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Full text of "Sozialpolitisches Centralblatt"

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in  2015 


https://archive.org/details/sozialpolitische01brau 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


HERAUSGEGEBEN 

VON 

Dr.  HEINRICH  BRAUN. 


ERSTER  BAND 

(JANUAR— OKTOBER  1892). 


BERLIN  1892. 


J.  GUTTENTAG,  VERLAGSBUCHHANDLUNG. 


Inhalt  des  ersten  Bandes, 

(Januar — Oktober  1892.) 


Seite 

Leitende  Aufsätze. 

Unser  Programm 1 

Die  sozialpolitische  Bedeutung  der  neuen 
Handelsverträge.  Von  Prof.  Dr.  C.  J. 
Fuchs  in  Greifswald 2 

0 Die  sozialpolitische  Auffassung  des  Ver- 
0^  brechens.  Von  Prof.  Dr.  F.  v.  Liszt  in 

t Halle  a.  S 4 

o-  Die  Arbeiterschutzgesetzgebung  beim  deut- 
L sehen  Bergbau.  Von  Dr.Leo  Verkauf  in 

- Wien 17 

p- 

Die  politische  Presse  der  deutschen  Sozial- 

f demokratie 31 

T Amtliche  Untersuchungen  sozialer  Zustände 
in  Deutschland.  Von  Dr.  Heinrich 
**  Braun  in  Berlin 45 

j 

f Die  gesellschaftlichen  Ursachen  des  Ver- 
brechens.  Von  Prof.  Dr.  Franz  v.  Liszt 
in  Halle  a.  S 59 

1 Die  Neu-Organisation  der  Gewerbegerichte 

r*  in  Deutschland  und  das  Berliner  Orts- 

o 

:•/)»  Statut.  Von  Dr.  Max  Quarck  in  Fränk- 
in furt  a.  M 73 

Zur  Heimstättenfrage.  Von  Dr.  Carl  Grün- 
berg in  Wien 87 

Der  parlamentarische  Kampf  gegen  die 

Börse 101 

Die  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik. 

Von  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  . 113 

Gesetzgeberische  Massnahmen  gegen  Pro- 
stitution und  Zuhälterthum.  Von  Privat- 
dozent Dr.  Theodor  Löwenfeld  in 


München 115 

Arbeitslosigkeit.  Von  Prof.  Dr.  Heinrich 

Herkner  in  Freiburg  i,  Br 127 

Die  Kohlenarbeiterfrage  in  Grossbritannien. 

Von  Dr.  Stefan  Bauer  in  Wien  . . 139 

Die  Organisationsbestrebungen  der  Gewerk- 
schaften auf  dem  Halberstädter  Kon- 
gress. Von  Dr.  Adolf  Braun  in 
Berlin 151 


Zur  Lage  der  schlesischen  Hausweber.  Von 

Prof.  Dr.  Werner  Sombart  in  Breslau  175 
Die  neueste  sächsische  Fabrikarbeiterauf- 
nahme und  ihre  sozialstatistischen  Er- 
gebnisse. Von  Dr.  Max  Quarck  in 

Frankfurt  a.  M 187 

Die  freien  Hilfskassen  und  ihre  Aufgabe 
gegenüber  dem  Krankenversicherungs- 
gesetz. Von  Dr.  Adolf  Braun  in 


Berlin 199 

Eine  moderne  Arbeiter- Produktivgenossen- 
schaft. Von  Prof.  Dr.  Heinrich 
Herkner  in  Freiburg  i.  Br.  . ....  21 1 


Seite 


Die  Umgestaltung  der  Gewerbeinspektion 
in  Preussen.  Von  Dr.  Heinrich  Braun 

in  Berlin 223 

Zur  Steuerreform  in  Preussen.  Von  Prof. 

Dr.  E.  v.  Philipp  ovich  in  Frei- 
burg i.  Br 235 


Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen.  Von  Prof. 

Dr.  Heinrich  Herkner  in  Freiburg  i. Br.  247 
Gewerbeinspektor  und  Kesselrevisor.  Von 

Privatdozent  Dr.  J.  Jastrow  in  Berlin  259 
Die  Novelle  zum  preussischen  Berggesetze. 

Von  Dr.  Leo  Verkauf  in  Wien  163.  271 

Die  soziale  Bedeutung  der  Währungsfrage. 


