenswerthe Verminderung der Produktion und
des Verdienstes der Arbeiter zur Folge gehabt. Weniger
vollkommen zeigt sich aber da und dort der Vollzug der
Vorschrift, dass die Arbeiterinnen am Samstag nur bis
5V2 Uhr Abends beschäftigt werden dürfen. In der Regel
liege dabei aber keine bewusste Verletzung des Gesetzes,
sondern ein mit der Neuheit der bezüglichen Vorschrift zu-
sammenhängender Mangel an Aufmerksamkeit zu Grunde,
sagt beschwichtigend die Notiz und fügt hinzu: „Da die
Verletzung aller die Arbeitszeit betreffenden gesetzlichen
Vorschriften der Gewerbeordnung unter hohe Strafe gestellt
ist, so werden die Industriellen gut daran thun, sich mit
diesen Vorschriften mehr vertraut zu machen und sich genau
nach denselben zu richten.“
Gewerbeinspektion.
Reorganisation (1er Fabrikinspektion in Preussen.
Im neuen preussischen Etat für 1893/94, der sich jetzt in
der Bearbeitung befindet, müssen weitere Mittel für die ■
Reorganisation der preussischen Fabrikinspektion ausge-
worfen werden. Die Reorganisation war auf vier Jahre
vertheilt worden. Sie begann im Jahre 1891/92. Es würde
mithin nunmehr der für das dritte Jahr in Aussicht genom-
mene Plan zur Durchführung zu bringen sein. Zunächst
handelt es sich darum, drei weitere Regierungs-Gewerbe-
rathsstellen zu schaffen, und zwar für die Regierungsbezirke
Liegnitz, Münster und Koblenz. Die Gewerbeinspektoren
sollen um 25 und die Assistentenstellen um 9 vermehrt
werden. Auch die Umgestaltung der Dampfkesselrevision
soll eine weitere Förderung erfahren. Die Ueberweisung
dieser Revision an die Gewerbeinspektion, die bekanntlich
sozialpolitisch nicht vortheilhaft wirken kann, soll im Jahre
1893/94 in den Regierungsbezirken Frankfurt a. O., Breslau,
Liegnitz, Oppeln, Magdeburg, Merseburg, Erfurt, Schleswig
und Hannover zur Ausführung gelangen. Die alte Dampf-
kesselrevision wird dann nur noch in den Provinzen Ost- und
Westpreussen, Pommern, Posen und in der Provinz Han-
nover mit Ausnahme des Regierungsbezirks Hannover, also
in denjenigen Landestheilen, wo die Industrie nicht in so
starkem Maasse wie in anderen Bezirken entwickelt ist.
gehandhabt werden. Die für die Gewerbeinspektion in
Betracht kommenden Positionen des Etats für 1891 92 steigen
gegen den von 1890/91 um etwa 175 000 M., die für 1892/93
gegen den von 1891/92 um 150 000 M., so dass jetzt die
Reorganisation des Fabrikinspektorats gegen früher jährlich
einen Mehraufwand von rund 225 000 M. erfordert. Die
Erhöhung für 1893/94 wird im grossen Ganzen den in den
Vorjahren geforderten Summen entsprechen.
No. 33.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
411
Arbeiterversicherung.
Die Krankenversicherung in den deutschen
Grossstädten.
Die hervorragendsten Vertreter der kommunalen Sta-
tistik in Deutschland haben seit einiger Zeit eine lose
Vereinigung geschaffen und geben auf Grund eingehender
Berathungen in derselben ein „Statistisches Jahrbuch deut-
scher Städte“ heraus, dem man ansieht, wie entwickelungs-
fähig die kommunale Statistik in Deutschland ist und das
als erster Versuch auf diesem Gebiete volle Anerkennung
verdient. Umsomehr, als der im Erscheinen begriffene
zweite Band eines der wichtigsten Gebiete der modernen
Gemeindestatistik zu erschlossen beginnt, die Sozialstatistik.
In Abschnitt XIII wird die Sozialversicherung, wie sie sich
in den deutschen Grossstädten entwickelt hat, auf Grund
besonderer, ad hoc veranstalteter Erhebungen vom Vorsteher
des statistischen Amtes der Stadt Frankfurt a.M., Dr. Bleicher,
dargestellt. Diese Darstellung bedeutet ebenfalls erst den
Anfang dessen, was auf diesem Gebiete durch die ver-
gleichende Statistik noch geleistet werden kann. Erstens
blieben von den 47 deutschen Städten mit über 50 000 Ein-
wohnern noch 5 mit Antworten aus; dann liessen bei dem
ersten Anlauf, Daten für eine tiefer in die Organisation der
Sozialversicherung eindringende Kommunalstatistik zu er-
langen, manche Antworten noch zu wünschen übrig; endlich
scheint ein gewisses Beharrungsstadium in der organisato-
rischen Entwickelung selbst bei der ältesten Versicherung,
der Krankenversicherung, noch lange nicht erreicht, umso-
weniger, als die Novelle zum Krankenversicherungsgesetz
soeben wieder manches Erhebliche an der Organisation der
Kassen ändert, weshalb der Bearbeiter mit Recht erklärt,
dass die nächste Darstellung so lange wird warten müssen,
bis sich diese Neuerungen einigermassen werden eingelebt
haben. Man darf also keine überraschenden Ergebnisse von
der erstmaligen, vergleichenden Bearbeitung der Sozialver-
sicherung in den deutschen Grossstädten erwarten. Nichts-
destoweniger liefert dieselbe manche bemerkenswerthe
Gesichtspunkte, die alte Erfahrungen bestätigen, nebenbei
auch einige Informationen, die bisher gänzlich fehlten.
Wenn im Nachfolgenden fast nur von der Krankenver-
sicherung die Rede ist, so erklärt sich dies durch die
hervorragende Wichtigkeit dieses gewissermassen grund-
legenden Versicherungszweiges und durch die Lückenhaftig-
keit der kommunalen Nachrichten über Unfall-, Invaliditäts-
und Altersversicherung. Die Krankenversicherung der
Grossstädte darf doch wohl als eine Art Musterbild der
Krankenversicherung überhaupt betrachtet werden.
Merkwürdig ist gleich die erste Feststellung des Bear-
beiters bezüglich des Umfanges, in welchem die Städte mit
über 50 000 Einwohnern Gebrauch von der Möglichkeit
gemacht haben, die Krankenversicherungspflicht durch
Ortsstatut auszudehnen. Am häufigsten, aber immerhin nur
in 26 Fällen, geschah dies für die land- und forstwirtschaft-
lichen Arbeiter; in 20 Fällen für Transportarbeiter, in 18
für ausserhalb der Betriebsstätten beschäftigte Personen, in
1 2 für Handlungsgehilfen, in 9 für hausindustrielle Arbeiter,
in 6 für vorübergehend beschäftigte Personen. Nimmt man
hinzu, dass in der Mehrzahl aller Fälle (7/10) die statutarische
Ausdehnung sofort mit Einführung der Krankenversicherung
überhaupt erfolgte, so kann man sich des Eindruckes nicht
erwehren, dass die bei uns so beliebte Methode, sozialpoli-
tische Schwierigkeiten, die man sich durch Reichsgesetz
nicht zu lösen getraut, der Erledigung durch Ortsstatut zu
überlassen, auch bei der Krankenversicherung ein ziemliches
Fiasko zu verzeichnen hat. Entweder wurde der statutarische
Zwang gleich oder auch später nicht eingeführt; und die
relativ geringe Anzahl der Städte, die mehr Verständniss
und Muth als die Reichsgesetzgebung hatte, beweist, dass
man den bequemen Ausweg des Ortsstatuts in der Reichs-
gesetzgebung mit Bezug aut die übrigen Arbeiterkategorien
mit der Zeit ebenso wird verschmähen müssen, wie es z. B.
neuerdings bei den Handlungsgehilfen in der Novelle von
1892 wenigstens nach der Absicht der verbündeten Regie-
rungen eingetreten ist. Entweder sind gewisse Arbeiter-
kategorien ihrer wirthschaftlichen Lage nach der Versiche-
rung bedürftig; dann soll das Reichsgesetz die letztere
bindend aussprechen. Oder dieses Bedürfniss ist nicht
vorhanden; dann braucht es auch keiner Möglichkeit der
ortsstatutarischen Ausdehnung des Zwanges. Die sozialen
Verhältnisse innerhalb des Deutschen Reiches sind durch
Eisenbahnen und sonstige Verkehrsmittel denn doch bei
allen lokalen Unterschieden bis zu dem Grade ausgeglichen,
dass man über die allgemeine Versicherungsnothwendigkeit
ohne Rücksicht auf Gegenden oder gar Ortschaften ent-
scheiden kann.
Nur in Parenthese brauchen die dürftigen Angaben
erwähnt werden, welche von Dr. Bleicher über die einge-
schriebenen Hilfskassen in den 42 Städten gemacht werden
können; leider liegen die Verhältnisse dieser Kassen noch
fast ganz ausserhalb der Kenntniss der kommunalen Statistik
und kommunalen Behörden. Die genannten Städte zählen
mehr als die Hälfte der 800 000 Mitglieder jener freien
Hilfskassen zu ihren Einwohnern, und die Konzentrirung
der Arbeiterbevölkerung nach den Verkehrsmittelpunkten
drückt sich darin aus, dass die Zahl der Hilfskassenmitglieder
von 1885 bis 1890 in den Städten sehr viel stärker zunahm
als im Reiche überhaupt. Schade, dass das „Statistische
Jahrbuch der deutschen Städte“ noch nicht Vorgelegen hat,
als die Regierung bei der Diskussion der Krankenkassen-
Novelle im Reichstage behaupten wollte, innerhalb der
Hilfskassen bestehe das Streben, den Sitz derselben in
kleinere Orte mit billigen Tagelohnsätzen zu verlegen;
Dr. Bleicher stellt nämlich fest, dass ca. 500 000 Mitglieder
eingeschriebener Hilfskassen von den 800 000 insgesammt
zu solchen Hilfskassen gehören, die ihren Sitz in einer der
42 grossen Städte mit hohen Tagelohnsätzen haben; 240 000
Kassenmitglieder ressortiren von Hilfskassen, die in Hamburg
domizilirt sind, und Hamburg hat bekanntlich den höchsten
ortsüblichen Tagelohnsatz im ganzen Deutschen Reiche;
Altona folgt mit 54 000, Berlin mit 27 000 u. s. w.
Auch bei den staatlich organisirten (sogen. Zwangs-)
Kassen stellen die Städte natürlich den grösseren Prozent-
satz der Mitglieder. Von je 100 Einwohnern im Reiche sind
nur 10,50 pCt., von je 100 Bewohnern der hier in Betracht
kommenden Städte dagegen 16,60 pCt. Mitglieder solcher
Kassen. Weiter erscheinen innerhalb der Städte die Orts-
krankenkassen in noch höherem Masse als im ganzen Reiche
als die Hauptträger der Versicherung; die Gemeindekranken-
versicherung diente meist nur als Uebergangsstadium sowohl
bei Einführung des Gesetzes als bei Einbeziehung neuer
Arbeiterkategorien, von einigen Ausnahmen namentlich in
Süddeutschland abgesehen. Die Arbeiter wird es interessiren,
zu sehen, dass die von ihnen mit Recht bekämpften Betriebs-
krankenkassen in Chemnitz, Bremen, Dortmund, Essen,
Augsburg und Duisburg, also ziemlich genau an den Sitzen
der ausgeprägtesten industriellen Grossunternehmungen,
sehr beträchtlich vorwiegen. In Essen gehören 79 pCt., in
Duisburg 62, in Chemnitz 56, in Augsburg 53 und in Dort-
mund 52 pCt. aller Versicherten den Betriebskrankenkassen
an. Die Innungskrankenkassen spielen fast keine Rolle und
werden nur später noch einmal mit dem höchsten überhaupt
vorkommenden Betrage der Verwaltungskosten aut den
Kopf der Mitglieder genannt.
Aus den inneren Verhältnissen der staatlich organisirten
Kassen der grossen Städte sei erwähnt, dass die weiblichen
Versicherten hier mehr hervortreten, als im Reiche über-
haupt. Im Jahre 1890 belief sich ihre Zahl auf 33,7 pCt.,
während im Reiche 1889 nur 27 pCt. weibliche Versicherte
waren. Am stärksten vertreten ist das weibliche Element
bei der Gemeindekrankenversicherung der Städte, nämlich
mit 94,4 pCt. (Gemeindekrankenversicherung für Diensboten
in München). Hinsichtlich der Dauer der Krankenunter-
stützung übertreifen die Kasseneinrichtungen der 42 Städte
diejenigen des übrigen Reichsgebietes ganz beträchtlich;
bei den Ortskrankenkassen z. B. gewährten in den Städten
53, im ganzen Reiche nur 19 pCt. mehr als 13 wöchige
Unterstützung. Bei dieser Ausscheidung der kleineren
412
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 33.
Ortskrankenkassen und bei einem Vergleich der grösseren
städtischen mit den eingeschriebenen Hilfskassen dürften
sonach die ersteren allerdings weniger schlecht fahren, als
man bisher nach der blossen Reichsstatistik anzunehmen
geneigt war. Unter dem Abschnitt, der von den Beiträgen
für die Ortskrankenkassen handelt, fallen Berlin, Stuttgart
und Braunschweig durch die theilweise sehr hohe Bemessung
derselben (bis zu 4,5 pCt. des durchschnittlichen Tagelohnes)
auf; hier wäre nähere Auskunft sehr erwünscht. Mit Recht
sagt Dr. Bleicher schliesslich bezüglich der Leistungen der
Kassen, dass es für ihre Beurtheilung in letzter Instanz
darauf ankommt, wie viele Krankheitskosten auf je einen
Krankheitstag erwachsen. Es ist nicht überflüssig, dies
gegenüber der amtlichen Statistik zu betonen, die dieses
Kriterium viel zu wenig in den Vordergrund rückt. Dabei
erscheinen allerdings gerade die Betriebs- und Innungs-
krankenkassen als die Einrichtungen mit den höchsten
Leistungen, mit 2,49 bezw. 2,12 M. Aufwendung pro Krank-
heitstag; dann kommen die Ortskrankenkassen mit 1,93 M.
und die Gemeindekrankenversicherung mit 1,84 M. (immer
in den hier in Betracht kommenden Städten). Bloss fest-
stellen, nicht erklären kann der Bearbeiter die ausserordent-
lichen Unterschiede bei den Verwaltungskosten der Orts-
krankenkassen der einzelnen Städte, die ganz normal sind
bei ca. 20 Städten (1,50 — 2 M.), dann aber in Kassel, Mainz,
Bremen, Altona, Lübeck, Metz, Posen und Mannheim bis
über 3 M. steigen, um in Hamburg mit 3,55 M. den Gipfel
zu erreichen. Dr. Bleicher deutet an, dass den billiger
wirtschaftenden dieser Kassen wohl von Seite der Ge-
meindeverwaltungen unentgeltlich Beamtenpersonal zur Ver-
tilgung gestellt würde; wir bezweifeln, ob damit die hor-
renden Unterschiede völlig erklärt werden können und
halten weitere Nachforschungen im Interesse der Versicher-
ten hier für sehr dankenswerth.
Man sieht, dass sich manche Einblicke kritischer Natur
und nicht ohne Wichtigkeit für allgemeine Organisations-
tragen auch schon aus dem ersten, noch unvollkommenen
Versuche einer vergleichenden Versicherungsstatistik der
deutschen Städte gewinnen lassen. Hoffentlich ermuthigt
dies den geduldigen und sachlich gut bewanderten Bear-
beiter derselben zur Fortsetzung seiner verdienstlichen
Studien, die dann über die Wirkungen der letzten Kranken-
kassen-Novelle jedenfalls sehr Interessantes zu Tage fördern
werden, da die Städte mehr und mehr die Brennpunkte
unserer sozialen Entwickelung werden und die städtische
Sozialstatistik uns infolgedessen über die akutesten Ver-
änderungserscheinungen unterrichtet.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Die Selbstverwaltung der Berufsgenossenschaften.
Die Freunde der berufsgenossenschaftlichen Organi-
sation wissen die konsequente Durchführung des Prinzips
der Selbstverwaltung in den Berufsgenossenschaften nicht
genug zu rühmen; selbst Gegner schliessen sich nicht
selten diesem Urtheil an, so wenig sie auch sonst von der
Wirksamkeit der Berufsgenossenschaften halten mögen.
Eine vorurteilslose Untersuchung, wie es mit dieser Selbst-
verwaltung tatsächlich steht, wird daher am Platze sein.
Selbstverwaltung im eigentlichen Sinne ist da vor-
handen, wo gemeinsame Angelegenheiten von den Be-
troffenen selbst verwaltet werden. Die Berufsgenossen-
schaften haben in erster Linie die Arbeiter der Gewerbs-
zweige, die sie umfassen, tür die Folgen von Unfällen im
Betriebe zu entschädigen. Man sollte also meinen, dass,
wenn man bei den Berufsgenossenschaften von Selbstver-
waltung spricht, die Verwaltung eben in den Händen der
\ ersicherten — der Arbeiter — liegen müsste. Dies ist
nun bekanntlich keineswegs der Fall: die Arbeiter haben
aut die eigentliche Verwaltung nicht den geringsten Ein-
fluss und nur in der Rechtsprechung und beim Erlass von
Unfallverhütungsvorschriften mitzureden. Dieses Verhält-
niss findet seinen handgreiflichsten Ausdruck auf den soge-
nannten Berufsgenossenschaftstagen, d. h. Zusammenkünften
von Verwaltungsorganen und Interessenten der Berufs-
genossenschatten, bei denen über gemeinsame berufsge-
nossenschaitliche Angelegenheiten berathen wird. Man
findet hier wohl Minister, Geheime Räthe, Juristen, Aerzte,
Industrielle, Beamte der Berufsgenossenschaften, aber nie-
mals — einen versicherten Arbeiter.
Man tragt sich erstaunt, wie kann man trotzdem von
Selbstverwaltung — und noch dazu von einer ausnahms-
weise konsequent durchgeführten Selbstverwaltung in den
Berufsgenossenschaften reden? Die Antwort ist eine sehr
einfache: Die Kosten der Versicherung tragen die Unter-
nehmer; diese, nicht etwa die Versicherten, bilden die
Berufsgenossenschaften und führen mithin die Verwaltung
selbst. Die Arbeiter sind sozusagen nur die Objekte der
Versicherung, die Versicherer sind die Unternehmer. Man
geht also auch hier, wie so häufig (z. B. beim Wahlrecht),
von der Fiktion aus, dass nur derjenige Rechte zu bean-
spruchen habe, der rechtlich zur Zahlung verpflichtet sei.
Dass in W irklichkeit schliesslich doch stets der wirth-
schaftlich Schwächere die Lasten trägt, wird übersehen.
Dass man die Arbeiter von der Beitragszahlung befreit hat,
gilt als besondere „Wohlthat“; der Verlust des Bestimmungs-
rechtes der Arbeiter über ihre Versicherung ist damit
selbstverständlich.
Unter berufsgenossenschaftlicher Selbstverwaltung ist
also nur die Selbstverwaltung durch die versichernden
Unternehmer zu verstehen, für die versicherten Arbeiter
kann hier nur von dem Gegentheil von Selbstverwaltung
~ völliger Bevormundung — die Rede sein. In diesem be-
schränkten Sinne ist nun allerdings das Prinzip der Selbst-
verwaltung recht konsequent durchgeführt — nach einer
Richtung hin, wie sich zeigen wird, wohl sogar, wenn man
es so ausdr ticken will, zu konsequent. Zunächst ist her-
vorzuheben, dass die Berufsgenossenschaften von staat-
licher oder sonstiger behördlicher Bevormundung thatsäch-
lich befreit sind. Sie unterliegen nur der Aufsicht des
Reichs- oder Landes-Versicherungsamtes und verwalten im
Uebrigen ihre Angelegenheiten selbständig. Ferner kennen
die Unfallversicherungsgesetze nur Ehrenämter, die von
den Mitgliedern der Genossenschaften unentgeltlich zu
führen sind. Von besoldeten Beamten ist nirgends die
Rede, wenigstens nicht von eigentlichen Verwaltungsbe-
amten, denn die „Beauftragten“, die allerdings im Allge-
meinen gegen Besoldung ihre Thätigkeit ausüben werden,
haben nur die Befolgung der zur Verhütung von Unfällen
erlassenen Vorschriften zu überwachen. Nun können in
Wirklichkeit nach Lage der Sache die Berufsgenossen-
schaften unmöglich ohne geordnete btireaumässige Verwal-
tung und eine Anzahl von Verwaltungsbeamten auskommen.
Ist nicht gerade zufällig ein Vorstandsmitglied vorhanden,
das befähigt und aus Mangel an anderer Beschäftigung in
der Lage ist, die Leitung des Btireaus in die Hand zu
nehmen, so muss ein besoldeter Geschäftsführer an die
Spitze der Verwaltung gestellt werden. Dieser und die
übrigen Beamten tragen jedoch nur eine moralische Ver-
antwortung dem Vorstande der Genossenschaft gegenüber;
rechtlich trägt der Vorstand für alle Amtshandlungen der
Beamten die volle Verantwortung. Die Unterschrift der
Beamten verpflichtet die Genossenschaft zu nichts. Der
Vorsitzende oder die für den Vorstand zeichnenden Vor-
standsmitglieder müssen jedes Schriftstück, dass die Ge-
nossenschaft rechtsgültig verbinden soll, selbst vollziehen.
Vielfach werden unter diesen Verhältnissen natürlich die
Unterschriften in mehr oder weniger blindem Vertrauen zu
dem die Schriftstücke verlegenden Beamten erfolgen
müssen. Bezahlte Beamte fuhren die Arbeiten aus; der im
unentgeltlichen Ehrenamt fungirende Genossenschaftsvor-
sitzende, der im Allgemeinen die Arbeiten nicht zu durch-
dringen und überschauen vermag, trägt die Verantwortung
dafür. Auch hier also eine blosse Fiktion! Die Inhaber
der wichtigsten berufsgenossenschaftlichen Ehrenämter sind
im Allgemeinen thatsächlich nicht im Stande ihre Amts-
obliegenheiten so auszuführen, wie es der übernommenen
Verantwortlichkeit entsprechen würde. An Stelle der ver-
antwortlichen Biireaukratie der Behörden ist in der be-
No. 33.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLAT I .
413
rufsgenossenschaftlichen Verwaltung eine unverantwort-
liche Bureaukratie getreten, welche die Fäden führt, an
denen die Inhaber der Ehrenämter agiren.
Es braucht nicht besonders auseinander gesetzt zu
werden, welche Gefahren diese Sachlage in sich birgt.
Wenn bisher nur wenige Fälle bekannt geworden sind, in
denen Berufsgenossenschaftsbeamte ihre Stellung offenbar
missbraucht haben, so hat dies — abgesehen von der erst
kurzen Dauer des Bestehens der Berufsgenossenschaften --
seinen Grund darin, dass zur Zeit die Berufsgenossenschaften
vielfach von moralisch und technisch hervorragend tüchti-
gen Kräften geleitet werden. Diejenigen Männer, welche
die ersten organisatorischen Arbeiten übernommen hatten,
also gleichsam die Schöpfer der Berufsgenossenschaften
sind, stehen in vielen Fällen noch heut als Vorsitzende oder
Geschäftsführer an der Spitze der Verwaltungen. Persön-
liche Neigung, Interesse an der Sache und das durch that-
sächliche Leistungen gerechtfertigte Vertrauen der Ge-
nossenschaftsmitglieder hatte sie ursprünglich auf ihre
Posten gestellt, und so haben sie es denn auch im Allge-
meinen verstanden, diese auszufüllen. Gerade die Aufgabe
der ersten Organisation zog manche selbständige Köpfe
an. Sie fühlten sich zwar wenig angenehm berührt,
als sie nach Konstituirung der Berufsgenossenschaften
aus „Organisatoren“ Geschäftsführer wurden, als solche
öffentlich ganz zurücktreten mussten und sich nur noch der
stillen Arbeit widmen durften. Indess nicht wenige hielt
trotzdem die Rücksicht auf das ihnen durchgängig gebotene
hohe Gehalt und den Einfluss, den sie — wenn auch nicht
rechtlich anerkannt, so doch thatsächlich — ausübten, in
ihren Stellungen zurück. Der sich zuerst noch ziemlich
deutlich äussernde Selbständigkeitstrieb dieser Elemente
wurde vom Reichsversicherungsamt leicht niedergeschlagen,
und so ist denn allmählich eine idyllische Ruhe in den be-
rufsgenossenschaftlichen Verwaltungen eingetreten.
Treten in Folge dieser historischen Entwickelung im
Augenblick noch manche Bedenken, zu denen das Verhält-
nis der Inhaber der Ehrenämter zu den besoldeten Be-
amten Veranlassung giebt, zurück, so wird sich dies doch
später, wenn erst ein grösserer Personenwechsel stattge-
funden hat, sehr ändern. Durchgängig wechseln die In-
haber der Ehrenämter weit häufiger als diejenigen der Be-
amten-, besonders der Geschäftsführerstellen. Die Konti-
nuität der Verwaltung wird thatsächlich durch die be-
soldeten Beamten aufrecht erhalten. Die Bedeutung der
unverantwortlichen Bureaukratie wächst also, und es wird
mithin über kurz oder lang die Frage ernstlich erwogen
werden müssen, ob man diese Bureaukratie nicht in eine
verantwortliche verwandeln soll — vorausgesetzt, dass den
Berufsgenossenschaften in ihrer jetzigen Form überhaupt
noch eine längere Lebensdauer beschieden ist.
Soviel wird diese kurze Betrachtung gezeigt haben,
dass die Art von Selbstverwaltung, die in den Berufsge-
nossenschaften durchgeführt ist, nichts weniger als das
Muster einer rationellen Verwaltungsorganisation darstellt.
Die eingeschriebenen Hilfskassen und die Kranken-
kassennovelle. Zu den in den Nrn. 29 und 31 des Sozial-
politischen Centralblattes mitgetheilten Beschlüssen sind die
folgenden hinzugekommen. Die Generalversammlungen der
Centralkranken- und Sterbekasse des deutschen Glacehand-
schuhmacherverbandes und der allgemeinen Kranken- und
Sterbekasse der Metallarbeiter entschieden sich für die Um-
wandlung ihrer eingeschriebenen Hilfskassen in Zuschuss-
kassen. Die Generalversammlung der Centralkranken- und
Sterbekasse der Tabakarbeiter Deutschlands, und die ausser-
ordentlichen Generalversammlungen einer Reihe Hirsch-
Duncker’schen Organisationen, so der Hilfskasse des Ge-
werkvereines der Töpfer, der Kranken- und Begräbniss-
kasse des Gewerkvereines der deutschen Cigarren- und
Tabakarbeiter, und des Gewerkvereines der deutschen
Schiffszimmerer u. s. w. entschieden sich für die Anpassung
an die Bestimmungen der Krankenkassennovelle. Die Hut-
macherkrankenkasse hat sich aufgelöst.
Krankenkassengesetzgebung in Dänemark. Am
3. August trat das Gesetz über die vom Staate anerkannten
J Krankenkassen in Kraft. Um öffentlich anerkannt zu wer-
den, muss eine Krankenkasse wenigstens 50 Mitglieder
haben und an ein bestimmtes Fach — Handel, Handwerk
| oder Industrie — geknüpft sein. Nur unbemittelte Arbeiter,
! Handwerker und schlecht besoldete Beamte können Mit-
glieder der Krankenkassen werden. Die Staatskasse giebt
den anerkannten Krankenkassen einen jährlichen Zuschuss
von einer halben Million Kronen, welche Summe im Ver-
hältnis^ zu der Mitgliederzahl der einzelnen Krankenkassen
vertheilt wird. In Krankheitsfällen geben die Kranken-
j Fassen freie ärztliche Hilfe und eine Summe, die nicht mehr
als zwei Drittel des Verdienstes und nicht weniger als
40 Oere (50 Pf.) täglich ausmacht. Man muss 6 Wochen
Mitglied der Kasse gewesen sein, bevor man Hilfe — aus-
genommen in Unglücksfällen - erhalten kann, und für eine
Krankheit, die nur drei Tage dauert, wird keine Geldhilfe
gegeben. Ein Mitglied kann nur in 13 Wochen jährlich
Hilfe erhalten. Ein Inspektor wird vom Staat ernannt, um
die Aufsicht über die Krankenkassen zu führen und die
Rechnungen zu kontrolliren
Gewerbegerichte, Einigungsämter und
Arbeiterausschüsse.
Errichtung eines Gewerbegerichtes in Augsburg. Die
Stadt Augsburg entbehrte bisher trotz ihrer entwickelten
Industrie eines Gewerbegerichtes. Nunmehr haben Magistrat
und Gemeindebevollmächtigtenkollegium die Errichtung
eines solchen vom 1. Januar 1893 ab beschlossen. Der An-
trag der Handelskammer von Schwaben und Neuburg, das
Gewerbegericht in 2 Kammern, für das Kleingewerbe und
die Grossindustrie, zu scheiden, wurde abgelehnt. Die
Wahlen sollen alle 5 Jahre stattfinden. Trotzdem man bei
der Berathung des Gewerbegerichtsgesetzes im Reichstage
nur im Hinblick auf kleinere und ärmere Gemeinden davon
abgesehen hatte, das Prinzip der Unentgeltlichkeit der Ge-
! werbegerichtspflege als zwingende Regel aufzustellen, hat
Augsburg wie München sich für Gebiihrenpflichtigkeit des
Verfahrens entschieden. — Bezeichnend ist, dass sowohl
die Handelskammer, wie auch 25 hervorragende. Industrielle,
die um ein Gutachten angegangen worden waren — neben-
bei bemerkt, es wurden auch 16 Arbeiter befragt — sich
sämmtlich gegen ein Gewerbegericht ausgesprochen
hatten, mit der Begründung, dass ein Bedürfniss nach
einem Gewerbegericht nicht gegeben sei und durch die
Errichtung eines solchen den Parteieinflüssen ein ungleich
weiteres Feld geboten werde als durch die bisherigen Zu-
stände. — Bei der Berathung im Magistrat konstatirte der
Referent, dass die von ihm bei den Gemeindebehörden der
Städte, in denen Gewerbegerichte bestehen , eingeholten
Erkundigungen sämmtlich zu Gunsten dieser Gerichte
ausgefallen seien. — Mehrere der grössten Augsburger
Fabriketablissements werden übrigens, weil ausserhalb des
Weichbildes der Stadt gelegen, nach wie vor gewerbe-
gerichtslos bleiben. Ein Antrag, mit den umliegenden Ort-
schaften behufs Errichtung eines gemeinsamen Gewerbe-
gerichts nach § 1 Abs. III des Gewerbegerichtsgesetzes in
Unterhandlungen zu treten, war im Magistrate abgelehnt
worden.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
Mayr, Dr. Georg von, Die Statistik auf drei internatio-
nalen Kongressen des Jahres 1891. Wien. F. Tempskv.
gr. 84 59 S. F J
Sozialpolitische Blätter. Hamburg, 1892. Fr. Mever. gr. 84
I. Jahrgang.
Swift, Morrison J., Problems of the new life. Assabula.
Ohio, 1891. Selbstverlag. 84 IV und 126 S.
Woedtke, E. von, Krankenversicherungsgesetz. 4. gänz-
lich umgearbeitete Auflage. Lief. I. Berlin, 1892. T. Gutten-
tag. 84 303 S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin,
414
ANZEIGEN.
No. 33.
Durch jede Buchhandlung oder Postamt zu beziehen:
HYGIEIA.
Gemeinverständliche wissenschaftliche Monatsschrift
für
Volksgesundheitslehre und persönliche Gesundheitspflege
zugleich
ärztliches Centralorgan für die liygieinische Reformbewegung
unter Mitwirkung von Aerzten und Hygieinikern
herausgegeben von
Dr. med. Franz Carl erster in München.
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Bcitfdjrift
für ein fojtal = refonnat. Wcnoffenfcbaftc- niefett.
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A. Zimmer’s Verlag (Ernst Mohrmann) Stuttgart.
„EXPORT“
Organ des Central Vereins für Handelsgeographie
und Förderung Deutscher Interessen im Auslande.
jfrei Hanti
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Sofialrefurnt.
©rgan bea ©ntlltfjen BunbES für BobEtt-
bEjt^rEfurm.
ßrfdjeittt jebett ©lontag.
XIV. Jahrgang.
Herausgegeben
von
R. Jannaseh,
Dr. jur. et phil.
Redaktion und Expedition: Berlin W., Magdeburgerstrasse 36.
Die seit 1879 erscheinende Wochenschrift „Export“ ist bestrebt, die Interessen
des deutschen Exports thatkräftig zu vertreten, sowie dem deutschen Handel und der
deutschen Industrie wichtige Mittheilungen über die Handelsverhältnisse des Aus-
landes in kürzester Frist zu übermitteln.
Inserate im „Export“ sind erfolgreich, wie das andauernde, langjährige Annonciren
erster Firmen beweist.
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verein M. 3,75, im Vereinsausland M. 4,50.
Man abonnirt bei der Post, im Buchhandel bei Walther & Apolant’s Verlags-
buchhandlung Hermann Walther, Berlin W., Keithstr. 16/17 und bei der Expedition.
OF POLITICAL AND SOCIAL SCIENCE.
älbonnemeutSbeb in gütigen:
23ei allen ißojtanftalteit (Dir. 2272
ber ißoftäeitungslifte) .... 3)11. 0,80
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im äßeltpoftDerein „ 1,50
3n Serlin bei freier 3ul"enbung • • „ 1,—
Bie (ENpßhitimx
M. Hvi'bs, CAtaUIdjiLtbialf i*. 55.
jl.Cfimtfßnfflg, S5erlagobud)l)anblnng in 33erliu.
9teicb3geie§,
betreffenb bie
Unfalfueiftc^enutö ber bet bauten
befd)äfttaten ^et-foitett.
©oin 11. Juli 1887.
S£eyh 2lu§gabe mit 3fnmerfungen unb Sadjvegifter
D011
TLta B/upban.
The Ofßcial Journal of the American Academy oj Political
and Social Science.
(Iafif)EnfDrmaf ; tarlomtirf
1 ©ff. 25 ©f
Is indispensable to all who are in any way interested in the great
questions of the day.
The ANNALS contains articles on economic, political, social, historical
and legal subjects; reports of the discussions at the meetings of the Academy ;
peersonal notes, about the workers in the field of political and social scince,
and Reviews of the latest books treating of these questions.
Das Reicfysge
betreffenb
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$om 29. Juli 1890.
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Senl Free to all Members of the Academy.
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American )\cademy oj political and 5ocial 5cience>
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SBfagiftralgaffeffor unb 31ed)t§ainnalt .511 SBerlt n
3>ocitc ncrmchrtc Ausgabe.
Jafdjenformat; cartonnirt. preis 1 Ulk. 25 Pf.
Verantwortlich für den Anzeigenteil : O. Schuchardt in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 22. August 1892.
Nummer 34
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Die wirthschaftliche Ent-
wickelung Russlands und
die Erhaltung des Bauern-
standes. Von P. v. Struve.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
YVirthschaftsstatistik :
Amtliche Arbeiterstatistik im deut-
schen Bäcker-, Konditoren- und
Handelsgewerbe.
Sozialpolitischer Unterricht.
Schulkantinen in Frankreich.
Der Kongress der sozialistischen
Gemeinderäthe Frankreichs.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Strikes und Aussperrungen in
Deutschland während der [ahre
1890 und 1891. Von Dr. Adolf
Braun.
Der Aufruhr in Homestead.
Aussperrung von 1200 Brauern.
Brauergehilfen und Küfern in
Hamburg.
Der 32. Jahresbericht des London
Trades’ Council über das Jahr
1891.
Tagesordnung des nächsten Trades
Unions Kongresses.
Die Versammlung der englischen
Miners Federation.
Strikende Feldarbeiter in Slavonien.
Politische Arbeiterbewegung :
Französische Arbeit -rkongresse.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Die englische Shop Hours Act.
Die Berliner Polizei und die Sonn-
tagsruhe.
Gewerbeinspektion :
Die Fabrikinspektion in Russisch-
Polen.
Arbeiterversicherung:
Die Entwickelung der Kranken-
versicherung im Deutschen Reich.
Zur Spruchpraxis des Reichsver-
sicherungsamts.
Die Kranken- und Sterbekasse des
schweizerischen Grütlivereins im
Jahre 1891.
Wohnungszustände und Woh-
nungsgesetzgebung :
Entwurf eines Wohngesetzes für
das Grossherzogthum Hessen.
Die preussische Regierung und die
Wohnungsfrage in der Staats-
eisenbahnvenvaltung.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die wirthschaftliche Entwickelung Russlands
und die Erhaltung des Bauernstandes.
Man dürfte jetzt kaum Jemand rinden, der leugnen
würde, dass Russland sich auf der Bahn der kapitalistischen
Entwickelung befindet; wenn man sich auch verschiedener
Ausdrücke für diesen Prozess bedient, so ist doch in der
Sache allgemeine Uebereinstimmung vorhanden. Das Ge-
sagte rindet indess nur auf die thatsächliche Entwickelung
Anwendung; dieselbe liegt vor Aller Augen und braucht
blos constatirt zu werden. Ueber die tieferliegenden Ur-
sachen und die Tragweite der wirthschaftlichen Vorgänge,
über die Frage, welche sozialpolitische Folgerungen sich
aus denselben ergeben, herrscht dagegen grosse Meinungs-
verschiedenheit. Auf der einen Seite stehen die politischen
Reaktionäre (die Adelspartei), welche zwar das Ganze
nicht überblicken, aber einzelne Fragen (z. B. die des
Gemeindebesitzes) richtig erfassen: sie werden nämlich durch
ihre Interessen, welche sie bald mit dem Aushängeschild
des „Volkswohls“ dekoriren, bald mit verblüffender Un-
genirtheit vertreten, auf die richtige Spur geleitet. Aut
der anderen Seite steht die ehrliche, aufrichtig volksfreund-
liche Presse und die Mehrzahl der Vertreter der Wissen-
schaft: ihr Programm, welches die Erweiterung des klein-
bäuerlichen Grundbesitzes durch Ansiedelungen und Agrar-
kredit (Bauernbanken) die Aufrechterhaltung des Gemeinde-
besitzes, Schutz der Hausindustrie, Aufhebung resp. Er-
mässigung der Einfuhrzölle, Steuerreform und viele andere
Forderungen enthält, lässt sich in die Parole: Erhaltung
des Bauernstandes und überhaupt des kleinen selbständigen
Produzenten zusammenfassen. Abseits von diesen beiden
Richtungen stehen diejenigen, welche die sozialpolitischen
Rezepte und Massregeln immer auf ihre innere volkswirth-
schaftliche Berechtigung resp. Lebensfähigkeit prüfen und
sich durch schöne Gefühle nicht beirren lassen, in der
Ueberzeugung dass keine Gesellschaft ihre „naturgemässen
Entwickelungsphasen weder überspringen noch wegdekre-
tiren“ sondern nur „die Geburtswehenabkürzen und mildern“
kann und dass der wirthschaftliche Fortschritt eine noth-
wendige Voraussetzung jeder sozialen Reform ist.1)
Ohne uns in eine polemische Erörterung einzulassen,
wollen wir hier nur in grossen Zügen die kapita-
listische Entwickelung Russlands skizziren und in diesem
Zusammenhänge die Frage der Erhaltung des Bauern-
standes behandeln. Für das Verständniss der wirth-
schaftlichen Entwickelung Russlands ist das bezeichnender
Weise bis jetzt in Russland fast gar nicht gewürdigte Werk
A. Skworzoffs über den Einfluss der Eisenbahnen auf die
Landwirthschaft (Wlijanie parowögo transporta na selskoje
chosjuistwo, Warschau 1890, insbesondere Buch IV: „Ein-
fluss des Dampfverkehrs auf das wirthschaftliche Leben der
Gesellschaft“) von grundlegender Bedeutung. In demselben
ist der Versuch gemacht, die ganze landwirthschaftliche Ent-
wickelung der letzten Zeit im Sinne der Theorie von Marx
zu erklären.
Durch die Errichtung der Eisenbahnen wurde in ver-
hältnissmässig kurzer Frist eine Masse von kapitalschwachen
Naturalwirthschaften (primitive Kornwirthschaft, resp. wilde
Viehzucht) in die Sphäre der Waarenproduktion und
Waarenzirkulation gezogen. Das war für dieselben mit
einer Steigerung in erster Linie der Kornpreise gleich-
bedeutend und sie sind in Folge dessen zur Erweiterung
der Anbaufläche geschritten; diese Wirkung musste das
') Dieser neuerdings von v. Schulze-Gävernitz (Der Gross-
betrieb ein wirthschaftlicher und socialer Fortschritt. Leipzig.
Duncker & Humblot 1892) ausführlich beleuchtete und begrün-
dete Satz wird von ihm u. E. ganz richtig als eine Konsequenz
des obersten Prinzips der Marx’schen Lehre aufgefasst. (Vgl.
Archiv f. soz. Gesetzg. u. St., Bd. V, I. Heft, S. 26.)
416
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 34.
natürliche und durch Einwanderung bedingte Anwachsen
der Bevölkerung haben. Die Erweiterung der Anbaufläche
ist — die Beibehaltung des primitiven Ackerbausystems
vorausgesetzt — nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt mög-
lich; auf die Dauer wird sie unhaltbar, da dabei erstens die
Bodenerschöpfung und progressives Sinken der Ernte-
erträge eintritt, zweitens die Ernteschwankungen grösser
werden, während die Preise auf dem Weltmarkt eine immer
stärkere Tendenz zur Ausgleichung und Stabilität zeigen.
Die Missernten werden häufiger, endlich werden sie
mancherorts zu einer ständigen Erscheinung. Der Ruin
einer Masse von Wirthschaften ist besiegelt. Dann verlässt
ein bedeutender Theil der ruinirten Ackerbauer das Land,
ein anderer liefert wandernde Landarbeiter; wenn die
übrigen auch „selbständige Produzenten“ bleiben, so ist
ihre Existenz als solche nur eine scheinbare. Zur Um-
gestaltung der landwirthschaftlichen Produktion, zur
rationellen Produktionsweise sind sie unfähig, denn sie
waren von Anfang an kapitalschwach, und die auch für
kapitalkräftige Wirthschaften höchst schwierige Aufgabe
tritt an sie heran, als sie bereits ruinirt sind. Diesen Um-
stand übersehen diejenigen, welche wie Karyscheff in seinem
Werke: Zusammenfassung der Resultate der wirtschaft-
lichen Erforschung Russlands durch die landschaftliche
Statistik, Band II: Die Bauernpacht, 1892, von einer
„Intensifikation“ der russischen Landwirtschaft unter der
Voraussetzung der Erhaltung der grossen Masse der jetzt
selbständigen Produzenten sprechen. Es wird sehr oft das
magische Wort vom landwirthschaftlichen Kredit ins Feld
geführt, aber wie kann von einem Kredit dort ernsthaft die
Rede sein, wo alle Voraussetzungen des Kredits fehlen, wo
oft die Mehrzahl der Bauern — im Falle einer
Missernte — auf Staatskosten unterhalten werden
muss. Und den unmöglichen Fall vorausgesetzt, dass der
Staat der ganzen Bauernmasse den Uebergang zur ratio-
nellen Bewirthschaftung des Bodens durch allerhand sozial-
politische Massregeln ermöglichte, so stellt sich diesem schö-
nen Traum ein neues volkswirthschaftliches Hinderniss ent-
gegen. Production hat doch nur dann Sinn, wenn ihr eine
entsprechende Konsumtion zur Seite steht. Dieses be-
deutet im vorliegenden Falle, dass für die „Intensification“
der landwirthschaftlichen Produktion die Entwickelung der
Städte und der städtischen Konsumtion eine conditio sine
qua non ist. Dieses Moment ist das punctum saliens der
ganzen Frage: die rationelle Produktion erfordert eine Er-
höhung der inneren Konsumtion der landwirthschaftlichen
Produkte und zwar der Produkte der Viehzucht; eine
solche Erhöhung ist aber ohne die Entwickelung der Städte
gar nicht denkbar. Die Entwickelung der Städte wiederum
fällt mit der Entwickelung der Industrie und unter den
modernen ökonomischen Verhältnissen mit der des Gross-
betriebes zusammen. Für den letzteren ist der freie Arbeiter
im Marx'schen Doppelsinn eine nothwendige Voraussetzung,
und diese Voraussetzung verschafft ihm eben die Proletari-
sirung der Landbevölkerung. Es ergiebt sich also, dass der
„Scheidungsprozess des Arbeiters von den Arbeitsbedin-
gungen“, welcher in der Landwirthschaft vor sich geht für
diese Entwickelung eine Vorbedingung bildet. Die Er-
haltung der ganzen Masse des „selbstständigen Pro-
ducenten“ und der vielgepriesenen russischen ökonomischen
Gleichheit ist daher nur möglich, wenn die heutigen
unhaltbaren Produktionsverhältnisse und deren unvermeid-
liche Konsequenzen — wiederkehrende Missernten und
Hungersnöthe — erhalten bleiben.
Wir haben in unseren Ausführungen die ausschliess-
lich ackerbautreibende Bevölkerung, welche keinen Neben-
erwerb hat, im Auge gehabt. Doch ändert der letztere
nichts an der allgemeinen Tendenz der Entwickelung, denn
eines kann nicht bestritten werden: ein solcher Neben-
erwerb zeugt von der niedrigen Stufe, auf welcher sich die
nationale Produktion im Ganzen befindet.
Die bisherige wirthschaftliche Entwickelung Russlands,
wie sie durch die Produktions- und Austauschverhältnisse
bestimmt wird und in dem bekannten Satze, dass der Auf-
schwung des russischen Getreidehandels mit der Verarmung
und dem Niedergange der russischen Bauernschaft parallel
läuft, zusammengefasst wird, muss noch durch andere minder
wichtige Züge vervollständigt werden. In die Waarenpro-
duktion ist die russische Bauernschaft nicht nur kapital-
schwach resp. kapitallos, sondern auch in ihrem grössten
Theile arm an Land, also von Anfang der Entwickelung
an keineswegs als eine wirthschaftlich homogene Masse
eingetreten1). Und eben der schwächste Theil dieser Masse
war dabei mit Steuern und Abgaben überlastet. Es ge-
sellen sich hinzu die für den kleinen Producenten höchst
ungünstige Gestaltung des Getreidehandels in Russland
und eine Summe von wirthschaftlichen, rechtlichen und
kulturellen Momenten (solidarische Haftpflicht, Gemeinde-
besitz, unglaublich tiefer Stand der Volksbildung etc.),
welche die „Gleichheit der Armuth“ erhalten und fördern.
Die positive, schaffende Arbeit des kapitalistischen
Entwicklungsprozesses, wie sie sich in der Entwicklung
der Industrie und der rationellen Landwirthschaft darstellt,
wird wie überall so auch in Russland von der negativen,
zerstörenden Arbeit desselben (Proletarisirung der Land-
bevölkerung und Niedergang der Kleinindustrie) überflügelt.
Hier kann und muss der Staat thatkräftig eingreifen, nicht
um unhaltbare Zustände durch künstliche Mittel aufrecht-
zuerhalten, sondern um das momentane Elend durch aus-
giebige Hilfe zu lindern und die Volks wirthschaft auf
neue Bahnen so schleunig- und schmerzlos als möglich
überzuführen.
Die Unhaltbarkeit der Produktionsverhältnisse und die
Unmöglichkeit, die Masse der „selbstständigen Produzenten“
auf die Dauer als solche zu erhalten, möge durch einige
Thatsachen beleuchtet werden. Im Gouvernement Ssamara
ist in 765 Dörfern d. s. 36 pCt. aller Landgemeinden die regel-
mässige landwirthschaftliche Kultur unmöglich geworden.
Der Anbau von besseren Getreidearten wird immer
schwieriger. Die Verschlechterung des Klimas und der
Bodenverhältnisse ist ganz unglaublich: 25 kleine Flüsse
und 10 Seen, welche auf den neuesten Karten sich finden,
sind in der letzten Zeit ganz verschwunden.-)
Wie weit die „Gleichheit vor dem Hunger“ geht,
zeigen z. B. die Mittheilungen und Daten, welche wir in
der landschaftsstatistischen Publikation über die Ernte des
Jahres 1891 im Gouvernement Nischni-Nowgorod finden.
Schon im August und September des Jahres 1891 wird
Folgendes verzeichnet: In einem Dorfe wurde von allen
Familien, ausser 5, in dem anderen von allen, ausser 2 — 3,
im dritten von allen, ausser einer Knöterich (polygonuni
album) als Nahrungsmittel gebraucht. Ein Zemski Na-
tschulnik (Verwaltungsbeamte) sagt von seinem Bezirk,
dass dort schon 5 Jahre keine gute Ernte war. „Dieser
Umstand hat folgende Wirkung auf die Bauernschaft aus-
geübt: Die Zahl der wohlhabenden Bauern hat sich auf
ein Minimum reduzirt, wohlhabend sind nur solche ge-
blieben, welche Geld und Eigenthum hatten, die übrigen
sind ruinirt worden; Mittelwirthschaften sind gänzlich
untergegangen.“ Die Steuerrückstände der Bauernbevöl-
kerung des Gouvernements Nischni-Nowgorod weisen, wenn
) Vgl. den Aufsatz von P. Skworzolf über die Vertheilung
des bäuerlichen Grundbesitzes etc. im Juriditscheskij Westnik,
Aprilheft 1892, §§ 603-619.
-) Vgl. Krasnoperoff. Der Hunger von Ssamara im Juri-
discheskij Westnik, Märzheft 1892, 450’— 465.
No. 34.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
417
wir die Summe derselben im Jahre 1882 gleich 100 setzen,
folgende Zahlen auf: 1886— 156, 1888- 175,1890 - 217,
1891 — 337, obgleich seit 1882 eine starke Ermässigung des
Steuerkontingentes erfolgt ist.1)
Der russische National-Oekonom Karyscheff hat vor
Kurzem den Gedanken ausgesprochen, dass Russland sich
mit aller Kraft gegen „die Entwicklung des Kapitalismus
in der Landwirthschaft“ wehren soll. Wenn man unter
kapitalistischer Landwirthschaft eine kapitalkräftige und
wiederstandsfähige im Gegensätze zu der heutigen russi-
schen kapitallosen Bauernwirthschaft verstehen soll , so
nehmen wir keinen Anstand dagegen auszusprechen, dass
auch vom sozialpolitischen Standpunkt, welcher streng ge-
nommen niemals mit dem ökonomischen im Konflikte stehen
kann, Russland aut die Entwicklung der kapitalistischen
Landwirthschaft hinzielen muss. Wir denken dabei nicht
an Latifundienwirthschatt. Diejenige kapitalistische Land-
wirthschaft, welche uns vorschwebt und der ihr ent-
sprechende Grundbesitz kann vom westeuropäischen Stand-
punkt2) als Bauern- und jedenfalls als Farmerwirthschaft
bezeichnet werden.
Der Uebergang zu der so aufgefassten kapitalistischen
Landwirthschaft ist das einzige Mittel die periodisch wieder-
kehrenden Hungersnöthe unmöglich zu machen und all-
mählich zu einem Gleichgewicht zwischen der landwirt-
schaftlichen und industriellen Produktion zu gelangen. Die
volkswirtschaftlichen Verhältnisse, welche in Russland
herrschen, sind ein mehr als günstiger Boden für denjenigen
Kapitalismus, welchem man eigentlich mit diesem Namen
eine Ehre erweist und welcher besser als allseitiger
Wucher bezeichnet werden kann. Es hat sich eben auf
dem Lande durch Handel und Wucher eine gewisse, nicht
zu unterschätzende „ursprüngliche Akkumulation“ vollzogen
und auf ihr beruht dieser spekulative Kapitalismus (das
sogenannte „Kulatschestwo“). Er wird sich aber mit der
Zeit in produktiven Kapitalismus verwandeln müssen und
das wird für das Volk u. E. entschieden ein Gewinn sein-
Denn als Land- und Industriearbeiter wird der jetzige
„selbstständige Produzent“ schliesslich ein weniger elendes
und sichereres Dasein fristen.
Im Jahre 1861 ist eine millionenköpfige Bauernmasse
befreit und mit Grund und Boden ausgestattet worden; da-
durch wurde sie — wenigstens für die erste Zeit und bis
zu einem gewissen Grade — von einer rücksichtslosen
ökonomischen Ausbeutung durch frühere Herrn gesichert.
Dies war damals der einzig mögliche Weg. Jetzt steht der
Staat vor der viel schwierigeren Aufgabe durch eine Reihe
von ökonomischen und politischen Massregeln dafür zu
sorgen, dass der äusserst schmerzliche aber unvermeidliche
Prozess der Expropriation einer grossen Masse kleiner
Grundbesitzer mit möglichst wenig Opfern vor sich gehe.
Das Ziel aller dieser Massregeln soll die Herausbildung einer
solchen Form des Grundbesitzes und des landwirtschaft-
lichen Betriebes sein, welche am besten die rationelle Pro-
duktion sichern könnte. Denn nur auf der Basis der ra-
tionellen Produktion kann sich eine gerechte Verteilung
aufbauen.
Zum Schluss möchten wir betonen, dass wir uns voll-
kommen dessen bewusst sind, dass die Wandlungen in den
Produktionsverhältnissen nicht über Nacht sich vollziehen
können; aber treffend sagt Professor A. Skworzoff, dass
b Uroschai 1891 goda w Nischegorodskoi gubernii (Nischni-
Nowgorod, 1891) S. 90—95, 96, 105, 111 u. v. a. Stellen.
2) Vgl. den Artikel „Bauerngut und Bauernstand“ von
Prof. Conrad im Handwörterbuch der Staatswissenschaften.
Der jetzige russische Begriff des Bauern entspricht eben der
primitiven Produktionsstufe und der historisch gegebenen
Grundbesitzvertheilung.
„obgleich noch bis jetzt das Thünensche Wort von der
nicht immer rationellen Wirklichkeit seine Gültigkeit hat,
dennoch die Möglichkeit der nichtrationellen Wirtschafts-
weise jetzt viel geringer ist, als sie zu Zeiten Thünens
war, und jede nicht-rationelle Wirthschaft wird im Wett-
bewerbe mit anderen, welche sich besser die Forderungen
der „Rationalität klargemacht haben, rasch untergehen,“ !)
P. v. Struve.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Amtliche Arbeiterstatistik im deutschen Bäcker-,
Konditoren- und Handelsgewerbe. Das Stuttgarter Polizei-
amt theilt mit, dass die Erhebung mit der Austheilung der
Fragebogen durch die Schutzmannschaften am 22. August d. J.
beginnen wird. Nach 6 Tagen, am 29. August, sollen die
Fragebogen wieder abgeholt werden. Wichtig ist folgende
Bestimmung der Bekanntmachung:
„Soweit in einem Betriebe 2 und mehrere Arbeiter
und Gehilfen beschäftigt sind, haben diese sich darüber
zu einigen, wer den Fragebogen behufs Beantwortung in
Empfang nehmen und erledigen soll; erfolgt eine Einigung
nicht, so ist der am längsten im Betriebe thätige Gehilfe
hierzu verpflichtet.“
Es ist wohl anzunehmen, dass im ganzen Reichsgebiete
die Erhebung gleichzeitig vorgenommen werden dürfte.
Sozialpolitischer Unterricht. Auf die Anregung von
Zentrumspolitikern ist die Abhaltung von praktisch-sozialen
Kursen in M.-Gladbach zu dem Zwecke beschlossen worden,
jüngere Angehörige der Partei (Gesellenpräsides, Söhne von
Fabrikanten u. s. w.) derartig in der Kenntniss der Sozial-
wissenschaften heranzubilden, dass sie „im Stande seien,
den sozialdemokratischen Agitatoren entgegenzutreten“.
Dieser Kursus wird nach einer Mittheilung der „Nat.-Ztg.“,
am 20. September beginnen. Ausser Franz Hitze, der über
die Arbeiterfrage im Allgemeinen, Arbeiterschutz, Arbeiter-
versicherung, Arbeiterwohnungsfrage lesen wird, werden
an dieser „Volksuniversität“ thätig sein , der Reichstags-
abgeordnete Bachem-Köln (Gewerbegerichte), Dr. Jäger-
Speyer ( Agrarfrage und Handwerkerfrage), Dr. Oberd'orffer-
Köln (Stellung des Klerus zur Sozialdemokratie, katholisch-
soziale Bewegung in Frankreich), Brandts-Düsseldorf
(Armenpflege), Rektor Schlick-Köln (Gesellenvereine, Unter-
haltung in denselben), Dompfarrer Braun- Würzburg (die
sittlichen Begriffe in der sozialdemokratischen Weltan-
schauung), Dr. Fassbender-Ibbenbüren (Bauernvereine und
Dahrlehnskassen), Pfarrer Liesen (Arbeiterinnenvereine,
Hospize, Haushaltungsunterricht) u. s. w. An anderen Orten
soll mit der Errichtung ähnlicher Kurse vorgegangen werden.
Hier wird, von den parteipolitischen Tendenzen abgesehen,
mit richtigem Gefühl ein vorhandenes Bedürfniss zu befrie-
digen gesucht. Auf die Dauer geht es nicht an, dass ein so
weites und tiefgreifendes Gebiet, wie es die soziale Gesetz-
gebung und die mit ihr in unmittelbarem Zusammenhänge
stehenden Gegenstände bilden, ohne eine entsprechende
Stellung in unseren öffentlichen Bildungsanstalten bleiben.
Nach dieser Seite ist sehr bedauerlicherweise bisher so gut
wie Alles privater Initiative überlassen geblieben. Selbst
an den Universitäten fehlt es für die soziale Gesetzgebung
und die zugehörigen Disziplinen an eigenen Vertretern und
mehr zufällig und beliebig wird bald von Juristen, bald von
Nationalökonomen gelegentlich über einen Theil des Faches
eine in die Materie wenig eindringende Vorlesung gehalten.
Der Staat muss hier Wandel schaffen und in möglichst
weitem Umfange der Bevölkerung die Mittel zur Verfügung
stellen, sich auf diesem wichtigen Gebiet zuverlässige Be-
lehrung zu verschaffen.
Schulkantinen in Frankreich. Paul Lafargue, der be-
kannte französische Sozialist, hat über die Erfahrungen, welche
Le Perreux, eine in der Nähe von Paris gelegene Gemeinde,
mit den Schulkantinen gemacht hat, interessante Thatsachen
veröffentlicht.
') A. a. O. S. 701.
418
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 34.
Le Perreux zählt 6699 Einwohner, welche sich auf 2102
Familien vertheilen. Das Budget seiner ordentlichen und ausser-
ordentlichen Einnahmen beläuft sich auf 172 480 Frcs. Die Ge-
meindeschulen werden gut geleitet; ausser dem gewöhnlichen
Schulunterricht steht es den Schülern frei, Lehrkurse für Deutsch
und Englisch durchzumachen. Die Gemeinde verausgabt pro
Schüler und Kind der Vorschule jährlich 30 Frcs., giebt dagegen
keinen Centime für die Kirche aus; ihr Kultusbudget ist Null.
Die Schulkantinen bestehen seit drei Jahren. Für 20 Cts.
erhalten die Kinder ein Mahl, bestehend aus: 0,4 Liter fetter
Kraftbouillon, 15 Gramm Weissbrod in der Bouillon, 100 Gramm
gekochtes Fleisch, 200 Gramm Weissbrod, vi/k Liter Wein mit
Wasser. Das Essen, welches von einem Unternehmer geliefert
wird, kostet die Gemeinde pro Schüler 25 Cts., so dass sie also
pro Schüler 5 Cts. zusetzt.
Vom I. November 1891 bis 3. März 1892, d. h. im Laufe von
15 Wochen zu je 5 Schultagen oder in 75 Tagen, die sich auf
15 Wochen vertheilen, wurden den Schülern 7858 Frühstücke
verabfolgt, davon 3481 gegen Bezahlung und 4377 unentgeltlich.
Somit haben in 75 Tagen im Durchschnitt 194 täglich in der
Kantine gespeist, d. h. die Hälfte der Kinder wurde von der
Gemeinde ernährt, da die Zahl der Schulkinder, wie wir gesehen
haben. 410 beträgt.
Die Zahl der unentgeltlich verabreichten Frühstücke be-
läuft sich auf 58 pro Tag; somit hat die Gemeinde den siebenten
Theil ihrer Schulkinder unentgeltlich gespeist.
Morgens vertheilen die Lehrer und Lehrerinnen sowohl
den Kindern, welche 20 Cts. mitbringen, wie den Kindern be-
dürftiger Familien Speisemarken, so dass die Schüler nicht
wissen, wer von ihnen unentgeltlich gespeist wird. Dies ist sehr
wichtig, weil es der Einrichtung jede Spur des Charakters einer
Wohlthat benimmt und die Würde der Eltern und der Kinder
rettet. Die Zahl der Schüler, welche in der Kantine speisen,
steigt mit jedem Jahr. Der Gemeinderath will noch mehr thun.
Es soll zum Preise von 10 Cts. eine neue Kategorie von Früh-
stücken eingeführt werden, welche nur aus Bouillon mit Brod
darin und 100 Gramm gekochtem Fleisch besteht. Der Maire
von Le Perreux hofft, dass dann die grosse Mehrzahl der Kinder
in der Schule frühstücken wird.
Lafargue fügt seinen Angaben noch hinzu, dass 200 Gramm
Brod vollständig genügen, um den Appetit eines Kindes zu be-
friedigen.
Diese günstigen Erfahrungen, in Verbindung mit der Be-
rechtigung der Idee an sich, haben in Frankreich einer Bewegung
für allgemeine Verbreitung der Schulküchen wachgerufen und
auf einem sozialistischen Kongress in Lyon wurde folgendes
Postulat für alle Gemeindewahlen aufgestellt:
„Schaffung von Schulkantinen, in denen die Kinder zwischen
den Morgen- und Abendstunden zu ermässigten Preisen oder
gratis eine Mahlzeit mit Fleisch erhalten, Vertheilung von Schuhen
und Kleidern an die Schulkinder zweimal im Jahre, zu Anfang
des Winters und Sommers.“
Der Kongress der sozialistischen Gemeinderäthe
Frankreichs soll am 11. September zusammentreten. Auf
der Tagesordnung stehen u. A. folgende Punkte: 1. Beauf-
tragung der Gemeinden und des Staates mit der Versorgung
der Greise und der Familien und mittellosen Kinder ver-
mittelst Einrichtung von Hospizen für Arbeitsunfähige und
Mündel. Eröffnung von Hilfsquellen zur Verwirklichung
dieser Pläne. 2. Berathung über die Wege, die städtischen
Eingangszölle zu beseitigen. 3. Hygieine der Gemeinden.
4. Unterdrückung der Monopole. — Berathung über die bei der
Verwaltung der Bergwerke vorzunehmenden Veränderungen.
5. Selbständige und unumschränkte Verfügung der Ge-
meinden über ihre Verwaltung und ihre Polizei. 6. Ueber
die Gemeinderechtsbarkeiten; Einfügung vcyi Bestimmungen
in die Kontraktbücher zur Vertheidigung der Arbeiterinter-
essen; Beseitigung der Kaution für die Gewerkschaften. 7.
Berathung über die Mittel, alle republikanisch-sozialistischen
Schattirungen um ein Minimumprogramm zu schaaren, indem
man jeder die Handlungsfreiheit bei denjenigen Fragen
liesse, über welche man keinen einstimmigen Beschluss Hat
fassen können.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Strikes und Aussperrungen in Deutschland während
der Jahre 1890 und 1891.
Den Versuch einer Strikestatistik veröffentlicht die
Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands. Leider
ist aus derselben nur ein höchst unvollkommenes Bild über
die Ursachen, Ausdehnung, Dauer, Kosten und Ergebnisse
der Arbeitseinstellungen zu gewinnen. Von den befragten
65 Organisationen haben nur 35 Angaben eingesandt, und
auch diese waren fast ausnahmslos unvollständig und viel-
fach ungenau. Trotzdem ist die Veröffentlichung zu be-
grüssen, weil sie wohl zur Folge haben wird, dass bei
künftigen Arbeitseinstellungen die zu einer Statistik er-
forderlichen Feststellungen rechtzeitig gemacht werden.
Abgesehen davon, dass die Arbeitseinstellungen der nicht
organisirten und der meisten mit der Generalkommission in
keiner Beziehung stehenden organisirten Arbeiter in der
vorliegenden Statistik nicht aufgeführt werden, fehlen be-
dauerlicher Weise in derselben auch die Organisationen
der Former, Schuhmacher, Glas-, Tabak- und Textilarbeiter,
welche in den Jahren 1890 und 1891 grosse Lohnkämpfe
durchzufechten hatten. Wie sehr dies die Uebersicht be-
einträchtigt, beweist schon die Erwähnung der Tabak-
arbeiteraussperrung in Hamburg; dieser Lohnkampf betraf
3000 Personen und verschlang 500 000 M. und doch ist er in
der Statistik nicht angeführt. In 27 Organisationen von
den 35, welche die Fragebogen beantworteten, kamen An-
griffs- bez. Abwehrstrikes vor und zwar in folgenden Ge-
werben: bei den Bildhauern (14), Brauern (2), Buchbindern
(3), Buchdruckern (1), Drechslern (37), Gärtnern (4), Loh-
gerbern (4), Weissgerbern (7), Glasern (13), Goldarbeitern
(1 ), Hafenarbeitern (3), Handschuhmachern (7),Hutmachern(1 ),
Kupferschmieden (5), Malern (11), Maurern (30), Musik-
instrumentenarbeitern (2), Plätterinnen (1 ), Schiffszimmerern
(1), Schmieden (1), Schneidern (7), Seilern (2), Steinsetzern
(1), Tapezierern (9), Tischlern (1 ), Vergoldern (6) und
Zimmerern (52). Die Anzahl der bei diesen 226 Ausständen
betheiligten Arbeiter wird auf 38 536 beziffert, die Aus-
stände dauerten, abgesehen von denen der Drechsler, Glaser
und Goldarbeiter, die hierüber keine Angaben gemacht
haben, 1348 Wochen. Bei einer künftigen Statistik wird
man besser thun die Dauer der Strikes nicht einfach zu
summiren, sondern zu berechnen, wie viele Strikewochen
auf die Gesammtzahl der einzelneu Strikenden kommen.
Die Summirung ist methodisch falsch, was folgendes Bei-
spiel beweisen wird. Die 10 000 strikenden Buchdrucker
erscheinen mit 11, die 60 strikenden Musikinstrumenten-
macher mit 40, die 450 Bildhauer mit 96 Strikewochen in
der Statistik, es wurde demnach hier eine Summirung un-
gleic.hwerthiger Zahlen vorgenommen. Insgesammt wurden
für diese Strikes — von den Glasern und Tapezierern
fehlen die Angaben — 2 094 922 M. verausgabt. Hiervon
wurden aufgebracht von den Verbandskassen 1 215 025 M.,
durch freiwillige Beiträge der Mitglieder 326 376 M., durch
Beiträge anderer Gewerkschaften 89 209 M., durch Sammel-
listen 91 415 M., durch Beiträge aus dem Auslande 126 125
Mark. Nächst den 10 000 Buchdruckern mit einer Gesammt-
ausgabe von 1250 000 M. sind die 9827 im Jahre 1890
strikenden Maurer mit einer Gesanuntausgabe von 179 902
Mark, die 4052 Zimmerer mit einer Gesammtausgabe von
217 068 M., die 4000 Schneider mit einer Gesammtausgabe
von 28 575 M., die 3760 Maler mit einer Gesammtausgabe
von 34 321 M, die 1800 Gärtner mit 13 200 M. Ausgaben zu
erwähnen, ferner die grossen Ausgaben der 450 Bildhauer:
29 588 M., der 575 Drechsler (14 Strikes): 15 249 M. bei
12 Strikes, der 455 Weissgerber: 66 637 M., der 588 Hand-
schuhmacher: 78 000 M., der 258 Kupferschmiede: 26 778 M.,
der 700 Schiffszimmerer: 26 184 M , der 250 Tischler: 50240
Mark, der 277 Vergolder: 25 330 M.
Die Kosten der Strikes sind bei den verschiedenen
Gewerben sehr ungleich, leider ist aber ein Nachweis hier-
für aus den vorliegenden Zahlenangaben nicht zu erbringen,
da hierzu die Ausgaben für die Strikes in Beziehung ge-
bracht werden müssten mit dem Produkte, das aus der Zahl
der Strikenden und der Strikedauer der einzelnen Striken-
den zu gewinnen gewesen wäre.
Von den 226 registrirten Ausständen waren 79 Ab-
wehr- und 147 Angriffsstrikes. Die 79 Abwehrstrikes ver-
theilen sich folgendermassen: Es wird berichtet über 5 bei
den Bildhauern (102), 22 bei den Drechslern (250), 4 bei den
Weissgerbern (128), 12 bei den Glasern (244), 1 bei den
Goldarbeitern (47), 3 bei den Hafenarbeitern (189), 5 bei
No. 34.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
419
den Handschuhmachern (480), 2 bei den Malern (35), 8 bei
den Maurern (1683), 2 Hei den Musikinstrumentenmachern
(60), je einer bei den Schiffszimmerern (700), Schneidern
(50), Seilern (13), Tapezierern (80) und Tischlern (250), 4
bei den Vergoldern (156) und 6 bei den Zimmerern (672).
An denselben waren zusammen 5139 Arbeiter betheiligt,
für die einzelnen Gewerbe befinden sich die betreffenden
Angaben in Klammern. Die Abwehrstrikes dauerten ins-
gesammt 509 Wochen, demnach im Durchschnitt 45yin Tag,
während die Angriffsstrikes durchschnittlich 40 1/7 Tage
dauerten.
Von den Abwehrstrikes wurden 19 durch die Forde-
rung der Unternehmer aus den Organisationen auszutreten,
10 durch andere Massregel ungen der Arbeiter, 36 durch
Lohnreduktionen, 10 durch Verlängerung der Arbeitszeit
und 4 durch Oktroirung von Fabrikordnungen verursacht.
13 ganz und 30 theil weise erfolgreichen Ausständen standen
25 erfolglose gegenüber.
Bei 147 Ausständen waren die Arbeiter die angreifende
Partei. Wir führen die Anzahl der bei denselben betheiligten
33 397 Arbeiter bei den einzelnen Gewerben wieder in Klam-
mern an: 9 Strikes bei den Bildhauern (248), 2 bei den
Brauern (230), 3 bei den Buchbindern (94), I bei den Buch-
druckern (10 000), 15 bei den Drechslern (bei vieren 325),
4 bei den Gärtnern (1800), 4 bei den Lohgerbern (170), 3
bei den Weissgerbern (327), 1 bei den Glasern (8), 2 bei
den Handschuhmachern (108), 1 bei den Hutmachern (24),
5 bei den Kupferschmieden (258), 9 bei den Malern (3725),
22 bei den Maurern (8144), 1 bei den Plätterinnen (74), 7
bei den Schneidern (4000), 1 bei den Seilern (41), 1 bei den
Steinsetzern (50), 8 bei den Tapezierern (270), 2 bei den
Vergoldern (121) und 46 bei den Zimmerern (3380). Diese
Strikes dauerten zusammen 352 Wochen. Die Ausgaben
für die Angriffstrikes betrugen 1 825 300 M., hiervon ent-
fallen 1'/4 Milk M. auf den Buchdruckerstrike, 176 544 M.
auf die Angriffstrikes der Zimmerer, 149 049 M. auf die der
Maurer, 59 791 M. auf die der Weissgerber, 33 071 M. auf
die der Maler, 28 575 M. auf die der Schneider, 26 778 auf
die der Kupferschmiede, 26 588 auf die der Bildhauer,
15 000 auf die der Handschuhmacher, 13 200 auf die der
Gärtner u. s. w. 117 Ausstände bezweckten Verkürzung
der Arbeitszeit und 23 Lohnerhöhung; 54 ganz und 59
theilweise erfolgreichen Ausständen standen 30 erfolglos
verlaufene gegenüber.
Wie lückenhaft die ganze Statistik ist, zeigt u. A.,
dass selbst bei den wohlorganisirten Buchdruckern die
Angaben über die gelegentlich des letzten Strikes geleisteten
freiwilligen Beiträge der eigenen Mitglieder, der Gewerk-
schaften und über die durch Sammellisten aufgebrachten
Beiträge fehlen. Dass aus diesen Quellen sehr ansehnliche
Beiträge geflossen sind, zeigten die Abrechnungen für
Berlin, Leipzig und den Dresdener Bezirk. Ausgaben und
Einnahmen bilanziren im Dresdener Bezirk mit 75 975,01 M.,
52 836,50 M. wurden von der Verbandskasse, 17 542,05 M.
von den Dresdener Buchdruckern, 2148,48 M. von anderen
Arbeitern aufgebracht und 3447,98 M. als „diverse Ein-
nahmen“ verrechnet. Diese ganze Summe wurde mit
Ausnahme von 34,51 M., welche für Druckkosten und
Diverses verwandt wurden, für Unterstützungen veraus-
gabt. Hoffentlich folgen die übrigen Gaue noch nach,
so dass es möglich sein wird, über einen der grössten
deutschen Arbeiterausstände die rechnerische Bilanz zu
ziehen. Freilich wird diese nicht genau sein, weil von den
Unterstützungen, die aus drei Hauptquellen flössen: aus
der Verbands-, den Gau- und den Ortskassen, die Abrech-
nungen der letzteren nicht veröffentlicht werden dürften.
Ueber den nächst dem grossen Bergarbeiter- und
Buchdruckerausstande bedeutungsvollsten Ausstand, dem
der deutschen Former, enthält das „Correspondenzblatt“
detaillirte Angaben, die wir hier auszugsweise wiedergeben.
Die Kämpfe im Formergewerbe dauerten von Herbst 1888
bis Mitte 1891. Im Herbste 1888 brachen Angriffstrikes aus
in Bredow b. Stettin, Flensburg, Halle, Dresden, Bernburg,
Duisburg, Bremen, Hannover und anfänglich auch Braun-
schweig. Nachdem schon in Braunschweig die Differenzen
zwischen den Unternehmern und Formern geregelt und
beigelegt waren, bildete sich noch vor dem endgiltigen
Friedensschluss und diesen vereitelnd die Koalition der
Unternehmer, und nun erfolgte die Aussperrung in einer
Stadt nach der anderen. In Braunschweig, wo ein par-
tieller Strike nur wenige Tage gedauert hatte, erfolgte die
erste Aussperrung sämmtlicher Former. Ihr folgten die in
Hamburg und schliesslich im Februar 1890 auch in Altona-
Ottensen nach. Ein riesiger Kampf entspann sich nun, der
auf der ganzen Linie mehr oder weniger bis in den Spät-
sommer 1891 andauerte.
Vom Beginn des Kampfes 1888 bis zum I. April 1890
kosteten die Ausstände in
Braunschweig 37 650,00 M. I
Hamburg 80 373,89 „
Altona-Ottensen 20 264,75 „ I
Bredow b. Stettin .... 4058,32 „
Flensburg 9 803,07 „
Halle a./S 2 431,74 „
Dresden 3 608,85 „
Bernburg I 295,40 „
Duisburg 2 650,00 „
Bremen^ 291,85 „
Hannover 16 900,00 „
Gesammtsumme . . 179 327,87 M.
Aussperrungs-
gebiet.
Gebiet
der partiellen
Strikes.
Vom 1. April 1890 bis zum I. Januar 1891 wurden
dann noch insgesammt für die Aussperrungen ausgegeben
2880,25 M., so dass die Gesammtsumme dieses Kampfes sich
auf 182 208,12 M. beläuft. Die thatsächlich ausgegebene
Summe entzieht sich der Berechnung.
Für die Gemassregelten wurden nachträglich noch
2795 M. und für die im Kampfe um das Koalitionsrecht
befindlichen Arbeiter anderer Berufe 3285 M. aufgebracht.
Ferner wurden zur Beschaffung von Weihnachtsgeschenken
für die Kinder der ausgesperrten Former 926 M. ver-
ausgabt.
Ein erheblicher Theil dieser Gelder ist von Arbeitern
aufgebracht worden, die der Gewerkschaft fern standen,
jedoch in diesem Falle sich verpflichtet hielten, ihren
kämpfenden Kollegen hilfreich zur .Seite zu stehen.
Dass die Strikestatistik der Gewerkschaften in erheb-
lichem Masse verbessert werden muss, wenn sie ihren Zweck
erfüllen soll, haben wir schon angedeutet. Zu richtigen
Resultaten wird man auf dem eingeschlagenen Wege
nicht gelangen Man darf nicht nach mehr als Jahresfrist
detaillirte Angaben über den Verlauf von Arbeitseinstel-
lungen einfordern; das richtige Verfahren scheint uns das
folgende zu sein. Man versendet allwöchentlich während
der Dauer des Ausstandes Fragebogen an alle Orte, in
denen gestrikt wird, beziehungsweise wo Arbeiter ausge-
sperrt sind und fordert unter Zusicherung vorläufiger Ge-
heimhaltung und Verschiebung der Veröffentlichung bis
nach Ausgang der Bewegung allwöchentlich die ausge-
sandten Fragebogen wieder ein. Man verschickt ferner zur
Durchführung der Kontrolle nach Beendigung des Ausstan-
des wieder Formulare mit Fragen über den Verlauf der
ganzen Bewegung. Bei einigem guten Willen und ohne
allzu grosse Mühe, könnte auf diese Weise eine brauchbare,
interessante und für die Betheiligten nützliche Statistik
gewonnen werden.
Die Unvollkommenheit der gegenwärtigen Erhebung
zwingt Zurückhaltung bei der Besprechung der thatsäch-
lichen Resultate auf. Doch kann man bereits aus der lücken-
haften Statistik erkennen, dass Strikes und Aussperrungen
in Deutschland i. d. R. sehr lange, wir möchten behaupten,
viel zu lange, währen, dass vielfach nicht bei Erkenntniss
der Aussichtslosigkeit des Vorgehens, sondern erst bei
Eintritt vollkommener Erschöpfung der Arbeiter die für
die Arbeiter ungünstig verlaufenden Ausstände beendet
werden. Wenn auch die Zähigkeit und Opferwilligkeit der
Arbeiter alle Anerkennung verdient, so darf doch nicht
geleugnet werden, dass diese häufige Beobachtung als ein
Zeichen der unzulänglich ausgebildeten Gewerkschafts-
organisation betrachtet werden muss. Die Thatsache da-
gegen, dass die Angriffstrikes häufiger für die Arbeiter,
die Abwehrstrikes häufiger für die Unternehmer günstig
420
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 34.
ausfallen, spricht hiergegen für ein nicht geringes Mass
richtigen Instinktes bei Beurtheilung der wirthschaftlichen
Situation, sowohl bei den Unternehmern, bei denen dies
leichter erklärlich ist, als auch bei den Arbeitern. Erfreu-
lich ist endlich, dass der Kampf der Arbeiter hauptsächlich
auf die Erkämpfung einer kürzeren Arbeitszeit gerichtet
ist. Es spricht dies dafür, dass die Wünsche der Arbeiter-
klasse sich weit mehr als auf Lohnerhöhung auf die Ver-
kürzung der Arbeitszeit konzentriren , woraus geschlossen
werden kann, dass bei Gewährung eines nicht zu langen
Maximalarbeitstages die Zahl und Ausdehnung der Aus-
stände sich nicht unerheblich vermindern würde.
Hoffentlich wird die nächste Strikestatistik der deut-
schen Gewerkschaften vollständiger und genauer sein. Es
liegt dies zum mindesten ebenso sehr im Interesse der Ge-
werkschaften selbst, als in dem der Wissenschaft und der
praktischen Politik.
Berlin. Adolf Braun.
Der Aufruhr in Homestead.
Ein Kampf, dessen schliesslicher Ausgang und dessen
Bedeutung für die amerikanische Arbeiterbewegung in dem
Augenblick, da dies geschrieben wird, noch nicht abzu-
sehen ist, findet jetzt in dem Pennsylvanischen Städtchen
Homestead bei Pittsburg statt. Jedenfalls ist dieser Kampf
eines der wichtigsten Ereignisse in der Entwickelung der
amerikanischen Arbeiterbewegung und steht als solches
neben dem Pittsburger Aufstand des Jahres 1877 und der
Chicagoer Bombenaffaire vom 4. Mai 1886.
Der westliche Theil des Staates Pennsylvanien mit
seinen ungeheuren Kohlenfeldern ist das Centrum der
grossen und mächtig sich ausdehnenden amerikanischen
Eisenindustrie, ebenso wie die Neu-Englandstaaten im Nord-
osten, mit Fall River als Mittelpunkt, die Textilindustrie
beherrschen. Die Arbeiterbevölkerung beider Landestheile
ist jedoch, den Berufsarten gemäss, sehr verschieden. Das
Textilgeschäft braucht Frauen- und Kinderarbeit, um die
Männer zu ersetzen und deren Widerstand zu brechen. Die
ganze x\rbeiterbevölkerung des Ostens hat dadurch etwas
Lammfrommes, Geduldiges, giebt es doch Orte, wo die
männliche Bevölkerung derart in der Minorität ist, dass
man diese Ortschaften als „weibliche“, das heisst mit dem
unübersetzbaren englischen Ausdruck she towns bezeichnet.
Anders in West-Pennsylvanien. In den Kohlengruben,
Hochöfen, Eisen- und Stahlwerken ist Frauen- und Kinder-
arbeit nur zum geringeren Theil zu verwenden Die
Arbeiterbevölkerung hat daher, trotzdem — oder vielleicht
gerade weil — sie in der Erkenntniss ihrer Klassenlage
hinter den Arbeitern Europas zurück ist, etwas männlich
Rebellisches gewonnen und behalten. Durch impulsiven,
heftigen Widerstand glaubten sowohl Kohlengräber wie
Eisenarbeiter zu fast unzähligen Malen das zu erreichen,
resp. zu wahren, was sie als ihre Rechte erachteten. Der
Mittelpunkt dieses Gebiets ist Pittsburg, der Schauplatz des
Aufstandes von 1877.
Unter hohen Schutzzöllen, angesichts des gewaltigen,
schnell anwachsenden Eisenbahnnetzes und des jetzt wieder
in Flor kommenden Baues eiserner Schiffe hat sich die
Eisen- und Stahlindustrie mit fabelhafter Rapidität ent-
wickelt. Neue Erfindungen, verbesserte Maschinen lösten
einander in schneller Reihenfolge ab. Gleichzeitig nahm
natürlich die Menge des Produkts im Verhältniss zur Zahl
der beschäftigten Arbeiter ungeheuer zu und unter den
letzteren wieder wurden in noch viel grösserem Masse die
gelernten, qualificirten Arbeiter durch unqualificirte, ein-
fache Taglöhner verdrängt. Der Durchschnittsarbeitslohn
sank.
Diese Verdrängung gelernter Arbeiter durch Tag-
löhner hatte eine theilweise Veränderung in der Zusammen-
setzung der Bevölkerung zur Folge. Eingeborene Ameri-
kaner sahen sich überflüssig gemacht, mussten, soweit die
kleinbürgerliche Zwischenhändlerklasse sie nicht aufzu-
saugen vermochte, ihr Bündel schnüren und nach anderen
Landestheilen auswandern, wo, wie in einzelnen Theilcn
des Südens, eine neu entstehende Eisen- und Stahlindustrie
ihrer bedurfte, allerdings nur, um ihren daheimgebliebenen
Kollegen Konkurrenz zu machen. Der schnell sich steigernde
Bedarf machte jedoch diese Konkurrenz eine Zeit lang
weniger fühlbar.
An Stelle der Ausgewanderten und sonst Verdrängten
erschienen italienische und slowakische Taglöhner, letztere
hier zu Lande als „Hunnen“ bezeichnet, welche, abgesehen
davon, dass die Verdrängten in ihnen ihre Verdränger
sehen, auch noch für einen sehr geringen Tagelohn zu
arbeiten gewohnt sind und deshalb den Hass der einge-
borenen Bevölkerung im hohen Grade zu fühlen haben,
trotzdem gerade sie es sind, welche bei den zahlreichen
Strikerebellionen der letzten fahre sich als die Heftigsten
und Rücksichtslosesten in der Verfechtung ihrer Forderungen
erwiesen.
Als vor Jahresfrist bei einem Strikekrawall in Brad-
docs vor einem der Carnegie’schen Werke ein Werkführer
erschlagen wurde und mehrere der Theilnehmer an dem
Auflauf, ja einer der Strikeführer der an demselben über-
haupt nicht 1 heil nahm, auf scheinbar sehr ungenügendes
Beweismaterial hin zum Tode verurtheilt wurden, sahen die
mit dem Munde stets von Gesetzesliebe Überfliessenden
Amerikaner unter den Arbeitern in den „Hunnen“ nichts
als eine „gesetzlose Bande von Ausländern“, trotzdem
Tausende von Beispielen dafür sprechen, dass thatsächlich
kein civilisirtes Volk so wenig die von ihm selbst gegebenen
Gesetze beachtet, wie das amerikanische. Die Vorgänge
in Homestead bilden einen schlagenden Beweis dafür.
Ist Pittsburg und seine nächste Umgegend, wozu
auch die Ortschaft Homestead gehört, das Centrum der
Eisen- und Stahlindustrie des Landes, so bildet die Car-
negie Stahlkompagnie den Mittelpunkt dieses Centrums und
damit des ganzen Landes, soweit dieser Geschäftszweig in
Betracht kommt. Dieselbe wurde erst kürzlich an die sechs-
zehn, zum Theil bereits früher von Carnegie und seinem
energischen Statthalter Frick geleiteten Firmen zusammen
geschlossen, nämlich aus den Firmen Carnegie Bros. & Co.,
Carnegie, Phipps & Co., Allegheny Bessemer Stahl Co.,
Keystone Brücken Co., Edgar Thomson Hochöfen, Edgar
I homson Stahlwerke, Homestead Stahlwerke, Lucy Hoch-
öfen, Keystone Brückenwerke, Obere und Untere Union-
werke, Beaver Falls-Werke, Scioto Erzgruben, Larimer
Cokeswerke und Youghiogheny Cokeswerke.
Carnegie, ein Schotte und vielfacher Millionär, ist so-
mit der bei weitem mächtigste König im Reiche der
Eisen- und Stahlmagnaten, der Führer im gegenwärtigen
Kampfe gegen ihre rebellischen Arbeiter.
Carnegie verstand es in den letzten Jahren und ver-
steht es auch jetzt wieder, sich hinter seinem Vertreter
Frick zu verstecken und, während in und um seine
Werken die heftigsten Arbeiterkämpfe tobten, bei denen
es mehrmals zu Blutvergiessen kam, auf eines seiner Land-
güter im tiefsten Innern Schottlands, fern vom Getriebe
der Welt, zurückzuziehen und seinem Vertreter Frick die
Leitung der Kämpfe zu überlassen, um in der Zwischenzeit
verhältnissmässiger Ruhe geistreiche radikal-freidenkerische,
von demokratischen und arbeiterfreundlichen Redensarten
übersprudelnde Vorträge zu halten und Artikel resp. Bücher
zu schreiben.
Frick, Carnegie's Geschäftstheilhaber und Vicekönig,
ist ein Mann von 42 Jahren, ausgezeichnet durch unver-
wüstliche körperliche Gesundheit und Energie, welch
letztere er aufs Rücksichtsloseste in seinem und Carnegie’s
Interesse zur Anwendung bringt.
Von den etwa 4000 Arbeitern in den Werken von
Homestead gehören nicht ganz 300, das heisst die Mehrzahl
der qualificirten, der grossen Organisation der Ver-
einigten Gesellschaft der Eisen- und Stahlarbeiter an, einem
Arbeiterverband, welcher bisher als einer der stärksten im
Lande angesehen wurde Dieser Verband schloss jährlich
im Monat Juni, nachdem die Delegatenkonvention desselben
die Lohntabelle festgestellt hatte, seine Kontrakte mit den
No. 34.
SOZIALPOLITISCHES < :ENTRALRLATT.
421
Besitzern der Werke in den verschiedenen Regionen ab,
welche vom 1. Juli bis 30. Juni des folgenden Jahres gültig
waren und worin die Eigenthtimer der Werke resp. deren
Vertreter sich verpflichteten, während der Dauer eines
Jahres die Lohntabelle des Verbandes anzuerkennen. Dies
System genügte, so lange der Konsum einigermassen im
Stande war, die stets wachsende Leistungsfähigkeit der
Werke aufzusaugen. Als jedoch dieser Punkt überschritten
war, musste ein Zusammenstoss der Interessen erfolgen.
Derselbe wurde lange vor Ablauf des vorjährigen Kon-
traktes von Seiten der Eigenthümer geplant, von Seiten der
Arbeiter und des Publikums erwartet. Alle bereiteten sich
auf denselben vor.
Der Verband forderte in seiner diesjährigen Kon-
vention Anerkennung der Lohntabelle für ein weiteres Jahr.
Etwa ein Drittel der Eigenthümer forderte eine Reduktion
der Löhne, dass die Abmachung nur bis zum 31. Decem-
ber gültig sein, in Zukunft die Jahreskontrakte im
Dezember abgeschlossen und mit Beginn des Kalender-
jahres in Kraft treten sollen. Die Jahreswende ist natürlich
im Eisengeschäft eine flaue Zeit, während die Produktion
in der Jahresmitte eine verhältnissmässig lebhafte ist. Unter
denen, welche sich der Forderung des Verbandes wider-
setzten, befand sich in erster Linie die Carnegie Stahl Co.
Der Flecken Homestead, eine Vorstadt von Pittsburg,
ist vollständig von den dortigen Carnegie’schen Werken
abhängig. Abgesehen von den zahlreichen Kleinbürgern etc.,
welche von einer Menge von 4000 Arbeitern ernährt
werden, wohnt in der Ortschaft fast Niemand ausser eben
diesen Arbeitern und den wenigen Beamten der Werke,
letztere abgesondert von der übrigen Bevölkerung in den
Werken selber. Die Verwaltung der Ortschaft befand sich
vollständig in Händen der Arbeiter, welche ihre Kollegen
oder Anhänger aus der Kleinbürgerklasse in die von ihnen
zu vergebenden Aemter wählten. Auch die Polizei war in
ihren Händen.
Frick bereitete in Folge dessen den Kampf im grossen
Stil vor. Er liess den grossen Landkomplex, auf dem die
Werke stehen, zwischen denen zwei Eisenbahnschienen-
stränge hindurchgehen, mit einer 12 Fuss hohen, mit
Schiessscharten versehenen Bretterwand umgeben, mit
einem hohen Wachtthurm versehen, die Bretterwand oben
mit drei Reihen Stacheldraht, welcher jeden Augenblick
mit Elektricität geladen werden konnte, garniren, und hielt
ferner einen langen Spritzenschlauch, der unter Umständen
an einen mit heissem Wasser gefüllten Kessel geschraubt
und gegen Eindringlinge in Anwendung gebracht werden
konnte, bereit. Als ihm die Forderung des Verbandes vor-
gelegt wurde, bot er zuerst eine Lohnreduktion und Ver-
legung der Kontrakttermine auf die Jahreswende an und
brach, als dies nicht sofort acceptirt wurde, alle Verhand-
lungen ab, indem er erklärte, in Zukunft würde kein Ver-
bandsmitglied mehr in den Homestead-Werken Anstellung
erhalten. Am 30. Juni wurden die Feuer gelöscht und am
1. Juli die Werke geschlossen. Viertausend Arbeiter, von
deren Verdienst die ganze Ortschaft abhing, sahen sich auf
die Strasse geworfen, denn ohne die gelernten Arbeiter
konnten die Taglöhner, welche meist dem Verband nicht
angehören, nicht arbeiten. Amerikaner und „Hunnen“ be-
fanden sich plötzlich in gleicher Lage und sahen, dass ihre
Interessen dieselben seien.
Eines hatten jedoch die „Hunnen“ vor den Amerikanern
voraus. Letztere hatten sich durch Abzahlungen zum
grössten Theil in Besitz der unter Leitung der Firma für
sie gebauten Wohnhäuser gesetzt und sind somit mehr als
die eingewanderten Taglöhner, welche von ihrem Hunger-
lohn keine Ersparnisse von Bedeutung zu machen ver-
mochten, an die Scholle und an die Werke Car-
negie’s gebunden. Sie verlieren, wenn sie nicht ihr dem
Verband, ihrer Schutzwehr gegen die Kapitalmacht,
gegebenes Ehrenwort brechen wollten, nicht allein ihre
Anstellungen, sondern auch ihre Häuser, welche sie im
Fall der Noth natürlich bedeutend unter dem Werth ver-
kaufen müssten. Es waren diesmal die ihrer Einbildung
nach gesetzliebenden Amerikaner, welche, durch das
idyllische und vielgerühmte System der Arbeiterhäuser zum
bewaffneten Aufstand und blutigen Kampf getrieben
wurden. Allerdings kämpften auch „Hunnen“ an ihrer
Seite.
Am 4. Juli, dem nationalen Feiertage der Vereinigten
Staaten, hatten die Arbeiter in Homestead und anderen
Gegenden Zeit, über die Schönheiten ihrer republikanischen
„Freiheit“ und „Unabhängigkeit“ nachzudenken, denn gleich-
zeitig wurden alle Werke, deren Besitzer die Lohntabelle
nicht anerkannt hatten, geschlossen. In der Nacht vom 5.
bis 6. Juli riefen sie Raketen- und Dampfpfeifen-Signale zu
den Waffen.
Bereits früher hatte der Sheriff, der Hauptexekutiv-
beamte des County, dem Pittsburg und Homestead ange-
hören mit einer wenig zahlreichen Mannschaft versucht, die
Werke zu besetzen und zur Aufnahme resp. Beschützung
von nicht dem Verband angehörigen Arbeitern bereit zu
halten, da Angriffe auf solche seitens der Bevölkerung der
ganzen Ortschaft mit Sicherheit zu erwarten waren. Die
Mannschaft wurde von den Arbeitern mit Höflichkeit, aber
desto grösserer Entschiedenheit am Eingang der Werke
angehalten und aus der Ortschaft hinauskomplimentirt.
Eine Eigenthümlichkeit der Vereinigten Staaten ist
die Pinkerton’sche Privatpolizei, welche ihres Gleichen in
der Welt nicht hat. Am ähnlichsten ist dieselbe den Lands-
knechtsbanden des Georg von Frundsberg und den Horden
der Condottieri früherer Jahrhunderte, eine Organisation
von Lumpenproletariern, welche jederzeit verstärkt werden
kann, und welche von ihrem Chef, Robert Pinkerton, je
nach Bedarf an grössere Kapitalisten zum Schutz ihrer
Werke und angestellten Nicht verbandsleute in Fällen von
Strikes oder Ausschlüssen vermiethet wird. Diese unge-
drillten, aber uniformirten und mit Repetirgewehren neuester
Konstruktion bewaffneten „Wächter“, welche stets bereit
sind, die im Lauf des Gewehres befindliche Kugel irgend
| Jemandem, der ihnen ihrer Meinung nach zu nahe kommt,
in den Leib zu jagen, haben bereits eine stattliche Anzahl
Morde auf dem Gewissen, allerdings ohne dass je einer von
ihnen dafür bestraft worden wäre. So schossen z. B. vier
von ihnen im Winter 1887 in jersey-City, gegenüber von
New-York, gleichzeitig auf eine Rotte kleiner Knaben,
welche sie mit Schneebällen und Eisstücken bewarfen, und
tödteten einen derselben. Sie wurden wegen Mordes pro-
zessirt und freigesprochen, da nicht festzustellen war,
wessen Kugel den ermordeten Knaben getödtet
hatte.
Nahezu 300 Mann dieser Privatpolizei, zum grossen
Theil neu Angeworbene, wurden im Geheimen nach Pitts-
burg gebracht. Sie sollten früh am Morgen des 6. Juli auf
zwei Booten, von einem Schleppdampfer gezogen, von der
offenen Wasserseite der Werke her innerhalb der Umzäu-
nung geschafft werden. Durch Zufall erhielten die Aus-
ständigen Kenntniss davon und allarmirten die Bevölkerung.
Alles, was Waffen besass, ergriff dieselben und eilte nach
dem Flussufer, während die Boote mit den Pinkertonianern
herankamen. Ein Theil der Umzäunung der Werke wurde
niedergerissen und einige Augenblicke später waren
Tausende von Personen, darunter Frauen und Kinder und
einige Hunderte Bewaffneter, innerhalb der Werke und
in der Nähe der Landungsbrücke. Der niedergerissene
Theil der Umzäunung wurde später von den Arbeitern
wieder hergestellt.
Als die Boote der Pinkertonianer erschienen und in
nächster Nähe der Menge zu landen versuchten, erklärte
der Hauptmann derselben der Menge, dass er unter allen
Umständen die Werke besetzen werde. Die Menge wich
nicht von der Stelle. Irgend einer der ungeschickten und
von Furcht erregten Pinkertonianer feuei'te einen Schuss
ab, dem sofort eine ganze Salve folgte, welche von den
Arbeitern erwidert wurde. Eine Anzahl Arbeiter waren
todt oder schwer verwundet, aber auch die Pinkertonianer
hatten mehrere der Ihren, darunter ihren Hauptmann, und
damit ihren Kopf, verloren. Sie blieben den ganzen
Tag über in der Defensive, während ihre Boote fest an der
Landungsbrücke lagen.
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SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 34.
Die Arbeiter retirirten. Die Unbewaffneten flohen, die
Bewaffneten nahmen, einige hundert Schritte entfernt, hinter
einem Brückengerüste eine einigermassen gedeckte Stellung.
Einige alte Kanonen, Eigenthum verschiedener Veteranen-
organisationen der Ortschaft, wurden requirirt und, mit
kleinen Eisenstücken, da es an Munition fehlte, geladen.
Dieselben thaten keinen nennenswerthen Schaden, schüch-
terten jedoch die Pinkertonianer ein, welche sich gleich
nach den ersten Salven unter Deck gepfltichtet hatten.
Das Gewehrfeuer wurde den ganzen Tag hindurch fortge-
setzt und mehrere erfolglose Versuche gemacht, die Boote
mittelst brennenden Oels, welches aus den grossen, dicht
am Fluss stehenden Behältern in denselben gelassen wurde,
in Brand zu stecken. Dreimal zogen die Pinkertonianer
die weisse Fahne auf. Jedesmal wurde dieselbe herabge-
schossen. Erst gegen Abend gelang es den Führern der
Ausgeschlossenen, dieselben zu besänftigen und zu Unter-
handlungen mit den Pinkertonianern geneigt zu machen.
Letztere erklärten sich bereit, sich zu ergeben und ihre
Waffen abzuliefern, wenn ihnen Schutz vor der Bevölke-
rung zugesichert würde. Sie ergaben sich und wurden
beschützt von Denen, welche noch soeben die feste Ab-
sicht hatten, sie bis auf den letzten Mann zu vernichten,
ans Land gebracht. Die Boote, auf denen sie sich be-
fanden, wurden, nachdem der darauf befindliche massen-
hafte Schiessbedarf ans Land gebracht worden war, ange-
zündet und verbrannten. Die Pinkertonianer wurden auf
dem Wege nach dem Hauptversammlungslokal der Ort-
schaft, wo sie während der Nacht untergebracht wurden,
von der aufs Höchste erregten Bevölkerung, die grosse
Lust zeigte, sie an den Bäumen des benachbarten Wäld-
chens aufzuknüpfen, trotz des Schutzes der Bewaffneten,
misshandelt. Am nächsten Tage wurden sie aus der Ort-
schaft eskortirt.
Die Ausgeschlossenen jubelten über ihren „Sieg“,
ihre Führer waren in Todesängsten. Zwar war der grösste
Theil der Presse und der öffentlichen Meinung gegen das
Institut der Pinkertonianer eingenommen und machte aus
diesen Gefühlen kein Hehl, aber die Gesetze waren nun
einmal von Seiten der Arbeiter übertreten und das Ein-
schreiten der Staatsgewalt musste sicher erwartet werden.
Allerdings ist die Gewalt amerikanischer Staaten mit dem,
was man in Europa als Staatsgewalt ansieht, kaum zu ver-
gleichen, doch ist dieselbe immerhin genügend, um mit
einem derartigen kleinen, unorganisirten Zufallsaufstand
fertig zu werden. Vorerst galt es, die im Kampf Gefallenen
zu begraben. Vier Pinkertonianer waren sicher getödtet
und 26 verwundet worden. Elf werden vermisst und werden
zu den Todten gezählt, indem man annimmt, dass sie
während des Kampfes schwer verwundet oder todt in den
Fluss fielen und ertranken, oder bei dem Versuch, sich
durch Schwimmen zu retten, zu Grunde gingen. Von den
Arbeitern waren elf getödtet und etwa 20 verwundet
worden.
Die eigenthümliche politische Lage des Staats, welche
an Stelle einer republikanischen, von Korruption stark an-
gefressenen Clique ausnahmsweise einen Demokraten zur
Leitung der Exekutive in das Gouvernementsamt geführt
hatte, gab den Strikeführern im Hinblick auf die gerade
beginnende Präsidentenwahlkampagne Hoffnung, dass der
demokratische Gouverneur sich weigern würde, die .Staats-
gewalt ins Spiel zu bringen, während sie von den Republi-
kanern Vermittelung zu ihren Gunsten bei dem durch die
republikanischen Schutzzölle reich gewordenen Carnegie
erwarteten. Natürlich sahen sie sich von beiden betrogen.
Anfangs schien zwar der demokratische Chef der Exekutive,
Gouverneur Pattison, keine Lust zur Aufbietung der Staats-
gewalt zu haben. Mindestens beantwortete er die dahin
gehende Aufforderung des County-Sheriffs mit der Er-
klärung, dass er erst dann einschreiten würde, wenn alle
Machtmittel der Lokalbehörden erschöpft seien. Der
Sheriff erliess hierauf eine Aufforderung an die ganze
Bürgerschaft des County, sich ihm zur Herstellung der ge-
setzlichen Ordnung in Homestead bewaffnet zur Verfügung
zu stellen, und lud eine Menge grösserer und kleinerer
Bourgeois persönlich vor, dieselben hatten jedoch keine
Lust, sich für Frick etc. ein Loch in den Leib schiessen
zu lassen. Etwa ein Dutzend von den Hunderten Vorge-
ladener erschienen und wurden wieder nach Hause ge-
schickt. Die Lokalbehörden hatten ihre Machtmittel er-
schöpft.
Der Bürgermeister von Homestead hatte inzwischen
aus den ausgeschlossenen Arbeitern eine Polizeimannschaft
organisirt, welche zwar auf musterhafte Ruhe und Ordnung
in der Ortschaft sah, selbstverständlich aber zum Schutz
etwaiger Nichtverbandsarbeiter, mit denen Frick bald die
Werke zu füllen gedachte, nicht zu verwenden war. Die
ganze Milizdivision des Staates wurde vom Gouverneur
auf die Beine gerufen und nach Homestead dirigirt. Die
Arbeiter wiegten sich in der Hoffnung, die Miliz würde mit
ihnen fraternisiren, wie dies vor 15 Jahren hin und wieder
geschah, täuschten sich aber auch hierin, denn schon ihr
Angebot, die Miliz mit Musik mit fliegenden Fahnen zu
empfangen, wurde vom Führer der letzteren schroff zurück-
gewiesen.
Seit dem Aufstand von 1877, bei dem die Miliz eine
so klägliche Rolle spielte, wurde dieselbe in den Haupt-
staaten durchaus reorganisirt. Anfangs eine freiwillige
Bürgerwehr, zu der Jeder, der am Soldatenspielen Freude
hatte, Zutritt fand, wurde sie seit jener Zeit, da es sich
zeigte, dass viele der Regimenter offen mit den Arbeitern
fraternisirten, reorganisirt, alle Regimenter, in denen sich
Arbeiter in grösserer Zahl befanden, aufgelöst und die
übrig bleibenden, aus Bourgeois-Söhnen bestehenden Miliz-
organisationen bedeutend verstärkt, so dass diese Bürger-
wehr eine vollkommen zuverlässige Waffe der Bourgeoisie
im Kampfe mit den Arbeitern , eine Staatspolizei der
Bourgeoisklasse wurde, auf welche die letztere Geld mit
vollen Händen zum Bau von Waffenhallen, welche aussen
kleinen Festungen, von innen aber Vergnügungslokalen
ähnlich sehen, verschwendet. Natürlich wäre auch diese
Miliz einer entschlossenen , gut bewaffneten, rebellischen
Arbeiterschaft nicht gewachsen, aber den Arbeitern von
Homestead fehlte sowohl Entschlossenheit wie gute Be-
waffnung. Das einfache Erscheinen der Miliz war genügend,
um den Aufstand zu ersticken.
Jetzt begannen Massenverhaftungen, welche noch
immer fortdauern. Die Führer der Arbeiter und alle die-
jenigen, welche von irgend Jemand denunzirt wurden,
wanderten unter der Anklage des Mordes ins Gefängniss
oder wurden unter Bürgschaft gestellt. Später Verhaftete
wurden nur des Aufruhrs und Raubes der Waffen und
Munition der Pinkertonianer beschuldigt. Hunderte weiterer
Verhaftungen werden täglich erwartet. Inzwischen begann
Frick unter dem Schutz der Miliz nicht zum Verband ge-
hörige Arbeiter aus anderen Landestheilen einzuführen und
soll bereits, ohne die überall leicht zu erhaltenden Tag-
löhner, eine stattliche Anzahl gelernter Arbeiter zusammen
gebracht haben. Diese Entwickelung der Dinge, welche
im ganzen Lande mit Spannung verfolgt wurde, veranlasste
einen jungen, hitzköpfigen, wenig intelligenten Anarchisten
Peukert'scher Richtung, welcher mit den Kämpfen persön-
lich nicht das Geringste zu schaffen hatte, — denn die
Arbeiter in Homestead hatten entschieden jede Verbindung
mit den Anarchisten abgelehnt und zwei derselben, welche
am Tage nach dem Aufstand dort Flugblätter vertheilen
wollten, mit Drohungen aus der Ortschaft gejagt, — sich
am 24. Juli in das Komptoir Frick’s zu schleichen und
mehrere Revolverschüsse auf denselben abzufeuern, wo-
durch Frick leicht verwundet wurde und einige Tage das
Zimmer hüten musste.
Charakteristisch für die amerikanischen Militärzustände
ist, dass ein Milizsoldat aus einer bäuerlichen Gegend, als
Oberst-Lieutenant Streator seinem Regiment obigen Vorfall
meldete, ausrief: „Dreimal hoch dem Manne, der es that.“
Der Soldat wurde zur Zurücknahme dieser Worte aufge-
fordert. Da er, ein starrköpfiger Bauer, dies verweigerte,
wurde er auf Befehl des Oberst-Lieutenants 20 Minuten
lang an den Daumen aufgehängt, bis er auf Anordnung der
Aerzte, um seinen Tod zu vermeiden, abgeschnitten wurde
No. 34.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
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und am nächsten Tage auf Befehl des Divisionsgenerals
Snowden mit auf der rechten Seite des Kopfes abrasirten
Haar und Schnurrbart schimpflich aus dem Lager ge-
trommelt. Er hat inzwischen gegen die betreffenden Offi-
ziere Kriminalklagen eingeleitet und Streator ist auf Grund
einer solchen bereits verhaftet und unter Bürgschaft ge-
stellt worden.
Die Polizei suchte aus der That des einzelnen Anar-
chisten eine Verschwörung zu machen und nahm mehrere
Verhaftungen vor, ohne jedoch, wie es scheint, dabei
sehr glücklich gewesen zu sein.
Inzwischen füllt Frick, welcher übrigens zugleich mit
mehreren anderen Beamten der Carnegie’schen Werke, auf
Veranlassung der Führer der Arbeiter, ebenfalls unter der
Anklage der Mordverschwörung verhaftet und unter Bürg-
schaft gestellt wurde, die Werke in Homestead mit Nicht-
verbandsarbeitern, hat auf eigene Hand etwa 100 bewaffnete
Spezialpolizisten, genau nach dem Muster der Pinker-
tonianer, angestellt und hält für den Fall der Noth, wie es
heisst, Repetirgewehre für jeden seiner neuen Angestellten
bereit, während die Miliz, deren Disziplin bereits durch
einen kaum dreiwöchentlichen Dienst stark gelockert zu
sein scheint, nach und nach zurückgezogen und nach Hause
geschickt wird.
Die Situation ist natürlich heute, in den ersten Tagen
des August, noch immer eine sehr gespannte, trotzdem
äusserlich vollkommenste Ruhe herrscht. Niemand kann
sagen, ob nicht bereits die nächste Stunde neue blutige
Zusammenstösse bringt, wenn auch solche unwahrschein-
lich sind, da die Kampflust der Arbeiter, dem Anschein
nach, gebrochen ist und sie grollend, aber thatlos, der
ferneren Entwickelung der Dinge Zusehen.
New-York, 4. August.
Aussperrung von 1200 Brauern, Brauergeliilfen und
Küfern in Hamburg, Die Boykottirung der Barmbecker Bier-
brauerei seitens des Hamburger Brauerfachvereins wegen einer
demselben nicht gerechtfertigt erschienenen Entlassung eines
Arbeiters wurde von 16 grossen Hamburger Brauereien mit
einem Ultimatum beantwortet, in dem die Alternative gestellt
wurde, entweder den Boykott aufzuheben oder die Entlassung
von 1200 den Fachvereinen angehörenden Arbeitern zu gewärtigen.
Trotz dieser Drohung wurde einerseits der Boykott über die
Barmbecker Brauerei aufrecht erhalten und andererseits wurden
am 16. Mittags 1200 Brauer u. s. w ausgesperrt. Man will nun
seitens der Arbeiter den Bierbezug von Auswärts organisiren,
eine Arbeitergenossenschafts-Bierniederlage wird geplant. Die
unverheirateten Ausgesperrten reisten ab. Die Arbeitenden
sollen 10 pCt. ihres Verdienstes in die Ausstandskasse abliefern.
Die Brauereien haben den Küfern wieder die Brauereien er-
öffnet und die Aussperrung auf die Brauer und Braugehilfen
beschränkt. Das Gewerkschaftskartell in Hamburg hat den
Boykott für ungerechtfertigt erklärt, ihn aufgehoben und das
Recht, Boykotts zu verhängen, den einzelnen Gewerkschaften
abgesprochen.
Der 32. Jahresbericht des London Trades’ Council
über das Jahr 1891. Dem vor Kurzem erschienenen Be-
richte ist zu entnehmen, dass am Ende des Jahres 1891
224 Vereine und Zweigvereine aus 95 verschiedenen
Industrien mit zusammen 67 986 Mitgliedern im Gewerk-
schaftsrathe vertreten waren. Im Laufe des Berichtsjahres
waren 75 Vereine, die 31 verschiedenen Industrien ange-
hörten und zusammen 16 133 Mitglieder zählten, zuge-
wachsen, während 7339 Mitglieder durch Austritt ihrer Ver-
eine oder Verminderung von deren Mitgliederzahl in Abfall
kamen. Die Vereine zahlen in den Trades’ Council zwei
Pence pro Mitglied und Jahr; je 500 Mitglieder sind durch
einen Delemrten vertreten Die Exekutive besteht aus
10 Mitgliedern und dem Sekretär (seit Jahren Herr
Shipton). Die zahlreichst vertretenen Branchen sind:
Schriftsetzer 9000 Mitglieder, Dockarbeiter 6974, Vereinigte
Maschinenbauer 4320, Gasarbeiter 2700, Schuhmacher 6473
Mitglieder. Die Jahreseinnahmen betrugen 518Lstr., welche
durch die Ausgaben (Druckkosten, Miethe, Sekretärsge-
halt etc.) bis auf einen kleinen Kassenrest erschöpft
wurden.
Der Tätigkeitsbericht beschäftigt sich zunächst mit
dem Eingreifen des Gewerkschaftsrathes bei einer Anzahl
von Strikes in London und Auswärts; zur Unterstützung
des deutschen Buchdruckerstrikes wurden 3440 Lstr.
aufgebracht. Der Bericht konstatirt übrigens, dass die dem
Council zur Verfügung stehenden Mittel lange nicht ge-
nügen um allen gestellten Anforderungen gerecht zu werden;
es sei noth wendig, dass sich „die Gewerkvereine über
einen definitiven Plan auf nationaler Basis einigen, um zu
hindern, dass, wie jetzt so häufig, mehrfache Lohnkämpfe
zu gleicher Zeit ausbrechen und die Kräfte zersplittern.“
Obwohl der Council sich an der Maidemonstration be-
theiligte, kann der Sekretär Shipton nicht umhin, im Be-
richte darüber sein Missvergnügen über die dem Unionisten
alten Stiles antipathische Achtstundenbewegung merken zu
lassen. — Aus den Fällen, in denen der Gewerkschaftsrath
an die Regierung oder einzelne Parlamentsmitglieder mit
Forderungen herantrat, ist einer besonders bemerkenswerth.
Ueber Beschluss einer Delegirtenversammlung veranlasste
die Exekutive das Parlamentsmitglied Herrn Sydney Box-
ton am 13. Februar 1891 folgenden Resolutionsantrag im
Unterhause einzubringen:
In alle Kontrakte, welche die Regierung abschliesst,
seien Klauseln aufzunehmen, dahin gehend, dass der Unter-
nehmer bei Strafe verpflichtet sei, die Bräuche und Be-
dingungen in Bezug auf Arbeitslose und Arbeitszeit, die in
jedem besonderen Gewerbe herrschen, einzuhalten; und
dass der Unternehmer bei Strafe verhindert werde, irgend
einen Theil der Arbeit an Subunternehmer weiterzugeben,
ausser in solchen Fällen, wo ein besonderer Theil der
Arbeit in seinem Betriebe nicht ausgeführt werden kann
und er die Erlaubniss dazu von dem betreffenden Re-
gierungsdepartement erhält.
Nach einer längeren Debatte erklärte Herr Plunket,
(erster Kommissär der öffentlichen Arbeiten, first com-
missioner of Works), namens der Regierung: Die Regierung
billige zwar durchaus die in der Resolution gemachten
Vorschläge, sei aber nicht in der Lage sie in diesem Wort-
laute anzunehmen; hingegen beantrage sie folgende Fassung:
„Dass nach der Meinung des Hauses es die Pflicht der
Regierung sei in allen Regierungskontrakten gegen die vor
dem Sweating- Commitee neuerlich aufgedeckten Uebel-
stände Vorkehrung zu treffen; solche Bedingungen in die
Verträge aufzunehmen, welche die Missbräuche durch Sub-
unternehmer hindern; und jede Anstrengung zu machen,
um die Zahlung solcher Löhne zu sichern, wie sie in jeder
einzelnen Branche von den berufenen Arbeitern allgemein
angenommen seien.“
Herr Buxton bedauerte, dass der Regierungsantrag
die Arbeitszeit unerwähnt lasse; derselbe wurde jedoch ein-
stimmig angenommen.
• Tagesordnung des nächsten Trades Unions Kongresses.
Der diesjährige Kongress der englischen Gewerkvereine findet
in Glasgow statt und wird am 5. September eröffnet. Bezüglich
der Achtstundenfrage liegt demselben erst ein Resolutionsantrag
von Mr. Matkin vor, der die diesbezügliche Einberufung eines
internationalen Kongresses vorschlägt und eine Enquete bei den
Gewerkvereinen einleiten will, die ergeben soll, ob der Acht-
stundentag wünschenswerth sei, ob derselbe gesetzlich einge-
führt oder durch die Gewerkvereine allein erreicht werden soll.
Andere bereits eingebrachte Resolutionen beziehen sich auf die
parlamentarische Vertretung der Arbeiter, auf Bezahlung der
Abgeordneten, Gründung eines allgemeinen Wahlfonds durch
einen -monatlichen Beitrag von 1 d per Kopf, auf die Ausdehnung
des Haftpflichtgesetzes der Unternehmer, die Vermehrung der
Inspektoren; eine andere richtet sich gegen das bei Vergeben
von Regierungslieferungen oft vorkommende Subkontraktwesen.
Vor Beginn des Kongresses dürften noch verschiedene Reso-
lutionen von dem parlamentarischen Komitee der Trades Union
eingebracht werden.
Die Versammlung der englischen Miners Federation. Das
österreich-ungarische Generalkonsulat in Liverpool schreibt dem
Wiener „Handels-Museum“: Vom 2. bis 4. August fand in Bir-
mingham eine Versammlung der „National Miners Federation
of Great Britain“ statt, bei welcher nahe an 400 000 Kohlenberg-
werksarbeiter vertreten waren. Von den bekannt gewordenen
Resolutionen geht eine dahin, dass behufs Einschränkung der
Förderung vor dem 27. d. Mts. in den Bergwerken die Arbeit
an Samstagen nicht aufgenommen werden solle; weiters wurde
beschlossen, den Ministerpräsidenten auf die Wichtigkeit der
Ernennung eines Arbeiterministers, in dessen Ressort sämmtliche
Arbeitsfragen behandelt werden, und der für sein Gebahren dem
Parlamente verantwortlich sein müsste, aufmerksamzu machen;
eine andere Resolution geht dahin, dass man von der vermehrten
Anzahl von Mitgliedern im neuen Parlamente, die für die gesetz-
liche Herabsetzung der Arbeitszeit auf 8 Stunden täglich in den
Bergwerken günstig gestimmt sind, Kenntniss nehme, und dass
man keine Mühe scheuen solle, die betreffende Bill zum Gesetze
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SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 34.
zu erheben, und zwar nicht, wie manche es wünschen, in der
Weise, dass es den Arbeitern in den einzelnen Distrikten an-
heimzustellen sei, ob das bezügliche Gesetz dort Anwendung zu
finden habe oder nicht ; es wurde auch beschlossen, die Re-
gierung dringend anzugehen, die gegenwärtige Employers Lia-
bility Bill zu ergänzen, dass die neue Coal Mines Regulation
Act sämmtlichen Distrikten der Föderation zur Aeusserung zu-
zusenden sei, sowie dass, nachdem die etwa 90 000 zählenden
Kohlenbergwerksarbeiter in Durharn sich der Föderation ange-
schlossen haben, sie mit den Statuten, Regulativen u s. w. der
Föderation zu betheilen seien, und schliesslich verfügte man,
dass eine Deputation an die Kohlenbergwerksarbeiter in Süd-
Wales abzusenden sei, um sie zu bewegen, gleichfalls der Föde-
ration beizutreten, und die Sliding Scale, d i. die Scala, die die
Löhne automatisch erhöht oder herabsetzt, aufzugeben.
Strikende Feldarbeiter in Slavonien. Wie der „Neuen
freien Presse“ aus Essegg gemeldet wird, haben die un-
garischen nach Slavonien zur Erntezeit wandernden Feld-
arbeiter, welche gegen einen Antheil an dem Fruchtgewinn
den Schnitt vornehmen, in ganz Slavonien während der
Erntezeit die Arbeit eingestellt und sind nicht zu bewegen
— auch gegen doppelten Lohn — die Arbeit wieder
aufzunehmen. Der Strike entstand durch den ungenügen-
den Gewinn, der den Arbeitern sich bei dem üblichen
Prozentsätze ergab, weil die Schüttung des Getreides
heuer hinter jener der Vorjahre zurückblieb. Die Grundbe-
sitzer erleiden dadurch einen grossen Schaden, weil die
Frucht nicht abgemäht werden kann. Auf ganzen Flächen
steht die Weizenfrucht noch in den Halmen, und es giebt
Orte, wo die Weizenernte, die schon Ende Juni in Angriff
genommen werden sollte, anfangs August noch gar nicht
begonnen hat. Nach späteren Berichten ist der Strike bei-
gelegt worden und auf einzelnen Herrschaften der Schnitt
nunmehr beendet.
Politische Arbeiterbewegung.
Französische Arbeiterkongresse. Im Laufe dieses
Sommers finden in Frankreich mehrere Arbeiterkongresse
statt. So hielten die Buchdrucker ihren Nationalkongress
vom 27. bis 30. Juli in der Arbeitsbörse zu Paris ab. Ein
allgemeiner Gewerkschaftskongress tagt vom 1 9. bis 23. Sep-
tember in Marseille. Auf der Tagesordnung steht: 1. Natio-
nale und internationale Verbindung der Arbeiter und Ar-
beiterinnen; 2. Generalstrike aller Branchen; 3. direkte
Repräsentation des Proletariats in den Parlamenten; 4. der
internationale Kongress von 1893; 5. die Manifestation des
1. Mai 1893. In Bordeaux findet vom 1. bis 4. September
ein Kongress der Bauarbeiter statt. Die Tagesordnung
enthält u. A.: Obligatorische Versicherung der Arbeiter
gegen Unfälle auf Kosten der Unternehmer; Abschaffung
jeglicher Akkordarbeit; Wahl von Fabrikinspektoren aus
den Kreisen der Arbeiter; Zuziehung von Arbeitern zu
hygieinischen Kongressen u. s. w.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Die englische Shop Hours Act. Am 28. Juli 1. Js.
hat die neue Shop Hours Act von 1892 die königliche
Sanction erhalten. Die wichtigsten Bestimmungen derselben
sind folgende:
1. Keine Frauensperson unter 18 Jahren darf in einem
Laden, Niederlage, Waarenlager, Markthalle, Wein- und
Bierschänke, Wirthshause länger als 74 Stunden, die Mahl-
zeit mit inbegriffen, wöchentlich verwendet werden.
2. In jedem der genannten Geschäfte, wo solche Per-
sonen bedienstet sind, muss dieses Gesetz an einer leicht
ersichtlichen Stelle angebracht werden.
3. Zuwiderhandelnde Geschäftseigenthümer unterliegen
einer Geldbusse von 1 Lstr.
4. Jede weibliche Person, die behufs Erlangung des
Dienstes unrichtige Angaben gemacht hat, ist zu be-
strafen.
5. Jeder Grafschaftsrath, der Londoner Gemeinderath
u. s. w. ist ermächtigt, Inspektoren zur Ueberwachung der
Befolgung dieses Gesetzes zu bestellen.
Die Berliner Polizei und die Sonntagsruhe. Wegen
Nichtinnehaltung der Sonntagsruhe sind, wie die „Kreuz-
zeitung“ erfährt, von verschiedenen gewerkschaftlichen
Vereinigungen Anzeigen gegen Unternehmer bei der Polizei
erstattet worden. Die Beschäftigung von Maurern auf einem
Neubau während der Kirchenstunden ist vom Polizeipräsi-
dium als nicht gegen die Vorschriften zur Wahrung der
Sonntagsruhe verstossend erklärt worden, sobald nur der
Bauplatz ordnungsmässig gegen die Strasse hin abgesperrt
ist. Die Hausdiener sind auf erstattete Anzeigen dahin be-
schießen worden, dass die Beschäftigung in Schreibstuben,
Fabriken u. s. w. durch die polizeilichen Bestimmungen,
welche die Sonntagsruhe für den Handelsverkehr regeln,
nicht betroffen wird. Für die Thätigkeit ausserhalb des
Handelsverkehrs gelten die älteren polizeilichen Bestimmun-
gen, wonach die Beschäftigung auch während der Kirchen-
stunden nicht strafbar ist.
Gewerbeinspektion.
Die Fabrikinspektion in Russisch-Polen. Der öster-
reichische Generalkonsul in Warschau theilt über die Fabrik-
inspektion in Russisch-Polen in seinem Jahresberichte für
1891 u. A. Folgendes mit: Die Institution der Fabrikinspek-
toren wurde weiter ausgebildet und ihre Befugniss bedeutend
erweitert, da sie ermächtigt wurden, Geld- bezw. Freiheits-
strafen im eigenen Wirkungskreise zu verhängen. Der
Fabrikinspektor überwacht die sanitären Einrichtungen der
Fabrik, clie Vorrichtungen im Betrieb zur Verhütung von
Unglücksfällen, er sorgt dafür, dass keine Kinder beschäf-
tigt werden, dass die neuerdings obligatorisch gewordenen
Arbeiterkontrol- und Strafbücher ordnungsmässig geführt
werden, er regelt das Verhältniss zwischen Arbeitgeber und
Arbeitnehmer in Lohnfragen u. s. w. Der Fabrikinspektor
soll den Arbeitern ein Anwalt, den Fabriksleitern eine
büreaukratische Kontrole sein; so tritt im Falle der Ver-
unglückung eines Arbeiters der Fabrikinpektor für diesen
in die Rolle eines öffentlichen Anklägers ein
Arbeiterversicherung.
Die Entwickelung der Krankenversicherung im deut-
schen Reiche. Der Kreis der von der Krankenversicherung
erfassten Personen hat sich seit 1885 stetig ausgedehnt, zum
Theil auch in Folge der Ergänzung der bezüglichen Gesetz-
gebung. In den Krankenkassen (ausschliesslich der Knapp-
schaftskassen) waren versichert:
Ende 1885 . . . 4 294 173 Personen
„ 1886 . . . 4 570087 „
„ 1887 . . . 4 842 226 „
1. Januar 1889 . . . 5 516 461
„ 1890 . . . 6 071 035 „
Mit den Knappschaftsmitgliedern erhöht sich die Zahl
der Versicherten noch wesentlich, und stellt sich z. B.
1. Januar 1890 auf 13,4 pCt. der Reichsbevölkerung; schon
Ende 1885 waren (einschliesslich der Knappschaftsmit^lieder)
10 pCt. der ganzen Bevölkerung Kassenmitglieder. Seitdem
hat sich dieser Prozentsatz in jedem Jahr erhöht, am
stärksten im Jahre 1889 wegen des Inkrafttretens des Ge-
setzes vom 5. Mai 1886 über die Unfall- und Krankenver-
sicherung der land- und forstwirthschaftlichen Arbeiter.
Zur Spruchpraxis des Reictisversicherungsamts. In
mehreren die Unfallversicherung betreffenden Entscheidun-
gen hat das Reichsversicherungsamt zunächst an dem be-
reits früher anerkannten Grundsatz festgehalten, wonach
No. 34.
SOZIALPOLITISCHES CE N TR ALBL ATT.
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die Versicherungspflicht auch für einen an sich nicht ver-
sicherungspflichtigen Betriebstheil eines einheitlichen Ge-
sammtbetnebes begründet wird, sofern der Haupttheil des
letzteren versicherungsptiichtig ist und jener Nebenbetrieb
einen wesentlichen Bestandtheil des Gesammtbetriebes
bildet. Demgemäss ist den Hinterbliebenen eines bei einer
Möbeltischlerarbeit tödtlich verunglückten Baugewerbetrei-
benden die Unfallrente zugebilligt worden, da der Veruu-
glückte in erster Linie und hauptsächlich mit der Ausfüh-
rung von Zimmer- und Maurerarbeiten beschäftigt war und
neben dieser Hauptthätigkeit sich nur in sehr geringem
Umfange mit der Anfertigung von Schränken, Tischen,
Stühlen und Särgen, sowie mit Reparaturarbeiten an land-
wirtschaftlichen Geräthen befasste. Auch in einem ande-
ren Falle, in welchem ein Unternehmer neben einer Zim-
merei — dem Hauptbetriebe — ein Holzhandlungs- und
Holzverarbeitungsgeschäft betrieb, ist die zuständige Bau-
gewerks-Berufsgenossenschaft zur Entschädigung eines Un-
falls verurtheilt worden, den ein Arbeiter des Betriebes bei
dem Verladen von Holz erlitten hatte, ohne das festgestellt
zu werden brauchte, ob das verladene Holz für die Zim-
merei oder das an sich nicht versicherungspflichtige Holz-
geschäft bestimmt war. Endlich ist die Versicherungsan-
stalt der zuständigen Baugewerks-Berufsgenossenschaft als
entschädigungspflichtig für einen Unfall erklärt worden,
welchen ein selbstversicherter Baugewerbetreibender (Mau-
rer), der nach Ortsgebrauch auch das Reinigen von Schorn-
steinen übernahm, bei der letzteren Thätigkeit erlitten hatte,
obwohl diese für sich allein die Heranziehung zur Selbst-
versicherung nicht begründet haben würde.
Die Kranken- und Sterbekasse des schweizerischen
Grütlivereins im Jahre 1891. Die Centralverwaltung der
Kranken- und Sterbekasse des schweizerischen Grütliver-
eins veröffentlicht soeben ihren Bericht für 1891. Die Mit-
gliederzahl Ende 1891 beträgt 7304 und hat um 82 zu-
genommen. Die Gesammteinnahmen beider Kassen be-
laufen sich auf 140 647 Frcs., die Ausgaben auf 134 171 Frcs
Das Vermögen derselben beträgt 112 495 Frcs Die beiden
Kassen haben bis Ende 1891 an Unterstützungen im Ganzen
nicht weniger als 1225 984 Frcs. ausbezahlt. Seit einem
Jahre sind sämmtliche Sektionen in Zensorenkreise einge-
theilt und wurden nach den Zensorenbefunden die Sektio-
nen dies Jahr zum erstenmal im gedruckten Bericht bezüg-
lich ihres Haushalts klassifizirt und zwar in vier Kategorien :
1. sehr gute Ordnung, 2. gute Ordnung, 3. ziemlich gute
Ordnung und 4. ungenügende und mangelhafte Ordnung.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung
Entwurf eines Wohng-esetzes für das Grossherzog-
thum Hessen. Bei der Centralstelle des Grossherzogthums
Hessen befindet sich nach halbamtlichen Nachrichten ein
Gesetzentwurf zum Schutze des gesunden Wohnens in Be-
arbeitung, in welchem besonderer Nachdruck auf ein mög-
lichst weitgehendes Recht der Wohnungsinspektion seitens
der Regierungsorgane gelegt wird. Für Schlafstellen soll
und für ganze Miethswohnungen kann ein Mindestluftraum
von 10 Kubikmeter auf den Kopf der Bewohner verlangt
werden. Vermiether kleiner Wohnungen und Schlafstellen
sollen verpflichtet sein, vor der ersten Vermiethung die
Zahl und Beschaffenheit der Miethsräume genau anzugeben
und bei jeder Veränderung in der Person des Miethers, des
Vermiethers oder der Zahl der gesondert zu vermiethenden
Räume Anzeige zu erstatten, damit die Polizei sofort in der
Lage ist, sofern den Bestimmungen der Wohnungshygiene
zuwider gehandelt wird, einzugreifen, Die „Dtsch. Bztg.“
hält solche Bestrebungen für sehr dankenswerth, verhehlt
sich aber nicht, dass sie mehr für Städte mittleren Um-
fanges, nicht aber für Grossstädte genügen, wo die Intensi-
tät der Ansiedlung, die Steigerung der Miethspreise und die
Ausnutzung der Wohnungen sich in ihrer ganzen Schärfe
zeigen. Nichtsdestoweniger hält sie aber, bis die Frage
der Besserung der Wohnungsverhältnisse der untersten
Klassen eine Lösung gefunden, ein Gesetz, wie das be-
sprochene, vorläufig für geeignet, einen wohlthätigen Ein-
fluss aut das physische Wohlbefinden der unteren Klassen
auszuüben.
Die preussische Regierung und die Wohnungsfrage in
der Staatseisenbahn-V erwaltung. Ueber die Absichten der Re-
gierung, die Wohnungs Verhältnisse der Arbeiter und unteren
Beamten der Staatseisenbahnen zu verbessern, verbreitet die
nachfolgende Ausführung des Reichsanzeigers vom 13. d Mts.
einige Aufklärung. Dieselbe lautet: Wenngleich die Staats-
eisenbahn-Verwaltung dem vielfach, insbesondere in grossen
Städten und in den Industriegebieten, bestehenden Mangel an
billigen und gesunden Wohnungen für die Arbeiter und unteren
Beamten, soweit es die Lage der Staatsfinanzen gestattet, wenig-
stens da, wo dieser Mangel besonders fühlbar ist, nach Möglich-
keit abzuhelfen bestrebt ist, so ist doch unter den gegenwärtigen
Verhältnissen eine umfangreichere Verwendung staatlicher
Mittel für die Erbauung von Miethswohnungen für Arbeiter und
untere Beamte nicht angängig. Es entsteht deshalb die Frage,
ob nicht den bestehenden Bedürfnissen etwa noch auf andere
Weise Rechnung getragen werden kann. Die anerkennens-
werthen Einrichtungen und Erfolge des Spar- und Bauvereins
in Hannover sowie die von ähnlichen Baugenossenschaften er-
zielten günstigen Erfolge zeigen, dass auf diesem Wege bei
zweckmässiger Organisation und gewissenhafter, sachverständi-
ger Verwaltung für Arbeiter und untere Beamte erheblicher
Nutzen erzielt werden kann, umsomehr, wenn es den Bauge-
nossenschaften gelingt, die neben den Einzahlungen ihrer Mit-
glieder etwa noch erforderlichen Kapitalien zu massigem Zins-
fusse und unter weiteren wünschenswerthen Erleichterungen von
soliden Instituten zu beschaffen. Bei der Staatseisenbahn -Ver-
waltung ist ein solches Institut in der Pensionskasse für die
Arbeiter vorhanden. Die Satzungen dieser Kasse enthalten im
§ 73 Absatz 5 die Bestimmung, dass ein Theil des Kassenver-
mögens mit Genehmigung des Ministers der öffentlichen Ar-
beiten in Grundstücken, durch Bau oder Erwerb von Arbeiter-
wohnungen u. s. W. angelegt werden kann. Diese Bestimmung
entspricht der bei den Berathungen des Invaliditäts- und Alters-
versicherungsgesetzes in den Motiven und in den Erklärungen
| der Vertreter der verbündeten Regierungen kundgegebenen Ab-
sicht, die Anlegung eines Theiles des Vermögens der Invalidi-
täts- und Altersversicherungsanstalten in gemeinnützigen LTnter-
nehmungen zum Wohle des Arbeiterstandes, insbesondere in
der Erbauung von Arbeiterwohnhäusern zuzulassen und zu
fördern. Wenn es auch zur Zeit nicht räthlich erscheint, die
Geschäfte der Arbeiter-Pensionskasse durch Erbauung und Ver-
waltung von Miethswohnungen in grösserem Umfange und an
verschiedenen Orten zu belasten, so hat der Minister der öffent-
lichen Arbeiten es doch für angezeigt erachtet durch den Vor-
stand der Kasse die Frage erörtern zu lassen, ob nicht ein
mässiger Theil der bereits jetzt mehr als 22 Millionen
Mark betragenden, stetig wachsenden Bestände der Kasse für
den in Rede stehenden Zweck und somit auch in erster Reihe
wiederum zum Wohle eines Theils der Kassenmitglieder selbst
dadurch nutzbar gemacht werden kann, dass daraus an solche
Baugenossenschaften, die, ausschliesslich oder überwiegend aus
Bediensteten der Staatseisenbahn -Verwaltung bestehend, sich
mit der Herstellung billiger und gesunder Wohnungen für ihre
Mitglieder befassen, Kapitalien gegen massigen Zmsfuss ver-
liehen werden. Der Kassenvorstand hat in Anerkennung des
guten Zwecks durch einstimmigen Beschluss seine Bereitwillig-
keit zur Förderung derartiger gemeinnützer Anstalten zu er-
kennen gegeben. Der Minister hat auf Grund dessen die könig-
lichen Eisenbahndirektionen beauftragt, geeignetenfalls nach
Einforderung von Gutachten der Arbeiterausschüsse, der Be-
zirksausschüsse, der Arbeiter-Pensionskasse oder anderer Ver-
tretungen von Arbeitern und unteren Beamten zu erwägen, in-
wieweit in ihren Bezirken ein besonderes Bedürfniss zur Ver-
besserung der Wohnungsverhältnisse des unteren Dienstpersonals
vorliegt, sowie ob und inwieweit die Voraussetzungen für die
Bildung lebensfähiger Baugenossenschaften und für deren ge-
deihliche Wirksamkeit vorlianden sind. Werden nach vorsich-
tiger Abwägung aller Verhältnisse die nöthigen Bedingungen
erfüllt, so liegt es, wie der Minister in einem Runderlass vom
2. August sich ausgesprochen hat, im Interesse des Dienstper-
sonals als auch der Verwaltung, dass die Behörden — nöthigen-
faffls nach Benehmen mit dem Vorstand der Arbeiter-Pensions-
kasse — in geeigneter Weise die Bildung von Baugenossen-
schaften nach nachahmenswerthen Mustern anregen und fördern.
Dass auf diesem Gebiete nur allmählich und schrittweise vor-
gegangen werden kann, versteht sich von selbst. Der Minister
hat diese wichtige Frage der besonderen Aufmerksamkeit der
königlichen Eisenbahndirektionen empfohlen und bis zum 15. Ja-
nuar k Js. Bericht über die erzielten Erfolge und gewonnenen
Erfahrungen eingefordert.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
426
ANZEIGEN.
No. 34.
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3« ^Berlin bei freier gufenbung . „ i,—
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J.@nttenfail, Verlagsbucfjljaiibluiig in 'Berlin.
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o. b. Vrofeffor für Staatsredjt unb ©eutidjes 3lec&t
urt ber llniberfität ffreiburg i. Vr.
Breis 1 Mark.
|nfalli!£ifi(i|frni![js8CiE|
oom 6. Juli 1884
ltnb
®e|e| fiter Me |nstelinunfl ter
ilnfiill-u.|raiiteiiüErfi(ljErun0
oom 28. ÜDai 1885.
Das
ÖSTERREICHISCHE STAATSRECHT
(Verfassungs- und Verwaltungsrecht).
Ein Lehr- und Handbuch
von
Dr. Ludwig Gumplowicz,
Professor in Graz.
$e£t=2lu£>gabe mit Slnmerhtngen
unb ©adjregifter
0011
( E . ü. IDuetJfke,
ß'aifcvl. ©clj. Dber=9tegierung3rat[). uovtvag. :H,itl) im 'Heid)!,
amt be-3 Jtmievn.
liierte ucrntcl) rtc 'Kurtage.
$£af<!jenformat, c a r t o n n i r t.
41 Bogen. 8°. Preis broschirt io Mark.
Beeis 2 Blark.
Der Mangel einer Gesammtdarstelluiig des österreichischen .Staatsrechtes hat sich in den
letzten Jahren insbesondere in Folge einschneidender Umgestaltungen und Neubildungen auf dem
Gebiete des österreichischen Verwaltungsrechtes nicht nur in Kreisen der Studirenden, sondern
auch aller derjenigen, die am öffentlichen Leben theilnehmen, fühlbar gemacht. Es sei nur
darauf hingewiesen, dass seit den jüngsten Neuregelungen des Militärrechtes, des Gewerberechtes,
des Arbeiterschutzrechtes noch keine Gesammtdarstellung des österreichischen Staatsrechtes, welche
dieselben berücksichtigen würde, erschienen ist und dürfte daher obiges Werk den interessirenden
Kreisen gewiss willkommen sein.
Hugo Frankel,
A ntiquariat fürRechts-u.Staatswissenschaft,
Berlin N. 24, Elsasserstr. 36,
empfiehlt sich zur Beschaffung aller in sein
Specialfach einschlagender Literatur.
Verantwortlich für den Anzeigentheil • O. Schuchardt in Berlin,
Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 29. August 1892.
Nummer 35
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespalte-ie
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHAL T
Zum Verfahren i n U n f a 1 1 - Ent-
schädigungssachen.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirthschaftsstatistik:
Die deutschen Erwerbs- und Wirth-
schaftsgenossenschaften im Jahre
1891. Von Dr. Hans Crüger.
Staatsmonopole.
Unentgeltliche Beerdigung in der
Schweiz.
Die Schweiz als Versuchsfeld für
Volkswirthschaft und Sozial-
politik.
Arbeiterzustände:
Die niedrigsten und die höchsten
ortstiblichenTagelöhne inDeutsch-
land. Von Dr. E. Lange.
Löhne in Stuttgart.
Statistik der Arbeitslosigkeit in
Frankreich.
Zur Lage der englischen Arbeiter.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Ende der Hamburger Braueraus-
sperrung.
Kontrollmarke der Friseure.
Zum Aufruhr in Homestead.
Politische Arbeiterbewegung:
Sozialistische Kongresse.
Ein Vertreter der Arbeiter in der
Regierung von Zürich.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Sonntagsruheverordnung für das I
Handelsgewerbe im Hamburgi-
schen Staate.
Die Sonntagsruhe in München.
Die französischen Arbeitsräthe.
Zur Frage des Achtstundentages
in England.
Das Achtstundengesetz in den
Vereinigten Staaten.
Arbeiterversicherung:
Zur Ausdehnung der deutschen
Unfallversicherung auf das Hand-
werk, Seefischerei u. s. w.
Zur Reform der deutschen Unfall-
versicherung,
Die Berufsgenossenschaften und
die Unfallverhütung.
Die eingeschriebenen Hilfskassen
und die Krankenkassennovelle.
Wolmungszustände und Woli-
nungsgesetzgebung :
Regelung des Schlafstellen Wesens
in Frankfurt a. M.
Soziale Hygiene:
Sanitätspolizeiliche Revisionen in
Wien.
Die Cholera und die Wohnungs-
verhältnisse in St. Petersburg.
Das Stehen der Pferdebahnkutscher
und Schaffner.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Zum Verfahren in Unfall-Entschädigungs-
sachen.
Als seiner Zeit die Frage erörtert wurde, — entschieden
war sie freilich an massgebender Stelle bereits, ehe sie zur
Erörterung gestellt wurde — , ob der den Arbeitern zuge-
dachte verstärkte Schutz gegen die Folgen von Betriebs-
unfällen ihnen durch eine Erweiterung und theilweise Um-
gestaltung der Haftpflicht oder in Form einer öffentlich-
rechtlichen Zwangsversicherung gewährt werden sollte, da
wurde mit besonderer Vorliebe der Satz verfochten, die
Häftpflichtprozesse müssten beseitigt werden, weil sie einer-
seits das Verhältniss zwischen Arbeitgeber und Arbeiter
vergifteten, andererseits in ihrem schleppenden Rechtsgange
dem Arbeiter keine Garantie dafür zu bieten vermöchten,
dass er mit der nothwendigen Promptheit und Beschleuni-
gung in den Besitz der ihm gebührenden Entschädigung
gelange. Wir haben von diesem Argument nie sonderlich
viel gehalten — schon deshalb nicht, weil es sich über-
haupt nicht gegen das bekämpfte Prinzip, sondern nur
gegen einzelne, doch keinesfalls davon untrennbare Mängel
richtet. Das, was das Verhältniss zwischen Unternehmer
und Arbeiter vergiftet, ist zudem offenbar nicht der Pro-
zess, sondern was demselben vorausgegangen ist und ihn
nothwendig gemacht hat. Freilich steht jetzt dem Arbeiter
nicht mehr der einzelne Arbeitgeber, sondern eine Ge-
nossenschaft von Unternehmern gegenüber. Das ist ganz
gewiss ein Unterschied, und kein kleiner; aber es ist ein
Unterschied, für den man bei dem Arbeiter ein besonderes
Verständniss nicht voraussetzen darf. Er muss dadurch in
dem Gefühl nur bestärkt werden, dass er nicht nur den
einzelnen Arbeitgeber, sondern den Stand der Unternehmer
als Gegner sich gegenüber habe, und dass das gerade dazu
beitragen solle, ihn der Verbitterung weniger zugänglich
zu machen, wird man ebensowenig erwarten dürfen, als
man von dem Arbeiter biiligerweise verlangen kann, dass
er den ihr von dem Genossenschaftsvorstande ertheilten
Bescheid als ein unparteiisches richterliches Urtheil und
nicht vielmehr als die Erklärung seines Prozessgegners auf-
fasse. Und die Dauer der Entschädigungsprozesse, — von
der wollten wir eben hier sprechen.
Das Reichsversicherungsamt veröffentlicht alljährlich
in seinem Geschäftsbericht auch eine auf den amtlichen
Berichten der Schiedsgerichtsvorsitzenden und seinen
eigenen Erfahrungen beruhende Uebersicht über die Er-
gebnisse der Rechtsprechung in Unfallsachen. Dieselbe
enthält zwar keine Angaben über die Dauer der einzelnen
Prozesse, lässt aber auch hierauf einige Schlüsse zu. Wir
ersehen daraus, dass von den im Laufe eines Jahres an-
hängig gemachten Berufungen regelmässig V4 bis 1/3 uner-
ledigt in das zweite Jahr übernommen werden. Vorausge-
setzt, dass sich die Berufserhebungen, wie das ja auch bei
den Unfällen zutrifft, einigermassen gleichmässig über das
ganze Jahr vertheilen, wird man sonach die durchschnitt-
liche Dauer der Berufungsinstanz auf 3 bis 4 Monate anzu-
nehmen haben. Allermindestens derselbe Zeitraum muss,
da ja die Entschädigungspflicht der Berufsgenossenschaft
erst 3 Monate nach dem Unfälle beginnt, wenn man selbst
die prompteste Erledigung bei den Organen der Berufsge-
nossenschaft voraussetzt, zwischen dem Unfall und der Be-
rufungserhebung liegen. Es ist also schwerlich eine zu un-
günstige Annahme, wenn man den Zeitraum zwischen dem
Unfall und dem Erlass des Berufungsurtheils auf etwa acht
Monate im Durchschnitt schätzt. Von den erhobenen Re-
kursen gelangen stets ein starkes Drittel bis zur Hälfte un-
erledigt ins folgende Jahr, und einige wenige werden erst
428
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 35.
im zweitfolgenden Jahre durch Urtheil entschieden. Man
kann also die durchschnittliche Dauer der Rekursinstanz
ohne grossen Fehler auf 6 bis 8 Monate schätzen. Das er-
giebt für die Dauer eines durch alle Instanzen gehenden
Entschädigungsprozesses, vom Tage des Unfalls bis zum
Tage des endgültigen Rekursurtheils einen durchschnitt-
lichen Zeitaufwand von 1 xji Jahren. Vergleichen wir in
den Rekursentscheidungen, soweit sie einen ersten Fest-
stellungsbescheid betreffen, das Entscheidungsdatum mit
dem Datum des Unfalls, so werden wir das im Allgemeinen
bestätigt finden. Weniger als ein Jahr beträgt die Zeit-
differenz nur in seltenen Fällen, dagegen mitunter, zumal
wenn eine erhebliche Beweisaufnahme in der Rekursinstanz
für erforderlich erachtet worden ist, viel mehr.
Das scheint uns eine recht lange Zeit, und es ist ein
ungenügender Trost, wenn man uns versichern wollte, dass
es früher im ordentlichen Gerichtsverfahren noch länger
gedauert habe. Es handelt sich in allen diesen Streitsachen
um nicht der absoluten Ziffer nach, wohl aber für den
Unterhalt des verunglückten Arbeiters und seiner Familie
sehr erhebliche und wichtige Beträge. Hat man auch die
Nothwendigkeit, für die Entscheidung solcher Streitsachen
ein kurzes und promptes Verfahren einzuführen, unzweifel-
haft erkannt, so zeigt doch der Erfolg, dass man das, was
man wollte, doch nur sehr unvollkommen erreicht hat. Der
Zeitpunkt, in welchem die Revision der Unfallversicherungs-
gesetze offiziell auf die Tagesordnung gesetzt ist, erscheint
wohl geeignet, auch diese Frage einmal zu besprechen.
Die ersten 3 Monate nach dem Unfall bleiben natür-
lich ausser Betracht. Dass alsdann die Genossenschafts-
organe unverzüglich den Rentenfeststellungsbescheid er-
lassen, und sofern das einmal nicht alsbald möglich sein
sollte, von dem gerade für diesen Fall erfundenen Auskunfts-
mittel der vorläufigen, inappellabel!! Rentenbewilligung Ge-
brauch machen, ist nur ihre Pflicht und kann im Wege der
Aufsicht erzwungen werden. Eine Durchschnittsdauer von
3 bis 4 Monaten für die Berufungsinstanz ist zwar nicht
gerade wünschenswert!!, aber immer noch erträglich; wo
sie überschritten wird, lässt sich durch Vermehrung der
Schiedsgerichte und Verkleinerung der Schiedsgerichtsbe-
zirke im Rahmen des Gesetzes Abhilfe schaffen. Der
Hauptmangel liegt in der Verzögerung in der Rekursinstanz,
das heisst in der Ueberlastung des Reichsversicherungsamts.
Dass eine solche Ueberlastung vorhanden ist, lässt sich
ebensowenig bestreiten, als dass ihr nicht rein mechanisch
durch Vermehrung des Personals und der Senate abge-
holfen werden kann. Wenigstens kann das nicht geschehen,
ohne das Reichsversicherungsamt immer mehr zu einer
Riesenbehörde anschwellen zu lassen und ihm von seiner
Eigenart immer mehr zu nehmen. Sonach sehen wir keinen
anderen Weg zu einer wirklichen Entlastung als eine Ab-
änderung der Kompetenz.
Dem Gegenstände nach lassen sich die Entschädi-
gungsprozesse in zwei grosse Gruppen scheiden: in solche,
bei welchen die Pflicht zur Entschädigung, und in solche,
bei welchen nur die . Höhe der Entschädigung streitig ist.
Der ersteren Gruppe haben nach den Geschäftsberichten
des Reichsversicherungsamts im Jahre 1889 von 1503 Re-
kursen 368, 1890 von 1748 Rekursen 537, 1891 von 2888 Re-
kursen 886, also im ersten Jahre nicht ganz 25 pCt., in den
beiden letzten Jahren etwas über 30 pCt. angehört. Dabei
handelt es sich also um die Fragen: ob ein Betriebsunfall
vorliegt? ob ein Kausalzusammenhang zwischen Unfall und
Erwerbsunfähigkeit bezw. Tod vorliegt? ob der Kläger eine
versicherungspflichtige Person ist? ob die beklagte Berufs-
genossenschaft die entschädigungspflichtige ist? In allen
übrigen, der grossen Mehrzahl der Fälle war nur streitig,
in welcher Höhe oder in welcher Form die Entschädigung
zu gewähren sei. Wollte man sich nun entschliessen, diese
Fälle, bei denen es sich überwiegend nur um Beurtheilung
thatsächlicher Verhältnisse handeln kann, dem Reichsver-
sicherungsamt abzunehmen, so wäre der Zweck der Ent-
lastung mit einem Schlage erreicht. Allerdings kann es sich
auch hier einmal um wichtige Prinzipien- und Rechtsfragen
handeln, und es müsste daher zur Wahrung der Rechtsein-
heit ein ausserordentliches Rechtsmittel, etwa nach Art der
Revision in Invaliditäts- und Altersversicherungssachen, offen
gelassen werden. Immerhin würde aber die Hälfte der
Spruchsachen von den Termins Verzeichnissen des Reichs-
versicherungsamts verschwinden, und die dadurch erzielte
Zeitersparniss könnte der prompten Erledigung der ver-
bleibenden wichtigen Fälle zu gute kommen.
Natürlich wünschen wir nicht, dass in den Streit-
sachen über die Höhe der Renten die Entscheidungen der
Schiedsgerichte endgiltig sein sollen. Im Gegentheil, wir
halten es für ungerechtfertigt, dass gegenwärtig die Urteile
über Entschädigung für vorübergehende Erwerbsunfähig-
keit, über Ersatz der Kur- und Begräbniskosten durch
kein Rechtsmittel angefochten werden können. Auch diese
Sachen sind für den Arbeiter wohl wichtig genug, dass
man ihm noch eine zweite richterliche Instanz eröffnen
sollte. Es kann sich sonach nur um die Errichtung von
j Mittelinstanzen handeln. Und die Ansätze dazu haben wir
bereits in den Landesversicherungsämtern, mag man nun
diesen Namen beibehalten oder einen anderen wählen. Dass
die Landesversicherungsämter, wenn auch nur fakultativ,
neben dem Reichsversicherungsamt mit völlig koordinirter
Kompetenz für die über das Landesgebiet nicht hinaus-
gehenden Berufsgenossenschaften zugelassen worden sind,
wird Jeder, der die Rechtseinheit und Rechtssicherheit
obenan stellt, wo nicht für einen Fehler, so doch für ein
recht gewagtes Experiment halten müssen, und er wird sich
bestenfalls freuen dürfen, dass dasselbe keinen besonderen
Schaden angerichtet hat. Nimmt man ihnen dagegen die
Zuständigkeit in den Sachen, welche dem Reichsversiche-
rungsamt vorzubehalten sind, und überträgt ihnen dagegen
die Rechtsprechung in jenen minder wichtigen Fällen —
vorbehaltlich der Revision an das Reichsversicherungsamt
wegen Rechtsverletzung — , so werden sie wesentlich zur
Beschleunigung des Verfahrens beitragen, ohne die Rechts-
sicherheit zu gefährden. Denn um festzustellen, um wieviel
Prozent Jemand durch einen Unfall in seiner Erwerbsfähig-
keit geschmälert ist, oder wie hoch sein Jahresarbeitsver-
dienst gewesen ist, dazu braucht man wahrlich die Akten
nicht jedesmal nach Berlin zu senden — immer voraus-
gesetzt, dass ein oberster Revisionsgerichtshof über die
allgemeine Anwendung der leitenden Rechtsgrundsätze
wacht.
Wir werden uns freilich bescheiden müssen, dass so
eingreifende Abänderungsvorschläge wenig Aussicht auf
Verwirklichung haben. Denn bereits ist die Parole aus-
gegeben, dass bei der Revision der Unfällversicherungs-
gesetze die Grundlage der Organisation unangetastet bleiben
soll, — eine Enthaltsamkeit, die uns freilich übel ange-
bracht scheint, wo die gemachten Erfahrungen eine so
deutliche Sprache reden. So wollen wir denn noch einen
anderen Punkt berühren, der der Abhilfe noch dringender
bedarf, und wo dieselbe ohne organisatorische Aenderungen
gewährt werden kann.
Es kommt nicht ganz selten vor, dass es zweifelhaft
ist, welche von mehreren Berufsgenossenschaften für einen
Unfall aufzukommen hat, während darüber, dass für den-
selben eine Entschädigung zu gewähren ist, gar kein Streit
besteht. Das ist für den Verletzten allemal ein arges Di-
lemma. Wirklich geholfen könnte ihm nur werden durch
Eröffnung eines Verfahrens, in welchem alle betheiligten
No. 35.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
429
Berufsgenossenschaften als Partei auftreten, und daher eine
Entscheidung erlangt werden kann, welche derselben zah-
lungspflichtig ist. Diese Hilfe ist durch dieberufsgenossen-
schaftliche Organisation geradezu ausgeschlossen. Das
Feststellungsorgan und die schiedsgerichtliche Instanz sind
nur für eine bestimmte Berufsgenossenschaft zuständig; es
ist garnicht möglich, eine fremde Berufsgenossenschaft als
Prozesspartei bei dem Verfahren zu betheiligen. Dem Ver-
letzten ist es also überlassen, die mitunter recht schwierige
Wahl zu treffen, gegen welche Berufsgenossenschaft er
seinen Anspruch verfolgen will. Die Entscheidung kann
daher auch immer nur dahin ergehen, dass die beklagte
Berufsgenossenschaft zur Entschädigung verpflichtet oder
nicht verpflichtet sei. Das Reichsversicherungsamt kommt
dem Kläger soweit entgegen, als es kann, indem es die
andere Berufsgenossenschaft oder Berufsgenossenschaften,
deren Entschädigungspflicht eventuell in Frage kommen
kann, als Beigeladene zuzieht und die Frage vollständig in-
struirt. Verurtheilen aber kann es die beigeladene Berufs-
genossenschaft nicht, muss vielmehr in solchem Falle auf
Abweisung der Klage gegen die beklagte Genossenschaft
erkennen. Zwar weiss dann die entschädigungspflichtige
Berufsgenossenschaft, was ihr bevorsteht, und es ist anzu-
nehmen, dass sie nunmehr ohne weiteres den Verletzten
befriedigen wird. Aber sicher ist das doch keineswegs,
und mindestens ein Streit über die Höhe der Entschädigung-
nach sehr wohl möglich. Es können aber auch wohl neue
Momente hervortreten, auf Grund deren die Entschädigungs-
pflicht einer dritten Berufsgenossenschaft bewiesen oder
wenigstens behauptet wird. Uebrigens kommen auch Fälle
vor, in welchem das abweisende Rekursurtheil die Frage,
welche von zwei anderen Berufsgenossenschaften zur Ent-
schädigung verpflichtet sei, als im vorliegenden Verfahren
nicht zu entscheiden, ausdrücklich offen lässt. Kurz, — es
kann Vorkommen, dass erst nach vollständiger Durchfüh-
rung von zwei oder gar drei Feststellungsprozessen der
Verletzte eine endgiltige, seine Ansprüche anerkennende
Entscheidung erzielt hat, während doch darüber, dass er
Entschädigung zu erhalten habe, von vorneherein gar kein
Streit waltete. Ja, es kann Vorkommen, dass die anschei-
nend reichlich bemessene zweijährige Verjährungsfrist doch
nicht ausreicht, dem Arbeiter, der sich zweimal gegen eine
unrichtige Berufsgenossenschaft gewendet hat, in seinem
Anspruch gegen die dritte, wirklich entscheidungspflichtige
zu schützen. Man wird nun sagen, so muss er vorsichtiger-
weise gleichzeitig bei beiden Berufsgenossenschaften seinen
Anspruch anmelden. Den Rath kann er aber offenbar nur
befolgen, wenn er selber im Zweifel darüber ist, welcher
derselben die Entschädigungspflicht zufällt. In den meisten
Fällen wird er aber darüber garnicht zweifelhaft sein, son-
dern vollkommen sicher zu sein wähnen und erst aus dem
Urtheilsspruch ersehen, dass er sich getäuscht hat. Aber
wenn er sich nun auch an beide Berufsgenossenschaften
wendet, so ist der gewöhnliche Verlauf, dass beide den An-
spruch ablehnen, weil jede natürlich die andere für ent-
schädigungspflichtig erachtet, und dass in der Berufungs-
instanz das eine Schiedsgericht in der Sache verhandelt
und entscheidet, das andere hingegen durch Beschluss die
Verhandlung bis zur rechtskräftigen Entscheidung der
schwebenden Sache aussetzt. Will es nun das Unglück,
dass der Kläger zuerst die Unrechte Berufsgenossenschaft
erwischt hat, so wird er an Zeit nicht gerade viel ge-
wonnen, immerhin sich aber gegen die Verjährung seines
Anspruchs geschützt haben, - — es sei denn, dass sich im
Verlaufe des Prozesses erst herausstellt, dass eine dritte
Berulsgenossenschaft, an die er garnicht gedacht hat, die
eigentlich entschädigungspflichtige ist.
Abhilfe scheint uns hier dringend geboten, und sie
kann nicht ohne eine Aenderung der Bestimmungen über
das Verfahren geboten werden. Wollte man, wie vorhin
befürwortet, rechtsprechende Instanzen mit territorialer,
nicht berufsgenossenschaftlicher Zuständigkeitsabgrenzung
errichten, so wäre es ja ein Leichtes, ihnen in diesen Fällen
die Entscheidung in der Berufungsinstanz zwischen dem
Entschädigungsberechtigten und allen betheiligten Berufs-
genossenschaften zu übertragen. Will man das nicht, so
werden allerdings die Prozesse bis zur Rekursinstanz ge-
trennt geführt werden müssen. Aber man kann dann
wenigstens Vorsorge treffen, dass sie gleichzeitig und ohne
Zeitverlust geführt werden, und man kann von dem ge-
schäftsunkundigen Arbeiter nicht verlangen, dass er durch
seine Erklärungen und Anträge ihren Lauf dirigire. Was
wir fordern, ist also: ein möglichst kurzes Verfahren von
Amts wegen. Dazu bedürfte es etwa folgender Bestim-
mungen: Eine Berufsgenossenschaft, welche die geforderte
Entschädigung aus dem Grunde ablehnt, weil sie eine
andere Berufsgenossenschaft an ihrer Stelle für entschädi-
gungspflichtig erachtet, ist mit diesem Einwande nur dann
zuzulassen, wenn sie in ihrem ablehnenden Bescheide zu-
gleich die für entschädigungspflichtig erachtete andere Be-
rufsgenossenschaft bezeichnet und derselben Abschrift des
Bescheides zugestellt hat. Auf Grund dieser Abschrift hat
sich die zweite Berufsgenossenschaft alsbald von Amts
wegen über ihre Entschädigungspflicht schlüssig zu machen.
Die Berufungen gegen die so erlassenen Bescheide sind,
unabhängig von einander, in thunlichster Beschleunigung
zur schiedsgerichtlichen Entscheidung zu bringen. Dabei
hat jede Berufsgenossenschaft das Recht, sich in der Ver-
handlung vor dem Schiedsgericht der anderen Berufsge-
nossenschaft durch einen Kommissar vertreten zu lassen,
um über den Verlaut des Verfahrens stets orientirt zu
bleiben. Erkennt eine der Berufsgenossenschaften ihre Ent-
schädigungspflicht an oder beruhigt sich bei einem sie ver-
urtheilenden schiedsgerichtlichen Erkenntniss, so sind damit
auch die übrigen Verfahren erledigt, und soweit noch etwa
Rechtsmittel schweben , und die Klage nunmehr nicht
zurückgenommen wird, durch motivirtem Beschluss einzu-
stellen. Anderenfalls hingegen werden sämmtliche Prozesse
in der Rekursinstanz zusammengefasst und durch einen
Richterspruch endgiltig entschieden.
Auf dieser Grundlage Hesse sich eine Reform unseres
Erachtens unschwer durchführen und damit ein bedenk-
liches Hinderniss aus dem Wege räumen, dass dem Arbeiter
die Verfolgung seines Rechts erschwert.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Die deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossen-
schaften im Jahre 1891.
Mit Recht hat Schulze-Delitzsch zu seiner Zeit die
Genossenschaften als „Innungen der Zukunft“ bezeichnet;
die Erfahrung hat es bestätigt, dass „es durchaus vergeblich
ist, durch die Gewerbegesetzgebung von aussen wieder ein
Leben in das alte Zunftwesen hineinbringen zu wollen,
welches nicht aus der inneren Kraft des Organismus selbst
hervorquillt. . . .“
Die von Schulze-Delitzsch begründeten Genossen-
schatten stehen auf dem Boden der heutigen Wirthschafts-
ordnung und bezwecken, den wirthschaftlich Schwachen
die Vortheile der modernen wirthschaftlichen Entwickelung
zugänglich zu machen. Die Vereinigung dieser Genossen-
schaften erfolgte im Jahre 1859 durch die Begründung eines
430
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 35.
Verbandes der Genossenschaften, des heute aus rund 1500
Genossenschaften bestehenden Allgemeinen Verbandes der
deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften, und
es steht wohl ausser Zweifel, dass diese Organisation nicht
zum geringsten Theile zu den Erfolgen beigetragen hat,
welche die deutschen Genossenschaften errungen haben.
Ein grosses Verdienst dieses Verbandes ist, dass dessen
Anwalt (seit Schulze- Delitzsch's Tod (1883) Reichstagsab-
geordneter F. Schenck) jährlich eine Statistik über den
Bestand der Genossenschaften und deren Geschäftsresultate
herausgiebt, die für die Entwickelung der Genossenschaften
von grossem Werthe ist. Mit Recht wird diese Statistik
wegen ihrer sachgemässen und sorgfältigen Arbeit im
In- und Auslande geschätzt. Der Umfang und das tiefe
Eingehen dieses „Jahresberichtes“ in die Geschäftsverhält-
nisse der Genossenschaften ist aber um so höher zu achten,
als er auf freiwilligen Angaben der Genossenschaften
beruht. Keine Genossenschaft ist zu irgend einer Mitthei-
lung gezwungen, und doch finden wir u. A. darin die
Berichte von 1076 Kreditgenossenschaften, 302 Konsum-
vereinen.
Der „Jahresbericht für 1891 über die auf Selbsthilfe
gegründeten deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossen-
schaften von F. Schenck“ (Julius Klinkhardt-Leipzig, 1892)
bietet den Beweis für die Ausdehnung, die auch im ab-
gelaufenen Jahre das Genossenschaftswesen genommen hat.
Der Jahresbericht führt als am 31. Mai 1892 bestehend
8418 Genossenschaften (gegen 7608 im Vorjahre) auf. Wenn
sich unter diesen Genossenschaften auch einzelne befinden
mögen, die sich inzwischen aufgelöst haben, so sind die
Unrichtigkeiten doch jedenfalls nicht so bedeutend, um das
Gesammtbild zu beeinträchtigen. Da seit dem Genossen-
schaftsgesetz von 1889 sämmtliche Eintragungen in das
Genossenschaftsregister durch den „Reichsanzeiger“ ver-
öffentlicht werden müssen, ist die Kontrolle und Fortführung
jener Listen wesentlich vereinfacht.
LTnter den 8418 Genossenschaften befinden sich:
4401 Kreditgenossenschaften . . . gegen 3710 am 31. Mai 1891,
2840 Rohstoff-, Magazin-, Werk-, Pro-
duktivgenossenschaften ... ,, 2664 „ „ ,. „ ,
1122 Konsumvereine „ 984 ,, ,, „ „ ,
55 Baugenossenschaften .... ,, 50 ,, ,, ,, „ .
Nur 837 dieser Genossenschaften waren nicht einge-
tragene, sie stammen wohl ausschliesslich aus der Zeit, da
es noch kein Genossenschaftsgesetz gab, wenn auch dieses
Gesetz (anders als das österreichische) die Eintragung neu
begründeter Genossenschaften nicht obligatorisch macht.
Der Wunsch, Rechtspersönlichkeit zu besitzen und die sonst
mit der Unterstellung unter das Gesetz verbundenen Vor-
theile, hat diese fast ausnahmslos bei Neugründungen zur
Folge.
Von den übrigen Genossenschaften hatten 6506 die
unbeschränkte Haftpflicht, 1019 die beschränkte Haftpflicht
und 56 die unbeschränkte Nachschusspflicht.
In die Liste der Kreditgenossenschaften sind 533 neu
aufgenommen, 41 in Abgang gestellt.
Unter den neu errichteten Kreditgenossenschaften be-
finden sich nur 29 mit beschränkter Haftpflicht und 1 mit un-
beschränkter Nachschusspflicht ; von den älteren Genossen-
schaften sind nur 35 zur beschränkten Haftpflicht und 5 zur
unbeschränkten Nachschusspflicht übergegangen. Es ist
dies ein Beweis, wie übertrieben die Erwartungen waren,
die mit Bezug auf die Zulassung der beschränkten Haft-
pflicht durch das neue Genossenschaftsgesetz gehegt wur-
den. Die Erfahrung hat es bereits bestätigt, dass nur für
die Kreditgenossenschaften diese Haftpflicht genügt, welche
im Besitz eines zur Kreditbasis ausreichenden Vermögens
sind; seitens des sozial-reformatorischen Genossenschafts-
wesens des Freiherrn von Broich, das alles Heil von der Zu-
lassung der beschränkten Haftpflicht erwartete, ist eifrig für
die Gründung von Kreditgenossenschaften mit beschränkter
Haftpflicht agitirt worden, es sind auch eine Anzahl
solcher Genossenschaften entstanden, die sich dann aber
zum Theil bald wieder auflösen mussten, da sie auf dieser
Haftbasis nicht den nöthigen Kredit fanden. Daraus erklärt
sich nun auch die Klage der Leiter des sozial-reformatori-
schen Genossenschaftswesens über die angeblich den Ge-
nossenschaften von der Reichsbank gemachten Schwierig-
keiten; Kreditgenossenschaften mit unbeschränkter Haft-
pflicht haben im Gegentheil oft über Massregeln zu be-
rathen, wie sie den Geldzufluss abhalten, und sie sind im
Allgemeinen gerne gesehene Kunden der Reichsbank und
der Grossbanken.
Ueber das Vermögen von 10 Kreditgenossenschaften
ist 1891 der Konkurs eröffnet. In allen Fällen ist derselbe
darauf zurückzuführen, dass man in der Erfahrung bewährte
Grundsätze nicht befolgt und alle Warnungen unbeachtet
gelassen hat. Nicht die unbeschränkte Haftpflicht wird
jetzt die Mitglieder schädigen, sondern ihre Sorglosigkeit
und die Nichtachtung aller genossenschaftlichen Grund-
sätze.
Zu den Geschäftstabellen haben 1076 Kreditgenossen-
schaften berichtet mit 514 524 Mitgliedern, 1 14 484 504 M. Ge-
schäftsguthaben, 29 474 032 M. Reserven, 439 023 181 M. auf-
genommenen fremden Geldern. Die von diesen Genossen-
schaften gewährten Kredite beliefen sich auf 1 561 610 530 M.:
nämlich: 557316959 M. auf Vorschusswechsel, 352890036 M.
auf Diskonten, 91 396 840 M auf Schuldscheine, 13 698 082 M.
auf Hypotheken, 546 308 613 M. im Kontokurrentgeschäft.
Leider ist in diesem Jahre eine Vergleichung mit
früheren Jahren nicht angängig, da einige grössere Ge-
nossenschaften, die früher zu dieser Tabelle berichteten, in
diesem Jahre die Formulare nicht ausgefüllt haben und da-
her in der Zusammenstellung fehlen; die dafür eingetretenen
neuen Genossenschaften führen natürlich keinen Ausgleich
herbei. Die Vergleichung mit früheren Jahren würde daher
zu Resultaten führen, die der Wirklichkeit nicht entsprechen,
sie würde werthlos sein und zu falschen Folgerungen ver-
leiten.
Hoffentlich führt — wie in dem Jahresbericht ausge-
sprochen wird - die Erkenntniss des Werthes der Statistik
für die weitere Entwickelung und das Gedeihen der Ge-
nossenschaften diese Genossenschaften wieder zur Betheili-
gung zurück.
Uebrigens bezieht sich dieses Material nur auf Kredit-
genossenschaften nach dem System von Schulze-Delitzsch,
welche nicht einer bestimmten Berufsklasse dienen, sondern
Mitglieder aller Berufsklassen aufnehmen.
Die ältesten der berichtenden Kreditgenossenschaften
sind 1848 begründet (4), die meisten in den Jahren 1862
und 1 865.
Die grösste Mitgliederzahl hat der landwirthschaftliche
Kreditverein (e. G. m. u. H.) zu Augsburg: 11 211.
Das Verhältniss des eigenen Kapitals zu den fremden
Geldern beträgt 32,79 pCt., es hat sich um 0,72 pCt. gegen
Ende 1890 erhöht — ein erfreuliches Zeichen, wenn auch
natürlich hier wie überall Durchschnittszahlen einen nur
bedingten Werth haben, da einzelne Vereine eine grosse
Verschiebung herbeiführen können.
Den grössten Umsatz hat eine Genossenschaft mit
138 Millionen, den kleinsten Umsatz unter 6000 M. haben
zwei Genossenschaften.
Für gemeinnützige Zwecke sind 53 065 M. aufgewendet.
Der Bruttoertrag belief sich auf 31 169 460 M., die Unkosten
betrugen 6 250 859 M., die Verluste 1 237 653 M.
Dividenden wurden vertheilt von 0 — 30 pCt. ; der hohe
Satz ist stets auf ein sehr niedriges Verhältniss des eigenen
Kapitals zum fremden Gelde zurückzuführen.
Der Reingewinn betrug nach Abzug von Unkosten
und Verlust 8 840 489 M.
Ueber die Bewegung der Mitgliedschaft berichteten
1001 Kreditgenossenschaften mit 476 250 Mitgliedern; hier-
von entfielen u. a. auf selbständige Landwirthe, Gärtner,
Förster, Fischer 30,1 pCt.; selbständige Handwerker 27,4 pCt.;
Kaufleute, Händler 8,5 pCt.
Unter den „Genossenschaften in einzelnen Ge-
wer bsz w ei gen“ (Rohstoff-, Magazin-, Werk-, Produktiv-
genossenschaften) haben nur die der Landwirthschaft eine
No. 35.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
431
erhebliche Vermehrung erfahren, während bei den in-
dustriellen meist der alte Bestand geblieben ist.
Industrielle Rohstoffgenossenschaften bestanden 110
(1890: 110), landwirthschaftliche 1020(1890: 980) — gewerb-
liche Werkgenossenschaften 13 (1890: 8, die Erhöhung ist
zum Theil dadurch entstanden, dass Produktivgenossen-
schaften, die sich als Werkgenossenschaften herausgestellt,
in deren Listen übertragen wurden), landwirthschaftliche
299 (1890: 286) — gewerbliche Magazingenossenschaften 59
(1890: 61), landwirthschaftliche 7 (1890: 7) — gewerbliche
Produktivgenossenschaften 151, landwirthschaftliche (Mol-
kerei-, Winzer- u. s. w. Genossenschaften) 1087 (1890: 975).
Das zur Verfügung gestellte statistische Material war
leider wie in früheren Jahren nur sehr gering. Zu ihrem
eigenen Schaden sondern sich diese Genossenschaften von
allgemeinen Bestrebungen ab. Wir behalten uns vor über
diese Genossenschaften besonders zu berichten.
Die Konsumvereine nehmen trotz aller Anfein-
dungen an Zahl und Geschäftsumfang zu. Für ihre Ent-
wickelung ist die Einführung der beschränkten Haftpflicht
von grossem Nutzen. Es bestehen
640 (1890: 715) Konsumvereine mit unbeschränkter Haftpflicht,
469 (1890: 265) „ „ beschränkter ,
5 (1890: 4) „ „ unbeschränkter Nachschuss-
pflicht.
Neu begründet wurden 183 Vereine; 31 traten in
Liquidation; 9 geriethen in Konkurs.
Zur Statistik berichteten 302 Vereine mit 229 126 Mit-
gliedern, 4 461329 M. Geschäftsguthaben, 2 360 726 M. Re-
serven, 4 788 122 M. fremden Geldern, 63 292 875 M. Verkaufs-
notis; an Dividenden wurden gewährt 5 155 999 M. — Das
giebt eine Verzinsung der Geschäftsguthaben mit 115 pCt.
Die Ausstände für auf Kredit entnommene Waaren
betrugen 267 834 M., die Waarenschulden der Vereine
788 122 M. 134 Vereine hatten Grundbesitz, der mit
4 690 471 M. zu Buch stand. Für Bildungszwecke wurden
überwiesen 23 313 M. Ueber die Bewegung der Mitglied-
schaft berichteten 277 Konsumvereine mit 175 466 Mitglie-
dern, hiervon entfielen auf Fabrikarbeiter, Bergarbeiter
42,7 pCt. auf selbstständige Handwerker 14,3 pCt., auf
Aerzte, Apotheker etc. 8,5 pCt., Briefträger, untere Eisen-
bahn-, Telegraphen-, Postbeamte, Eisenbahnarbeiter, un-
selbstständige Schiffer, Kellner 7,5 pCt.