Von  Dr.  J.  Landesberger  in  Wien  . 283 

Ein  Schutzgesetz  für  die  Gewerkschaften 
in  Frankreich.  Von  Leo  Frankel  in 

Paris 295 

Der  Gesetzentwurf  über  die  direkten  Per- 
sonalsteuern in  Oesterreich.  Von  Prof. 

Dr.  E.  M i s c h 1 e r in  Prag 307 

Das  Korporationsrecht  und  die  Gewerk- 
vereine in  Deutschland.  Von  Dr.  Arthur 

Cohen  in  Augsburg 319 

Die  Anfänge  einer  deutschen  Arbeiter- 
statistik. Von  Dr.  Heinrich  Braun 

in  Berlin 331 

Zur  Auswanderungsfrage  in  Russland.  Von 

P.  v.  Struve 343 

Die  Arbeiterstatistik  der  preussischen  Ge- 
werbeinspektoren-Berichte  für  1891.  Von 
Dr.  Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  . 357 


XVIII.  italienischer  Arbeiterkongress.  Von 

Prof.  Dr.  Werner  Sombart  in  Breslau  367 
Die  Durchführung  der  kaufmännischen 


Sonntagsruhe  im  Deutschen  Reiche.  Von 
Dr.  Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  . 379 
Statistik  der  Hausweberei  im  schlesischen 
Eulengebirge.  Von  Prof.  Dr.  Werner 
Sombart  in  Breslau 391 


Die  Rechtskraft  der  Rentenfestsetzungsbe- 
scheide des  Reichsversicherungsamts  . 403 

Die  wirthschaftliche  Entwickelung  Russlands 
und  die  Erhaltung  des  Bauernstandes. 


Von  P.  v.  Struve 415 

Zum  Verfahren  in  Unfall-Entschädigungs- 
sachen   427 

Soziale  Wanderungen  in  Oesterreich . . . 439 

Die  deutschen  Gewerbekammern.  Von  Dr. 

Rudolf  Grätzer  in  Marburg  ....  451 

Die  Zukunft  der  Rechtsstrafe.  Von  Prof. 

Dr.  Fr.  v.  Liszt  in  Halle  a.  S.  . . . 463 

Cholera  und  Sozialpolitik.  Von  Dr.  Victor 

Adler  in  Wien 464 


Seite 

Der  gegenwärtige  Stand  der  italienischen 
Arbeiterbewegung.  Von  Prof.  Dr. 
Werner  Sombart  in  Breslau.  . . . 479 

Soziale  Wirtschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik. 


Die  sozialpolitische  Bedeutung  der  neuen 
Handelsverträge.  Von  Prof.  Dr.  C.  J. 

Fuchs  in  Greifswald 2 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Das  Zündholzmonopol  in  der  Schweiz.  Von 
Fabrikinspektor  Dr.  F.  Schüler  in 

Mollis 5 

Die  Hypothekenbewegung  im  preussischen 
Staate  während  der  Rechnungsjahre 
1886/87  bis  1889/90  Von  Dr.  Carl 

Grünberg  in  Wien 34 

Agrarische  Bewegungen  in  der  Schweiz. 

Von  Kantonsstatistiker  E.  N a e f in  Aarau  34 

Reform  der  Gewerbeordnung  in  der  Schweiz. 

Von  Kantonsstatistiker  E.  N ae  f in  Aarau  47 
Agrarische  Verhältnisse  in  Rumänien.  Von 

Dr.  Carl  Grünberg  in  Wien  ...  60 

Ein  neuer  Lohnberechnungsplan.  Von 

H.  Schlüter  in  New-York 75 

Zur  Heimstättenfrage.  Von  Dr.  Carl 

Grünberg  in  Wien 87 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Zu  den  agrarischen  Zuständen  in  Mexiko. 

Von  Kantonsstatistiker  E.  Naef  in  Aarau  90 
Der  parlamentarische  Kampf  gegen  die 

Börse 101 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Ein  deutsches  Auswanderungsgesetz.  Von 

Dr.  Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  116 
Zu  den  agrarischen  Reformplänen  in  Ru- 
mänien. Von  Dr.  Carl  Grünberg  in 

Wien 129 

Die  Wiener  Verkehrsanlagen  und  die  Ar- 
beiter. Von  Dr.  Heinrich  Fried- 
jung in  Wien 14  t 

Das  Schweizerische  Auswanderungsgesetz. 