Von Baugenossenschaften enthält die Statistik
8 Geschäftsberichte, die zum Theil sehr günstig sind. Seit
einigen Jahren macht sich auf dem Gebiete der Bauge-
nossenschaften eine recht lebhafte Bewegung bemerkbar.
Der Jahresbericht für 1891 legt wie seine Vorgänger
wiederum Zeugniss ab von der regen Thätigkeit, welche
die Genossenschaften entwickeln. Doch das Feld, welches
sich ihrer Arbeit bietet, ist noch ein sehr weites. Insbe-
sondere wäre zu wünschen, dass die Handwerker sich nicht
länger der Erkenntniss verschliessen, dass die Gründung
von Rohstoff-Magazin- und Werkgenossenschaften, auch von
Produktivgenossenschaften für sie werthvoller ist als alles
Streben nach Befähigungsnachweis und obligatorischen In-
nungen.
Berlin. Hans Criiger.
Staatsinonopole. Der Kantonalverband glarnerischer
Griitlivereine beabsichtigt dem Vernehmen nach, an der
nächsten Delegirtenversammlung des schweizerischen Ar-
beiterbundes einen Antrag auf Einführung des staatlichen
Getreidemonopols zu stellen.
Hinsichtlich des Alkoholmonopols findet das Bei-
spiel der .Schweiz in Frankreich Nachahmung. Auf An-
regung seines Mitgliedes Vaillant will der Pariser Stadt-
rath beim französischen Parlament unter besonderer Würdi-
gung der schweizerischen Erfahrungen auf diesem Gebiete
um Erlass eines Alkoholmonopolgesetzes einkommen.
Auf dem neuen Programm der schweizerischen frei-
sinnigen Partei figurirt als Postulat auch die Einführung
des Tabakmonopols. Die aargauische Fraktion der Partei
nimmt aber bereits dagegen Stellung, weil sie im Monopol
den Ruin der ausgedehnten Tabakfabrikation im Kanton
befürchtet.
Unentgeltliche Beerdigung in der Schweiz. Kürzlich
hatten die stimmfähigen Bürger des Kantons St. Gallen
über ein Gesetz abzustimmen, welches die Einführung der
unentgeltlichen Beerdigung in sämmtlichen Gemeinden des
Kantons von staatswegen bezweckte, wie sie gegenwärtig
bereits im Kanton Zürich besteht und in anderen Kan-
tonen fakultativ in zahlreichen Gemeinden. Leider fiel
die Abstimmung ungünstig aus. Von 15 Bezirken haben
sechs das Gesetz angenommen. Es standen 18 684 nein
gegenüber 16 790 ja. Ein Theil der besitzenden Klasse,
in Verbindung mit der Agitation einzelner Geistlichen,
die für ihren Einfluss bei den Beerdigungsceremonien
fürchteten, hat gesiegt und das so wohlthätige, von den
Führern aller Parteien warm empfohlene Gesetz zu Falle
gebracht. Noch kurz vor der Abstimmung hatte der geist-
liche Professor der neuen Freiburger Universität, Weiss, die
Befürchtungen des katholischen Klerus leider vergebens
zu zerstreuen gesucht. Die Mehrheit der Verwerfenden ist
allerdings keine grosse und daher die Hoffnung berechtigt,
dass die in dem Gesetz niedergelegte humane Idee im
Kanton St. Gallen in nicht ferner Zeit doch zum Durch-
bruche komme.
Die Schweiz als Versuchsfeld für Volkswirtschaft
und Sozialpolitik. In seinem Bericht über die Lage der
Arbeit in der Schweiz bemerkt der Vertreter Englands in
der Schweiz u. A.: „Ich neige mich zu der Ansicht, dass
die Schweiz bei jeder Untersuchung der Arbeiterfrage oder
jedes anderen sozialen Problems eine Aufmerksamkeit ver-
dient, die ausser allem Verhältniss zu ihrem beschränkten
Gebiete, ihrer Bevölkerung und den materiellen Hilfsmitteln
steht, und dass dieses Land eine werthvolle und belehrende
Werkstätte für wirthschaftliche Versuche ist, die erst in
den verschiedenen Gliedern des Bundes geprüft und im
Falle des Erfolges allmählich eine allgemeinere Anwendung
finden können. Die gesunde öffentliche Meinung eines
hochgebildeten, freien Volkes überwacht diese Versuche
mit grosser Aufmerksamkeit; sie ist es, die schliesslich dar-
über entscheidet, ob die Resultate eine allgemeine Anwen-
dung rechtfertigen, und der Entscheid mag fallen, wie er
will, so fügen sich demselben ohne Weiteres die höchsten
gesetzgebenden und ausführenden Behörden, sowie das
ganze Volk.“
Arbeiterzustände.
Die niedrigsten und die höchsten ortsüblichen Tagelöhne
in Deutschland.
Auf Grund des § 8 des Krankenversicherungsgesetzes
sind bekanntlich die Beträge der ortsüblichen Tagelöhne
gewöhnlicher Tagearbeiter für alle Theile des Deutschen
Reichs von den höheren Verwaltungsbehörden (Regierungs-
präsidenten u. s. w.) festgesetzt worden. Eine zuverlässige
Zusammenstellung dieser Tagelohnsätze — für männliche
und weibliche, jugendliche und erwachsene Arbeiter — ent-
hält der „Taschenkalender zum Gebrauche bei Handhabung
der Arbeiterversicherungsgesetze“ von Buschmann und
Götze1) — ein sozialpolitisch sehr werthvolles Material, das
merkwürdiger Weise noch recht wenig ausgebeutet
worden ist.
Im Folgenden sind nur die Lohnsätze für erwachsene
männliche Arbeiter berücksichtigt, und zwar sind von
diesen die Extreme nach beiden Richtungen hin zusammen-
gestellt: einerseits die Lohnsätze, die unter I M. bleiben,
andererseits diejenigen von 2,50 M. und mehr. Der orts-
übliche Tagelohn erwachsener männlicher Arbeiter in Berlin
beträgt nur 2,40 M., liegt also noch unter der Grenze der
hier als relativ hoch bezeichneten Löhne.
‘) Berlin, 4. Jahrgang 1892. Verlag der Liebel’schen Buch-
handlung.
432
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 35.
I. Ortsübliche Tagelöhne erwachsener männlicher
Arbeiter unter 1 M.
Reg. -Be z. Gumbinnen:
Kreis Oletzko . .
„ Lyck . . .
„ Lötzen . .
„ Sensburg .
„ Johannisburg
» Angerburg .
0,80 M.
Reg. -Be z. Marienwerder:
Stadt Löbau I
„ Neuenburg (Kr. Schwetz) )
„ Christburg (Kr. Stuhm 0,90 „
Reg -Bez Köslin:
Kreis Bütow (mit Ausnahme der Stadt Bütow) . . . 0,95 M.
Kreis Bomst. .
„ Fraustadt
Reg. -Bez. Posen:
| 0,95 M.
Reg.-Bez. Breslau:
Kreis Gross-Wartenberg
„ Militsch
„ Trebnitz
„ Breslau Land
„ Frankenstein
„ Nimptsch
„ Oels
„ Ohlau
0,80 M.
0,85 „
0,90 „
0,95 „
Reg.-Bez. Oppeln:
Kreis Falkenberg
„ Gleiwitz (mit Ausnahme der Stadt Gleiwitz ) . .
„ Grottkau (mit Ausnahme der Städte Grottkau
und Ottmachau)
„ Gross-Strehlitz (mit Ausnahme der Stadt Gross-
Strehlitz)
„ Lublinitz
„ Neisse (mit Ausnahme der Städte Neisse, Patsch-
kau und Ziegenhals)
„ Rosenberg
„ Rybnik
„ Zabrze (mit Ausnahme der Gemeinde- und Guts-
bezirke Biskupitz, Dorotheendorf, Ruda, Alt-
Zabrze, Klein-Zabrze und Zaborze) . . . .
„ Cosel (mit Ausnahme der Stadt Cosel) . . . .
„ Kreuzburg (mit Ausnahme der Stadt Kreuzburg)
„ Leobschütz (mit Ausnahme der Städte Leobschütz
und Kätscher)
Stadt Patschkau
Kreis Neustadt (mit Ausnahme der Städte Neustadt
und Zülz)
„ Ratibor (mit Ausnahme der Stadt Ratibor) .
0,80 M.
0,90 M.
Reg.-Bez. Erfurt:
Die voigtländischen Enklaven des Kreises Ziegenrück 0,80 M.
Reg.-Bez. Cassel:
Die 4 Gemeinden Langenschwarz, Flechelmannskirchen,
Grossenmoor und Schlotzau tKr. Hünfeld) . . . 0,80 M.
Bayerischer Reg.-Bez. Oberpfalz:
Bezirks-Amt Waldmünchen
0,80 M.
Fürstenthum Reuss j. L.:
Gemeinde Frössen
0,95 M-
II. Ortsübliche lagelöhne erwachsener männlicher
Arbeiter von 2,50 M. und darüber.
Stadt Spandau
Kreis Eiderstedt (Schleswig)
Aus dem Kreise Stormarn: Wandsbek, Reinbek,
Sande, Lohbrügge, Loberg, Kirch - Steinbek,
Schiffbek, Oejendorf . . )
Vom hamburgischen Landgebiete die Landherren-
schaft der Marschlahde und aus der Land-
herrenschaft der Geestlande: Gr. Börstel,
Fuhlsbüttel, Langenhorn, Alsterdorf, Ohlsdorf,
Kl. Börstel.
Gutsbezirk Pulverfabrik im Landkreise Hanau (Reg.-
Bez. Kassel)
Alt-Cöln (Stadt Cöln ohne die eingemeindeten Vororte)
Stadt Mühlheim a. Rh
„ Karlsruhe einschliesslich Mühlburg
„ Metz
„ Lindau (Bayern)
2,50 M.
2,65 M.
2,70 M.
Stadt Hamburg mit St. Pauli und den Vororten . .
„ Bergedorf
„ Altona .... . . . . .
„ Bremen )
„ Bremerhaven
„ Geestemünde sowie Gemeinde Geestendorf,
Schiffdorf und Wulsdorf
„ Lehe sowie die Gemeinden Langen und Spaden
3,— M.
Die traurigsten Lohnverhältnisse weisen also auf: der
südliche Theil des Regierungsbezirks Gumbinnen, einige
kleine Städte im nordöstlichen Theile des Regierungsbezirks
Marienwerder, (auf dem Lande sind in dieser Gegend die
Löhne etwas höher), der Kreis Bütow in Pommern, die
Kreise Bomst und Fraustadt in der Provinz Posen und die
Regierungsbezirke Breslau und Oppeln. Im übrigen Deutsch-
land kommt ein Herabgehen der ortsüblichen Tagelöhne
auf unter 1 M. nur ganz vereinzelt und lokal eng be-
grenzt vor.
Durch relativ hohe Löhne zeichnen sich aus: die
Hafenstädte und -Ortschaften an der Elb- und Weser-
mündung und deren Umgebungen, ferner die Hafenstadt
Kiel, der eine Halbinsel in der Westküste Schleswigs
bildende Kreis Eiderstedt und eine Anzahl von industrie-
reichen Binnenstädten, nämlich Spandau, Cöln, Mühlheim
am Rhein, Karlsruhe, Lindau (Bayern) und Metz; diesen
schliesst sich endlich noch — wohl aus rein lokalen Gründen
— der Gutsbezirk Pulverfabrik im Landkreise Planau an.
Der Höchstbetrag der ortsüblichen Tagelöhne ist
3 M., der Mindestbetrag 80 Pf. Welche Fülle von sozialem
Elend liegt zwischen diesen beiden Extremen!
Berlin-Friedenau. E. Lange.
Löhne in Stuttgart. Wie tief die Löhne in einzelnen Ge-
schäften Stuttgarts sind, erfuhr man durch eine in der ersten
Hälfte des August stattgelundene Verhandlung vor dem Stutt-
garter Gewerbegerichte, über die der „Frankfurter Zeitung1
folgende Mittheilung zuging: Die Militäreffektenfabrik von
Simon Fleischer dahier hatte von der Düsseldorfer Militärver-
waltung den Auftrag, leinene Helmüberzüge für die Manöver
zu liefern. Den Arbeitern wurde von der Firma pro Helmüber-
zug ein Lohn von 5 Pf angerechnet, dabei wurde noch ein Ab-
zug für den verwendeten Faden gemacht. 5 Arbeiter und
10 Arbeiterinnen klagten nun gegen das Geschäft, indem sie
geltend machten, es sei ihnen erst bei ihrem Austritt — sie
waren nur für die Dauer der Lieferung engagirt worden — be-
kannt gegeben worden, dass der Lohn 5 Pf. für einen Ueberzug
betrage. Der Beklagte entgegnete, die Arbeiter und Arbeiterinnen
seien durch ihn selbst oder durch seine Angestellten mit der
Höhe des Lohnes bekannt gemacht worden; er vermochte hier-
für indess Beweis nur bezüglich eines Arbeiters zu erbringen,
, der auch mit seiner Klage abgewiesen ward. Dagegen wurde
der Beklagte verurtheilt, den übrigen Arbeitern den Lohn zu
zahlen, der sonst durchschnittlich im Tage beim Beklagten ver-
dient wird, nämlich 2,20 M. an die männlichen und 1,20 M. an
die weiblichen Arbeiter. In den Urtheilsgründen wurde her-
vorgehoben, dass die Arbeiter an einen Akkordpreis blos dann
gebunden sind, wenn ihnen derselbe bei Uebertragung der Ar-
beit bekannt gegeben wird. Der Beklagte wäre schon nach
seiner Arbeitsordnung verpflichtet gewesen, sofort bei Ueber-
tragung der Arbeit den Äkkordpreis mit den Klägern zu ver-
einbaren Die Kläger über den Akkordpreis im Unklaren zu
lassen, war um so weniger zulässig, als der Verdienst, den die
Kläger bei dem Preis von 5 Pf für das Stück gehabt hätten,
ein ausserordentlich geringer gewesen wäre. Die männlichen
Arbeiter hätten zwischen 52 Pf. und 1.24 M, die weiblichen
zwischen 17 Pf und 59 Pf. täglich verdient, obwohl sie zum
Theil nach Beendigung der zehnstündigen Arbeitszeit in der
Fabrik noch Arbeit nach Hause mitgenommen und dort die
Morgen- und Abendstunden und den Sonntag zum Arbeiten be-
nutzt haben
Statistik der Arbeitslosigkeit in Frankreich. Das
französische Arbeitersekretariat, das gemäss den Beschlüssen
des internationalen Arbeiterkongresses zu Brüssel sich con-
stituirte, beabsichtigt sozialstatistische Erhebungen vorzu-
nehmen. Es beginnt dieselben mit der Versendung eines
Fragebogens an alle Arbeiterorganisationen, durch welche
die Grundlage einer Statistik der Arbeitslosigkeit geschaffen
werden soll. Leider sind eine Reihe von Fragen gestellt,
auf die nur eine amtliche Erhebung Auskunft ertheilen
kann, so Fragen nach der Gesammtzahl der Arbeiter jedes
Berufes in allen Orten, über das Verhältniss von erwachse-
No. 35. SOZIALPOLITISCH!
nen Männern zu den Frauen und zu den noch nicht 18 Jahre
alten Arbeitern. Dagegen werden die Fragen nach der
Zahl der Gewerkschaften in den einzelnen Orten und in
den Departements, sowie nach der Zahl der Mitglieder der
Gewerkschaften, falls guter Wille vorhanden ist, leicht be-
antwortet werden können. Die übrigen Fragen des Frage-
bogens lauten: Finden die Produkte ihrer Arbeit in ihrer
Gegend Absatz? oder in Frankreich? oder im Auslande?
Diese Frage dürfte leichter von Handelskammern als von
Arbeiterorganisationen beantwortet werden können. Die
anderen Fragen lauten: Wie lange und zu welcher Zeit-
epoche dauert die Arbeitslosigkeit? Wie lange währt sie
für die männlichen, für die weiblichen, für die jugendlichen,
für die organisirten und für die nichtorganisirten Arbeiter?
Dass durch diese Erhebung keine Statistik der Arbeits-
losigkeit gewonnen werden kann, dürfte wohl klar sein.
Weniger wäre auch hier mehr gewesen. Eine Statistik der
Arbeitslosigkeit der organisirten Arbeiter wäre möglich ge-
wesen, leider hat man aber durch das Uebermass von
Fragen die ganze Erhebung in Frage gestellt.
Zur Lage der englischen Arbeiter. Der „Spectator“
brachte jüngst eine Rede Chamberlain’s , worin dieser
die Lage der englischen Arbeiter in sehr düsteren Farben
schilderte. Nach seinen Untersuchungen ist von zwei Ar-
beitern je einer fast sicher, wenn er das 60. Altersjahr er-
reicht, der öffentlichen Armenpflege anheimzufallen. „Es
mag sein“, sagte der Redner, „dass einige von diesen ihr
Loos verdienen. Sie können es durch Unmässigkeit oder
andere Fehler selbst verschuldet haben; aber Niemand wird
mich überzeugen, dass dieses von allen oder auch nur vom
grösseren _ heil derselben gilt.“ Der Canonicus Blackley,
der nach Chamberlain über dasselbe Thema sprach, be-
stätigte das Gesagte. Der Umfang, welchen die Armuth
unter den alten Arbeitern erreicht hat, lässt sich, wie
er bemerkte, schwer feststellen, doch hatte der Redner als
Seelsorger einer grossen Pfarrei, die von ihm geführten
Todtenregister geprüft und gefunden, dass von den Ange-
hörigen der Pfarrei, welche m 1 1 Jahren im Alter von mehr
als 60 Jahren gestorben waren, 37 Armenunterstützte waren.
Ausserdem hatten auf seine Veranlassung 70 oder 80 Geist-
liche anderer Pfarreien ähnliche Untersuchungen gemacht,
welche einen Prozentsatz von 45 ergaben. Diese Berichte
bezogen sich auf alle Klassen über ganz England. Wenn
die Zahl derjenigen abgezogen wird, welche für sich selbst
sorgten, so zeigt es sich, dass von den Arbeitern die
Hälfte, wenn sie das 60. Altersjahr erreichen, dazu ver-
urtheilt sind, als Arme zu sterben.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Ende der Hamburger Braueraussperrung. Am 20. August
fanden Verhandlungen zwischen Vertretern der Brauereien
und des Hamburger Gewerkschaftskartells statt, in welchen
man sich dahin einigte, dass die Brauereien die folgende
Erklärung zu erlassen haben:
Die Unterzeichneten Brauereien haben nach aufge-
hobenem Boykott beschlossen, den Wünschen der Kartell-
kommission entgegen zu kommen, indem sie die am 16.
August entlassenen Brauer und Hülfsarbeiter wieder in
Arbeit nehmen, soweit noch Stellungen offen sind, auch
ihren Angestellten nach wie vor völlige Freiheit der Be-
wegung m politischer sowie gewerkschaftlicher Beziehung
gewähren.
Kontrollmarke der Friseure. In ähnlicher Weise wie
bei den Civilmusikern und Gastwirthsgehilfen haben die
Friseure das System der Kontrollmarke bei sich eingeführt.
Durch die Kontrollmarke sollen sich die Gehilfen als zur
Organisation gehörig legitimiren. Die Leitung des Ver-
bandes der Barbiere, Friseure und Perrückenmacher ersucht
die Arbeiter, nur in die Geschäfte zu gehen, wo Barbier-
gehilfen beschäftigt werden, die Mitglieder der Organisation
sind. Als solche haben sie sich auf Verlangen durch Vor-
weisen der Karte zu legitimiren. Es soll dieses Mittel zur
Stärkung der Organisation dienen und die Angehörigen der-
selben vor Massregelungen schützen. Das ist die Antwort
CS CENTRALBLATT. 433
auf den Beschluss des zu München im Jahre 1890 abgehal-
tenen Kongresses selbstständiger Friseure, sämmtliche Mit-
glieder des Gehilfenverbandes zu massregeln.
Zum Aufruhr in Homestead. Der Vorsitzende des
vom Repräsentantenhause bestellten Ausschusses zur Unter-
suchung des Aufruhrs in Homestead, Gates, hat seinen
Bericht nunmehr beendigt und der Oeffentlichkeit über-
geben.
Der Bericht beklagt zunächst die brutalen Angriffe,
welchen die Pinkerton’schen Polizisten namentlich von
Seite der Frauen und halbwüchsigen Jungen ausgesetzt
waren. Es wird bezweifelt, dass die Frauen amerikanischer
Herkunft seien. In Beziehung auf die Frage, ob die Car-
negie-Firma durch die Verhältnisse zu einer Lohnreduktion
berechtigt gewesen sei, sagt der Berichterstatter, es habe
Herr Frick, der Geschäftsführer, die Angabe der Kosten
einer Tonne Bessemer Stahlplatten und der Arbeitskosten
verweigert. Den Leuten wurden befriedigende Löhne be-
zahlt, aber es muss berücksichtigt werden, dass die Arbeit
das Leben sehr verkürzt und daher gut bezahlt werden
sollte. Der Gesellschaft gehöre Billigkeitshalber ein Theil
des aus der Anwendung verbesserter Maschinen herrühren-
den Gewinns. Hinsichtlich der Wirkungen der Mc. Kinley-
bill seien die Arbeiter getäuscht worden. Hätte Herr Frick
dem Arbeiterausschusse die Verhältnisse gründlich ausein-
ander gesetzt, so würden sie sich wahrscheinlich in die
Lohnreduktion gefügt haben; aber sie folgerten wie er,
dass der Tarif den Rückgang in den Preisen nicht ver-
ursacht habe.
Herr Oates findet ferner, dass das Verhalten der Ge-
sellschaft gegenüber den Arbeitern in mancher Hinsicht
ein wohlwollendes gewesen sei. Sie machte ihnen Dar-
lehen zu niedrigem Zins, um Häuser zu bauen und erklärte
nie eine Hypothek als verfallen; aber die Beamten übten
im geschäftlichen Verkehr nicht die nöthige Nachsicht, Ge-
duld und Rücksicht, und Herr Frick, der ein Geschäftsmann
von grosser Intelligenz ist, scheint zu streng, zu barsch
und etwas zu autokratisch gewesen zu sein.
Herr Oates ist überzeugt, dass wenn Herr Frick an
die Einsicht der Arbeiter appellirt und ihnen die Geschäfts-
lage der Gesellschaft auseinander gesetzt hätte, die Lohn-
reduktion durchzuführen möglich gewesen wäre und der
Aufruhr hätte verhütet werden können.
Herr Oates findet, dass die pennsylvanischen Gesetze
nichts enthalten, um Herrn Frick zu verhindern, Pinkerton-
leute als Wachleute in Homestead zu verwenden; aber er
sagt, dass er es unter den gegenwärtigen Umständen nicht
hätte thun sollen. Er engagirte die Pinkertons, bevor die
Unterhandlungen mit den Arbeitern abgebrochen waren
und er appellirte auch nicht an die Bezirks- oder Staats-
behörden.
Zum Schluss findet Herr Oates, dass der Kongress
keine Macht über solche Fragen habe Die Ausführung
eines hinreichenden Schiedsgerichtsgesetzes sei fast un-
möglich.
Die Behörden der Vereinigten Staaten werden trotz-
dem diesen Fragen und namentlich derjenigen der Schieds-
gerichte näher treten müssen, denn im Land murrt man
bereits über die grossen Kosten, welche das Aufgebot der
Miliztruppen verursacht, eine stehende Armee wünscht man
sich aber für solche Zwecke aus guten Gründen nicht.
Politische Arbeiterbewegung.
Sozialistische Kongresse.
Am I. August tagte die 12. Generalversammlung der
sozialdemokratischen Federation in London. Von der Sektion
South-Salford war der Antrag gestellt worden, in das Pro-
gramm die Forderung von Minimallöhnen und Maximal-
preisen autzunehmen. Während die erste Forderung accep-
tirt wurde, empfahl man den Sektionen, die zweite zu dis-
kutiren. Man beschloss der unabhängigen Arbeiterpartei
bei den Wahlen sympathisch gegenüberzustehen, aber von
der Aufstellung eigener Kandidaten nicht abzusehen.
Ein Kongress der Sozialisten Schwedens, Norwegens
und Dänemarks wurde am 18. August zu Malmö abgehalten
434
SOZIALPOLITISCHES CENTRALULATT.
No. 35.
Anwesend waren 68 dänische, 53 schwedische und 10 nor-
wegische Delegirte. Der Kongress erklärte die Enthaltung
von der Theilnahme am parlamentarischen Leben für ver-
werflich. Mit grosser Mehrheit wurde der Zusammenschluss
aller Fachvereine in den drei Ländern, namentlich zu dem
Zwecke, um gemeinsames Auftreten in den Lohnfragen zu
ermöglichen, beschlossen. Die Fach vereine sollten gelernten
und ungelernten Arbeitern beiderlei Geschlechtes offen
stehen. Vorsicht bei der Verfügung von Strikes wurde
empfohlen und Vorliebe für die Anwendung von Boykotts
statt Strikes gezeigt. Ferner erklärte man sich für mög-
lichst friedliche Gestaltung der Maifeier, für Bekannt-
machung der Namen von Strikebrechern in der Arbeiter-
presse, für Gründung von Arbeitsnachweisbüreaus, für Er-
richtung von Gratisfachschulen für Lehrlinge durch den
Staat und für rechtliche Gleichstellung der Dienstboten mit
allen anderen Arbeitern.
Diesem gemeinsamen skandinavischen Kongresse
gingen Parteitage der dänischen und schwedischen Sozial-
demokratie voraus.
Der dänische Kongress fand in den letzten Tagen des
Juli in Kopenhagen statt. Er war stärker besucht als irgend
einer der früheren Parteitage. Während im Jahre 1890 nur
71 Vertreter zum Kongresse entsandt wurden, hatten sich
diesmal 104 eingefunden. Es wurde berichtet, dass 15 000
Personen den politischen und 32 000 den gewerkschaftlichen
Organisationen angehören und dass 24 politische Organi-
sationen aus Landarbeitern zusammengesetzt sind. Das
Centralorgan, der „Sozial-Demokrat“, zählt 22 000 Abon-
nenten. Der Kongress beschäftigte sich hauptsächlich mit
Fragen der Organisation und der Propaganda, das Partei-
programm wurde in unwesentlichen Punkten umgeändert.
Der 1. Kongress der Arbeiterorganisationen Norwegens
trat am 2. August in Christiania zusammen. Auf der Tages-
ordnung standen die Föderation der Arbeiterorganisationen,
die Gründung eines Parteiorgans, die Stückarbeit und die
Landarbeitertrage. Man schuf ein Organisationsstatut, er-
klärte sich für das allgemeine Wahlrecht für beide Ge-
schlechter, für die Progressiveinkommensteuer, den acht-
stündigen Normalarbeitstag, für Alterversicherung, gegen
die Stückarbeit, für gleiches Erbrecht der ehelichen und
unehelichen Kinder, für Unentgeltlichkeit des Unterrichts,
der ärztlichen Hilfeleistung und des Gerichtsverfahrens.
Am 14. und 15. August fand in Genua der Jahreskon-
gress der italienischen Arbeiterpartei statt, an dem sich
Vertreter von 400 Arbeitervereinen betheiligten. Neben
Sozialdemokraten deutscher Schule nahmen auch Anar-
chisten und Gewerkschafter, die nicht auf dem Standpunkt
des Klassenkampfes standen, an dem Kongress theil. Von
den beiden letzten Richtungen trennten sich die Sozialisten
und gründeten am 2. Kongresstage eine sozialdemokratische
Arbeiterpartei. Vertreter von 200 Arbeitervereinen schlossen
sich an dieselbe an.
In Lissabon tagte gleichfalls im August ein von
96 Delegirten besuchter Arbeiter- und Sozialistenkongress.
Den Strikes gegenüber kamen zwei Meinungen zum Aus-
druck, die eine erklärte sie für zweischneidige nur mit Vor-
sicht anzuwendende Waffen, die andere erklärte sie als
Akte der Empörung, welche die Würde des Proletariats
heben und die soziale Revolution vorbereiten. Folgende
Forderungen wurden aufgestellt:
1. Arbeiterschutzgesetze. Nur denjenigen Parlaments-
kandidaten sollen die Arbeiter ihre Stimmen geben, welche
sich verpflichten ein Arbeiterschutzgesetz für Frauen und
Kinder, die Errichtung einer Arbeiterbörse und von Ge-
werbegerichten zu beantragen. Der Kongress erklärte sich
gegen die Stückarbeit.
2. Arbeiterorganisationen auf aus Männern und Frauen
zusammengesetzten Gewerkschaften beruhend. Allmonat-
lich sollen die Delegirten derselben zu einem Kongresse
zusammentreten um die Arbeiterbewegung zu orgamsiren.
3. Strikes. Die Gewerkschaften sollen Widerstands-
kassen gründen und dafür sorgen, dass Strikes nicht leicht-
fertig unternommen werden. Eine energische Agitation
soll sich gegen die Bestimmung des Strafgesetzbuches
richten, welches die Koalitionen der Arbeiter für strafbar
erklärt.
4. Die Unterdrückung der Gefängnissarbeit und die
Errichtung landwirtschaftlicher Kolonien in den landwirth-
schaftlich nicht verwertheten Gegenden des Landes.
5. Betonung des Klassenstandpunktes. Die Arbeiter
sollen sich fernhalten von allen Kundgebungen, welche
nicht ausschliesslich von Arbeitern ausgehen.
Im nächsten Vierteljahre finden folgende sozialdemo-
kratische Kongresse statt: Der Parteitag der deutschen
Sozialdemokratie am 16. Oktober und den folgenden Tagen
in Berlin (s. Sozialpolitisches Centralblatt, No. 33). Die
sozialdemokratische Partei der Schweiz wird am 5. und 6.
November einen Kongress abhalten. Als Verhandlungs-
gegenstände sind folgende Punkte in Aussicht genommen:
Geschäftsbericht, Bericht einer vom Parteitag zu wählenden
Geschäftsprüfungskommission, Feier des 1. Mai 1893, inter-
nationaler Kongress 1893 in Zürich, Initiative betr. Wahl
des Bundesrathes durch das Volk, Nationalrathswahlen 1893,
Initiative betr. Recht auf Arbeit, Wohnungsfrage, Propor-
tionalvertretung, Eisenbahnverstaatlichung, staatlicher Ge-
treidehandel, Bestimmungen über Parteiausschlüsse und
Streitigkeiten, Wahl des Vororts und des Parteikomitees.
Der Parteitag der ungarischen Sozialdemokratie ist für den
30. und 31. Oktober nach Budapest einberufen. Die vorläufige
Tagesordnung lautet: 1. Parteibericht, 2. Organisation,
3. Presse, 4. Parteiangelegenheiten. Der 11. Kongress der
französischen sozialistischen Partei (Parti ouvrier socialiste
revolutionnaire) ist für den 2. bis 9. Oktober nach St Quentin
einberufen. Auf der Tagesordnung stehen folgende Punkte:
!. Arbeiterschlitzgesetze (gesetzliche Sicherung der
Gewerkschaften, die Frage der Akkordarbeit, Gründung
von Arbeiterbörsen und Verbindung derselben, Unter-
drückung der Stellenvermittelungsbureaus, nationale und
internationale berufsmässige Organisation ,
II. Unterdrückung der stehenden Heere, Gründung
eines Völkerbundes,
III. Gründung landwirthschaftlicher Gewerkschaften,
die Beziehungen zwischen industriellem und landwirthschaft-
lichem Proletariate,
IV. Lieber die Revolution und die sofort einzuschlagen-
den Massnahmen um ihren Erfolg zu sichern,
V. Die internationalen Kongresse zu Zürich und Chi-
cago im Jahre 1893.
Auf den 26. August ist nach Valencia der 3. Kongress
der sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens berufen. Aus
dem Programm des Kongresses sind folgende Punkte be-
sonders hervorzuheben:
Bericht des Nationalkomitees, des Delegirten auf dem
internationalen Kongress in Brüssel und des sozialistischen
Stadtraths von Bilbao; Berathung über die Frage, das
Parteiorgan „El Socialista“, welches wöchentlich erscheint,
in ein tägliches zu verwandeln; Gründung eines Wochen-
blattes in Bilbao; Aenderungen in der Organisation nach
Vorschlägen vom Nationalkomitee und der Parteigruppe
von Barcelona; Redaktion eines Programms für die Stadt-
räthe; Stellung zu dem nächsten internationalen Kongress
in Zürich. Punkt 9 des Programms behandelt die Wahl-
frage Der Vorschlag des Nationalkomitees lautet: „Die
sozialistische Partei stellt für die allgemeinen Wahlen von
Abgeordneten für die Kortes in allen Orten, wo sie mit
organisirten Elementen rechnet, eigene Kandidaten auf. In
ausserordentlichen Wahlen für die Kortes und in allen
Wahlen für Provinzial- und Munizipalvertretungen sollen
nur in solchen Orten Kandidaten aufgestellt werden, wo
Aussicht auf einen moralischen oder materiellen Triumph
vorhanden ist. Die Kandidaten, welche zur Partei gehören
müssen, werden von den sozialistischen Gruppen aufge-
stellt Von der sozialdemokratischen Partei sind die Gruppen
und Individuen ausgeschlossen, welche mit den bürgerlichen
Parteien oder ihren Kandidaten Kompromisse oder Allianzen
eingehen. Ebenso werden Diejenigen von der Partei aus-
geschlossen, welche für irgend eine bürgerliche Kandidatur
stimmen.“
Ein Vertreter der Arbeiter in der Regierung Zürichs.
In die Vollziehungsbehörde von Neu-Zürich, in den soge-
nannten kleinen Stadtrath mit Berufsmitgliedern, welche
7000 Frcs. Besoldung erhalten, wird nun auch ein Arbeiter-
kandidat eintreten, nämlich Nationalrath Vogelsanger,
Redakteur des „Grtitlianer“. Dessen Wahl wurde von allen
Parteien unterstützt und erfolgte am 22. d. M. mit grosser
Majorität.
No. 35.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
435
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Sonntagsruhe Verordnung für das Handelsgewerhe im
Haiiifourgischen Staate. Wir heben folgende Bestimmungen ans
der von der Hamburger Polizeibehörde erlassenen Sonntagsver-
ordnung hervor:
Der Sonntag wird von Mitternacht Sonnabend auf Sonn-
tag bis Mitternacht Sonntag auf Montag gerechnet.
Seitens des Geschäftsinhabers, bezw. seitens der Familien-
angehörigen desselben dürfen an den Sonn- und Festtagen ausser-
halb der festgesetzten Verkaufszeit nur solche Waaren ausge-
bracht werden, welche an den vorhergehenden Werktagen, resp.
am Sonntag innerhalb der zulässigen Verkaufszeit bestellt worden
sind. Die Annahme von Bestellungen ausserhalb der fünfstün-
digen Verkaufszeit ist an den Sonn- und Festtagen nicht ge-
stattet.
Gast- und Schankwirthe dürfen diejenigen zum Genüsse
fertigen Speisen und Getränke, welche im Lokal an Gäste ver-
abfolgt werden, auch über die Strasse verkaufen, ein anderer
Verkauf als zum sofortigen Genuss ist nicht gestattet. Jeder
Handel mit Lebensmitteln und Waaren, welche in eigentlichen
kaufmännischen Geschäften verkauft werden, insbesondere der
mit Bäcker- und Fleischwaaren, wird im Verkehr nach aussen
als ein mit den Gast- und Schankwirthschaften nicht zusammen-
hängender Handelsbetrieb angesehen. Zigarren dürfen nur an
die im Lokal sich aufhaltenden Gäste zum Genuss auf der Stelle
verkauft werden. Trinkhallen, Konditoreien u. dergl. sind im
wesentlichen den Schankwirthschaften gleichgestellt.
Sofern der Verkauf von Waaren durch Automaten in
Gast- und Schankwirthschaften für Rechnung der Fabrikanten etc.
erfolgt, wird der Automat als offene Verkaufsstelle angesehen.
In diesem Falle darf derselbe nur während der 5 ständigen
Verkaufszeit funktioniren. Sofern der Betrieb von Automaten
in den Gast- und Schankwirthschaften dagegen für Rechnung
des Wirthes stattfindet, darf der Automat während des ganzen
Sonntags den Gästen zur Benutzung freigegeben werden, unter
der Voraussetzung dass der Automat nur Genussmittel ent-
halte und die Entnahme lediglich für den augenblicklichen Be-
darf erfolge.
Die Sonntagsruhe in München. Die Anordnungen der
königlichen Polizeidirektion vom 30. Juni d. J. haben nach einer
neuen Bekanntmachung mehrfache Abänderungen erfahren.
Hinsichtlich der Stunden, während deren an Sonn- und Feier-
tagen im allgemeinen Arbeiter, Lehrlinge etc. beschäftigt und
die Läden ollen gehalten werden dürfen - 6 — 8 Uhr Vormittags
und 10 Uhr Vormittags bis 1 Uhr Nachmittags — ist eine Aende-
rung nicht eingetreten. Ebenso haben im allgemeinen am ersten
Weihnachts-, Oster- und Pfingsttage, wie bereits angeordnet,
sämmtliche Läden den ganzen Tag geschlossen zu bleiben, eine
Beschäftigung von Arbeitern darf nicht stattfinden. Hiervon
sind folgende Ausnahmen zugelassen und dürfen sonach Arbeiter
beschäftigt, bezw. die Läden offen gehalten werden: am ersten
Weihnachts-, Oster- und Pfingsttage bei Bäckereien, Kondi-
toreien, Feinbäckereien und Milchhandlungen den ganzen Tag,
nur nicht von 8 — 10 Uhr Vormittags; bei Charcuterien (Schwein-
metzgereien), Delikatessenhandlungen, Käsehandlungen, Metz-
gereien, Obsthandlungen, von 6-8 LThr Vormittags; an den
übrigen Sonn- und Festtagen im Betriebe von Bäckereien,
Konditoreien, Feinbäckereien und Milchhandlungen während
des ganzen Tages mit Ausnahme der Stunden von 8 — 10 Uhr
Vormittags; Charcuterien (Schweinmetzgereien', Delikatessen-
handlungen und Käsehandlungen von 6 — 8 Uhr Vormittags, von
10 Uhr Vormittags bis 1 Uhr Nachmittags, dann von 4-^8 LThr
Nachmittags; Metzgereien von 4 — 9 Uhr Vormittags; Obsthand-
lungen ausserhalb des Marktes in der Zeit vom 1. Mai bis
31. Oktober von 6—8 Vormittags, von 10 Uhr Vormittags bis
3 Uhr Nachmittags; Marktverkäufer auf den Viktualienmärkten
in der Zeit vom 1. April bis 30. September von 5 — 11 LThr Vor-
mittags, vom 1. Oktober bis 31. März von 6 — 11 LThr Vormittags;
Obsthändler auf den Viktualienmärkten, welche ausschliesslich
Obst verkaufen, in der Zeit vom I. Mai bis 31. Oktober bis
3 Uhr Nachmittags, am Allerheiligentage im Betriebe des
Handels mit lebenden und künstlichen Blumen von 6 Uhr Vor-
mittags bis 4 Uhr Nachmittags — Bäcker dürfen während der
Zeit des allgemeinen Ladenschlusses nur Brod, Konditoren nur
Konditoreiwaaren, Feinbäcker nur Feinbäckerwaaren, Milch-
händler nur Milch, Delikatesshändler nur Delikatesswaaren,
Obstler nur Obst verkaufen An beiden Oktoberfestsonntagen,
sowie am letzten und vorletzten Sonntag vor Weihnachten
können sämmtliche Läden von 6— 8 Uhr Morgens und von 10 Uhr
Vormittags bis 6 Uhr Abend offen gehalten und Gehülfen etc.
beschäftigt werden. Gewerbetreibende, welche an Sonn- und
Festtagen zufolge dieser Anordnungen ihre Arbeiter mehr als
fünf Stunden beschäftigen, müssen dieselben an jedem dritten
Sonntage volle 36 Stunden oder an jedem zweiten Sonntage
mindestens von 6 Uhr Morgens bis 6 Uhr Abends von der
Arbeit freilassen; dasselbe gilt, wenn die Arbeiter zufolge ihrer
Beschäftigung an den Sonntagen am Kirchenbesuche gehindert
sind. Trinkhallen und Auskochgeschäfte unterliegen nicht den
Anordnungen über die Sonntagsruhe.
Die französischen Arbeitsräthe. Mesureur, Deputirter
der Seine, hat der französischen Kammer einen Gesetzesvor-
schlag eingereicht, welcher die Errichtung von Arbeitsräthen
bezweckt. Diese Arbeitsräthe sollen Anstände zwischen Arbeit-
geber und Arbeiter verhüten, vergleichen und entscheiden. Be-
kanntlich sind der Kammer bereits ein Gesetzesvorschlag der
Regierung, betreffend Organisation fakultativer Schiedsgerichte
sowie mehrere andere ähnliche aus der Initiative einzelner Ab-
geordneten hervorgegangene Vorschläge vorgelegt worden.
Der Vorschlag Mesureurs unterscheidet sich von diesen
dadurch, dass er eine ständige Einrichtung von höchstem Inter-
esse schafft. Wie wir dem „Devoir“ entnehmen, will Mesureur
einerseits den Arbeitgebern und Arbeitern oder Angestellten
die Befugniss ertheilen, von sich aus in gegenseitiger Verein-
barung Sühn- und Schiedsgerichte aufzustellen, die gebildet
würden ohne jede vorgängige Bedingung und die vorübergehend
oder dauernd sein könnten. Anderseits schlägt er die Einrich-
tung eines Arbeitsrathes, sei es von Amtes wegen oder auf Ver-
langen der Interessenten, und zwar in jedem industriellen Be-
zirk, wo die Nützlichkeit derselben konstatirt ist, durch
Dekret vor.
Diese Arbeitsräthe haben zur Aufgabe: 1. Ueber die Be-
dingungen der Arbeit zu berathen und ihre Meinung über
Arbeitsiragen, die ihnen von der Regierung unterbreitet werden,
abzugeben; 2. durch Sühnversuche Anstände zwischen Arbeit-
geber und Arbeiter zu verhindern oder zu vergleichen, unter
den Parteien, die sich nicht versöhnen konnten, die Beurtheilung
durch Schiedsgerichte zu veranlassen und zu organisiren ;
3. alljährlich die Ersatzwahl der austretenden Mitglieder, Arbeit-
geber und Arbeiter, des höheren Arbeitsrathes zu wählen.
Die Arbeitsräthe sind zusammengesetzt aus der gleichen
Zahl Arbeitgeber, gewählt von den Arbeitgebern, und Arbeiter,
gewählt von den Arbeitern. Sie werden für drei Jahre ernannt
und alljährlich scheidet ein Drittheil aus und wird ersetzt. Jeder
Arbeitsrath theilt sich in so viele Sektionen, als es Berufe oder
verwandte Berufsgruppen giebt, welche eine besondere Ver-
tretung rechtfertigen. Jede Sektion versammelt sich wenigstens
einmal im Vierteljahr in der Bürgermeisterei der Gemeinde
ihres Sitzes. S:e wird ausserordentlich zusammenberufen, wenn
ein Anstand ihr Eingreifen erfordert, oder wenn es die Hälfte
ihrer Mitglieder verlangen Die Einberufung eines Arbeitsrathes
zur Gesammtsitzung, "alle Sektionen vereinigt, erfolgt durch
Weisung der Regierung. Diese Sitzung findet im Jahr mindestens
einmal statt. Die Regierung kann auch gleicherweise mehrere
Sektionen, welche entweder denselben Beruf oder verschiedenen
Berufständen angehören, am selben Orte oder an verschiedenen
Orten zusammenberufen.
Wenn ein Anstand zwischen Arbeitgeber und Arbeiter ent-
steht, so kann er vor die Sektion des Berufes entweder durch
gemeinschaftliche Vereinbarung oder auch von einer einzigen
der interessirten Parteien gebracht werden. Wenn der Fall vor
die Sektion nur von einer einzigen Partei gebracht wird, so
giebt der Präsident der Gegenpartei hiervon binnen achtund-
vierzig Stunden Kenntniss. Nach Empfang dieser Anzeige, und
spätestens in drei Tagen, müssen die Interessenten ihre Antwort
einreichen. Nach Verfluss dieses Termins wird ihr Still-
schweigen als Weigerung betrachtet. Nehmen beide Parteien
den Grundsatz der Versöhnung an. so wählt die Sektion aus
ihrer Mitte vier Mitglieder, zwei Arbeitgeber und zwei Arbeiter,
um den Sühneausschuss zu bilden. Der Sühneausschuss sucht
die Mittel, um die Parteien auszusöhnen. Kommt auf die Sühne-
bedingungen hin eine Aussöhnung zustande, so wird ein Proto-
koll ausgefertigt. Kann keine Aussöhnung zustande kommen,
so lädt der Ausschuss die Parteien ein, entweder je einen
Schiedsrichter oder einen gemeinsamen Schiedsrichter zu be-
zeichnen. Für die Wahl der Schiedsrichter werden den Parteien
keine Bedingungen gestellt. Im Falle, wo zwei Schiedsrichter
gewählt werden, können diese einen dritten Schiedsrichter
wählen. Wenn die Schiedsrichter weder auf eine Beseitigung
des Anstandes noch auf die Wahl des dritten Schiedsrichters
verständigen können, so wird das Scheitern der Sühne in einem
Protokoll konstatirt.
Die Protokolle und Entscheide der Sühneausschüsse
werden auf der Bürgermeisterei in den Archiven der Sektion
aufbewahrt und es werden jeder Partei Abschriften unentgelt-
lich zugestellt und ebenso dem kompetenten Minister, um in das
Bulletin des Arbeitsamts aufgenommen zu werden. Diese Proto-
kolle und Entscheide werden an den Stellen für amtliche Publi-
kationen von den Bürgermeistern der Gemeinde, wo der Fall
vorkommt, veröffentlicht. Die interessirten Parteien können
nach Belieben die Veröffentlichung durch Anschlag ausdehnen.
Die Arbeiten in den Bureaus, Magazinen, Werkplätzen und
Fabriken des Staates können nicht Veranlassung zu Sühn- oder
Schiedsentscheiden geben. Die Bedingungen der Arbeit in
diesen Bureaus, Magazinen, Werkstätten und Fabriken werden
für den Staat vom Staat durch ein Gesetz, für die Departements
und Gemeinden durch die Beschlüsse der Departements- und
Gemeinderäthe bestimmt. Diese Beschlüsse können weder
suspendirt noch aufgehoben werden.
Zur Frage des Achtstundentages in England. Eine
Konferenz der Textilarbeiter in Lancashire hat sich für
Einführung des Achtstundentages ausgesprochen. Diese
436
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 35.
Kundgebung ist um so bedeutungsvoller, als sich diese
Arbeiter gegen eine Verminderung der Arbeitszeit bisher
am meisten sträubten. Die Nothlage in der Baumwollen-
industrie hat ihnen die Augen geöffnet.
Im englischen Unterhaus verlangte der Arbeiterver-
treter Wood ein Achtstundengesetz für die Bergleute,
Reform des Wahlsystems und Diätenzahlung an die Parla-
mentsmitglieder.
Das Achtstundengesetz in den Vereinigten Staaten.
Das Achtstundengesetz, welches seit kurzem in den Ver-
einigten Staaten eingeführt wurde, ist einfach und durch-
greifend. Es findet seine Anwendung auf „den Dienst und
die Beschäftigung aller Arbeiter und Handwerker, die von
der Regierung der Vereinigten Staaten und dem Distrikte
von Kolumbia oder von irgend einem Unternehmer öffent-
licher Arbeiten der Vereinigten Staaten oder des genannten
Gebiets beschäftigt werden.“ Die Strafe auf vorsätzliche
Uebertretung dieses Gesetzes seitens eines Beamten oder
Unternehmers wird mit einer Geldstrafe von 1000 Doll,
oder mit Gefängniss bis zu sechs Monaten oder mit beiden
zugleich, je nach dem Ermessen des Richters, gesühnt.
Arbeiterversicherung.
Zur Ausdehnung der deutschen Unfallversicherung auf das
Handwerk, die Seefischerei n.s. w. Lieber die Absichten der Re-
gierung hinsichtlich einer Ausdehnung der Unfallversicherung
giebt die folgende Mittheilung der „Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung“ Anhaltspunkte: Wie zu einer Novelle zum LTnfall-
versicherungsgesetze vom 6. Juli 1884, so werden auch schon
längere Zeit zu einem Gesetzentwürfe über die Ausdehnung
der Unfallversicherung auf das Handwerk, die Seefischerei u. s. w.
die Vorarbeiten betrieben. Es dürfte auch als wahrscheinlich
angesehen werden können, dass der Reichstag sich schon in
naher Zeit mit dieser Vorlage beschäftigen wird In der Vor-
lage ist eine ganze Anzahl von Schwierigkeiten zu überwinden.
Das zeigt sich bereits bei der Frage nach der Festsetzung des
Umfanges der neuen Versicherung. Es wäre höchst einfach,
die Bestimmung zu treffen, dass alle bisher noch nicht in den
Kreis der Unfallversicherung einbezogenen Berufszweige, viel-
leicht mit Ausnahme des Handelsgewerbes, der Unfallversiche-
rungspflicht künftig unterliegen sollen. Damit würde man jedoch
einer ganzen Anzahl von Betriebsarten eine Last aufbürden,
welche sich aus ihrer Unfallgefahrenhöhe nicht rechtfertigen
lässt. Es giebt die verschiedensten Branchen, in denen die
Gefahr für Leben und Gesundheit der Arbeiter und vornehm-
lich die Unfallgefahr nicht grösser ist, als die des gewöhnlichen
Lebens. Womit sollte man es rechtfertigen, diese Branchen zur
Unfallversicherung heranzuziehen? Dann müssten ja schliess-
lich alle im Dienste Anderer beschäftigten Personen, also bei-
spielsweise auch alle Dienstboten, gegen LInfall zwangsweise
versichert werden. Das aber wäre eine Ausdehnung, die sich
mit den der bisherigen Unfallversicherung zu Grunde liegenden
Ideen nicht vereinbaren Hesse Alle diese Betriebe, welche eine
Unfallgefahrenhöhe bieten, die nicht oder nicht erheblich über
diejenige des gewöhnlichen Lebens hinausgeht, müssten also
aus dem Kreise der neuen Unfallversicherung ausgeschieden
werden. Nun wird es allerdings sehr schwer, wenn nicht un-
möglich sein, im Gesetze selbst die Kriterien anzugeben, nach
denen hierbei zu verfahren wäre. Man wird sich deshalb zur
Erledigung dieser Frage des administrativen Weges bedienen
und gut thun, lestzusetzen, dass im Allgemeinen zwar alle dem
Handwerk u. s. w. angehörenden Betriebe der Unfallversiche-
rungspflicht unterliegen, dass aber der Bundesrath die Befugniss
hat, für die oben gekennzeichneten Branchen Ausnahmen zuzu-
lassen. Andererseits wäre es auch zu billigen, wenn der Ver-
sichertenkreis sich auch auf einzelne Arbeitgebergruppen er-
streckte. An der bisherigen LTntallversicherung können sich die
Arbeitgeber bis zu einem bestimmten Jahresarbeitsverdienst
betheiligen. Es wäre angebracht, wenn man die Unfallversiche-
rung in dem neuen Gesetze für diejenigen Arbeitgeber obliga-
torisch machte, welche regelmässig nicht wenigstens einen
Lohnarbeiter beschäftigen. Ein Vorbild nach dieser Richtung
ist bereits im Invaliditäts- und Alterversicherungsgesetze ge-
geben, wo der Bundesrath ermächtigt ist, die Versicherungs-
pflicht gleichfalls auf diese Arbeitgebergruppe auszudehnen.
Zur Reform der deutschen Unfallversicherung. Die an-
gekündigte Revision der Unfallversicherungs-Gesetzgebung, mit
welcher sicli der Reichstag in der nächsten Tagung zu be-
fassen haben dürfte, beschäftigt bereits die zuständigen Organe,
Wie man hört, bewegen sich die Arbeiten in einer Richtung
welche die Grundlage des bisherigen Gesetzes und die auf
demselben beruhende Organisation der Berufsgenossenschaften
unberührt lassen. In den Ausführungsbestimmungen dürften
mehrfach Aenderungen eintreten, wie sie durch die bisher ge-
machten Erfahrungen geboten scheinen. Hauptsächlich wird
auch eine Ausdehnung der Unfallversicherung auf das Hand-
werk und das Fischereigewerbe angestrebt. Alle jene Kategorien,
welche der Invaliditäts- und Altersversicherung unterworfen
sind sollen auch der Unfallversicherung unterstellt werden.
Seitens der Berufsgenossenschaften werden, wie das auf dem
Hamburger Verbandstag angedeutet wurde, bestimmte Anträge
eingebracht werden, welche die Sicherstellung des Rechtes der
Vorstände auf Beantragung zeugeneidlicher Vernehmungen in
Unfallermittelungen durch die Gerichte bezwecken. Obschon
neuerdings das Reichsamt des Innern auf Grund früherer Ent-
scheidungen des Reichsversicherungsamtes in dieser Frage mit
dem preussischen Justizministerium in Verbindung getreten sein
soll, ist doch eine völlige Klärung der Sachlage offenbar noch
nicht erzielt werden. Vorläufig bleibt der Sachverhalt bestehen
dass das Landgericht II. Berlin eben so wie das Reichsversiche-
rungsamt den Vorständen der Berufsgenossenschaften das Recht
eingeräumt wissen will, die eid iche Vernehmung von Zeugen
bei den gerichtlichen Behörden zu verlangen, während der
Justizminister, der in einem bestimmten Falle die Nothwendig-
keit dieser Forderung ebenfalls anerkannte, sich doch nicht
grundsätzlich für die Bewilligung dieses wichtigen Rechtesaus-
sprechen will. Dadurch wird in manchen Fällen die Feststel-
lung der Betriebsunfälle, folglich auch diejenige der Renten
für die Verletzten verzögert! Zur Begründung seiner dem
justizministeriellen Entscheid entgegenstehenden Ansicht führt
das Reichsversicherungsamt in Uebereinstimmung mit den Be-
rufsgenossenschaften an, dass Fälle Vorkommen, in denen wegen
unsicherer oder mit andern Thatsachen unvereinbarer Aussagen
ein gewissenhafter Vorstand ohne den Zwang des Eides zu einer
befriedigenden Feststellung nicht gelangen kann. Weigern sich
nun die Gerichte, dem Ersuchen um zeugeneidliche Verneh-
mung nachzukommen, so hat der Vorstand ein Interesse, die
Angelegenheit an das Schiedsgericht kommen zu lassen, dessen
Aufforderung zur Zeugenvernehmung die Gerichte Folge zu
geben genöthigt sind.
Die Berufsgenossenschaften und die Unfallverhütung.
In einer durch die Tagespresse gehenden Notiz wird die
Behauptung ausgesprochen, in den Berichten der preussi-
schen Regierungs- und Gewerberäthe sei festgestellt
worden, dass die Berufsgenossenschaften auf dem Gebiete
der Unfallverhütung den höchsten Anforderungen ent-
sprechen. Zur Beleuchtung dieser Behauptung mögen
folgende Anführungen aus den Berichten selbst dienen.
In dem Berichte aus dem Regierungsbezirk Arnsberg wird
die bekannte Thatsache hervorgehoben, dass die Glas- und
die Papiermacher- Berufsgenossenschaft bisher überhaupt
noch nicht Unfallverhütungsvorschriften erlassen haben,
und der Aufsichtsbeamte bemerkt, dass dies nach den ihm
gemachten Mittheilungen auf die Besorgniss zurückzuführen
sei, „die Staatsanwaltschaft möge in solchen Vorschriften
eine Handhabe zur strafrechtlichen Verfolgung bei Unfällen
finden können.“ Hieran schliesst sich eine Notiz aus dem
Schleswig-Holsteinschen Bericht, wonach nach einem statt-
gehabten tödtlichen Unfall der betreffende Unternehmer
einer Papierfabrik sich weigerte, eine Schutzvorrichtung
anzubringen, „weil er befürchtete, der Staatsanwalt werde
in der nachträglichen Schutzvorrichtung ein Bekenntniss
seiner Schuld an dem Todesfälle des jugendlichen Arbeiters
erblicken; die Schutzvorrichtung konnte daher nur unter
Zuhilfenahme der Polizei durchgesetzt werden.“ — Aus
Potsdam-Frankfurt heisst es: „Die Thätigkeit der Berufsge-
nossenschaften auf dem Gebiete der Unfallverhütung ist im
Laufe der Jahre zwar mehr und mehr zu Tage getreten;
dennoch darf sie immer noch nicht als ausreichend be-
zeichnet werden.“ — Aus Oppeln wird berichtet: „Ueber
die Thätigkeit der Berufsgenossenschaften auf dem Gebiete
der Unfallverhütung ist mir im hiesigen Bezirke nichts be-
kannt geworden.“ — Der Gewerberath, dem die Regierungs-
bezirke Merseburg und Erfurt unterstellt sind, schreibt:
„Es wäre zu wünschen, dass die Vertrauensmänner der
Berufsgenossenschaften die versicherten Betriebe einer
strengeren Aufsicht unterwürfen und selbst in ihrem Be-
triebe mit gutem Beispiele vorangingen. In einer Dampf-
ziegelei, deren Besitzer Vertraue ns mann der Ziegelei-
berufsgenossenschaft ist, musste die Verlegung der
Drahtseiltransmission angeordnet werden, weil das unten
stark schlagende Drahtseil ins Mannshöhe über ein Thon-
lager lief, auf welchem ein starker Verkehr der Arbeiter
stattfand.“ — In den Berichten aus Minden-Münster und
aus Arnsberg wird die Mahnung ausgesprochen, dass die
Unfallverhütungsvorschriften strenger durchgeführt würden.
Diesen tadelnden Bemerkungen gegenüber finden sich nur
zwei zum Theil anerkennende Bemerkungen in den Be-
No. 35.
SOZIALlplITISÖHES CENTRALBLATT.
437
richten aus Berlin und Düsseldorf; die übrigen Berichte
sprechen von dieser Thätigkeit der Berufsgenossenschaften
garnicht.
Die eingeschriebenen Hilfskussen und die Kranken-
kassennovelle. Den Mainzer Krankenkassen ist seitens des
Kreisamtes eine Zuschrift zugegangen, wonach sie bis zum
10. August sich erklären sollten, ob sie auch fernerhin als
von den Zwangskassen befreite Kassen bestehen bleiben
wollen oder nicht. Die Antwort ist — sagt die „Hessische
Volksstimme“ — für fast alle Mainzer Kassen durch die
Generalversammlungsbeschlüsse bereits gegeben, da sich
fast alle Kassen in sogenannte Zuschusskassen umwandeln.
In Zuschusskassen haben sich ferner umgewandelt die
Centralkasse der Töpfer in Dresden, die Centralkranken-
und Begräbnisskasse des Senefelderbundes (Lithographen),
die Kranken- und Begräbnisskasse des Gewerkvereins der
deutschen Tischler und Berufsgenossen. Die Auflösung
der Kasse soll jedoch erst erfolgen, wenn die so abgeän-
derten Statuten von der zuständigen Behörde genehmigt
worden sind.
Aufgelöst haben sich die Centralkassen der Schmiede
(Hamburg) und der Bildhauer (Stuttgart).
Dem § 75 des Gesetzes bleiben ausser den von uns
in den Nummern 29, 31 und 33 des „Sozialpolitischen Cen-
tralblattes“ angeführten Kassen, ferner weiter unterstellt
die centralisirten Kassen der Korbmacher mit dem Sitze
zu Zeitz, die der Maler (Hamburg), die der Frauen und
Mädchen (Offenbach a. Main), die Central-Kranken- und
Sterbekasse der deutschen Wagenbauer, ferner von Hirsch-
Dunkerschen Kassen die des Gewerkvereines der Schiffs-
zimmerer (Stettin), die Hilfskasse des Vereins deutscher
Kaufleute (Berlin), die Kranken- und Begräbnisskasse des
Gewerkvereines der deutschen Fabrik- und Handarbeiter
und des Gewerkvereines der Schuhmacher und Leder-
arbeiter.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung
Regelung des Schlafstellen wesens in Frankfurt a. M.
Eine Poiizeiverordnung vom 31. J uli d. Js., die am 1. Okto-
ber d. Js. in Kraft tritt, bestimmt für den Stadt- und Land-
kreis Frankfurt a. M., dass Schlafstellen, welche gegen
Entgeld zum Zwecke der Beherbergung vermiethet werden,
pro Kopf 3 Quadratmeter Bodenfläche und 10 Kubikmeter
Luftraum enthalten müssen. Für Kinder unter 6 Jahren
genügt ein Drittel, für Kinder von 6 — 14 Jahren genügen
zwei Drittel dieser Maasse. Die Räume dürfen nicht mit
Abtritten in Verbindung stehen; sie müssen, um eine aus-
reichende Lüftung zu ermöglichen, zum Oeffnen geeignete
Aussenfenster haben. Der Zugang zu Zimmern, m denen
Personen des einen Geschlechts schlafen, darf nicht durch
Schlafzimmer des anderen Geschlechts stattfinden. Die
Schlafräume dürfen mit den eigenen Wohn- und Schlaf-
räumen des Quartiergebers oder mit den Räumen für
Schläfer des anderen Geschlechts nicht in offener Verbin-
dung stehen; vorhandene Verbindungsthüren sind ver-
schlossen zu halten. Jeder Schlafraum muss gedielt und
verschliessbar sein. Wo Schläfer gehalten werden, dürfen,
wenn nicht das Verhältniss von Eheleuten und von Eltern
und Kindern vorliegt, nur Personen eines und desselben
Geschlechts in demselben Zimmer schlafen. Für jeden
Schlafgast muss eine besondere Lagerstätte vorhanden sein.
Die Unterbringung von 2 Personen in einer Lagerstätte ist
nur zulässig, wenn es sich handelt: a) um Eheleute, b) um
Kinder unter 12 Jahren, c) um zu ein und derselben Familie
gehörige Personen gleichen Geschlechts. Bettstellen dürfen
nicht übereinander gestellt werden. Die Bezüge der Säcke
und Kissen, die Ueberzüge und Betttücher, sowie die Decken
sind reinlich zu halten und mindestens alle 4 Wochen zu
waschen, ausserdem aber stets, falls solche bei einer Revision
durch einen Polizeibeamten schmutzig befunden werden,
auf Verlangen desselben sofort zu wechseln. Das Stroh
der Säcke und Kissen ist alle Vierteljahre, auch sofort auf
Erfordern des revidirenden Polizeibeamten zu erneuern.
Hölzerne Urinkübel dürfen nicht verwendet werden. Die
Schlafräume sind reinlich zu halten und zu diesem Behufe
I müssen a) die Fussböden täglich am Morgen ausgekehrt
und wöchentlich einmal gescheuert werden; b) in jedem
Schlafraum muss ein mit Wasser gefüllter Spucknapf stehen;
derselbe muss jeden Morgen geleert, gereinigt und frisch
mit Wasser gefüllt werden, c) Decken und nicht tapezirte
Wände müssen jährlich einmal getüncht werden; sind die
Wände mit Oelfarbe gestrichen, so müssen sie öfters,
mindestens zweimal im Jahre, gründlich abgewaschen wer-
den. Von der Aufnahme von Schläfern ist binnen 3 Tagen
eine schriftliche Anzeige zu erstatten. Aehnliche Vorschriften
sind auch für die Nachtherbergen erlassen worden.
Soziale Hygiene.
Sanitätspolizeiliche Revisionen in Wien. Wohl durch
| das Herannahen der Cholera veranlasst, findet jetzt in Wien ein
| reger sanitätspolizeilicher Inspektionsdienst statt. Die zumeist
konstatirten Uebelstände sind Wohnungsüberfüllung, ungünstig
situirte oder feuchte Wohnungen, Benützung von Kellerwohnung
gen, mangelhaft konstruirte oder nicht gehörig rein gehaltene
Aborte, vernachlässigte Senkgruben, grosse Mengen verdorbener
Nahrungsmittel. Während letztere konfiscirt "und vernichtet
j wurden, begnügte man sich bei den sanitätswidrigen Wohnungen
i mit behördlichen Anordnungen bezüglich deu Desinfektion.
Hier und da delogirte man auch die Miether, dabei fehlt aber
jede Garantie, dass die delogirten Parteien nunmehr sanitäts-
polizeilich günstige Wohnungen beziehen können und werden.
Die Cholera und die Wohnungsverhältnisse von
St. Petersburg. Viel zu spät, als schon die Cholera in
ihrem neuem verheerenden Zug bis an die russische Ost-
seeküste gelangt war, besinnt man sich in St. Petersburg
dass das beste Mittel gegen diese Seuche die Entziehung
ihres Nährbodens und zwar vor allem die Beseitigung der
1 schlechten Wohnungen ist. In den letzten Wochen Tst in
i St. Petersburg, wie" der „National-Zeitung“ berichtet wird,
auf Befehl des Stadthauptmanns eine besondere Kommission
gebildet worden, welche speziell die Apraxinstrasse auf
ihren Gesundheitszustand zu untersuchen hatte. Die Kom-
mission hat nun 1200 Wohnungen daselbst eingehend be-
j sichtigt und sie sämmtlich in dem entsetzlichsten Zustande
gefunden. In jeder dieser Wohnungen leben so viele
Menschen zusammen, dass man nicht begreift, wie sie dort
überhaupt athmen konnten. Die Kommission hat nun ein
i genaues Programm ausgearbeitet, welches diesen unwürdi-
gen Verhältnissen ein Ende machen soll. Nachdem die
Untersuchung der Privathäuser ein so schlimmes Resultat
gehabt, beginnt man jetzt die Aufmerksamkeit auch auf die
Regierungsgebäude zu lenken, welche von den städtischen
Sanitätskommissionen nicht untersucht werden dürfen. Re-
gierungskommissionen wurden mit dieser Aufgabe betraut.
Auch in den Amtsgebäuden hat man sehr viel Unordnung
gefunden und es wird beabsichtigt, mehrere dieser Häuser
vollständig umzubauen. Die Ermittelungen haben die Sanitäts-
kommission veranlasst, die Einrichtung einer ständigen sani-
tären Aufsicht der Häuser in Petersburg zu beantragen.
Das Stehen (1er Pferdebalmkutscher und Schaffner. Von
ärztlicher Seite geht der „Voss. Ztg.“ eine Zuschrift zu, die sich
gegen das andauernde Stehen der Pferdebalmkutscher und
-Schaffner wendet. Es heisst in der Zuschrift:
.... Ein kräftiger, junger Mann wird gewiss ohne sonder-
liche Beschwerden stundenlanges Stehen aushalten können, viel-
leicht eine Zeil lang, obwohl Wind und Wetter den Mann an
dem fast ungeschützten Platze hart genug mitnehmen, die Stra-
paze garnicht als solche empfinden. Aber der menschliche
Körper ist nun einmal für solch’ ununterbrochene Anstrengung
nicht geeignet, er bedarf der Abwechselung zwischen Arbeit
und Ruhe, und als letztere darf die minutenlange Pause am
Ende der Fahrt nicht wohl angesehen werden. So stellen sich
denn, um nur die Hauptschädlichkeit hervorzuheben, Störungen
in der Zirkulation ein und in deren Gefolge vor allem Krampf-
adern, die in ihren Anfängen recht harmlos ausschauen, mit der
Zeit aber und namentlich bei herannahendem Alter, zu einer
furchtbaren Plage werden können und zu jenen unheilbaren
Beingeschwüren führen, die den Kranken zu jeglicher Arbeit
untauglich machen
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
438
ANZEIGEN.
No. 35
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Jahrgang I— X fouu'if ber Porratli reitfit, franco H. 8.- ü. HU = 6 Mk.
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Verlag der Manz’schen k. und k. Hof-Verlags- und Universitäts-Buchhandlung in Wien.
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tuun 28. IDai 1885.
Das
ÖSTERREICHISCHE STAATSRECHT
(Verfassern gs- und Verwaltungsrecht).
Ste;rt=2lu§gabe mit Slnmerfungen
unb Sa d) regt ft e r
Ein Lehr- und Handbuch
von
Don
(£. 0. IDurMke,
ftaifevl. öel). iDber-'Jtigu'nnigärati), nortrng. 9iat() im :Tieid)S =
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Vierte oenitcbrle Auflage.
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Poüjeniüjrift m lüröcrung rinn- frieniidjm
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Stbonnementöbebingungen:
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©ei birefter Äreugbaubfenbung:
in ©eutfdjlanb nnb Defterreid) . „ 1,20
im SBeltpoftberein „ 1,50
3» ©erlitt bei freier gufenbung . „ 1,—
Die (Expebition
K. Iteks, ^faUjthmfrerflr. 55.
Hugo Frankel,
A ntiquariat fürRechts-u. Staatswissenschaft,
Berlin N. 24, Elsasserstr. 36,
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Specialfach einschlagender Literatur.
Dr. Ludwig Gumplowicz,
Professor in Graz.
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Der Mangel einer Gesammtdarstellung des österreichischen Staatsrechtes hat sich in den
letzten Jahren insbesondere in Folge einschneidender Umgestaltungen und Neubildungen auf dem
Gebiete des österreichischen Verwaltungsrechtes nicht nur in Kreisen der Studirenden, sondern
auch aller derjenigen, die am öffentlichen Leben theilnehmen, fühlbar gemacht. Es sei nur
darauf hingewiesen, dass seit den jüngsten Neuregelungen des Militärrechtes, des Gewerberechtes,
des Arbeiterschutzrechtes noch keine Gesammtdarstellung des österreichischen .Staatsrechtes, welche
dieselben berücksichtigen würde, erschienen ist und dürfte daher obiges Werk den interessirenden
Kreisen gewiss willkommen sein.
Verlag 0011 Xooitfjarö Bintinn in Berlin SW., äSil&elmftr. 121.
Der 2lrbeiterfreun5.
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Verantwortlich für den Anzeigentheil : O. Schuchardt in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I -Jahrgang.
Berlin, den 5. September 1892.
Nummer 36.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
-j.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT
Soziale Wanderungen in
< 'esterre ich.
Soziale Wirthschaftspolitik 11.
W irthschaftsstatistik :
Die Landwirthschaftskammern in
Preussen. Von Dr. Rudolf
G r ä t z e r.
Zur sozialpolitischen Geschichte
des rheinisch-westfälischen Berg-
baues. Von Dr. Max Quarck.
Zur Frage der Volksernährung.
Von Prof. Dr. Walther Lotz.
Die überseeische Auswanderung
aus Deutschland im ersten Halb-
jahre 1892.
Speisung armer Schulkinder in
Kopenhagen.
Zum Handel mit Ratenloosen.
Arbeiterzustände:
Zur Lage der Vollmatrosen und
Schiffsjungen bei der deutschen
Handelsmarine.
Ortsübliche Tagelöhne für den
Stadtkreis Berlin.
Die Arbeitslosigkeit im Hamburger
Zimmerergewerbe im Winter
1891/92.
Lohnmissbräuche in der schweize-
rischen Posamentindustrie.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Internationaler Buchdruckerkon-
gress.
Die englischen Bergarbeiter und
der 8 ständige Arbeitstag.
Politische Arbeiterbewegung :
Der deutsche sozialdemokratische
Parteitag.
Arbeiterkongress der französischen
Schweiz.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Die Wirkung der Sonntagsruhe im
Handelsgewerbe.
Arbeiterversicherung:
Die Ausdehnung des deutschen
Unfall Versicherungsgesetzes auf
das Handwerk.
Der Reichszuschuss für die Inva-
liditäts- und Altersversiche-
rung.
Freie Hilfskassen und Kranken-
kassennovelle.
Kriminalität:
Armuth und Verbrechen.
Eingesenrtete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Soziale Wanderungen in Oesterreich.
Aehnlich den letzten Volkszählungen in Frankreich
und der Schweiz bietet auch die letzte österreichische
Volkszählung interessante Materialien über die inneren
Wanderungen. Im Mai-Juni-Hefte der Wiener „Statistischen
Monatsschrift“ fasst Dr. H. Rauchberg in einer „Dichtigkeit,
Zunahme, natürliche und Wanderbewegung der Bevölke-
rung Oesterreichs in der Periode 1881 — 1890“ betitelten Ab-
handlung das betreffende Material zusammen, auf das wir
die folgende Darstellung basiren.
Die Dichtigkeit der Bevölkerung Oesterreichs hat
vom Jahre 1818 — 1890 stetig zugenommen, es kamen auf
100 Einwohner anfangs 1818 177,77 zu Ende des Jahres 1890.
Von 1869 bis 1890 stieg in allen Kronländern die Bevölke-
rung mit Ausnahme Tirols, in dem die Dichtigkeitsverhält-
nisse fast unverändert blieben.
Die Dichtigkeit der Bevölkerung hat wohl in dem
Gesammtgebiet der Monarchie und in den meisten grossen
Verwaltungskomplexen, aber keineswegs überall gleich-
mässig zugenommen, den vielen Bezirken mit Verdich-
tung der Bevölkerung steht eine grosse Zahl mit relativer,
ja absoluter Bevölkerungsabnahme gegenüber. Die Ursachen
dieser Erscheinung sind zweifacher Art, sie wird nämlich
nicht nur durch das Ueberwiegen bezw. Zurückbleiben der
Geburtenzahl über bezw. hinter den Todesfällen, sondern,
und zum Theil in noch höherem Grade, durch die Zu- und
Weg Wanderungen erklärt. So nahm in dem Zeitraum
1870 — 1890 die Bevölkerung Niederösterreichs durch natür-
liche Bewegung um 305 821 , dagegen durch Wander-
bewegung um 365 270 Seelen zu; hier wirkt als starkes
Attractionscentrum die Grossstadt Wien mit ihren sich
rasch entwickelnden hochindustriellen Vororten, aber auch
die meisten anderen Provinzen zeigen zum Theil starke
positive und negative Wirkungen der Wanderbewegung
auf die Volksvermehrung. In Bezug auf positive Wirkung
(Zuwanderung) schliessen sich an Niederösterreich an: Steier-
~mark mit 34 525 mehr Zu- als Wegwandernden gegenüber
110 193 mehr Geborenen als Verstorbenen im gleichen
Zeiträume, weiter dann die Bukowina mit 13 019 von
1870 — 1880 Zu- und 784 im Jahrzehnt 1881 — 1890 Wegwan-
dernden und Salzburg mit 1 I 760 1870 — 1890 Zuwandernden.
Negativ wirkt die Wanderbewegung in Böhmen, aus dem
in den Jahren 1870 — 1890 bei einer natürlichen Volksver-
mehrung von 1 074 241 367 271 Personen mehr aus- als ein-
wanderten, eine Zahl, die fast ganz der nach Niederöster-
reich gerichteten Einwanderung entspricht, was nicht ein
Zufall, sondern zum nicht geringen Theile auf den Umstand
zurückzuführen ist, dass die Böhmen verlassenden Ein-
wohner sich zum weitaus grössten Theile nach den In-
dustrieorten Niederösterreichs, vor allem nach Wien und
seinen Vororten, wenden. Es wandelten in den Jahren
1870 — 1890 mehr aus als ein aus Mähren 137 572, aus
Galizien 63 395, aus Tirol und Vorarlberg 37 748, aus Krain
36 652, aus Dalmatien 19 840,, aus Schlesien 14 125, aus
Kärnthen 6 922, aus dem Küstenlande 4 695, aus Oberöster-
reich 3 006 und aus ganz Cisleithanien 269 322 Personen.
1 Dass diese Zahlen nur einen Theil der Wanderbewegung
zum Ausdruck bringen, ergiebt schon der Vergleich aus
den Einzelzahlen und der „Summe“ für Cisleithanien.
Legt man der Wanderungsstatistik die Angaben für
die autonomen Städte und die Bezirkshauptmannschaften
zu Grunde, so erhält man beispielsweise statt 170 829 nach
Niederösterreich Einwandernden 192 098, denen 21 269 Weg-
wandernde gegenüberstehen, aus Oberösterreich wären
sodann nicht I 326, sondern 1 7 938 weggewandert, während
440
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 36.
freilich 16 612 zuwanderten. Die Auswanderung aus Böhmen
wäre sodann nicht mit 191 378, sondern mit 283 260 zu be-
ziffern, während 91 882 Personen einwanderten. Mähren
hätte nicht 53 421 sondern 94 482 wegwandernde und 41 061
zu wandernde, Schlesien nicht 6 927 sondern t8 900 weg-
und 1 1 973 einwandernde und die Bukowina nicht 784 sondern
9 351 wegwandernde und 8 567 zuwandernde Personen im
Zeiträume 1880 — 1890 zu verzeichnen. Die Zahlen, welche
aus dem Vergleiche der Angaben über die Bewegung der
Bevölkerung und den Differenzen der Volkszählungsergeb-
nisse gewonnen werden, können die sich gegenseitig auf-
hebenden Zu- und Wegwanderungen nicht zum Ausdruck
bringen, sondern nur die Differenz derselben, sie bringen
ferner die Wanderungen innerhalb der einzelnen Kron-
länder und Bezirkshauptmannschaften, welche wohl noch
grössere Massen in Bewegung setzen, als die aus und in
die Kronländer nicht zum Ausdrucke. So wie die Wande-
rungen innerhalb Europas viel bedeutender sind, als die
zwischen Europa und den anderen Welttheilen, so ist die
Wanderung innerhalb einzelner Provinzen grösser als die
durch die Wanderung verursachten Gewinne und Verluste
der Provinz oder Bezirkshauptmannschaft, diese als populatio-
nistische Einheit genommen. Ein vollständiges Bild der
Wanderbewegung könnte demnach blos durch die Zu-
sammenfassung der Wanderungsstatistik aller einzelner
Orte u. s. w. bewirkt werden. Kommt auch die Wande-
rungsstatistik Cisleithaniens dem ja meist unerreichbaren
statistischen Ideale nicht allzunahe, so sind die Ergebnisse
derselben doch in höchstem Grade dankenswerthe speziell
für den Sozialstatistiker, leider aber fehlen die zu ihrem
Verständniss erforderlichen sonstigen Erhebungen in Oester-
reich fast vollständig, so dass die Statistik der Wander-
bewegung in der trostlosen sozialstatistischen österreichi-
schen Wüste wie eine Oase auffällt.
Die Bedeutung der Wanderbewegung für die Be-
völkerungsbewegung wird durch die folgenden sich auf
1881-1890 beziehenden Zahlen beleuchtet. Die Zahlen für
1870 — 1880 theilen wir in Klammern mit. Niederösterreich
hatte eine Bevölkerungszunahme von 14,21 '70u (15,52n/on),
hiervon entfielen 7,33 %n (8,88 %0) auf die Wanderbewegung
und 6,88 %o (6,64 %ft) auf die natürliche Bevölkerungsbe-
wegung; die Bukowina hatte bei einer Bevölkerungsver-
mehrung von 13,10%, (10,32 %nj einen Bevölkerungsverlust
von 0,14°% (p 2,31 %0) durch Wanderbewegung und einen
natürlichen Bevölkerungszuwachs von 13,24°% (8,01
Galiziens Bevölkerungszunahme von 10,79 %n (8,59 %0) ist
auf den Geburtenüberschuss von 1 1 ,92 %0 (8,52 %„) zurück-
zuführen, das gleiche gilt von Dalmatiens Bevölkerungs-
zunahme von 1 0,77 °/00 (3,81 %0), wo der natürlichen Ver-
mehrung um 13,68°% (6,99 %o) ein Verlust durch Aus-
wanderung von 2,91 °/nn (3,18 °/on) gegenübersteht. Aehn-
liche Verhältnisse haben Böhmen, Mähren, Schlesien, Ober-
österreich, Kärnthen und Krain. Die Bevölkerung nahm
in Promilles zu in Böhmen um 5,16 (7,43), in Mähren um
5,76 (6,13), Schlesien 7,11 (9,23), Oberösterreich 3,46 (2,84),
Kärnthen 3,52 (2,97), Krain 3,68 (2,91). Der Geburtenüber-
schuss betrug in Promilles in Böhmen 8,60 (10,54), in
Mähren 8,24 (9,92), in Schlesien 8,33 (10,50), in Oberöster-
reich 3,63 (3,05), in Kärnthen 5,41 (3,06), in Krain 7,96 (6,04),
dagegen überstieg die Auswanderung die Einwanderung in
Promille der Gesammtbevölkerung in Böhmen 3,44 (3,11),
Mähren 2,48(3,79), Schlesien 1,22 (1,27), Oberösterreich 0,17
(0,21), Kärnthen 1,89 (0,09), Krain 4,28 (3,13). Zunahme
durch natürliche Bevölkerungsvermehrung u n d durch
Wanderbewegung hatten zu verzeichnen Salzburg und
Steiermark. Ersteres eine Gesammtzunahme von 6,08 %0
(6,18%,,) und zwar durch die natürliche Volksvermehrung
um 2,33 %„ (2.85 "%) und durch Wanderbewegung um I
3,23 %(l (3,85 °/00). Oie Küstenlande nahmen 1870—1880 um
7),3%0 und zwar 4,66 %(l durch natürliche Vermehrung und
0,58 %„ durch Wanderbewegung zu, im Jahrzehnt 1881 bis
1890 galt das gleiche Verhältnis! nur für Triest, dessen Be-
völkerungszunahme von 8,72°%, die sich aus 3,07 °/00 auf
natürliche Bevölkerungszunahme und 5,65 %„ auf Wander-
bewegung zurückzuführende Bevölkerungszunahme zu-
sammensetzen. Görz und Gradisca nahmen um 4,37 °/on zu,
hier stehen 1 0,37 %,, auf natürliche Bevölkerungsvermehrung
zurückzuführende Bevölkerungszunahme 6°% Verlust durch
Wanderbewegung gegenüber, das gleiche gilt von Istrien,
dessen Bevölkerungszunahme von 8,77 %o einem Gewinne
von 10,02 %0 durch natürliche Volks Vermehrung und einem
Verluste von 1,25 %n durch Wanderbewegung entspricht.
Die Bevölkerung Tirols und Vorarlbergs vermehrte sich
von 1870 — 1880 um 2,74 "/0(), der Zunahme der Bevölkerung
durch Geburtenüberschuss von 4,15 %0 stand ein durch
die Wanderbewegung verursachter Verlust von 1,41 %„
gegenüber, im Jahrzehnt 1881—1890 vermehrte sich die
im
Bevölkerung Tirols um
8 1°/,
1 /00>
von 3,42 %0 ein
Verlust von 2,48 %i
0,94 %n, die Vorarlbergs
Tirol stand der natürlichen Volksvermehrung
durch die Wanderbewegung verursachter
gegenüber, während die Bevöl-
kerungszunahme Vorarlbergs aus 4,32 %„ Geburtsüber-
schüssen und 3,78 "/oo positiven Wanderbewegungsresultaten
zu erklären ist.
Aus diesen Zahlen geht zweierlei hervor: dass die
Volksvermehrung auch in Cisleithanien in überaus starkem
Masse von der Wanderbewegung beeinflusst wird und dass
eine bestimmte Richtung der Wanderbewegung wie z. B. in
Preussen von Osten nach Westen nicht .stattfindet, ganz im
Gegentheile liegt der Hauptattraktionspunkt der Wander-
bewegung an der östlichen Grenze des Reiches in Nieder-
österreich, schon hieraus ist zu folgern, dass die Wander-
bewegung in den Ländern der ungarischen Krone mitheran-
gezogen werden muss, um ein annähernd richtiges Bild der
Wanderbewegung zu erhalten.
Die gesammte Bevölkerungsbewegung ist in erheb-
lichem Masse auf rein soziale Ursachen zurückzuführen. Bei
den Todesfällen ist dies klarer ersichtlich wie bei den Ehe-
schliessungen, hier wieder besser als bei der Geburtenzahl,
aber im Vergleiche zu der Wanderbewegung erscheint die
übrige Bevölkerungsbewegung nur sekundär durch soziale
Verhältnisse verursacht.
Wenn wir von Russland und der Türkei absehen, wird
in keinem anderen europäischen Staate die Zurückführung
der Wanderbewegung auf ihre treibenden Momente schwerer
erscheinen, als in Oesterreich. Die grosse Zahl der Natio-
nalitäten und die Mannigfaltigkeit der Bodenkonfiguration
scheinen schon allein die Erklärung aus sozialen Vorgängen
zu erschweren, so dass von anderen sekundären Ursachen
abgesehen werden kann. Die Zurückführung der Wander-
bewegung auf soziale Thatsachen wird noch besonders er-
schwert durch den Umstand, dass Oesterreich keine Berufs-
statistik besitzt, welche den Vergleich mit der relativ
besten, der deutschen Berufszählung vom 5. Juni 1882 aus-
halten könnte.
Die Betrachtung der Wanderbewegung wird durch
eine sehr gute kartographische Darstellung erleichtert,
welche dem Aufsatze Dr. Rauchberg’s angefügt ist. Wir
ersehen aus derselben, dass grosse Gebiete einheitlichen
Charakter tragen, so erscheinen Böhmen, abgesehen von
den an Sachsen grenzenden durch Bergbau und ausser-
ordentlich entwickelte Industrie ausgezeichneten Bezirken,
dann Mähren und der westliche Theil von Schlesien als ein
einheitliches Gebiet der Bevölkerungsabnahme durch Weg-
wanderung, nur die hochindustriellen Orte Prag, Brünn,
No. 36.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
441
Olmiitz, I roppau mit ihren Umgebungen und ein weiterer
mährischer Bezirk und die Stadt Ung. Hradisch zeigen
die entgegengesetzte Bewegung. Die deutschen Böhmer-
waldbezirke und die südböhmischen Gebiete leiden ebenso
unter der W egwanderung wie die reintschechischen Be-
zirke. Waldwirtschaft, Hausindustrie, Rübenzuckerindustrie
und ganz vornehmlich Latifundienbesitz charakterisiren
diese Gegenden ökonomisch. Hochindustriell sind hingegen
die an das Königreich Sachsen grenzenden Bezirke und die
Umgebung von Prag, Olmiitz, Troppau, doch leiden auch
einige industrielle Bezirke Schlesiens unter der Abnahme
der Bevölkerung durch Wegwanderung. Das ganze Gebiet
südlich der Drau mit Einschluss einiger nordwestlich an-
grenzenden Bezirke, charakterisirt durch den Karst, spär-
liche Landwirthschaft und Mangel von Industrie ist auch
ein fast einheitliches Gebiet mit durch die Wanderbewe-
gung verursachten Bevölkerungsverlusten. Bios die Städte
Klagenfurt, Marburg, Laibach, Cilli, Görz und die durch
starken Seeverkehr ausgezeichneten Orte Triest, Pola und
Zara mit ihren Bezirken machen eine Ausnahme. Zwischen
diesen beiden Gebieten liegen die Provinzen Nieder- und
Oberösterreich, Salzburg und Steiermark, Grossindustrie,
Bergbau und Hüttenwesen einerseits, Alpenwirthschaft
andrerseits geben diesen Bezirken ihre ökonomische Signa-
tur. Hier überwiegt die Zuwanderung, nur die an die
nördliche und südliche Zone wie an Tirol grenzenden Be-
zirke sind Abwanderungsgebiete. Im äussersten Westen
der Monarchie, in Tirol und Vorarlberg, findet sich wieder
die Wegwanderung vorherrschend, Ausnahmen machen die
Stickereibezirke Vorarlbergs, die Städte Bozen, Trient,
Rovereto und die Bezirke Innsbruck und Kufstein, Meran
und Riva, in den beiden ersteren dürfte die sich ent-
wickelnde Grossindustrie wirken, in den beiden letzteren
die Winterkurorte Riva und Meran, eine Wirkung die viel-
leicht bei einer Aufnahme im Sommer nicht zum Ausdruck
gekommen wäre.
Grosse Gebiete von durch Wanderbewegung nicht
beeinflusster Bevölkerung haben die vornehmlich durch
Landwirthschaftsbetrieb wirtschaftlich charakterisirten
Länder Galizien und die Bukowina aufzuweisen. Durch
Wanderbewegung verursachte Bevölkerungszunahme weisen
die meisten holzreichen östlichen Karpathenbezirke, welche
gleichzeitig die dünnstbevölkerten Gegenden der Monarchie
sind, die Bezirke der Landeshauptstädte Krakau, Lemberg
und Czernowitz und einige wenige andere auf. In den
westlichen Bezirken mit vorzugsweise polnischer Bevölke-
rung kommt die durch die Wanderung beeinflusste Bevöl-
kerungsabnahme stärker zum Ausdruck als in den östlichen
von Ruthenen bewohnten Gegenden.
Fehlt auch Oesterreich eine eindringende Wirth-
schafts- und Sozialstatistik, so kann doch schon aus der
kartographischen Darstellung Dr. Rauchberg’s der Schluss
gezogen werden, dass die nationale Zusammensetzung der
Bevölkerung keinen Ausschlag giebt für die Entwicklung
der Wanderbewegung; sowohl in Böhmen, Mähren, Schle-
sien und den angrenzenden Bezirken Galiziens sehen wir
eine fast allgemeine Bevölkerungsabnahme, und zwar in
gleicherweise in deutschen, wie in tschechischen und pol-
nischen Bezirken, die gleiche Erscheinung finden wir in
dem Gebiete südlich der Drau, wo Deutsche, Italiener, Slo-
venen und Kroaten das Land bewohnen, auch Tirol mit
seiner deutschen und italienischen Bevölkerung berechtigt
uns nicht, Beziehungen zwischen Nationalität und Wander-
bewegung festzustellen. Auch die ruthenischen und rumä-
nischen Bezirke Galiziens und der Bukowina dürften kaum
auf die Einwirkung der Nationalität auf die Wander-
bewegung zu schliessen berechtigen, denn gerade hier
halten sich die Gebiete stagnirender Bevölkerung mit denen
durch die Wanderbewegung ab- und zunehmenden Bezirken
fast die Waage.
Die. rein geographischen Momente sind auch weniger
bedeutungsvoll als man gemeinhin annimmt. Haben doch
die Sudeten starke Bevölkerungszunahme, der Böhmerwald
dagegen starke Bevölkerungsabnahme, in den österreichi-
schen Ostalpen haben wir starke Bevölkerungszunahme,
in den österreichischen Westalpen starke Bevölkerungs-
abnahme, das gleiche Bild zeigen die galizischen Kar-
pathenbezirke, die östlichen haben Bevölkerungszunahme,
die westlichen Bevölkerungsabnahme. Selbst im Karst-
gebiete haben wir vereinzelte Gebiete mit zunehmender
Bevölkerung. Auch Hochland und Tiefland, Flussströme
und -Meeresküsten weisen verschiedene Wirkungen der
Wanderbewegung auf, so dass man wohl behaupten kann,
dass die geographischen Momente für die Besiedelung
eines Landes ausschlaggebend sind, nicht aber für die
Wanderbewegung in einem besiedelten Lande.
Wenn wir nun den Einfluss der Nationalitäten und
der geographischen Verhältnisse aut die Wanderbewegung
eliminiren können oder ihm nur nebensächliche Bedeutung
zuzumessen haben, so bleibt als massgebender Faktor nur
das ökonomische bezw. soziale Moment übrig. In Oester-
reich, einem Lande, in dem die Landwirthschaft in den
Hintergrund zu treten beginnt und die Grossindustrie sich
rasch entwickelt, sehen wir Städte und Industriebezirke
durch Zuwanderung rasch wachsen, während in lancl-
wirthschaftlichen Bezirken die Bevölkerung entsprechend
abnimmt.
Da wir nur eine allgemeine Kenntniss der wirth-
schaftlichen Zustände der Bevölkerung besitzen, bietet die
Statistik der Wanderbewegung Anlass zu Rückschlüssen
auf die sozialen Verhältnisse, das schwierigere, wichtigere
und logischere: die Erklärung der Wanderbewegung durch
die sich ändernden sozialen Zustände, ist heute fast ganz
unmöglich. Aber auch diese Rückschlüsse können be-
deutungsvoll sein; so wenn wir z. B. konstatiren können,
dass die Bezirke des nordwestlichen Böhmens, welche durch
ihre Hungerlöhne bekannt sind, die Arbeiter in den böh-
mischen Latifundien noch stark zur Einwanderung reizen,
so lehrt uns dies, dass die landwirthschaftlichen Arbeiter
auf den Gütern des böhmischen Grossgrundbesitzes im
höchsten Grade verelendet sein müssen.
Die Statistik der österreichischen Wanderbewegung
zeigt, dass die inneren Wanderungen viel grössere Massen
in Bewegung setzen, als die österreichische Auswanderung.
Während aber der Auswanderung von der Verwaltung,
der Gesetzgebung und der Wissenschaft die grösste Auf-
merksamkeit geschenkt wird, lässt man die mindestens
gleich beachtenswerthen Symptome des Uebelbefindens
der Bevölkerung, der zum Bewusstsein gekommenen Un-
zufriedenheit, welche in den sozialen Wanderungen zum
Ausdruck kommt, wenn wir von den im Interesse des
preussischen Grossgrundbesitzes geplanten Massregeln
gegen die Sachsenwanderung absehen, fast gänzlich un-
berücksichtigt.
Je zufriedener eine Bevölkerung ist, desto sesshafter
ist sie in der Regel, je unzufriedener sie ist, desto häufiger
ist sie, falls sie nicht zu vollkommener Energielosigkeit
und Stumpfheit herabgedrückt ist, gezwungen, ihren Wohn-
ort zu wechseln, und unter diesem Gesichtspunkt ist es
gleich, ob sie nach Australien oder von einer Provinz in
die andere des gleichen Landes wandert.
442
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 36.
Soziale Wirtschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Die Landwirthschaftskammern in Preussen.
Seit kurzer Frist treten die seit längerer Zeit nur in
der einschlägigen Litteratur vertretenen Reformtendenzen
auf dem Gebiete der Interessenvertretungen stärker in den
Vordergrund. Baden hat — wie hier mehrfach erwähnt —
Gewerbekammern neu geschaffen, die auch für das ganze
Reich projektirt werden. In mehreren Partikularstaaten, so
namentlich im Königreich Sachsen, nimmt man einen An-
lauf zur Reorganisirung der Handelskammern; auch in
Preussen schweben darüber Erhebungen. Soeben melden
auch die Tagesblätter, dass im preussischen Ministerium
für Landwirthschaft eine Konferenz stattgefunden habe, der
ein Gesetzesvorschlag behufs Bildung von Landwirthschafts-
kammern vorgelegt wurde.
Bevor wir auf die bekannt gegebenen Einzelheiten
dieses Entwurfes eingehen, wollen wir einen Blick auf
seine Vorgeschichte werfen. Charakterisirt wird diese da-
durch, dass nicht die Interessenten selbst sondern Schrift-
steller. welche sich mit jenen Kontroversen beschäftigten,
in die Bewegung für eine den Handelskammern analoge
Organisation der Landwirthe eintraten. Die einzelnen
Phasen dieser Bewegung zu verfolgen ist hier nicht der
Ort. In Folge einer Eingabe schlesischer landwirthschaft-
licher Vereine berieth das Landes-Oekonomiekollegium über
die Frage, gelangte jedoch nicht zu einem definitiven Re-
sultate. Es wurden Gutachten seitens der Provinzialvereine
eingefordert, welche, wenn die Nachrichten der Presse hier-
über zutreffend sind, in der Mehrzahl eine ungünstige Stel-
lung dem Projekte gegenüber einnahmen. Die Resolution
des Centralvereins für Posen liegt uns vor und lautet
folgendermassen :
„Eine Erhöhung der Geldmittel der landwirthschaft-
lichen Vereine ist im Interesse der Wirksamkeit zwar
wünschenswerth; sie wird aber die Verleihung eines be-
schränkten Besteuerungsrechtes an die zu errichtenden
Landwirthschaftskammern nicht überflüssig machen. Da-
gegen steht zu befürchten, dass die freie Vereinsthätigkeit
durch Llmgestaltung der Vereine zu behördlichen Instituten
beeinträchtigt wird. Endlich kann in Folge dieser Steuer-
pflichtigkeit das Ansehen der landwirtschaftlichen Vereine
leiden, indem denselben auch unerwünschte Elemente bei-
treten werden. Aus diesen Gründen und mit Rücksicht
auf die eigenartigen Verhältnisse der Provinz kann die vor-
geschlagene Organisation nicht befürwortet werden.“
Mit solchem Gutachten hat allerdings eine sachlich
unbefangene Kritik leichtes Spiel. Auf die Kostenfrage
kommen wir sofort bei Besprechung des Entwurfs der Re-
gierung zurück. Dagegen müssen wir einige Worte über
die Befürchtungen wegen Aufgebens der „freien Organi-
sation“ verlieren; denn dieses Sticlrwort wird in Ermange-
lung besserer Waffen gegen die Reorganisation benutzt und
findet noch leider allzuviele Gläubige.
Nun sind aber die landwirthschaftlichen Vereine,
welche jetzt nach dem Regierungsprojekte quasi Behörden-
qualität erlangen sollen, eigentlich mehr dem Namen nach
„freie“ Vereine. Allerdings steht es jedem Landwirthe frei
dem Vereine beizutreten bezw. ihn zu verlassen; aber
schon in 1885 wurden im Gebiete der preussischen Monar-
chie nicht weniger als 1810 derartige Vereine gezählt,
welche zumeist centralisirt waren. Eine neuere Angabe
liegt uns leider nicht vor; zweifellos haben sich jedoch
sowohl die Zahl der Vereine als ihrer Mitglieder seither
vermehrt, so dass in ihnen jedenfalls ein sehr erheblicher
Theil der Interessenten inkorporirt ist. Die Vortheile,
welche die Zugehörigkeit zu einem solchen Vereine gewährt,
hat dieses Ergebniss in erster Reihe zu Stande gebracht.
Die Regierung ihrerseits unterstützt sie nicht blos durch
namhafte Subventionen, sie entsendet auch zu den Be-
rathungen der Centralvereine Kommissare, welche lebhaft
sich an den Debatten betheiligen. Es existirt seit Langem
schon ein einheitliches Schema für Berichte an das land-
wirthschaftliche Ministerium, das fleissig benutzt wird.
Endlich — und das ist der entscheidende Punkt! — stehen die
Centralvereine durch ihre Delegirten in unmittelbarer Ver-
bindung mit dem Landes-Oekonomiekollegium, einem er-
weiterten Ministerrathe, der schon vor Schaffung des
Ministeriums für Landwirthschaft (1848) ins Leben trat
(1842). So kann man nur mit einem Anfluge von Ironie
diese Vereinsbildung eine „freie“ nennen und die Verfechter
des ökonomischen Liberalismus hauen gewaltig daneben,
wenn sie die Blüthe dieser „freien Assoziation“ beständig
gegen die „offizielle“ ausspielen. Der gleiche Einwand ist
übrigens schon bei Berathung des Gesetzes über die
Handelskammern von 1870 versucht worden und doch zeigt
gerade die Erfahrung, dass trotz des bekannten Konfliktes
mit der Regierung, welcher eine Zeit lang die Thätigkeit
der Kammern lähmte und einige sogar zur Auflösung trieb,
„freie“ Vereine durchaus nicht an ihre Stelle getreten sind,
wie prophezeit wurde.
Wie wir sehen, wird die Vorlage der Regierung, falls
sie Gesetz werden sollte, wenig an dem bestehenden Zu-
stande ändern. Allein sie bringt auch eine Reihe von Ver-
besserungen, die gerade aus den Auslassungen des oben
mitgetheilten Posener Votums erhellen.
Dadurch dass jeder Berufsgenosse fortan kraft dieser
Eigenschaft das Wahlrecht zu den Kammern erhält, wird
unseres Erachtens das Ansehen derselben in keiner Weise
leiden. Gerade im Gegentheil dürfen sie erst dann die
Autorität voll und ganz in Anspruch nehmen, welche der
Vertretung aller Interessenten gebührt. Die offenkundigen
Missstände, zu welchen mitunter das Treiben dieser „freien“
Vereine geführt hat — wir wollen nur Nichtaufnahme poli-
tischer Gegner, Wahlagitation etc. nennen — werden bei
einer „offiziellen“ Organisation schwer oder gar nicht mög-
lich sein. Jedenfalls ist Remedur dagegen leichter vor-
handen. „Unerwünschte Elemente“ mögen dem oder jenem
nicht passen; allein ihre Nützlichkeit wird sich bald zeigen,
sobald die geschlossenen Konventikel einer breiteren Oeffent-
lichkeit Raum geben. Es steckt in dem Volke und natür-
lich auch in diesem Berufszweige eine Fülle latenter Fähig-
keiten, welche es gilt für die Allgemeinheit nutzbar zu
machen.
Der Ausschuss des Landes-Oekonomiekollegiums hat
als Zweck der neuen Organisation den folgenden be-
zeichnet:
„Unter Landwirthschaftskammer ist eine solche staat-
lich anerkannte Gesammtvertretung der Landwirthschaft
eines bestimmten Bezirkes zu verstehen, welche aus Wahlen
hervorgegangen und dazu berufen ist, die Gesammtinter-
essen der Landwirthschaft ihres Bezirkes zu vertreten und
durch zweckentsprechende Einrichtungen zu fördern, auch
befugt ist die Berufsgenossen innerhalb der festgestellten
Grenze zur Deckung der aus ihrer Thätigkeit entspringen-
den Kosten im Wege der Besteuerung heranzuziehen.“
Diese Erklärung lässt freilich Alles im Dunkeln, was
die Kammer an Aufgaben zu bewältigen haben wird.
Allerdings wird sich das schwer durch eine Formel aus-
driicken lassen und man darf annehmen, die neue Organi-
sation wird zunächst die Funktionen der alten übernehmen,
denen sich je nach ihrer Bewährung andere weitgreifendere
anreihen dürften.
Bezüglich der Kosten wurde beschlossen, den Kam-
mern ein Recht auf Zuschläge zur Grundsteuer einzu-
räumen. Diese dürfen jedoch ohne Spezialgenehmigung des
Ministers 5 pCt. des Gesammtaufkommens aus dieser Steuer
nicht übersteigen. Wer weniger wie 10 M. jährlich Grund-
steuer zahlt, ist von dem Zuschläge befreit.
Die Heranziehung der Kommittenten, wrelche bisher
aus diesem oder jenem Grunde den Vereinen fern ge-
blieben sind, darf unseres Erachtens nur gebilligt werden.
Die Institution ist für alle Berufsgenossen da und hat zu-
dem in dem Besteuerungsrechte für die Handelskammern
ein Präcedens. Fraglich ist uns nur, ob die Verknüpfung
mit der Grundsteuer einen richtigen Massstab abgiebt. Wir
haben diese selbst der Einfachheit halber früher empfohlen;
allein damals war der Plan MiquePs noch nicht bekannt,
No. 36.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
443
welcher bekanntlich alle Realsteuern den Selbstverwaltungs-
körpern überweisen will. Zudem ist die Grundsteuer no-
torisch ein höchst unsicherer Massstab für den Reinertrags-
werth, der doch rationeller Weise zu Grunde gelegt werden
müsste, zumal ein Dreiklassen- Wahlsystem beabsichtigt zu
sein scheint. So gelangen wir zu dem Vorschläge, ent-
weder die Einkommen- (bezw. inkl. der projektirten Ver-
mögenssteuer) oder das gesammte Steueraufkommen aus
direkten Steuern den Zuschlägen zu Grunde zu legen. Die
Grundsteuer ist schon wegen des verschiedenen Massstabes
der Belastung hierfür in keiner Weise geeignet.
Ueberhaupt wird es sich vorher kaum feststellen
lassen, wie hoch sich das Erforderniss für die Kammern
stellen wird. Der jährliche Beitrag für die grösseren Ver-
eine beläuft sich heute auf 6 — 9 M., für die kleinen, denen
viele Bauern angehören, auf 1 '/2 - 6 M. Durch den gesetz-
lich statuirten Beitragszwang werden den Kammern jeden-
falls grössere Geldmittel zugeführt, während aut die bis-
herige ehrenamtliche Thätigkeit in keiner Weise verzichtet
zu werden braucht. Andererseits steigen selbstredend mit
der Erweiterung der Aufgaben auch die Kosten — allein
diese machen sich in der Regel indirekt durch die Vor-
theile mehr wie bezahlt Die Subventionen werden den
Kammern wohl verbleiben aber vielleicht rationeller ver-
theilt werden.
Ueber das Wahlrecht entnehmen wir derselben Quelle
die Mittheilung, dass solches für jede Kammer durch Statut
geregelt werden soll. Als Grundzüge, die wohl einen Nor-
mativcharakter besitzen, wird hinzugefügt, die Wahl soll
direkt sein, jeder Berechtigte muss mindestens eine Stimme
führen und Niemand darf über L/;i aller Stimmen auf sich
vereinigen. Diese letztere Bestimmung scheint auf das
Dreiklassen - Wahlsystem hinzudeuten. Denn das kumu-
lative Wahlverfahren, das unseres Erachtens hier den Vor-
zug verdiente, wird wohl wegen seiner Neuheit, zum Theil
auch seiner Komplizirtheit halber nicht beliebt werden.
Nur diese spärlichen Informationen vermochten wir
über den Entwurf zu sammeln, an die unsere Kritik an-
knüpfte. Sobald er im Ganzen publizirt sein wird, — was
hoffentlich nach der erfreulichen neuen Praxis der Regie-
rung in Kürze erfolgt — , wird es an der Zeit sein, die viel-
leicht noch wichtigeren Details einer Besprechung zu unter-
ziehen. So namentlich die Frage einer eventuellen Ver-
tretung der Landarbeiter u. A. m.
Eines aber muss vorab betont werden: Hat sich in
dem Entwurf die Regierung nicht gesetzlich verpflichtet,
vor allen bezüglichen Massnahmen die Kammern zu be-
fragen, so ist die ganze Reform eine ziemlich werthlose
Spielerei, die man lieber unterlassen sollte. Ebenso bedarf
die Einfügung der Kammern in den Behördenmechanismus
unumgänglich einer gesetzlichen Lösung. Qui vivra verra!
Aus mancherlei Gründen ist das Gelingen einer
Organisation der Interessenvertretung gerade für die Land-
wirthschaft im höchsten Grade wahrscheinlich. Sie wird
zweifellos den Ausgangspunkt und in gewissem Sinne den
Prüfstein bilden für analoge Organisationen. Desto rühriger
sollten die anderen Berufszweige sein und alle Kräfte ein-
setzen, um ihrerseits zu Organen zu gelangen, welche ihre
Wünsche den gesetzgebenden und vollziehenden Gewalten
übermitteln !
Marburg i. H. Rudolf Grätzer.
Zur sozialpolitischen Geschichte des rheinisch-
westfälischen Bergbaues.
Gelegentlich der Feier des 100 jährigen Bestehens des
preussischen Oberbergamtes zu Dortmund (25. Juni d. Js.),
also der obersten Bergbehörde im wichtigsten deutschen
Kohlenrevier in Rheinland- Westfalen, hat der Oberbergrath
Reuss im Aufträge des preussischen Handelsministers von
Berlepsch eine Festschrift mit folgendem Titel erscheinen
lassen: „Mittheilungen aus der Geschichte des königlichen
Oberbergamtes zu Dortmund und des Niederrheinisch-
Westfälischen Bergbaues“ (Berlin, W. Ernst & Sohn, 1892,
114 S. gr. 4n). Wenn nun diese Veröffentlichung auch
hauptsächlich der äusseren wirthschaftlichen und Ver-
waltungsgeschichte des grössten deutschen Kohlenreviers
gewidmet ist, so hat der Verfasser doch nicht umhin ge-
konnt, dann und wann auch Thatsachen aus der inneren
Entwickelung und der sozialpolitischen Geschichte des Be-
zirkes zu erwähnen. Und so lückenhaft dieselben sind,
lückenhafter, als man sie bei einer auf Veranlassung des
preussischen Ministers von Berlepsch herausgegebenen
Schrift vermuthen sollte, so sollen sie doch im Nach-
folgenden kurz zusammengestellt werden, einmal wegen
des Mangels jeder anderweiten Darstellung und wegen der
Wichtigkeit der westfälischen Bergarbeiterzustände für die
ganze künftige Entwickelung der deutschen Industrie, so-
dann um einen weiteren Anreiz zur endlichen Herstellung
einer vollständigen sozialpolitischen Geschichte dieses
wichtigen Bezirks zu geben. Der Historismus in der deut-
schen Volkswirthschaftswissenschaft hat seine Jünger merk-
würdiger Weise auf dieses Gebiet so gut wie noch nicht
o o
verwiesen.
Die halbamtliche Denkschrift, die uns vorliegt, lässt
zunächst erkennen, dass für den Anfang der Neuzeit von
der Reformation an bis in die Mitte dieses Jahrhunderts ein
ausserordentlich reichliches und einziges Aktenmaterial
über die Bergarbeiterverhältnisse am Niederrhein und in
Westfalen deshalb bei der Bergverwaltung vorhanden sein
muss (soweit es die Zeit nicht zerstört hat!), weil die Berg-
arbeiterverhältnisse bis zum letztgenannten Zeitpunkt direkt
von den Behörden geregelt wurden, wie die Bergbauange-
legenheiten überhaupt (Direktionsprinzip). Die nach Ober-
bergrath Reuss „bis in die neueste Zeit wichtige“ revidirte
Bergordnung für das Herzogthum Cleve, das Fürstenthum
und die Grafschaft Mark vom 29. April 1766 schrieb vor,
dass alle Zechen unter der Direktion des Bergamts bleiben
und dass die dazu nöthigen Arbeiter, Steiger und Schicht-
meister von dem Bergamte angenommen werden sollen;
das Bergamt hatte ferner die Stellung der Gedinge, Fest-
stellung der Löhne, der Maximalarbeitszeit u. s. w. vorzu-
nehmen. Ein preussisches Generalprivileg vom 16. Mai 1767
befreite sodann die Bergleute nahezu von allen bürgerlichen
Lasten. Mehrfache Erlasse (z. B. der vom 9. November 1780)
zeigen, dass trotzdem schon damals eine grosse Anzahl
Missstände vorhanden waren, sodass u. a. dem Truck, der
Löhnung in „Viktualien“, sehr energisch entgegengetreten
werden musste. Die vorliegende Denkschrift beschränkt
sich natürlich auf die Anführung solcher Erlasse, sie macht
nicht den geringsten Versuch, Umfang, Ursachen und
Wirkungen der Uebelstände, gegen welche sich jene
richten, darzustellen. Es wird nur immer wieder konstatirt,
dass die Missstände fortbestehen, wie z. B. aus einem amt-
lichen Bericht vom 27. Juli 1784, in welchem es heisst, dass
der Grubenhaushalt in den Händen unwissender und treu-
loser Schichtmeister gewesen sei, dass die Löhne nicht fixirt
waren, dass sie oft rückständig blieben oder in Viktualien
ausgezahlt wurden u. s. w. Nebenher geht das auch sozial-
politisch interessante Bestreben der Behörden, aus dem
aachener Bezirk bessere Bergleute und aus Plessen tüchtigere
Grubenmaurer heranzuziehen. Ein Sozialforscher hätte so-
dann näher zu ergründen, was der Satz bedeutet, mit
welchem Stein 1792 die grössere Centralisation der west-
fälischen Bergämter befürwortet: „Die Austührung solcher
Einrichtungen, wobey es mit auf den Willen der Arbeiter
ankömt, würde wenigeren Schwierigkeiten unterworfen
sein, als bisher, wo das Bergamt auf den Eigensinn einer
sehr kleinen Knappschaft eingeschränkt ist, die sich leicht
zum Widerstand vereinigen kan.“ Bei der nun folgenden
Darstellung der Organisation des Oberbergamtes in Wetter
interessirt sozialpolitisch besonders die reiche Gliederung des
Beamtenkörpers, der den gesammten Grubenbau von Staats-
wegen verwaltet, in Reviergeschworene, die vielleicht ge-
schichtlich in Parallele mit den heutigen französischen
Minendelegirten gestellt werden können und u. a. die Aus-
zahlung der Löhne Vornahmen, in Obersteiger, Fahrsteiger,
Oberschichtmeister, Schichtmeister und Kohlenmesser. Zu
444
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 36
dem letztgenannten Beamten kehrt die modernste Entwicke-
lung zurück, indem sie den Arbeitern in England und
Preussen aut Grund der neueren Berggesetze erlaubt,
Wiegekontroleure anzustellen. Anfangs dieses Jahrhunderts
kommt es in einem Theil des erweiterten Oberbergamts-
bezirkes zu einer richtigen Revolte der Grubenbesitzer,
die den bergpolizeilichen Vorschriften Gehorsam ver-
weigern und mit Militär zur Ordnung gebracht werden
müssen. Diese Episode wäre Stoff für den forschenden
k leiss und die glänzende Darstellung eines zweiten Alphons
Thun! Bei der Darstellung der neuen Reviereintheilung
von 1839—1842, zu eines Zeit, da die Zahl der nieder*
rheinisch-westfälischen Bergleute immerhin schon auf ca.
10 000 Köpfe gewachsen war, kommt die Beseitigung der
Obersteiger, die gegen den Wunsch der Grubenbesitzer
erfolgte, sowie die Erweiterung der Aufgaben für die
Revierbeamten zur Sprache; aus der am 28. Oktober 1839
erlassenen neuen Revierbeamteninstruktion ist zur Charak-
teristik des „Staatssozialismus“, der im staatlichen „Di-
rektionsprinzip“ steckte, bemerkenswerth, dass der Revier-
beamte, „so oft es erforderlich erscheint, vergleichende
Zeit- und Kostenanschläge . . . darstellen und diese bei . . .
Bezahlung der Arbeiter . . . stets zu Grunde legen
muss, um ein sicheres Anhalten zu gewinnen . . ., ob und
mit welchem Vortheil einzelne Zweige des Betriebes
geführt worden.“ Die Gedinge werden von ihm mit den
Arbeitern abgeschlossen; er soll bei aller Sorge für den
„Vortheil“ des Grubenbetriebes das „Wohl aller Knapp-
schaftsindividuen befördern.“
Der Mitte dieses Jahrhunderts erfolgende Uebergang
vom staatlichen Direktionsprinzip zur gesetzlichen Zulas-
sung des inzwischen unter der Hut der Technik zu jugend-
licher Kraft herangereiften kapitalistischen Privatbetriebes
wird von der Festschritt kurz in seinen prägnanten Merk-
malen geschildert: „Die Verhältnisse selbst" machten eine
Abänderung nothwendig, denn der sich mächtig ent-
wickelnde Tiefbau und seine bedeutenden Kosten, die von
allen Seiten wachsende Konkurrenz, die Nothwendigkeit,
besondere zur Verarbeitung der Produkte dienende Neben-
anlagen zu errichten, verursachten erhebliche Ausgaben,
deren Rentabilität, abgesehen von den hohen Abgaben,
einerseits durch den zersplitterten Bergwerksbesitz und
die vorhandenen grossen Schwierigkeiten, denselben rechts-
beständig zu konsolidiren, anderseits durch den Mangel
einer anerkannten gesetzlichen Vertretung der Gewerk-
schaften und den behördlichen Betrieb immerhin in Frage
gestellt wurde. Da ausserdem der gerade für Einführung
des Direktionsprinzips ausschlaggebende Umstand — der
Mangel geeigneter Persönlichkeiten - in den Gewerken-
kreisen ganz wesentlich geschwächt worden, und gerade in
den Vertretern der Gewerkschaften (Lehnsträgern) eine
ganze Anzahl hervorragend tüchtiger Fachmänner vor-
handen war, so konnte die Gesetzgebung zu der für die
Entwickelung des Bergbaues so wesentlichen Massregel
schreiten, am 12. Mai 1851 einerseits den Zehnten auf den
Zwanzigsten zu ermässigen, anderseits den Betrieb und
Haushalt der Gruben, wenngleich mit Einschränkungen,
den in ihrer Verfassung geregelten Gewerkschaften, bezw.
ihren Repräsentanten zu übertragen.“ Es ist zweifellos,
dass der Sozialforscher in der Geschichte dieses Ueber-
ganges einen grossen Reichthum hochinteressanter Momente
zur Darstellung der Entwickelung des modernen Kapitalis-
mus findet. Ihm wird es dann auch obliegen, die sozial-
politischen Einflüsse, unter welchen das manchesterliche
Berggesetz von 1865 entstand, sowie den neuerlichen Um-
schwung, welcher sich im Erlass der Berggesetznovelle
von 1892 offenbart, sorgfältiger zu studiren und darzulegen,
als es die uns vorliegende Festschrift thut.
„Einige Mittheilungen“ giebt die Festschrift noch
unter besonderem Titel über die Entwickelung des Knapp-
schaft skassen wesens im Oberbergamtsbezirke Dortmund.
Dasselbe ist nicht so sehr alt, als öfters angenommen wird;
man beginnt mit der Ausbildung desselben eigentlich erst
im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts. Auch hier
muss die Verfolgung der Spuren, welche die Festschrift
andeutet, reiche sozialpolitische Ausbeute liefern: wie die
Knappschaftsältesten zuerst von der Behörde „beigeordnet“
wurden, und wie ihre jetzige „Wahl“ noch die Merkmale
der früheren „Beiordnung“ trägt; wie die Klassenunter-
scheidung (1824) aufkam, die man zu Anfang dieses Jahr-
hunderts noch nicht kannte; wie die Trauscheingebühren
zur Ansammlung des Fonds mithelfen mussten (jeder Berg-
mann, der heirathen wollte, musste beim Oberbergamt einen
Trauschein lösen und dafür einen Thaler entrichten; ohne
diesen Trauschein wurde Niemand kopulirt; Rückwirkung
auf Bevölkerungs-, Familien- und Sittlichkeitszustände?)
u- v. a: Welche wichtige, in der Wissenschaft und in der
Sozialpolitik noch gar nicht genügend gewürdigte Rolle
das Knappschaftswesen und dessen Mängel in der Berg-
arbeiterfrage spielt, zeigt die Mittheilung der Festschrift
über das Jahr 1848: „Das Jahr 1848 brachte eine lebhafte
Agitation gegen das bestehende Knappschaftswesen. Man
forderte das volle, monatlich zu zahlende Krankengeld,
anderweitige Festsetzung der Beiträge, weitere Erhöhung
der Invalidengelder, gewisse Befugnisse an sogenannte
Knappschaftsdeputirte, Mittheilungen über den Stand der
Kasse, ihre Verwaltung durch die Behörde, Verantwortlich-
keit und Rechnungslegung der letzteren sowie freie Wahl
der Knappschaftsältesten, im Märkischen Verein auch
Wiedereinführung des Schulgeldes. Insbesondere kam es
im Essen- Werder’schen Verein zu längeren Verhandlungen
über eine ganze Reihe von Anträgen, von denen einzelne
genehmigt, andere abgelehnt, die meisten aber mit Rück-
sicht aut das in Aussicht stehende neue Berggesetz zurück-
gestellt wurden. Durch einen Erlass vom 1. Januar 1849
wurde ferner für beide Vereine genehmigt, dass fortab bei
Berechnung der Beiträge von dem beitragspflichtigen Lohne
vorab die Selbstkosten an Pulver etc. in Abzug gebracht
werden sollten, dies jedoch hinsichtlich des Märkischen
Vereins aut Grund einer Erklärung der Vertreter dieser
Knappschaft durch Erlass vom 19. Januar 1849 wieder ab-
geändert. Alle diese Bestrebungen führten nur zu einigen
kleinen Abänderungen, im Prinzipe blieb es bei den vorer-
wähnten Bestimmungen, und von einer weiteren Erhöhung
der Knappschaftsbenefizien musste umsomehr abgesehen
werden, als sich die Vermögenslage der beiden Vereine
verschlechterte. Es wurden sogar einige, früher proviso-
rich genehmigte Erhöhungen wieder aufgehoben.“ Eine
ausführlichere Darstellung dürfte wohl hier manches zu
vervollständigen und zu ergänzen haben. Die weiteren
Daten der Festschrift zeigen, wie wichtig es sein wird, das
Vordringen des Unternehmereinflusses in den Knappschafs-
kassen, namentlich seit Freigabe des kapitalistischen Privat-
betriebes der Gruben, genau zu verfolgen und festzustellen.
Für die heutige Bergarbeiterbewegung dürfte diese ge-
schichtliche Nachforschung mehr Erklärungen liefern, als
auf den ersten Blick möglich erscheint.
Somit stellt sich das niederrheinisch - westfälische
Kohlenrevier als eines der interessantesten Forschungs-
objekte für unsere Wirthschaftshistoriker dar. Möge sich
der richtige Forscher bald finden.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Zur Frage der Volksernährung.
Eines der beliebtesten Argumente der Vertheidiger
der Lebensmittelzölle war von Anfang an der Hinweis dar-
auf, dass der Zwischenhandel viel mehr vertheure als alle
Zölle. Bei Einführung der Getreidezölle wurde von agra-
rischer Seite hervorgehoben, man erstrebe durchaus nicht
eine Vertheuerung des Brotes, sondern wolle den Produ-
zenten den Gewinn zuwenden, den bisher Bäcker, Fleischer,
Müller und Börsenspekulanten ungerechtfertigter Weise be-
zogen hätten. Wies man den Agrariern nach, dass in
London der Getreidepreis nahezu um den vollen Zollbetrag
durchschnittlich billiger war, als in Deutschland, so er-
widerten sie, dies sei für den Kleinhandel und den Konsu-
No. 36.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
445
menten gleichgültig, im deutschen Kleinverkehr werde eine [
Preisherabsetzung bei Abschaffung oder Erniedrigung der
Getreidezölle doch nicht eintreten. Wurde seit der Zoller-
mässigung vom 1. Februar 1892 statistisch der Beweis er-
bracht, dass die Differenz der Grosshandelspreise zwischen
verzolltem deutschen und zollfreiem Getreide in England
sich entsprechend ermässigt, dass ferner in einzelnen
deutschen Plätzen die Mehl- und Brotpreise gleichförmig
mit den Engrospreisen des Getreides sich verbilligt hatten,
so erwiderte man von agrarischer Seite, in vielen anderen
Fällen habe ein Bäckerring die Verbilligung des Brotes
verhindert, analog wie gar oft und mannichfach Ringe der
Metzger die Verbilligung des Fleisches dem Publikum vor-
enthalten.
Diese Argumentation übt begreiflicher Weise insbe-
sondere bei den deutschen Frauen eine grosse Wirkung.
Sie halten den Kampf gegen die Getreidezölle für Schwindel,
sofern sie im Haushalte keine entsprechende Ersparung beim
Sinken der Grosshandelspreise wahrnehmen. Indess geht
diese Theorie, welche die Brotpreise vom Getreidepreise
unabhängig glaubt, allenthalben von einer durchaus irrigen
Voraussetzung aus, dass nämlich die Vertheuerung des
Kleinkonsums, soweit sie durch die Nahrungsmittelgewerbe
bewirkt wird, etwas unabänderliches und für die Dauer
aufrechtzuerhaltendes sei. Losch hat bereits darauf hinge-
wiesen, wie sehr die deutsche Nation trotz ihrer niedrigen
Lebenshaltung verschwenderisch lebt, indem sie ausser der
Vertheuerung durch Lebensmittelzölle die kostspieligste
Betriebsweise, die sich denken lässt, den Kleinbetrieb,
gerade im Nahrungsmittelgewerbe künstlich vielfach auf-
recht erhält.
Wir haben insbesondere in kleinen Städte eine viel zu
grosse Zahl Bäckereibetriebe. Das Publikum kauft theuer.
Der Bäckermeister produzirt theuer und klagt, er werde
doch nicht reich, sondern vielfach ärmer. Die Gehilfen
haben die längste Arbeitszeit aller Gewerbe und auch
sonst ungünstige Arbeitsbedingungen. Der kapitalistische
Grossbetrieb wäre im Stande billiger und besser die Konsu-
menten zu versorgen, besseren Gewinn abzuwerfen, bessere
Arbeitsbedingungen zu gewähren. Freilich einige Klein-
meister würden im Arbeiterstande aufgehen; dessen Ge-
sammtniveau jedoch könnte gehoben werden.
Aut die Konzentration zum wohlfeilen Grossbetrieb
in den Nahrungsgewerben hätten vernünftiger Weise die
Agrarier hinwirken müssen, wenn sie wirklich die Unzu-
friedenheit, die durch die Vertheuerung entstand, hintan-
halten wollten. Statt dessen hegte und pflegte man den
Kleinmeister und verlängerte seinen Todeskampf; oder man
forderte Abhilfe durch mittelalterliche Taxpolitik.
Und doch setzt auch unabhängig von der unausbleib-
lichen Konkurrenz des überlegenen Grossbetriebes gegen-
über dem Kleinbetrieb im Nahrungsmittelgewerbe noch j
von anderer Seite immer mächtiger die Entwickelung ein,
welche die heutige vertheuernde, zersplitterte Kleinbetriebs-
verfassung vernichten muss. So sehr sich das Eigeninter-
esse der Kleinunternehmer und andererseits politische und
Sentimentalitätsrücksichten gewisser .Schichten der oberen
Klassen dagegen sperren mögen, so nimmt doch noth-
wendigerweise die Konsumvereinsbewegung immer mehr
zu, wenn wir auch in Deutschland noch himmelweit von
dem entfernt sind, was in England die Genossenschaftsidee
für die arbeitenden und besitzenden Klassen geleistet hat.
Durch die Entwickelung des Konsumvereinswesens ist
es den englischen Arbeitern möglich gewesen, während des
Preisfalles der 80 er Jahre die Verbilligung voll auszunutzen,
die anderwärts den Detaillisten zu Gute kam. Es ist
geradezu überraschend, mit Hilfe des soeben von Dr. von
Schulze-Gaevernitz veröffentlichten Werkes: „Der Gross-
betrieb, ein wirthschaftlicher und sozialer Fortschritt“
die segensreiche Rückwirkung der englischen Freihandels-
politik aut die Ernährungskosten des industriellen Arbeiters
zu beobachten.
Für Lancashire giebt uns der genannte Verfasser be-
züglich der Brotversorgung folgende Schilderung: „Man ver-
folge ein Pfund Weizen auf seinem Wege vom Grosshändler
in Liverpool bis zum Arbeiterhaushalt. Zwischenglieder sind
allein die Genossenschaftsmühle und der lokale Konsum-
verein. Die Preise dieser letzteren Vereine sind durch
ganz Nordengland äusserst gleichmässig; um nicht nach der
Seite der Billigkeit zu irren, wählte ich ausdrücklich einen
Verein, welcher in einiger Entfernung von der Mühle be-
legen ist, sodass die Transportkosten in dem Preise ent-
halten sind.
Star Corn Mills
in Ol d h a m
Darwen Coope-
(Genossenschaftsmtihle)
ration Society
Engrosdurchschnitt
des eiimekauften
Verkaufspreis
der Mühle
Von Konsumenten
bezahlter
Weizens
D urchschnittspreis
pro Pfund
pro Pfund Mehl
pro Pfund Mehl
1883
1,09 d.
1,42 d.
1,47 d.
1884
0,94 „
1,27 „
1,32 „
1885
0,85 „
1,13 „
1,18 „
1886
0,82 „
1,09 „
l,D „
1887
0,87 „
1,10 „
1,07 „
1,15 „
1888
0,86 „
1,12 „
1889
0,83 „
1,08 „
1,13 „
Diese von Dr. v. Schulze-Gaevernitz gegebenen Zahlen
sprechen für sich selbst. Der Autor bemerkt aber noch:
„Die Niedrigkeit dieser Preise fällt um so mehr in das Ge-
wicht, als die Arbeiter von ihren Einkäufen in den Konsum-
vereinen 7 '/2 bis 10 pCt. Dividende beziehen. Weizenmehl
aber ist gegenwärtig das wichtigste Nahrungsmittel des
englischen Arbeiters. In Nordengland wird es von der
Frau im Hause verbacken. Der Preis für Brot, welches in
Lancashire wenig gekauft wird, beträgt l/2 d. pro Pfund mehr
als der Preis des Mehles.“ [)
* *
Fassen wir zusammen. Deutschland hat allenthalben
auf dem Weltmärkte Englands Konkurrenz zu bestehen.
Während man sonst im Wettbewerbe bestrebt ist, billiger
als der Konkurrent zu produziren, leistet sich Deutschland
den Luxus, seine industriellen Arbeiter aus verschiedenen
Gründen theurer oder schlechter zu nähren als es in Eng-
land der Fall ist.
Die Ernährung des deutschen Arbeiters wird ver-
theuert nicht allein durch die Agrarzölle, sondern ferner
durch die geringere Entwickelung des Konsumvereins-
wesens, endlich durch die geringe Entwickelung des wohl-
feileren Grossbetriebes im deutschen Nahrungsgewerbe.
Der Engländer kann sich demgemäss kräftiger nähren
und behält dabei eine viel grössere Quote seines Ein-
kommens zum Ankauf von Industrieprodukten übrig, als
der deutsche Arbeiter. Der gesicherte heimische Ab-
satz von Industrieerzeugnissen ist entsprechend der
durch den Freihandel ermöglichten besseren Lebenshaltung
der englischen Arbeiter im freihändlerischen England viel
erheblicher und günstiger als im schutzzöllnerischen
Deutschland.
Den Schluss möge eine ebenfalls dem erwähnten
Werke von Schulze-Gaevernitz entlehnte Tabelle bilden.
Sie zeigt, um wie viel theurer gegenüber dem englischen
sich der deutsche gewerbliche Arbeiter in Deutschland auch
unter dem neuesten Zollregime selbst da nährt, wo der
Deutsche gleich dem Engländer sich die Vortheile des
Konsumvereins verschafft hat und dadurch auch die Laden-
preise herabdrückte.
In derselben Woche des Februar 1892 stellten sich
nach S. 182 des Schulze’schen Buches die Lebensmittel-
preise (aut deutsche Masse und Gewichte zurückgeführt
— einerseits in Hyde (ausschliesslich textilindustrieller Vor-
ort von Manchester), woselbst der Konsumverein 14pCt. zu
Dividendenzwecken bei den Einkäufen vorwegerhebt —
anderseits in Chemnitz, woselbst der Konsumverein nur
8,3 pCt. auf den Einkaufspreis draufschlägt — folgender-
massen :
Hyde
Weizenmehl . . 1 d Pfd. 16 Pf.
Brot do. 18 Pf.
(Weizenbrot)
7 A. a. O. S. 180.
Chemnitz
22 Pf.
15 Pf.
(Roggenbrot)
446
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 36.
Hyde
Chemnitz
1
66—70 Pf.
Rindfleisch . . .
Id.Pfd.
1
j 75-80 Pf.
(mit Knochenbeil.)
80 Pf.
Geräuchertes
((ohne Knochen 1
jeil.) (ohne Knochenbeil.)
Schweinefleisch
clo.
63—73 Pf.
80-90 Pf
Zucker
do.
27-28 Pf.
30-34 Pf.
Kartoffeln ....
do.
5,2 Pf.
5,2 Pf.
Vollmilch ....
1 Liter
15—22 Pf.
20 Pf.
München.
Walther Lotz.
Die überseeische Auswanderung aus Deutschland im
ersten Halbjahre 1892. Die Nachweisung der Auswande-
rung Deutscher über deutsche Häfen und über Antwerpen,
Rotterdam und Amsterdam im zweiten Vierteljahre 1892
wird in dem eben herausgegebenen 3. Vierteljahreshefte der
Statistik des deutschen Reiches publicirt. 47 768 Deutsche
wanderten aus, hiervon mehr als die Hälfte (24 627) über
Bremen und mehr als ein Viertel (13 150) über Hamburg.
Auf die übrigen in Betracht kommenden Häfen entfallen
folgende Zahlen : auf Stettin 750, auf Antwerpen 77 1 7, auf
Rotterdam 1099 und auf Amsterdam 425. Im April wander-
ten 20 566, im Mai 17 455 und im Juni 9747 Personen aus.
Ausserdem wanderten über die drei genannten deutschen
Häfen aus im April 17 352, im Mai 26 859, im Juni 18 667
und im ersten Halbjahre 1892 104 742 Personen nicht deut-
scher Staatsangehörigkeit. Deutsche Reichsangehörige
wanderten über deutsche und die drei genannten ausländi-
schen Häfen im ersten Halbjahre 1892 70 453 Personen aus,
demnach 14 910 mehr als im Durchschnitt der 5 Halbjahre
1887 bis 1891. Jedes dieser Halbjahre blieb hinter dem
ersten Halbjahre 1892 zurück und zwar 1891 um 6777, 1890
um 21 369, 1889 um 19 450, 1888 um 13 800 und 1887 um
13 156 Personen. Für die Einzelstaaten ergeben sich fol-
gende Ergebnisse dieser Vergleichung: aus dem König-
reiche Preussen wanderten im ersten Halbjahre 1892 mehr
Personen aus als in jedem der vorangegangenen Halbjahre,
das gleiche gilt für alle Provinzen Preussens mit blos zwei
Ausnahmen und zwar wanderten im ersten Halbjahre 1889 aus
Schleswig-Holstein und in den Halbjahren 1887, 1888 und 1889
aus Hessen-Nassau mehr Personen aus als im ersten Halb-
jahre 1892. In allen nicht besonders angeführten Staaten
überwog die Auswanderung im ersten Halbjahre 1892 die
fünf vorangegangenen Halbjahre. Nicht der Fall war dies
in Bayern, wo die Auswanderung in den Jahren 1887 — 1889
grösser war als in den Halbjahren 1890— 1892. Von 1890 an
zeigt sich hier wieder eine ununterbrochene Steigerung.
Aus Württemberg wanderten blos im ersten Halbjahre 1888
mehr Personen aus als in der entsprechenden Zeit des ver-
flossenen Halbjahres. In Hessen überstiegen die Zahlen
aller Halbjahre mit Ausnahme von 1889 die Auswanderungs-
ziffer von Januar bis Ende Juni 1892, in Sachsen- Weimar
die vom Jahre 1888, in Mecklenburg-Strelitz die von 1888
und 1891, in Sachsen-Coburg-Gotha sämmtliche Halbjahre
mit Ausnahme der von 1889, in Anhalt die von 1887 und
1888, in Schwarzburg-Sondershausen und Waldeck die von
1890, in Reuss j. Lime das erste Halbjahr 1891, in Bremen
die von 1888 und 1891.
Diese Ausnahmen und die sich dabei ergebenden
geringfügigen, wohl auf locale Ursachen zurückzuführen-
den Differenzen stören das Gesammtbild nicht, das sich
uns als eine Hochfluth der Auswanderung darstellt, die
so bedauerlich sie auch ist, doch noch weniger schädlich
erscheint als ihre unzweifelhaften Ursachen, die sich als
allgemeine Verschlechterung der Lebensverhältnisse der
breiten Schichten des Volkes zusammenfassen lassen.
Speisung armer Schulkinder in Kopenhagen. In Kopen-
hagen giebt es nach einer der ,, Kreuz-Zeitung“ zugegangenen
Mittheilung ca. 15 000 Freischüler, die sehr ärmlich ernährt
werden und von denen gewiss 5000 Tag für Tag kein Mittag-
essen erhalten. Die Schulgebäude sind zwar auf’s Beste, den
Forderungen der Gegenwart entsprechend, eingerichtet und in
der „giftigen Schulluft“ liegt es gewiss nicht, wenn die Kinder
bleich und elend aussehen. Nur ein Feind — der schlimmste —
war noch zu bekämpfen: die ungenügende Ernährung. Diesen
wunden Punkt fasste vor 10 Jahren eine Volksschullehrerin in’s
Auge. Sie zuerst lieh dem Gedanken einer „freien Speisung
der armen Kinder“ Ausdruck. Und das Samenkorn fiel auf
fruchtbaren Boden. Ein Komitee wurde gebildet, später „Verein
für die Bespeisung der Freischüler“ genannt. Bei der Unter-
I suchung, welche in’s Werk gesetzt wurde, trat es zu Tage, dass
nahezu ein Drittel sämmtlicher Freischüler in Kopenhagen das
ganze Jahr hindurch kein Mittagessen bekommt. Der Verein
hat den Zweck, den Kindern zu helfen und nur warme Speisen,
nichts anderes zu geben. Bei der Austheilung wird nur auf
den Hunger der Kinder gesehen und nicht darauf, ob die Eltern
der Wohlthat würdig sind oder nicht. Alle religiösen oder poli-
tischen Rücksichten sind vollständig ausgeschlossen. So spielt
es keine Rolle, ob der Vater ein Sozialist oder dergleichen, ob
die Familie unordentlich, arbeitsscheu und trunkfällig ist; das
Kind soll für die Eltern nicht büssen, und wenn es sich
nur während der Speisestunde gut aufführt, so erhält es sein
Mittagmahl so gut wie die anderen Kinder. Ausschliessungen
wegen schlechter Aufführung sind fast noch gar nicht vorge-
kommen. Aus manchen Gründen empfiehlt es sich mehr, die
armen Kinder in Gesellschaft auf einer bestimmten Stelle zu
bespeisen, als einzeln in wohlhabenden Familien. Die Mitglieder
der letzteren werden oft aus Mitleid sich versucht fühlen, den
kleinen Gästen zum Entgelt etwas besonders Leckeres in den
Mund zu schieben, und das ist — so gut die Absicht sein mag
— nicht dienlich, weil die Kinder verwöhnt werden. Bei der
Massenspeisung dagegen wird darauf gesehen, dass die Kinder
eine Kost erhalten, welche einfach, aber kräftig und ernährend
ist, sie nicht wählerisch werden und die dürftige Speise ver-
achten lässt, mit der ihre Eltern zu Hause sich sättigen. Zu-
gleich kann man bei der Massenspeisung grosse Mengen zu
verhältnissmässig niedrigen Preisen bereiten. Im Winter 1881/82,
als der Verc'in seine Thätigkeit begann, standen ihm 4262 Kronen
(4795 M.), durch freiwillige Beiträge gesammelt, zur Verfügung;
von Jahr zu Jahr fand die Sache mehr und mehr Anklang und
im vorigen Jahre gingen 22 157 Kronen (24 927 M.) ein. In zehn
Jahren sind für die Bespeisung der Kinder 121 996 Kronen
(136 267 M. ) verausgabt und hierfür im ganzen 916 118 Portionen
Speise, die Portion durchschnittlich zu 14,50 Pf. zur Vertheilung
gekommen. Der Verein besitzt zur Zeit einen Grundfonds von
13 358 Kronen.
Zum Handel mit Ratenloosen. Anlässlich eines Rekurs-
falles hat vor Kurzem der schweizerische Bundesrath in seinem
Entscheide ein bemerkenswerthes LTrtheil über die Missbräuche
und deren Bekämpfung beim Ratenloosgeschäft abgegeben.
Der Regierungsrath des Kantons Schwyz hatte einem
Züricher Bankgeschäft die Bewilligung zum Loosverkauf
verweigert, gestützt auf einen bestimmten Antrag des Kantons-
rathes, demzufolge in Zukunft an keinerlei ausländische und
ausserkantonale Unternehmen irgend welcher Art, welche Loose
von Waaren- oder Geldlotterien ausgeben, Bewilligungen zum
Verkauf, Vertrieb und zur öffentlichen Ankündigung im Kanton
Schwyz ertheilt werden sollen. In Hinsicht auf die klaren Vor-
schriften der Bundesverfassung bezüglich Handels- und Ge-
werbefreiheit musste der Bundesrath die Beschwerde als be-
gründet erklären und das Verbot der schwyzer Behörde
wieder aufheben. Dagegen bestreitet der Bundesrath den Kan-
tonen keineswegs das Recht, gegen Missbräuche im Ratenloos-
geschäft schützende Bestimmungen zu erlassen. Er konstatirt
selbst diese Missbräuche und schildert einlässlich die Gefahren,
welche beim Hausirvertrieb der Ratenloose entstehen. Nament-
lich hebt er hervor, wie der Ratenlooshändler im Kreise der
kleinen Gewerbsleute, der Bauern, kurz der Leute, die in Geld-
geschäften nicht erfahren und nicht in der Lage sind, die
glänzenden Vorspiegelungen des Prospektes auf ihren wahren
Werth zu prüfen, seine hauptsächliche Klientel sucht. Diesen
kleinen Mann, dem stets eine gewisse Neigung zum Glückspiel
innewohnt, verleiten die unverantwortlichen Agenten des ent-
fernt wohnenden Bankiers, seine Ersparnisse in Prämienanleihens-
loosen anzulegen: der Nominalwerth geht ja nicht verloren,
schlimmsten Falls der Zins. Schon beim redlichen Geschäfte
besteht jedoch die grosse Gefahr, dass die Ratenzahlungen nach
einiger Zeit aus diesem oder jenem Grunde eingestellt werden
müssen, womit alle Anzahlungen verloren sind. Ist überdies
der Bankier unsolid oder wird er auch nur das Opfer einer
Krisis, so steht der Ratenkäufer wehrlos da, weil er das Original-
loos nicht in die Hand bekommt, bevor der Kaufpreis ganz ab-
getragen ist. Die Mittel aber, zu kontrolliren, was für Garantien
ihm sein Mitkontrahent bietet, fehlen dem Ratenlooskäufer in
der Regel ganz, und jeder eventuelle Versuch zur gerichtlichen
Geltendmachung von Rechten wird durch die Kantonsgrenzen
erschwert und bei der komplizirten Natur des Rechtsgeschäftes
für den weniger Bemittelten thatsächlich unmöglich sein.
Nach Ansicht des Bundesrathes kann der Handel mit
Ratenloosen in zwei Richtungen durch die Kantonsbehörden
beschränkt werden:
a) Durch ein strenges Aufsichtsrecht, indem zum Handel
mit Prämienwerthen eine obrigkeitliche Bewilligung gefordert
und diese blos nach Prüfung der persönlichen und geschäft-
lichen Verhältnisse des Petenten, seiner für das Kantonsgebiet
zu bestellenden Agenten und des Geschäftsplanes ertheilt wird.
Diese Aufsicht kann sich auf den Ausweis erstrecken, dass die
verkauften Originalloose wirklich im Besitze des Verkäufers
sind und bleiben, dass also kein „Promessen- oder Heuerge-
schäft“ entsteht; ferner kann sie wirksamer gemacht werden
durch Ausbedingen einer Kaution, eines Rechtsdomizils im
Kanton und periodische Erneuerung der Konzession.
No. 36.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
447
b) Die kantonalen Behörden haben aber noch mehr als
ein blosses Aufsichtsrecht: sie können gewisse, besonders zu
Prellereien Anlass bietende Formen des Handels mit Prämien-
werthen geradezu verbieten und unter Strafe stellen; z. B. :
Den Ratenloosverkauf ohne Uebertragung des Original-
titels, oder die Aufnahme von Bestellungen durch Agenten,
und zwar, allgemein oder nur. wenn kein Plan vorgelegt
worden ist; die Verbindung des Prämienwerthhandels mit
anderen Rechtsgeschäften ; die Festsetzung eines höheren oder
wesentlich höheren Preises als des Tageskurses; — oder
wenigstens den Verkauf ohne Vorlage eines authentischen
Kurszettels. Derartige Bestimmungen haben den Zweck, das
an sich erlaubte Gewerbe soweit zu beschränken, dass Miss-
brauche unerlaubter Art ferne gehalten werden, und sind da-
her mit dem Grundsätze der Handels- und Gewerbefreiheit
wohl verträglich.
Arbeiterzustände.
Zur Lage der Vollmatrosen und Schiffsjungen bei der
deutschen Handelsmarine. Seit dem Jahre 1874 werden im
deutschen Reiche Erhebungen über die Anmusterungen von
Vollmatrosen und „unbefahrenen“ Schiffsjungen der deut-
schen Handelsmarine vorgenommen. Dieser bisher wenig
berücksichtigte Zweig deutscher Arbeiterstatistik giebt leider
kein vollkommenes Bild der Verhältnisse der in der deut-
schen Handelsmarine thätigen Personen, denn sowohl die
im Auslande angemusterten Personen als die Leichtmatrosen
und diejenigen Schiffsjungen, die bereits Seefahrten auf
deutschen Kauffartheischiffen mitgemacht haben, werden in
der Statistik nicht berücksichtigt. Die Angaben für das
Jahr 1891 linden sich im letzten Vierteljahreshelte der
Statistik des deutschen Reiches. Nach derselben wurden
im Jahre 1891 16 263 Vollmatrosen und 2288 unbefahrene
Schiffsjungen angemustert. Die Zahl der Vollmatrosen
stieg stetig von 12 947 im Jahre 1885, während die Zahl der
unbefahrenen Schiffsjungen von 1886 bis 1890 und zwar
von 1929 stetig auf 2388 stieg, aber im Jahre 1891 um 100
hinter der des Jahres 1890 zurückblieb.
Die durchschnittliche Monatsheuer neben Beköstigung
betrug für Vollmatrosen im Jahre 1891 56,81 M., für unbe-
fahrene Schiffsjungen 16,64 M. Bei den Vollmatrosen war
sie im Zeiträume 1887 — 1891 von 44,30 M. auf 56,81 M., für
die unbefahrenen Schiffsjungen von 1886 — 1890 gleichfalls
stetig von 14,10 M. auf 16,91 M. gestiegen um im Jahre 1891
auf 16,64 M. zurückzugehen. Die Verhältnisse im Ostsee-
gebiet liegen ganz anders wie im Nordseegebiete. Im Ost-
seegebiete stieg die Monatsheuer der Vollmatrosen von 1887
bis 1891 von 39,11 M. auf 49,62 M., im Nordseegebiete aber
von 46,21 M. auf 59,13 M., für die Schiffsjungen ist die
Monatsheuer dagegen im Ostseegebiete grösser. Sie stieg
dort von 1886 — 1891 von 15,51 M. auf 18,31 M., im Nordsee-
gebiete von 13,04 M. auf 15,45M. Noch beträchtlicher sind
die Abweichungen der Monatsheuern in den einzelnen deut-
schen Hafenplätzen. Soweit Anmusterungen mit Bekösti-
gung in Frage kommen, schwanken die Angaben über die
Monatsheuern zwischen 21 und 65 M. lür Vollmatrosen und
zwischen 5 und 32,5 M. für unbefahrene Schiffsjungen.
Diese Schwankungen werden vom Bearbeiter des Materials
damit erklärt, dass in kleineren Häfen, in welchen An-
musterungen verhältnissmässig selten Vorkommen, vielfach
zufällige und aussergewöhnliche Umstände auf die Höhe
der verabredeten Heuern Einfluss ausüben. Wenn man
nur die Heuern in Betracht zieht, welche in grösseren
Hafenplätzen bezahlt worden sind, so zeigen die ermittelten
Durchschnittssätze weit geringere Schwankungen. Von
1887 — 1891 stieg die durchschnittliche Monatsheuer für Voll-
matrosen in Hamburg von 47,83 M. auf 59,91 M., in Bremen
und dessen Gebiete von 44,86 M. auf 56,52 M., in Danzig
von 36,76 M. auf 48 M., in Stettin von 37,88 M. auf
49.46 M., in Rostock von 38,49 M. auf 50,12 M. In
der gleichen Zeit stiegen die durchschnittlichen Monats-
heuern der Schiffsjungen (sie waren 1890 in allen Hafen-
orten mit Ausnahme Rostocks etwas höher als im Jahre 1891 )
in Hamburg von 13,55 M. auf 14,80 M., in Bremen und
dessen Gebiete von 13,81 M. auf 14,40 M., in Danzig von
16.47 M. auf 19,13 M., in Stettin von 15,28 M. auf 16,65 M.
und in Rostock von 12,33 M. auf 16,33 M. Hier zeigt sich
die merkwürdige Erscheinung, dass örtlich (in Danzig) die
niedrigsten Monatsheuern der Vollmatrosen mit den höchsten
der unbefahrenen Schiffsjungen zusammenfallen und dass
die höchsten Monatsheuern der Vollmatrosen an den gleichen
Orten (Hamburg und Bremen; Vorkommen, wo die niedrig-
sten Monatsheuern für unbefahrene Schiffsjungen bezahlt
werden.
Von den gegen Monatsheuer und Beköstigung ange-
musterten jungen erhielten 20 5 M. und weniger, 282 5 bis
10 M., 869 10—15 M., 740 15—20 M., 201 20 25 M., 56 25
bis 30 M. und 43 über 30 M.
Weitaus die Mehrzahl der angemusterten Schiffsjungen
(76,4 pCt.) hat das 15. Lebensjahr überschritten und das 20.
noch nicht erreicht, 16,3 pCt. sind unter 15 Jahre, 5,2 pCt.
20 — 25 Jahre und 1 pCt. über 25 Jahre alt. Die meisten
angemusterten Schiffsjungen stammen natürlich aus den
Küstengebieten, doch haben die Eltern von 28 in Bayern,
von 43 in Sachsen ihren Wohnsitz.
Ortsübliche Tagelöhne für den Stadtkreis Berlin.
Der Oberpräsident von Potsdam hat nach Anhörung des
Magistrats von Berlin den ortsüblichen Tagelohn für ge-
wöhnliche Tagearbeiter auf Grund des § 8 des Kranken-
versicherungsgesetzes für die Zeit vom 1. Januar 1893
folgendermassen festgesetzt:
1. für männliche Personen über 16 Jahren 2,70 M.
2 „ weibliche „ „ 16 „ 1,50 ,,
3. „ männliche „ unter 16 ,, 1,30 ,,
4. „ weibliche „ „ 16 „ 1,00 „
Nur der .Satz für die männlichen Arbeiter über 16 Jahren
ist erhöht worden u. zwar von 2,40 auf 2,70 M., die übrigen
Ansetzungen blieben unverändert.
Die Arbeitslosigkeit im Hamburger Zimmerergewerbe
im Winter 1891/92. Eine von Schnack und Bringmann
bearbeitete statistische Erhebung des Lokalverbandes der
Zimmerer Hamburgs über die Arbeitslosigkeit im Zimmerer-
gewerbe im Winter 1891/92 veröffentlicht „Der Zimmerer“.
1300 Fragebogen waren ausgegeben worden, hiervon wurden
914 wieder eingeliefert, 860 derselben eigneten sich zur
Verarbeitung. Die Angaben beziehen sich auf die sechs
Monate Oktober 1891 bis März 1892. 731 der 860 Zimmerer
hatten in diesem Halbjahre arbeitslose Zeiten und zwar zu-
sammen 42 956 arbeitslose Tage. Von den 106 18— 25 Jahre
alten feierten zeitweise 102 (96,26 pCt.) zusammen 6248 Tage
(61,25 Tage jeder Feiernde), unter den 387 26 — 35 Jahre
alten feierten 310 (80,1 pCt.) zusammen 16 766 Tage (54,08
Tage), von den 223 im Alter von 36 — 45 Jahre stehenden
feierten 190 (85,2 pCt.) zusammen 10 632 Tage (55,96 Tage),
von den 117 46 — 55 Jahre alten feierten 104 (88,89 pCt.) zu-
sammen 7458 Tage (71,71 Tage), von den 25 56 — 65 Jahre
alten feierten 23 (92 pCt.) 1641 Tage (71,33 Tage), endlich
hatten die beiden ältesten 66 Jahre alten 211 ( 105,5') Feier-
tage. 649 der 860 Zimmerleute waren verheirathet, 465
derselben hatten 1324 versorgungsbedürftige Kinder.
Die Arbeitslosigkeit stieg ununterbrochen von Oktober
bis März. Man zählt im
Oktober mit 3196
Feiertagen u. einem
Lohnausfalle von
1 7258,40 M.
November 274
do.
3417
do.
15376,50 ,,
Debember 420
do.
5418
do.
22755,60 „
Januar 546
do.
9718
do.
40815,60 „
Februar 566
do.
10072
do.
51357,20 „
März 557
do.
10533
do.
56878,60 „
hierzu kommen nicht nach
Monaten vertheilte . .
602
do.
2889,60 „
so dass ein Lohnausfall von 207 331,10 M. konstatirt wurde.
Die durchschnittliche Zahl der Feiertage betrug
bei 31 Zimmerern 5, je bei 85: 15 und 25, bei 71: 35,
bei 66: 45, bei 71: 55, bei 75: 65, bei 52: 75, bei 57:
85, bei 42: 95, bei 34: 105, bei 17: 115, bei 14: 125,
bei 7: 135, bei 2: 145 und bei 22: 152 Feiertage. Der
durchschnittliche Lohnausfall stieg von 24 M. auf 729,60 M.
pro Arbeitslosen. Er betrug bei 1 16 weniger als 100, bei
156: 100—200, bei 137: 200—300, bei 127: 300—400, bei 99:
400—500, bei 51 : 500—600, bei 23: 600—700 und bei 22 über
700 M.
Lohnmissbräuche in der schweizerischen Posament-
industrie. An einer starkbesuchten Versammlung in Gipf-
Oberfrick (Aargau) wurden die in der Ablöhnung der Posa-
menter bestehenden Willkür lichkeiten und Ungerechtigkeiten
schwer beklagt. Dem Posamenter kommt immer erst nach
Lieferung der Waare zur Kenntniss, was er verdient und
448
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 36
überdies giebts Lohnabzüge in den verschiedensten Formen.
Minderlohn, Stuhl- und Blätterzins, Strafen wegen zu später
Lieferung u. s. w. Die Arbeiter sind so ganz der Willkür
der Fabrikanten ausgesetzt und sie thun gut, sich nun
enger zusammenzuschliessen, um durch geeinigtes Vorgehen
eine Abstellung der Uebelstände zu erzielen.
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Internationaler Buchdruckerkongress. Der zweite
internationale Buchdruckerkongress, der vorige Woche in
Beim tagte, an welchem Eisass, Frankreich, Deutschland,
Rumänien, Oesterreich, Ungarn, England, Holland, Däne-
mark, Norwegen, Italien, Spanien, Belgien und Luxemburg
vertreten war, beschloss die Gründung eines internationalen
Buchdruckerverbandes mit Centralsitz in Bern. Betreffend
das ebenfalls international erklärte Viatikumswesen wurde
beschlossen, dass jeder Reisende, gleichviel welcher Nation,
wenn er nur Verbandsmitglied sei, überall das landesübliche
Viatikum erhalten solle. Nach Anhörung eines Berichtes
der vorberathenden Kommission, betreffend das Lehrlings-
wesen, stimmte der Kongress den von derselben abge-
gebenen Erklärungen zu. In Berücksichtigung der Lage
aller Berufe hält der Kongress die internationale Regelung
des Lehrlingswesens für nicht durchführbar. Dagegen er-
blickt er gegenüber der grossen Lehrlingsausbeutung ein
Gegengewicht in starken Organisationen, um durch ent-
sprechende Verkürzung der Arbeitszeit einen Ausgleich zu
schaffen. Die ganze Kraft sei daher auf Agitation, sowie
Aufklärung der Berufsangehörigen einschliesslich der Lehr-
linge zu richten.
Die englischen Bergarbeiter und der 8stündige Ar-
beitstag. Die Mehrzahl der englischen Bergarbeiter er-
strebt bekanntlich die gesetzliche Einführung eines 8 stiin-
digen Arbeitstages für die Arbeiter unter Tage. Zweimal
schon ist ein betreffender Antrag vom Parlament abgelehnt
worden; das erste Mal erhielt derselbe etliche 20 Stimmen
und das zweite Mal über 160. In dem jetzt neu gewählten
Parlament hoffen nun die Bergarbeiter den Antrag durch-
zubringen, erstens weil die Zahl der aus ihrer Mitte ge-
wählten eine grössere ist als früher, und sodann weil eine
grosse Anzahl anderer Abgeordneter, sowohl Liberale als
Konservative, nur unter der ausdrücklichen Bedingung ge-
wählt wurden, dass sie für den 8 Stundentag stimmen.
Merkwürdigerweise sind aber die Bergarbeiter selbst nicht
einig über die 8 Stundentagfrage; denn während Pickard
und Woods, die Präsidenten des grössten Bergarbeiterver-
bandes (Miners’ Federation of Great Britain), für den An-
trag mit allen Kräften eintreten ist Burt, der Präsident der
National Miners’ Union dagegen. Der letztere hat sehr viel
Einfluss im Parlament, und ist jetzt auch von Gladstone
als Parlamentary Secretary of the Board of Trade in die
neue Regierung berufen worden. Broadhurst, ein langjähriger
Arbeitervertreter (der unter dem vorigen Ministe-
rium Gladstone denselben Posten inne hatte, den jetzt
Burt bekommen hat), fiel bei der Wahl durch, weil er nicht
erklären wollte, dass er für den gesetzlichen 8 Stundentag
stimmen würde. Gladstone selbst entging mit knapper
Noth nur dadurch einer Niederlage, dass er im letzten
Augenblicke noch eine den Bergarbeitern entgegenkom-
mende Erklärung abgab. Eine Ausnahme haben die Ar-
beiter indessen bei John Morley gemacht, der in Newcastle
gewählt wurde, obwohl er gegen den gesetzlichen 8 Stunden-
tag ist. In Bezug auf diese Inkonsequenz sagt die Labour Tri-
büne, dass, wenn man die 8 Stundenfrage anderen Rücksichten
überhaupt hätte unterordnen wollen, dann Broadhurst,
dessen Spezialität Arbeitsfragen sind, jedenfalls grössere
Ansprüche gehabt hätte als Morley, dessen Spezialität
Irland ist. In Folge dieser vielen Wiedersprüche ist es un-
möglich, das Schicksal des 8 Stundentages vorher zu sagen.
Politische Arbeiterbewegung.
Der deutsche sozialdemokratische Parteitag. Infolge
eines Beschlusses des Erfurter Parteitags wird der nächste
sozialdemokratische Kongress in Berlin stattfinden. Der
Parteivorstand erliess unter dem 27. August im „Vorwärts“
eine Bekanntmachung, in der er den Kongress auf Sonntag,
den 16. Oktober in das Lokal zu den Konkordiasälen,
Berlin, Andreasstrasse 64, einberuft. Die provisorische
Tagesordnung ist folgendermassen festgesetzt: Sonntag,
16. Oktober, Abends 7 Lhr, Vorversammlung. Konstituirung
des Parteitages. Festsetzung der Geschäfts- und der Tages-
ordnung. Wahl einer Mandatsprüfungskommission. Montag,
17. Oktober und die folgende Tage:
I. Geschäftsbericht des Parteivorstandes. Bericht-
erstatter: Richard Fischer. 2. Bericht der Kontrolleure
durch August Kaden. 3. Bericht über die parlamentarische
Thätigkeit der Reichstagsfraktion. Berichterstatter Paul
Singer. 4. Die Maifeier 1893. Berichterstatter Albin
Gerisch. 5. Der internationale Arbeiterkongress in Zürich.
Berichterstatter: Ferdinand Ewald. 6. Das Genossenschafts-
wesen, der Boykott und die Kontrollschutzmarke. Bericht-
erstatter: J. Auer. 7. Die wirthschaftliche Krise und ihre
Folge: der allgemeine Nothstand. Berichterstatter: W. Lieb-
knecht. 8. Der Antisemitismus und die Sozialdemokratie.
Berichterstatter: A. Bebel. 9. Berathung derjenigen An-
träge aus den Reihen der Parteigenossen, welche bei den
voraufgehenden Punkten der Tagesordnung nicht bereits
ihre Erledigung gefunden haben. 10. Wahl der Parteilei-
tung und Bestimmung des Ortes, wo sie ihren Sitz zu
nehmen hat.
Arbeiterkongress (1er französischen Schweiz. Zur
Theilnahme an diesem Kongress, welcher Sonntag den
4. September in Genf stattfindet, haben sich 40 Vereine
mit 50 Delegirten angemeldet. Es werden Referate
halten: Redakteur Fauquez über die Statuten des
französch- schweizerischen Arbeiterbundes, der innerhalb
des allgemeinen schweizerischen Arbeiterbundes eine ge-
sonderte Stellung erhalten soll; Nationalrath Favon über
obligatorische Berufsgenossenschaften; Grossrath Triquet
über das geforderte selbständige Arbeitersekretariat für die
welsche Schweiz; Nationalrath Sachenal über Ausdehnung
des Fabrikgesetzes auf das Handwerk; Grossrath Thie-
baud über Schaffung von Berufskonsulaten. Weitere Vor-
träge betreffen die Bedeutung der Maschinen und die Rolle
der Politik in den Vereinen.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Die Wirkung der Sonntagsruhe im Handelsgewerbe.
Nicht blos den Handlungsgehilfen ist die Sonntagsruhe, die
am 1. Juli für das Handelsgewerbe eingeführt wurde, zu
Gute gekommen, sondern mittelbar auch zahlreichen Ar-
beitern in anderen Gewerben. Aus Stuttgart wird berichtet,
dass die Metzgergehilfen und Bäckergehilfen, die seither in
vielen Geschäften bis Nachmittags 1 Uhr und noch länger
zu arbeiten hatten, jetzt in der Regel bis 9 oder 10 Lhr
Vormittags mit der Arbeit fertig sind. Sämmtliche Läden
in Stuttgart müssen von 1 Uhr Nachmittags an geschlossen
sein, blos für die Bäckerläden ist für die Abendstunde von
7 — 8 Uhr eine Ausnahme zugelassen, von der übrigens das
Publikum wenig Gebrauch macht. Im Allgemeinen hat
sich das Publikum daran gewöhnt, in den Morgenstunden
den ganzen Tagesbedarf einzukaufen, es hat desshalb
keinen Zweck mehr, für den Nachmittag und Abend frische
Waare anfertigen zu lassen, wie es seither geschehen ist.
Auch auf das Friseurgewerbe hat die Sonntagsruhe
im Handelsgewerbe einen Einfluss gehabt. Da die Friseure
von 1 Uhr Nachmittags an nichts mehr verkaufen dürfen,
wurde die Anregung gegeben, sie sollen auch ihren eigent-
lichen Gewerbebetrieb um 1 Uhr einstellen. Von 95 Ge-
schäften, die gegenwärtig in Stuttgart das Rasiren und
Haarschneiden betreiben, erklärten 38 schon vor dem 1 . Juli,
dass sie künftig um 1 Uhr schliessen werden. Weitere
37 Geschäfte haben sich seither angeschlossen, so dass blos
noch 20 Geschäfte länger als bis 1 Uhr arbeiten lassen.
No. 36.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
446
Die Veranlassung, dass so viele Geschäfte, die seither bis
3 Uhr, 4 Uhr und noch länger geöffnet waren, sich zum
Schli'essen um I Uhr verstehen konnten, ist eine zweifache.
Zum Theil ist die Veranlassung darin zu suchen, dass die
vereinigten Gewerkschaften eine öffentliche Aufforderung
an die Arbeiter erliessen, sie sollen blos noch die Geschäfte,
die um I Uhr schliessen, besuchen. Zum Theil aber liegt
die Veranlassung darin, dass das Publikum sich schnell
daran gewöhnt hat, sämmtliche Bedürfnisse, mit denen es
auf offene Geschäfte angewiesen ist, in der Zeit vor 1 Uhr
Nachmittags zu befriedigen. Von einer Reihe von Friseuren
wurde erklärt, dass schon am ersten Sonntag im Juli von
1 Uhr an das Geschäft wie abgeschnitten gewesen sei,
während seither bei vielen Friseuren gerade in den Nach-
mittagsstunden bis 3 Uhr der stärkste Andrang war. Eine
Schädigung durch den früheren Geschäftsschluss hatten
besonders die Friseure befürchtet, die auf Arbeiterkund-
schaft angewiesen sind. Diese Geschäfte hatten seither die
Woche über wenig zu thun, die Arbeit drängte sich auf
die Zeit von Samstag Nachmittag bis Sonntag Nachmittag
zusammen. Seit 1. Juli wurde die Wahrnehmung gemacht,
dass der Zudrang der Arbeiter schon am Freitag Abend
beginnt, so dass bis Sonntag Nachmittag 1 Uhr die gleiche
Arbeit wie früher bequem erledigt werden kann. Zum
Theil hängt dies mit einem anderen Umstande zusammen.
In den meisten Fabriken in Stuttgart wurde mit der Ein-
führung der Gewerbeordnungsnovelle der Zahltag auf den
Freitag verlegt und erfahrungsgemäss ist der Arbeiter dann
am ehesten geneigt, eine an sich nicht ganz unbedingt
nothwendige Ausgabe, wie die für den Friseur, zu machen,
wenn er einen grösseren Geldbetrag in der Tasche hat.
Arbeiterversicherung.
Die Ausdehnung des deutschen Unfallversiclievungs-
gesetzes auf das Handwerk. In Organen, die der Regie-
rung nahestehen, findet sich folgende Aeusserung:
Eine der grössten Schwierigkeiten, welche sich bei
der Ausdehnung der Unfallversicherungspflicht auf das
Handwerk u. s. w. erheben, besteht darin, die Versiche-
rungskosten so zu bemessen, dass die kleineren Betriebe sie
ohne grosse Beschwerden aufbringen können. Es wird des-
halb bei der Beurtheilung aller in dieses Gebiet einschla-
genden Fragen der Sparsamkeitsstandpunkt ausschlaggebend
sein müssen. Wenngleich man nun bei der Entscheidung
über die Form der Entschädigungen gewisse Erfahrungen,
welche man bei der bisherigen Unfallversicherung hat
machen können, benutzen und demzufolge beispielsweise
die kleinen Entschädigungen nicht in der Form von Renten,
sondern von Kapitalsabfindungen gewähren wird, so wird
man doch im Grossen und Ganzen an diesem Kostenposten
gegenüber dem entsprechenden der jetzigen Berufsgenossen-
schaften nicht viel sparen können. Man wird die Höchst-
grenze der Entschädigungen dorthin verlegen müssen, wo
sie nach dem Unfallversicherungsgesetze vom 6. Juli 1884
liegt, weil sonst das Handwerk der Vortheile, welche ihm
aus der Unfallversicherung vornehmlich betreffs des Bezuges
von Arbeitskräften winken, nicht theilhaftig werden würde.
Die Hauptersparnisse wird man demgemäss durch die Wahl
der einfachsten und zweckmässigsten Organisation sowie
der billigsten Verwaltung zu machen suchen. Ein so kom-
plizirter Apparat, wie er bei den gewerblichen
Berufsgenossenschaften zur Vertheilung der Beiträge
in Bewegung gesetzt werden muss, würde beispielsweise
für die neue Versicherung viel zu theuer sein. Bei den
Berufsgenossenschaften werden die Beiträge nach den Ge-
fahrenklassen und den Löhnen bemessen. Es ist also die
Aufstellung von Gefahrenklassen, die Zutheilung der Be-
triebe zu den einzelnen Klassen und die Einsendung von
Lohnnachweisungen, deren Prüfung u. s. w. nöthig, um die
Beiträge gesetzesgemäss zu vertheilen. Von solchen Vor-
schriften dürfte der neue Gesetzentwurf absehen müssen.
Er wird das auch um so eher können, weil die Gefahren-
höhe in den noch ausserhalb des Unfallversicherungskreises
stehenden Betrieben nicht allzusehr verschieden ist. Ob
man sich freilich mit dem Modus der Vertheilung der Bei-
tragslast lediglich nach der Arbeiterzahl wird begnügen
können, bleibt doch fraglich.
Der lieiehszuschuss für die Invalidität«- und Altersver-
sicherung ist zuerst im Etat für das Jahr 1891/92 verlangt worden.
Er betrug damals 6,2 Millionen und war, da die Invalidenrenten der
Uebergangszeit wegen erst vom 22. November 1891 ab beansprucht
werden konnten, fast gänzlich für Zuschüsse zu Altersrenten
bestimmt. Im Etat für 1892/93 wurde die Summe um 3 Millionen
J erhöht, und zwar entfielen von der Erhöhung 1,3 Millionen auf
die Alters- und 1,7 Millionen auf die Invalidenrenten. Wie hoch
sich die Vermehrung für 1893/94 belaufen wird, steht noch nicht
! ganz fest, jedoch ist es schon nach den im laufenden Jahre mit
der Bewilligung von Invalidenrenten gemachten Erfahrungen
nicht wahrscheinlich, dass die Steigerung des Reichszuschusses
beträchtlich höher sein wird, als die von 1891/92 auf 1892/93.
Freie Hilfskassen und Krankenkassennovelle. Am
21. August traten auf Anregung des „Kaufmännischen Vereins
Stuttgart“ die Delegirten der „Kaufmännischen Krankenkassen
Württembergs“ (freie Hilfskassen) unter dem Vorsitz des Ver-
bandsvorstandes C. Gayler von Esslingen zu einer Berathung
in Stuttgart zusammen, um bezüglich des Fortbestehens der freien
Hilfskassen angesichts der am 1. Januar 1893 in Kraft tretenden
j Krankenkassennovelle endgiltige Stellung zu nehmen. Am
Schlüsse der eingehenden Besprechungen wurde folgende
! Resolution angenommen: „Der Verband ist entschlossen, auch
| fernerhin die freien Hilfskassen Württembergs unter Anpassung
der Statuten an das neue Gesetz fortzuerhalten, jedoch vorerst
davon abzusehen, eine gemeinsame württembergische Verbands-
kasse zu begründen. Der Verbandsausschuss wird beauftragt,
ein einheitliches Statut für sämmtliche Vereine auszuarbeiten.
Nach der Probezeit eines Jahres wollen sich die Verbandsvereine
wieder mit der Frage eines allenfallsigen Zusammenschlusses
beschäftigen. Eventuell würde auch die Schaffung einer
kaufmännischen Krankenkasse für nichtversicherungspflichtige
Vereins- bezw. Verbandsmitglieder in’s Auge zu fassen sein.
Kriminalität.
Arrnuth und Verbrechen. In der Zeitschrift für Schwei-
zer Strafrecht findet sich folgende Mittheilung: 70 pCt.
der Sträflinge, die letztes Jahr in die Strafanstalt Lenzburg
eingetreten sind, besitzen kein Vermögen und keine Aus-
sicht, je zu solchem zu gelangen. Dieser Prozentsatz gilt
aber nicht nur für das Jahr 1891, sondern er erscheint jedes
Jahr wieder, vielleicht um ein weniges höher oder tiefer.
Keine Ursache des Verbrecherthums ist so allgemein und
allseitig wirksam als die Arrnuth. An dieser Klippe strandet
auch manches Fahrzeug, das den Kampf mit den Wogen
und Wellen des Lebens vielleicht noch recht muthig autge-
nommen hat. Die Kräfte gehen ihm zu früh aus. Natürlich
kommen dabei jene noch weit mehr in Gefahr, welche sich
ohne jegliche Anstrengung dem Zufalle überlassen und ohne
Kompass und festen Willen hinausfahren, also den Leicht-
sinn zum Steuermann haben.
Daraus die nöthigen Schlüsse zu ziehen, ist wohl un-
schwer. Mit unausgesetzter Bekämpfung der Arrnuth,
namentlich in ihren Ursachen, bekämpft man auch wirk-
samer als mit Polizei und Strafgesetzen das Verbrechen.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
Hardung, Victor, Sonn wendfeuer. Lieder. Zürich, 1891. Ver-
lagsmagazin. 8°. 66 S.
Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Ober-
bayern. München, 1892. Dr. E. Wolf & Sohn. 8°. 205 S.
Mollat, Dr. Georg, Lesebuch zur Geschichte der Staats-
wissenschaft des Auslandes. Osterwick/Harz, 1891.
A. W. Zukfeldt. 8b VII und 191 S.
Seven, M., Studien über die Zukunft des Geldwesens.
Leipzig, 1892. Duncker & Humblot. 8". VIII und 91. S.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
450
ANZEIGEN.
No. 36.
OF POLITICAL AND SOCIAL SCIENCE.
J he O/final Journal of /he American Academy of Political
ancl Social Science.
Is indispensable to all who are in am way interested in the great
questions of the day.
I he ANNALS contains articles on economic, political, social, historical
and legal subjects; reports of the discussions at the meetings of the Academy \
peersonal notes, about the workers in the field ot political and .social scince,
and Reviews of the latest books treating of these questions.
SUBSCRIPT10N PR1CE, $ 6.00 PER YEAR.
Sc nt Free to alt Mevibers of the Academy.
Address
American )\cademy oj political and 5°cial 5c^ace,
STATION B, PHILADELPHIA.
Emil Strauss, Verlagshandlung in Bonn.
Mit Januar 1892 begann ein neues Abonnement auf den XI. Jahrgang des
Oentrallblattes
für
allgemeine Gesundheitspflege.
Herausgegeben von
Dp. Finkelnburg-, I)r. Leut, I)r. Woltt'berg-,
Professor a. d. Universität Bonn. lieh. Sanitätsrath in Ciiln. König). Kreisphysikus in Tilsit.
[ährlich erscheinen 12 Hälfte 8' mit zahlreichen Abbildungen und Tafeln.
Abonnementspreis 31. 10. pro anno.
Das Programm des „Centralblattes für allgemeine Gesundheitspflege“ stellt sich
im Wesentlichen zusammen aus: Originalartikeln über alle Zweige der Gesundheits-
pflege, Berichten ans (len Krankenhäusern der grösseren Städte. Sterbliclikeits-
statistik mit Berücksichtigung der Todesursachen, Berichten über epidemische
Vorgänge. Seuchestatistik, Pebersichten der hygienischen Bestrebungen des In- und
Auslandes. 3Iedizinalgesetzgel>ung. Auszügen und Referaten über die neu erschienene
Literatur des In- und Auslandes etc etc.
Ferner enthalten die Hefte zahlreiche „Kleinere Mittheilungen“ aus dem
Gebiete der Hygiene, Literaturberichte, regelmässige monatliche Nachweisungen
über Krankenaufnahme und Bestand in den Krankenhäusern von 54 Städten der
Provinzen Westfalen, Rheinland und Hessen-Nassau etc. etc.
Abonnements auf den XI. .Jahrgang nehmen alle Buchhandlungen und Post-
anstalten zum Abonnementspreise von 31. 10. — pro anno entgegen. Die bereits
erschienenen Jahrgänge können zum Preise von M 10.— pro Tahreane nachbezo°-en
werden. &
©in berbreitetee, billige» nnb
= hrirbfame« JttJ'erfimtsi-llkgan ===
m „Der IjaukuTker“,
ineil er al§
Ovt^an beö (£e tt tr a ( = $( n 3 f d) n ff el ber Bereinigten ^mtungS^erbänbe
^eutfdjtanbs
?itv Uenntnih ptlilvetdH'v livrifr gelangt.