Von  Kantonsstatistiker  E.  Naef  in 

Aarau  154 

Die  Abzahlungsgeschäfte  in  Ratenlosen  in 
der  Schweiz.  Von  Kantonsstatistiker 

E.  Naef,  Aarau 165 

Zur  Frage  des  Wasserrechts.  Von  Privat- 

docent  Dr.Leo  Arons  in  Berlin  . . 201 

Eine  moderne  Arbeiter-Produktivgenossen- 
schaft. Von  Prof.  Dr.  Heinrich  Herk- 
ner in  Freiburg  i.  B.  . 214 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 


IV 


INHALT  DES  ERSTEN  BANDES. 


Seite 


Seite 


Zur  Steuerreform  in  Preussen.  Von  Pro- 
fessor Dr.  E.  v.  Ph ili pp  o v i ch  in  Frei- 
burg i.  B ‘ 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Der  Fall  Dankwardt  und  die  preussische 
Agrarpolitik.  Von  Professor  Dr.  C.  J. 

Fuchs  in  Greifswald 

Untersuchung  der  Bodenverschuldung  in 
der  Schweiz.  Von  Kantonsstatistiker 

E.  Naef  in  Aarau 

Die  soziale  Bedeutung  der  Währungsfrage. 
Von  Dr.  J.  Landesberger  in  Wien  . 
(Vergl.  Leitende  Aufsätze). 

Der  Gesetzentwurf  über  die  direkten  Per- 
sonalsteuern in  Oesterreich.  Von  Prof. 

Dr.  E.  Mischler  in  Prag 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze). 

Die  sozialpolitischen  Aufgaben  der  deut- 
schen Gemeindeverwaltungen.  Von  Dr. 
Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  . . 

Ein  Wort  über  soziale  Freiheit.  V on 

Privatdocent  Dr.  Georg  Simmel  in 

Berlin 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze). 

Zur  Auswanderungsfrage  in  Russland.  Von 

P.  v.  Struve 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Die  Gutszertrümmerungen  in  Bayern.  Von 
Dr.  Arthur  Cohen  in  Augsburg  . . 

Die  sozialstatistischen  Ergebnisse  der  schwei- 
zer Rekrutirung  im  Herbste  1890.  Von 
Dr.  Adolf  Braun  in  Berlin  .... 
Noch  ein  Wort  zum  Koalitionsrecht  der 
Arbeiter  in  Frankreich.  Von  Professor 
Dr.  v.  Schubert-Sol  dern  .... 
Zur  Frage  der  Einführung  der  obligatori- 
schen Berufsgenossenschaften  in  der 
Schweiz.  Von  Kantonsstatistiker  E.  N ae  f 

in  Aarau 

Die  Auswanderung  aus  Oesterreich- 
Ungarn.  Von  Prof.  Dr.  E.  Mi  sch  ler  in 

frag 

Staatlicher  Arbeitsnachweis  in  Neu-Seeland. 
Von  Staatssekretär  Edward  Tregear 
in  Wellington,  Neu-Seeland  .... 
Die  wirthschaftliche  Entwickelung  Russ- 
lands und  die  Erhaltung  des  Bauern- 
standes. Von  P.  v.  Struve  .... 
(Vergl.  Leitende  Aufsätze). 

Die  deutschen  Erwerbs-  und  Wirthschafts- 
genossenschaften  im  Jahre  1891.  Von 
Assessor  Dr.  Hans  Crliger  in  Berlin  . 
Die  Landwirthschaftskammern  in  Preussen. 
Von  Dr.  Rudolf  Grätzer  in  Mar- 
burg i.  H 

Zur  sozialpolitischen  Geschichte  des  rhei- 
nisch-westfälischen Bergbaues.  Von  Dr. 
Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  . . 

Zur  Frage  der  Volksernährung.  Von  Pro- 
fessor Dr.  W.  Lotz  in  München  . . . 

Der  Kampf  zwischen  Arbeit  und  Kapital 
im  fernen  Westen.  Von  Kantonsstatis- 
tiker E.  Naef  in  Aarau  ...... 

Cholera  und  Sozialpolitik.  Von  Dr.  Victor 

Adler  in  Wien 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Die  Bestrebungen  und  Aussichten  der  deut- 
schen Bodenreformer.  Von  Dr.  B.  Bor- 

chardt  in  Berlin 

Grossbetrieb  im  Kohlengewerbe  .... 
Neuer  sozialpolitischer  Gesetzentwurf  in 

Preussen  . 