©rfdjeint ©onnabenbö. — Ser Jkeio pro geile beträgt
30 'Jif. 'Jlhüuueuu'utc'prcic' 1,5'* Söif. pro Quartal.
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Berlin SW., .slöniggrälieritrage 70
Dalag nun Ironljavö Sintiiut
'-Berlin SW., 2Bi(l)clmftvnfjc 121.
Die aratlittje |tnti|til!
nnb bte
Arliftteifrage im gratldicii fleittj.
31 on
Dr. (£. Birf’dlbertt
JEircftovaUSlififtciit
am ©taliftifdjcn 2lmt bev Stabt iöerltn.
ißteis 2 9)tarf.
£ p ct r f a f f c tt
1111b
Pfterf Uctf eftt,
3>on
Dr. Bert 4© BJtdpu'l.
33rei§ 2 SJIarf.
Jl.Q'ntttcntag, 33erlagobnd)t)anb[nng in Berlin.
K e i rii 5 - (S e m nli e - (D rti nun 0
nebft 3luäfii(iniii(i§bc)'ttnuuintgcn.
LejFSlnbgobe mit Slnmerfungen nnb ©adjregiftei
Ü011
d. Berger,
:)tetneniii3§ratb.
Jiuölftc 'lluflage.
iafdjenformat, cartonnirt.
preis 1 m. 25 Tf.
Das 2\eid]sgefe§,
betreffenb
Mc§ehterli(gcrid»t(.
Dom 29. Juli 1890.
SejLStitSgabe
mit änmerfitngen nnb (Sadjregifter
uon
Xetr Ulugbait,
äRagiftmtSaffiefJor unb 9lecf)t3nmonlt 311 Berlin.
ffmeitc ncrmclnte XHusgubc.
Taidjenfonnat; cartonnirt. preis 1 IRlt. 25 Bf.
Saö 3icid)£k}cfcl3,
betreffenb bte
llnfaUuerftdjermuj ber bet bauten
befdjäftigten Sßerfonett.
Dom 11. Juli 1887.
Tept 'flnSgabe mit t’lnmerfungen nnb aadjregifter
uon
‘Cm Trhtghan.
(Eal'djrnformat ; rarlomtir!
1 SWf. *25 «ßf.
Verantwortlich für den Anzeigentheil : O. Schuchardt in Berlin.
Druck von H. 5. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 12. September 1892.
Nummer 37
SOZIALPOLITISCHES
ENTRALBL
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 3 Mark.
Einzelnummer 25 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltenc
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHAL 7’.
Die deutschen Ge w e r b e k a m -
mern. Von Dr. Rud. Grätzer.
Soziale Wirthschaftspolitik u.
Wirthscliaftsstatistik :
Der Kampf zwischen Arbeit und
Kapital im fernen Westen. Von
Kantonsstatistiker E. Naef.
Die Kommission für die Um-
arbeitung des Reichscivilgesetz-
entwurfs.
Eine Enquete über das Gemeinde-
eigenthum im deutschen Reiche.
Staatliche Lohnpolitik in Pr ;ussen.
Das englische Kleinstättengesetz.
Arbeiterzustämle:
Die Lage der Arbeiter in den
russischen Bergwerken. Von
E. Schollt ow.
Zur Statistik der Arbeitslosigkeit.
Die ortsüblichen Tagelöhne in der
Stadt Hannover.
Arbeiterverhältnisse in Lübeck.
Arbeiterverhältnisse in Bremen.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
1 )ie Situation im deutschen Buch-
druckergewerbe. Von Dr. Adolf
Braun.
Die sliding scale als Regulator der
Arbeitslöhne.
Arbeiterschutzgesetzgebung:
Sonntagsruhe im sächsischen Eisen-
bahndienste.
Enquete über die kaufmännische
Sonntagsruhe im Unter-Elsass.
Schutzvorschriften für kaufmänni-
sche Angestellte in der Schweiz.
Fakultativer Achtstundentag in Eng-
land.
Arbeiterversicherung:
Zur Krage der Doppelversiche-
rung.
Gewerbegerichte :
Die Gewerbegerichtswahlen in
Berlin.
Wolmungszustände und Woh-
nungsgesetzgebung :
Massregeln zur Erzielung gesunde-
ren Wohnens in Glasgow.
Soziale Hygiene:
Erkrankungen und Berufsverhält-
nissc in Prag.
Arbeiterkrankenkassen im Dienste
der sozialen Hygiene.
Lebensmittelkontrolle in Wien.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die deutschen Gewerbekammern.
Der preussischen Regierung nahestehende Blätter
kündigen eine Vorlage bezüglich Errichtung von Gewerbe-
kammern schon für die nächste Tagung des Reichstages
an. Demnach soll nicht blos das Handwerk sondern auch
der Kleinhandel, welcher bisher jeder Organisation erman-
gelte, durch „Gewerbekammern“ vertreten werden. Be-
achtenswerth ist das freilich nicht überraschende Geständ-
niss der Regierung, dass die Innungen hierfür „nicht ge-
nügt“ hätten. In Betreff der Organisationsfrage wird hier
vorgeschlagen, auch den Kleinhandel „als völlig getrennte
Gruppe“ in die gemeinsame „Gewerbekammer“ einzube-
ziehen. Den neugebildeten Interessenvertretungen soll eine
gewisse Bewegungsfreiheit eingeräumt werden und demge-
mäss ihre Kompetenz in eine obligatorische und fakultative
zerfallen. Zur ersteren „dürfte vielleicht zu rechnen sein :
Abgabe von Gutachten über die Mittel zur Förderung des
Kleingewerbes an die Behörden, die Beaufsichtigung des
Haltens von Lehrlingen, Ueberwachung des Herbergs-
wesens und des damit verbundenen Arbeitsnachweises, die
Veranstaltung von Lehrlingsprüfungen sowie die Aufsicht
über die Durchführung der Gewerbeordnungsbestimmun-
gen etc.“ Zur fakultativen Uebertragung wird als geeignet
bezeichnet: „Errichtung von Unterstützungskassen, von
Fach- und Fortbildungsschulen, Veranstaltung von Gesellen-
prüfungen, Errichtung von Schiedsgerichten und Einigungs-
ämtern dort, wo Gewerbegerichte nicht bestehen und An-
deres mehr.“ Es wird bemerkt, dass durch die Reorgani-
sation ein grosser Theil der den Innungen bisher zustehen-
den Rechte an die Gewerbekammern übertragen, letzteren
jedoch auch neue Berechtigungen verliehen worden. Er-
höht wird davon ein Aufschwung des Mittelstandes.
Wenn dieser Skizze gemäss der Entwurf ausgestaltet
wird, kann sich eine unparteiische, dem Grundgedanken
der Organisation sympathisch gegenüberstehende Kritik
aut die Darlegung weniger Gesichtspunkte beschränken.
Was die Geschichte dieser Organisationsbestrebungen an-
langt, so sei nur daran erinnert, dass in Folge der bekann-
ten Erklärung Herrn v. Bötticher’s die Innungsschwärmer
im Februar d. Js. in Berlin sich versammelten und den Be-
fähigungsnachweis als die conditio sine qua non bezeich-
neten. Von einer Erfüllung dieser Forderung ist in dem
skizzirten Entwurf keine Rede. Immerhin bringt er der
ziinftlerischen Strömung erhebliche Konzessionen.
Als wichtigste derselben wird wohl das Recht der
Lehrlings- und Gesellenprüfungen angesehen werden,
welches den Kammern zustehen soll. Diese ßefugniss ist
aber eine um so bedeutsamere als nach der Gewerbeordnung
bisher eine besondere Prüfungsbehörde — für Hilfspersonen
des Handwerks und des Kleinhandels wenigstens — nicht
besteht. Ein allgemeiner Prüfungszwang kann doch nicht
so nebenher eingeführt werden und bedarf jedenfalls ge-
nauer Bestimmungen und Regulative. Wir können an
dieser Stelle nicht die ganze Streitfrage über die Berech-
tigung der Prüfungen aufrollen. Allein auch dem von ihrer
Unentbehrlichkeit Ueberzeugten geben wir zu bedenken,
dass einmal ausreichende Garantie für die Qualifikation
der — Examinatoren gegeben sein muss. Weiter ist doch
das Naturgemässe, die Prüfungen der Fachschule zu über-
lassen, deren Lehrer jedenfalls das beste Urtheil über die
Leistungen der Examinanden besitzen. Will man einen
„Praktiker“ der Prüfungskommission hinzugesellen, so steht
ja dem nichts im Wege und die Kammer mag hierzu Mit-
glieder delegiren. Nach den bisherigen Erfahrungen mit
dem Fachschulwesen der Innungen ist es unseres Erach-
tens jedenfalls geboten, dabei die grösste Vorsicht walten
zu lassen, will man anders das Ziel einer ausreichenden
Vorbildung im Fache nicht völlig aus dem Auge lassen.
452
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 37.
Es ist auch zu bedenken, dass man auf diesem Wege leicht
zu viel thun, durch strenge Vorschriften dem „Schützling“
schaden kann. Jeder Betrieb der darin — ob mit Recht
oder Unrecht bleibe dahingestellt — eine Hemmung er-
blickt, wird durch Konzentration in grossindustrielle Fa-
briken eventuell durch Auflösung in hausindustrielle Einzel-
betriebe ihr zu entgehen suchen und dadurch dem Hand-
werk eine desto erbittertere Konkurrenz machen. Aber auch
davon abgesehen, bedarf das chinesische Prüfungssystem
überhaupt einer tieferen Begründung, falls es nicht, wie
schon einmal in der preussischen Gesetzgebung auf dem
Papiere stehen bleiben soll.
Noch entschiedener müssen wir Stellung nehmen
gegen die Uebertragung der Aufsicht über jene Bestim-
mungen der Gewerbeordnung, welche sich auf das Lehr-
lingswesen, die Arbeiterschutzbestimmungen und ähnliche
Materien beziehen. Es ist bekannt, dass gerade im Hand-
werk und im Kleinhandel die schlimmsten Missstände in
dieser Beziehung herrschen, dass hier vielfach die „Lehr-
lingszüchterei“ florirt, die Arbeitszeit am längsten ausge-
O O Ö
dehnt wird und vieles Andere mehr. Kann dies von un-
parteiischer Seite in keiner Weise bestritten worden, so ist
es doch das denkbar Verkehrteste, den Interessenten selbst
das Kontrollerecht einzuräumen. Ja die Befürchtung liegt
nahe, dass dadurch die vorhandenen Missstände eine Stei-
gerung erfahren, so weit sie deren überhaupt noch fähig
sind. Der „korporative Zusammenschluss“ wird sich in
einer Stärkung der kleineren Unternehmerklassen mani-
festiren. Das ist die wohlbegründete Absicht des Entwurfs.
Allein, da eine Organisation der darin beschäftigten Ar-
beiter nicht geplant ist, auch unseres Erachtens wenigstens
für die nächste Zukunft zu grossen Schwierigkeiten der
Realisirung begegnet, wird die unausbleibliche Folge eine
Verstärkung des Uebergewichts der Unternehmer sein.
Diese noch künstlich durch derartige Befugnisse stützen zu
wollen, halten wir für völlig verfehlt. Im Gegentheil, hier
kann nur durch uninteressirte Dritte ein leidlicher Aus-
gleich geschaffen werden. Die Aufnahme dieser Befugniss
in ein Gesetz würde solches für uns unannehmbar machen
und auch die Befürworter derselben sollten bedenken, ob
es w'ohlgethan ist, noch Oel ins Feuer zu giessen, in einer
Zeit, wo sozialer Zündstoff aller Orten hoch aufgeschich-
tet liegt.
Da wir prinzipiell die Nützlichkeit, ja die Unentbehr-
lichkeit einer Organisation der Berufsinteressen anerkennen,
bliebe noch die Aufgabe, den „berechtigten Kern“ der
Kompetenz herauszuschälen. Zunächst vermissen wir auch
hier, wTie früher bei der landwirthschaftlichen Organisation,
eine bindende Erklärung der Regierung, vor allen einschlä-
gigen Gesetzentwürfen und Verwaltungsmassregeln die
Voten der Kammern einzuholen. Ebenso fehlen wiederum
Bestimmungen über das Verhältniss der Kammern zu den
bestehenden Behörden. Dass die Sache nicht leicht zu
nehmen ist, beweist die Unklarheit, ob die Handelskammern
„Behörden“ sind oder nicht. Aber hier sind die Schwierig-
keiten noch grösser, weil eine Verbindung nicht blos mit
dem Reichsamt des Innern als Centralbehörde, sondern auch
mit den Ministerien der Einzelstaaten herzustellen ist, über
welche das erstere keine Verfügungsmacht besitzt. In-
dessen kann es bei einigermassen gutem Willen nicht
schwer fallen, hier einen Ausweg zu finden. Wir wollen
nur andeuten, dass wir einen solchen in der Schaffung eines
„Reichsgewerbeamts“ oder einer ähnlichen Oberinstanz uns
vorstellen, da ohnehin das Reichsamt des Innern in seiner
jetzigen Gestalt viel zu gross ist und zu disparate Befug-
nisse enthält.
Selbstredend müsste den neuen Kammern ein mög-
lichst weitgehendes Initiativrecht mit direktem und unge-
hinderten Verkehr an alle betheiligten Behörden gegeben
werden. Nur wenn das der Fall ist, wenn die Interessenten
spüren, dass ihre Anregungen und Berathungen von der
au.stührenden Gewalt berücksichtigt werden, lässt sich eine
rege Antheilnahme an den Geschäften, mit einem Worte
ein genossenschaftliches Leben erwarten. Und darauf
kommt alles in erster Reihe an, ohne solches bleibt die
Organisation ein todter Buchstabe, wie die vielfachen ver-
geblichen Anläufe zur Genüge erwiesen haben.
Es wird sich unseres Erachtens empfehlen, mit der
Uebertragung von Kompetenzen an die Kammern nicht zu
freigebig im Anfang zu sein. Es gilt, das non multa sed
multum zu beherzigen. Auf der anderen Seite sollte selbst-
redend das Nächstliegende energisch in Angriff genommen
werden, damit die Interessenten den Nutzen der Organi-
sation thunlichst bald am eigenen Leibe verspüren. Dahin
gehörten vor Allem eine Reihe von Erhebungen, für w'elche
die Kammern Anregung geben könnten und deren Durch-
führung von ihnen zu übernehmen wäre. Dahin gehörte
eine Centralisirung des arg zersplitterten Arbeitsnachweises,
Vereinheitlichung, Hebung und Vermehrung von Fach- und
Fortbildungsschulen, Lehrwerkstätten und vieles andere
mehr, was in diesem Rahmen nicht erörtert werden kann.
Freilich dazu gehören nicht unerhebliche Geldmittel und
diese können um so weniger den Interessenten allein aufer-
legt werden, als diese sich in der Mehrzahl in bedrängten
Verhältnissen befinden. Aber wer den grossen Zweck will,
muss eben auch die Mittel wollen, scheut man allzu ängst-
lich die Ausgaben, so sollte man lieber von dem Werke
ganz abstehen!
Zum Schlüsse möchten wir hervorheben, dass der Ge-
danke des Entwurfs, die Handwerker und Kleinkaufleute,
wenn auch als „verschiedene und völlig getrennte Gruppen“
in eine und dieselbe „Gewerbekammer“ aufzunehmen,
unseres Erachtens ein völlig verfehlter ist. Die Interessen
des Kleinhandels weisen ihn mehr auf eine organische Ver-
bindung mit dem Grosshandel und der Grossindustrie hin.
Stellt man aber das in Abrede, so muss er eben für sich
gesondert organisirt werden. Auch verlangen die Inter-
essenten selbst - namentlich die Handwerker — eine
eigene Vertretung und es ist nicht abzusehen, welchen
Vortheil die Vereinigung in der „Gewerbekammer“ bieten
soll. Vielleicht verbreitet der definitive Gesetzentwurf,
welcher demnächst veröffentlicht werden soll, mehr Licht
darüber.
Schliesst sich solcher freilich eng an die oben skiz-
zirten Bestimmungen an, so ist bei der starken Strömung
gegen Interessenvertretungen überhaupt zu befürchten, dass
er zwischen zwei Feuer gerathen und schwerlich zur An-
nahme gelangen wird. Jedenfalls dürfte er die stolzen
Hoffnungen, dem Mittelstände einen Aufschwung zu geben,
nicht erfüllen, sofern nicht einschneidende Aenderungen an
ihm vollzogen werden.
Marburg i. H. Rudolf Grätzer.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Der Kampf zwischen Arbeit und Kapital im fernen
Westen.
Im westlichen Prairiegebiet der Vereinigten Staaten
führen die kleinen Ansiedler gegenwärtig einen erbitterten
Kampf um die Existenz gegen die Uebermacht und Willkür
der sogenannten Viehkönige. Anfang der siebziger Jahre
trieb General Crook die Indianer aus dem Thal des Platte-
No. 37,
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
453
flusses und öffnete den Viehzüchtern neue Weideplätze.
Diese zögerten nicht lange. Aus dem westlichen Nebraska,
aus Colorado, aus Utah, ja selbst aus Texas trieben sie ihre
Heerden hinein. Die Viehkönige brachten ihr Vieh zu
Tausenden an ausgewählte Plätze im neuen Gebiet. Beim
Fort Mc. Pherson im westlichen Nebraska, wo Schreiber
dieses um jene Zeit als Soldat der Vereinigten Staaten-
Armee stationirt war, konnte man Heerden von 10—15 000
Stück passiren sehen. Leute, die bisher als Späher oder
Jäger ein kümmerliches Dasein fristeten, nahmen ganze
Thäler in Beschlag, traten mit Kapitalisten in Verbindung
und waren in kurzer Zeit in Land und Vieh 20—100 000
Dollars werth. Nach und nach gelang es neuengländischen
und englischen Kapitalisten, eine dominirende Rolle im
Viehgeschäft zu behaupten. Der Handel ging anfangs recht
glänzend. Die Viehpreise verdoppelten sich auf dem Fleisch-
markte in Chicago.
Unter den neugebackenen Millionären gab es aber
auch solche, welche auf das Glück nicht allzu sehr bauten.
Sie verlegten sich in aller Stille auf die Politik. Sie traten
als eigene Gruppe in die gesetzgebende Behörde und fan-
den, einmal dort, keine Opposition. In Folge ihrer Be-
mühungen wurden im Territorium Wyoming eine Reihe von
Gesetzen zu Gunsten der grossen Viehzüchter, aber nichts
weniger als aufmunternd für die Ansiedler erlassen. Man
konstruirte eine ganz neue Art von Besitzrechten, um zu-
dringliche neue Ankömmlinge fernzuhalten. In Wirklichkeit
gehörte zwar alles Land, mit Ausnahme vielleicht eines
tausendsten Theiles, den Vereinigten Staaten und sollte
unter den Landgesetzen der Besiedlung offen stehen. Aber
da steckte gerade der Haken. Die Bundesregierung betrach-
tet den Ansiedler auf öffentlichen Ländereien als Farmer und
nicht als Heerdsmann, und es gestatten die Heimstätten-
Gesetze Eintragungen für nur 160 Acker. Das Wüstenland-
Gesetz gestattet 640 Acker, wovon aber jeder 40- Ackertheil
bewässert werden muss. Diese Bestimmungen waren den
Viehkönigen sehr unbequem. Die Gesetzgeber verstanden
es indessen trefflich, durch Territorialgesetze die Bundes-
gesetze zu umgehen. Eines der Gesetze, welche sie erliessen,
verbot unter Geldstrafe und Gefangenschaft das Durch-
schneiden der Drahthecken der Viehzüchter. Infolgedessen
wurde bald darauf ein Ansiedler ins Gefängniss gesetzt, weil
er die Stacheldrahthecke eines Viehkönigs durchschnitten
hatte. In Wahrheit hatte zwar der Viehkönig seinen Stachel-
draht meilenlang um das Besitzthum des armen Ansiedlers
gezogen, so dass dieser, um in die Stadt zu gehen, den
Draht durchschneiden musste; aber er hatte sich gegen das
Gesetz in flagranti vergangen und musste bestratt werden.
Während dieser Fall bei den Gerichten anhängig war
und das dauerte eine geraume Zeit, ahnten die kleinen
Ansiedler nichts Gutes und viele verkauften so schnell als
möglich ihr Besitzthum. Darauf hatten gerade die Vieh-
könige spekulirt. Besitzer kleinerer Heerden verkauften
ihnen in gleicher Weise dieselben. So kam es, dass um
1883/84 das Vieh in Wyoming in Händen reicher Besitzer
war, welche grosse Gesellschaften bildeten, deren Titel an
den Börsen in New- York und London gehandelt wurden.
Mehrere Gesellschaften hatten ein Kapital von 1—3 Millionen
Dollars. Das Land Hessen sie von Kuhjungen und Stroh-
männern erwerben, und zwar legten sie mit Vorliebe Hand
auf die am Wasser gelegenen Niederungen, wodurch sie
faktisch auch die höher gelegenen Theile beherrschten.
Um ihren Besitz noch mehr zu sichern, bildeten die
Viehbesitzer eine besondere Vereinigung. Als bei Eröff-
nung der Weideländereien von überall her Viehheerden
einrückten, vermischten sich diese mehr oder weniger und
Mancher sah auf diese Weise seine Viehzahl sich bedeutend
vermehren. So entstanden Unregelmässigkeiten, Manche
gelangten zu einer Viehheerde nur mit einem Brandeisen.
Um solche Praxis unmöglich zu machen, wurde die
Vereinigung der Viehbesitzer gegründet. Die Vereinigung
umfasste alle Viehbesitzer von Wyoming, im Ganzen 250.
Ihre Beschlüsse wirkten für die Mitglieder sehr wohlthätig,
nicht aber für die Ansiedler. Die Gesellschaft nahm Ge-
heimpolizisten in ihre Dienste, welche das Gebiet von den
Viehdieben säuberten und so herrschte eine Zeit lang Ruhe
und Frieden und die Viehkönige wurden immer reicher.
Auf einmal aber kam Schlag auf Schlag. Das erste
Missgeschick brachte die Verhaftung jenes Ansiedlers, der
die Drahthecke durchschnitten hatte. Er fand einen Ver-
theidiger in dem obersten Richter des Territoriums, welcher
entschieden für die Bundesgesetze eintrat. Nicht nur erhielt
der Mann sein Recht, sondern der Richter entschied zudem
noch, dass alle Hecken auf dem Bundesland beseitigt wer-
den müssten. Die Viehkönige schickten die gewandtesten
Advokaten nach Washington, wählten den Richter weg,
appellirten an den Sekretär des Innern und schliesslich]
sogar an den Präsidenten; aber es half alles nichts. Durch
das Militär bedroht, entfernten sie mit Widerwillen ihre
Stacheldrahthecken. Bald darauf durchkreuzte eine noch
höhere Macht als das Gesetz ihre Pläne. Der Winter von
1884 war einer der kältesten und längsten seit Menschen
Gedenken. Kälber und Kühe erfroren zu Zehntausenden.
Entgegen aller Hoffnung fiel das Jahr 1885 ebenso schlimm
aus. Die Winter von 86 und 87 waren nicht viel besser.
Am Schlüsse dieser verhängnisvollen Periode war kaum
noch halb so viel Vieh vorhanden als 1883. Zudem waren
die Viehpreise bedeutend gesunken. Die Folgen waren
schlimm. Mancher Viehkönig • stieg vom Throne, da die
Hypotheken denselben erdrückten. Eine Gesellschaft nach
der anderen fiel in Bankerott. Selbst die Banken, welche
den Viehbesitzern so reichlich Kredit gewährt hatten, wur-
den ruinirt. Mancher Viehkönig war froh, wieder eine
Stelle als Handelsgehilfe zu finden. Die Meisten verliessen
die Gegend.
Die gewaltige Blase war geborsten. In den Sommern
von 90 und 91 Unterhessen es zahlreiche Firmen, die nun
kaum dem Namen nach bestanden, Vertreter nach Wyoming
zur Kontrole der Heerden zu senden. Es lohnte sich kaum
mehr, das Vieh zu sammeln. Eine neue Situation war ent-
standen. Eine verlassene Viehweide bedeutete das Auf-
eben von bewässerten Niederungen und es wurden diese
enn auch sofort, wo die Titel unvollständig waren, von
Kuhjungen und Ansiedlern unter den Bestimmungen und
Bedingungen der Heimstättengesetze in Besitz genommen.
In kurzer Frist entstand eine Reihe von Ortschaften; neue
Eisenbahnen brachten weitere Ansiedler, kleine Kaufleute
und Farmer. Alle diese verbanden sich gegen die aus-
sterbende Vereinigung der grossen Viehbesitzer. Die sich
selbst überlassenen Ueberreste der grossen Heerden gaben
den neuen Ansiedlern gute Gelegenheit, ihren Viehstand
zu vergrössern. In den letzten drei Jahren ist der grössere
Theil der ehemaligen Viehheerden in ihre Hände gelangt.
Indessen haben noch ein Drittel der früheren Viehkönige
ihren früheren Besitz erhalten. Diese führen nun mit den
Kleinen, die in ihren Augen nur Rustlers d. h. Schelme
sind, während diese die Anderen als Diebe tituliren, einen
grimmigen Kampf auf Leben und Tod. Schon mehrmals
sind sie in Schlachthaufen einander gegenüber gestanden.
Man darf auf den Ausgang der Dinge gespannt sein.
Die grossen Viehzüchter, indem sie das Recht des ersten
Besitzes geltend machen und erklären, dass sie die Vieh-
zucht in die Gegend eingeführt haben, werden bewaffnete
Streitkräfte halten müssen, um ihre angemassten Rechte zu
vertheidigen. Wie die Carnegiewerke in Homestead, so
miethen auch sie Pinkerton’sche Polizeitruppen. Die kleinen
Viehzüchter, indem sie ihr ursprüngliches Besitzrecht auf-
recht halten und hierbei von der öffentlichen Meinung
unterstützt werden, werden nicht nachgeben, bis sie über-
wältigt sind. Die Staatsregierung hält es mit den grossen
Viehzüchtern, die Bundesregierung ist neutral, und die
Bezirksregierung steht auf »Seite der kleinen Viehzüchter.
Diese sagen, sie seien gezwungen zu kämpfen, oder ihr
Besitzthum Stück um »Stück verschwinden zu sehen. Es
steht ausser Zweifel, dass der Sieg ihnen schliesslich zu-
fallen wird; die zunehmende Besiedelung im Westen kann
auf die Dauer die künstlichen Schranken , welche das
spekulative Kapital der Arbeit entgegen gestellt hat, nicht
vertragen.
Aarau. E. Naef.
Die Kommission für die Umarbeitung des Reichs-
zivilgesetzentwurfes hat in der letzten Zeit einige sozial-
politisch höchst bedeutsame Beschlüsse gefasst. Der „Ent-
wurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche
Reich“ hat bekanntlich in seinem Bestreben, die Rechts-
prinzipien möglichst folgerichtig durchzuführen, den ge-
ringfügigen, im Reichsgesetz vom 14. November 1867 noch
aufrechterhaltenen Beschränkungen der Zinsfreiheit die
Aufnahme in unser künftiges Civilrecht verweigert. Die
Kommission nun stellte „entsprechend dem auf Verstärkung
des gesetzlichen Schutzes des wirthschaftlich Schwächeren
gerichteten Streben der Gegenwart“ diese Bestimmungen
wieder her. Darnach soll bei einem höheren Zinssatz als
454
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 37.
sechs von Hundert auf das Jahr der Schuldner nach Ablauf
eines halben Jahres zu einer halbjährigen Kündigung des
Kapitals berechtigt sein. Ausgenommen sind die kauf-
männischen Schulden. Aus den gleichen Erwägungen her-
aus und in Anlehnung an das Gutachten des 20. deutschen
Juristentags setzte die Kommission ein richterliches Er-
mässigungsrecht bezüglich jeder unverhältnissmässig hohen
Konventionalstrafe fest. Der Entwurf hatte die Höhe der
Konventionalstrafe unbeschränkt der freien Vereinbarung
der Parteien überlassen, während das Allgemeine Preussi-
sche Landrecht bestimmt, dass die Konventionalstrafe das
Doppelte des Interesses des Gläubigers nicht übersteigen
dürfe. Bei der Berathung der oben erwähnten Einschrän-
kung der Zinsfreiheit erklärten ferner mehrere Kommissions-
mitglieder, dass sie von Vorschlägen bezüglich der Rege-
lung der Abzahlungsgeschäfte nur mit Rücksicht auf das
in der Vorbereitung begriffene Reichsspezialgesetz über
diesen Gegenstand zur Zeit Abstand nähmen.
Staatliche Lohnpolitik in Preussen. Einen Einblick
in die sozialpolitischen Grundsätze des preussischen Staates
als Unternehmer gewährt folgendes in der Presse veröffent-
lichtes Schriftstück:
„Königl. Eisenbahndirektion Rechtsrh. Köln.
An sämmtliche Haupt- und Nebenwerkstätten!
Trotz wiederholter Aufforderung ist der Verdienst der
Arbeiter derselbe geblieben, vereinzelt noch gestiegen.
Wir verordnen hiermit nochmals, den Verdienst den Zeit-
verhältnissen gemäss zu reduziren und werden bei der
nächsten Rechnungsrevision in Betracht ziehen, in wiefern
hiervon Gebrauch gemacht ist.“ (Name.)
Während die Vereinigten Staaten für die staatlichen
Arbeiten eine erhebliche Verkürzung der Arbeitszeit, die
Stadt Zürich Minimallöhne einführt, geht man in Preussen
daran, die ohnedies sehr niedrigen Lohnsätze der staatlichen
Arbeiter weiter zu reduziren. Eine ähnliche Lohnpolitik
betrieb man in Preussen unter freihändlerischen Ressort-
ministern zur Zeit der Krisis in den 70er Jahren. Das Ein-
schlagen sozialreformatorischer, das Verlassen der freihänd-
lerischen Bahnen hat an der Lohnpolitik des preussischen
Staates als Unternehmer nichts geändert.
Eine Enquete über das Gemeindeeigentliuin im deutschen
Reiche. „Frei Land“ veröffentlicht einen Aufruf des Vorstandes
des deutschen Bundes für Bodenbesitzreform mit dem Entwürfe
eines Fragebogens zur Ermittelung der Grösse, des Ertrages u.s. w.
des Gemeindegrundbesitzes im deutschen Reiche. Der Frage-
bogen hat folgenden Wortlaut:
1. Grösse des Gemeindebesitzes in Morgen oder Hektaren:
a) Wald: b) Wiese: c) Acker: d) andere Nutzländereien (Berg-
werke u. s. w.): e) Bauland, bebaut und unbebaut:
2. Verwerthung des Gemeindelandes: a) wieviel ist ver-
pachtet? b) wieviel ist anderweitig ausgethan? c) wieviel ist im
Gemeindehetrieb ?
3. Gesammtertrag des Gemeindelandes: a) aus Verpach-
tung: b) aus anderweiter Vergebung: c) aus dem Gemeinde-
betrieb :
4. Verwendung des Ertrages: a) für die laufenden Ge-
meindeausgaben: b) für gemeinnützige Zwecke: c) zur Deckung
der Staatssteuern der Bürger: d) durch direkte Verteilung an
die Bürger in baar: in Naturalien (Holz, Streu oder dergl.):
5) Zahl a) der Bezugsberechtigten: b) der Ortsansässigen
überhaupt:
6. Hat sich der Gemeindegrundbesitz und der Gesammt-
ertrag in den letzten 10 Jahren wesentlich vermehrt oder ver-
mindert:
7. Was ist über die Zunahme oder Abnahme des Gemeinde-
grundbesitzes aus früherer Zeit bekannt?
Das englische Kleinstättengesetz. Das landwirthschaft-
liche Amt hat, wie wir der „Kölnischen Zeitung“ entnehmen, den
Grafschattsräthen eine Darstellung und Erläuterung des in diesem
Jahre erlassenen Kleinstättengesetzes (small holdings Act) zu-
gehen lassen, mit der Aufforderung, für jede Grafschaft einen
Ausschuss für die Entgegennahme von Anträgen für den An-
kauf oder die Pachtnahme von Kleinstätten zu errichten. Als
Kleinstätte gilt ein Gut von mehr als I Acre (.40 Ar) und nicht
über 50 Acre (20 Hektar), her Grafschaftsausschuss hat das
Recht, Land anzukaufen, um dasselbe in Pacht zu geben oder
zu verkaufen, sowie die auf den erworbenen Grundstücken ste-
henden Gebäude umbauen oder neue Gebäude errichten zu
lassen. Ein Zwangsrecht zum Ankauf von Land besitzt der
Ausschuss ebensowenig als in Preussen die Ansiedlungskom-
mission. Jedem Grafschaftswähler steht das Recht zu, beim
Grafschaftsrath ein Gesuch um Schaffung von Kleinstätten ein-
zureichen, worauf das Gesuch an den Kleinstättenausschuss zur
Begutachtung geht. Bejaht der Grafschaftsrath die Bedürfniss-
frage, so hat er sich nach Grundstücken umzusehen, die auf
dem Wege der freien Vereinbarung zu erwerben sind. Nach
der Erwerbung wird das Grundstück den Bestimmungen des
Gesetzes von 1875 über den Besitzwechsel (land transfer Act;
gemäss eingetragen. Jeder Grafschaftsrath hat das Recht, dem
Ausschuss Bedingungen für die Ausführung des Kleinstätten-
gesetzes vorzuschreiben und auf den vom Ausschuss erworbenen
Grundstücken Arbeiten, wie Be- und Entwässerung, Wegean-
lagen u. s. w., anzuordnen. Beim Wiederverkauf an Private ist
dem Kaufpreis der Kostenbetrag der Meliorations- und anderen
Arbeiten im Verhältniss zum Flächeninhalt der einzelnen Klein-
stätten zuzuschlagen. Wer eine Kleinstätte auf Abzahlung vom
Grafschaftsrath erwerben will, hat wenigstens Vr. des Verkaufs-
preises sofort zu entrichten, während iür den gestundeten Be-
trag eine Gewähr oder eine Hypothek zu Gunsten des Graf-
schaitsraths zu leisten ist. In diesem Falle muss die Abzahlung
in halbjährlichen Raten mit Zinsen binnen höchstens 50 Jahren
erfolgen. Der Grafschaftsrath kann bei der Regierung eine
3 ’/ä procentige Anleihe zum Zweck des Landankaufs eingehen
und soll den Abnehmern 4 pCt. Zinsen und Tilgung anrechnen,
so dass ein Abnehmer von 20 Acre zu 50 L. Mas Acre 200 L.
baar anzuzahlen und, wenn die Abzahlung auf 50 Jahre anbe-
raumt ist, 32 L. jährlich an Kapital und Zinsen zu entrichten
hat; erst nach der Abzahlung wird der Abnehmer Besitzer des
Gutes. Bis dahin darf er das Gut nicht in Afterpacht geben
oder theilen, mehr als ein Wohnhaus auf demselben errichten,
kurz, dessen Charakter nicht verändern. Aber auch wenn das
Gut in seinen Besitz übergegangen ist, bleibt es als Kleinstätte
gewissen Verfügungen des Grafschaftsraths unterworfen; so ist
der Besitzer im Falle, dass das Grundstück als Bauplatz ver-
kauft werden soll, dazu gehalten, es zuerst dem Grafschaftsrath
und demjenigen, der es an den Rath veräussert hat, zum Ver-
kauf anzubieten. In einigen besonderen Fällen darf der Graf-
schaftsrath Kleinstätten von nicht über 15 Acre Ausdehnung
oder, wenn grössere, für einen Jahreszins von nicht über 15 L.
in Pacht geben. Die Grafschaftsräthe dürfen ihre Anleihen zu
den Zwecken des Gesetzes nur in dem Mass eingehen, dass sie
selbst eine Heimzahlung nach dem Satze von 1 P. für das Lst.
vornehmen können. Demnach darf ein Grafschaftsrath, der über
Land im Werthe von 1 500 000 L. verfügt, was zu jenem Satze
eine Jahresrate von 6 200 L. ergiebt, nur 150 000 L vom Staats-
schatz leihen, weil die Inhaber von Kleinstätten für diesen Be-
trag, zu 4 pCt. für Kapital und Zinsen, jährlich 6000 L. zu ent-
richten haben. Eine wichtige Bestimmung des Gesetzes ist die,
dass beim Ableben des Inhabers die Kleinstätte ungetheilt an
eine Person übertragen werden muss, und zwar an ein Familien-
mitglied; dadurch wird das Gut ein- für allemal zur Heimstätte.
Arbeiterzustände.
Die Lage der Arbeiter in den russischen Bergwerken.
Schon seit Langem ist die äusserst traurige Lage der
Arbeiter in den Hütten- und Bergwerken Russlands Gegen-
stand der Erörterung in der russischen Litteratur. Sowohl
in den Fachzeitschriften, wie in der Tagespresse klagte
man oft über die überaus ungünstigen materiellen und
sanitären Verhältnisse, unter welchen der russische Berg-
arbeiter sein kümmerliches Dasein fristen muss. Theilweise
durch den Widerhall dieser Klagen, theilweise vielleicht
auch durch das energische Vorgehen der Bergarbeiter in
Westeuropa und die zu Gunsten der Letzteren erlassenen
Gesetze genöthigt, veranlasste im Herbst 1891 das russische
Domänenministerium, eine amtliche Untersuchung der Lage
der Arbeiter in den Hütten- und Bergwerken Russlands.
Da sich Russlands bedeutendste Hütten- und Bergwerke im
Ural befinden, wurde Dr. Bertenson, ein Mitglied des Montan-
komitees, vom Domänenministerium dorthin mit dem Auf-
träge geschickt, den sanitären Zustand der Arbeiter sowohl
in den grössten Privat- und Staatshüttenwerken, als auch
in den Goldbergwerken zu prüfen. Dr. Bertenson’s Bericht
hierüber wurde vor Kurzem veröffentlicht und erweist sich
in sozialpolitischer Hinsicht von grossem Interesse. Seine
Arbeit trägt den Titel: „Die Hütten- und Bergwerke
Russlands in ärztlich-sanitärer Beziehung1) und
enthält in kurzen, aber markigen Zügen eine Charakteristik
der gesundheitlichen Zustände der genannten Arbeiterkate-
gorie. Die gedrängte, jedoch lebendige Schilderung zerfällt
!) „Wratschebno-sanitarnoje djelo na gornich sa wodach i
pronislach w Rossii.“ S. Petersburg, 1892.
No. 37.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
455
in 3 Theile: 1. in die Schilderung der Hüttenwerke nach ihrer
sanitären Lage, die Statistik der Unglücksfälle, Beschrei-
bung der Berufskrankheiten und der hauptsächlichsten
Fabrikmissstände, 2. eine Darstellung der Organisation der
ärztlichen Aufsicht, d. h. des Spitalwesens in den Privat-
sowie in den Staatshüttenwerken, und 3. die allgemeinen
Missstände der ärztlich-sanitären Kontrolle in allen Hütten-
und Goldbergwerken des Urals. Schliesslich werden in der
Schrift Vorschläge gemacht zur Registrirung von Unglücks-
tällen, Bestimmungen zum Schutze der Arbeiter vor solchen
und ferner für Massregeln, die nach der Ansicht des Ver-
fassers zur Beseitigung der grossen Unvollkommenheiten der
ärztlich-sanitären Kontrolle in den Bergwerken Russlands
getroffen werden müssten.
Obschon Dr. Bertenson’s Beobachtungen sich nicht auf
sämmtliche Hütten- und Bergwerke des Urals erstrecken, son-
dern nur auf 12 Staats-, 7 Privathüttenwerke und 2 Gold-
bergwerke, so hält der Verfasser das von ihm an Ort und
Stelle gesammelte Material, welches ausserdem durch Mit-
theilungen der Fabrikverwaltungen ergänzt wurde, für hin-
reichend genug, um ein klares Bild der Lage der Berg-
arbeiter zu geben. Wie nicht anders zu erwarten war,
ist dieses Bild eines der traurigsten, das man sich vor-
stellen kann. Die räumliche Beschränkung der Arbeits-
lokalitäten, die überaus mangelhafte Ventilation, die hohe
Temperatur, welche, um mit Dr. Bertenson zu sprechen,
„die Arbeit höchst schwierig, ja fast unerträglich macht“,
der völlige Mangel irgend welcher Schutzvorrichtungen
gegen Verletzungen und Unglücksfälle und dazu noch der
Mangel nicht nur von Krankenhäusern oder Spitälern, son-
dern auch der einfachsten Mittel zur ersten Hilfeleistung
bei Unglücksfällen, — dies sind nach Dr. Bertenson die
hauptsächlichsten Uebelstände der Bergwerke des Urals.
Es kann nicht Wunder nehmen, wenn die unter solchen
antihygienischen Bedingungen zur Arbeit genöthigten Leute
sehr häutig Krankheiten der Respirations- und Verdauungs-
organe, ferner Muskel- und Gelenkrheumatismen, wie auch
traumatischen Verletzungen unterworfen sind.
So seltsam es auch für einen westeuropäischen Leser
klingen mag, aber statistische Daten über Erkrankungen im
Allgemeinen existiren im Ural gar nicht und werden auch
nicht aufgestellt. Was nun die Statistik der Unglücksfälle
in den Bergwerken des Urals anbetrifft, so existirt zwar ein
amtliches Jahrbuch unter dem Titel: „Sammlung statisti-
scher Daten über die Montanindustrie Russlands“, indess
entbehren diese Daten jeder Zuverlässigkeit. Um die Mangel-
haftigkeit dieser amtlichenjahrbücher zu charakterisiren, mag
bemerkt werden, dass die darin enthaltenen bergbau-
technischen Mittheilungen seit dem Jahre 1866, ungeachtet
des bis zu unserer Zeit gemachten unverkennbaren Pro-
duktionsfortschrittes, stets nach ein und derselben Schablone
verfasst und publicirt werden.1) Dr. Bertenson weist ferner
in seinem Berichte darauf hin, dass in der Mehrzahl der
Hüttenwerke nur Fälle schwerer Körperverletzungen
registrirt werden, ln einigen Etablissements findet nicht
einmal dies statt. Es werden nämlich dort nur diejenigen
Unglücksfälle registrirt, welche den Tod oder Pensionirung
nach sich zogen.
Nicht weniger als die Statistik krankt auch die Orga-
nisation der ärztlichen Hilfe an Schäden mannigfaltiger Art.
Gut eingerichtete Spitäler giebt es wie in den Privat-, so
auch in den Staatsetablissements nur höchst wenige. Bei
dem gänzlichen Mangel an beständig angestellten Aerzten
in vielen Hospitälern lässt sich auch gar keine gute sanitäre
Pflege erwarten. Die Mehrzahl der Kranken wird den
„Feldscherern“ (in Deutschland „Bader“ genannt) anver-
traut, welch letztere zumeist gar keine Fachbildung auf-
weisen können und lediglich „zu Hause“, d. h. im Hospital
selbst, ihre Praxis erworben haben. Auch haben sich diese
Feldscherer keiner Prüfung unterzogen und besitzen weder
Zeugnisse, noch Diplome. In einer ganzen Reihe von
L „Wostotschnoje Obosrjenije“ („Oestliche Rundschau“)
No 24. Irkutsk, 1892.
Spitälern fand Dr. Bertenson nicht einmal das zur Kranken-
pflege Allernoth wendigste. Noch mehr: unter den Privat-
hüttenwerken existiren auch solche, wo nicht nur kein
Arzt, sondern auch kein Feldscherer fungirt. So müssen,
z. B. die Arbeiterkolonien des Tschernoistotschensky’schen
Hüttenwerkes, im Bezirke Nischnij-Tagilsk — die jährlich
etwa 10 000 ambulante Kranke aufzuweisen haben, sich an
einen Feldscherer — bei Weitem keinen Arzt — wenden,
welcher ungefähr 10 Kilometer weit vom Hüttenwerke
seinen Wohnsitz hat. Das Goldbergwerk von Demidows
Nachfolger, welches allein zwei und ein halbes Tausend
Arbeiter beschäftigt, besitzt weder ein Krankenhaus, noch
einen Feldscherer. Trotz des Steigens der Arbeiterzahl
haben viele Hütten- und Bergwerke vom Demidows Nach-
folger in Bezug auf die den Arbeiterkolonien gewährleistete
ärztliche Hilfe sogar einen eminenten Rückschritt zu ver-
zeichnen. So zählte man im Nischnij-Tagilskischen Bezirk
Ende der sechziger Jahre fünf Krankenhäuser mit 150 Betten,
jetzt finden wir im ganzen Bezirk nur noch zwei Kranken-
häuser mit 35 Betten. Dass sich der Gewinn der Unter-
nehmer seit den sechziger Jahren keineswegs verringerte,
sondern enorm stieg, ist im Ural genügend bekannt; und
bei der Konstatirung der Thatsache, dass Demidows Nach-
folger die Reduktion der Krankenhäuser-Anzahl für noth-
wendig erachteten, kann sich selbst der amtliche Bericht-
erstatter, Dr. Bertenson, folgender sarkastischen Bemerkung
nicht enthalten: „Gewiss ist nun jetzt die Etablissements-
verwaltung, welche in den Jahren 1867 und 1868 jährlich
99 741 Rubel für die Krankenpflege verausgabte, imStande,
diese Ausgaben auf 25 Tausend zu reduziren, obschon der
Reingewinn in gar keinem Vergleich gestiegen ist.“
Ganz ähnlich, wie in den Demidow’schen Etablisse-
ments, sieht es mit der ärztlichen Hilfe in den Bergwerken
anderer Industrieller aus — und es gehört keineswegs zu
den Seltenheiten, dass drei Hüttenwerke, die durch eine
Entfernung von vielen Dutzenden von Wersten von ein-
ander getrennt sind, zusammen nur einen einzigen Arzt
haben.
Die mangelhafte ärztliche Hilfe, die den Arbeitern im
Ural zu Theil wird, wurde schon oft, wie erwähnt, von der
russischen Presse besprochen; und erst kurz vor der Ver-
öffentlichung des Berichts von Dr. Bertenson wiesen die
„Russkija Wjedomosti“ 1) auf den traurigen Sanitätszustand
der Arbeiter im Gouvernement Perm hin, wo sich eben die
grösste Anzahl der Bergwerke des Urals befindet. Trotzdem
das Gesetz ausdrücklich verlangt, dass jeder Fabrikbesitzer
für je 100 Arbeiter ein Bett im Krankenhause bereit halten
muss, ist die ärztliche Hilfe für die Arbeiter höchst proble-
matischer Natur. Die Zahl der im Fabrik-Krankenhause
vorhandenen Betten entspricht äusserst selten der Menge
der beschäftigten Arbeiter. Die Aerzte sind in den Fa-
briken und Plüttenwerken sehr spärlich vertreten und die
Leitung der ärztlichen Aufsicht befindet sich oft aus-
schliesslich in den Händen der Feldscherer, die nicht nur
die Ambulanten behandeln, sondern sogar Kranken-
häuser mit 15 Betten zu überwachen haben. Dass es hier
mit ärztlicher Hilfe nicht gut aussieht, brauchen wir nicht
erst auseinander zu setzen. Es muss aber noch bemerkt
werden, dass nur die in den Hüttenwerken beschäftigten
Männer der oben geschilderten Krankenpflege theilhaftig
werden, — die Frauen jedoch, sowie auch die Kinder
der Arbeiter werden in die Krankenhäuser gar nicht auf-
genommen und ihnen auch keine Arzneien verabfolgt. Es
giebt ferner Hüttenwerke, wo das Gesetz, die obligatorische
ärztliche Hilfeleistung an die Arbeiter betreffend, für die
Letzteren in noch ungünstigerem Sinne von den Unter-
nehmern kommentirt wird: es werden nämlich hier nur
diejenigen Arbeiter in die Krankenhäuser aufgenommen,
welche während der Arbeit in dem Hüttenwerke selbst eine
Verletzung sich zugezogen haben.
In einer noch viel schlimmeren Lage, als die Arbeiter
in den Hüttenwerken, befinden sich die Arbeiter in den
') „Russkija Wjed.“ Nr. 112, 1892.
456
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
Goldgruben des Urals. Der bei weitem grösste Theil der
Arbeiter in den Goldgruben wird von den sogenannten
„Starateli“ verrichtet , einer eigentümlichen Art von
Arbeitern, die keinen Taglohn beziehen, sondern das von
ihnen ausgebeutete Gold an die Goldgrubenbesitzer an Ort
und Stelle verkaufen, resp. zu verkaufen verpflichtet sind.
Die Gesammtzahl der „Starateli“ übersteigt die Höhe von
mehreren 10 000 Mann und eben diese „Starateli“ beuten
% des gesammten Goldquantums und fast das ganze
Platinaquantum aus, das im Ural ausgewaschen wird.
Da die Arbeit der „Starateli“, d. h. die Goldwäscherei,
ihrem Wesen nach zu den schwierigsten Leistungen
gehört und, was noch wichtiger ist, sich unter höchst
antihygienischen Bedingungen vollzieht , so ist es nicht
erstaunlich, dass die Goldgruben stets eine sehr grosse
Anzahl von Kranken aufweisen. Die Grubenbesitzer haben
jedoch, kraft des Gesetzes, gar keine Verpflichtungen den
Grubenarbeitern gegenüber, mit anderen Worten, sie sind
weder verpflichtet , die Kranken ärztlich behandeln zu
lassen, noch ihnen Medikamente oder dergleichen zu geben.
Infolge dessen fällt die ärztliche Aufsicht über die Gruben-
arbeiter den Semstwos anheim. Die Semstwos sind aber
auch nicht im Stande, eine reguläre ärztliche Aufsicht in
allen Goldgruben zu organisiren, da deren sehr viele
existiren und sie in wilden und nur mit Mühe zugänglichen
Gegenden gelegen sind. Die Folge von all dem ist, dass die
armen „Starateli“ ihrem Schicksal resp. ihrer Krankheit
preisgegeben sind und sich selbst mit ihren eigenen Mitteln
zu kuriren suchen. Ganz besonders werden die „Starateli“
vom Scorbut heimgesucht. Jährlich fallen Dutzende von
Arbeitern dieser Krankheit zum Opfer; noch grösser ist die
Anzahl der Kranken, welche, wenn sie auch am Leben
bleiben , doch monatelang zu arbeiten nicht im Stande
sind. In diesem Jahre, wo die Noth des Volkes noch
mehr gestiegen ist, kann man erwarten, dass der Scorbut
grössere Opfer fordern wird , als es gewöhnlich der
Fall ist.
Dr. Bertenson bestätigt seinerseits die höchst anti-
hygienische und antisanitäre Lage der Arbeiter in den Gold-
gruben und weist darauf hin, dass die Lage der Gold-
grubenarbeiter noch schlimmer ist, als diejenige der Fabrik-
arbeiter im Ural. Die Besitzer der Hüttenwerke sorgen
wenigstens für eine mangelhafte Krankenpflege, dagegen
leisten die Goldgrubenbesitzer in Bezug auf die Vernach-
lässigung dieser ärztlichen Hilfe einfach Unübertreffliches.
Man traut kaum seinen Augen, wenn man darüber im Be-
richte von Dr. Bertenson Folgendes zu lesen bekommt:
„Nicht allein, dass die Goldgrubenbesitzer für die sanitären
und ärztlichen Bedürfnisse ihrer Arbeiter keine Sorge
tragen, — sie geben sogar noch die Erkrankten
ihrem Schicksale vollständig preis. Kein einziges
Goldbergwerk, — die reichsten von ihnen nicht
ausgeschlossen, — besitzt ein Krankenhaus oder
auch nur einen Feldscherer. „Ich hatte selbst die
Gelegenheit , 2 Arbeiter zu sehen“, sagt Dr. Bertenson,
„die am Flecktyphus in einer der Goldgruben des Ober-
Tura’schen Bezirkes erkrankten, und die daher von dort
hinausgeschafft und in Unter-Tura ihrer Krankheit preis-
gegeben wurden. Die Bewohner Unter-Tura’s hoben die
Arbeiter von der Strasse auf und verbrachten sie in das
Ortskrankenhaus“. — Dies ist die Organisation der ärzt-
lichen Hilfe in den russischen Goldbergwerken, und sie
entspricht allen übrigen Lohn- und Lebensbedingungen der
russischen Goldgrubenarbeiter!
Dass mit dem oben Gesagten schon ein klares Bild
über die Lage der Arbeiter in den Goldgruben des Urals ge-
geben ist, wird wohl Niemand bestreiten können. Um aber
dieses Bild zu vervollständigen, wollen wir nun zur Be-
trachtung der Arbeiterwohnungen schreiten, welche die Gold-
grubenbesitzer für ihre Arbeiter errichten lassen. Diese
Wohnungen, welche eigentlich Kasernen zu nennen sind,
werden aus ganz dünnen Balken gebaut und gewähren
gegen die im Ural bis zu 30 Grad steigende Kälte absolut
keinen Schutz. Das Bretterdach ist lediglich mit Humus
bedeckt, worauf sich eine dicke Schneeschicht lagert. Pla-
fonds sind nicht vorhanden und die Thiire geht direkt ins
Freie. Diese Kasernen sind derart überfüllt, dass auf je
einen Arbeiter im günstigsten Falle kaum 4 cbm Luft
kommt. Ein gesunder, jedoch an die Luft dieser „Arbeiter-
wohnungen“ nicht gewöhnter Mensch kann es nicht einmal
einige Minuten hier aushalten, wenn er sich nicht Kopf-
schmerzen, Kongestion in den Schläfen oder Uebelsein zu-
ziehen will. In diesen Kasernen aber wohnen Tausende von
Arbeitern, — hier sollen sie nach ihrer mühevollen, viel-
stündigen Arbeit ausruhen, Arbeit, die, um mit Dr. Berten-
son zu sprechen, — in den Goldgruben Urals „unter den die
Gesundheit der Arbeiter im höchsten Grade gefährdenden
Verhältnissen vor sich geht.“
Um Abhilfe zu schaffen und die beispiellosen Miss-
stände im Ural wenn auch nur einigermassen zu lindern,
macht Dr. Bertenson am Schlüsse seines Berichtes folgende
Vorschläge: 1. Die Kontrole über die Montanindustrie soll
allen sanitären Anforderungen, im weitesten Sinne des
Wortes, entsprechen und sich sowohl auf die Privathütten-
werke und Goldgruben, wie auch auf die Staatsetablisse-
ments erstrecken. 2. Der Wirkungskreis der Kontrol-
beamten müsse in Anbetracht der ausserordentlich räumlichen
Ausdehnung der Montanbezirke möglichst beschränkt sein,
damit die Kontrole nicht blos eine Fiktion bleibt; 3. die
gesetzliche Verantwortlichkeit derjenigen Persönlichkeiten,
denen das Loos der Arbeiter übertragen ist, soll für den
Fall der Ausserachtlassung der durch das Gesetz statuirten
Forderungen und obligatorischen Vorschriften entsprechend
verschärft und strenger gehandhabt werden.
Was nun die Kontrolagenten anbetrifft, so räth der
Verfasser, dieselben nicht den Reihen der Techniker,
sondern dem ärztlichen Stande zu entnehmen, indem er
von der ganz richtigen Ansicht ausgeht, dass für die
sanitäre Aufsicht ärztliches Wissen weit massgebender ist,
als technisches. „Die technischen Lücken im Kenntniss-
bereiche des Arztes“, meint Dr. Bertenson: „werden der
sanitären Kontrole viel weniger schaden, als der Abgang
medizinischen Wissens bei den Technikern“. Die Anstellung
von Aerzten als Aufsichtsagenten ist desto dringender noth-
wendig, als sämmtliche Sanitätseinrichtungen (Kranken-
häuser, Spitäler etc.) des Urals zur Zeit unter gar keiner
ärztlichen Aufsicht stehen. Dies erklärt sich dadurch, dass
das Amt des Medizinalinspektors, welcher, laut dem § 946
des Bergreglements, sämmtliche Medicinaleinrichtungen der
Staats- und Privathüttenwerke im Ural zu verwalten hatte,
laut einer neuen Bestimmung des Jahres 1890, aufgehoben
wurde. Dr. Bertenson beharrt auf der Nothwendigkeit der
Wiederherstellung des Medizinalinspektorates und weist
darauf hin, dass sich in den Händen dieses Inspektors nicht
nur die Leitung der medizinischen, sondern auch der sani-
tären Aufsicht nunmehr befinden sollte. Bei der Ueber-
wachung der Sanitätszustände müsste der Medizinalinspektor
im Ural dieselben Aufgaben erfüllen, wie der Hauptfabrik-
inspektor in den Fabrikbezirken. — Nachdem Dr. Bertenson
noch einige detaillirte Winke zur Besserung der Lage der
Arbeiter in den Bergwerken des Urals ausgesprochen und
nochmals an die unerträgliche Lage der russischen Berg-
arbeiter erinnert, kommt er zu folgendem Ausruf: „Schon
längst wäre es an der Zeit, den ausbeuterischen Bestrebungen
der Mehrzahl der Goldgrubenbesitzer eine Grenze zu ziehen
und, wenn auch nur einigermassen, das Leben und die Ge-
sundheit der Arbeiter zu schützen!“
E. Scholkow.
Zur Statistik der Arbeitslosigkeit. Nach den neuesten
,, Mittheilungen der Grossherzoglich Hessischen Centralstelle
für die Landesstatistik“ (August 1892) hahen die Bestrafun-
gen wegen „Betteins und Landstreichens“ im Grossherzog-
thum Hessen während des Jahres 1891 im Ganzen 2599 be-
tragen, gegen 2236 in 1890, 2902 in 1889, 2934 in 1888 und
3296 in 1887. Das Krisenjahr 1891 zeitigte also eine Zu-
nahme der Straffälle. Interessant zu sehen ist, dass die
Hauptzahl der Bestrafungen auf die beiden Provinzen
No. 37.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
457
Rheinhessen und Starkenburg in verkehrsreicher Lage am
Rhein fällt, während die mehr ländliche Provinz Oberhessen,
die in gebirgiger Gegend mehr vom grossen Verkehr ab-
hegt, von jeher die niedrigste Strafziffer aufweist Sozial-
politisch bemerkenswerth ist sodann die Vertheilung der
Straffälle auf die Jahreszeiten Danach entfallen von den
im Grossherzogthum ergangenen Bestrafungen die meisten
auf die drei Wintermonate Dezember— Februar, nämlich
943, oder auf einen Tag dieser Monate durchschnittlich 10,5,
es folgen die Frühjahrsmonate März— Mai mit 594 oder auf
einen Tag 6,5, die Herbstmonate September— November mit
514 oder aut einen Tag 5,6, die Sommermonate mit 417
oder auf einen Tag 4,5 Bestrafungen. Diese Zahlen lassen
doch mit aller nur wünschenswerthen Deutlichkeit erkennen,
dass die Statistik viel mehr Arbeitlose, als „Bettler und
Landstreicher“ betrifft. Denn gerade in den Sommer-
monaten, in denen das „Landstreichen“ zur angenehmsten
Beschäftigung gehören würde, ist die Zahl der betroffenen
„Landstreicher“ am niedrigsten, während sie in der ver-
dienstlosen Winterszeit, in der das Verweilen auf der Land-
strasse sicher kein Vergnügen ist, beinahe auf das Doppelte
anschwillt.
Die ortsüblichen Tagelöhne in der Stadt Hannover.
Die ortsüblichen Tagelöhne gewöhnlicher Tagearbeiter sind,
wie der Hannoversche Magistrat bekannt macht, von dem
Regierungspräsidenten für den .Stadtkreis Hannover neuer-
dings, und zwar wie folgt, festgesetzt worden:
1. Für erwachsene männliche Arbeiter über 16 Jahre
aut 2,40 M. , 2. für erwachsene weibliche Arbeiter über
16 Jahre auf 1,50 M., 3. für jugendliche männliche Arbeiter
unter 16 Jahren auf 1,20 M., 4. für jugendliche weibliche
Arbeiter unter 16 Jahren auf 1 M. Diese Sätze treten an
Stelle der bisherigen vom 1. Januar 1893 an in Kraft.
Eine Veränderung gegen früher trat nur bei den
erwachsenen männlichen Arbeitern ein, deren ortsüblicher
Tagelohn bisnun mit 2 M. fixirt war.
Arbeiterverhältnisse in Lübeck. Auch der Fabrik-
inspektor der Freien Stadt Lübeck giebt, wie alljährlich,
so in seinem neuesten Jahresberichte für 1891 eine er-
schöpfende Statistik der Fabrikarbeiter seines Bezirks. Da-
nach betrug die Zahl der in Lükecker Fabriken und diesen
gleichstehenden Anlagen beschäftigten Arbeiter 3113 Per-
sonen. Es hat demnach gegen das Vorjahr eine Zunahme
um 150 Köpfe, d. h. von etwa 5 pCt. stattgefunden. Der
Zuwachs von Arbeitern entfällt im Wesentlichen auf die
Industriegruppe der Steine und Erden, sowie auf die der
Nahrungs- und Genussmittel und ist in beiden Fällen
eigentlich nur ein rechnungsmässiger, indem die Anzahl der
Ziegeleiarbeiter im vorhergehenden Jahre vorübergehend
ebenso gross war, wie im Berichtsjahre und dieauch im vorher-
gehenden Jahre bereits bestandenen Molkereien erst im Be-
richtsjahre der Beaufsichtigung unterstellt wurden. Unter den
Arbeitern befanden sich 2958 Erwachsene, 132 junge Leute und
23 Kinder, was beziehungsweise 95, 4,25 und 0,75 pCt. aus-
macht. Im Vergleich mit dem Vorjahre ist das Verhält-
niss der jugendlichen Arbeiter zu den Erwachsenen
um 0,8 pCt. gestiegen. Unter den Arbeitern befanden
sich 2642 männliche und 471 weibliche, was beziehungs-
weise 84,9 und 15,1 pCt. der Gesammtzahl entspricht. Im
Vergleich mit dem Vorjahre hat die Anzahl der weib-
lichen Arbeiter eine verhältnismässig stärkere Zunahme
erfahren, als die der männlichen Arbeiter. Den erwachse-
nen Arbeiterinnen waren nach dem Bericht überall nur
solche Verrichtungen zugewiesen, welche ihrem Geschlechte
und ihren Kräften angemessen waren. Der Zuwachs von
38 Personen gegen das Vorjahr entfällt hauptsächlich auf die
Industrie der Metallverarbeitung und zwar auf die Fabriken
von verzinnten und emaillirten Blechgeschirren, sowie auf
die Industrie der Nahrungs- und Genussmittel, nämlich auf
die Konservenfabriken und Molkereien. Die Anzahl der in
den Fabriken beschäftigten jungen Leute betrug im Be-
richtsjahre 123 und hat gegen das Vorjahr um 34 Köpfe zu-
genommen. Neben einem Zuwachs an gewerblichen Lehr-
lingen in einigen Fabriken, hat hierzu wesentlich die Hin-
zurechnung der Molkereien, welche junge Leute als Hilfs-
personal beim Milchverkauf etc. beschäftigen, zu den hier
in Rede stehenden Anlagen beigetragen. Junge Mädchen
im Alter zwischen 14 bis 16 Jahren wurden im Berichts-
jahre weniger beschäftigt, als in den vorhergehenden Jahren,
was davon zeugen mag, dass hierselbst einsichtige Eltern,
im wohlverstandenen Interesse ihrer der Schule entwach-
senen Töchter, diese lieber dem Dienste in einem Haus-
halte, als der Arbeit in einer Fabrik zuführen. Von den
beschäftigten Knaben arbeiteten 2 in einer Piassavawaaren-
fabrik, die übrigen 17 in Tabak- und Cigarrenfabriken.
Zwei Mädchen im Alter zwischen 12 bis 14 Jahren waren
in einer Metallknopffabrik beschäftigt, 2 andere in einer
Cigarrenfabrik. Von einer unangemessenen Beschäftigung
der jugendlichen Arbeiter konnte nach dem Beamten an
keiner Stelle die Rede sein. Auffällig bleibt trotzdem die
allseitige Vermehrung der billigen Arbeitskräfte. Aus einem
Vergleich mit den entgegengesetzten Ergebnissen der Fa-
brikinspektion in Bremen ist gleichzeitig zu ersehen, wie
verschieden sozialpolitisch die Verhältnisse in nahegelegenen
Fabrikbezirken gelagert sein können.
Arbeiterverhältnisse in Bremen. Aus dem kürzlich
erschienenen Jahresbericht des Fabrikinspektors der Freien
Stadt Bremen ist ersichtlich, dass dieser Beamte zu den-
jenigen gehört, die alljährlich eine vollständige Arbeiter-
statistik anfertigen und veröffentlichen. Aus der Aufstellung
für 1891 ergiebt sich, dass in Bremen neben 10 548 er-
wachsenen Arbeitern (8942 männliche und nur 1606 weib-
liche) nur 476 jugendliche (368 männlich und 108 weiblich)
und 14 Kinder (8 männlich und 6 weiblich) beschäftigt
werden. Das sind ziemlich günstige Verhältnisse. Ein noch
niedrigeren Prozentsatz jugendlicher Arbeiter haben im
Deutschen Reich nur drei andere Aufsichtsbezirke. Die
jugendlichen Arbeiter sind hauptsächlich bei der Textil-
industrie und der Herstellung von Nahrungs- und Genuss-
mitteln beschäftigt, während die 14 Kinder fast ausschliess-
lich zum Nageln und Bekleben von Cigarrenkisten ver-
wendet werden. Der Inspektor fand daneben allerdings
auch einen Gewerbetreibenden, der neben 2 Arbeitern
nicht weniger als 7 Lehrlinge beschäftigte. In der Be-
schäftigung von Frauen ist ein beträchtlicher Rückgang
eingetreten, der von dem Beamten durch die schlechte Ge-
schäftslage, sowie durch die Ueberweisung „gewisser Ar-
beiten an die Hausindustrie“ oder die „Verlegung in Gegen-
den mit billigeren Arbeitslöhnen“ erklärt wird. Sanitäre
Missstände fanden sich auch hier namentlich auf Ziegeleien.
Ueber die allgemeine wirtschaftliche Lage der Arbeiter-
bevölkerung heisst es nicht gerade sehr tröstlich: „Wenn
im Eingang dieses Berichts eine Hebung der Industrie nicht
nachweisbar war, so kann auch von einem allgemeinen
wirthschaftlichen Fortschritt in den Erwerbs- und Er-
nährungsverhältnissen der Arbeiter nicht berichtet werden.
Was zunächst den Verdienst betrifft, so hat sich bei der
Regulirung von Unfallschäden herausgestellt, dass der durch-
schnittliche ortsübliche Tagelohn von 3 M. als zu hoch an-
gesetzt betrachtet werden muss und in Wirklichkeit nur
ca. 2,75 M. beträgt. Hieraus darf geschlossen werden, dass
auch die Löhne im Rückgang begriffen sind. Dagegen
sind die Ausgaben noch weiter gestiegen. Brot und Fleisch
und besonders die Kartoffeln, die fast den doppelten Preis
gegen früher kosteten, sind nicht allein theurer geworden,
sondern auch von schlechterer Beschaffenheit. Die
Wohnungsmiethen haben den hohen Stand der letzten
Jahre annähernd behauptet, trotzdem man hin und wieder
kleinere, wenn auch nicht gerade von den Arbeitern be-
wohnte Strassen trifft, in welchen sowohl ganze Häuser,
wie auch einzelne Geschosse leer stehen. Nach meinen
eingehenden Erkundigungen muss der gewöhnliche Arbeiter
im allgemeinen annähernd Vs bis '/4 seines Jahresein-
kommens für Wohnung aufwenden, und wenn auch wohl
behauptet werden darf, dass im grossen und ganzen der hiesige
Arbeiter besser wohnt als derjenige vieler anderer Städte,
sich aus den früheren besseren Wohnungs Verhältnissen
auch mehr den Sinn für ein freundliches Heim bewahrt hat
und diesen dadurch bethätigt, dass er an Sonntagen und
nach Feierabend sich damit beschäftigt, dieselbe auszu-
bessern, zu malen und dergleichen, wie die älteren Strassen
mit vorwiegender Arbeiterbevölkerung zeigen, so ist die
Ausgabe für Wohnung doch reichlich hoch und
steht kaum im richtigen Verhältniss zu der Ge-
sammteinnahme.“ Das sind Verhältnisse, die der Volks-
gesundheit nicht zuträglich sein und bei Epidemien ver-
hängnisvoll werden können.
458
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT .
No. 37,
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Die Situation im deutschen Buchdruckergewerbe.
Die Stellung der Vertreter von Kapital und Arbeit
in der deutschen Druckindustrie hat sich gegenüber dem
vorigen Jahre von Grund aus geändert. Waren im vorigen
Jahre die Gehilfen der angreifende, die Prinzipale der an-
gegriffene Theil, so sind jetzt die Gehilfen zur Defensive
verurtheilt und die Prinzipale suchen möglichsten Nutzen
aus dieser Situation zu ziehen.
Der Verlauf des letzten Buchdruckerstrikes ist in
dieser Zeitschrift so eingehend erörtert worden, dass wir uns
begnügen können, einige Daten in’s Gedächtniss zurückzu-
rufen. Der Hauptstreitpunkt bildete die Verkürzung der
Arbeitszeit. Die Prinzipale lehnten diese Forderung als un-
erfüllbar ab, zeigten aber betreffend der in zweiter Linie
erhobenen Lohnforderung Entgegenkommen und machten
den Vorschlag einer 7l/2 proz. Lohnerhöhung. Damit ge-
standen sie die Reformbedürftigkeit des Tarifes im Sinne
der Gehilfen zu, wenn sie auch über das Mass und die Art
derselben mit den Gehilfen nicht einig waren. Ferner muss
daran erinnert werden, dass bei Beendigung des letzten
Strikes die Prinzipale mit den Vertretern der Gehilfenschaft
ein Abkommen getroffen hatten, dass der Tarif vom
b Januar 1890 auch weiter Geltung haben soll, wenn die
Gehilfen die Arbeit zu den alten Bedingungen wieder auf-
nehmen wollten. Das Letztere ist geschehen. Während
der Verhandlungen zur Beilegung des Strikes schienen die
Prinzipale mit ihrem Erfolge, der weiteren Sicherung des
vor dem Strike bestandenen Zustandes vollständig zufrieden.
Als sie aber nach Beilegung des Strikes über die schlimme
Situation der Gehilfen sich klar wurden, bedauerten sie, den
günstigen Ausgang des Strikes nicht weiter ausgenützt zu
haben. Diese Erkenntniss führte zu einem neuen Verhält-
nisse der sich bekämpfenden Parteien. Die Prinzipale
wurden der angreifende Theil, sie strebten die Zerstörung
der Gehilfenorganisation und die Reduzirung des Tarifes
an. Die Gehilfen, welche zur Defensive gezwungen waren,
hatten die Angriffe gegen ihre Organisation abzuwehren,
diese durch Aenderung der Statuten kampffähiger zu ge-
stalten, ihre Organisation nicht nur national, sondern auch
international zu kräftigen, mit einem Worte, gleichzeitig
abzuwehren und sich für neuen Kampf vorzubereiten.
Die Situation der Prinzipale war ausserordentlich
günstig. Erschlaffung nach der übermässigen Anspannung
der Kräfte, Unzufriedenheit, Erschütterung des Vertrauens
in ihre eigene Kraft zeigte sich bei den Gehilfen, wenn
auch freilich in viel geringerem Grade, als man erwarten
sollte, die Kassen waren geleert, verhältnissmässig beträcht-
liche Schulden aufgenommen, so dass optimistische Prinzi-
pale die Existenz des Unterstützungsvereins deutscher Buch-
drucker für gefährdet halten konnten. Die Zahl der arbeits-
losen organisirten Gehilfen war in Folge der Einstellung
von Nichtgewerkvereinsmitgliedern und der Krise wohl
grösser als je zuvor, so dass geringeren Einnahmen der
sehr geschwächten Gehilfenkassen sehr gesteigerte An-
sprüche der Mitglieder entgegenstanden. Endlich fanden
sich unter den Gehilfen selbst, wenn auch nur vereinzelte,
willfährige Elemente, welche bereit waren, die Vertretung
der Unternehmerinteressen ihrer eigenen Organisation
gegenüber zu übernehmen.
Als Mittel, die Gehilfen aus ihrer bis nun einge-
nommenen Machtstellung zu drängen, ihren Einfluss auf das
Arbeitsverhältniss zu brechen, wurden in’s Auge gefasst:
Gründung von Unterstützungskassen für die Gehilfen und
finanzielle Unterstützung derselben, Organisation des Ar-
beitsnachweises seitens der Prinzipale, Bestellung von den
Prinzipalen genehmen Gehilfen als Tarif kommissionsmit-
glieder, Reduktion des Tarifes und vor allem Schwächung
der selbständigen Organisation und der Kassen der Ge-
hilfen. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die Ausführung
dieser Taktik im einzelnen zu verfolgen, wir können nur
auf die Verhandlungen der Generalversammlung des deut-
schen Buchdruckerverbandes (Unternehmerorganisation) in
Breslau, auf die Bestrebungen vieler Prinzipale die Gehilfen
zum Austritt aus ihrer Organisation zu zwingen, auf zahl-
reiche Massregelungen und auch den systematisch geführten
Kampf gegen die Invalidenkasse und endlich auf das illoyale
Spiel bei der Wahl der Gehilfenvertreter und den Versuch
der Oktroyrung eines neuen Tarifs vom 1. Oktober 1892
ab hinweisen.
Die Gehilfen legten aber auch nicht die Hände in den
Schooss. .Sie gestalteten den Unterstützungsverein in einen
weit leistungsfähigeren, der behördlichen Bevormundung weit
weniger ausgesetzten Gewerkverein um, sie lösten ihre
Krankenkasse auf und verbanden sie mit dem Gewerkverein,
es gelang ihnen, die Verdächtigungen gegen die Leitung
ihrer Invalidenkasse als haltlos nachzuweisen, sie machten
die Wahl von prinzipalsfreundlichen Gehilfenvertretern in
die Tarifkommission unmöglich und wiesen den Prinzipalen,
welche hierauf die Tarifgemeinschaft für aufgehoben er-
klärten, nach, dass kein redliches Spiel gegenüber den Ge-
hilfen seitens der Prinzipale beliebt wurde. Endlich ist die
Gefahr der Oktroirung eines neuen Tarifs zum mindesten
aufgeschoben, da die Berliner und andere Buchdruckerei-
besitzer dem Tarifentwurfe ihre Zustimmung versagten, den
alten Tarif als rechtskräftig anerkannten und gleichzeitig
erklärten, dass sie zur Reduktion des neuen Tarifs die Hand
zu reichen nicht gewillt seien. Diese Beschlüsse erschüttern
die Leitung der Prinzipale und dürften wohl auch zur
Folge haben, dass es kaum zur Gründung der seitens der
Leipziger und MünchenerPrinzipale geplantenUnterstützungs-
kassen kommt. Zu neuen Kämpfen, die aber vernünftiger
Weise für die nächste Zeit nicht in Aussicht genommen sind,
wappneten sich die Gehilfen durch Stärkung ihrer eigenen
Organisation und durch die Festigung ihrer internationalen
Beziehungen auf dem internationalen Buchdruckertag zu
Bern.
Wenn wir die Situation im deutschen Buchdrucker-
gewerbe mit wenigen Worten beleuchten wollen, so haben
wir zu sagen, dass der Gegensatz zwischen Gehilfen
und Unternehmern heute stärker ist als zur Zeit der Ar-
beitseinstellung und dass die Schuld hierfür das rücksichts-
lose und illoyale Gebahren der Prinzipale zum weitaus
grössten Theile trifft.
Berlin. Adolf Braun.
Die sliding scale als Regulator der Arbeitslöhne.
Ausser den beiden grossen Bergarbeiterverbänden im mitt-
leren und nördlichen England (Miners Federation of Great
Britain und Miners National Union) besteht noch ein dritter
Verband im südlichen England, die South Wales Colliery
Workmens Federation. Dieser Verband setzt die Arbeits-
löhne nach der sogenannten sliding scale, (gleitende Skala)
fest, d. h. dieselben richten sich nach den Kohlenverkaufs-
preisen: steigen und fallen mit denselben. Es war nun
kürzlich der Antrag gestellt worden, die sliding scale auf-
zugeben und sich mit der Miners Federation of Great
Britain zu vereinigen. Vor einigen Tagen fand darüber
eine Abstimmung statt, wobei sich 35 119 Stimmen für Bei-
behaltung der sliding scale und 18 314 für die Vereinigung
mit der Miners Federation ergaben. Die sliding scale hatte
also eine Mehrheit von 1 6 805 Stimmen.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Sonntagsruhe iin sächsischen Eisenbahndienste. Im
Königreiche Sachsen sucht man eine eingeschränkte Sonn-
tagsruhe für das Eisenbahnpersonal zu ermöglichen. Es
soll der Güterverkehr und der Rangirverkelrr auf Güter-
geleisen an Sonntagen und 9 Festtagen im Jahre nach Mög-
lichkeit und zwar in der Zeit von 4 Uhr früh bis Abends
8 Uhr eingestellt werden. „Nach Möglichkeit,“ denn in
Rücksicht auf die Zuführungen aus Oesterreich und Bayern,
No. 37.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
459
wo die erweiterte Sonntagsruhe noch nicht eingeführt ist,
werden nach den Informationen der Münchener „Allgemeinen
Zeitung“ aut einzelnen sächsischen Bahnlinien mehr oder
weniger zahlreiche Güterzüge auch noch an Sonn- und
Festtagen in Verkehr bleiben müssen. Auch bezüglich der
Eilgüterzüge und Viehsonderzüge bleibt der Sonntagsver-
kehr unverändert ; aufStrecken, wo solche Züge nicht ver-
kehren, erfolgt die Beförderung von Vieh an Sonn- und
Festtagen zwar mit Personenzügen, jedoch nur gegen
Zahlung von 50 pCt. Frachtzuschlag.
Enquete über die kaufmännische Sonntagsruhe in
IJnter-Elsass. Ende 1891 veranstaltete die Handelskammer
von Strassburg i. Eis., deren Gebiet sich auf das ganze
Unter-Elsass erstreckt, eine Enquete, um ein Urtheil über
die Wünsche und Ansichten des Handelsstandes rücksicht-
lich der Sonntagsruhe zu gewinnen. Ueber 1700 Firmen-
inhaber erhielten einen Fragebogen zugesandt, der jedoch
nur von 511 (30 pCt.) beantwortet wurde. Die erste Frage:
„Sind Sie für vollständige Schliessung des Geschäftes an
allen Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen?“ wurde be-
jahend beantwortet von 32 (42,7 pCt.) Fabrik-, 26 (27,9 pCt.)
Engros-, 7 (87,5 pCt.) Bank- und 116 (36,4 pCt.) Detail-
geschätten. Verneinende Antworten gaben 43 Fabrik-,
67 Engros-, 1 Bank- und 203 Detailgeschäfte. Die zweite
Frage „Wenn nicht, sind Sie dafür, dass die gesetzlich zu-
lässige Arbeitszeit auf den Vormittag beschränkt wird, und
dass von Nachmittag I Uhr ab alle Geschäfte geschlossen
sein sollen?“ scheint nicht allgemein verstanden worden zu
sein, da nur 77 Antworten einliefen und zwar 26 (35,1 pCt.) be-
jahende und 51 verneinende. Dagegen wurde die dritte Frage
„Genügen Ihnen an Sonn- und Festtagen Vormittags zwei
Arbeitsstunden oder sind Sie für mehr? Auf welche Zeit
wünschen Sie dieselben eingetheilt?“ nur von 50 (17 pCt.)
Geschäftsinhabern bejaht und 245 haben sich für mehr als
zwei Stunden augesprochen und zwar 1 1 (3,7 pCt.) für den
Vormittag ohne Einschränkung, 30 (10,2 pCt.) für 3, 43
(14,6 pCt.) für 4, 20 (6,8 pCt.) für 5 Stunden (7 — 12), 85
(28,7 pCt.) verlangen bis I Uhr Nachmittags, 8 (2,7 pCt.)
den ganzen Nachmittag, 7 (2,4 pCt.) bis Abends spät und
41 (13,9 pCt.) vollständige Freiheit. Die vierte Frage „Sind
Sie dafür, dass in den letzten vier Wochen vor Weih-
nachten von der gesetzlichen Bestimmung, wonach in
dieser Zeit eine Vermehrung der Arbeitszeit bis zu 10 Stun-
den eintreten kann, Gebrauch gemacht wird?“ bejahten 6
(33,3 pCt.) Fabrik-, 7 (26,9 pCt.) Engros-, 40 (45,5 pCt.)
Detailgeschäfte und verneinten 12 Fabrik-, 29 Engros-,
I Bank-, 48 Detailgeschäfte, 34 sprachen abweichende be-
sondere Wünsche aus. Aus den eingelaufenen Antworten
schloss die Kammer, dass die Mehrzahl der Geschäftsinhaber
die durch das Gesetz zugelassene fünfstündige Arbeitszeit
in vollem Umfange beansprucht und zwar in einer Weise,
dass die meisten Geschäfte nach 1 Uhr Nachmittags ge-
schlossen sein sollten.
Der Gemeinderath der Stadt Strassburg beschloss
aber, unter Beschränkung der Arbeitszeit auf vier Stunden,
diese auf die Zeit von 9 Uhr Vormittags bis 1 Uhr Nach-
mittags festzusetzen.
Schutzvorschriften für kaufmännische Angestellte in der
Schweiz. Auf der Delegirtenversammlung der schweizerischen
kaufmännischen Vereine, die am 31. Juli und 1. August in Luzern
stattfand, berichtete im Namen der Kommission für Regelung
der Kündigungsfristen Redakteur Th. Bernet-Zürich. Alle
kaufmännischen Vereinigungen der Schweiz wurden um ihre
Meinung gefragt und es ergiebt sich aus deren Antworten,
dass bei Kündigungen oft schwere Missstände Vorkommen.
Die Bestimmungen des Obligationenrechtes genügen nicht; es
empfiehlt sich eine besondere gesetzliche Regelung dieser
Materie. Statt der im Obligationenrecht vorgesehenen Viertel-
jahrskündigung, die aber sehr oft nicht beobachtet wird, ver-
langt die Kommission für Angestellte im ersten Jahre ihrer
Dienstdauer in einem Geschäfte eine Kündigungsfrist von einem
Monat, für Angestellte mit längerer Dienstdauer eine solche von
drei Monaten. Durch freie Vereinbarung kann diese Frist be-
liebig verlängert oder verkürzt werden, doch darf sie nie weniger
als einen Monat betragen. Aushilfsstellen und Probeengagements
werden hiervon nicht betroffen. Die Kündigungsfristen müssen
für Arbeitgeber und Arbeitnehmer stets gleiche sein. Den An-
gestellten soll von der Kündigung an bis zu ihrem Austritt aus
dem Geschäfte die zum Suchen einer anderen Stelle nöthige
Tageszeit frei gegeben werden. Obligatorischer Militärdienst
giebt kein Recht zur Kündigung. Diese Bestimmungen würden
am besten in einem eidgenössischen Gesetz betr. das Handels-
gewerbe Aufnahme finden und die Kommission stellte daher
den weiteren Antrag, es seien auch über das Lehrlings wesen,
die Sonntagsarbeit, die Büreauzeit, die Arbeitslokali-
täten etc. Erhebungen anzustellen und zu untersuchen, inwie-
fern durch die Gesetzgebung bestehenden Uebelständen abge-
holfen werden könnte. Die bezüglichen Ergebnisse sollen nach
Behandlung durch die nächstjährige Delegirtenversammlung und
unter Einbeziehung der oben formulirten Anträge betr. die
Kündigung als Vorschlag für ein besonderes eidgenössisches
Gesetz den Bundesbehörden eingereicht werden. Nach kurzer
Diskussion und zustimmenden Voten der Delegirten von
St. Gallen und Basel wurden ihre Anträge gutgeheissen. Das
Centralkomitee, welches bezüglich der Lehrlingsprüfungen einen
Antrag einbringen wollte, vereinigte den seimgen mit dem vor-
stehenden ; dasselbe thaten die Züricher Delegirten. Ihr Sprecher,
R Schmid, führte aus, wie nothwendig und zeitgemäss es sei,
der Frage der Sonntagsarbeit im Handel näher zu treten und
wünscht, dass nicht nur an alle Mitglieder, sondern auch an
ausser dem Verbände stehende Firmeninhaber und Angestellte
Fragebogen versandt werden, um ein möglichst reichhaltiges
statistisches Material zu erhalten. Zur Vornahme aller dieser
Untersuchungen wird das Centralkomitee zwei Fünferkom-
missionen ernennen.
Fakultativer Achtstundentag in England. Ein be-
merkenswerther Antrag zur Regelung der Achtstundenfrage
soll der „Vossischen Ztg.“ zufolge, in der nächsten Tagung
des englischen Parlaments von Seiten der liberalen Partei
gestellt werden. Nach diesem Anträge sollen die Gewerk-
vereine ermächtigt sein, von Zeit zu Zeit darüber abzu-
stimmen, wie viele Stunden einen Arbeitstag bilden sollen.
Nachdem ein Gewerkverein seine Absicht, die Arbeitszeit
zu verkürzen, den Arbeitgebern mitgetheilt und eine ord-
nungsgemässe Sonderversammlung zur Berathung der Sache
abgehalten hat, soll die Mehrheit der Mitglieder bindend
beschliessen können, wie viele Arbeitsstunden im Interesse
des Einzelnen und des Gewerkes am zweckdienlichsten
sind. Dieser Beschluss soll auch die Arbeitgeber gesetzlich
binden. Sollte dieser Antrag Annahme finden, so würde
er sich als ein scheinbarer Compromiss zwischen den
Theorien der Freihandelsschule und der Staatsintervention
darstellen. Theoretisch würde diese Lösung die Regelung
der Arbeitszeit ausschliesslich in die Hände der Arbeiter
geben, praktisch dürfte aber der Nutzen einer derartigen
Regelung der Arbeitszeit, so bestechend sie auch auf dem
ersten Blicke erscheint, für die Arbeiter von geringerem
Nutzen sein, als die gesetzliche Einführung des Maximal-
arbeitstages, mit Uebernahme der Garantie der Durch-
führung, seitens des Staates.
Arbeiterversicherung.
Zur Frage der Doppel Versicherung. In München
wurde eine Ortskrankenkasse vom Amts- und Landes-
gerichte verurtheilt, einem auch bei einer freien Hilfskasse
versicherten Schneidergehilfen das Krankengeld zu be-
zahlen. Die Ortskrankenkasse hatte sich ihrer Zahlung
durch Einrede der Doppel Versicherung entschlagen wollen.
Nun liegt die Begründung des landgerichtlichen Entscheides
vor. Das Amtsgericht hatte erklärt, dass aus dem Kranken-
kassengesetz ein sicheres Urtheil nicht zu gewinnen sei,
dass man daher auf allgemeine civilrechtliche Normen
zurückgreifen müsse. Kein Richter würde eine freie Ver-
sicherungsanstalt für berechtigt erklären, auf Grund solcher
Ansprüche, wie sie seitens der Ortskrankenkasse geltend
gemacht worden, Zahlung zu verweigern. Warum staat-
liche V ersicherungen anders zu beurtheilen seien, sei nicht
einzusehen. Das landgerichtliche Erkenntniss führt im Ein-
zelnen aus, dass die Doppelversicherung vom Gesetz selbst
an mehreren Stellen recipirt und somit nicht verboten sei.
Es heisst dann weiter: „Der Klageanspruch des Arbeiters
gegen die Ortskrankenkasse war nach dem Grundsätze der
Vertragsfreiheit berechtigt. Es bedurfte nicht der Erwäh-
nung der Vertragsfreiheit im Gesetze, da diese gemein-
rechtlich besteht und die Versicherungsverpflichtung und
Versicherungsberechtigung, wie sie in das Gesetz Eingang
fanden, sich als Ausnahme von jenem Prinzip darstellen.
Der Kläger vermag sein Recht nicht unmittelbar aus dem
Reichs-Krankenversicherungsgesetze abzuleiten, wohl aber
aus einem Vertrage. Dass ein wirksamer Versicherungs-
vertrag vorliege, wird von der Ortskrankenkasse mit Un-
460
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 37.
recht bestritten. Die letztere hat ihr Einverständniss mit
dem Vertrag dadurch erklärt, dass sie die Beiträge bis
dahin, wo sie eine Gegenleistung machen sollte, eingehoben
hat, dass in dem Anmeldeformulare die Frage, ob schon
anderweitig versichert, seinerzeit von dem Arbeiter mit Nein
beantwortet wurde, kann mit Erfolg weder als Einwand
gegen das Vorhandensein des erforderlichen Vertrags-
wiilens, noch als arglistiges Verhalten des Klägers be-
zeichnet werden, zumal dem eigenen Kassenstatut die
Doppelversicherung nicht fremd ist.
Gewerbegerichte.
Die Gewerbegerichtswalilen in Berlin dürften erst im
November stattfinden. 420 Beisitzer, zu gleichen Theilen
Unternehmer und Arbeiter sind zu wählen. Die Wahl
dürfte sich zu einer bemerkenswerthen Kraftprobe der
sozialistischen und nichtsozialistischen Arbeiter gestalten.
Der geschäftsführende Ausschuss der Berliner Strike-Kon-
troll- Kommission hat die Agitation schon in die Hand ge-
nommen und die Beisitzer auf die verschiedenen Gewerbe-
gruppen vertheilt. Mit der Aufstellung von Kandidaten ist
zum Theil schon vorgegangen worden. Eine gesonderte
Liste wollen die vereinigten Ausschüsse der Berliner Orts-
vereine der Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereine aufstellen.
Sie richteten am 4. September einen Aufruf an sämmtliche
nichtsozialistischen Arbeiter Berlins ihre Agitation zu unter-
stützen. Nach Lage der Dinge dürften wohl fast aus-
nahmslos die Kandidaten der Berliner Strike-Kontroll-Ivom-
mission durchdringen, dagegen dürften die Kandidaten der
Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereine die grössten Minori-
täten aufweisen und somit wohl mit ihnen die meisten
Stellen der Ersatzmänner besetzt werden.
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung
Massregeln zur Erzielung gesunderen Wohnens in
Glasgow. Aus dem vor Kurzem erschienenen Verwaltungs-
bericht des Magistrats der Stadt Glasgow für 1890/91 ist zu
entnehmen, dass die dortigen städtischen Behörden schon
im Jahre 1865 zur Sanirung der dortigen Wohnungsverhält-
nisse den Ankauf aller dichtbewohnten und demgemäss auch
zu unverhältnissmässig hohen Preisen vermietheten Häuser
durch die Stadt vorschlugen. Dieser Entwurf wurde zum
Gesetze erhoben und den Behörden das Recht eingeräumt,
15Jahre lang einen besonderen Zuschlag zur Kommunal-
steuer zu erheben, der ausschliesslich zu dem angegebenen
Zwecke verwendet werden und von den Miethen erhoben
werden sollte (Stadtverbesserungsfonds). Wie vorauszu-
sehen, stiess dass Gesetz bei der oberflächlich urtheilenden
Menge auf grossen Widerstand und bei der gleich darauf
stattfindenden Wahl erlag der Urheber des Antrages, ein
Magistratsmitglied, das zur Wiederwahl aufgestellt war und
dem der Magistrat auch die Ausführung des Projektes zu-
Sedacht hatte, in Folge der lebhaften gegen ihn geführten
gitation. Schon nach 1866 verbreitete sich jedoch die
gesunde Idee so, dass seitdem noch viel mehr Strassen,
Plätze, Kanalisationen ausgeführt wurden als 1865 projektirt
waren und statt der damals in Aussicht genommenen
10 Millionen sind ca. 14 Millionen Mark ausgegeben worden
und dadurch die Zahl und die Zahlungsfähigkeit der Zu-
schlagssteuerpflichtigen bedeutend gewachsen. Inzwischen
wurde der Zuschlag auf den sechsten Theil seiner ursprüng-
lichen Höhe herabgesetzt und wird wohl in dieser Höhe
genügen, um das Unternehmen vollständig seinem Ziele zu-
zuführen. Nur ältere Einwohner, die mit dem früheren
Aussehen der Altstadt vertraut sind, können sich eine Vor-
stellung von den riesigen Verbesserungen machen, welche
das Unternehmen nach verschiedener Richtung hin gezeitigt
hat. Sogar da, wo es anscheinend einen Misserfolg erzielte
hat es gesundheitlich segensreich gewirkt; z. B. war es an
manchen Orten unmöglich, den Grundplatz nach Abreissung
der alten Gebäulichkeiten zu veräussern, aber der Gesund-
heitszustand der umliegenden Bewohner hob sich durch
den freien Platz. In den 2 letzten Jahren war keine grosse
Nachfrage nach Bauplätzen, weil die Bauspekulation das
gesunde Mass überschritten hatte und die rückgängige
Konjunktur in Handel und Gewerbe den Zuzug der Be-
völkerung verlangsamte. Die ausführende Behörde stiess
desshalb in jüngster Zeit auch auf einen gewissen Wider-
stand und doch hat noch nie ein von einer Gemeinde ins
Werk gesetztes Unternehmen ein lebhafteres Interesse er-
weckt, und erweckt es noch fortwährend. Bis jetzt be-
liefen sich die Ausgaben für den Ankauf der verschiedenen
Grundstücke und Baulichkeiten auf rund 19 Millionen Mark,
noch unverkauft sind 10 Millionen Mark. Aus dem Steuer-
zuschlage gingen ein 11 Millionen Mark, noch zu bezahlen
sind ca. 3l/2 Millionen, so dass also die Gesammtkosten sich
auf ca. 1 4'/ä Millionen Mark belaufen. Dafür erhielten die
Einwohner der Stadt Glasgow 1. einen schönen Park, 2. 29
neue und 25 verbreiterte Strassen mit ca. 300 000 Quadrat-
fuss mehr Strassenoberfläche als ursprünglich projektirt
war, 3. die gesundheitlichen und sozialen Vortheile die aus
den Strassen, Kanälen und derartigen anderen Verbesse-
rungen hervorgehen und 4. hauptsächlich die 7 grossen Logir-
häuser, wovon 6 für Männer- und 1 für Frauen möblirt und
eingerichtet mit zusammen 2099 Betten, für welche ebenfalls
ca. 2 Millionen Mark aufgewendet wurden. Letztere erzielten
im Jahre 1890/91 eine Einnahme von ca. 225 000 M., und
beanspruchen einen Aufwand von ca. 143 000 M. Der
Ueberschuss von ca. 82 000 M. ergab eine fast 4'/2prozen-
tige Verzinsung des aufgewendeten Kapitals, abgesehen
von dem segensreichen Wirken dieser Einrichtung. — So-
weit der Magistratsbericht. Deutsche Städteverwaltungen
konnten sich an dem entschiedenen Vorgehen der englischen
Gemeinde ein Beispiel nehmen.
Soziale Hygiene.
Erkrankungen und Berufsverhältnisse in Prag.
In Prag und seinen Vororten (zus. ca. 300 000 Einw.)
bestanden 1890 5 Bezirks-, 30 genossenschaftliche und 21 Be-
triebskrankenkassen mit zusammen 50 519 Mitgliedern, von
welchen im Laufe des Jahres 23 187 erkrankt waren. Die
Zahl der Krankentage belief sich auf 364 507, diejenige der
Sterbefälle auf 533. Entbindungen wurden 781 und zwar
mit 21 702 Krankheitstagen verzeichnet. Das Statistische
Biireau der Stadt Prag theilt in seinem neuesten Jahrbuch
(für 1890) die Erkrankten nach 20 Krankheitsklassen und
119 Berufsgruppen mit, aus welchen jene Berufsgruppen
herausgehoben werden sollen, bei denen im Jahre 1890
mindestens 100 Erkrankungen stattfanden. Dabei ist von
den 52 Fällen von Neubildungen, von 124 unbestimmten
Diagnosen, 45 Vergiftungen und 6 Selbstmorden abgesehen,
um die Tabelle zu vereinfachen. Die Vergiftungen fanden
in grösserer Anzahl nur bei den Buchdruckern und
Schriftsetzern (36) und sonst nur zu je 1 oder 2 Fällen statt.
(Siehe die Tabelle auf Seite 461.)
Das städtische statistische Büreau hatte es ursprüng-
lich versucht, alle einzelnen Krankheiten im Zusammenhang
mit den Berufsklassen zu verzeichnen, in der Hoffnung,
der medizinischen Statistik damit ein brauchbares Material
darbieten zu können. Doch stellte sich diese im Büreau
allen Interessenten im Manuskripte zugängliche Arbeit als so
umfassend heraus, dass nicht nur die Wiedergabe im Druck
unmöglich wurde, sondern dass auch die Einzelangaben
zu kleine Ziffern aufwiesen, als dass Schlüsse in medizinisch-
statistischer Richtung möglich gewesen wären. Aber auch
die Beschränkung aut die Krankheitsgruppen, welche in der
obigen Tabelle auszugsweise mitgetheilt wurde, bietet
charakteristische Streiflichter. Bei den Zieglern, Stein-
metzen, Taglöhnern, Zündhütchen- und Patronenarbeitern
und Maurern ist die Zahl der Erkrankungen grösser als
jene der Kassenmitglieder, und bei den Fassbindern, Färbern,
Töpfern, Gerbern, Galanteriearbeitern, Frächtern, Giessern,
Bäckern, Textilarbeitern, Fabrikarbeitern, Tischlern und
Schlossern steht die Erkrankungsziffer über dem allge-
meinen Durchschnitte, der fast 50 pCt. der Zahl der Kassen-
mitglieder beträgt. Warum die Zahl der Entbindungen, ab-
gesehen von den Taglöhnerinnen und Fabrikarbeiterinnen,
gerade bei den Gruppen Ziegelei- und Hutmachergewerbe
so hoch steht, ist nicht zu ersehen, während die nämlich
Xu. 37.
SOZIALPOLITISCHES CKNTRALJILATT.
461
Gesammtzahl der !
Kassenmitglieder .
Gesammtzahl der j
Erkrankten
Entwickelungs-j
krankheiten ]
Infektions-
krankheiten
N
£ V
u 1-
£ D
q= ^
Venerische und
syphilitische
Krankheiten
5
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£
Nerven-
krankheiten /N
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5
53
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Krankheiten der
Gehörorgane
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Haut-
krankheiten
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SP
1»
*5
Färber
242
131
i
23
9
18
7
2
22
i
19
2
14
3
10
Fassbinder
340
222
—
29
21
i
26
3
4
2
35
i
46
4
19
4
27
Ziegler
989
977
13
117
97
3
95
26
11
5
126
ii
124
13
100
46
88
90
Zuckerfabrikarbeiter
355
118
33
20
—
17
1
4
1
4
11
16
3
5
2
Pfeifenmacher
280
146
1
49
14
—
13
2
4
32
i
6
8
6
10
Gast- und Schankwirthe ....
1574
373
6
20
54
46
37
13
9
2
58
58
8
32
8
14
5
Töpfer
253
150
—
39
11
1
17
3
6
1
20
2
27
2
8
4
9
Gerber
1 131
591
1
33
66
7
48
21
7
5
105
6
1 19
8
80
22
63
Steinmetze
390
342
—
47
51
2
14
6
26
47
—
51
3
26'
8
58
Spengler
293
100
—
22
12
2
6
—
5
13
1
13
1
7
5
13
| uwelire
977
519
—
176
69
6
36
6
12
1
44
5
97
4
12
4
29
Buchbinder und Galanteriearbeiter
1025
395
4
47
44
6
47
28
7
60
9
50
6
32
9
17
17
Hutmacher
1353
679
17
179
85
10
47
1 1
7
4
40
9
66
27
11
16
28
109
Buchdrucker und Schriftsetzer . .
1433
592
6
106
51
9
44
22
7
4
88
12
110
10
27
13
31
8
Kutscher, Frächter
961
484
3
68
42
1 1
43
1 1
4
4
66
11
50
11
39
8
106
Schmiede
423
177
—
19
17
4
14
9
5
1
23
2
21
2
26
2
30
Eisen-, Gelb- und Schriftgiesser .
488
351
1
68
15
2
47
18
8
2
47
1
58
1
26
4
49
.
Schneider
2100
608
22
112
137
17
2
—
2
2
9
1
42
12
39
5
15
2
Müller.
622
281
—
44
48
6
13
6
i
—
81
1
23
6
14
8
30
I aglöhner
2143
2238
29
147
190
12
273
90
41
7
398
26
340
31
186
36
304
118
Handlungspersonale
6592
2038
7
235
213
166
242
80
36
ii
241
19
341
67
106
38
216
14
Schuhmacher . .
1378
333
10
54
48
3
10
5
9
—
45
4
40
1
61
15
26
Bäcker
11 17
649
2
71
130
13
44
8
7
10
123
1 1
86
5
60
16
52
Fleischer
606
144
2
1
18
7
12
1
—
—
18
1
20
1
18
4
39
—
Brauer
712
373
1
50
27
3
57
11
6
2
45
2
38
13
37
7
66
Dienstpersonale
1463
408
3
53
62
4
49
3
6
1
59
4
51
10
28
14
59
—
Drechsler
229
108
—
17
9
2
6
5
2
—
28
—
9
1
10
1
17
Maschinisten, Heizer etc
520
181
—
23
17
i
18
7
3
1
25
2
21
1
17
3
42
Näherinnen
958
143
6
6
15
24
5
4
—
19
3
22
4
5
—
6
23
Zimmerleute
594
202
5
17
22
- —
25
10
3
2
30
—
20
4
3
12
48
Textilarbeiter
670
435
9
129
32
—
45
12
7
4
48
3
79
4
21
8
30
Kattundrucker
751
300
4
37
33
i
25
8
3
3
38
13
77
2
15
30
1 1
Fabrikarbeiter
4572
2581
43
406
268
7
232
74
44
6
361
24
383
38
175
40
242
232
Tischler
1780
1028
1
67
252
22
55
23
17
5
140
24
131
14
137
47
84
Beamte
670
115
2
27
19
4
3
6
1
1
13
3
18
8
3
1
5
Zündhütchen- u. Patronenerzeuger
368
328
6
59
4
—
30
14
15
1
66
4
54
3
30
13
21
8
Wäscheerzeuger
685
193
5
18
17
1
26
9
—
13
2
19
1
14
2
5
60
Schlosser
1090
636
2
71
66
6
67
21
31
2
121
9
79
4
32
8
1 13
Maurer und Polire
1707 !
2004
2
124
174
31
269
64
63
7
323
32
311
28
193
46
303
16
hohe Ziffer (lOpCt. der Kassenmitglieder) bei der Wäsche-
erzeugung sich im Zusammenhang mit der fast ausschliess-
lichen Verwendung weiblichen Hilfspersonales befindet. Eben
so deutlich tritt das verschiedene Verhalten der einzelnen
Berufsgruppen, namentlich zu den Krankheiten der Ver-
dauungs- und der Athmungsorgane und dann zu den Haut-
krankheiten sowie zu den Verletzungen hervor.
Arbeiterkrankenkassen im Dienste der sozialen Hygiene.
Die Wiener Allgemeine Arbeiterkrankenkasse hat von der Be-
zirkshauptmannschaft in Baden folgende Zuschrift erhalten:
,,Aus Anlass der drohenden C-holeragefahr wird die ge-
ehrte Krankenkasse eingeladen, dem Gesundheitszustände ihrer
Mitglieder erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen und die Kassen-
ärzte und die Krankenkontroleure anzuweisen, sanitäre Uebel-
stände in Arbeiterwohnungen, insbesondere Ueberfüllungen von
Wohnungen zur Abstellung unmittelbar anher zur Anzeige zu
bringen.
Ich erwarte eifrige Mitarbeit der Krankenkassen in Hin-
sicht auf die Assanirung des Bezirkes, die ja wesentlich auch
im Interesse der Krankenkassen gelegen ist.“
Lebensinittelkontrolle in Wien. Aus Anlass der drohen-
den Cholera wird in Wien mit Eifer die Lebensmittelkontrolle
gehandhabt. Ganz unglaubliche Missstände wurden bei dieser
Gelegenheit aufgedeckt. So entnehmen wir der „Neuen freien
Presse“ vom 31. August die folgenden Daten: Die von Seite
des magistratischen ^Bezirksamtes Meidling seit vier Wochen
unternommenen sanitäts - polizeilichen Revisionen haben in
manchen Häusern grosse Uebelstände zu Tage gebracht. Zwei
bemerkenswerthe Fälle verdienen verzeichnet zu werden. Bei
einem Bäckermeister kam Montag Abends halb 1 1 LIhr gerade
die Kommission in dem Momente in die Backstube, als die Ge-
hilfen den Teig zum Gebäck herrichten wollten. Das Mehl lag
schon in den Trögen und ein Lehrjunge brachte ein Gefäss mit
Wasser, um dasselbe in das Mehl zu schütten. Das Wasser war
schmutzig und dunkel gefärbt und stammte aus dem Haus-
brunnen. Der erste Gehilfe bemerkte, dass sich noch Niemand
über das Gebäck ungünstig geäussert habe, obwohl sie das
Wasser immer aus demselben Brunnen nähmen. Der Brunnen
wurde sofort vernagelt. — Auch bei einem zweiten Bäcker-
meister wurde konstatirt, dass dieser das Wasser zum Teige aus
seinem Hausbrunnen verwende, welches eine schmutzig-graue
Farbe hat. Der Bäcker gab dies zu. Auch dieser Brunnen
wurde gesperrt. Bemerkenswerth ist, dass vor den Häusern
beider Bäckermeister sich Auslauf brunnen der Hochquellen-
leitung befinden, aus welchen sie sich reichlich mit Wasser zum
Betriebe ihres Gewerbes versehen könnten. — Im IX. Gemeinde-
bezirke (Alsergrund) wurden bei den Hausirern Griinwaaren und
Obst konfiszirt, deren Genuss die Gesundheit in ärgster Weise
gefährdet hätte. Die Waaren waren nicht blos in den Wohn-
zimmern und auf den Böden in sanitätswidriger Weise aufbe-
wahrt, auch in den Betten, selbst bedeckt mit schmutziger
Wäsche und alten Fetzen, wurden Lebensmittel vorgefunden.
Konfiszirt wurden Quantitäten im Gewichte von circa~ 200 Kilo-
gramm. In Zimmern, welche acht bis zwölf und auch mehr Per-
sonen zu Schlafstätten dienten, lagen unter den Betten in total
verfaultem Zustande Grün waaren, welche die Verkaufsartikel
für den folgenden Tag bilden sollten. Diese von den Hausirern
zum Verkaufe gebrachten Griinwaaren finden, besonders bei der
ärmeren und arbeitenden Klasse, grossen Absatz. Die Be-
schwerden wegen Verfälschung der Lebensmittel und die An-
zeigen über die im Verkaufe befindlichen verdorbenen Waaren
werden immer häufiger. Das Marktkommissariat im IX. Bezirke
hat diese genannten sanitären LTebelstände bei den Hausirern
sofort abgestellt, und die Händler wurden aus ihren gesund-
heitsschädlichen Wohnräumen delogirt. Auch die Untersuchun-
gen der von den Landbewohnern nach Wien geführten Milch
werden von den Marktkommissären eifrigst fortgesetzt. Es sind
geradezu riesige Quantitäten Milch, welche sowohl mit Wasser
als mit anderen Substanzen gefälscht waren, konfiszirt worden.
Ebenso ist es den Marktkommissären gelungen, auch auf dem
Franz-Josephbahnhofe Milchfälscher zu ergreifen und der Be-
strafung zuzuführen. Aus Dippelsdorf, Zogelsdorf und Rein-
prechtspölla eingelangte Milch wurde konfiszirt und vertilgt,
Milchhändler aus Alland, Pressbaum, Deutsch-Wagram, Spillern,
Lang-Enzersdorf, Bisamberg, Breitenlee, Dornbach und Gersthof
wurden des Fälschens der Milch mit gefährlichen Substanzen
überwiesen. Auch bei den Geschäftsleuten im IX. Bezirke werden
fast täglich grosse Quantitäten von Obst, Würsten, Grünwaaren,
Schwämmen u. dgl. vertilgt.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
ANZEIGEN.
„EXPORT“
Organ des Centralvereins für Handelsgeographie
und Förderung Deutscher Interessen im Auslande.
XIV. Jahrgang.
Heraus gegeben
Demnächst wird erscheinen:
Antiquarisches Bücher-Verzeichniss 72:
Staats- u. Gesellschaftswissenschaft,
Volkswirthschaft, Finanzwesen etc.
Etwa 1300 Nummern.
Oscar Schack in Leipzig, Königsstr. 15.
von
R. Jannasch,
Dr. jur. et phil.
Redaktion und Expedition: Berlin W., Magdeburgerstrasse 36.
Die seit 1879 erscheinende Wochenschrift „Export“ ist bestrebt, die Interessen
des deutschen Exports thatkräftig zu vertreten, sowie dem deutschen Handel und der
deutschen Industrie wichtige Mittheilungen über die Handelsverhältnisse des Aus-
landes in kürzester Frist zu übermitteln.
Inserate im „Export“ sind erfolgreich, wie das andauernde, langjährige Annonciren
erster Firmen beweist.
Aboimementspreis im deutschen Postgebiet vierteljährlich M. 3, im Weltpost-
verein M. 3,75, im Vereinsausland M. 4.50.
Man ahonnirt bei der Post, im Buchhandel bei Walther & Apolant's Verla°-s-
buchhandlung Hermann Walther, Berlin W., Keithstr. 16/17 und bei der Expedition
Verlag der Mauz sehen k. und k. Hof-Verlags- und Universitäts-Buchhandlung in ‘Wien.
(StnoirtiilduftUöitr Ptpeii'er.
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für ein fojial = refurntot. (Sen offen) diaftc-luefcn.
z Eignet sich vorzüglich zum Inseriren.z
weil er nicf)t mir nieten öefdjäftsleitten, fonbeut
and) Ijolfett Seomten ©utäbefihmt u. f. in. jgt
©efidjt fouunt.
S'rfdjeiitt am 1. unb 15. jebeu Ikouat? unb foftet
per 3c'le 30 '-ßf., SIDouncmeut 4 SOIf. balbjalnlid).
= Bei Wiederholung höchster Rabatt. ~ Probe-Nummern gratis,“
'Berlin SW., .St ö itt fl g vd t$c r fi t nt f; e 70.
Die
• •
OsterreichischeHandelspolitik
im neunzehnten Jahrhunderte.
Von
IDr. _Z^_d_olf Beer,
k. k. Ministerialrat]! und Reichstags -Abgeordneter.
Gr. 8. 39V2 Bogen. Preis broschirt 12 Mark.
5- ©uttentag, >Berlags>bud)t)anölmifl in Jöerliti.
turnt 15. Hunt 1883,
itt berg-offungberSRowdleuom 10.3(yiil 181)2
ttttb bie baffclbc ergäiijcitöcn
v e i cl) § r c d) 1 1 i d) e tt 33 e ft t itt nt tt tt g ett .
Zum ersten. Male wird in diesem Werke eine Darstellung der leitenden Gesichts-
punkte österreichischer Handels- und Zollpolitik, ausschliesslich auf handschriltlichen
Quellen fussend, gegeben. Besonders ausführlich werden die Bestrebungen Oester-
reichs zur Bildung einer Zolleinigung mit dem deutschen Zollvereine geschildert. Das
Werk liefert auch für die Würdigung der österreichischen Politik in den letzten Jahr-
zelmten manchen Beitrag und dürfte auch in weiteren Kreisen lebhaftes Interesse er-
wecken.
Hermann Walther.
Walther & Apolants Verlagsbuchhandlung, Berlin W., Kleiststr. 16/17.
■3Kit (Einleitung unb (Erläuterungen
holt
(ß. tum lUtmiitkE,
Staifcrl. Del). ©bcvSiegicrungsvatb, Dovtrag. Diatt) ini Üteidjc. -
amt bes gitnevn.
'Bierte gitttaltd) umgearbeitete 'Kitflage.
gr. 8". Lieferung I.
Deutsche Litteraturzeitung
Begründet von Professor Dr. Max Roediger.
Herausgegeben
von
preis o Mark 50 pf.
Die Slbftifipme her erften Ülbtljeüiing ücrhflicfjtet uiv
dlmapme be* galten SBcvfeS.
eJitn Dlaarltlima t Die .1 )u c i t e Sieiernng wirb
O UUt)rUltl( . [,en J,e§ ^uct)ä ciuicbl.
äSovttovt, Sijlaltsangabe nnb £ad)vegtfter mnfaffeit unb vor
nii3fid)tli$ im Vaufe bei Wevbfte« ütcfeö Safjrci cvidjeiiicn.
Dr. Paul Hinneberg.
XIII. Jahrgang. Preis vierteljährlich 7 Mark. Erscheint jeden Sonnabend.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Deutsche Litteraturzeitung erblickt ihren eigenthümlichen Beruf darin,
vom Standpunkt der deutschen Wissenschaft aus eine kritische Uebersicht über
das gesammte 1 itterarische Leben der Gegenwart zu bieten Sie sucht im
Unterschied von den Fachzeitschriften allen denen entgegenzukommen, welchen es
Bedürfniss ist, nicht nur mit den Fortschritten ihres Faches, sondern auch mit der
Entwickelung der übrigen Wissenschaften und mit den hervorragenden Leistungen
der schönen Litteratur vertraut zu bleiben.
In ihren Mittheilungen bringt die Deutsche Litteraturzeitung eine Uebersicht
über den Inhalt in- und ausländischer Zeitschriften, wie sie in dieser Reich-
haltigkeit sonst nirgends geboten wird, ferner ständige Berichte über die Thätigkeit
gelehrter Gesellschaften, Nachrichten über wissenschaftliche Entdeckungen und litte-
rarische Unternehmungen, Personalnotizen und Vorlesungsverzeichnisse.
Durch die Unterzeichnung aller Besprechungen mit dem vollen Namen des
Referenten bietet die Deutsche Litteraturzeitung die Gewähr einer gediegenen
und würdigen Kritik. ,
.iltaiifenuctiiriicniiipf'gcftl;
Dom 15. Suiii 1883,
tu öci Raffung öerDlotiflle Dom 10. 'llptil 181*2
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<E. tum lOnEÖfkc,
fiiiiierl. (Del). Obev=91egievuitgbvatf), uortrag. :ifatl) im :Rcü1k-
amt beä Sintern.
Blcitc qqrüicl) ningcartwitetc tHuRiigc.
2 of d) ett forma t carto 11 nirt.
3 9)lf.
Hugo Frank cl,
A ntiquariat fürRechts-u. Staatswissenschaft,
Berlin N. 24, Elsasserstr. 36,
empfiehlt sich zur Beschaffung aller in sein
Specialfach einschlagender Literatur.
Verantwortlich für den Anzeigentheil : O. Schuchardt in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 19. September 1892.
Nummer 38.
SOZIALPOLITISCHES
C E NTR A LB LA T T
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure und Postämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 2 Mark 50 Pf.
Einzelnummer 20 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Die Zukunft der Rechtsstrafe.
Von Prof. Dr. Franz v. Liszt.
Cholera und Sozialpolitik. Von
Dr. Victor Adler.
Soziale Wirtlischaftspolitik u.
Wirthscliaftsstatistik:
Die Bestrebungen und Aussichten
der deutschen Bodenreformer.
Von Dr. Bruno Borchardt.
Verlegung des Lohntages in Rhein-
land-Westphalen.
Soziale Wanderungen in Deutsch-
land.
Arbeiterzustände :
Die Reichsenquete über die Arbeits-
verhältnisse im Ladengeschäft.
Von Dr. Max Quarck.
Achtstündige Arbeitszeit.
Arbeitszeit der österreichischen
Slidbahnarbeiter.
Die Ausgabenrechnung eines Leip-
ziger Zimmermanns im fahre
1891.
Gewerkschaftliche Arbeiter-
bewegung:
Die Stellung der deutschen Ge-
werkschaften zu den Beschlüssen
des Halberstädter Kongresses.
Von C. Legien, Vorsitzendem
der Generalkommission der Ge-
werkschaften.
Der englische Gewerkvereinskon-
gress 1892. Von Prof. Dr. Lujo
Brentano.
Deutscher Buchdruckertarif.
Arbeiterschntzgesetzgebung :
Schutzvorschriften für Arbeiter an
Eisensteinröhren.
Dienstbotengesetz in Rumänien.
Arbeiterversicherung :
Der Grundfehler des Verfahrens
zur Feststellung von Unfallent-
schädigungen. Von Dr. Ernst
Lange.
Krankenversicherung der Dienst-
boten in Deutschland.
Vertheilung der Krankenkassen-
arten im Deutschen Reich.
Wohnungszustände und AVoli-
nungsgesetzgebung :
Bau von Arbeiterwohnungen aus
Mitteln der deutschen Invali-
ditäts- und Altersversicherung.
Massregeln zur Erzielung gesunden
Wohnens in Mühlhausen i. E.
Gewerbegerichte :
Errichtung von Gewerbegerichten
durch Ortsstatut.
Soziale Hygiene:
Krankenkassen und soziale Hygiene.
Abdrück sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Die Zukunft der Rechtsstrafe.
Ihr lasst den Armen schuldig werden,
dann überlasst Ihr ihn der Pein.
Wenn es wahr ist, dass jedes Verbrechen bedingt
wird durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, dass es die
nothwendige Folge gegebener Zustände ist — wäre es
dann nicht hoch an der Zeit, dass die strafende Gerechtig-
keit das Schwert aus der Hand legt, die Binde von den
Augen nimmt und herabsteigt von den Stufen ihres Ehren-
sitzes, um den vor ihr im Staube Hegenden Verbrecher
aufzurichten und ihm abzubitten, was in ihrem Namen an
seinen Brüdern gesündigt worden? Hoch an der Zeit, dass
die allein schuldige Gesellschaft aufhört, über dem Un-
schuldigen zu Gericht zu sitzen und die mit Rost und Blut
beschmutzten Waffen zu missbrauchen, die sie zugleich
mit dem Irrwahn individueller Verschuldung von den Vor-
fahren übernommen hat?
Das ist keine Doktorfrage, aufgeworfen am grünen
Tisch, damit an ihrer Lösung der Scharfsinn des Lehrlings
bescheiden sich erprobe und die überlegene Weisheit des
Lehrers sich bewähre. Wer die grosse sozialpolitische
Strömung unseres sinkenden Jahrhunderts verfolgt, der
weiss, dass sie an den Grundmauern des stolzen, Jahr-
hunderte alten Baues der Strafgesetzgebung spült und
nagt. Und wer nicht will, dass der Bau über Nacht zu-
sammenbricht und in seinem Sturze die tiefsten Tiefen
unseres Volkslebens aufwühlt, der muss sich darüber klar
werden, ob er ihn stützen oder langsam abtragen will.
„Die Zukunft der Strafe“ — hat die staatliche Strafe
eine Zukunft? Die Frage gehört zu den wichtigsten und
schwierigsten, die der Sozialpolitiker sich stellen kann.
Ich will im Folgenden versuchen, meine Antwort aul
die Frage zu geben. Selbstverständlich muss ich mich hier
auf allgemeine Andeutungen beschränken. Auf Einzelnes
mag bei späterer Gelegenheit zurückgekommen werden.
Ich bin für meine Person fest davon überzeugt, dass
durch eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse,
insbesondere durch Milderung des Massenelends, durch
R e klassirung der D e klassirten die Zahl der begangenen
Verbrechen sehr wesentlich vermindert werden kann. Jeder
sozialpolitische Fortschritt bedeutet eine Verminderung der
Thätigkeit unserer Strafgerichte, bedeutet für die strafende
Gerechtigkeit eine Schmälerung ihres Herrschaftsgebietes.
Dazu tritt ein weiterer Umstand. Die heute in allen
Ländern herrschende Gesetzgebung zieht eine scharfe
Grenze zwischen der Verhütung des Verbrechens und
seiner Bestrafung, zwischen Prävention und Repression.
Aber diese vom logischen Standpunkte aus völlig berech-
tigte Grenzscheidung versagt den Dienst, sobald die Be-
dürfnisse des praktischen Lebens sich geltend machen.
Der erfahrene Arzt wird nicht nur die Krankheit zu heilen,
sondern auch ihre Wiederkehr zu verhüten suchen. Das
Eine schliesst das Andere nicht aus. Auch das geltende
Recht hat dieser Erkenntniss Rechnung tragen müssen.
Wenn wir den mit drei Tagen Haft bestraften Land-
streicher nach seiner Entlassung auf zwei Jahre in’s
Arbeitshaus stecken, so knüpfen wir, nach dem Sprach-
gebrauche und nach der Auffassung der herrschenden
Lehre, an die Repression eine diese an Ausdehnung und
Wirksamkeit weit überragende Massregel der Prävention.
Es liegt auf der Hand, dass auf dieser im geltenden Rechte
bereits gegebenen Grundlage kräftig weiter gebaut werden
kann; zugleich aber auch, dass, je weiter dieser Bau fort-
schreitet, die Strafe im heutigen Sinne des Wortes an Be-
deutung verliert.
464
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
Und jene Grenzlinie selbst verschiebt sich. Eine weit
verbreitete Bewegung, deren Sieg in allernächster Zeit mit
voller Sicherheit zu erwarten ist, fordert der verbreche-
rischen Jugend gegenüber den Ersatz des Gefängnisses
durch die Zwangserziehung. Es ist hier nicht der Ort,
diese Forderung zu entwickeln und zu begründen; ich
will nur darauf hinweisen, dass auch hier der strafenden
Gerechtigkeit eine weitere, in ihren Folgen noch kaum zu
überblickende Einbusse droht.
Aber trotz dieser Schmälerung ihres Herrschafts-
gebietes bleibt das, was wir heute Strafe nennen, bestehen.
Keine, auch nicht die höchste Entwickelung der Hygiene
wird Tod und Krankheit bannen. Trotz aller Sozialpolitik,
trotz aller Vorbeugungsmassregeln wird es antisoziale
Gesinnungen und Handlungen geben, so lange es eine
Gesellschaft giebt. Die Kriminalität als Erscheinung des
gesellschaftlichen Lebens kann eingeschränkt, und zwar
nach meiner Ueberzeugung — ich wiederhole es — sehr
wesentlich eingeschränkt werden; niemals wird es uns
gelingen, sie völlig zu beseitigen. Das Verbrechen ist
ewig, wie I od und Krankheit; kann ja doch, um nur dies
Eine hier zu erwähnen, die Krankheit selbst Ursache von
Verbrechen werden, die von dem Erkrankten oder seinen,
in Folge der Krankheit des Erzeugers entarteten Nach-
kommen begangen werden.
Dem Verbrechen gegenüber aber kann die Rechts-
ordnung nicht unthätig bleiben. Sie muss sich schützen.
Diese Schutzmassregeln, die an das begangene Verbrechen
anknüpfen, pflegen wir, unter gewissen Voraussetzungen,
Strafe zu nennen. Hinrichtung, Freiheitsentziehung, Ein-
busse an Geld und Ehre, wenn gegen den Verbrecher
wegen des Verbrechens verhängt, sind Strafe nach dem
herrschenden Sprachgebrauch. Die Richtigkeit dieses
Sprachgebrauchs ist völlig gleichgiltig; der Name thut
nichts zur Sache. Aber die Berechtigung und die Zweck-
mässigkeit der gegen den Verbrecher heute verhängten
Massregeln ist bestritten und bedarf der Untersuchung.
Dabei kann es nicht vermieden werden, auf den Begriff
des Verbrechens näher einzugehen. Ist der Begriff des
Verbrechens untrennbar verknüpft mit der Annahme einer,
aut die Freiheit des Wollens gegründeten individuellen
Verschuldung, so fällt mit dieser Annahme das Verbrechen
und mit ihm die Strafe. Ich leugne jene Verknüpfung; ich
behaupte die Berechtigung dessen, was wir heute Strafe
nennen; aber ich fordere eine zweckentsprechendere Ge-
staltung unserer repressiven Schutzmassregeln gegen das
Verbrechen. Ich will die strafende Gerechtigkeit nicht von
ihrem Sitze stossen; auch das Schwert mag sie in der Hand
behalten, selbst die Waage, wenn es darauf ankommen
sollte. Aber die Binde soll sie von den Augen nehmen;
den Unglücklichen soll sie sehen, über den sie richtet;
ernst, unerbittlich, aber ohne pharisäerhaften Tugendstolz,
soll sie das Leid über ihn verhängen, das ihr unerlässlich
erscheint im Interesse der Gesammtheit.
Diese Behauptungen bedürfen des Beweises. Ich hoffe,
ihn in einer der nächsten Nummern dieser Zeitschrift an-
treten zu dürfen. Für heute kam es mir nur darauf an,
den Sozialpolitiker auf die Bedeutung des Problems hin-
zuweisen. Er darf an den Hunderttausenden, die wir in
unseren Gefängnissen verwahren, nicht vorübergehen, ohne
die Frage aufzuwerfen und zu beantworten: Mit welchem
Rechte überlässt die Gesellschaft den Armen der Pein,
nachdem sie selbst ihn schuldig werden Hess?
Halle a S. Franz v. Liszt.
No. 38.
Cholera und Sozialpolitik.
„In der Cholera ist — vielleicht das einzige Mal in
der Weltgeschichte — aus einem Fluche für die Mensch-
heit durch schwere und tapfere Arbeit von Wissenschaft
und Staatsverwaltung ein Segen geworden“; diesen Satz
stellt Lorenz v. Stein an die Spitze der Geschichte der
Organisation des Gesundheitswesens (Stein, das Gesund-
heitswesen, p. 121). In der That wirken weitverbreitete und
akut auftretende Epidemien auf das öffentliche Bewusst-
sein ganz eigenartig. Das Elend breiter Volksschichten,
die nothwendige Kehrseite moderner Wirthschaft, wird
plötzlich Gegenstand ängstlicher Aufmerksamkeit und
fieberhaften Thatendranges. Der Zustand der Faktoren,
von welchen die Volksgesundheit in erster Linie beeinflusst
wird: Luft und Wohnung, Trinkwasser und Boden, Lebens-
haltung und Nahrung wird eifrig untersucht; ja selbst die
psychischen Folgen des materiellen Elendes, Unwissenheit,
Energielosigkeit, geistige Depression werden als eine all-
gemeine Gefahr empfunden. Wie wenn der mit dem Rea-
gens befeuchtete Schwamm über eine mit sympathetischer
Tinte angefertigte Schrift fährt und die längst vorhandenen
Züge nun in voller Deutlichkeit erscheinen lässt, so bringt
das Hereinbrechen einer schweren Seuche der Gesellschaft
ihre eigenen Zustände, die sie längst kennt, aber vor denen
sie gewaltsam die Augen zu schliessen gewohnt ist, zu
grellem Bewusstsein.
Diese Wirkung der Epidemien und insbesondere der
Cholera ist keineswegs bedingt durch die Zahl der Opfer,
welche sie heischt. Ohne Zweifel verfallen allein der
Tuberkulose weit mehr Menschenleben, als die furchtbarste
Choleraepidemie vernichtet. Zudem ist die Cholera sowie
die Tuberkulose wesentlich eine Proletarierkrankheit. Die
besten Namen der hygienischen Wissenschaft bezeugen
das: Eulenberg stellt fest, „dass mit der zunehmenden
Wohlhabenheit in den einzelnen Berufsklassen auch die
Zahl der Erkrankungen an Cholera (natürlich nur im All-
gemeinen) abnimmt“ und konstatirt weiter „das Ueber-
wiegen, ja zuweilen fast ausschliessliche Auftreten
der Krankheit unter Proletariern, also einem Bevölke-
rungstheil, bei welchem alle durch die Armuth bedingten,
sich aut eine quantitativ ungenügende, qualitativ unzweck-
mässige Ernährung beziehenden Verhältnisse neben ander-
weitigen hygienischen Uebelständen in erster Linie in Be-
tracht kommen“ (Eulenberg, Handbuch des öffentlichen
Gesundheitswesens I, p. 517 ff). Und was wir in den letzten
Wochen in Hamburg erlebt haben, bestätigt durchaus
diese Erfahrung.
Wenn trotzdem die Cholera unvergleichlich mehr als
die Tuberkulose ein Impuls zu Reformen der öffentlichen
Gesundheitspflege geworden ist, so hat das seinen Grund
in dem plötzlichen und erschreckenden Auftreten der
Epidemie und dem akuten Verlaufe der Krankheit am In-
dividuum, welches, einmal ergriffen, wenn nicht durchaus,
so doch im Wesentlichen gleich wehrlos ist, ob reich oder
arm. Stein drückt dieses psychologische Moment
mit gewohnter Meisterschaft aus: „War die Cholera
einmal da, so war die besitzende Klasse ebenso gut ge-
fährdet wie die nichtbesitzende. Damit ergab sich, dass
die Sicherung der zahlreichen unteren Klasse zuletzt als
die einzige Sicherung auch der höheren erschien. War die
erstere ergriffen, so war die Gefahr der Gesundheit der
letzteren und die damit nicht mehr zu verkennende
Gefahr der öffentlichen Gesundheit gegeben“. Zieht
man nun noch in Betracht, dass die Abwehr der Einschlep-
pung der Cholera eine Behinderung des Geschäftsverkehrs
bewirkt, welche die Interessen der Besitzenden einschneidend
Nu. 38
SOZIALPOLITISCHES ckntralblatt.
465
berührt, so hat man so ziemlich die Summe der Umstände
gezogen, welche bewirken, dass die Choleraepidemien eine
psychologische Disposition bei den herrschenden
Klassen und den Regierungen erzeugen, die sie eingreifen-
deren hygienischen Massnahmen geneigt macht, auch wenn
sie einige Kosten verursachen sollten. Diese psychologi-
sche Disposition ist nun ein sozialpolitisch auszunützen-
des Moment und darum hat die Cholera eine gar nicht zu unter-
schätzende sozialpolitische Bedeutung.
Was lässt sich nun erreichen? Selbst dem vertrauens-
seligsten Optimisten hat das Beispiel Hamburgs gelehrt,
dass die Errungenschaften hygienischer Wissenschaft und
Technik von der modernen Staats- und Kommunalverwal-
tung fast ungenutzt bleiben. Ohne Zweifel haben in Ham-
burg lokale und persönliche Umstände mitgewirkt, um
einen Gipfel sanitärischer Impotenz aufzuzeigen, der
hoffentlich nicht überall erreicht werden wird. Aber nicht
um Verhütung der Einschleppung und Weiterverbreitung
der Seuche von Ort zu Ort handelt es sich sozialpolitisch
in erster Linie. Was da als gröbster Mangel grell in die
Augen springt, der Mangel an einer staatlichen Organi-
sation der Gesundheitspflege, an einem Seuchen-
gesetz, an einer wirksamen, mit Befugnissen der Kon-
trolle und Exekutive ausgestatteten Reichsgesund-
heitsbehörde, wird wohl ganz ohne Zweifel in Folge der
gegenwärtigen Epidemie beseitigt werden.
Aber der alte Satz Pettenkofer’s, „dass der Verkehr
höchstens die Gefahr eines Zünders oder einer Lunte in
sich trägt, dass aber die Gewalt der Epidemie von lokal
an gehäuftem Zündstoff abhängen muss“, weist weit über
diese Massnahmen hinaus.
Es muss mehr gefordert werden. Die Assanirung des
Bodens und des Wassers, die Entfernung und Verwerthung
der Abfallstoffe ist als eine öffentliche Nothwendigkeit,
die mit Hilfe der staatlichen Gewalt durchzusetzen ist,
heute mehr denn je zum Bewusstsein gekommen. Es ist
einer der bezeichnendsten Widersprüche, von welchen die
kapitalistische Gesellschaft erfüllt ist, dass durch den Ueber-
fluss an menschlichen Exkrementen die Städte und dieWasser-
läufe verseucht werden im Widerspruch mit aller Hygiene,
und dass durch den Mangel an solchen Exkrementen, an
Dungstoffen, der Ertrag der landwirthschaftlichen Arbeit
vermindert wird im Widerspruch mit aller Volkswirth-
schaftslehre. Dieser Widerspruch aber lässt sich in hohem
Grade mildern im Rahmen der heutigen Ordnung und wir
zweifeln nicht, dass die Hygiene durchsetzen wird, was die
Volkswirtschaft seit Langem begehrt. Dass es aber nur
der Staat, beziehungsweise das Reich sein kann, welchem
die Macht zu Gebote steht, die Widerstände, welche städ-
tischer Krämergeiz und kurzsichtige Kirchturmpolitik be-
reiten, zu beseitigen, ist klar.
Weiter sind in Hamburg zwei Umstände aufgetreten,
die umsomehr zum Denken auffordern, als sie gerade in
einer Grossstadt nicht erwartet werden konnten. Wir
meinen den Aerztemangel und die Theuerung der
Desinfektionsmittel und Medikamente. Beide Uebel
müssten sich ins Ungemessene verschärfen, wenn die
Epidemie eine Ausbreitung auf das flache Land er-
fahren sollte, wo beide Zustände stets chronisch vorhanden
sind. Wir meinen, dass es gar kein schärferes und wirk-
sameres Argument giebt für die Forderung der Verstaat-
lichung des Aerztewesens und die Verstaatlichung
der Apotheken, als diese Thatsache. Ob man die Kon-
sequenz ziehen wird, ist freilich die Frage; zuviel Privat-
interessen treten da in den Weg.
Aber auch damit wäre lange nicht Alles geschehen.
Wir haben ausgeführt, wie die Choleraepidemie die Lebens-
lage und den Gesundheitszustand des Proletariats als eine
Gefahr für die Besitzenden erscheinen lässt. In der That ist
das Wohnungselend, die Unterernährung, die Arbeitslosig-
keit und ihr Heer von Folgen gegenwärtig der Gegenstand
eifriger Konstatirung von Amtswegen, — allerdings nur in
den Gressstädten. Ueberall, besonders deutlich in Wien,
werden Zustände enthüllt, deren brutale Scheusslichkeit
Alles übertrifft, was bisher amtlich zur Kenntniss genommen
wurde. Dutzende von Familien, in Kellerlöchern schlafend,
auf Treppen, Böden, Höfen, überall menschliche Leiber, in
wirrem Durcheinander Männer, Weiber, Kinder. Dazu sind
das keineswegs durchaus Arbeitslose, nein, man findet,
und das erhöht den Ekel, welcher die Gesellschaft vor
ihrem eigenen Zustande erfasst, — Leute, welche ihren
regelmässigen Erwerb im Verschleiss von Lebensmitteln
haben, in solchen Lokalitäten schlafend auf Säcken, die
mit Gemüsen gefüllt sind! u. s. w. Die Kontrolle und
Räumung dieser „Massenquartiere“ wird emsig betrieben;
aber was geschieht mit den Delogirten? In Wien ist die
Sache einfach: die nicht in Wien Heimathsberechtigten
werden in ihre „Heimath“ abgeschoben, dem Rest der
Rath gegeben, bessere Wohnung zu suchen. Und immer
und immer wieder finden die Sanitätskommissionen Massen -
quartiere, angefüllt mit denselben Menschen, welche sie
vor wenigen Tagen aus einer anderen Stätte des Elends
vertrieben. Und wie sollte das anders sein können?
So sehr die psychologische Disposition zur Sozial-
reform durch die Epidemie erhöht ist, so sehr den Be-
sitzenden und dem Staate die Gefahr des Anwachsens des
Proletariats nun von der Hygiene eingepaukt wird, — des
Proletariats kann sich die heutige Gesellschaft nicht ent-
ledigen. Immerhin aber könnte sie Manches, wenn die
Furcht vor der Cholera ihr eine Zeit lang in den
Gliedern bliebe. Ein Minimum an Wohnung und
Nahrung könnte die heutige Gesellschaft von staats-
wegen ohne alle Schwierigkeit Jedem darbieten. Die Pro-
duktivität ist derart gestiegen, dass Mangel weder an Nah-
rungsmitteln, noch an hygienisch nothdtirftig ausreichen-
den Wohnungen zu gewärtigen, und dass der Staat ohne
seinen Klassencharakter irgendwie zu gefährden in der Lage
wäre, das „Recht auf Existenz“ heute schon zu verwirk-
lichen. Freilich würde damit in einem Sprunge die Lebens-
haltung der gesammten Lohnarbeiterschaft und damit die
Höhe des Lohnes bedeutend in die Höhe gehen; und das
wäre ein Schnitt ins Fleisch des Kapitalismus. Aber der
Staat hat nur die Wahl zwischen dieser für eine Minorität
seiner Glieder schmerzhaften Operation und zwischen dem
Offenhalten eiternder Wunden am sozialen Körper und der
Verewigung von Seuchenherden in seiner Mitte. Ob er
die Konsequenz ziehen wird? Wir haben wenig Hoffnung.
Wenn auch heute eingesehen wird, dass „die Folgen des
Sinkens der öffentlichen Gesundheit der nichtbesitzenden
Klasse an und für sich eine beständige Gefahr für die be-
sitzende bilden“ (Stein 1. c., p. 297), die Gefahr, welche die
noch so dürftige Verwirklichung eines Existenzminimums
für die Intensität der kapitalistischen Ausbeutung mit sich
führt, wird den Besitzenden noch immer eine grössere und
dringendere erscheinen. Daher kommt die tief begründete
Resignation der gesammten Hygiene , welcher Finkeln-
burg noch vor Kurzem (Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften III. p. 857) in den folgenden Worten so deutlich Aus-
druck gegeben: „Nicht in der (Sanitäts-) Organisation allein
darf indess die Bedingung praktischer Fortschritte in der
öffentlichen Gesundheitspflege gesucht werden. Um die von
letzterer gebotenen Massnahmen, welche vielfach in wich-
tige geschäftliche und persönliche Interessen, ja
in die Eigenthumsrechte des Einzelnen verletzend
eingreifen, von der öffentlichen Meinung durchführbar zu
machen, muss der Gemeinsinn in den leitenden und
466
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 38,
besitzenden Klassen sich reicher entwickeln, das
Verständniss für die nothwendige Beschränkung der Einzel-
rechte gegenüber dem Gesammtwohl überhaupt und ins-
besondere gegenüber dem allgemeinen Gesundheitsinteresse
tiefer in das allgemeine Bewusstsein eindringen, als bis jetzt
in Deutschland der Fall ist. Die fortschreitende soziale
Volksbildung wird aut keinem Gebiete unmittelbarer loh-
nende Früchte tragen als auf demjenigen der öffentlichen
Gesundheitspflege.“
Wir vermuthen, dass die Hygiene vergebens aut diese
„reichere Entwickelung des Gemeinsinns in den leitenden
und besitzenden Klassen“ warten wird, die „soziale Volks-
bildung“ hat heute nicht die Besitzenden zum Träger, so
sehr ihnen die Cholera nahegehen mag, sondern die Be-
sitzlosen. Immerhin ist zu erwarten, dass auch diese Epi-
demie wenigstens der Ansporn sein wird, kleinere und vor
Allem billigere Dinge namentlich auf dem Gebiete der
Sanitätsorganisation zu verwirklichen.
Wien. Victor Adler.
Soziale Wirthschaftspolitik und Wirthschafts-
statistik.
Die Bestrebungen und Aussichten der deutschen
Bodenreformer.
In der letzten Zeit ist mehrfach die Rede von der
Bodenbesitzreform gewesen. Einerseits sind die Anhänger
derselben ausserordentlich rührig, den verschiedensten
Staats- und Kommunalbehörden bei allen möglichen Ge-
legenheiten durch Petitionen eindringlich zuzurufen, dass
die Ueberführung des Grund und Bodens in den Staats-
und Kommunalbesitz dringend nothwendig sei zur Ge-
sundung unserer Verhältnisse, andererseits wird von den
wissenschaftlichen Kapazitäten der freisinnigen Partei nach-
gewiesen, dass solche Massregeln sozialistisch und reaktio-
när wären. Es lohnt daher wohl der Mühe, diese Be-
strebungen und ihre Aussichten etwas näher zu prüfen.
Sie knüpfen sich in Deutschland an den Namen
Flürscheims, welcher einen „Bund für Bodenbesitzreform“
ins Leben gerufen hat, in welchem nach seinen Statuten
Raum für Mitglieder aller politischen Parteien ist, von dem am
weitesten rechts sitzenden Konservativen bis zum rothesten
Sozialdemokraten. Seine wissenschaftliche Begründung
knüpft Flürscheim, nicht an Marx an, sondern an den amerika-
nischen Bodenreformer Henry George. Wie dieser, behauptet
er, unter vollständiger Verkennung des gesellschaftlichen Cha-
rakters der Arbeit bei den modernenProduktionsverhältnissen,
die menschliche Arbeitskraft sei etwas durchaus Persönliches,
Individuelles, und daher müsse die Bethätigung derselben
auch etwas durchaus Individuelles sein, die Verwerthung
des durch die Arbeit Gewonnenen, also des Arbeitspro-
duktes, vollkommen dem Belieben des Arbeitenden über-
lassen bleiben. Freilich sei dies in der heutigen Welt, bei
der gegenwärtigen Wirtschaftsweise, nicht der Fall. Im
Gegentheil müsse das Recht zur Bethätigung der Arbeits-
kraft heute erkauft werden, und zwar um einen Preis,
welcher mit dem Werthe des Produkts, also der zu seiner
Herstellung nöthigen Arbeitszeit, auch nicht das Geringste
zu thun habe, vielmehr seien die Arbeitslöhne vielfach da
am niedrigsten, wo die Arbeitszeit am längsten sei, weil
die überlange Arbeitszeit den Arbeiter moralisch und phy-
sisch herunterbringe, so dass er den ihn ausbeutenden
Mächten unfähiger zum Widerstand preisgegeben sei.
Könnte der Arbeiter seine Arbeitskraft nach eigenem Be-
lieben und zu eigenem Vortheil bethätigen, könnte also die
'ungerechte Ausbeutung desselben vermieden werden, so
würden, meint Flürscheim, auch die sonstigen Uebel und
Leiden unserer Gesellschaft schwinden. Die Arbeiter, im
Genüsse des vollen Ertrages ihrer Arbeit, würden eine un-
geheure Konsumfähigkeit erlangen, die Industrie hätte da-
durch kolossale Absatzgebiete im eigenen Lande erobert,
sie müsste einen ungeahnten Aufschwung nehmen, in dessen
Gefolge alle kulturfördernden Elemente ebenfalls zu grossem
Einfluss gelangen würden.
Das Mittel nun, durch welches heute die Arbeiter ge-
zwungen werden, ihre Arbeitskraft dem Kapitalbesitzer für
einen geringen Preis zur Verfügung zu stellen, ist nach
Flürscheim und George der private Bodenbesitz und der
Bezug der Bodenrente von Privaten. Da der Boden nicht
vermehrbar ist, so sind seine unmittelbaren oder mittel-
baren Besitzer, diejenigen, welche unmittelbar in Form von
Miethe und Pacht oder mittelbar in Form von Hypo-
theken- und Pfandbriefzinsen die Grundrente für sich in
Anspruch nehmen dürfen, dadurch auch die Herren über
die übrige Bevölkerung geworden; die Arbeitskraft, welche
sich ja immer nur auf dem Grund und Boden bethätigen
kann, darf dieses nicht thun, wenn jene Besitzer die Er-
laubnis dazu nicht geben. Diese geben die erwähnte Er-
laubniss aber nur gegen Geld oder Produkte der Arbeit,
und erhalten so die Mittel zur mühelosen Anhäufung von
riesigen Vermögen, für welche wieder Boden, direkt oder
indirekt (Hypotheken) gekauft wird, wodurch dann der
Tribut, welchen die arbeitende Bevölkerung für die Erlaub-
nis zum Arbeiten, also zum Leben, zahlen muss, weiter
und weiter anschwillt.
In gleicher Linie mit dem privaten Bodenbesitz steht
der private Besitz sonstiger Naturschätze (Kohlen, Erze)
und Naturkräfte (Wasserkräfte). Ebenso dürfen auch eine
Reihe anderer Betriebe, nämlich solche, in deren Wesen
ein Monopol begründet ist, also vor allem das Verkehrs-
wesen, nicht zum Nutzen von Einzelnen, sondern nur zu
dem der Gesammtheit betrieben werden; denn der Einzelne,
welchem ein Privileg auf einen solchen Betrieb verliehen
ist, wird dadurch eine ausbeuterische Macht gegenüber
seinen Mitbürgern erhalten.
Aus Erwägungen der geschilderten Art entspringt nun
der Gedanke, dass nach Ueberführung des Bodens in Ge-
meinbesitz, bei Bearbeitung desselben zu Gunsten der
Gesammtheit, die Möglichkeit der Ausbeutung des einen
Menschen durch den andern schwinden müsste; dabei wird
immer Boden kurzweg für Grund und Boden, Naturschätze,
Naturkräfte, Verkehrsbetriebe und ähnliche gesagt.
Flürscheim sucht diese Behauptung näher durch die
Darlegung zu erweisen, dass bei Gemeinbesitz des Bodens der-
selbe auch Arbeitergenossenschaften ebenso gut, wie einzel-
nen Kapitalisten zur Verfügung stände, und dass diese dann
durch die Konkurrenz jener gezwungen würden, so hohe
Summen als Löhne zu zahlen, als bei den Genossenschaften
aus dem Ertrage des Betriebes vertheilt würden; die Unter-
nehmer würden also für sich nur diejenigen Summen be-
halten können, welche bei den Genossenschaften den
Direktoren zufallen. Es könnte somit die gegenwärtige
Grundform der Produktion, die Waarenproduktion, beibe-
halten werden, ohne dass ihre gegenwärtigen Uebel sich
bemerkbar machten.
Um dieses segensreiche Ziel zu erreichen, schlagen
die Bodenreformer eine allmähliche Ablösung des Bodens
zum gegenwärtigen Marktwerthe durch Staat und Ge-
meinden vor; die Geldmittel dazu soll die steigende Boden-
rente sowie eine starke Erbschaftssteuer liefern. Auch
wenden sie sich gegen den weiteren Verkauf der gegen-
wärtig noch vorhandenen Staats- und Kommunalländereien,
sowie gegen die Vergebung der noch in Niemandes Besitz
befindlichen Wasserkräfte, deren elektrische Ausbeutung
eine grosse Zukunft hat, an Private; die letzt genannten
Punkte bilden den Gegenstand ihrer schon anfangs er-
wähnten zahlreichen Petitionen. Einen grösseren Nach-
druck glauben sie denselben geben zu können, wenn sie
praktisch Bodenreform im Kleinen treiben. So will
Flürscheim seine Kraft der Kolonie Sinaloa in Mexiko
widmen, so wenden andere Arbeit und Kapital der Heimath-
kolonie Friedrich- Wilhelmsdorf bei Bremerhaven zu, noch
andere tragen sich mit der Idee, durch die Gründung einet
No. 38
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
467
Baugenossenschaft in Berlin, deren Boden niemals an die
einzelnen Mitglieder fallen soll, die Berliner Wohnungsnoth
zu mildern und die praktische Durchführbarkeit der ganzen
Reform zu erweisen.
Der wesentliche Unterschied, welcher jedem sofort in
die Augen springt, der die bodenreformerischen Schriften
mit denen des wissenschaftlichen Sozialismus vergleicht, ist
die naive Geschichtsauffassung der ersteren gegenüber der
tieferen materialistischen. .Schade, dass so kluge Leute,
wie wir, früher nicht gelebt haben, wenigstens nicht in den
einflussreichen Kreisen, welche die Geschicke der Völker
bestimmen. Wäre das der Fall gewesen, so würde uns die
gegenwärtige Aussaugung der Bevölkerung durch das
Kapital erspart geblieben sein. Aber noch ist es Zeit.
Wir zeigen euch, den Regierenden, den Weg, welchen ihr
gehen müsst, wenn euch nicht die verelendeten Volks-
massen schliesslich mit blutiger Lapidarschrift belehren
sollen, dass die Ausbeutung eine natürliche, physische
Grenze hat. Das ist der Ton, der durch die bodenreforme-
rischen Schriften durchklingt. Ihre Verfasser begreifen so
wenig die Gegenwart mit ihren ökonomischen Verhält-
nissen als das nothwendige Produkt der geschichtlichen
Entwickelung, dass einer sogar von einem falschen Wege
sprechen kann, den die Kulturmenschheit bisher gegangen
sei. Bei einer solchen Geschichtsauffassung; ist es freilich
nicht zu verwundern, wenn sie den ökonomischen Unter-
grund, auf welchem die politischen Parteien sich erheben,
so sehr verkennen, dass sie glauben, dieselben friedlich bei
sich vereinigen zu können. Gewiss giebt es in allen Par-
teien ideologische Köpfe, welche sich gar nicht bewusst
sind, dass sie eine ökonomische Interessengruppe gegen-
über anderen vertreten; das ändert aber nichts an der
Thatsache, dass dem so ist, und dass die politischen Par-
teien sich am allerwenigsten bei einer so tief einschneidenden
wirthschaftlichen Massregel, wie sie die Bodenreformer ver-
langen, zusammenfinden können. Ganz gewiss! würde sich
im Bürgerthum eine starke Bewegung zu Gunsten der
Bodenreform geltend machen, würde daselbst noch soviel
Idealismus und Gemeinsinn, oder so viele Erkenntniss des
Entwickelungsprozesses, in welchem die gegenwärtigen
Gesellschaftsformen begriffen sind, vorhanden sein, dass
derartige Reformen ernstlich ins Auge gefasst würden, so
hätte die um ihre Befreiung ringende Arbeiterklasse keinen
Grund, diesen Bestrebungen nicht thätigen Beistand zu
leisten. Aber freilich, die nothwendige Voraussetzung da-
für, dass die Arbeiter sich für die Bodenreform besonders
erwärmen, die starke, bürgerliche Bewegung, fehlt durch-
aus und muss fehlen. Der Bund kann seinem innersten
Wesen nach immer nur das sein, was er heute ist, eine
Vereinigung einiger ideologischer, mehr oder minder un-
klarer Köpfe aus allen Parteien, von denen die besten, je
schneller sie zur klaren Einsicht in die geschichtliche Ent-
wickelung kommen, sich um so eher vor die Alternative
gestellt sehen, entweder in Bethätigung ihres idealen Sinns
sich voll und ganz in den Dienst dieser Entwickelung
zu stellen, oder unter Aufgeben ihres Idealismus sich den
Bestrebungen ihrer Klasse anzuschliessen und damit die
einst angestrebte Bodenreform rücksichtslos zu bekämpfen.
Die unklareren werden, je mehr sie erkennen, dass die
staatlichen und städtischen Behörden sich von ihnen nicht
belehren lassen wollen, sich um so mehr in kleinlichen
Projekten verlieren.
Dieses Urtheil über die Aussichten des Bundes deckt
sich aber nicht mit dem Urtheil über die Aussichten der
Bestrebungen selbst. Der gesellschaftliche Besitz des Grund
und Bodens, sowie der Naturkräfte und -Schätze, die Ver-
wendung der Grundrente zu öffentlichen Zwecken wird
thatsächlich eine Etappe der künftigen Entwickelung sein,
nur werden derartige Massregeln nicht von den gegen-
wärtig massgebenden Parteien durchgeführt werden.
Berlin. Bruno Borchardt.
Verlegung des Lohntages in Rheinland-Westfalen. Ln
rheinisch-westfälischen Industriebezirk ist nach der „Frankl
Ztg.“ eine Bewegung bemerkbar, die darauf abzielt, eine Ver-
legung des Lohntages durchzusetzen. Die Arbeiterfrauen
empfinden es nämlich als ganz besonders drückend, dass ihnen
in Folge der Beschränkung des Handelsverkehrs an den Sonn-
tagen nicht genug Zeit bleibt, um ihre Einkäufe von dem Geldc
zu machen, das der Mann am Samstag Abend heimbringt. Da
die Lebensmittel am Sonntag und auch am Montag niclit auf
den Markt kommen, so sind die Frauen gezwungen, entweder
noch am Samstag Abend einzukaufen, was bei der Ueberfüllung
der Läden die Auswahl und Prüfung behindert und sie daher
schädigt, oder am Sonntag in den freigelassenen Stunden die
Geschäfte aufzusuchen, die die verlangten Waaren erst aus
dritter oder vierter Hand erhalten und dem entsprechend theurer
verkaufen, wodurch den Frauen, die mit sehr wenig zu rechnen
haben, ein nicht unbedeutender Schaden erwächst. Diese Be-
schwerden werden als nicht unbegründet bezeichnet. Am
sichersten würde ihnen abgeholfen werden, wenn, wie dies in
England Sitte ist, die Wochenarbeit am Frühnachmittag des
Samstag schliessen würde. Daran sei bei dem Einfluss, den die
Grossindustriellen bei uns auf die Gesetzgebung haben, jedoch
nicht zu denken. Aber auch gegen eine Verlegung des Lohn-
tages, mit der nur den Frauen geholfen wäre, die nicht selbst
im Fabrikbetriebe thätig sind, würden die Herren wohl Ein-
wendungen erheben, weil daraus vor der Hand vielleicht einige
Unbequemlichkeiten erstehen könnten. Hervorgehoben zu
werden verdient bei dieser Gelegenheit, dass bei der letzten
Revision der deutschen Gewerbeordnung in § 119 a wohl Vor-
schriften dahin getroffen, dass die Lohnfristen behördlich geregelt
werden können, leider aber nicht die Lohntage. Würde diese
Lücke ausgefüllt, so würden Bestrebungen, wie diejenigen im
rheinisch-westfälischenKohlenrevier, keinen so grossen Schwierig-
keiten mehr begegnen.
Soziale Wanderungen in Deutschland. Die Landwirthe
der Umgegend von Frankfurt a. M., welche sich für die Ernte-
kampagne Arbeiter aus Polen kommen Hessen und für den Her-
und Rücktransport jeder Kolonne ca. 1100 M. zu bezahlen hatten,
sind nach der Meldung des dortigen Amtsblattes mit den
Leistungen derselben im höchsten Grade unzufrieden. Tüchtig-
keit und Fleiss sollen zu wünschen übrig lassen, was angeblich
seinen Grund darin hat, dass die Arbeiter vorher meist in der
Industrie beschäftigt gewesen sind. Im nächsten Jahre will man
wieder zu den schlesischen Feldarbeitern, die allerdings „etwas
theurer“ seien, zurückgreifen.
Arbeiterzustände.
Die Reichsenquete über die Arbeitsverhältnisse im
Ladengeschäft.
Die durch die Zeitungen gehende Nachricht dass
gegenwärtig bei allen Detailgeschäften amtliche Erhebun-
gen über die Arbeitszeit angestellt würden , ist nichts
als eine unvollständige Mittheilung über die eben begon-
nene Ausführung jener Reichsenquete über soziale Ver-
hältnisse im Handelsgewerbe, welche im Juni d. ]s. auf
Vorschlag der Reichsregierung von der neuen Reichskom-
mission für Arbeiterstatistik beschlossen wurde. Die Ausfüh-
rung dieser Enquete hat bereits in mehreren Landestheilen,
begonnen; die betheiligten Kaufleute erwarteten den Be-
ginn nach Aeusserungen, welche in der genannten Kom-
mission gefallen waren, sogar schon früher. Wie man sich
in dem Haupthandelsplatz Hamburg mit der dort grassirenden
Seuche bei der Erhebung abimdet, ist noch nicht bekannt
geworden. Wahrscheinlich verschiebt man dort die Aus-
führung noch einige Zeit. Sonst liegen aber die amtlichen
Bekanntmachungen und Schriftstücke über die Enquete,
namentlich aus Preussen, mehrfach vor, und man kann be-
reits jetzt ein Urtheil über die Methode der wichtigen Er-
hebung fällen, welche weitere reichsgesetzliche Mass-
nahmen zu Gunsten der Handelsangestellten anbahnen
helfen soll.
Leider erweist sich die Methode der Erhebung von
vornherein wieder einmal als sehr mangelhaft. Schutzleute
vertheilen z. B. in Frankfurt a. M. in bestimmten Stadt-
gegenden an bestimmte Adressen, über deren Auswahl
noch zu sprechen sein wird, schriftliche Fragebogen. Ob-
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 38.
468
gleich an der Spitze dieser Fragebogen — ein Exemplar
desselben liegt vor dem Schreiber dieser Zeilen — aus-
drücklich steht: „Nur für Geschäfte mit offenem Laden“,
so ist die ausführende Polizei doch naturgemäss so wenig
mit der Statistik vertraut, dass sie auch Fragebogen an
Engrossgeschäfte giebt, wie dies aus Frankfurt a. M. nach-
gewiesen werden kann. Während eine Bekanntmachung
des Frankfurter Polizeipräsidenten vom 8. d. Mts. besagt,
dass die Fragebogen am 16. wieder eingesammelt würden,
geben junge Schutzleute, welche den Fragebogen am
10. September vertheilten, die Auskunft, dass die Antwort
bereits am 13. wieder abgeholt werden würde. Gelegent-
lich der Juni- Verhandlungen der Reichskommission war zu
lesen, dass die Fragebogen 8 Tage in den Händen der Be-
theiligten bleiben würden. In einem Auszug aus einer
offenbar amtlichen Verfügung, welchen die „Schlesische
Zeitung“ mittheilt, wird von 5 Tagen gesprochen. Das
sind drei verschiedene Lesarten nebeneinander, die hier
festgestellt werden, um den polizeilichen Gelegenheits-
charakter der Enquete zu beleuchten.
Der von den Schutzleuten vertheilte schriftliche Frage-
bogen lautet wörtlich:
»Ort Bezirk Staat
Fragebogen für das Handelsgewerbe.
— Nur für Geschäfte mit offenem Laden. —
Art (Branche) des Geschäfts
Name (Firma) des Inhabers
1. Wieviel Personen ausser dem Geschäftsinhaber sind aus-
schliesslich oder vorwiegend im offenen Ladengeschäft
als Verkäufer thätig?1) Personen und zwar als:
A. Gehilfen: männliche weibliche
über 16 Jahre alt:
B. Lehrlinge:
über 16 Jahre alt:
unter 16
männliche
weibliche
2.
3.
4.
I. Arbeitszeit.
Wie lange ist beim regelmässigen Geschäftsbetrieb (vergl.
auch Frage 5) an Wochentagen der Laden für das Publikum
geöffnet ?
von .... Uhr Morgens bis .
fim Sommer von . . . Uhr M.
\im Winter „ . . . „
bis
Uhr Abends
. . Uhr Ab.\
Wie lange sind beim regelmässigen Betriebe die zu 1
bezeichneten Personen an Wochentagen im Geschäft be-
schäftigt?
A. Gehilfen: männliche weibliche
über 16 |ahre alt: von . . . bis . . . Uhr von . . . bis . . . Uhr
unter 16' „ „
B. Lehrlinge: männliche weibliche
über 16 Jahre alt: von . . . bis . . . LThr von . . .bis . . .
unter 16 „ „
Uhr
Wieviele von den zu 1 bezeichneten Personen haben täglich
eine bestimmte Mittagspause? Personen. Wie lange
ist diese Pause
A. für Gehilfen (wie oben),
B. für Lehrlinge (wie oben).
5. Ist der Laden zu Zeiten besonderen Geschäftsan-
dranges länger geöffnet als zu 2 angegeben?
wenn ja, an wieviel Tagen etwa im Jahr?
und an solchen Tagen um wieviel Stunden länger?
II. Kündigungsfrist und Lehrlings Verhältnisse
6. Ist für die Gehilfen eine andere Kündigungsfrist verein-
bart als die sechswöchentliche, mit Ablauf des Kalender-
vierteljahres endigende des Handelsgesetzbuches?
wenn ja:
a) was ist über die Kündigung verabredet?
b) für wieviel Gehilfen gilt diese Abrede?
7. Ist die Kündigungsfrist für beide Theile gleich?
wenn nicht: wie ist das Verhältniss geordnet?
8. Wird der Lehrvertrag schriftlich geschlossen?
9. a) Wird Lehrgeld gezahlt?
b) Wie lange dauert die Lehrzeit? .... Jahre.
10. Besuchen die Lehrlinge eine Fach- oder Fortbildungsschule,
Sonn- oder Feiertagsschule?
wenn ja: a) an welchen Tagen?
b) in welchen Tagesstunden?
') Hierbei sind die regelmässig im Ladengeschäft als
Verkäufer thätigen Familienmitglieder des Geschäftsinhabers
mitzuzählen.
III. Wohnungsverhältnisse.
11. Wieviel der zu 1 bezeichneten Personen haben bei dem
Prinzipal
a) nur Kost? A Gehilfen (wie oben) etc. etc.
b) nur Wohnung?
c) Kost und Wohnung?
IV. Bemerkungen.
Es wird gebeten, hierunter etwaige bemerkenswerthe
Eigenthümlichkeiten des Betriebes hervorzuheben, sowie auch
Angaben zu machen, welche geeignet sind, die auf vorstehende
Fragen, insbesondere auf Frage 3 bis 5 gegebenen Antworten
zu erläutern.
Vorstehender Fragebogen ist beantwortet
(Ort): , den . 1892
von (Unterschrift)
Angabe, ob Prinzipal oder Gehilfe (in) “
Soweit der Fragebogen. Er enthält die Bemerkung:
„Nur für Geschäfte mit offenen Laden“, lässt aber auch
damit den sehr engen Rahmen der Enquete noch nicht
ganz erkennen. Dieselbe soll sich nämlich, entgegen dem
W unsche des „Deutschen Verbandes Kaufmännischer Ver-
eine“, der die Erhebung durch eine Eingabe vom Dezember
1890 anregte, nur auf die Laden des Waaren- und Pro-
duktengeschäftes erstrecken, also auf den Handel mit land-
wirthschaftlichen Produkten, insbesondere mit Milch, Butter,
Käse, Eiern, Obst, Gemüse, Mühlenfabrikaten, mit Kolonial-,
Material- und Fleischwaaren, den Fisch-, Wild-, Delika-
tessen- und Droguenhandel, den Handel mit Tabak und
Cigarren, mit Manufaktur- (Schnitt-) Waaren, insbesondere
mit Leinen-, Wollen-, Baumwollen-, Sammt- und Seiden-
waaren, den Posamenten-, Garn-, Band-, Handschuh- und
Kleiderhandel; die Krämereien, Bazare (Fünfzigpfennig-
Bazare) u. s. w ., sowie den Handel mit Glas-, Porzellan-,
I hon-, Holz-, Gummi-, Schuh- und Pelzwaaren, mit Hüten,
Stöcken, Schirmen, Schreibmaterialien u. s. w. Die Ge-
schäfte dieser Art kommen für die Erhebung jedoch nur
soweit in Betracht, als sie regelmässig mindestens einen
Gehilfen gegen Lohn beschäftigen. Ausgeschlossen von
der Erhebung sind ferner die Ladengeschäfte für den Ver-
kauf von Back- und Konditorwaaren. Mehrere amtliche
Bekanntmachungen, z. B. diejenige des Frankfurter Polizei-
präsidenten vom 8. September, lassen diese Beschränkung
gar nicht erkennen.
Aber auch die Arbeitsverhältnisse der so beschränkten
Anzahl von Handlungsgehilfen werden nicht vollständig
erhoben. Nach den Gehaltsverhältnissen ist wiederum ent-
gegen dem Wunsche des „Deutschen Verbandes Kauf-
männischer Vereine“ gar nicht gefragt; und doch stehen
Arbeitszeit und Salär in unlöslichem Zusammenhänge, man
kann das eine nicht ohne Kenntniss von dem anderen be-
urtheilen. Ferner fehlt vollständig eine Frage nach der
Beschaffenheit der Arbeitsräume, über welche aus Gehilfen-
kreisen schon viele Klagen laut geworden sind. Weitere
Ausstellungen lassen sich sodann am Wortlaut des Frage-
bogens selber machen. Frage 1 berücksichtigt weder die
Kassirer, die im offenen Ladengeschäft thätig sind, noch
neben den Gehilfen und Lehrlingen die etwaigen Volontäre.
Unter 4 hätten detaillirte Fragen nach denjenigen Gehilfen
Platz finden müssen, welche wohl täglich eine Mittagspause
haben, aber keine bestimmte und umgekehrt. Nach der
Frage 5 fehlt eine solche danach wie lang „zu Zeiten be-
sonderen Geschäftsandranges“ die zu 1 bezeichneten Per-
sonen „im Geschäfte thätig“ sind, da sich die Zeit dieser
Thätigkeit auch in diesem Falle (wie zu 2 und 3) durch-
aus nicht immer mit der Zeit des Ladenschlusses deckt.
Unter 10 endlich ist eine Frage nach dem Besuch von
Fach- oder Fortbildungsschulen durch die Gehilfen zu
vermissen. Derselbe findet nämlich theilweise statt und ist
bei den traurigen Bildungsverhältnissen vieler junger Kauf-
leute sehr löblich; theilweise wird er aber, wie aus den
Schulberichten vieler Vereine zu entnehmen, auch von
Prinzipalen geradezu verhindert. Viele dieser Dinge könnten
unter „IV. Bemerkungen“ von den Betheiligten noch nach-
getragen werden. Da aber die Behörden vor Vertheilung
der Fragebogen entgegen einer in der Reichskommission
für Arbeitsstatistik gefallenen Aeusserung gar keine Füh-
No. 38.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT .
409
lang mit den Organisationen der Betheiligten gesucht haben,
so ist auch, soweit wir sehen können, innerhalb dieser
Organisationen wenig gethan worden, um das Gelingen der
Erhebung zu fördern.
Am wenigsten wird offenbar in den betheiligten Kreisen
gebilligt, dass sich die Ortspolizeibehörden in den Gross-
städten mit den Vertretungen der Prinzipale und Gehilfen
nicht ins Benehmen darüber gesetzt haben, ob und welche
Stadtgegenden für die Erhebung ausgesucht werden sollen,
um „Stichproben“ zu machen. In Frankfurt a. M. z. B.
dekretirte der Polizeipräsident ganz einfach, dass zwei
Bruchtheile zweier Polizeireviere der inneren Stadt mit
ca. 300 Ladengeschäften als Erhebungsbezirk zu betrachten
seien. Frankfurt a. M. hat aber ca. 1700 Ladengeschäfte
des Waaren- und Produktenhandels mit ca. 9000 Gehilfen.
Werden aus der Befragung eines so kleinen Bruchtheils
der Betheiligten brauchbare Schlüsse zu ziehen sein, zumal
wichtige Stadttheile mit ganz besonders charakteristischen
Verhältnissen unbeachtet lolieben? Die Stimmung der Be-
theiligten verneint im Allgemeinen diese Frage. Ebenso
fällt es auf, dass die Geschäfte, in denen Prinzipal oder
Angestellte zu antworten haben, ganz mechanisch nach
dem Alphabet ausgesondert werden. Das mag auf höherer
Anordnung beruhen; es wird aber nichts destoweniger nicht
gebilligt, weil man eine Wahl der Auskunttspersonen mehr
nach sachlichen Rücksichten mit Hinblick auf die Grösse
und die Art des Geschäftes erwartet hätte. Gelobt und
anerkannt wird nur die Anordnung, dass in Geschäften,
die mehrfaches Personal haben, diesem, nicht dem Prin-
zipal, die Wahl der Auskunftsperson zufällt.
Der „Deutsche Verband Kaufmännischer Vereine“ hatte
in seiner schon erwähnten Eingabe das mündliche kon-
tradiktorische Verfahren vor einer ad hoc eingesetzten
Sachverständigenkommission für die jetzt im Gange be-
findliche Enquete empfohlen. Es steht ausser allem Zweifel,
dass bei Anwendung dieser Methode alle die Missstände
vermieden worden wären, die sich jetzt ergeben, zumal
eine Verpflichtung zur Beantwortung der vertheilten Frage-
bogen auf Seite der Kaufleute nicht besteht. Denn es ist
beachtenswert!!, dass in den Interessentenkreisen die schärfste
Kritik an dem schriftlichen Verfahren mit Schutzleuten als
untersten Organen der Sozialstatistik von denjenigen ge-
übt wird, welche die gründlichste Erörterung der Arbeits-
verhältnisse im deutschen Handelsgewerbe gewünscht
hätten, die also mit der Absicht des Gesetzgebers, Unter-
lagen für zeitgemässe Reformen zu gewinnen, am meisten
sympathisirten.
Frankfurt a. M. Max Quarck.
Achtstündige Arbeitszeit. Auf der harburger Thörl-
schen Oelfabrik wurde am Montag für diejenigen Arbeiter,
welche im Innern der Fabrik beschäftigt sind, also, bei den
Pressen arbeiten, die achtstündige Arbeitszeit eingeführt.
Der Betrieb wird nicht unterbrochen; die Arbeiter lösen
sich 3 Mal täglich ab.
Arbeitszeit der österreichischen Südbahnarbeiter.
Die durchschnittliche Arbeitszeit der Südbahnarbeiter be-
trägt nach der in Villach erscheinenden „Deutschen Allge-
meinen Zeitung“ siebzehn Stunden. Im Bedarfsfälle
werden die ermüdeten Arbeiter nach den 1 7 Stunden noch
zum Zugsverkehr und zum Ersatz des Fahrpersonals meist
bei den Nachtzügen herangezogen, in der Regel werden
ihnen dann die Bremsen am letzten Wagen an vertraut
Die Ausgabenrechnung eines Leipziger Zimmermanns
im Jahre 1891. „Es liegt uns“, schreibt der „Zimmerer“, „ein
Budget von einer Zimmermannsfamilie aus Leipzig vor. Diese
Familie besteht aus drei Köpfen; der Zimmerer gehört zu den
Bestbezahltesten am Ort. Er hat auch das seltene Glück gehabt,
51 Wochen im Jahre 1891 zu arbeiten. Für die Ehrlichkeit seiner
Angaben übernehmen wir die volle Verantwortung. Wir lassen
das Budget hier folgen:
Meine Einnahme und Ausgabe im Jahre 1891 ;
E i n n a h m e.
Arbeitslohn, 259772 Stunden ä 46 Pf. . .
Ausgabe.
Nahrungsmittel
Wohnungsmiethe . . .
Bekleidungsstücke
Wirthschaitsgegenstände
Heizungsmatenal . . .
Handwerkszeug
Doktor und Apotheke
Staats-, Kommunal- und Kirchensteuer
Krankenkassenbeiträge
Invaliden- und Altersversorgungskassen-
beiträge
Vergnügen mit der Familie und Taschen-
geld für den Mann
V ereinsbeiträge :
a) gewerkschaftliche
b) politische
Literatur:
1 Exemplar „Der Wähler“
1 „ „Der Zimmerer“ . . .
1 „ „Der wahre Jakob“ . . .
Bibliothek
610,15 M.
165,00 „
56,81 „
38,38 „
50.90 „
4,45 „
3,85 „
23,18 „
23,40 „
7.80 „
165,65 „
10.90 „
9,10 „
7,65 „
3,60 ,.
2,40 „
4.80 „
1194 95 M
1188,02 „
Also 6,93 M.“
Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung.
Die Stellung der deutschen Gewerkschaften zu den
Beschlüssen des Halberstädter Kongresses.
Der Ausbau der deutschen Gewerkschaftsorganisationen
entsprechend den Beschlüssen des Halberstädter Gewerk-
schaftskongresses, (vgl. Sozialpolitisches Centralblatt, I. Jahrg.,
No. 13, S. 168 fg.), wird nur langsam vorwärts gehen, auch
wird sich der Erfolg, der aus den zwischen den einzelnen
Organisationen getroffenen Vereinbarungen entspringen
muss, nicht in kurzer Frist bemerkbar machen. Die erstere
Thatsache ergiebt sich aus dem Umstand, dass es sich bei
der Durchführung dieser Beschlüsse darum handelt, ein
durchaus neues Gebiet zu betreten, und daher eine ge-
naue Erwägung und Untersuchung der eintretenden Folgen
erforderlich ist, ehe feste Vereinbarungen getroffen werden
können. Ferner kommt hier noch in Betracht, dass die
Centralorganisationen nicht ohne Weiteres den Beschlüssen
Folge geben können, sondern es ist erforderlich, ehe dieses
geschehen kann, erst die Kongresse oder Generalversamm-
lungen der einzelnen Berufsorganisationen abzu warten.
Der Nutzen, welcher den Organisationen aus der näheren
Verbindung mit denen gleichartiger Berufe entstehen wird,
kann sich in nächster Zeit um dessentwillen nicht bemerk-
bar machen, weil er erst zu Tage treten kann, wenn in
einer besseren Geschäftskonjunktur die Organisationen mit
Lohnforderungen etc. vorzugehen vermögen. Unter den
gegenwärtigen Verhältnissen müssen die Organisationen
nur bemüht sein, den bisherigen Bestand der Mitglieder
sich zu erhalten und dasjenige, was in günstigeren Ge-
schäftsperioden an Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbe-
dingungen errungen worden ist, nicht wieder verloren
gehen zu lassen. Darum eignet sich aber die gegenwärtige
Zeit ganz besonders dazu, die Frage der Reorganisation
der Gewerkschaften zu diskutiren und diese selbst vorzu-
nehmen. Und thatsächlich wird seit dem Halberstädter
Kongress diese Frage in den Versammlungen und
Fachzeitungen recht eifrig besprochen und sind auch theil-
weis schon Versuche gemacht worden, an Stelle der theo-
retischen Erörterung die praktische Durchführung einzelner
Theile der bekannten Resolution des Halberstädter Kon-
gresses zu setzen. Im Allgemeinen findet der vom Kon-
gress gemachte Vorschlag der Kartell irung der Organi-
sationen Zustimmung. Nur die Vertreter der Lokalorgani-
sationen mit Vertrauensmännersystem fahren fort, sich
470
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 38.
gegen die Kongressbeschlüsse, wie auch gegen die Central-
verbände selbst zu wenden. Da aber, wie die Statistik
nachweist, die Zahl der Anhänger dieser Organisationsform
nur verhältnissmässig gering ist, so kann diese Meinungs-
äusserung auf die Entwickelung der geplanten Verbindung
der Organisationen nur von geringer Bedeutung sein. Aller
Wahrscheinlichkeit nach wird eine günstige Geschäfts-
konjunktur mit ihren unvermeidlichen Kämpfen zur Er-
zielung besserer Arbeitsbedingungen diesem Streit ein
Ende machen, weil dann die Lokalvereine genöthigt sein
werden, sich den Centralorganisationen anzuschliessen.