Zur  Frage  der  Börsenreform 

Auswanderungsgesetz  für  Deutschland  . 


Zahl  der  industriellen  Arbeiter  in  Russ- 


land 


235 

237 

250 

283 

307 

321 

333 


Berufsgenossenschaften  in  der  Schweiz  . . 

Agitation  der  Bodenreformer  in  England  . 
Englisches  Genossenschaftswesen  .... 
Die  russische  Wirthschaftspolitik  und  die 

Hungersnoth 

Ueberseeische  Auswanderung  aus  dem  deut- 
schen Reiche 

Die  russische  Regierung  und  die  Hungers- 
noth   

Ermittelungen  über  die  landwirtschaftliche 
Bodenverschuldung  in  der  Schweiz  . 
Sparkassen  im  Dienst  des  Arbeiterwohls  . 

Agrarzustände  auf  Haiti 

Zum  deutschen  Auswanderungsgesetz  . . 

Arbeitergenossenschaften  in  Italien  . . . 

Städtische  Sozialpolitik  in  England  . . . 

Reform  des  Gesetzes  betr.  den  Unter- 

stützungswohnsitz 

Der  Entwurf  eines  Heimstättengesetzes  für 

das  Deutsche  Reich 

Das  Höferecht  in  Tirol 

Die  überseeische  Auswanderung  aus  Oester- 


343 

346 

357 

369 

370 
381 
384 
415 

429 

442 

443 

444 

452 

464 


reich • 

Die  Postsparkassen  in  Ungarn  .... 
Aargauische  Verordnung,  betr.  Verkauf  von 

Loosen  in  Raten 

Bestrebungen  für  reichsgesetzliche  Regelung 

des  Gesinderechtes 

Arbeitsnachweis  in  Stuttgart 

Statistik  der  in  deutschen  Fabriken  be- 
schäftigten Arbeiterinnen 

Maschinelle  Vervollkommnung  in  Folge 

von  Lohnbewegungen  

Kommunale  Arbeitsnachweisbureaus  . . . 

Die  überseeische  Auswanderung  aus  der 

Schweiz  im  Jahre  1891 

Der  dritte  Evangelisch-Soziale  Kongress  . 
Die  Errichtung  von  Rentengütern  in  Ost-, 
Westpreussen  und  Posen  . . . 239. 

Zur  Frage  des  Wasserrechts 

Der  Berliner  Centralverein  für  Arbeits- 
nachweis   

Arbeitsnachweis  in  Freiburg  i.  B 

Vergebung  von  Staatsarbeiten  in  der 

Schweiz  

Die  Krisis  in  der  schweizerischen  Uhren- 

industrie 

Italienisches  Zündholzmonopol 

Die  deutsche  Kommission  für  Arbeiter- 
statistik ...  30.  178.  191.  214.  261. 
Zur  Lohnpolitik  des  österreichischen  Gross- 
grundbesitzes   

Abstellung  der  Zuchthausarbeit  in  der  Korb- 
macherei   

Arbeitsnachweis  in  Breslau 

Handel  von  Prämien-  und  Anlehenloosen 

im  Kanton  Zürich 

Teppichweberei  in  Kleinasien 

Zur  Charakteristik  des  Nothstandes  in  Russ- 
land   

Einkommenverhältnisse  im  Königreich 

Sachsen 

Das  Wasserrecht  in  der  Schweiz  . . . . 

Verbot  der  Swcating- Arbeit  bei  Staatsauf- 
trägen in  England  


466 


33 

35 

47 


Gross-  und  Kleinbetriebe  in  der  schwei- 
zerischen Fabrikindustrie  . . . . 

Einfluss  der  Lohnhöhe  auf  die  Geschäfts- 
lage   

Wanderung  ostpreussischer  Landarbeiter 
nach  Bayern 


61 

76 

76 

76 

89 

103 

104 

104 
104 
118 
131 
131  ! 