Bedauerlich ist nur, dass die Kampfesweise einzelner Ver-
treter der Lokalorganisation bei dieser Formfrage einen
Charakter annimmt, der bei den mit den Verhältnissen
wenig Vertrauten die Meinung aufkommen lassen muss, es
bestände zwischen diesen beiden Organisationsformen eine
unüberbrückbare Kluft. Dem ist jedoch nicht so. Die
Macht der Verhältnisse wird diesem mehr künstlich herauf-
beschworenen Streit ein für die Gewerkschaftsbewegung
günstiges Ende bereiten.
Mit Ausnahme der Malerorganisation und der der
Textilarbeiter erkennen alle Centralorganisationen, soweit
sie zu dieser Frage Stellung genommen haben, die Noth-
wendigkeit der Durchführung der Halberstädter Kongress-
beschlüsse und besonders den auf die Generalkommission
bezüglichen, an. Die Organisation der Maler konnte sich
aut dem im Frühjahr dieses Jahres stattgehabten Kongress
über die Theilnahme an der geplanten Gesammtorganisation
der Gewerkschaften nicht einigen, und war in Folge dessen
diese Organisation auf dem Kongress in Halberstadt nicht
vertreten. Nur einzelne Zweigvereine der Organisation
hatten eine Vertretung durchgeführt. Eine spätere Er-
klärung des Vorstandes der Malerorganisation ging dahin,
dass der Verband sich mit Rücksicht auf die Beschlüsse
seiner Generalversammlung der Generalkommission gegen-
über passiv verhalten müsse, im Besonderen aber keine
Beiträge an diese bezahlen könne. Der Vorstand des Ver-
bandes der Textilarbeiter unterbreitete in den letzten Tagen
den Mitgliedern einen Antrag zur Abstimmung, der dahin
geht, dass die Organisation sich von der Generalkommission
loslösen solle, weil sie die erforderlichen Beiträge theils
nicht zu leisten vermag, andererseits aber diese Geldmittel
für die Agitation unter den eigenen Berufsgenossen besser
verwenden könne. Dieser Antrag scheint bei den Mit-
gliedern des Verbandes aber wenig Sympathie zu finden,
da von einzelnen Zweigvereinen schon Stellung dagegen
genommen worden ist. Die anderen Centralorganisationen
halten jedoch an den Beschlüssen des Kongresses fest, und
es lässt sich daher erwarten, dass diese zur Durchführung
gelangen.
Der Kongress erklärte in der bekannten Resolution,
dass zunächst zwischen den verwandten Berufsorganisationen
Kartellverträge zu schliessen sind. Wo die Verhältnisse es
angezeigt erscheinen lassen, sollen sich aus diesen Kartell-
verträgen Industrieverbände bilden , oder es soll eine
Union der verwandten Berufsorganisationen geschaffen
werden.
Darüber, ob schon vor dem Abschluss- der Kartellver-
träge die Gründung eines Industrieverbandes in einzelnen
Berufsgruppen erfolgen soll, wurde und wird noch eifrig
diskutirt. Besonders in der Organisation der Schneider und
der Schuhmacher wurde diese Frage in eingehender
Weise erwogen. Nach dem Gang der Diskussion lässt sich
jedoch erwarten, dass die Kongresse dieser Berufe sich
nicht für die Bildung eines Industrieverbandes erklären
werden. Dagegen haben die Organisationen der Hafen-
und der Werftarbeiter sich zu einem Verband vereinigt, in
welchem alle am Schiffbau und in der Schiffahrt beschäf-
tigten Personen Aufnahme finden können.
Für die Verbindung der Organisationen durch Kartell-
verträge sind von verschiedenen Seiten Vorschläge und
Entwürfe gemacht worden. Von der Generalkommission
wurde ein Entwurf ausgearbeitet und veröffentlicht, der
alle die Punkte, auf welche sich die Kartellverträge be-
ziehen sollen, eingehend erläuterte. Nach diesem Vorschlag
sollen die Organisationen, die zu einem Kartell gehören,
sich beiStrikes, an denen mehr als 1 pCt. der Mitgliederzahl be-
theiligt sind, durch Gewährung von Baarmitteln als Darlehn
oder Geschenk gegenseitig unterstützen. Ausserdem soll für
das Kartell ein fester Strikefonds geschaffen werden, zu dem
jedes Mitglied pro Woche 5 Pf. zahlt. Aus diesem Fonds
wird, sobald er die Höhe erreicht hat, dass für jedes Mit-
glied der Kartellorganisationen 1 M. vorhanden ist, an die
im Ausstand befindliche Organisation für jeden Strikenden
ein Zuschuss von 5 M. pro Woche gezahlt. Ferner ist aus
diesem Entwurf noch hervorzuheben, dass für alle Organi-
sationen ein gemeinsames Fachorgan geschaffen werden
soll. Die Agitation ist gemeinschaftlich zu betreiben und
Reiseunterstützung in allen Zweigvereinen an alle Mit-
glieder der zum Kartell gehörenden Organisationen zu
zahlen. Die verausgabten Gelder sind zwischen den einzelnen
Organisationen zu verrechnen. Die Statistik ist in den
einzelnen Berufsorganisationen aufzunehmen und zusammen-
zustellen und dann von der Kartellleitung zu bearbeiten.
Die Leitung des Kartells übernimmt der Vorstand einer
Organisation, doch werden ihm Vertrauensmänner der andern
Berufsorganisationen zur Seite gestellt. Diesem Entwurf folg-
ten zwei ähnliche aber kürzer gehaltene von dem Vorstande
der Buchbinderorganisation und des Tischlerverbandes.
Der letztere Vorstand veröffentlichte auch gleichzeitig einen
Entwurf eines Statutes für einen Holzarbeiterverband und
stellte beides den Vorständen der Holzarbeiterorganisationen
zur Verfügung, um von dieser Seite etwaige Abänderungs-
vorschläge machen zu lassen. Ein im Frühjahr 1893 abzu-
haltender Holzarbeiterkongress soll dann den Entscheid
über die Gestaltung der Organisation treffen. Auch von
dem Vorstand des Müllerverbandes ist der Vorschlag ge-
macht, dass die Organisationen in der Nahrungsmittel-
industrie im nächsten Jahre einen gemeinschaftlichen Kon-
gress abhalten und hier die Einzelorganisationen auflösen
sollen, um sie zu einem gemeinsamen Verbände zu ver-
schmelzen. Alle diese Vorschläge werden von den Kon-
gressen und Generalversammlungen geprüft und entschie-
den werden.
Nach den Entscheidungen, die bis jetzt von Kon-
gressen getroffen worden sind, steht zu erwarten, dass
jedenfalls allgemein Kartellverträge abgeschlossen werden.
Die Generalversammlung der Buchdrucker (1 7000 Mitglieder)
beschloss, dass mit den Organisationen im graphischen
Gewerbe ein Kartellvertrag abzuschliessen ist, der mit dem
1. April 1893 in Kraft zu treten hat. Die Bestimmungen
in diesem Vertrage sind im Wesentlichen die, welche aus
dem Entwurf der Generalkommission kurz wiedergegeben
sind. Die Bildhauer (3000 Mitglieder) beschlossen auf der
Generalversammlung, gegenüber dem Abschluss von Kartell-
verträgen bis zum Holzarbeiterkongress eine abwartende
Stellung einzunehmen. Die Hutmacher (3000 Mitglieder),
Brauer (3000 Mitglieder), Posamentirer (530 Mitglieder),
Weissgerber (1700 Mitglieder) und Schiffszimmerer (1200
Mitglieder) beschlossen auf den Generalversammlungen
Kartelle in den einzelnen Berufsgruppen zu schaffen. Die
Weissgerber änderten ihr bisheriges Fachorgan zu einem
solchen der Lederindustrie um, doch wurde gleichzeitig
beschlossen, dieses Blatt nur so lange erscheinen zu lassen,
bis ein gemeinsames Organ für die Bekleidungs- und Leder-
industrie geschaffen sein wird. Die Maurer (13000 Mit-
glieder) beauftragten auf dem Verbandstage den Vorstand
der Organisation, bei passender Gelegenheit mit verwandten
Berufsorganisationen Kartellverträge abzuschliessen. Die
Fabrik- und gewerblichen Hilfsarbeiter (2000 Mitglieder)
erklärten auf der Generalversammlung, dass ein Abschluss
von Kartellverträgen für ihre Organisation nicht möglich
sei, weil dieses mit allen anderen Berufsorganisationen er-
folgen müsste, da in allen Berufen Hilfsarbeiter beschäftigt
werden. Im Uebrigen sollte jedoch an den Beschlüssen
des Gewerkschaftskongresses festgehalten werden. Auch
die Generalversammlung des Unterstützungsvereins der
Tabakarbeiter (16000 Mitglieder) beschloss, dass die Be-
schlüsse der von der Generalkommission einberufenen
Gewerkschaftskongresse für die Organisation bindend sein
No. 38.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
471
sollen. Die sämmtlichen genannten Organisationen be-
schlossen ferner, die Beiträge für die Generalkommisson
(pro Mitglied und Quartal 5 Pf.) aus den Verbandskassen
zu zahlen. Nach der Stellungnahme der Vorstände der
Organisationen, die noch keine Generalversammlung ge-
habt haben, sowie aus den Aeusserungen in den resp.
Fachorganen kann mit Sicherheit vorausgesetzt werden,
dass auch dort die Beschlüsse in gleichem oder ähnlichem
Sinne gefasst werden. So ist einerseits sicher, dass eine
feste Verbindung der einzelnen Berufsorganisationen er-
folgen wird, andererseits ist aber auch der Bestand der
Generalkommission gesichert. Der letzteren bleibt , wie
dies schon früher in dieser Zeitschrift betont worden ist, die
Aufgabe, statistische Aufzeichnungen besonders über die
Entwickelung der einzelnen Organisationen zu machen,
Agitation zur Ausbreitung der Gewerkschaftsorganisation
zu treiben und die Verbindung zwischen den einzelnen
Organisationen sowie mit dem Auslande zu unterhalten.
Wenn hier auch noch nicht das geleistet worden ist, was
wohl wünschenswerth wäre, so liegt das daran, dass diese
Kommisson , gebunden durch früher eingegangene Ver-
pflichtungen, die durch zu weitgehende Strikeunterstützung
verursacht wurden, sich noch nicht über eine bestimmte
Grenze hinaus bewegen kann, bevor diese Verpflichtungen
erfüllt sind. Immerhin sind Anfänge der Statistik ge-
macht und auch auf dem Gebiete der Agitation ist schon
manches geleistet worden.
Die Nothwendigkeit und Nützlichkeit einer Central-
stelle für gewerkschaftliche Angelegenheiten wird heute
unumwunden von allen grösseren Gewerkschaftsorgani-
sationen anerkannt und wird sich dieses Institut somit unter
der Beihilfe der Organisationen zu einem für die Arbeiter-
bewegung äusserst nutzbringenden entwickeln.
Ueber die Wirkung, die eine nähere Verbindung der
verwandten Berufsorganisationen erzeugen muss, ist gleich-
falls an dieser Stelle schon vor dem Stattfinden des Halber-
städter Kongresses gesprochen worden. Während dort je-
doch in Aussicht genommen war, dass diese Verbindung
eine feste Gliederung in Form einer, die verwandten Berufs-
organisationen umfassenden Union erhalten würde, hat sich
der Kongress zunächst dafür ausgesprochen, dass nur eine
Annäherung der Berufe durch die Kartellverträge erfolgen
soll. Im Grunde genommen, wird aber durch den Abschluss
von Kartellverträgen genau dasselbe erreicht werden, wie
durch die Unionsbildung. Der Unterschied liegt nur darin,
dass bei den Kartellverträgen den einzelnen Organisationen
ein grösserer Spielraum gelassen wird, als dies bei der
Bildung der Unionen der Fall wäre. Ferner wird hier nicht
noch eine besondere Körperschaft, die ausführende Gewalt
hat, eingesetzt, sondern es wird die Leitung des Kartells
mehr den Charakter einer Verwaltung tragen und bleibt
die ausführende Gewalt nach wie vor in Händen der ein-
zelnen Centralleitungen. Wenn dies vielleicht die Organi-
sation zu einem schnellen und exakten Handeln auch nicht
in dem Masse befähigen wird, wie dies bei der Union der
Fall sein würde, so fällt doch deren äusserst komplizirte
Verwaltung fort. Die weitere Entwickelung wird von selbst
entweder zur Unionirung der verwandten Berufsorganisa-
tionen oder zur Begründung von Industrieverbänden führen.
Da von den einzelnen Organisationen, wie wir gesehen
haben, mit regem Eifer daran gearbeitet wird, die Be-
schlüsse des Halberstädter Kongresses zur Durchführung
zu bringen, so können wir versichert sein, dass eine Stär-
kung der Gewerkschaftsorganisationen baldigst eintreten
wird. Diese ist aber unter allen Umständen nöthig, weil
nur durch starke gewerkschaftliche Organisationen die
Arbeitseinstellungen vermieden werden. Durch die Strikes
werden Unternehmer wie Arbeiter gleich geschädigt und
wäre es daher nur wünschenswerth, wenn sie möglichst
beschränkt würden. Dies wird aber nur geschehen, wenn
die Organisationen von dem Unternehmerthum anerkannt
werden. Sie müssen, da der einzelne Arbeiter bei dem
Abschluss des Arbeitsvertrages nahezu einflusslos ist, das
ökonomische Uebergewicht des Unternehmers paralysiren.
Nach den Erfahrungen, welche die Arbeiter mit den i
Unternehmern nach dieser Richtung hin gemacht haben
und täglich machen, sowie nach der Entwickelung der ge-
werkschaftlichen Organisationen in andern Ländern, lässt
sich aber mit Sicherheit behaupten, dass die Unternehmer
nicht geneigt sein werden, freiwillig die Organisationen
als Kontrahenten bei Festsetzung des Arbeitsvertrages an-
zuerkennen. Es muss diese Anerkennung von den Organi-
sationen erst errungen werden. So drehen sich thatsäch-
lich auch die meisten wirthschaftlichen Kämpfe um die
Anerkennung der Organisation. Ist diese erreicht, so werden
fortgesetzt die Arbeitsbedingungen in Bezug auf Lohnhöhe
und Dauer der Arbeitszeit den jeweiligen Verhältnissen
angepasst werden. Zweifellos ist, dass das kleine Unter-
nehmerthum und das Kleinhandwerk diesem Gange der
Entwickelung nicht wird folgen und auf dem Weltmarkt
nicht konkurrenzfähig bleiben können wird. Es werden
also diese Kämpfe oder Vereinbarungen wesentlich zur
Konzentration des Kapitals beitragen.
Es darf hier nicht versäumt werden darauf hinzu-
weisen, dass die den Gewerkschaften angehörenden Arbeiter
nicht ihr ganzes Heil in diesen suchen, sondern dass sie
parallel mit der Thätigkeit in denselben auch diejenige auf
politischem Gebiet sich denken und sie ausüben.
In diesen Ausführungen ist nur die rein materielle
Seite der gewerkschaftlichen Thätigkeit und besonders die
des Lohnkampfes hervorgehoben. Ideell und kulturell ist
die Thätigkeit der Gewerkschaften und die Wirkung einer
Arbeitseinstellung nicht zum mindesten geringer. Die ge-
werkschaftlichen Organisationen sind gleichsam als eine
Schule der Arbeiter zu betrachten und jede Stärkung der
Organisation muss diese erzieherische Wirksamkeit erhöhen.
Der Lohnkampf aber erzeugt und stärkt die Eigenschaften,
welche dem Arbeiter eigen sein müssen, um ihn zu be-
fähigen , eine Umgestaltung des heutigen Produktions-
prozesses herbeiführen zu können. So werden die Gewerk-
schaftsorganisationen, die anscheinend nur zu dem Zwecke
gebildet worden sind, um dem Arbeiter bessere Existenz-
bedingungen zu verschaffen, gleichzeitig zu einer Schule
und Bildungsstätte des Proletariats. Wird durch die in
Halberstadt erfolgte Verständigung die Leistungsfähigkeit
der Gewerkschaften gehoben, so ist dies gleichbedeutend
mit der Hebung der sittlichen Auffassung der Arbeiterklasse.
Hamburg. C. Legien.
Der englische Gewerkvereinskongress 1892.
Der englische Gewerkvereinskongress hat vom 5. bis
11. .September in Glasgow getagt. Es ist das 25. Mal, dass
das Arbeiterparlament, wie man diese jährlichen Verhand-
lungen in England zu nennen pflegt, zusammengetreten ist,
und vor Jahren schon hat die Times einmal geschrieben,
dass seine Tagung für das Wohl und Wehe Englands
während des kommenden Jahres von grösserer Bedeutung
sei, als das des Hauses von St. Stephens. Mit Spannung
verfolgt der Industrielle wie der Politiker die Stimmungen
und Tendenzen, die da hervortreten. Jener sucht nach
Wahrzeichen, die Krieg oder Frieden für ihn bedeuten,
Dieser nach den Anzeichen auf tauchender Programmpunkte,
zu denen er Stellung nehmen muss, und die, je nachdem
er sich mit ihnen abfindet, oft über seine ganze politische
Carriere entscheiden. Indess sind es gerade die der eng-
lischen Arbeiterklasse näher stehenden Blätter, welche von
dem diesjährigen Kongresse sagen, er sei weniger interessant
gewesen, wie seine unmittelbaren Vorgänger. Wir wollen
sehen mit welchem Recht.
Doch zuvor etwas über das äussere Leben des Kon-
gresses. Der Zahl der Gewerkvereinsdelegirten wie der
Zahl der angeblich vertretenen Arbeiter nach war er, wie
es scheint, der Drittgrösste aller bisherigen Kongresse. In-
dess hat die Angabe, dass 1 Va Millionen Arbeiter in Glasgow
vertreten waren, keinen grossen Werth; denn diese Ziffer
erheischt bedeutende Abzüge, da nach der diesmal noch
472
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No 38.
geltenden Geschäftsordnung die doppelte und dreifache
Vertretung von Tausenden von Arbeitern möglich war.
Allein eigentlich ist es ganz verkehrt, die Mitgliederzahl
der vertretenen Gewerkvereine überhaupt zu nennen. Denn
nicht in dieser erschöpft sich deren Bedeutung. Die richtige
Statistik wäre, die Zahl der Gewerbe zu nennen, denen die
vertretenen Vereine angehören. Denn der Einfluss der
letzteren wird nicht durch ihre jeweilige Mitgliederzahl be-
stimmt. Diese ist schwankend und in einigen Gewerben
abhängig vom Auf- und Niedergang des Gewerbes. Allein
in jedem Gewerbe, in dem ein Verein besteht, ist er mass-
gebend nicht blos für die Arbeitsbedingungen seiner Mit-
glieder, sondern auch seiner Nichtmitglieder; und bei Ar-
beitsstillständen erhalten neuerdings häufig nicht nur die
Ersteren, sondern auch die Letzteren eine, wenn auch ge-
ringere Unterstützung.
Somit sind die Gewerkvereine heute nicht blos als
die Organisationen der zu ihnen Gehörigen, sondern aller
Arbeiter des betreffenden Gewerbes anzusehen. In diesem
Licht erscheinen sie auch den Engländern. Bezeichnend
hierfür war der Empfang, den die Stadt Glasgow, die zweite
Stadt des britischen Reichs, dem Kongress zu Theil werden
liess. Als der Kongress i. J. 1875 zum ersten Mal in Glas-
gow7 tagte, ging es ihm noch wie unseren Arbeiterkon-
gressen, die man besten Falls mit Misstrauen duldet. Wie
schon die Korporation der Städte, in denen der Kongress in
den vorhergegangenen Jahren getagt hat, so hat diesmal die
von Glasgow' den Kongress durch ihre offiziellen Vertreter
bewillkommen lassen und ihm glänzende Feste bereitet.
„Der Bailli Graham“, so meldet der Bericht, „erklärt im
Namen der Korporation, dass er es als eine Ehre ansehe,
welche der Stadt durch das Tagen des Gewerkvereins-
kongresses erwiesen worden sei.“ Und so denkt nicht etwa
blos Glasgow. Als es sich am Schlüsse der Verhandlungen
darum handelt, den Ort der nächstjährigen Tagung festzu-
stellen, da sind es die Stadtverwaltungen der verschiedesten
Städte des Reichs, die sich um diese Ehre für das nächste
Jahr bewerben. Die von Norwich verspricht einen Empfang
seitens des Munizipiums und die berühmte alte Halle von
St. Andrews als Versammlungsort, Belfast Alles ausser dem
königlichen Glanz des Empfangs von Glasgow; ähnlich
schreiben Cardiff in Wales und die alte Cottonopolis Man-
chester. Welche Gänsehaut mag den deutschen Philister
bei solcher Nachricht überlaufen ! Allein er hat sich in der
letzten Zeit ja schon an Manches Zeichen des Weltunter-
ganges aus England gewöhnen müssen.
Warum erschien der Tagespresse der diesjährige Kon-
gress von geringerem Interesse als die vorangegangenen
von Newcastle und Liverpool? An diesen Orten handelte
es sich um die grosse Auseinandersetzung zwischen den
alten und neuen Gewerkvereinen. Sollte die von den Neuen
gepredigte Methode des enthusiastischen Stürmens die be-
rechnende Geschäftsklugheit der Alten verdrängen oder
nicht? Davon hing nicht blos die Zukunft des Gewerk-
vereinswesens, sondern die des Landes ab. Dazu kam, dass
die Parlaments wählen noch bevorstanden, und gar manche
Kandidaten angstvoll ausschauten, nach welcher Seite sie
die Fahne heraushängen sollten. Heute kann der Parla-
mentarier ohne Sorge für seinen Sitz Hühner in Schottland
abknallen oder in Norwegen fischen. Jener Auseinander-
setzung aber ist theils durch das mit dem wirtschaftlichen
Niedergang eingetretene Verschwinden oder Herabgehen
mancher turbulenter neuer Gewerkvereine, theils durch
eine äusserst bemerkensw'erthe Aenderung der alten in der
zur Zeit praktischsten Frage, welche die beiden Lager
trennte, die Spannung genommen worden. Nach beiden
Richtungen hin bedeutet der diesjährige Kongress einen
Abschluss und neuen Ausgangspunkt; und zwei Arten von i
Beschlüssen, die er gefasst hat, erscheinen uns durch die
weittragende Wirkung, die ihnen zukommt, von viel
grösserer Wichtigkeit als die vielleicht glänzenderen Reden
und jedenfalls aufregenderen Szenen von Liverpool und
Newcastle.
Die eine Art dieser Beschlüsse sind diejenigen, durch !
welche der Kongress zum ersten Male seine Organisation !
regelt. Es ist unglaublich aber wahr, dass dieser Kongress, dem
sein diesjähriger Präsident nachrühmen konnte, das er einige
50 Gesetze, welche die englische Gesetzsammlung aufweist,
veranlasst habe, bisher aller Sicherheit dafür entbehrte,
dass die in ihm auftretenden Delegirten sehr viel mehr
vertreten als sich selbst. Jede noch so kleine Gewerk-
vereinsorganisation, jede Organisation eines wirthschaftlich
noch so unerheblichen Gewerbes, jedweder nationale Ver-
band verschiedener Vereine eines und desselben Gewerbes
und jeder Ortsverband der Vereine verschiedener Gewerbe,
ja jedweder Zweig eines und desselben Gewerkvereins
konnte bisher Delegirte, und zwar beliebig viele, zum Kon-
gresse entsenden, und jeder dieser Delegirten hatte Sitz
und Stimme und so viel Einfluss, als er sich persönlich
verschaffen konnte. Daher jene doppelte und mehrfache
Vertretung eben derselben Arbeiter und jene Unmöglichkeit
einer klaren Statistik der Vertretenen, die oben berührt worden.
Daher aber auch, dass plötzlich Delegirte eines Gewerk-
vereins von Holzhackern an diesem oder jenen obskuren
Orte, von dem niemand bisher etwas gewusst hatte, auftraten
und, oft durch ihre Reden, meist freilich nur durch ihre
Stimmen einen ebensolchen Einfluss auf die Kongress-
beschlüsse übten wie die Delegirten der gefestigten
Vereine der Stapelindustrien des Landes. In Liverpool
hatten die alten Vereine die Folgen dieser weitgehenden
demokratischen Weitherzigkeit zu tragen gehabt. Solche
Delegirte von Vereinen, die wie Pilze während des wirt-
schaftlichen Aufschwungs aufgeschossen waren, die bis
dahin Niemand gekannt hatte, und die keinen Pfennig
beigesteuert hatten und beisteuerten zu den Kosten der
Ausführung der Beschlüsse, die sie beeinflussten, hatten
wesentlich dazu beigetragen, dass der alte solide Grund-
stock der Gewerkvereine, die Baumwollspinner und -weber,
die Bergleute, die Hüttenleute und Maschinenbauer in den
wichtigsten Fragen überstimmt wurden. Es wurde damals
sogar behauptet, dass dieser oder jener Verein, dessen
Delegirte das grosse Wort führen wollten, gar nicht
existirte. Dies hatte eine für die englische Arbeiterklasse
gefährliche Krisis zur Folge. Die Arbeiter der Baumwoll-
industrie drohten ernstlich mit Sezession, wenn nicht die
Vertretung entsprechend der Bedeutung und Verantwort-
lichkeit der Vereine geordnet würde. Wären sie ausge-
treten, so wäre ihnen die grosse Anzahl der bedeutendsten
übrigen Vereine gefolgt. Kein Zweifel, dass damit der
Einfluss des „Arbeiterparlaments“ annullirt worden wäre.
So wurde denn der permanente Ausschuss des Kongresses
mit der Ausarbeitung eines Vertretungssystems und einer
Geschäftsordnung des Kongresses beauftragt. Die wich-
tigsten Bestimmungen sind diejenigen, durch welche Per-
sonen als Vertreter eines Gewerkvereins ausgeschlossen
werden, welche nicht als Arbeiter in dem von ihnen ver-
tretenen Gewerbe arbeiten oder gearbeitet haben, und
deren Kosten nicht durch die von ihnen vertretenen Vereine
getragen werden, — eine gegen die Einschmuggelung von
Politikern und Literaten als Gewerkvereinsvertreter ge-
richtete Regel; ferner Noth-Gewerkvereine, gleichviel unter
welchem Namen sie bekannt sein mögen, sollen berechtigt
sein, für je 2000 Mitglieder und jeden Bruchtheil darüber
einen Delegirten zu senden, vorausgesetzt, dass sie wäh-
rend des verflossenen Jahres 1 Lstr. für je 1000 Mitglieder
und jeden Bruchtheil darüber zu den Kosten des perma-
nenten Ausschusses und 10 sh. für jeden entsendeten Dele-
girten zu den Kosten des Kongresses beigesteuert haben
und ihren Namen und Adresse 14 Tage vor der Tagung
des Kongresses eingesendet haben; keine Gesellschaft soll
zur Entsendung von Delegirten berechtigt sein, die diesen
Bestimmungen nicht entsprochen hat. Gewerkvereins-
verbände und ähnliche Organisationen, die aus einer An-
zahl von Zweigen oder Gewerben bestehen, sollen Delegirte
senden und zu den Kosten heraimezogfen werden und für
jene ihrer Mitglieder, welche nicht direkt durch besondere
Gewerkvereinsorganisationen vertreten sind.“ Dies ist die
Form, in der die neue Ordnung wirklich beschlossen wurde.
Damit sind nicht blos alle Eintagsfliegen und Schein-
existenzen unter den Gewerkvereinen, sondern auch die
No. 38.
soziAi.i’oi.ms« :hes < ikntralbtatt.
473
mehrfache Vertretung derselben Gewerkvereinler für die
Zukunft ausgeschlossen. Von dem nächsten Kongresse ab
wird es nun auch möglich sein, rcine genaue Statistik der
aut dem Kongresse vertretenen Gewerkvereinler aufzu-
stellen.
Da der wirthschaftliche Niedergang eine Anzahl neuer
Gewerkvereine lahm gelegt hat und einige der Hauptwort-
führer der neuen Gewerkvereinsbewegung, — sogar John
Burns, der kein Mandat als Delegirter erlangt hatte, — auf
dem Kongresse fehlten, ging die Neuerung glatt durch.
Ueberhaupt waren es wieder die alten Gewerkvereine, die
dem Kongress das Gepräge gaben. Um so mehr fällt die
Annäherung der alten Gewerkvereine an einen wichtigen
Programmpunkt der neuen in’s Gewicht, welche sich in
einer anderen Art von Kongressbeschlüssen zeigte. Ich
meine die Beschlüsse zu Gunsten einer Einführung des
Achtstundentags durch die Gesetzgebung. Nur die Ma-
schinenbauer und die Bergleute von Durham und Northum-
berland stehen derselben nach wie vor feindlich ent-
gegen. Dagegen haben sich die früheren heftigsten Gegner
derselben , die Arbeiter der Baumwollindustrie zu
derselben bekehrt , und der ausgezeichnete Sekretär
der Spinner, Mawdsley, das Ehrenmitglied des kon-
servativen Constitutional Club in London , hat sogar
den Antrag gestellt. Zwar besteht noch eine Ver-
schiedenheit zwischen den von ihm vertretenen Gewerk-
vereinlern und den übrigen Anhängern des gesetzlichen
Achtstundentags hinsichtlich der Taktik, wie die Ein-
führung zu erlangen sei. Mawdsley befürwortet denselben
für alle Gewerbe, in denen die Mehrheit der Arbeiter
seine Einführung verlangt; die Uebrigen befürworten ihn
für alle Gewerbe ausser denen, in welchen die Mehrheit
der Arbeiter ihn ausdrücklich ablehnt. Die Letzteren hatten
auf dem Kongresse die Mehrheit; die Ersteren dürften im
Publikum und Parlament am ehesten durchdringen. Wahr-
scheinlich, dass für die Bergleute, für welche der Kongress,
eigentlich im Widerspruch zu seinem allgemeinen Beschlüsse,
noch in einer besonderen Resolution den gesetzlichen Acht-
stundentag verlangte, die Einführung desselben innerhalb
der nächsten Jahre vom Parlament beschlossen wird.
Was bedeutet nun der Uebergang der ökonomisch
so vorsichtigen und ihren Vortheil so ausgezeichnet ver-
stehenden Baumwollarbeiter Lancashire’s zum gesetzlichen
Achtstundentag, den sie noch vor 2 Jahren so heftig
bekämpften?
Von einem Uebergang zur Sozialdemokratie kann dabei
keine Rede sein. Der von dem londoner Schneider James
Macdonald diesmal wie alle Jahre gestellte Antrag zu Gunsten
einer Verstaatlichung der Produktion wurde wie alle Jahre
so auch diesmal abgelehnt. Wie wenig aber speziell der
Beschluss über den Achtstundentag mit sozialdemokratischen
Ideengängen zu thun hat, zeigen die Vorgänge gerade bei
Fassung der übrigen Beschlüsse, welche seine Einführung
bezwecken. Es wurde der Antrag gestellt, der permanente
Ausschuss möge einen internationalen Kongress zur Durch-
führung des gesetzlichen Achtstundentags in allen Ländern
berufen. Da stellte ein londoner Sozialdemokrat das Amende-
ment, der permanente Ausschuss möge statt dessen an dem
internationalen Arbeiterkongress, der 1893 in Zürich statt-
finden soll, theilnehmen und die einzelnen örtlichen Gewerk-
vereine zur Betheiligung an demselben veranlassen. Sofort
erhob sich David Holmes aus Burnley, einer der einfluss-
reichsten Männer unter den Baumwollarbeitern und über-
zeugter Konvertit zum Achtstundentag. Er sah in der Ein-
ladung nach Zürich den Versuch, die britischen Gewerk-
vereine ins sozialdemokratische Lager überzuführen. Seine
energische Rede beseitigte das Amendement, und die wenigen
Sozialdemokraten des Kongresses wurden mit Leichtigkeit
niedergestimmt.
Nein; nichts wäre verkehrter, als der Arbeitszeit-
politik der englischen Baumwollarbeiter andere Gesichts-
punkte als die ihres nächsten eigenen Interesses unterzu-
schieben. Sie stehen heute noch, wie vor zwei Jahren,
unter der Sorge, dass die Herrschaft der Baumwollindustrie
Lancashires auf dem Weltmarkt ernstlich bedroht sei. Vor
zwei Jahren waren sie gegen den Achtstundentag; es war
noch die Zeit des Aufschwungs; von dem Achtstundentag
befürchteten sie, er werde ihre Stellung gegenüber den mit
ihnen scharf konkurrirenden, länger arbeitenden Ländern
gefährden. Seitdem ist der Niedergang eingetreten, und
nicht nur erwartet man für die nächsten Jahre eine weitere
Depression, man sieht als Folge der kontinentalen und in-
dischen Baumwollverarbeitung eine permanente Ueber-
produktion voraus, die den Arbeiter Lancashires seiner er-
oberten hohen Lebenshaltung berauben könnte. Nun will
man es mit dem angepriesenen Mittel zur Verhinderung
der Ueberproduktion und Beseitigung der Arbeitslosigkeit
versuchen. Aber nicht nur in England soll der Acht-
stundentag gesetzlich eingeführt werden, sondern in allen
Ländern, die konkurriren, und einstimmig wurde ein
Amendement angenommen, wonach der Kongress, der
dies herbeiführen soll, nicht erst am 1. Mai 1893, sondern
sofort zu berufen ist.
Ob das die letzte Meinungsänderung der englischen
Baumwollarbeiter sein wird? Ihre gegenwärtige Argumen-
tation lässt sehr grosse Bedenken übrig. Da geht im
Augenblick der Bericht des Herrn Allan, Eigenthümer einer
Maschinenfabrik in Sunderland, durch die englischen Zei-
tungen, der als Folge der Einführung des Achtstundentags
eine Mehrleistung seiner Arbeiter konstatirt. Kein Zweifel,
dass die Herabsetzung des Arbeitstages unserer überarbei-
teten kontinentalen Arbeiter, wenn auch nicht plötzlich auf
8 so doch zunächst auf 10, später auf 9 u. s. w. die Leistungs-
fähigkeit der Konkurrenten Lancashires erheblich steigern
würde. Die Ueberproduktion würde alsdann eine noch
grössere. Aber nur zum Theil wird der Ausfall an Arbeits-
zeit bei ihrer LIerabsetzung durch Steigerung der Arbeits-
leistungen gut gemacht. Der Rest wird ausgeglichen durch
verbesserte Maschinen. Dies ist ja das Geheimniss der Ent-
wickelung der englischen Industrie im Zusammenhang mit
dem Fortschreiten der Fabrikgesetzgebung. Dieses Ge-
heimniss heisst aber auch der Untergang von so und so
viel Unternehmen, die den Fortschritt nicht mitmachen
können. Ich trauere gewiss keinem Unternehmen nach,
dass seine Konkurrenzfähigkeit nur mittelst elender Arbeits-
bedingungen erhält. Aber, man sehe doch der Wirklichkeit
herzhaft ins Gesicht: zunächst heisst dies nicht Minderung
sondern Steigerung der Zahl der Arbeitslosen. Und denn'
kommt wieder einmal eine Zeit des Aufschwungs. Mehr
Arbeit wie früher wird verlangt. Der gesetzliche Acht-
stundentag verhindert die vorübergehende Steigerung durch
vorübergehendes Ueberzeitarbeiten. Um der Nachfrage zu
genügen, werden nun Arbeiter aus anderen Beschäftigungen
herangezogen. Dann erfolgt der Rückschlag, und die Re-
servearmee des Industriezweigs ist grösser denn je. Da
aber nicht die Arbeit der Beschäftigten sondern die Zahl
der Beschäftigungslosen, die sie ersetzen können, die Ar-
beitsbedingungen der Ersteren bestimmt, giebt es nun
keinerlei Schranken in der Verschlechterung der Arbeits-
bedingungen.
Das sind die Gesichtspunkte, aus denen die Maschinen-
bauer und die Bergleute von Durham und Northumberland,
die selbst nur 8 Stunden und weniger arbeiten, an ihrer
Politik, im Aufschwung den Arbeitstag zu verlängern, im
Niedergang ihn herabzusetzen, festhalten. Da es wahr-
scheinlich zu einem gesetzlichen Achtstundentag für die
englischen Bergleute kommt, wird sich Gelegenheit bieten,
praktisch zu erproben, wer Recht hat. Denn werden die
Baumwollarbeiter Lancashires ihre Meinung vielleicht aber-
mals ändern.
Ich kann nicht mehr bei den übrigen Beschlüssen des
Kongresses verweilen, so sehr es mich reizen würde, da
und dort einen Vergleich mit Deutschland zu ziehen. Wie
bezeichnend z. B. der einstimmige Beschluss, die Regierung
aufzufordern, keine mittellosen Fremde weiter ins Land zu
lassen, dagegen die Ablehnung eines Antrags auf Beschrän-
kung der Zufuhr fremder Waaren mit der Motivirung, dass
alsdann auch die Zufuhr von Korn beschränkt werden
könnte, ln gewissen Ländern des Schutzes der nationalen
Arbeit beschränkt man die Zufuhr von Korn und fremder
474
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 38.
Waaren, hebt dagegen die Gesetze auf, welche die Ein-
Wanderung russischer Arbeiter ausschliessen, und die Ar-
beiterpresse begrüsst dies, obwohl die Eingewanderten die
Arbeiterorganisationen desorganisiren und die Hebung der
Arbeitsbedingungen verhindern! Doch der interessanten
Gegensätze giebt es zu viel, um sie alle zu erwähnen.
Daher nur noch Eines: Der Bergmann Fenwick hat zwar
in seiner Eigenschaft als Sekretär des permanenten Aus-
schusses die Beschlüsse des vorjährigen Congresses betreff
den Achtstundentag pflichtgemäss zu fördern gesucht, im
englischen Parlament aber, in Uebereinstimmung mit seinen
Wählern, gegen den gesetzlichen Achtstundentag für Berg-
leute nicht nur gestimmt sondern gesprochen. Er wurde
deshalb von dem Kongresse heftig zur Rechenschaft ge-
zogen. Er betonte, dass er durch Uebernahme des Sekre-
tariats nur die Erfüllung der ihm gegenüber dem Kongresse
obliegenden Pflichten übernommen , auf das Recht der
freien Meinungsäusserung aber nicht verzichtet habe, und
der Kongress, der sich nun schon zum dritten Male für den
gesetzlichen Achtstundentag ausgesprochen hat, lehnte das
gegen ihn gerichtete Tadelsvotum nicht nur ab, sondern
wählte ihn aufs Neue zum Sekretär für das kommende
Jahr. Man sieht, bei den englischen Arbeitern hat die
Orthodoxie noch keine Aussicht, die Einzelnen und die
Entwicklung zu knechten!
München. Eujo Brentano.
Deutscher Buchdruckertarif. Der Widerspruch der
berliner und anderer Prinzipale gegen die einseitige Re-
duktion des Tarifs hat die Leitung des Deutschen^Buch-
druckervereins (Leipzig) zum einlenken veranlasst, er publi-
zirt m Folge dessen die folgende Bekanntmachung: „Der
untei zeichnete \ orstand hat beschlossen, den bisherigen
larit bis zum 31. Dezember 1892 in Geltung zu belassen
und fordert die Mitglieder hierdurch auf, denselben bis zu
dem erwähnten Zeitpunkt anzuerkennen und durchzuführen.
Wegen der künftigen Gestaltung des Tarifs und der zu
diesem Zweck einzuberufenden Versammlungen behalten
wir uns weitere Mittheilungen vor. Leipzig, den 5. Septem-
ber 1892. Der Vorstand des Deutschen Buchdruckervereins
(Unterschriften).“
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Schutzvorschriften für Arbeiter an Eisensteinröstöfen.
Das König], Oberbergamt in Bonn hat unterm 26. Juli d. J.
eine Bergpolizeiverordnung zur Verhütung von Unfällen bei
dem Betriebe von Eisensteinröstöfen erlassen. Danach muss
der Gichtplatz (Ort zum Einschütten der Eisensteine) frei-
stehender Oefen mit einer dauerhaften Einfriedigung derart
versehen sein, dass die dort beschäftigten Arbeiter gegen
Absturz nach aussen gesichert sind. Bevor mit dem Ziehen
( Ablassen) eines Ofens begonnen wird, müssen die auf der
Gicht desselben befindlichen Arbeiter durch Zeichen oder
Zuruf hierauf aufmerksam gemacht werden. Andere Vor-
schriften betreffen das Betreten des Gichtplatzes und der
Beschickungsmasse. Wenn solche selbstverständliche Dinge
durch oberbergamtliche Verordnung erst vorgeschrieben
werden müssen, wie mag es dann auf den Rosthütten bezüg-
lich der Unfallverhütung und Anderem aussehen.
Dienstbotengesetz in Rumänien. Am 28. Juni d. J. ist
für das Königreich Rumänien ein Dien.stbotengesetz ~pro-
mulgirt worden, das folgende wesentliche Bestimmungen
enthält. Für Dienstboten jeder Art wird ein obligatorisches
Arbeitsbuch eingeführt, das bei „schlechter Führung“ ent-
zogen werden kann. Jedoch darf der Dienstgeber, bei dem
ein Dienstbote austritt, „unter keinem Vorwände die Aus-
folgung des Buches verweigern“. Die Kündigungsfrist für
beide Theile ist, wenn nichts Besonderes ausgemacht ist,
die gleiche, 15 Tage in der Stadt, 25 Tage auf dem Lande. Der I
Dienstbote kann ohne Kündigung nur austreten, wenn ihm der
Lohn verweigert wird, wenn der Dienstgeber seinen Wohn-
sitz verlegt und wenn er durch Krankheit dienstunfähig
wird. Jedoch gehört hierzu Benachrichtigung und schrift-
Jiche Ermächtigung der Polizei. Der Dienstherr dagegen
kann den Dienstboten aus einer weit grösseren Reihe von
Gründen entlassen, die namentlich die Leistungen des Dienst-
boten betreffen , sowie ohne Ermächtigung der Behörde.
Der Dienstbote soll sich „im Dienste nicht besaufen“, sowie
ohne Erlaubnis des Herrn keine Freunde empfangen oder
bewirthen, auch seine Werthgegenstände „in der Wohnung
des Dienstgebers halten“. Bei „triftigem“ Verdacht kann
der Herr die Habe des Dienstboten durchsuchen. Im Uebrigen
wird ihm vorgeschrieben, den Dienstboten „milde zu behan-
deln“, ihm Lohn, Kost und Logis unverkürzt und pünktlich
zu gewähren, „ihm in durch den Dienst bewirkten (!) Er-
krankungsfällen behilflich (!) zu sein, dass er wieder gesund
werde“, endlich ihm bei grundloser Entlassung 15- bezw.
25 tägigen Lohn zu zahlen. Nachahmenswerth für westliche
Staaten wäre das schnelle Verfahren, welches für Dienst-
botenstreitigkeiten angeordnet wird und bei dem uns die
Schriftlichkeit auffällt. Jeder I heil, der sich über den anderen
zu beschweren hat, muss schriftlich bei der Polizei rekla-
miren, und diese hat nach vergeblichem Sühneversuch ihr
Protokoll dem Gericht des betreffenden Bezirks „in höchstens
24 Stunden“ einzuliefern. Diese Gerichte aber haben „inner-
halb 48 Stunden“ zu entscheiden, und zwar endgiltig. Die
Verurtheilung des Dienstboten wird in sein Arbeitsbuch
eingetragen. Das ist wieder eine weniger empfehlenswerthe
Vorschrift.
Arbeiterversicherung.
Der Grundfehler des Verfahrens zur Feststellung von
Unfallentschädigungen.
Bei unbefangen Urtheilenden herrscht schon längst
kein Zweifel mehr daran, dass die jetzige Art der Fest-
stellung der Unfallentschädigungen durch die Berufsge-
nossenschaften zu vielerlei Bedenken Veranlassung giebt.
Auch in dieser Zeitschrift ist dieser Gegenstand bereits
mehrfach berührt worden. Indess scheint es mir, als ob
gerade der Kernpunkt der ganzen Sache — der eigentliche
Grundfehler des heutigen Verfahrens — doch noch nicht
mit genügender Schärfe und Klarheit hervorgehoben
worden sei. Wie die gesammte Unfallversicherungsgesetz-
gebung an der Zurücksetzung der Versicherten, der Ar-
beiter, leidet, so auch besonders das Verfahren der Ent-
schädigungsfeststellung. Die Feststellungen erfolgen zu
Gunsten, gelegentlich auch zu Ungunsten der Arbeiter ohne
jede Mitwirkung ihresgleichen lediglich durch Arbeitgeber
und deren Beauftragte. Es liegt daher in der Natur der
Sache, dass die Arbeiter zunächst fast ausnahmslos von
Misstrauen gegen diese Feststellungen erfüllt sind. Der
Verletzte fühlt sich sofort als Partei und sieht in dem be-
rufsgenossenschaftlichen Feststellungsorgan seinen natür-
lichen Gegner, der ihn so viel benachtheiligen möchte, wie
er nur irgend kann. Jeder, der einmal praktisch mit Unfall-
entschädigungssachen zu thun gehabt hat, wird dies fort-
während herausgefühlt haben, und hat er aus mitfühlendem
Herzen für die Verunglückten heraus versucht, dieses
Misstrauen zu zerstreuen, so wird er fast stets die schmerz-
lichsten Erfahrungen gemacht haben. Auch die redlichsten
Bemühungen im Interesse der Verletzten seitens einzelner
Mitglieder oder Beamten der Berufsgenossenschaften werden
in der Regel missverstanden. Persönliche Besuche, die aus
wirklicher Theilnahme entspringen, werden einfach für
Spionage erklärt. Bemühungen, den Rentenempfängern
Arbeit zu verschaffen, werden von vornherein nur als Ver-
suche angesehen, die Rente zu kürzen. Ja, selbst das auf-
richtige Bestreben, den Verletzten wieder zu ihrer völligen
Gesundheit zu verhelfen, wird häutig missdeutet. Genug,
Misstrauen auf Schritt und Tritt! Höchst selten Entgegen-
No. 38.
SOCIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
475
kommen und Vertrauen! Ich brauche nicht erst ausein-
anderzusetzen, wie sehr gerade derartige Erfahrungen ge-
eignet sind, wirklich arbeiterfreundlichen Elementen die
Thätigkeit für die Berufsgenossenschaften zu verleiden, und
wie so die Berufsgenossenschaften Gefahr laufen, immer
mehr das zu werden, wofür sie den Arbeitern von vorn-
herein gelten: zu einfachen Unternehmerverbänden, die in
erster Linie die Interessen der Unternehmer zu wahren
suchen und auch ihrerseits in dem Arbeiter nur den Gegner
sehen. Doch selbst hiervon ganz abgesehen, steht auch im
Uebrigen das geschilderte Verhältniss der Versicherten zu
den versichernden Verbänden jedenfalls dem entgegen, die
Unfallversicherung zu der wohlthätigen Einrichtung werden
zu lassen, die sie bei gegenseitigem Vertrauen sein könnte.
Es ist nur natürlich, dass bei dieser Sachlage die Zahl
der Berufungen gegen die Feststellungsbescheide ausser-
ordentlich gross ist. Weiss doch der Arloeiter, dass in dem
angerufenen Schiedsgericht auch die Versicherten ein Wort
mit zu reden haben, was bei der berufsgenossenschaftlichen
Feststellung nicht der Fall war; und hat er doch den
natürlichen Wunsch, seine Sache von seinesgleichen be-
urtheilt zu sehen! Wären daher auch die ersten Fest-
stellungsbescheide im Allgemeinen noch so gerecht und
unangreifbar, so würde doch die Anzahl der Berufungen
nicht in dem w ü nsc h e nswerthen Masse abnehmen. Es giebt
nur ein Mittel, das zu diesem Ziele führen kann, und das
ist, die Versicherten bereits bei dem eigentlichen Fest-
stellungsverfahren zu Worte kommen zu lassen. Die Un-
fallversicherungsgesetze müssen also dahin abgeändert
werden, dass Vertreter der Versicherten in den Fest-
stellungsorganen der Berufsgenossenschaften Sitz und
Stimme erhalten.
Will man durchaus nicht so weit gehen, den Arbeitern
Einfluss auf die eigentliche Verwaltung der Berufsgenossen-
schaften zu geben, weil ja die Unternehmer die Kosten der
Versicherung allein zu tragen haben, so lasse man sie
wenigstens bei den Entschädigungsfeststellungen mitwirken.
Selbst vom reinen Unternehmerstandpunkt aus ist diese
Reform in keiner Weise irgendwie bedenklich; sie ist viel-
mehr nur die Konsequenz der Rechte, die den Versicherten
jetzt schon eingeräumt worden sind. Denn es ist gar nicht
einzusehen, weshalb die Arbeiter nicht bereits bei den Ent-
scheidungen der ersten Instanz mitsprechen sollen, wenn
sie doch in den höheren Instanzen — den Schiedsgerichten,
den Landes- Versicherungsämtern und dem Reichs- Versiche-
rungsamt — einen formell den Unternehmern gleichen Ein-
fluss haben. Müssen ferner bei den Berathungen von Un-
fallverhütungsvorschriften Arbeitervertreter hinzugezogen
werden, warum nicht auch bei der Entscheidung von Ent-
schädigungsansprüchen? Ihre Befähigung zur Recht-
sprechung haben die Arbeitervertreter in den Schiedsge-
richten und im Reichs-Versicherungsamt bereits glänzend
bewiesen; die Unparteilichkeit und Gerechtigkeitsliebe,
die sie hier durchgängig gezeigt haben, hat allgemein An-
erkennung gefunden. Die Hilfe von Arbeitervertretern bei
den Entschädigungsfeststellungen kann daher den Berufs-
genossenschaften nur angenehm sein. Das ganze Verfahren
muss nothwendig dadurch gewinnen, das Vertrauen der
Versicherten wird geweckt und in vielen Fällen das Be-
schreiten des weiteren Rechtswegs verhütet werden. Der
Versicherte findet alsdann seine natürlichen Berather in
den Arbeitervertretern, die an der Feststellung theilge-
nommen haben, und entgeht so der Gefahr, Winkeladvo-
katen in die Hände zu fallen — somit sich selbst, den Be-
rufsgenossenschaften und allen sonst Betheiligten mancherlei
Widerwärtigkeit und unnütze Arbeit und Kosten ersparend.
Allen Theilen erwachsen also nur Vortheile, Niemandem
Schaden.
Die gesetzgeberische Gestaltung dieses Gedankens
wäre äusserst einfach, da ja die Arbeitervertreter schon
vorhanden sind. Es brauchten nur die näheren Bestim-
mungen darüber getroffen zu werden, dass und wie diese
bei den Entschädigungsfeststellungen mitzuwirken haben.
Die Novelle zu den Unfallversicherungsgesetzen, welche
dem Reichstag demnächst vorgelegt werden soll, scheint
leider die hier vorgeschlagene Reform nicht zu bringen.
Auch die aus dem Reichstage heraus bisher erfolgten An-
regungen zur Fortbildung der Unfallversicherungsgesctz-
gebung sind sehr auf der Oberfläche geblieben. Die Hoff-
nung auf baldige Verwirklichung der hier dargelegten
Gesetzesverbesserung ist daher nur sehr gering — es sei
denn, dass der Gedanke noch jetzt von irgend einer ein-
flussreichen Seite thatkräftig aufgenommen wird.
Friedenau-Berlin. Ernst Lange.
Krankenversicherung der Dienstboten in Deutschland.
Eine Art Umschwung hat sich erfreulicher Weise,
wie es scheint, an massgebender Stelle in Preussen in den
Ansichten über die Nothwendigkeit der obligatorischen
Krankenversicherung für Dienstboten vollzogen. Noch
während der Session des deutschen Reichstags Anfangs 1891
nahmen die Vertreter der Regierung in der Kommission
zur Vorberathung der Krankenkassennovelle einen durch-
aus ablehnenden Standpunkt zu dem Anträge ein, die
Krankenversicherung der Dienstboten reichsgesetzlich zu
regeln. Seite 3 des betreffenden Kommissionsberichts (No. 381
der Reichstagsdrucksachen) heisst es, dass „seitens der Ver-
treter der verbündeten Regierungen auf die grosse Schwie-
rigkeit der Regelung dieser Frage hingewiesen wurde. In
allen deutschen Bundesstaaten sei in irgend einer Weise
durch Landesgesetz die Krankenfürsorge für Dienstboten
geregelt, und es sei bedenklich, in diese Regelung, die in
den verschiedenen Staaten eine sehr verschiedene sei,
durch eine allgemeine reichsgesetzliche Regelung einzu-
greifen; die Verhältnisse der Dienstboten seien von denen
der industriellen Arbeiter so grundverschieden, dass eine
gleichmässige Regelung fast unmöglich sei; jedenfalls würde
sie den Nachtheil haben, dass eine Berücksichtigung ört-
licher Verhältnisse, wie sie die Landesgesetzgebung möglich
mache, ausgeschlossen bliebe.“ Als Anlage zu diesen Aus-
führungen gab die Regierung dem Kommissionsbericht eine
Zusammenstellung der" in den Einzelstaaten geltenden Vor-
schriften über die Krankenfürsorge für Dienstboten bei.
Diese interessante Zusammenstellung wurde bereits in
No. 7 des Sozialpolitischen Centralblattes kritisch von
J. Silbermann dahin besprochen, dass sie gerade das Gegen-
theil von demjenigen nachweist, was die Regierung damals
behauptete; es geht nämlich aus ihr hervor, dass nament-
lich in Preussen durch die dortige Gesindeordnung in höchst
ungenügender Weise für die Krankheit der Dienstboten
gesorgt ist: in der Hauptsache hat die Dienstherrschaft
für die Krankenpflege des Dienstboten nur dann aufzu-
kommen, wenn die Krankheit durch den Dienst hervor-
gerufen ist. Deshalb war vorauszusehen, dass sich der
Standpunkt der Regierung, wie er in der erwähnten Weise
bei der Berathung der Krankenkassennovelle zum Ausdruck
kam, nicht lange werde halten lassen. Die Wendung ist
jetzt eingetreten. Es werden in Preussen ministerielle Er-
hebungen darüber angestellt:
„1) ob die in den einzelnen Kreisen geltenden, die Für-
sorge für erkrankte Dienstboten betreffenden Bestimmungen
für unzulänglich zu erachten sind; 2) im Falle der Bejahung
dieser Frage, in welchem Umfange ein Bediirfniss zu einer ent-
sprechenden Umgestaltung dieser Fürsorge anerkannt werden
muss; 3) ob es sich nach Lage der Verhältnisse empfiehlt, eine
anderweite gesetzliche Regelung auf dem Wege der Reichs-
gesetzgebung oder demjenigen der Landesgesetzgebung
anzustreben; 4) ob es zweckmässig und mit den Grundsätzen
der Billigkeit vereinbar erscheint, die Dienstherrschaften (etwa
im Wege der Abänderung der Gesindeordnung) auch über die
Dauer des Dienstvertrages hinaus und eventuell auf welche
weitere Zeitdauer zur Fürsorge für ihre erkrankten Dienst-
boten gesetzlich zu verpflichten; 5) ob es sich empfiehlt, Ver-
einigungen der Dienstherrschaften zu gemeinsamer Leistung
der ihnen obliegenden Fürsorge für Dienstboten und Gesinde
vorzusehen.“
Wie man aus diesem Fragenschema sieht, giebt jetzt
die preussische Regierung selbst zu, dass sie bei Berathung
der Krankenkassennovelle ungenügend informirt war ; sonst
würde sie ja jetzt nicht nochmals nach der Unzulänglichkeit
der Krankenfürsorge für die Dienstboten fragen, während
sie damals behauptete , die Angelegenheit sei überall
„geregelt“. Die Regierung hat auch im Einzelnen die
Mängel des jetzigen Zustandes, speziell für Preussen, schon
ganz richtig erkannt. Das ergiebt sich aus der Andeutung
in Frage 4), dass die Zeitdauer der Krankenversorgung
476
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
verlängert werden muss; wir möchten nur gleich hinzu-
t ügen: auch der Verpflichtung zur Fürsorge muss ein
weniger exklusiver Charakter gegeben werden. Ferner ist
erfreulich, dass die Reichsgesetzgebung als Regulativ mit
m Betracht gezogen werden soll, während man diese Mög-
lichkeit voriges Jahr verneinte. }. Silbermann hat a. a. (J.
schon ausgettihrt, weshalb dieselbe den Vorzug vor der
Landesgesetzgebung verdient. Es fragt sich nunmehr nur,
ob man sich mit den oben wiedergegebenen Fragen auch
an die richtigen Adressen gewendet hat. Sind lediglich die
Landräthe, welche dem Grossgrundbesitz so nahe stehen,
oder die landwirthschaftlichen Unternehmervereine um
Auskunft angegangen worden, so ist das Ergebniss jeden-
falls sehr ungewiss. Ma darf auf Nachrichten darüber
sehr gespannt sein.
Vertlieilung der Krankenkassen arten im Deutschen Reich.
Aus der neuesten Reichsstatistik, den Stand der Krankenver-
sicherung im Jahre 1890 betreffend, aus welcher bereits in No. 34
dieses Blattes summarische Mittheilungen gemacht wurden, ist
noch die Vertheilung der verschiedenen Kassenarten im Reiche
als besonders interessant hervorzuheben. Berechnet man den
G ozentsatz von. je 100 Mitgliedern, welcher auf eine Kassenart
entfällt, so überwiegt — nur die grösseren Staaten in Betracht
gezogen die Versicherung in örtskrankenkassen ausser
im Reich in Preussen (52,0), Königreich Sachsen (44,5), Württem-
berg (54,5), Mecklenburg-Schwerin (33,3), Sachsen-Weimar (66,8)
und Oldenburg (32,5). Die Gemeinde- Krankenversiche-
rung herrscht vor in Bayern (56,7), wo bereits früher eine ähn-
liche Einrichtung bestand, welche vom Gesetzgeber bei der Ge-
meinde-Kranken Versicherung zum Vorbild genommen wurde,
terner in Baden (40,6), Hessen (31,2) und in Mecklenburg-Strelitz
(58,4). Im Reichslande Elsass-Lothringen waren die Betriebs-
Krankenkassen nach ihrer Mitgliederzahl überwiegend (60,2)
Die Versicherung in eingeschriebenen Hilfskassen über-
wog zwar m keinem der grösseren Staaten, wohl aber in Braun-
schweig (31,8), Sachsen- Altenburg (35,9), Lippe (81,3), Lübeck
(35,2), Bremen (45,4) und Hamburg (73,2)
Wohnungszustände und Wohnungs-
gesetzgebung
Bau von Arbeiterwolinungen aus Mitteln der deutschen
Invaliditäts- und Altersversicherung. Auf eine Anfrage hat
der Vorstand der badischen Versicherungsanstalt der Invaliditäts-
und Altersversicherung geantwortet, dass er auf Antrag von
Baugesellschaften, Baugenossenschaften u. dergl. gerne Gelder
der Anstalt zum Bau von Arbeiterwohnungen innerhalb des
Grossherzogthums Badens darleihen werde, dass er jedoch,
sofern nicht doppelte Sicherheit durch gerichtliche Pfand-
verschreibung gewährt, oder sofern ein Zins unter 3l/s pCt. in
Anspruch genommen werden wolle, die Zustimmung des Aus-
schusses und der Regierung Vorbehalten müsse. Dass in Baden
bezüglich der Arbeiterwohnungen Missstände vorhanden seien,
hätten die LTntersuclningen in Mannheim und anderen Städten
ergeben. Es glaubt deshalb der Vorstand der badischen Ver-
sicherungsanstalt, der vom Reichsversicherungsamt gegebenen
Anregung thunlichst entsprechen zu sollen und zwar in der
Weise, dass die Anstalt unter günstiger Bestimmung des Zinses
und der Rückzahlung Gelder an Gemeinden bezw. an solche
Unternehmungen, welche für die Durchführung des Baues und
für die entsprechende Verwendung der Gebäude zu Gunsten des
Arbeiterstandes darleiht. Das Ankäufen von Bauplätzen oder
gar das Bauen von Gebäuden könne jedoch die Anstalt nirgends
in Baden unternehmen. Nach § 129 Abs. II des Gesetzes' darf
mehr als der vierte Theil des Vermögens der Anstalt in solcher
Weise nicht angelegt werden. Im Jahre 1891 sind 2 227 050 M.
verfügbare Gelder geblieben, zu diesen werden 1892 und 1893
je weitere 2 400 000 M. hinzukommen, sodass es gestattet sein
dürfte, für derartige Zwecke 1892 und 1893 die Anlagen auf
1 Millionen Mark auszudehnen. Nach der „Bad. Corresp.“ wird des-
halb der Vorstand der Versicherungsanstalt dem Ausschuss am
24. September folgenden Antrag unterbreiten: „Der Vorstand ist
zu ermächtigen, nach eingeholter Genehmigung des grossherzog-
lichen Ministeriums des Innern zum Bau von Arbeiterwohnungen
an Gemeinden bezw. an solche Unternehmungen, welche für die
Durchführung des Baues und für pie entsprechende Verwendung
des Gebäudes zu Gunsten des Arbeiterstandes sowie für die
regelmässige Tilgung und Verzinsung des Darlehens die Gewähr
der vollen Sicherheit in sich tragen, Gelder zu 3l/2 pCt. und bis
zu 80 pCt. des Platz- und Bauwerthes gegen erstes bedungenes
Unterpfand darzuleihen. Das Darlehen darf nur unter Fest-
stellung regelmässiger, höchstens 50 Jahre dauernde Tilgung,
unter dieser Voraussetzung aber auch seitens der Anstalt un-
kündbar gegeben werden ‘ Jeweils auf die festgestellten Zins-
No. 38.
und rdgungstermine dürfen auch weitere Kapitalheimzahlungen
rvC a vor&äng1ger dreimonatlicher Kündigung gemacht werden.
Die Auszahlung kann je nach Fortschreiten des Baues in Theil-
beträgen erfolgen. Die bezüglichen Kapitalanlagen dürfen 1892
und 1893 zusammen den Betrag von einer Million Mark nicht
überschreiten.“
Massregeln zur Erzielung gesunden Wohnens in Mühl-
hausen i. E. Ganz ähnlich, wie in Glasgow (vgl. Sozialpoli-
tisches Centralblatt No 37), nur vorläufig auf privatem statt
auf kommunalem Wege, vollzieht sich jetzt eine Gesundung
der Wohnungsverhältnisse in dem elsässischen Industrie-
zentrum Mühlhausen. LTnter dem Drucke der Cholerafurcht
hat sich dort soeben eine Gesellschaft von Kapitalisten ge-
bildet, die sich den Ankauf von gesundheitsgefährlichen
Wohnhäusern zur Aufgabe gestellt hat. An Stelle der auf-
gekauften Gebäude sollen gesunde Neubauten zu stehen
kommen. Eine Anzahl von Familien, die eng zusammen-
gedrängt in alten Miethkasernen wohnen, ist sofort aufge-
kündigt worden, und sobald sie aus den alten Spelunken
heraus sind, wird mit dem Abbruch der Häuser begonnen
werden. Hoffentlich hält die Thätigkeit der Privaten auch
an, wenn die Cholerafurcht gewichen ist. Sonst muss eben
auch hier über kurz oder lang die Gemeinde eingreifen.
Gewerbegerichte.
Errichtung von Gewerbegerichten durch Ortsstatut. Die
Bestimmung des neuen deutschen Gewerbegerichtsgesetzes vom
29. Juli 1890, nach welcher die Entschliessung über die Einfüh-
rung von Gewerbegerichten den Kommunalbehörden überlassen
ist, bewährt sich in keiner Weise. Neue Erfahrungen hierüber
liegen aus Thüringen vor. Während die Handels- und Gewerbe-
kammer für den Kreis Saalfeld sich gegen Errichtung eines
Gewerbegerichts ausgesprochen hatte, beschloss der Gemeinde-
rath dortselbst, eine solche Einrichtung, durch welche gewerb-
liche Streitigkeiten auf die rascheste Weise und zwar ohne
nennenswerthe Kosten durch sachverständige, im praktischen
Leben stehende Männer zur Erledigung gelangen, nunmehr ins
Leben zu rufen. Gerade umgekehrt gestaltete sich die Sachlage
in Meiningen. Die dortige Handels- und Gewerbekammer
hatte alsbald nach dem Erscheinen des bezeichneten Reichs-
gesetzes an die städtischen Behörden das Gesuch um Errichtung
eines solchen Gewerbegerichts gelangen lassen, dasselbe wurde
jedoch wiederholt abgelehnt Dass bei solch verschiedenartiger
Behandlung derselben Sache in ziemlich gleichgearteten Be-
zirken kein sozialpolitischer Fortschritt erzielt wird, liegt aut
der Hand.
Soziale Hygiene.
Krankenkassen und soziale Hygiene. Aehnlich wie
in Wien (vergl. letzte No. des Sozialpolitisches Centralblatt)
wenden sich in Berlin die Behörden an die Krankenkassen
zur Hilfeleistung bei der Abwehr der Cholera. Der Vorstand
der Berliner Ortskrankenkasse für das Gastwirthsgewerbe
ist vom Polizeipräsidium angewiesen worden, sofort eine
Revision der Schlafstätten der Angestellten im Gastwirths-
gewerbe vornehmen zu lassen und Bericht zu erstatten.
Bei dieser Gelegenheit theilt der Kassenvorstand mit, dass
von etwa 22 000 Gast- und Schankwirthen in Berlin etwa
5 — 6000 trotz der in Aussicht stehenden hohen Strafen ihre
Angestellten gegen Krankheit nicht versichern. Der Gesund-
heitszustand der Kellner und Kellnerinnen sei kein erfreu-
licher, bei den Kellnern herrschten Schwindsucht, bei den
Kellnerinnen Unterleibskrankheiten als Folgen unregel-
mässigen Lebens vor. Am meisten fallen die „freiwilligen“
Mitglieder der Kasse, Köche, Kellner etc. derselben zur
Last, sie stellen 67—68 pCt. zu den Erkrankten, während
die fest Angestellten nur 2L/2 pCt. stellen. Die Kasse sei
ein Opfer zahlreicher Simulanten, gegen welche es aber
kaum einen Schutz gebe, weil die Krankenhäuser, das beste
Mittel dagegen, überfüllt seien. Die Kasse, welche 1889
schon einen Ueberschuss von 34 000 M. hatte, müsse jetzt
vom 1. Januar n. J. ab die Beiträge erhöhen, um ihren Ver-
pflichtungen nachkommen zu können. Das gestattet traurige
Einblicke in die soziale Lage der Gastwirthsgehilfen.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Heinrich Braun in Berlin,
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SBerlnc; Don ®alm & Gnfc in Gtlnngc».
Die Deutfcfye (Semerbeorbnung
in ber Raffung üont
1. f^uli 1883 unb 1. ^uni 1891
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bie Sentfdje ©etnerbeorbnnng bisher gefunben fjat."
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Söenit ivgenb jemanb, Oevmüge feiner ©teltung, in ber Sage mar, bie foäiale fyvoge ruhig, leiben*
fdiaftSloS ,511 erörtern unb SBorfdjlage 311 bereu Söfimg 311 machen, fo luar e§ ©oettje, ber Bon Bielen
tötenfdjen 111 SSeimar mit einer Strt Bon Slubctung ©enannte, nod) mehr atS DJteufd), beim at§ Sdjri't*
ftetter ©etiebte mtb ©etounberte. ©3 ift ba8 tßorredjt be8 ©enieS, feiner geit Bornu§3iieiIeit. — 338 ir
muffen e§ un§ I>ier natürlich Berfagen, an ber .fjaitb beS 93erf afferö bte SBnnberung burcf» beit Sjbealftaat
©oett)c8 aii3utreten, aber baS biirfen mir mit Bollern 9ted)t behaupten, eä ift beut ®erfaffer buvdjaus! ge*
langen, einen an fid; fo trodenen Stoff, luie ihn bie befannte ©arftetlung in ©oettjeö ^ilffini SOJeifter
bietet, jiidjt bto§ 311 einem genießbaren, fonbent 311 einem bodiintereffanten uni3ugeftalten. SBeltamt), ber
tßrofeffor in SBofton unb ©ngen Sfidjter, ber große ßahlenfünftler, beibe entpuppen fid) 3111 Ueberrafapiug
ber Söelt al§ ®id)ter, fobatb fie bie fo3inIe »frage in bie Jpanb nehmen; unb loenn ber eine bie Sadje
tragifcb belfanbelt, fdfeiut fid) ber anbere, bem bie für einen Sragifer erforberlidje sQuelte 311 fehlen
fdjieiiit, lieber in ibpflifdjen ©djilberungen 311 ergeben. ©regoroBiuS mit feinem „Ipimmel auf Geben"
3eid)iiet un§ mit träftigem SJJinfet in fatten färben ein fvaffee! Söilb be*3 fü3iateu gufunftäftaateS. Stile
©rei tragen jebod) menig jur Söfnng ber foäialen J-vage bei, bagegen ift ©erlacb mit feiner ©djrift ber
grofee SBurf gelungen, nirfjt bloS 3111- befferen SMrbigung beS ®id)tev§ beisutragen, fonbern and) bie
Söfnng ber fdjmebeubcn f 0 3 i a I e n fragen in ruhiger unb ob jeftiBer äßeife angebatjut 311 haben, ©ie Bor*
tiegenbe ©djrift ©erladjä bietet gebiegcneS SJfateriat 3u SSortriigen in Strbeiter* unb ®o[f'8BerfammIuugen,
311 ©iSfuffionSabenben in fßereinen, 3ur Orientierung unb Klarlegung in ber loeltbemegenben f^rage; 311111
ernften ©tubiunt für jebeit einseinen, ber in fid) bie fßflidjt fühlt ber SSirtfamfeit für SJlenfdjenmobl unb
SJlenfcöengtücE. 2Bir begrüben bas ©rfdjetneu ber ©erladjfcben fBvofdjüre auf baS unirmfte unb föunen
fie nid)t bringenb genug 3111- SInfdjaffung empfehlen, fie bürfte and) 311t größeren SSerteilung in 3Soll§*
bitbung€bereinen rc. rcdjt geeignet fein. (Slnhalt. ©taatsaii3ciger).
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g-inan3tt)iffenid)aft, ®anl=, ®ctfeljrd=
u. Serfidjerungdiuefcit.
„ 110a. Siteratuv über ®erftd)cruitgdtt)efen.
„ 111. ©taatdtolffenfdjaft, ®olitif, ©Mplo=
tnatif, ®erebfatnfeit, ©tatiftif unb
®crtt)altung§lel)re.
©oeben erfd)ien:
Dr. med. H. Klencko,
Das Weil) als Gattin.
S e I) r b n efe
über bie p()t)fifd)en, feelifdjeu unb Jittlidjen
spftidjten, SfEed)te 1111b ©efuub^eit^regelu
ber beutfdjeu grau ittt Shelebeu pr 33e*
grüubnng ber leiblidjeu unb fittlidjeu
2I>ol)lfabrt ihrer felbft unb ihrer gamilie.
(Sine Körper* unb ©eelenbiätetif be§ SSeibed
in bet Siebe unb (£'l)e.
Zwölfte neu burdjöcfcljcnc Stugagc.
fßreiö eleg. geh- 5 53?., eleg. geb. 6 53i.
©iefeS in feiner 9tvt einjtg baftehenbe
33ud) behanbelt ba§ Seben in ber ©he mit
lBohtanftänbiger Offenheit mtb ©djidlidjfeit
unb giebt über SSieleS Eluffdjlufi , )ua§ für
fOZänner, grauen unb (Jungfrauen Bon größter
SBtdjttgf'eit ift.
©er bisherige 9lhfah Bon 11 ftarfeit Sluf*
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und Volkswirthschatt.
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zelne Werke aus diesem Gebiete.
Verzeichniss 1 und 2: Staats- und
Rechtswissenschaften stehen noch zu
Diensten. Verzeichniss 3: Staats- und
Volkswirtschaft in Vorbereitung.
478
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung* in Berlin SW. 48.
No. 38
ARCHIV
für
SOZIALE GESETZGEBUNG UND STATISTIK.
Vierteljahresschrift
zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder
In Verbindung
mit einer Reihe namhafter Fachmänner des In- und Auslandes
h e r a u s g e g e b e n
von
Dr. Heinrich Braun.
Das Archiv erscheint in Bänden von ca. 40 Druckbogen lex. 8°. in 4 Heften.
Band V im Erscheinen.
Abonnementspreis pro Band M. 12.—. Einzelne Hefte M. 4. — .
Die Fragen der sozialen Gesetzgebung rücken mit
jedem Tag mehr in den Mittelpunkt der Politik und des
öffentlichen Interesses. Studium und Verständniss dieser
Fragen zu fördern, ist die Aufgabe des Archivs für
soziale Gesetzgebung und Statistik.
Auf zwei in der Natur der Sache liegenden Wegen
sucht die Zeitschrift ihrem Programm gerecht zu werden:
einmal durch Erforschung des thatsächlichen Zustandes
der Gesellschaft, dessen Erkenntniss allein dem Bedürfniss
nach einer sozialen Gesetzgebung Richtung und Ziel
weisen kann, sodann durch spezielle Darstellung der
Sozialgesetzgebung der verschiedenen Länder und Kritik
derselben, vornehmlich aus dem Gesichtspunkt der
sozialen Thatsachen. Nach beiden Seiten hat das Archiv
schon eine reiche und fruchtbare Thätigkeit entfaltet.
Eine grosse Zahl sorgfältiger Untersuchungen aus dem
Gebiete der Sozialstatistik und die wichtigsten sozial-
politischen Gesetze Belgiens, Dänemarks, des Deutschen
Reichs, Englands, Finnlands, Frankreichs, Hollands,
Italiens, Oesterreichs. Rumäniens, Russlands, Schwedens,
der Schweiz, Ungarns und der Vereinigten Staaten sind in
ihm behandelt, die Gesetze selbst neben einer kritischen
Bearbeitung derselben zum grössten Theil auch im Wort-
laut mitgetheilt worden. Auf diese Weise bildet das
Archiv ein ausserordentlich werthvolles wissenschaftliches
Repertorium für die Fragen der Sozialpolitik und ist
insbesondere auch dank seines internationalen Charakters
unentbehrlich für Jedermann, mag er sich theoretisch
oder praktisch mit den Problemen der sozialen Gesetz-
gebung und der Arbeiterfrage beschäftigen.
Abonnements nehmen alle Buchhandlungen Deutschlands und des Auslandes sowie die Verlagshandlung
und die Postanstalten (No. 637 der Postzeitungsliste) entgegen. Auch ist jede Buchhandlung in der Lage, die
bisher erschienenen Bände resp. Hefte zur Ansicht vorzulegen.
Probehefte sowie ausführliche Prospekte stehen auf Wunsch gratis und franco su Diensten.
Verantwortlich fiir den An/.eigentheil: O. Scliuehardt in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.
I. Jahrgang.
Berlin, den 26. September 1892.
Nummer 39.
SOZIALPOLITISCHES
CENTRALBLATT.
Herausgeber: Dr. Heinrich Braun in Berlin.
Jeden Montag erscheint eine Nummer.
Zu beziehen durch
alle Buchhandlungen, Zeitungsspediteure undPostämter.
No. 5945 der Postzeitungsliste.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung
in Berlin SW. 48.
Preis vierteljährlich 2 Mark 50 Pf.
Einzelnummer 20 Pf.
Der Anzeigenpreis beträgt für die dreigespaltene
Colonelzeile 40 Pfennig.
INHALT.
Der gegenwärtige Stand der
italienischen Arbeiterbe-
wegung. Von Prof. Dr. Wer-
ner Sombart.
Arbeiterzustände :
Ausdehnung der jugendlichen Ar-
beiter in der reichsländischen In-
dustrie.
Politische Arbeiterbewegung:
Der Strike von Carmaux. Von
Leo Frankel.
Hand werker fra gen :
Zur Frage der Gewerbekammern.
Von Dr. Rudolf Grätzer.
Unternehmerverbände :
Verkaufsvereine der rheinisch-west-
fälischen Kohlenzechen.
Planmässige Aussperrung sozia-
listischer Arbeiter in Ungarn.
Arbeiterversiclierung:
Normal - Verhlitungs - Vorschriften
der deutschen Berufsgenossen-
schaften.
Zur deutschen Unfallstatistik.
Erhöhte Unfallgefahr bei der Ver-
wendung jugendlicher Arbeiter.
Leistungen staatlich organisirter
und freier Hilfskassen in Deutsch-
land.
Wohnungszustände:
Wohnungsverhältnisse der Arbeiter-
bevölkerung in Elsass-Lothringen.
Soziale Hygiene:
Sanitätsstatistik der Arbeiter im
Wiener Kleingewerbe. Von Dr.
Adolf Braun.
Eingesendete Schriften.
Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zeitungen und Zeitschriften gestattet,
jedoch nur mit Angabe der Quelle.
Der gegenwärtige Stand der italienischen
Arbeiterbewegung.
Noch vor wenigen Jahren konnte der Berichterstatter
der amtlichen Zollenquete als einen wesentlichen Vorzug
der Produktionsverhältnisse in Italien den „ottimo contegno“,
das stets musterhafte Verhalten der italienischen Arbeiter-
schaft bezeichnen, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen,
niemals dem Unternehmer durch Lohnforderungen, Arbeits-
einstellungen und sonstige Quängeleien Schwierigkeiten zu
bereiten pflege, sondern immer noch mit den sprichwört-
lich niedrigen Lohnsätzen alter Zeiten sich begnüge. Heute
schon müsste das Urtheil wesentlich anders lauten. Durch
die italienische Arbeiterschaft geht eine Unruhe, schleicht
ein Geist der Unzufriedenheit, wie ihn die frühere Zeit
nicht kannte, und die Idylle, von der jene Enquete noch
zu berichten wusste, droht auf Nimmerwiedersehen von
der goldigen Halbinsel zu verschwinden. Wie oft doch
hat während der letzten Jahre der Telegraph von Arbeiter-
unruhen in Italien zu melden gehabt! Um von den Bauern-
aufständen, den Anarchisten- und Geheimbundsprozessen,
den Revolten am 1. Mai zu schweigen: auch der reguläre,
legale Kampf zwischen Unternehmer und Arbeiter ist
überall zum Ausbruch gelangt. In aller Erinnerung stehen
noch die grossen Strikes der Bauhandwerker in Rom und
Mailand, der Metallarbeiter Mailands und neuerdings die
Arbeitseinstellungen in zahlreichen und grossen Etablisse-
ments der Textilindustrie Oberitaliens.
Lassen sich die Gründe für diesen verhältnissmässig
raschen Umschwung der Dinge anführen? Gewiss. Sie
sind in der Wandlung zu suchen, welche die gesammte,
italienische Volkswirtschaft während des letzten
Jahrzehntes erfahren hat. Diese ist eben aus dem Stadium
kleinbürgerlicher, gewerblicher Produktionsverhältnisse,
agrikoler Selbstgenügsamkeit herausgetreten und rascher
als zu erwarten war in die Wechselfälle des Weltmarktes
hineingezogen worden. Eine sehr energische Zollpolitik
hat vor allem dazu beigetragen, das Aufkommen der grossen
Industrie und damit des industriellen Proletariats zu be-
schleunigen; gewerbliche Neugründungen sind innerhalb
der letzten 5 — 10 Jahre wie Pilze aus der Erde geschossen.
Hand in Hand mit diesem, vielleicht nicht ganz gesunden,
weil überhasteten Emporblühen der Industrie sind in Stadt
und Land andere Begleiterscheinungen hergegangen, die
ebenfalls zu einer Revolutionirung der Arbeiterverhältnisse
beizutragen geeignet waren. In den Grossstädten, vor
allem in Rom und Mailand, griff eine fieberhaft ungesunde
Bauspekulation um sich, die anfangs grosse Massen von
Arbeitern vom Lande hereinzog, um sie nach Verlauf
einiger Jahre als arbeitsloses Proletariat auf die Strasse zu
werfen. Auf der Landwirthschaft aber lastete während dieser
ganzen Zeit ein schwerer Druck, der zum grossen Theil die
unmittelbare Folge des Industrieschutzzollsystems war. Es
ist bekannt, wie seit Anfang der 1880er Jahre, dann in er-
höhtem Masse seit 1888 den spezifisch italienischen Agrar-
produkten der auswärtige, insonderheit französische Markt
verloren ging, wie in Folge dessen eine schwere Krisis das
ohnehin schon unter der Steuerlast zusammenbrechende
agrikole Italien heimgesucht hat. Grund einerseits für den
ländlichen Arbeiter — mag er mezzadro oder bracciante
heissen — seine schon nicht beneidenswerthe Lage uner-
träglich zu finden, ihn schliesslich zu Revolten zu reizen,
andererseits den Abfluss der Arbeiterschaft vom Lande her
in die noch besser gedeihende Industrie, also die Bildung
eines städtischen Proletariats — mit oder ohne Arbeit —
zu beschleunigen.
Vor ein paar Menschenaltern hätten solcherart Vor-
gänge vielleicht nichts weiter bewirkt, als eine rasche
Verelendung der Massen hier, planlose Widerstandsversuche,
blutige Revolten des Proletariats dort. Heute am Ende des
glorreichen 19. Jahrhunderts ist es ebenso begreiflich, dass
480
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 39.
ein neu entstehendes Proletariat sich die Erfahrung älterer
Nationen zu Nutze macht, rascher die eigenen Haufen zum
beginnenden Kampfe organisirt und disziplinirt. Es darf
uns daher nicht \\ under nehmen, wenn wir jene Um-
gestaltung der ökonomischen Verhältnisse in Italien sich
widerspiegeln sehen in dem Streben des Proletariats, sich
neue Organisationsformen zu schaffen oder die alten umzu-
gestalten. In das letzte Jahrzehnt fallen in Italien die
Anfänge einer eigentlich gewerkschaftlichen Arbeiter-
bewegung.
Italien ist seit Alters her reich an volksthümlichen Ver-
einen, Verbrüderungen, Gesellschaften, Klubs, Zirkeln u. dgl.,
reicher als manches andere Land. Auch der Arbeiter gehört
diesen Vereinigungen an, die aber trotz ihres oft gewerk-
schaftlichen Aushängeschildes nicht immer Fachvereine und
in den seltensten Fällen moderne Gewerkvereine sind.
Wenn wir von den zahlreichen vorwiegend geselligen
Vereinigungen absehen, so finden wir zunächst*" die rein
politischen, demokratischen oder republikanischen Kon-
ventikel, deren Ursprung in sehr vielen Fällen sich auf
die in Italien mehr als anderswo ehedem verbreiteten ge-
heimen Gesellschaften würden zurückführen lassen; viele
dieser von Arbeitern und Kleinbürgern besuchten poli-
tischen Klubs werden jetzt statt Mazzini'schen Demokratis-
mus Oberdank’sclien Anarchismus oder Marx’schen Sozialis-
mus auf ihre Fahne geschrieben haben. Dann folgt die
grosse Zahl von Hilfs- und Unterstützungsvereinen, die
sog. Societä di mutuo soccorso. Bei ihnen ist allerdings
wohl die gewerkschaftliche Gliederung die Regel. S*ie
erschöpfen aber ihre Thätigkeit in der Errichtung von
allerhand Kassen und in der Pflege geselliger Beziehungen.
Ihren fiiedlichen Charakter bezeugen sie oft genug dadurch,
dass sie sich unter die unmittelbare Patronage eines |
Bourgeois, wohl gar ihres eigenen Brotherrn begeben.
Die meisten von ihnen gestatten in ihren Statuten nicht
einmal rein gewerkschaftliche Bestrebungen. Sie sind,
wenn man einen Vergleich anstellen wollte, ein Mittelding
zwischen unseren fortschrittlichen Arbeiterbildungsvereinen
zu Lassalle s Zeiten und den Hirsch-Duncker’schen Ge-
werkveremen, deren Schwerpunkt ja auch anerkannter-
massen in der Pflege des Kassenwesens und der Harmonie
zwischen Arbeitern und Unternehmern beruht. Neben diesen
Unterstützungsgesellschaften und den politischen Kon-
ventikeln weist dann Italien noch eine Menge genossen-
schaftlicher Bildungen, namentlich auch Produktivgenossen-
schaften auf, die sog. Societä cooperative, deren Mitglieder
auch zum Theil den unteren Schichten der Bevölkerung
angehören.
Bei diesem Stande der Dinge wird eine beginnende
Gewerkvereinsbewegung in Italien zwei Wege einschlagen
können: sie wird entweder wie anderwärts Neugründungen
hervorrufen oder aber, wozu in vielen Fällen Neigung vor-
handen sein dürfte, sie wird die bestehenden Vereinigungen
dem neuen Zwecke entsprechend umgestalten. Beide Wege
sehen wir beschritten. Es sind in Italien während der
letzten Jahre verschiedene Gewerkvereine mit der aus-
gesprochenen Tendenz, den Kampf mit dem Kapital zu
organisiren, neu entstanden, die, wo solche vorhanden, in
direkte Opposition zu den von früher bestehenden Ver-
einigungen treten: als Beispiele unter den grösseren Branchen
seien die Unione ferrovieri italiani und die Federazione di
resistenze metallurgici ed affini di Milano (Gewerkschaften
der Eisenbahnarbeiter und der Metallarbeiter von Mailand)
angeführt, die beide in Gegensatz zu bereits bestehenden
I achverbänden, die Unione in Opposition gegen den grossen
hascio ferroviario, getreten sind. Diese Gewerkschaften
pflegen sich meist schon Federazione oder congregazione
oder dergl. di resistenza ausdrücklich zu nennen, um sich
von den Unterstützungsvereinen zu unterscheiden. In zahl-
reichen Fällen aber nehmen die letzteren, die Societä di
mutuo soccorso selbst die Schwenkung vor und bilden sich
zu W iderstands- oder Kampfvereinen um. Sehr viele der
Unterstützungsvereine Italiens haben denn auch schon heute
eine antikapitalistische Tendenz erhalten. Hier gilt es dann
vor allem die überaus zersplitterten Lokalvereine zu
grösseren regionalen und nationalen Verbänden zusammen-
zuschweissen. Als Organe in diesem Centralisirungs-
prozesse scheinen die mehrfach in letzter Zeit gegründeten
Arbeitskammern (Camere di Lavoro) funktioniren zu sollen.
Das wichtigste dieser Institute, die halb Auskunftsbureau,
halb Centralstelle der Arbeiterverbände sind, ist die 1890 ge-
gründete Camera di Lavoro in Mailand; zwei andere be-
stehen in Turin und Piacenza, eine vierte wird in Venedig
vorbereitet, eine fünfte in Bologna geplant.
So finden wir zahlreiche Ansätze zu einer gewerkschaft-
lichen Arbeiterbewegung in Italien, von denen die meisten
allerneuesten Datums sind. Es fragt sich nun: welche
Stellung wird die gewerkschaftliche zur politischen
Arbeiterbewegung auf der Appeninnenhalbinsel nehmen?