143 

144  j 

155 

155 

166 

177 

178 

178 

178 

189 

189 

202 

202 

212 

274 

240 

240 

240 


240 


250 

251 

324 

261 

261 

262 

262 

262 

272 

274 

275 

275 

286 

287 

287 


Massregeln  gegen  den  Kontraktbruch  länd- 
lichen Gesindes 

Bezahlung  städtischer  Arbeiter  in  London 
Güterzertrümmerung  in  Bayern  .... 
Ueberseeische  Auswanderung  aus  dem 

deutschen  Reiche 

Zur  Ueberfüllung  des  Kleinhandels  in 

Deutschland 

Obligatorische  Naturalverpflegung  wandern- 
der Arbeiter  im  Kanton  Aargau  . . . 

Bergarbeiter  - Produktivgenossenschaft  in 

Belgien 

Ergebnisse  einer  land wirtschaftlichen  Be- 
rufsstatistik in  Belgien 

Regelung  der  Lohnfristen 

Kommunale  Besteuerung  des  Reichsfiskus 
Arbeiterwanderungen  im  Innern  Deutsch- 
lands   

Das  französische  Unternehmerthum  und  das 

Gesetz  Bovier-Lapierre 

Die  Auswanderung  der  deutschen  Kolo- 
nisten aus  Russland  nach  Nordamerika 
Arbeiterausschüsse  in  Oesterreich  .... 
Minimallöhne  für  städtische  Angestellte  in 

Zürich 

Arbeitsnachweisanstalt  in  Karlsruhe  . 
Minimallohn  und  Arbeitsvermittelung  in 

Gross-Zürich 

Obligatorische  Fortbildungsschulen  für 
Kellnerlehrlinge  und  Laufburschen  in 

Stuttgart 

Grossbetrieb  im  französischen  Detailhandel 
Schweizerischer  Arbeiterbund  und  schwei- 
zerisches Arbeitersekretariat  .... 
Die  Reichspostverwaltung  und  die  Vereins- 
freiheit   

Hausindustrie  und  Fabrikindustrie  . . . 

Berufsgenossenschaften  und  Berufssekretäre 

in  der  Schweiz 

Enquete  über  Anstalten  für  Arbeitsvermit- 
telung in  Deutschland 

Vorschriften  für  Kellnerinnen- Wirthschaften 

in  Berlin 

Ziehkinderwesen  in  Leipzig 

Gesetzliche  Regelung  der  Ausverkäufe  in 

Oesterreich 

Nothlage  in  der  schweizerischen  Land- 

wirthschaft  

Arbeitsnachweis  in  Oesterreich  . . . . 

Entwurf  eines  badischen  Anerbenrechts- 
gesetzes   . . 

Ortsstatut  über  Lohnzahlung  in  Augsburg 
Reform  der  Gesindeordnung  in  Wien  . . 

Der  Montag  und  die  Fabrikunfälle  . . . 

Nothlage  in  der  schweizerischen  U hren- 

industrie 

Amtliche  Arbeiterstatistik  im  deutschen 
Bäcker-,  Conditoren-  und  Handels- 
gewerbe   

Sozialpolitischer  Unterricht 

Schulkantinen  in  Frankreich 

Der  Kongress  der  sozialistischen  Gemeinde- 

räthe  Frankreichs 

Staatsmonopole 

Unentgeltliche  Beerdigung  in  der  Schweiz 
Die  Schweiz  als  Versuchsfeld  für  Volks- 
wirthschaft  und  Sozialpolitik  . . . . 

Soziale  Wanderungen  in  Oesterreich  . . 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Die  überseeische  Auswanderung  aus 
Deutschland  im  ersten  Halbjahre  1892 
Speisung  armer  Schulkinder  in  Kopen- 
hagen ............ 

I Zum  Handel  mit  Ratenloosen 


Seite 


287 

287 

297 

298 


298 


298 

298 

323 

335 

335 

335 

336 

336 

347 

347 

359 

359 


371 

371 

371 

385 

385 

385 

393 

393 

393 

393 

393 

405 

407 

407 

407 

407 

408 


417 

417 

417 

418 
431 
431 

431 

439 


446 

446 

446 


t 


1 


INHALT  DES  ERSTEN  BANDES. 


V 


Seite 

Die  Kommission  für  die  Umarbeitung  des 


Reichszivilgesetzentwurfes 453 

Staatliche  Lohnpolitik  in  Preussen  . . . 454 

Eine  Enquete  über  das  Gemeindeeigenthum 

im  Deutschen  Reiche 454 

Das  englische  Kleinstättengesetz  ....  454 

Verlegung  des  Lohntages  in  Rheinland- 

Westfalen  ...  467 

Soziale  Wanderungen  in  Deutschland  . . 467 


Arbeiterzustände. 