Wird sie sich selbständig entwickeln und erst bei ihrem
Abschluss politischen Charakter empfangen, wie in Eng-
land, oder wird sie von ihren Anfängen an im Schlepptau
der politischen Arbeiterbewegung sich befinden, wie in
Deutschland? Prophezeien ist immer misslich. Gleichwohl
sprechen in unserem Falle die Thatsachen so deutlich,
dass sich mit ziemlicher Gewissheit Voraussagen lässt: in
Italien werde die Gewerkschaftsbewegung mindestens
nur pari passu, in steter Anlehnung an die politische
Arbeiterbewegung sich entwickeln. Die Gründe hierfür
liegen einmal in der primitiven Verfassung der
heutigen ökonomischen Verhältnisse Italiens, sodann in
seinen eigenthümlichen Parteibildungen, seiner starken
radikalen Demokratie Mazzinischer Observanz, die von
jeher mit sozialen Elementen getränkt war; endlich in
dem Beispiel der fortgeschritteneren Nationen, die fast
alle zu einer Fusion gewerkschaftlicher und politischer Ar-
beiterbewegung gelangt sind. Es erübrigt nun, in Kürze
die Fortschritte zu verzeichnen, welche die politische Ar-
beiterbewegung, besser die Bestrebungen zur Bildung einer
politischen Arbeiterpartei während der letzten Zeit in Italien
gemacht haben und welches der heutige Stand dieser Be-
strebungen ist. Insbesondere das Jahr 1 892 'bezeichnet eine
wichtige Etappe in dieser Bewegung.
Von drei Seiten her, von drei politischen Parteien
wird der italienische Arbeiter umworben: von der radi-
kalen Demokratie, vom Anarchismus und vom Sozialdemo-
kratismus. Ueber die Vorgänge im republikanischen
Lager habe ich in dieser Zeitschrift (No. 30) unlängst be-
richtet. Der letzte (XVIII.) Kongress der verbrüderten
Gesellschaften Mazzinischer Richtung hat sowohl die Noth-
wendigkeit anerkannt, die Propaganda in die eigentlichen
Arbeiterkreise mehr als bisher hineinzutragen, als auch
hat er sich mit Stimmenmehrheit zu einer Annäherung an
den Sozialismus dadurch bekannt, dass er die Vergesell-
schaftung der Produktionsmittel für nothwendig erachtet,
um die sozialen Uebelstände zu beseitigen. Ob es dem
Patto di Fratellanza gelingen wird, die Arbeiterschaft zu
sich hinüberzuziehen, bleibt dahingestellt. Mir scheint ein
solcher Erfolg nur möglich mittels einer itio in partes.
Das demokratische Kleinbürgerthum, das bisher die Reihen
der Societä affratellate zum grossen Theil gefüllt hat, wird
schwerlich mit einer radikalsozialistischen Arbeiterschaft
auf die Dauer sich verständigen. Das freilich schliesst
nicht aus, dass der Patto di Fratellanza als Ganzes sich
mit den übrigen, aussenstehenden Elementen zu einer
sozialistischen Arbeiterpartei verschmelze: unter Verlust
No. 39.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
seiner kleinbürgerlichen Mitglieder. Auf dem sogleich zu
erwähnenden sozialdemokratischen Arbeiterkongress zu
Genua trat Maffi bereits als Vertreter der 450 Gesellschaften
des Patto di Fratellanza offiziell auf, freilich ohne, meines
Wissens , ein ausdrückliches Kongressmandat hierzu zu
besitzen.
Der Anarchismus hat einigen Boden in Italien, auch
in Arbeiterkreisen. Dass es ihm aber gelingen sollte, die
Arbeiterschaft als solche zu einer politischen Arbeiterpartei
um seine Fahne zu sammeln, dürfte kaum im Bereich der
Wahrscheinlichkeit liegen. Dazu vereinigt er, zumal in
Italien, zu disparate Elemente: politische Republikaner,
Irredentisten etc., dazu verbürgt er dem Arbeiter zu wenig-
unmittelbare Vortheile praktischer Art; denn er zieht
ja gegen jedwede Organisation aus Prinzip zu Felde. Dass
er sich kürzlich in Genua zum Anwalt der reinen Gewerk-
vereinsbewegung im Gegensatz zu den Anhängern einer
politischen Arbeiterpartei aufspielte, war nichts als ein
nicht ungeschicktes Scheinmanöver, um seine Position zu
stärken. Immerhin ist der Anarchismus in Italien bei der
Bildung einer Arbeiterpartei ein nicht zu unterschätzender
haktor, wesentlich kraft seiner obstruktiven Tendenz. Noch
unlängst in Genua hat er den Sozialdemokraten das Leben
recht schwer gemacht und nur einem sehr entschlossenen
Vorgehen der Sozialistenführer ist es gutzuschreiben, dass
der sozialistische Arbeiterkongress zu Ende geführt werden
konnte.
Dieser aber, dessen wir schon mehrfach Erwähnung
thun mussten, ist von der sozialdemokratischen Par-
tei, oder, wenn man es vorzieht, Fraktion, am 14. und
15. August d. J. zu Genua unter der Bezeichnung „Natio-
naler Kongress der Arbeiterpartei“ (Congresso
nazionale del Partito dei Lavoratori) veranstaltet worden.
Von ihm als dem jüngsten und vielleicht wichtigsten Er-
eigniss der politischen Arbeiterbewegung Italiens ziemt es
uns, ausführlicher zu handeln. Die Leser dieses Zeischrift
(vergl. No. 31) waren auf diesen Kongress bereits aufmerk-
sam gemacht; der Hinweis hatte auch schon die Tages-
ordnung und die Bedingungen der Theilnehmerschaft mit-
getheilt, sodass wir uns hier darauf beschränken können,
einen kurzen Ueberblick über die Ergebnisse des Kon-
gresses den Lesern zu verschaffen.
Die Veranstalter des Kongresses, der bereits, wenn
auch weniger bedeutsame Vorgänger (letzter in Mailand)
aufzuweisen hat, sind die Führer des schon längere Zeit
hauptsächlich in Norditalien ein ziemlich kümmerliches
Dasein fristenden Partito operaio: Turati, Croce, Prampo-
lini, Dell’Avalle u. a., sämmtlich mehr oder minder streng-
gläubige Sozialdemokraten. Zugelassen zur Theilnahme
am Kongress waren jedoch auch Andersgläubige, sofern
sie nur irgend einen Verein oder dgl. vertraten. Da war
denn die erste, für die Einberufer wenig erfreuliche That-
sache, welche sich nach Eröffnung des Kongresses ihnen
mit unwiderstehlicher Gewalt aufdrängte, die: dass eine
aus völlig heterogenen Elementen zusammengesetzte Ver-
sammlung den Kongress bildete. Die beiden Hauptlager
waren Anarchisten und Sozialdemokraten, neben denen die
Nur-Gewerkvereinler, soweit sich nicht die Anarchisten
als solche erklärten, verschwanden. Die Wahl der Präsi-
dentschaft ergab ein Stimmenverhältniss von 46 Anarchisten
zu 106 Sozialisten, genügend, um den ruhigen Verlauf
der Aerhandlungen, bei dem reizbaren Temperament des
Anarchisten, zumal des italienischen Anarchisten, unmög-
lich zu machen. Nachdem ein Sitzungstag unter fortwäh-
rendem I umult resultatlos mit nichtssagenden Debatten
verbracht war, erfolgte die einzig mögliche Lösung endlich
durch Irennung der beiden feindlichen Lager. Zwar nicht
so, dass der schwächere Theil, sondern — sagen wir der
481
klügere — nachgab: d. h. die sozialistische Majorität einen
neuen Kongress in einem andern Saale der Via della Pace
am Morgen des 15. August eröffnete.
Unzweifelhaft vereinigte dieser sozialdemokratische
Theilkongress, der nunmehr als einziger „Congresso nazio-
nale del Partito dei Lavoratori“ von seinen Veranstaltern
bezeichnet wird , die wichtigsten Arbeiterorganisationen
wieder, die sich überhaupt in Genua hatten vertreten
lassen. Es betheiligten sich an ihm 192 Organisationen,
von denen ein grosser Theil als wirkliche Arbeiterorgani-
sationen anzusehen sind, u a die grössten: Der Consolato
operaio von Mailand, der Fascio dei lavoratori von Palermo
(angeblich 8000 Mitglieder), die Unione dei ferrovieri, end-
lich auch die „450 societä affratellate“, so von Maffi, wie
oben berichtet, vertreten wurden. Leider lässt sich, bei
dem indirekten Wahlsystem, gar kein Urtheil gewinnen
über den wirklichen Umfang und die Bedeutung der auf
dem Kongress vereinigten Arbeiterschaften. Die Liste der
Theilnehmer zeigt nur, wie zu erwarten war, zur Evidenz
das Vorwiegen Nord-Italiens, wo in der That der Haupt-
sitz sowohl des industriellen Proletariats wie auch der
sozialdemokratischen Propaganda zu suchen ist. Jedenfalls
ist es dieser Theilkongress von Via della Pace, den wir
als den eigentlichen Arbeiterkongress zu betrachten und
dessen Verlauf wir allein zu verfolgen ein Interesse haben.
Man könnte das Ergebniss des Genueser Kongresses
dahin zusammenfassen: er habe die Gründung einer
unabhängigen politischen Arbeiterpartei (Partito
dei Lavoratori italiani) beschlossen und mit seinen Theil-
nehmern sofort ins Werk gesetzt. Denn alle Einzelbeschlüsse
bezogen sich ebenfalls nur auf diesen Hauptbeschluss.
Die Gründung einer Arbeiterpartei. Ueber den
Sinn dieser Bezeichnung ist auf dem Kongresse selbst, vor-
nehmlich aber in der Presse, viel debattirt worden. Es
machten sich zwei Strömungen bemerkbar; die eine wollte
nur Handarbeiter zur Mitgliedschaft der Partei zulassen,
die andere ohne Ausnahme alle, die sich zum Parteipro-
gramm bekannten. Der ganze Streit ist nur erklärlich,
wenn man sich des oben schon erwähnten in Italien
üblichen Brauchs erinnert, Nichtarbeiter zu Beschützern,
Berathern, Patronen der Arbeiterverbindungen zu machen.
Dadurch ist in die Reihen der klassenbewussten Arbeiter
ein starkes Misstrauen gegen die Elemente gedrungen,
und der Standpunkt, alle Nichthandarbeiter von der Partei
auszuschliessen, konnte überhaupt Vertheidiger linden. Die
Gegner dieses engen Standpunktes hatten aber doch zu plau-
sible Gründe für sich, um nicht schliesslich zum Siege zu
gelangen In der That sind die meisten „Führer“ der Ar-
beiterbewegung in Italien, beispielsweise fast alle Veranstalter
des Kongresses, Nichthandarbeiter. Sie von der Partei aus-
schliessen würde deren Erdrosselung in der Geburt bedeutet
haben. Die italienische Arbeiterschaft ist viel zu wenig ent-
wickelt, um jener Bourgeois - Intelligenzen entbehren zu
können. Eine Arbeiterpartei, mit Ausschluss dieser In-
telligenzen, so höhnte man, werde eine Partei der Analpha-
beten sein. Mitglied des Partito dei Lavorati italiani kann
also jetzt jeder werden, der sich zu seinem Programm bekennt.
Die Partei soll unabhängig sein, d. h. von keiner
anderen Partei in’s Schlepptau genommen werden dürfen:
Hauptunterschied gegen den Patto di fratellanza.
Und es soll eine politische Arbeiterpartei sein: ihre
Aufgabe also in dem Streben nach politischer Macht ge-
funden wrerden. An dieser Stelle galt es der rein gewerk-
schaftlichen Arbeiterbewegung gegenüber den richtigen
Standpunkt zu gewinnen. Man hat sich in der Weise ge-
holfen, dass man Partei und Gewerkschaften prinzipiell
trennt. Die gewerkschaftliche Thätigkeit soll unabhängig
von der Partei gepflegt werden, ja es ist ausdrücklich aus-
482
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 39.
gesprochen — dass Gewerkvereinsangelegenheiten nur von
Mitgliedern der Gewerkvereine behandelt werden dürfen und
dass Bedingung für die Mitgliedschaft eines Gewerkvereins
die Handarbeiterschatt ist. Trotzdem wird die Gewerk-
vereinsbewegung unter dem unmittelbaren Einfluss wenn
nicht der Parteileitung, so des Parteitages stehen, da dieser
der Regel nach aus den Delegirten der Vereine, also auch
der Gewerkschaften, zusammengesetzt ist. Jedenfalls wird
die Fühlung zwischen politischer und gewerkschaftlicher
Thätigkeit eine sehr enge sein.
Erübrigte das Wichtigste, der neugebildeten Partei ein
gemeinsames Glaubensbekenntniss mit auf die Wander-
schaft zu geben. Dass dieses Bekenntniss dem Gedankenkreise
der orthodoxen Sozialdemokratie entnommen werden würde,
dafür bürgte die Persönlichkeit der geistigen Urheber des
Kongresses. Die ganze neuentstandene Arbeiterpartei ist
thatsächlich von der älteren Lega socialista in Mailand, von
der ursprünglich kleinen sozialdemokratischen Partei Ober-
italiens, die sich schon seit einiger Zeit zu einem soge-
nannten Partito operaio ausgewachsen hatte, inspirirt; 1
„l’inoculazione del virus socialista nell’ anemica arteria
operaia“ war nach dem führenden sozialdemokratischen
Organ, der „Critica sociale“ ausgesprochenermaassen der
programmatische Kern des Genueser Kongresses. Hat so-
nach das Programm der neuen Arbeiterpartei Italiens in
Folge diesesStandes derDinge einen unbedingt sozialistischen
Gedankeninhalt erhalten, so doch keineswegs einen Marxisti-
schen, wie das Erfurter Programm der deutschen Sozial-
demokratie. Während dieses den evolutionistischen Stand-
punkt der Marx’schen Doktrin scharf zum Ausdruck bringt,
operirt das Genueser Programm noch mit ethischen Kate-
gorien. Sein Gedankengang ist der Vulgärsozialistische:
Das Proletariat wird ausgebeutet, das ist vor Gott und
Menschen unrecht; darum muss der Zustand geändert
werden durch Beseitigung des Mittels der Ausbeutung, des
Privateigenthums an Produktionsmitteln — was so un-
marxistisch wie möglich gedacht ist. Ich bin aber der
testen Ueberzeugung, dass in Italien, wo das Volk seit
Mazzini und Garibaldi von politischen und sozialen Schlag-
worten, wie das Kind von der Muttermilch sich nährt, ein
Arbeiterprogramm ohne derartig greifbare ethische Postu-
late, wie sie das neue Programm enthält: Recht auf den
vollen Arbeitsertrag! wenig Glück haben würde. Hier
folgt in der Uebersetzung der auf dem Kongress festge-
stellte Text des
Programms der italienischen Arbeiterpartei.
In Erwägung:
dass bei der gegenwärtigen Ordnung der menschlichen
Gesellschaft die Menschen gezwungen sind, in zwei Klassen zu
leben, auf der einen Seite die ausgebeuteten Arbeiter, auf der
andern die Kapitalisten, welche die gesellschaftlichen Reich-
thümer innehaben und monopolisiren;
dass die Lohnarbeiter beiderlei Geschlechts, in jedem Ge-
werbe und jeder Lage, durch ihre ökonomische Abhängigkeit
das Proletariat bilden, das in einen Zustand des Elends, der
Minderwerthigkeit und Unterdrückung hineingezwungen wird;
dass alle Menschen, wenn sie nur gemäss ihren Fähig-
keiten zur Schaffung und Erhaltung der Wohlthaten des gesell-
schaftlichen Lebens beitragen, das gleiche Recht zum Genüsse
dieser Wohlthaten, deren erste die Sicherheit der sozialen
Existenz ist, haben;
in Anerkennung:
dass die heutigen ökonomischen und sozialen Organi-
sationen, unter dem Schutze des heutigen politischen Systems,
die Herrschaft der Monopolisten des gesellschaftlichen und
natürlichen Reichthums über die arbeitende Klasse darstellen;
dass die Arbeiter ihre Emanzipation nur mittelst der Ver-
gesellschaftung der Arbeitsmittel (Grund und Boden, Bergwerke,
Fabriken, Transportmittel etc.) und der Produktion bewerk-
stelligen können;
in Erwägung:
dass dieses Ziel nur erreicht werden kann durch das in
einer klassenbewussten Partei (Partito di classe) organisirte
Proletariat selbst, einer Partei, die unabhängig von allen andern
Parteien ist und ihre Thätigkeit unter einem zwiefachen Ge-
sichtspunkte ausübt (esplicantesi sotto il doppio aspetto):
1. des gewerkschaftlichen Kampfes zur unmittelbaren Ver-
besserung der Existenz des Arbeiters (Arbeitszeit,
-Lohn, Fabrikordnungen etc.), ein Kampf, dessen Leitung
den Arbeitskammern und den Gewerkvereinen über-
tragen wird;
2. eines umfassenderen Kampfes zur Eroberung der poli-
tischen Machtstellungen (in Staat, Gemeinden, öffent-
lichen Verwaltungen etc.), um diese umzuwandeln aus
einem Mittel zur Unterdrückung und Ausbeutung, das
sie heute sind, zu einem Mittel der ökonomischen und
politischen Expropiirung der herrschenden Klasse;
beschliessen diejenigen Arbeiter Italiens, welche sich die Eman-
zipation der eigenen Klasse zur Aufgabe gemacht haben,
sich zu einer Partei zu konstituiren, auf Grundlage
folgenden Statuts (folgt dieses).
Das Parteistatut selbst bietet wenig Interessantes
für uns; es enthält die Modalitäten der Parteiorganisation
und ist offenbar im engen Anschluss an die Satzungen der
deutschen sozialdemokratischen Partei entworfen. Die Or-
gane der Partei sind der Parteitag und der Centralvorstand
(comitato centrale), der, vom Parteikongress bestellt, diesem
verantwortlich ist.
Zu Mitgliedern des Comitato centrale wurden in
Genua für das nächste Jahr gewählt : Bertini, Buchdrucker;
Croce, Handschuhmacher, Sekretär der Mailänder Arbeits-
kammer; Dell’ Avalle, Buchdrucker; Fräulein Ferla von
den Mailänder „Arbeitsmädchen“; Fossati, Mechaniker;
Lazzari; Maffl, Abgeordneter. Das sind alles Mailänder;
der Sitz des Centralvorstandes ist ebenfalls Mailand und
endlich erscheint das Centralorgan der Partei, die „Lotta
di classe“, das eine ganz ähnliche Stellung zur Partei wie
der „Vorwärts“ hat, auch noch in Mailand. Sein Chef-
redakteur Prampolini ist dem Centralvorstande, wenn auch
nicht formell hineingewählt, ebenso zuzurechnen wie der
Herausgeber der (Mailänder!) „Critica sociale“, Avv.F. Turati,
einer der bedeutendsten Sozialisten Italiens. So ist denn die
Thatsache, dass von Mailand das Heil des Sozialdemokratis-
mus der italienischen Welt verkündet ist, ebenso wie die
andere, dass in Oberitalien der Industrialismus bisher die
grössten Fortschritte gemacht hat, hinreichend deutlich in
der Zusammensetzung des Parteivorstandes zum Ausdruck
gebracht; gewiss gebührt Mailand diese Auszeichnung.
Aber die Mitglieder des Parteivorstandes mögen sich ihrer
sehr verantwortlichen Aufgabe ganz bewusst sein. Schon
bemängelt ein im übrigen der Centralleitung wohlgesinntes
Schwesterblatt, die bologneser „Lotta“ die spezifisch Mai-
ländische Zusammensetzung des neuen Comitato centrale,
freilich nur um daran die Mahnung zu knüpfen, die Mai-
länder müssten nun für ganz Italien ihre Kraft einsetzen.
Die Mahnung wird wohl, wenigstens für die nächste Zeit,
beherzigt werden; immerhin ist der stark ausgeprägte Re-
gionalismus Italiens in Verbindung mit der grossen Ver-
schiedenheit der ökonomischen Entwickelung der einzelnen
Landestheile eine nicht unbedenkliche Klippe, die zu um-
schiffen der ganzen Kunst der Steuermänner des neuen
Partito dei Lavoratori italiani bedürfen wird.
Hier ist einer der Punkte, worin sich die italienische
Arbeiterbewegung von denen andrer Länder unterscheiden
wird. Unzweifelhaft werden die Hauptzüge der Entwicke-
lung in jedem neuen Falle wiederkehren, um so öfter und
gleichmässiger, je grösser und umfassender die Erfahrungen
waren, die in andern Ländern gemacht worden sind. Wenn
wir die Vorgänge auf dem Gebiet der Arbeiterbewegung
in Italien während der letzten Jahre überblicken, so springt
uns allerdings die vielfache Uebereinstimmung der Ent-
No. 39.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
483
Wickelung mit der in andern Ländern zunächst in die
Augen. Ursache wie Wirkung sind hier die gleichen; und
es liegt gewiss dem Beobachter der sozialen Entwickelung
vor allem ob, die Gründe für den gleichen Gang der Dinge
aufzudecken. Oft genug, vor allem auf sozialdemokratischer
.Seite, ist man aber auch geneigt, die Verschiedenheiten
der sozialen Entwickelung in den verschiedenen
Ländern zu übersehen. Und es wäre gerade eine Aufgabe
für die Führer der Arbeiterbewegung, den Besonderheiten
ihres Volkes nach Kräften Rechnung zu tragen. Die
italienische Arbeiterbewegung wird sicherlich eine ganze
Reihe unterschiedlicher Merkmale aufzuweisen haben. Einige
solcher Eigenthümlichkeiten wurden bereits hervorgehoben:
der stark ausgeprägte Regionalismuss in Verbindung mit
den Abständen in der ökonomischen Entwickelung der ein-
zelnen Landestheile; der Sinn und die Vorliebe des italie-
nischen Volks für das agitatorische Schlagwort, die regere
Antheilnahme seines Herzens und seiner Phantasie an dem,
was eine Bewegung erreichen soll. Schliesslich sei aber
noch auf ein wesentliches Moment hingewiesen, das in
weitem Umfange dazu beitragen wird, der italienischen Ar-
beiterbewegung einen eigenen Charakter aufzuprägen: das
ist der Umstand, dass sich das ländliche Proletariat
entschieden rascher als in andern Ländern in die Bewegung
wird hineinziehen lassen. Die Gründe für diese Annahme
zu entwickeln, würde hier zu weit führen. Sie liegen
wesentlich in folgenden Thatsachen: dass Italien einen
enormen Prozentsatz besitzloser Landarbeiter aufweist, der
Landarbeiter mag Theilpächter , Parzellenpächter oder
Tagelöhner heissen; dass das Verhältniss zwischen Grund-
herrn und Arbeiter viel schroffere Klassengegensätze auf-
weist wie anderswo; dass es meist gänzlich bereits ein
reines Zahlungs- bezw. Schuldverhältniss ist, die patriarcha-
lischen Beziehungen, wie sie z. B. das ostelbische Preussen
noch aufweist, längst verschwunden sind; dass endlich das
Landleben in Italien einen viel städtischeren Charakter hat
als z. B. bei uns. Wie der italienische Grundherr kein
eigentliches Landleben kennt, so auch der Arbeiter nicht.
Er ist kein Zubehör des Gutes, sondern Bürger einer kleinen
Landstadt, in die sich der italienische Bauer und ländliche
Arbeiter gern zusammenschliesst, selbst wenn er dadurch
gezwungen wird, zu seiner Arbeitsstätte ungebührlich weite
Wege zu machen. Schon jetzt haben sich zahlreiche Ver-
eine ländlicher Arbeiter dem Partito dei Lavoratori ange-
schlossen.
Hastig strebt Italien den übrigen Grossstaaten nach,
oft auf Kosten einer gesunden Entwickelung. Auch seine
Arbeiterbewegung ist in raschen Fluss gekommen und das
zu Ende gehende Jahr darf als eine wichtige Epoche in
dieser Bewegung bezeichnet werden. Die Arbeiterführer,
die sozialistischen und republikanischen Agitatoren können
zufrieden sein mit ihrer Thätigkeit. Ob diese segensreich
war, ob sie für die Arbeiterschaft, ob für das Land zum
Heil ausschlagen wird, muss die Zukunft lehren.
Z. Z. Arosa (Schweiz). Werner Sombart.
Arbeiterzustände.
Ausdehnung der jugendlichen Arbeit in der reichslän-
dischen Industrie. Zum ersten Male als separate Drucksache
erschien soeben der „Verwaltungsbericht des Aufsichtsbeamten
für die gewerblichen Anlagen in Eisass -Lothringen für das
Jahr 1891“ (Strassburg, Strassb. Druckerei u. Verlagsanstalt, 1892).
Bemerkenswerth sind in diesem Bericht hauptsächlich die Mit-
theilungen über die Ausdehnung der jugendlichen Arbeit in den
Reichslanden; leider giebt der Beamte keine vollständige
Statistik, aus der das Verhältniss der jugendlichen zu den er-
wachsenen Arbeitern zu ersehen wäre, was für eine richtige
Beurtheilung der Verhältnisse unentbehrlich ist. Nach den An-
gaben des Beamten waren im Dezember 1891 in 709 Fabriken
10 776 jugendliche Arbeiter beschäftigt; darunter befanden sich
673 Kinder und 10103 junge Leute. Gegenüber dem Vorjahre
hat der Bestand an Kindern um 37 pCt. abgenommen, der Be-
stand an jungen Leuten um 2 pCt. zugenomtnen — ein Erfolg,
welcher in erster Linie der Gewerbeordnung gutzuschreiben sei,
der aber so lange unsicher ist, als man nicht über die Ab- oder
Zunahme der erwachsenen Arbeiter unterrichtet ist. Der Haupt-
antheil entfällt, wie früher, auf die Textilindustrie; aber auch
hier sind die Zahlen sehr viel kleiner geworden, im Untereisass
um 50 pCt., im Obereisass um 40 pCt. Die Zahl der jungen
Leute hat im Hüttenwesen um 31 pCt., in den keramischen Be-
trieben um 20 pCt , in den polygraphischen Betrieben um 8,5 pCt,
und in der Textilindustrie um 4,5 pCt. zugenommen; in allen
übrigen Gewerben ist sie kleiner geworden.
Die Vermehrung erstreckte sich vorwiegend auf die Bur-
schen, während die Gesammtzahl der gleichalterigen Mädchen
um etwas abnahm. Selbst in denjenigen Gruppen, welche eine
Zunnahme der Mädchenzahl aufweisen, hielt der Zuwachs mit
dem der Burschen nicht gleichen Schritt. So stieg die Zahl der
Burschen, beziehentlich Mädchen, in der keramischen Industrie
um 24,3 und 12,8 pCt., in der Textilindustrie um 7,1 und 2,6 pCt.
Auch ein Vergleich mit dem Stande von 1889 liefert ähnliche
Ergebnisse. Indess ist die Zahl der Mädchen in einer Reihe
von Industrieen noch immer erheblich grösser, als die der
Burschen. So stehen je 100 Burschen in der Papierindustrie 106,
in der Textilindustrie 135, in der Bekleidungsindustrie 154 und
in der Genussmittelindustrie 163 Mädchen gegenüber. Bei der
Kinderarbeit erreicht dieses Verhältniss seinen Höhepunkt, so
dass auf einen beschäftigten Knaben in der Genussmittel- wie
in der Textilindustrie mehr als 4, in der keramischen Industrie
mehr als 5 und in der Papierindustrie 32 gleichalterige Mädchen
vorhanden sind. Von dem Beamten wurden in 136 von etwa 600
revidirten Fabriken zusammen 368 Uebertretungen der die Be-
schäftigung jugendlicher Arbeiter betreffenden Schutzgesetze
und Verordnungen ermittelt, aber nur 3 Personen sind wegen
solcher Uebertretungen bestraft worden. Die Beschäftigung
von Kindern unter 12 Jahren ist nur in Ziegeleien festgestellt
worden, ebendaselbst auch, sowie in Hüttenwerken, Sonntags-
arbeit der jungen Leute. Ueberlange Kinderarbeit war mehrfach
in Ziegeleien, seltener in sonstigen Betrieben, überlange Arbeit
junger Leute in Ziegeleien, Spinnereien und Webereien vor-
handen; gegen früher ist deren Vorkommen erheblich dadurch
eingeschränkt worden, dass in Folge des 1890er Ausstandes die
tägliche Betriebszeit vieler Fabriken vermindert worden ist. In
2 Spinnereien und in einer Weberei wurden Nachts junge Leute
beschäftigt. Nichtgewährung der Pausen, Gewährung zu kurzer
Pausen, Gewährung von „Pausen“ vor Beginn und nach Been-
digung der Arbeit, sowie die stillschweigende Gestaltung von
Arbeit während der Pausen, waren häufigere Erscheinungen.
Nicht der Absicht, aber dem Wortlaut des Gesetzes war hier
und da in der Weise genügt, dass die Jugendlichen in Reihen
eingetheilt waren, deren Pausen z, B. Nachmittags '/2 Stunde
nach Beginn oder x/j Stunde vor Ende der Schicht gelegt waren.
Die Nothwendigkeit der Pausen wird von manchen Unter-
nehmern nicht anerkannt; sie meinen, es sei besser für die jungen
Leute, unter Aufsicht zu arbeiten, als ohne Aufsicht sich selbst
überlassen zu bleiben. Indess macht die Einsicht, dass nicht
nur die Pausen an sich, sondern auch während derselben Ob-
dach und Aufsicht gewährt werden müssen, Fortschritte, und
hierzu trägt wohl wesentlich bei, dass bei der Genehmigung
eines jeden Neu- oder Erweiterungsbaues dem Unternehmer eine
dahinzielende Verpflichtung auferlegt wird. Der Einfluss der
Fabrikarbeit auf die körperliche Entwickelung der jugendlichen
Arbeiter ist nach dem Bericht in fassbarer Weise oder in Zahlen
nur sehr schwierig festzustellen. Wenn auch in vielen Fabriken,
namentlich der Textilindustrie, die Beispiele nicht selten sind,
welche einen üblen Einfluss annehmen lassen, wenn da auch
Personen beiderlei Geschlechts mit abnorm oder schlecht ent-
wickeltem Körper, von zuweilen nur 1,40 m Körperlänge bei
20—40 Jahren Lebensalter, junge Männer mit schiefen, schwäch-
lichen oder zu kurzen Beinen, andere mit bärtigem Gesicht und
kindlich erscheinendem Leibe ziemlich häufig und den meisten
eine geringe Brustentwickelung, überhängende Haltung, schlaffer
Gang, bleiche verlebte Farbe eigenthtimlich sind, so stehe doch
nicht immer fest, ob der Fabrikarbeit oder üblen Familien- und
Ernährungsverhältnissen und örtlichen Einflüssen die Schuld
vorwiegend beizumessen sei. Dazu muss bemerkt werden, dass
die „üblen Familien- und Ernähr ungs Verhältnisse“ doch ebenfalls
nur eine Folge der Fabrikbeschäftigung mit ihrem geringen
Verdienst und ihrer zerstörenden Wirkung auf den Haushalt
sind. Das Gesammtbild, das sich aus der Wechselwirkung
beider Einflüsse ergiebt, ist jedenfalls traurig genug.
484
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 39.
Politische Arbeiterbewegung.
Der Strike von Carmaux.
Jedesmal wenn die Arbeiter sich in irgend einer Weise
sei es durch Wort oder That, gegen die Staats- und die
Gemeindepolitik auflehnen, die Gesetzgebung und Ver-
waltung, als von den Interessen der herrschenden Klassen
uiktirt, bezeichnen und die ganze Staatsgewalt als einen
bloss die gemeinschaftlichen Geschäfte der Grundbesitzer
und Kapitalisten besorgenden Ausschuss anklagen, da wird
ihnen haarklein auseinandergesetzt, dass es seit der be-
rühmten Augustnacht von 1789 keine Klassen mehr in
rankreich gebe „dass es“, wie der „Temps“ erst vor
Kurzem schrieb, „gleicherweise absurd sei, in einer aus der
französischen Revolution entsprungenen Gesellschaft von
Proletariern und Bourgeois, von einem dritten und einem
vierten Stand zu sprechen; dass sie es, Dank dem allgemeinen
Stimm- und Wahlrecht, ganz in ihrer Gewalt haben,
Staat und Gemeinde so umzugestalten, wie sie es für ihr
Wohlergehen am einträglichsten finden. „Ihr seid unzu-
frieden mit den bestehenden Institutionen“, säuselte es bei
jeder Arbeiterdemonstration durch die Blätter derer, die
sich wohler als je unter ihnen finden, ja, warum zeigt Ihr
dies nicht an der Wahlurne? Der Stimmzettel ist die
sicherste Gewähr für Eure Wünsche. Mit ihm könnt Ihr
Alles, was Ihr wollt, in der friedfertigsten Weise von der
Welt vollbringen. Mit dem Stimmzettel ist die Aera der
Revolutionen abgeschlossen“ und dergleichen mehr.
Nun aber die Arbeiter diesem Rath zu folgen beginnen
und sich der Stimmzettel und Wahlurnen statt der Büchsen
und Barrikaden bedienen, wie dies in Carmaux der Fall,
wo sie einen der Ihrigen, den von der dortigen Gruben-
gesellschaft angestellten Monteur Calvignac zum Bürger-
meister wählten, da wird die Sprache derjenigen, die kurz
zuvor noch das Suffrage universel als eine Wünschelruthe,
a s ein wahres Tischlein-deck’-dich anpriesen, plötzlich eine
ganz andere. „Warum dieser Lärm?“ rufen sie. „Was ist
denn los in Carmaux? Nichts.“ „Es ist dort,“ sagt der
” e™Ps i »auf der einen Seite die Kompagnie, welche das
'echt hat, den und den Arbeiter zu entlassen, und auf der
anderen Herr Calvignac, der das Recht hat, Bürgermeister
zu sein. Nichts anderes.“ In der That, nichts anderes,
aber es genügt vollauf, um das Stimm- und Wahlrecht der
Arbeiter illusorisch, um es zu nichte zu machen. Unter
solchen Umständen könnte man ebenso gut von einem
Vereins- und Versammlungsrecht sprechen dort, wo die
o izei das Recht hat, den und den Verein, die und die
Versammlung aufzulösen, oder von einer Pressfreiheit, wo
die Zensur das Recht hat, jedes ihr missliebige Wort zu
streichen. „Was giebt es da für einen Grund zur Unzu-
friedenheit, könnte im letzteren Falle irgend ein „Temps“
semen radikaleren Geschwistern zurufen: „Ihr habt das
Recht zu schreiben, die Zensur hat das Recht zu streichen
— nichts anderes“.
Und dasselbe Organ, dass mit seinem: „II n’y a pas
autre chose“ die Streitfrage von Carmaux aus der Welt zu
schaffen wähnt, leitartikelt in seiner Nummer vom 21. d. M.:
„Sind die Arbeiter nicht zahlreicher als die Arbeitgeber?
enn sie eine Reform wollen und die Majorität haben,
sind sie nicht sicher, dass sie sich vollführen werde? Ge-
memderäthe, Generalräthe, Kammer und Senat, Minister
und Präsident der Republik sowie alle von ihnen abhängi-
gen V erwaltungen, hängt nicht der Reihe nach Alles vom
allgemeinen Wahlrecht ab?“ „Nein, wenn der Unter-
nehmer, sei es nun ein Einzelner oder eine Gesellschaft,
sei es in Industrie, Handel, Landwirthschaft oder Verkehr,
zum Gewählten sagen kann: Wähle zwischen deinen
Wählern und mir, zwischen Deinem Mandat und Deinem
Biod, dann hängt nicht Alles vom Wahlrecht sondern viel-
mehr vom Unternehmerthum ab.
Es ist nicht das erste Mal, dass ein Arbeitermandatar
vor die Alternative gestellt wurde, entweder auf sein
Mandat oder auf sein Brod zu verzichten. Wenn diesmal
besonderer Lärm geschlagen wurde, so ist dies nicht nur
dem Umstande zu verdanken, dass die Wähler Calvignac’s
' zugleich seine Arbeitsgenossen sind und sich als solche so-
lidarisch mit dem Entlassenen erklärten, sondern zum nicht
geringen Theil — wenigstens so weit es sich um die
bürgerlich-demokratischen Blätter und Parteien handelt —
auch dem Umstande, dass die an der Spitze der Gruben-
gesellschaft stehenden Personen, Baron Reille und Marquis
Solages, beide Abgeordnete, Bonapartisten sind. So er-
fährt man denn jetzt, dass zur Zeit der allgemeinen Wahlen
von 1889 ein keineswegs unerlaubter Druck insofern auf
die Grubenarbeiter ausgeübt wurde, als man einen Theil
derselben entliess und gleichzeitig die Nachricht verbreitete,
dass, wenn der Marquis Solages, Schwiegersohn des
Baron Reihe, zum Abgeordneten gewählt wird, es nicht an
Arbeit fehlen werde. Man müsse vor Allem, hiess es da-
mals, zur Partei des Brodes halten. Der Marquis wurde in
der 1 hat zum Abgeordneten gewählt und stimmt seit da-
mals regelmässig, wenn er an einem Votum über ein Ar-
beitergesetz theilnimmt, wie erst letzthin beim Bovier-
Lapierre sehen Entwurf bezüglich des Koalitionsrechtes,
gemeinsam mit seinem Schwiegerpapa gegen jede den Ar-
beitern günstige Gesetzesbestimmung, wie sich davon Jeder,
der sich hierfür interessirt, aus dem „Journal officiell“ über-
zeugen kann.
Nun ein grosser Theil der Presse und zahlreiche Ver-
sammlungen sich in einer für Baron Reihe und Marquis de
Solanges nichts weniger als schmeichelhaften Weise mit
dem Strike von Carmaux befassen, suchen diese das Odium,
Calvignac wegen seiner Wahl zum Maire entlassen zu
haben, dadurch von sich abzuwälzen, dass sie ihn beschul-
digen, seine Arbeit zu vernachlässigen und dies als Grund
seiner Entlassung angeben. Als Beweis führen sie aus den
letzten vier Monaten alle die Tage an, an denen er bei der
Arbeit fehlte. Dass er theils die Erlaubniss dazu erhielt,
theils durch Krankheit, wie dies durch Attest des Gruben-
arztes bekundet ist, von der Arbeit abgehalten wurde, ver-
schweigen sie. Wie aufrichtig es ihnen übrigens mit dem an-
gegebenen Entlassungsgrund ist, geht wohl am besten daraus
hervor, dass u. A. auch die erste Hälfte des Monats August mit
in die Berechnung einbezogen wurde, während Calvignac
bereits am 2. August seine Entlassung erhalten hatte! Es
ist auch schwer zu glauben, dass ein Arbeiter, der an
zwanzig Jahren in ein und demselben Grubenwerk be-
schäftigt ist - — was wohl ein sicheres Zeichen ist, dass er
seine Arbeitgeber vollauf befriedigt hat — plötzlich ein
nachlässiger, unbrauchbarer Arbeiter wird, auch schwer zu
glauben, dass mehr als 2000 Arbeiter sich mit einem wegen
Vernachlässigung seiner Arbeit entlassenen Kollegen soli-
darisch erklären und mit ihm die Arbeit verlassen. Nein,
diese I hatsache beweist mehr als alles andere, dass
Calvignac nur entlassen wurde, weil ihn das Vertrauen
der Arbeiter zum Bürgermeister von Carmaux machte. Die
Unternehmer nützen ihre wirthschaftliche Uebermacht immer
mehr in dem Sinne und Masse aus, wie die Feudalherren
des Mittelalters die ihrige. Sie wollen nicht blos Herren
über die Arbeitskraft, sondern über den ganzen Arbeiter
sein. Wo sie über ein grosses Arbeiterheer verfügen, wollen
sie, dass es ihnen auch ausserhalb der Fabrik, Grube oder
sonstiger Arbeitsanlage diene. Ueberwiegen ihre Arbeiter
in irgend einer Gemeinde oder einem Wahlbezirke alle
anderen an Zahl, dann betrachten sie diese Gemeinde oder
diesen Wahlbezirk als einen Bestandtheil ihrer Fabriks-
anlagen, als ihr Lehen, und wehe denen, die sich ihnen da
in den Weg stellen.
Und darum ist der Strike von Carmaux von eminent
sozialpolitischer Bedeutung. Es handelt sich darum, zu
wissen, ob die Arbeiter nicht nur das platonische, sondern
das faktische Recht haben, diejenigen in die Vertretungen
des Staates und der Gemeinde zu entsenden, die sie am
geeignetsten halten, ihre Interessen zu wahren, oder ob ihr
Wahlrecht zur Domäne der Fabrik-, Gruben-, Eisenbahn-
besitzer u. s. w. gehört. Man wähne nicht, dass es nicht
angehe, von Unternehmern zu verlangen, dass sie Ar-
beiter beschäftigen, die nicht die normale Arbeitszeit
No. 39.
SOZIALPOLITISCHES CKNTRALBI .ATT.
485
einhalten. Das mag allenfalls dort Geltung haben, wo
es sich um zwerghafte Betriebe handelt, weil da die
Unterbrechung der Arbeitskraft eines Einzelnen den
ganzen Betrieb stören oder erschweren kann. Und doch
pflegen gerade kleine Unternehmer in dieser Beziehung
recht liberal zu sein. Wo aber irgend ein Grossbetrieb,
irgend eine nur halbwegs ausgedehnte Unternehmung in
der Industrie, im Verkehr, in der Landwirthschaft oder im
Handel in Frage kommt, da verliert dieser Einwand jede
Geltung; da kann, da darf es nicht auf die Arbeitskraft
eines Einzelnen ankommen und da kommt es auch in der
That nicht darauf an, weil sonst schon einzelne Krankheits-
fälle den Betrieb stören würden. Das wäre auch eine
sonderbare Gruben-, Hütten-, Eisenbahn-, Gas- oder Bau-
unternehmung, eine sonderbare Dampfmüllerei, Sägerei,
Spinnerei, Brauerei etc. etc., wo durch das Ausbleiben des
einen oder anderen, selbst höher qualifizirten Arbeiters
irgend eine Störung einträte. Wo darum eine grössere
Unternehmung einen Arbeiter entlässt, der ein Mandat als
Prud’hommes-, Gemeinde-, Bezirks-Generalrath oder Bürger-
meister erhielt, kann man dreist annehmen, dass seine Ent-
lassung nicht wegen seiner zeitweiligen Abwesenheit vom
Arbeitsplatz erfolgt, sondern wegen seiner Eigenschaft als
Prud’hommes-Rath, Gemeinderath etc.
Sollte es nun gar so schwer fallen, den Widerspruch
zwischen der wirthschaftlichen Macht der Unternehmer und
dem politischen Recht der Arbeiter zu lösen? Mir scheint
dies nicht der Fall. Fast alle bedeutenden Unternehmungen,
wie Berg- und Hüttenbau, Gaswerke, Eisenbahn-, Tramway-,
Omnibus- und ähnliche Unternehmungen sind an Staats-
oder Gemeindekonzessionen gebunden, viele grössere Unter-
nehmungen in der Bau-, Textil-, Leder-, Metall-, Nahrungs-
industrie etc. von den Staats-, Departemental- und Ge-
meindeverwaltungen durch die ihnen ertheilten Arbeits-
und Lieferungsaufträge abhängig. Da könnten wohl leicht
Klauseln eingefügt, leicht Bedingungen gestellt werden, die
diesen Widerspruch in der einfachsten und billigsten Weise
lösten. Eine einfachere Lösung wäre es freilich, wenn
man den Gemeinderäthen etc. eine Entschädigung aus
öffentlichen Mitteln anwiese, gross genug, um sie während
ihrer Mandatdauer von jeder Lohnarbeit zu entbinden. Dies
wäre aber nicht nur äusserst kostspielig, sondern stände
auch in keinem Verhältniss zu dem Zeitaufwand, den die
Ausübung eines Gemeinderath- oder selbst Bürgermeister-
mandats in einer der vielen kleinen Gemeinden Frankreichs
erheischt, wo wenige Abendstunden oder höchstens 1 bis
2 Tage pro Woche hierfür genügen. Ihnen weder eine
Entschädigung geben, noch dafür sorgen, dass, wenn sie zu
Gemeindevertretern gewählt werden, sie deswegen nicht
ihre Arbeitsstelle verlieren, das geht freilich nicht und
muss nothwendig zu Konflikten führen wie zu dem von
Carmaux.
Paris. Leo Frankel.
Handwerkerfragen.
Zur Frage der Gewerbekammern.
Für die Beurtheilung des Projektes der Gewerbe-
kammern (vgl. No. 37 des Sozialpolitischen Centralblatts,
S. 451 fg.) ist das von der Regierung ins Auge gefasste
Verhältniss der Innungen zu der geplanten neuen Institu-
tion nicht ohne Interesse. Da der grösste Theil der den
Innungen bisher verliehenen Befugnisse auf die Gewerbe-
kammern übergehen dürfte, so würde das Nebeneinander-
bestehen beiderOrganisationen zu Unzuträglichkeiten führen.
Danach wäre Neubildung von Innungen ausgeschlossen.
Allein auf der anderen Seite sollen, wie Organe der Regie-
rung sich äussern, diese alten „mit der Geschichte des
deutschen Handwerks eng verknüpften Institutionen“ nicht
aufgehoben werden, selbst wenn die Gewerbekammern nur
fakultativ eingeführt werden sollten. Ein Ausweg wäre
„vielleicht angängig“, wenn man den grösseren Innungen,
sofern sie einen bestimmten Prozentsatz der Berufsgenossen
zu ihren Mitgliedern zählen, die Bildung besonderer Gruppen
innerhalb der Kammern verstattet. Andere Innungen
könnten dagegen wenigstens ihre Korporationsrechte be-
halten und ihre öffentlich-rechtlichen Befugnisse auch für
die Bezirke, in denen keine Gewerbekammern errichtet
würden.
Nach diesen Kundgebungen zu urtheilen, ist die Vor-
lage noch keineswegs in ein Stadium gesetzgeberischer
Reife angelangt. Es ist noch nicht einmal das Wichtigste
entschieden, ob fakultative oder obligatorische Organi-
sation beliebt wird. Alle Erfahrungen weisen gebieterisch
auf die letztere hin. Baden, das sich bekanntlich soeben
für den ersteren Weg entschied, hat das mehr gethan in
der Absicht „ut aliquid fecisse videatur“ , (dass es den
Anschein gewinne als ob man etwas gethan hätte)! Nach
so viel vergeblichen Anläufen entweder eine Aktion im
grossen Stil , die dann obligatorisch sein muss , oder
gar keine.
Die zärtliche Rücksichtnahme auf die Innungen wäre
berechtigt, wenn jene wirkliches Leben aufwiesen. Von
der Tradition zu zehren und sich darauf als Rechtstitel zu
berufen, ist in unseren Zeitläuften nicht angebracht. Man
lasse doch einmal erst durch eine Enquete mit statistischer
Exaktheit feststellen, wie viele Berufsgenossen der einzelnen
Branchen in den Innungen inkorporirt sind, und welche
Einrichtungen zum Nutzen ihres Handwerks diese geschaffen
und erhalten haben! Das wäre der einzig rationelle Weg,
eine Art von Rechtsanspruch für sie zu begründen. Bis
jetzt ist es unmöglich, einwandsfreie Ziffern über die Aus-
dehnung der Innungen zu erhalten; denn die auf den
„Handwerkertagen“ angegebenen besitzen eben nicht diesen
Charakter. Nach der Begründung des badischen Gewerbe-
kammerentwurfs zählte man 1 882 im Grossherzogthum
27 822 Gewerbetreibende, die nicht mehr als 5 Arbeiter
beschäftigten. Davon gehörten im Ganzen 1043, d. h. nur
4,5 pCt. den Innungen an! Zugegeben, dass Baden kein
günstiger Boden für sie ist , so scheint es doch min-
destens der Klärung bedürftig, ob sich in anderen Theilen
des Reiches das Verhältniss nicht ähnlich oder gar noch
ungünstiger für die Innungen stellt.
Ferner ist zu bedenken, dass die Konstituirung einer
besonderen Innungsabtheilung innerhalb der Gewerbe-
kammern den Zwist geradezu in die Institution hineinträgt.
Es würde gerade das eintreten, was man vermeiden will;
denn es würden alsdann zwei gesonderte Vertretungen des
Handwerks existiren, zwischen denen es an Konfliktsstoff
nicht fehlen dürfte. Dass sie als Abtheilungen derselben
Institution fungiren, macht diese erst recht unbrauchbar
und ihre Voten bedeutungslos. Sie würden sich wahr-
scheinlich widersprechen wie die Gutachten Sachverstän-
diger über denselben Punkt!
Endlich sei bemerkt, dass es einer künstlichen Stär-
kung der Innungen gar nicht bedürfte, falls diese um eine
ihrer Bedeutung nicht entsprechende Vertretung in den
Gewerbekammern bangen. Die fest organisirte Minderheit
wird stets über die unc'rganisirte Mehrzahl den Sieg be-
haupten. Wer diesen Satz, den die Geschichte auf jedem
Blatte lehrt, bestreiten will, den verweisen wir auf die Er-
folge der Innungen bei den Wahlen zum gewerblichen
Schiedsgericht vor Erlass des neuen Gesetzes z. B. in
Frankfurt a. M. Sollen aber durchaus die Innungen mit
ihren Nachfolgern versöhnt werden, was vielleicht nöthig
ist, um ihren Anhängern die Vorlage annehmbar zu machen,
dann ist es doch gerathener, anstatt einen „Staat im Staate“
zu begründen, den grösseren Innungen garantirte Vertreter
zu gewähren, obwohl wir auch dies in keiner Weise befür-
worten wollen.
Die Innungen haben stets behauptet, ihre Forderungen
würden im Interesse des ganzen Handwerkerstandes auf-
gestellt. Wohlan! Ist die Organisation in Gewerbekammern
das bessere, so hat eben die Tradition — • soweit man
überhaupt davon bei den heute noch bestehenden Innungen
486
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 39.
reden kann — ihre Rolle ausgespielt und muss zurück-
treten. Wollen die Innungen daneben und darüber hinaus
für die Handwerker Nützliches schaffen, so wird sie Nie-
mand daran hindern. Eine Institution aber, welche schon
an sich so viele Gegner hat wie das neue Projekt, sollte
man rationeller Weise nicht dadurch von vornherein zum
lode verurtheilen!
Marburg i. II.
Rudolf Grätzer.
Unternehmerverbände.
tt i V«rkaufsverein der rheinisch-westfälischen Kohlenzechen.
Ueber die bemerkenswerthe Thätigkeit dieses wichtigen Unter-
fonimf ^a-rti.e Sj (Dortmunder Kohlenverkaufsverein) ~ im Jahre
Ti A"le, 'Ier, soeben erschienene Jahresbericht desselben
nähere Auskunft. Auf diesem Verkaufsverein sollte sich das grosse
1 heimscli-westfähsche Kohlensyndikat aufbauen, dessen Gründun°-
Kurzlich versucht wurde, wie auch an dieser Stelle berichtet
worden ist. Der Verkaufsverein umfasst Zechen mit einer Ge-
sammtförderung von 3 279 909 Tonnen von Juli 1890 bis Juni 1891.
Kr bes-orgte den Verkauf von rund 2 Mül. Tonnen, 'der Rest
gelangte im eigenen Betrieb und im Landdebit der Zechen zum
Verschleiss. Das Kartell beobachtete im Laufe des Rechnuno-s-
lahres eine Produktionssteigerung um ca. 16 pCt. und beschloss
deshalb schon frühzeitig Fördereinschränkungen bis zu 25 pCt.,
Beschlüsse, die jedoch von den Zechen nicht beachtet wurden,
so dass die Steigerung der Produktion noch zunahm. Es
mussten deshalb dem Handel Preisminderungen zugestanden
werden. Der \ erein baut ein eigenes Geschäftshaus. Ueber
das grosse rheinisch- westfälische Kohlensyndikat theilt der
Bericht folgendes offiziell mit: „Eine von den Mitgliedern der
Gemeins-chaft gewählte Kommission, in welcher die grösseren
Lresellschatten, Gewerkschaften und Verkaufsvereine vertreten
waren, hat mit grosser Mühe und Sorgfalt zu diesem Zweck
f£n,r * ■ soVle einen Vertrag entworfen, welche den Be-
t heiligten in einer Versammlung am 30. Juli 1892 unterbreitet
wurden. In dieser Versammlung waren 80 Zechen mit 90,377 pCt.
C Cr Gesammtförderung abzüglich der im Besitz von Hütten-
werken befindlichen Zechen vertreten und war dieselbe ein-
s immig der Ansicht, dass die von der Kommission vor-
geschlagene Form für die Errichtung einer gemeinsamen
Verkaufsstelle die einzige Möglichkeit biete, dem westfälischen
Bergbau einen dauernden Einfluss auf die Gestaltung einer
gesunden Marktlage zu sichern. Bei den weiteren Verhandlungen
stellten sich bezüglich der Betheiljgung der kontrahirenden
.Sc1611 am Gesammtabsatz, namentlich wegen der im Bau be-
griffenen neuen Schächte, Schwierigkeiten heraus, in Folge
dessen diese Versammlung vorläufig resultatlos verlief. In-
zwischen ruht die Angelegenheit vollständig, weil viele Zechen-
vertreter sich in Urlaub befinden; die weiteren Verhandlungen
werden jedoch voraussichtlich in allernächster Zeit wieder
energisch aufgenommen werden und hegen wir die Zuversicht,
das s dieselben zu einem befriedigenden Abschlüsse
Tun ren werden. Wir halten uns zu dieser Annahme berechtigt,
veil unseres Wissens fast sämmtliche Zechenvertreter davon
uberzeugt sind, dass der Bergbau einer verhängnissvollen Zukunft
entgegen geht, wenn das Syndikat nicht zu Stande kommen
sollte. Es steht deshalb zu erwarten, dass jeder nach Kräften
i ,c*as .Zustandekommen des Syndikats wirken wird, um dem
drohenden Niedergange noch rechtzeitig zu steuern.“
Plan massige Aussperrung sozialistischer Arbeiter in
Ungarn. Die Grosswardeiner Gewerbegenossenschaften
haben sich an die übrigen gewerblichen Korporationen in
Ungarn mit einem Memorandum gewendet, in welchem sie
die Gefahren des Sozialismus für das Gewerbe schildern.
Gleichzeitig erklären sie, dieser Bewegung gegenüber bliebe
nichts übrig, als dass auch die Arbeitgeber sich über ent-
sprechende Massnahmen einigen und im Wege der Han-
delskammern bei der Regierung um Abhilfe einschreiten.
So lange dieselbe nicht geboten wird, mögen die Gewerbe-
treibenden sich einigen, die Anhänger und Verbreiter des
Sozialismus unter den Arbeitern nicht zu beschäftigen und
die Namen solcher Agitatoren im Zirkularwege bekannt
machen. Die Grosswardeiner Korporationen eröffnen die
Publikation der Liste sozialistischer Arbeiter, indem sie die
Namen derjenigen bekannt geben, welche wegen sozialisti-
scher Umtriebe aus Grosswardein ausgewiesen wurden.
Arbeiterversicherung.
Normalunfallverhiitungsvorschriften der deutschen Be-
rutsgenossenscliaften. Die Ausarbeitung der Normal-Unfall-
verhütungsvorschriften, welche später für alle Berufso-enossen-
schaften gleicher Betriebsart Geltung haben sollen, wird unter
Betheiligung hervorragender Fachmänner gegenwärtig durch den
Vorstand des „Verbandes deutscher Berufsgenossenschaften“
besorgt. Damit soll dem vielfach gerügten Uebelstande entgegen
gewirkt werden, dass die Arbeiten durch die in den verschiedenen
Anstalten gütigen und von einander abweichenden Unfallver-
hütungsvorschriften in vielen Fällen verwirrt und unsicher
gemacht werden, was die Stetigkeit und den regelmässigen Gaiw
der Betriebe beeinträchtigt. Von mehreren Seiten sei zwar
behauptet worden, dass es nicht möglich sei, Vorschriften zu
schaffen, die auf alle Betriebe gleichmässig angewendet werden
könnten ; dem gegenüber sei zu beachten, dass die überwiegende
Mehrzahl der Berufsgenossenschaften sich für die Aufstelluno-
von Normalvorschriften ausgesprochen habe, wobei durch sacln
gemässe Unterabtheilungen sämmtliche Betriebe thunlichst zur
Berücksichtigung kommen sollen.
Zur deutschen Unfallstatistik. Im Reichs-Versiche-
rungsamte wird gegenwärtig, wie wir der National-Zeitung
entnehmen, eine Statistik zusammengestellt, welche sich
auf die in der Land- und Forst wirthschaft vorkommenden
Unfälle bezieht. Sie erstreckt sich auf das Jahr 1891. Die
landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften haben dazu
das Material in Zählkarten, deren Text sich wegen der
Möglichkeit einer Vergleichung eng an den der Karten für
das Jahr 1887 angeschlossen hatte, geliefert. Zwar ist noch
nicht das gesammte Material im Reichsversicherungsamt
vorhanden, aber auch das eingelaufene zeigt bereits zur
Genüge, wie nützlich und zweckmässig es war, eine solche
Statistik vorzunehmen. Die Bearbeitung des eingelaufenen
und noch einzureichenden Materials wird zwar einen
längeren Zeitraum in Anspruch nehmen. Man kann aber
jetzt schon sicher sein, dass man eine völlig ausreichende
Unterlage gewinnen wird, von der aus man eine land-
wirthschaltliche Unfallverhütung, wie sie u. a. auch im
November 1890 vom königlich preussischen Landes-
Oekonomiekollegium verlangt wurde, schaffen kann.
Erhöhte Unfallgefahr bei der Verwendung jugend-
licher Arbeiter. Unseres Wissens zum ersten Male ’zahlen-
mässig hat diese erhöhte Unfallgefahr festgestellt der
Gewerbeaufsichtsbeamte für Elsass-Lothringen in seinem
soeben erschienenen Bericht für 1891. Er benutzte zur
Feststellung die Unfallanzeigen, sowie die Krankenkassen-
statistik seines Bezirks. Danach wurden 1891 in 16 Betrieben
des einen Kreises
erwachs. Arbeiter
männlich ; weiblich
jugendl. Arbeiter
männlich weiblich
beschäftigt ....
3 305
3 581
473
566
verletzt
59
22
17
11
V erletzte in Prozenten
17,8
6,1
35,9
19,4
Die männlichen jugendlichen Arbeiter sind dem-
nach in 21ach, die weiblichen in 3f ach höherem Maasse
durch Unfälle beeinflusst, als die Erwachsenen. Aehnlich
liegen die Verhältnisse in einem anderen Kreise, wo 1891
in 20 Textilbetrieben
erwachs. Arbeiter
männlich | weiblich
jugendl. Arbeiter
männlich weiblich
beschäftigt ....
5 672 ' 7 094
546
748
verletzt wurden . .
134 69
28
17
Verletzte in Prozenten
23,6 9,7
51,2
22,7
„Dass die Verletzungen aut die gesammte körperliche Ent-
wickelung immer von bedeutendem Einfluss sein müssten,
soll nicht gesagt sein“, fügt der Beamte hinzu. „Zweifellos
aber wird der normale Gesundheitszustand der jugendlichen
Arbeiter häufiger als der der Erwachsenen durch sie beein-
trächtigt, und ebenso zweifellos kann das nicht ohne alle
Einwirkung auf ihre Entwickelung bleiben.“
Leistungen staatlich organisirter und freier Hilfs-
kassen in Deutschland. Aus der neuesten amtlichen Sta-
tistik über das deutsche Krankenkassenwesen im Jahre 1890
(„Statistik des Deutschen Reichs“, Neue Folge, Band 59),
No. 39.
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT,
487
aus welcher das Sozialpolitische Centralblatt bereits Ver- I
schiedenes mittheilte, erscheint die Uebersicht über die
Leistungen der verschiedenen Kassenarten noch besonders
wichtig und interessant. Berechnet man nämlich die Krank-
heitskosten auf ein Mitglied (unter a) und auf einen Tag
(unter b), so ergeben sich folgende Zahlen:
a. b.
Baukrankenkassen
M.
2,51
M.
Betriebs- (Fabrik-) Kassen ....
. . 16,72
2,59
Eingeschriebene Hilfskassen . . .
. . 14,65
2,02
j.
Landesrechtliche Hilfskassen . . .
. . 14,20
2,03
Ortskrankenkassen
. . 11,91
5)
2(00
Innungskrankenkassen
. . 9,70
2,13
Gemeinde-Krankenversicherung
. . 7,41
V)
1,77
Wenn nun auf die auffallend geringeren Aufwen-
dungen der Gemeinde-Krankenversicherung, wie sie aus
dieser amtlichen Uebersicht hervorgehen, durch die gesetz-
lichen Beschränkungen in der Höhe des Krankengeldes,
sowie dadurch erklärt werden, dass von ihr kein Sterbegeld
und keine Wöchnerinnenunterstützung gezahlt werden clarf,
so bleibt doch das Weniger der Leistungen bei den Orts-
krankenkassen im Gegensatz zu den freien Hilfskassen sehr
auffällig. Massgebend ist hauptsächlich die Ziffer unter b,
da die Aufwendung pro Krankheitstag den allein richtigen
Massstab zur Vergleichung abgiebt. Und hier bleiben die
Ortskrankenkassen hinter den freien Hilfskassen zurück,
obgleich sie Zuschüsse der Unternehmer und Beihilfen von
Behörden (Lokal, Personal etc.) beziehen. Das wirft ein
eigentümliches Licht auf die gegen die freien Hilfskassen
gerichteten Vorschriften der letzten Novelle zum Kranken-
versicherungsgesetze.
Wohnungszustände.
Wolimingsverhältnisse der Arbeiterbevülkernng in
Eisass-Lothringen. Der Gewerbeaufsichtsbeamte für die
Reichslande theilt hierüber in seinem neuesten Jahresbericht
für 1891 Folgendes mit: „Die Wohnverhältnisse der Arbeiter,
namentlich der unteren Arbeiterschichten, sind in manchen
Orten übler Art. In Strassburg, Metz, Gebweiler, Colmar,
Markirch, Thann, Masmünster, Mülhausen, Grossmoyenvue,
Hayingen und Saargemtind lassen die Wohnungen nach den
an Ort und Stelle erhaltenen Mittheilungen Vieles, manch-
mal Alles zu wünschen übrig, was im Interesse der
Gesundheit und Sittli chkeit erforderlich wäre. Eine
Ausnahme hiervon machen gewöhnlich die den Arbeitgebern
gehörigen und unter dem Beding vermietheten Wohnungen,
dass Kost- und Quartiergänger nur mit Erlaubnis® des
Arbeitgebers gehalten werden dürfen. Die Gemeindebehörden
von Strassburg und Colmar befassen sich dem Vernehmen
nach mit der Untersuchung und Verbesserung der Wohn-
ungen solcher Art. Jene in Mülhausen, Thann und Saar-
gemünd sind auf Veranlassung der Fabrikinspektion im Laufe
des Jahres zum Vorgehen angeregt worden, mit welchem
Ertoljj, steht noch dahin. Der Verbreitung von Licht
über die Wohnverhältnisse und über deren Folgen könnte
eine Bearbeitung der einschlägigen gerichtlichen Straf-
akten mit dienen. Es ist einleuchtend, dass eine Verbesse-
rung an der Hand einer objectiven, die Thatsachen richtig
wiedergebenden Darstellung leichter durchzusetzen sein
würde als jetzt, wo die Thatsachen den betheiligten Be-
hörden und Gesundheitskommissionen nur theilweise oder
aus einseitigen, bruchstückweisen gelegentlichen Wahr-
nehmungen bekannt sein können. Bei den hiesigen landes-
rechtlichen Bestimmungen, welche ein Einschreiten gegen
das Wohnungselend abhängig machen von dem guten
Willen der Gemeindevertretungen, und ein energisches
Eingreifen der Staatspolizei nach dieser Richtung fast un-
möglich machen, würde eine sorgfältige Ermittelung und
zweckentsprechende Verwerthung der Thatsachen vielleicht
mit Recht anzurathen sein. Zu bemerken ist noch, dass
bei der Genehmigung grösserer gewerblicher Anlagen
meinerseits stets eine Bedingung vorgeschlagen wird, wo-
nach dem Unternehmer im Falle des Bedürfnisses die Her-
stellung von Arbeiterwohnungen obliegt, deren Hausordnung
der Gutheissung des Kreisdirektors bedarf.“ Man sieht,
dass die amtliche Nachforschung nach und nach den Schleier
von grossen Missständen in den gesummten Reichslanden
ebenso heben muss, wie es zuerst He~kner von den Woh-
nungszuständen der Arbeiter im „Arbeiterparadies“ Mül-
hausen that.
Soziale Hygiene.
Sanitätsstatistik der Arbeiter im Wiener Kleingewerbe.
Die Innungskrankenkassen sind in Berlin weit weniger
entwickelt als die Genossenschafts-Krankenkassen in Wien.
In Wien bilden diese Kassen einen ausschliesslich von den
Arbeitern verwalteten Verband, der die einzelnen Kranken-
kassen in mannigfacher Hinsicht entlastet, denen er die Sorge
für Aerzte und Medikamente, und die Krankenkontrolle ab-
nimmt. Der grösste Theil der kleingewerblichen neben
wenigen in der Grossindustrie und dem Handel thätigen
Arbeiter Wiens gehört diesem Verbände an, welcher in
dankenswerther Weise der Sanitätsstatistik Aufmerksamkeit
und Interesse widmet. 40 genossenschaftliche Kranken-
kassen betheiligten sich an der zuletzt aufgenommen Sta-
tistik1); abgesehen von einer Statistik der Kassengebarung
auf die heute nicht eingegangen werden soll, handelt es
sich hier vornehmlich um Morbiditäts-, Mortalitäts- und Un-
fallstatistik einer grossen Zahl an einem Orte konzentrirter
kleingewerblicher Arbeiter.
Die Zahl der Mitglieder betrug am 31. Dezember 1891
72 554 (und zwar 64 311 männliche und 8243 weibliche). Es
kamen am 31. Dezember 1890 ebenso wie am 31. De-
zember 1891 auf 1000 Mitglieder 887 männliche und 1 13 weib-
liche über den Altersaufbau finden sich zwei interessante
Tabellen, deren Resultate wir hier zusammengefasst wieder-
geben.
Alter
in Jahren
männl.
weibl.
männl.
%
weibl.
%
12—15
77
432
0,1
5,2
16-20
11 888
2 251
18,8
27,3
21-25
14 832
1 963
23,2
23,9
26-30
12 152
1 337
19,0
16,2
31-40
14 303
1 293
22,4
15,7
41-50
6 872
590
10,8
7,2
51—60
2 763
275
4,3
3,3
61—70
786
86
1,2
bl
71 u. darüber
127
9
0,2
0,1
Für die Beurtheilung des Altersaufbaus scheinen nur
die Zahlen für die männlichen Versicherten massgebend zu
sein, da das rasche Sinken der Zahl der versicherten Frauen
gegen die Mitte der zwanziger Jahre wohl zu dem Schlüsse
berechtigt, dass die verheiratheten Frauen aus dem klein-
gewerblichen Arbeitsverhältnisse austreten, waren doch
57,9 pCt. der Männer und nur 43,6 pCt. der Frauen im
Alter von über 25 Jahren beschäftigt, was dem Altersauf-
bau der Geschlechter in der gesammten Bevölkerung wider-
spricht. Die Anzahl der unter 15 Jahren alten Versicherten
ist für den Altersaufbau der im Wiener Kleingewerbe thä-
tigen Personen nicht massgebend, da die Verbandskassen
die Versicherung auf die Lehrlinge nicht ausdehnen konnten,
aus diesem Grunde bleibt auch die angegebene Anzahl der
im Alter von 16 — 20 Jahren stehenden Versicherten hinter
der der thatsächlich beschäftigten erheblich zurück. Dem-
nach giebt die vorstehende Tabelle für die höheren Alters-
klassen weitaus zu günstige Prozentverhältnisse an, trotz-
dem aber ist selbst dieser Altersaufbau viel ungünstiger
als bei den grossindustriellen Arbeitern. Nur 38,9 pCt. der
männlichen kleingewerblichen Arbeiter Wiens überschreiten
das 30, kaum 16,5 pCt. das 40. Lebensjahr. Mit dem
35. Lebensjahr beginnt die Abnahme der Arbeitskraft in
P Abgedruckt im „Berichte des Verbandes der Genossen-
schaftskrankenkassen für Wien und LTmgebung sowie Statistik
der Verbandskassen für das Jahr 1891.“ (Selbstverlag 8° 73 S.)
S . 38 ff.
488
SOZIALPOLITISCHES CENTRALBLATT.
No. 39.
fürchterlicher Weise, vom 40. Lebensjahr verschwinden die
Arbeiter ihrer Mehrzahl nach aus dem Gewerbe, wie die
Angaben für die hier aneinandergereihten Zahlen für das
fünfte und die folgenden Jahrzehnte beweisen: 6872 — 2763
— 786 — 127.
Die Versicherung der grossindustriellen Arbeiter Wiens
ist zum grössten Theile Aufgabe der allgemeinen Arbeiter-
kranken- und Unterstützungskasse („Freie Hilfskasse“) und
der Bezirkskrankenkasse („Ortskrankenkasse“). Bei ersterer
überschritten 31,4 pCt., bei letzterer 24,1 pCt das 40. Lebens-
jahr, bei den kleingewerblichen Arbeitern der Genossen-
scnattskrankenkassen nur 16,5 pCt. Abgesehen von den
schon angegebenen Fehlerquellen ist zu bemerken, dass
bei den zuletzt erwähnten Kassen zwar nicht ausnahms-
los, aber zum weitaus überwiegenden Theile die Arbeiter
der Grossindustrie versichert sind; diese Fehlerquellen
gleichen sich aber nicht aus, sondern verstärken in erheb-
lichem Masse die Abweichungen im Altersaufbau der klein-
gewerblichen und grossindustriellen Arbeiter.
Zum Vergleiche des Altersaufbaues theilen wir die
für die grossmdustriellen Arbeiter gemachten Angaben mit-
die günstigeren Zahlen erklären sich daraus, dass die all-
gemeine Arbeiterkrankenkasse die bestgezahlten, auch sonst
meist orgamsirten Arbeiter versichert, dass sie nicht zur
Aufnahme von Jedermann verpflichtet ist, während dies für
die Bezirkskrankenkassen gilt.
In Prozenten der Gesammtzahl stehen bei der
im Alter von
Jahren
Allgemeine Arbeiter-
Krankenkasse
männl. weibl.
Bezirks-Krankenkasse
weibl. männl.
bis 15')
1,1
2,5
6,3
5,7
16—20
8,2
17,8
18,2
22,1
21—25
13,3
23,0
12,3
20,6
26—30
15,1
15.1
14,1
15,1
31-40
30,9
20,1
25,0
19,3
41—50
21,6
12.2
12,0
10 2
51—60
7,5 |
7,5
9,2
5 0
61—70
1,8
1,6
2,6
1,8
71— x
0,5
0,2
0,3
0,2
100
100
100
100
Leidei lässt sich, ohne allzu ausführlich zu werden
der Altersaufbau für die einzelnen Berufsgruppen der klein-
gewerblichen Arbeiter hier nicht erörtern, es sei deshalb
nur -erwähnt, dass bei den Tischlern nur 14,9 pCt bei den
Drechslern nur 11,7 pCt. und bei den Schuhmachern nur
8,7 pCt. das 40. Lebensjahr überschreiten.
Leider geht es ebensowenig an, auf die hochinter-
essante Morbiditätsstatistik für die einzelnen Gewerbe
welche wieder in Altersgruppen geschieden sind, näher
emzugehen, wir müssen uns begnügen auf dieses überaus
werthvolle Material (a. a. O. S. 47—60) zu verweisen und
einige Hauptangaben hier mitzutheilen. Das Jahr 1891, auf
das sich diese Daten beziehen, war ein durchaus normales
ferner sei erwähnt, dass die Entbindungen bei der folgenden
Tabelle nicht mitgezählt wurden. Es entfielen Erkrankungen
m Prozenten der Gesammtzahl der Versicherten:
im Alter von
männl.
weibl.
Jahren
Geschlechtes
bis 15
0,1
4,1
16—20
16,6
30,1
21—25
22,6
23,7
26—30
17,2
14,4
31 - 40
21,8
15,4
41—50
12,8
7,7
51—60
6,2
3,1
61—70
2,3
1,3
71— x
0,4
0,2
Gesammtzahl der
Erkrankungen . .
17 815 = 85,99%
2 903= 14,01%
v * Verständniss der verhältnissmässig geringen Zahl
m dieser Altersstufe sei erinnert, dass in Oesterreich Arbeiter
unter 14 Jahren in der Grossindustrie nicht beschäftigt werden
dürfen; im Kleingewerbe ist die Beschäftigung von Kindern im
Alter von 12—14 Jahren gestattet, trotzdem ist aus den schon
angegebenen Gründen diese Zahl bedeutend grösser als bei den
kleingewerblichen Arbeitern.
Neben 11,4 pCt. der Männer erkrankten 14,01 pCt der
brauen. Mit zunehmendem Alter zeigte sich erheblich ge-
steigerte Morbidität. Während die Zahl der über 40 Tahre
alten Mitglieder 10,8 pCt. ausmachte, entfielen auf diese
Gruppe 12,8 pCt. der Erkrankungen. Nicht nur in Bezuo-
auf die Zahl der Erkrankungen, sondern auch bezüglich der
Dauer derselben weisen die Frauen ungünstigere Verhält-
nisse auf als die Männer, fasst man noch die den Frauen
auch zur Last fallenden Entbindungen ins Aucre, so wird
es klar, dass die weiblichen Mitglieder weit grössere Aus-
lagen verursachen als die männlichen. Die Einwirkung des
Berufes auf die Morbidität sei nur durch ein Beispiel
filustrirt: Aut die Stein- und Kupferdrucker entfielen 28 94
?Un (1,f Uissbinder dagegen blos 13,74 Krankheitstage, auf-
fallend sind auch die grossen Abweichungen der Relativ-
zahlen bei den Entbindungen, so kamen z. B. auf die ver-
sicherten Frauen des Schuhmachergewerbes 14,7 pCt., auf
die des Hutmachergewerbes nur 9,3 pCt. Entbindungen um
noch weiter abweichende Zahlen nicht zu erwähnen.
Aus dem Ueberwiegen einzelner Erkrankungen kann
man auf das \ orhandensein von Berufskrankheiten zurück-
sch Hessen, und dort wo man es, wie hier, mit Arbeitern
von 40 verschiedenen Berufsgruppen zu thun hat, auf die die
Arbeiterklasse sjieziell in hohem Grade erfassende Krank-
heiten. Hierzu gehören Zellgewebsentzündungen (1775),
tuberkulöse (1244), Rheumatismen (2211), Neuralgien (564),
Bronchialkatarrhe _ (3447), Magenkatarrhe (1358). Diese
Zahlen beziehen sich blos aut die Erkrankungen, bei denen
wegen ausgeschlossener Arbeitsfähigkeit, Unterstützungen
bezogen wurden; bei Heranziehung auch der arbeitsfähigen
ambulanten Kranken erhebt sich folgende Tabelle:
Krankenart
Entwickelungskrankheiten
Infektionskrankheiten
Venerische und syphilitische Krank-
heiten . . . .'
Neubildungen
Krankheiten des Blutes etc
„ „ Nervensystems . . .
» „ Auges
,, ■, Gehörorgans . . .
„ der Athmungsorgane . .
» „ Cirkulationsorgane .
i) „ Verdauungsorgane .
„ „ Harn- u. Geschlechts-
Erkrankungen bei
welchen Unterstützungen
bezogen nicht bezogen
wurden
92
51
3742
969
402
797
61
113
2349
2003
705
762
506
1026
69
199
4486
3337
553
453
3001
3142
organe
» „ Haut
ü „ Bewegungsorgane
Verletzungen
LTnbestimmte Diagnosen
Vergiftungen
Selbstmordversuche
543
395
911
1343
688
377
2347
485
104
154
132
44
3
—
Summe
20694 15650
Für die ungünstigen sanitären Verhältnisse der im
Wiener Kleingewerbe thätigen Arbeiter spricht auch die
Absterbeordnung der in den Genossenschaftskrankenkassen
versicherten Personen und zwar ist diese nicht nur ab-
solut, sondern wie die folgende Tabelle zeigt, auch
relativ genommen, in hohem Masse eine ungünstige zu
nennen.
Die 812 bei den Genossenschaftskrankenkassen Ver-
sicherten erreichten ein durchschnittliches Alter von
36 Jahren, während die Verstorbenen der Allgemeinen
Arbeiterkranken- und Unterstützungskasse 40,3, die der
Bezirkskrankenkasse 41,1 Jahre alt wurden.
Es starben im Alter unter 30 Jahren bei
dem Verbände 45,9 pCt.
der Allgemeinen Arbeiterkrankenkasse 30,0 „
der Bezirkskrankenkasse 24,9
Das 50. Lebensjahr haben Verstorbene überschritten bei
dem Verbände 14,6 pCt.
der Allgemeinen Arbeiterkrankenkasse 24,6 „
der Bezirkskrankenkasse 25,5 „
No. 39.
SOZI APOLITISCHES CENT KAI. BLATT .
489
Für die einzelnen Altersstufen ergaben sich folgende
Relativzahlen:
Es starben
im Alter
von Jahren
in Prozenten der Gesammtzahl
1
Verband
Allg-. Arbeiter-
krankenkasse
Bezirks-
krankenkasse
bis 15
0,0
0,4
0,2
1 6 — 2Ö
9,5
8,5
6,4
21—25
20,6
10,0
7,6
26—30
15,8
11,1
10,7
31-40
24,0
24,1
22,7
41—50
15,5
21,3
26,9
51-60
8,9
13,9
14,7
61—70
4,3
7,6
8,9
71— x
L4
3,1
1,9
100
100
100
Bei 61,33 pCt. (53,75 pCt. bei Allgemeinen Arbeiter-
kranken- und Unterstützungskassen) der Verstorbenen war
Tuberkulose die Todesursache, bei den Stein- und Kupfer-
druckern stieg diese Zahl auf 80 pCt. und bei Drechslern,
Buchbindern und Tischlern auf 73 — 75 '/4 pCt.
Nach dem Berufs- und Durchschnittsalter sind die
Verstorbenen folgendermassen zu gruppiren1):
Unter dem Durchschnittsalter (36 Jahre) verblieben:
1 Optiker (20 Jahre), 1 Sattler (21 Jahre), 3 Graveure etc.
(24,3 Jahre), 68 Buchbinder (27,92 Jahre), 10 Zuckerbäcker
28,7 Jahre)* 84 Schuhmacher (29,34 Jahre), 8 Glaser etc.
(31,12Jahre), 5 Tapezierer (31,2 Jahre), 12 Giesser (32,3 Jahre),
101 Drechsler (32,93 Jahre), 2Ö Stein- und Kupferdrucker
(33 Jahre), 6 Taschner und Riemer (33,6 Jahre), 103 Tischler
(34 Jahre), 4 Zimmer- und Dekorationsmaler (34,5 Jahre),
4 Vergolder (34,75 Jahre), 5 Handschuhmacher (35,2 Jahre),
34 Schlosser (35,67 Jahre), 21 Hutmacher (35,71 Jahre),
90 Buchdrucker (35,78 Jahre). Das Durchschnittsalter über-
schritten die Verstorbenen in den folgenden kleingewerb-
lichen Berufen: 44 Juweliere, Gold- und Silberarbeiter
(36,47 Jahre), 33 Posamentierer (37,48 Jahre), 2 Btirsten-
und Pinselerzeuger (38 Jahre) , 41 Bäcker (38,34
Jahre) , 5 Spielkartenerzeuger (40 Jahre) , 6 Huf-
und Wagenschmiede (40,6 Jahre), 5 Pflasterer (41 Jahre),
2 Büchsenmacher und Schwertfeger (41,5 Jahre), 2 Fass-
binder (41,5 Jahre), 9 Dachdecker (42 Jahre), 8 Klavier- und
Orgelbauer (42,5 Jahre), 22 Gürtler und Broncearbeiter
(45,12 Jahre), 9 Seiden-, Schön- und Schwarzfärber (46,3
Jahre), 5 Hafner (47 Jahre), 13 Banderzeuger (47,53 Jahre),
5 Buch-, Kunst- und Musikalienhändler (48 Jahre), 13 Zimmer-
leute (48 Jahre), 6 Blas- und Streichinstrumentenerzeuger
(51,5 Jahre) und 2 Gold- und Metallschläger (52 Jahre).
Die Statistik der Unfälle ist für das Jahr 1891 leider
noch unvollständig, was im Deutschen Reiche wegen der
geplanten Ausdehnung der Unfallversicherung auf das
Handwerk doppelt bedauert werden muss. Die hier
folgenden Zahlen sind nur ein Bruchtheil der thatsächlich
vorgekommenen Unfälle. Zur Kenntniss der Verbands-
verwaltung gelangten 1125 Unfälle der bei den Genossen-
schaftskrankenkassen versicherten, hiervon entfielen 50
(knapp 5 pCt.) auf Arbeiterinnen.
Nach dem Alter gruppiren sich die Verletzten
wie folgt:
Alter in Jahren
Verunglückte
Prozent der
Gesammtzahl
15—20
267
23,8
21—30
469
41,7
31-40
193
17,1
41—50
136
12,1
51-60
41
3,6
61—70
16
1,4
unbekannten Alters
3
0,3
zusammen . . .
1125
100
Die Unfallgefahr scheint demnach bei Personen unter
20 und zwischen 40 und 50 Jahren am grössten zu sein.
') Es handelt sich hier fast stets um zu kleine Zahlen, um
weitergehende Schlüsse zu gestatten.
Ueber die Dauer des Heilverfahrens giebt die folgende
Tabelle Aufschluss:
Dauer des
fahrens in
Heilver-
Wochen
Anzahl
der Unfälle
In Prozent der
Gesammtzahl
bis
1
305
28,2
1 —
2
337
31,1
2-
3
182
16,8
3-
4
98
9,1
4—
5
51
4,7
5—
6
29
2,7
6—
7
22
2,0
7—
8
18
1,7
8—
9
11
1,0
9—
10
3
0,2
10 und mehr
27
2,5
zusammen . . .
unbekannt. . .
1083
42
100
Das Heilverfahren von mehr als 85 pCt. der von
Unfällen betroffenen dauert kürzere Zeit als einen Monat,
und kaum 1 pCt über ein Vierteljahr.
So wenig die eingestandenermassen unzulängliche
Unfallstatistik zu Schlüssen berechtigt, so wenig auch für
die Mehrzahl der Gewerbe wegen der kleinen Zahlen
spezielle Schlüsse aus den angeführten Zahlen berechtigt
sein dürften, so sehr giebt die Morbiditäts- und Mortalitäts-
statistik der Gesammtzahl (ca. 72 000 Personen) Anlass zu
allgemeinen Betrachtungen.
Wir können aus diesen wichtigen Folgeerscheinungen
ökonomischer Verhältnisse schliessen, dass die allgemeinen
Lebens- und besonderen Arbeitsbedingungen der klein-
gewerblichen Arbeiter ungünstiger sein dürften als die der
grossindustriellen Arbeiter, dass sie früher zu arbeiten be-
ginnen, dass sie in ungünstigeren Wohn- und Arbeits-
räumen ihr Leben verbringen, dass sie länger und zu un-
günstigeren Bedingungen arbeiten müssen als die Arbeiter
m der Grossindustrie. Für den vorurtheilslosen Sozial-
politiker müsste sich hieraus der naheliegende Schluss
ergeben, dass bei aller Anerkennung der Nothwendigkeit,
den Arbeiterschutz für die grossindustriellen Arbeiter aus-
zudehnen, wirksame und einschneidende Schutzmassregeln
für die Arbeiter des Kleingewerbes, und wie wir gleich in
Parenthese bemerken wollen, für die der Hausindustrie und
des Verkehrsgewerbes, zu den allerdringlichsten staatlichen
Pflichten gehören. Wird es auch für den grossindustriellen
Arbeiter von Tag zu Tag schwerer, sich selbst zu helfen,
so ist, freilich nur vergleichsweise gesprochen, eher für
diese eine solche Möglichkeit vorhanden, als für die kraft-
loseren, vereinzelt arbeitenden Personen im Kleingewerbe.
Dass aber Machtfragen hier entscheidend sind und nicht
Schlüsse aus der Statistik, braught dem Kenner der Verhält-
nisse nicht in Erinnerung gerufen zu werden. Oesterreich
gab den Industriearbeitern Schutz der Kinderarbeit, einen
Maximalarbeitstag, eine relativ gute Unfallversicherung, die
Arbeiter im Kleingewerbe blieben aber weit ungeschützter,
weil man in den industriellen Arbeitern eine Macht zu
fürchten begann, in den kleingewerblichen Meistern aber
eine zwar untergehende, aber noch in’s Gewicht fallende
Stütze konservativer Interessen sah. Solche Erkenntniss
darf aber nicht hindern, die Forderung eines Schutzes der
kleingewerblichen Arbeiter mit stets neuen Argumenten
zu stützen. '
Berlin. Adolf Braun.
Eingesendete Schriften.
(Besprechung Vorbehalten.)
Bornhak, Conrad, Das deutsche Arbeiterrecht. Syste-
matisch dargestellt. S.-A. aus den „Annalen des deutschen
Reichs“. München u. Leipzig, 1892. G. Hirth. gr. 8°. 190 S.
Jastrow, Dr. J., Privatdozent, Die Vermögenssteuer und
ihre Einführung in das preussische Steuersystem.
S.-A. aus den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und
Statistik“. Jena, 1892. Fischer.
Katalog der Bibliothek der Gehe-Stiftung zu Dresden. II Staats-
lehre, Staats- und Völkerrecht, Verwaltung. Dresden, 1892.
v. Zahn u. Jaensch. gr. 8°. XXIV u. 571 S-
Verantwortlich fiir die Redaktion: Pr. Heinrich Braun in Berlin.
490
ANZEIGEN.
TJn Ofßczal Journal of the American Academy cf Political
• and Social Science.
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American Academy o| political and 5ocial Science,
STATION B, PHILADELPHIA.
Verlag der Manchen t und k. Hof-Verlag^nd Universh^B^hhafdl
Elemente
der
Volkswirtschaftslehre.
Von
Dr. W. Neurath,
Professor an der k. k. Hochschule für Bodenkultur in Wien.
Zweite Auflage
(grössten theils neu bearbeitet und vermehrt). XXVI und 487 Seiten 8k
Preis 2 M. 50 Pf.
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=Verla^on LeoiiIiard Simion, Berlin SW.. Wilhelmstrasse 121
Volkswirtschaftliche Zeitfragen,
Vorträge und Abhandlungen
herausgegeben von
der Volkswirthschaftlichen Gesellschaft in Berlin
und
der ständigen Deputation des Kongresses Deutscher Volkswirthe.
JährUch erscheinen 8 Hefte zum Abonnementspreise von 6 Mark
Einzelpreis für jedes Heft / Mark.
Heft iog/in.
Die Bodenftesitzreform als sociales Heilmittel.
Von
Dr. Hugo Preuss.
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Xllmbs, jmteffr. 55.
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