Die  Lage  der  deutschen  Mühlenarbeiter. 

Von  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  . 7 

Ueber  die  Abnahme  der  Arbeitskraft.  Von 
Prof.  Dr.  Heinrich  Herkner  in  Frei- 
burg i.  B 19 

Amtliche  Untersuchungen  sozialer  Zustände 
in  Deutschland.  Von  Dr.  Heinrich 

Braun  in  Berlin 45 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Ueber  die  Abnahme  der  Arbeitskraft.  Von 

Dr.  N.  Brückner  in  Frankfurt  a.  M.  . 47 

Erwiderung.  Von  Prof.  Dr.  Heinrich 

Herkner  in  Freiburg  i.  B 48 

Die  königliche  Kommission  über  die  Ar- 
beiterfrage in  England.  Von  Dr.  Ste- 
phan Bauer  in  Wien 62 

Die  Kinderarbeit  in  Frankreich.  Von  Prof. 

Dr.  Wilhelm  Stieda  in  Rostock  . . 63 

Das  Trucksystem  in  England.  Von  Prof. 

Dr.  Wilhelm  Stieda  in  Rostock  . . 77 

Eine  „Aufnahme“  der  ländlichen  4rbeiter- 
verhältnisse.  Von  Dr.  Max  Quarck 

in  Frankfurt  a.  M 78 

Eine  Aufnahme  der  ländlichen  Arbeiter- 
verhältnisse. Von  Prof.  Dr.  Gustav 

Schmoller  in  Berlin 105 

Die  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik. 

Von  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  . 113 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 
Betriebsunfälle  in  der  Industrie  Nürnbergs. 

Von  Martin  Segitz  in  Nürnberg  . . 118 

Arbeitslosigkeit.  Von  Prof.  Dr.  Heinrich 

Herkner  in  Freiburg  i.  Br 127 


(Vergl.  Leitende  Aufsätze.! 

Zur  Lage  der  schlesischen  Hausweber.  Von 

Prof.  Dr.  Werner  Sombart  in  Breslau  175 
(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Die  neueste  sächsische  Fabrikarbeiterauf- 
nahme und  ihre  sozialstatistischen  Ergeb- 
nisse. Von  Dr.  Max  Quarck  in  Frank- 
furt a.  M 187 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Die  Kinderarbeit  in  der  russischen  Fabrik- 
industrie. Von  Dr.  Sophie  Daszynska 


in  Warschau 190 

Arbeitslöhne  in  der  oberschlesischen  Montan- 
industrie. Von  Prof.  Werner  Sombart 

in  Breslau 225 

Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Maurer 
Deutschlands.  Von  Dr.  Adolf  Braun 

in  Berlin 311 

Die  Grubenkatastrophe  in  Przibram.  Von 

Dr.  Leo  Verkauf  in  Wien  ....  323 

Die  Anfänge  einer  deutschen  Arbeiter- 
statistik. Von  Dr.  Heinrich  Braun 

in  Berlin 331 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Zur  Entwickelung  der  Hausindustrie  in 
Preussen.  Von  Dr.  Max  Quarck  in 
Frankfurt  a.  M 347 


Seite 

Die  Arbeiterstatistik  der  preussischen  Ge- 
werbeinspektoren-Berichte  für  1891.  Von 
Dr.  Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  . 357 
(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Statistik  der  Hausweberei  im  schlesischen 
Eulengebirge.  Von  Prof.  Dr.  Werner 

Sombart  in  Breslau 391 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Die  niedrigsten  und  die  höchsten  orts- 
üblichen Tagelöhne  in  Deutschland.  Von 


Dr.  E.  Lange  in  Friedenau  ....  431 

Die  Lage  der  Arbeiter  in  den  russischen 
Bergwerken.  Von  E.  Scholkow  in 

München 454 

Die  Reichsenquete  über  die  Arbeitsverhält- 
nisse im  Ladengeschäft.  Von  Dr.  Max 

Quarck  in  Frankfurt  a.  M 467 

Zur  Lage  der  Leipziger  Buchbindereiarbeiter  8 
Eine  „Musterarbeitsordnung“  für  Bergwerke  20 
Das  Tabakmonopol  und  die  Lage  der 

ungarischen  Tabakarbeiter 21 

Ueber  die  Ausnützung  der  Arbeiter  in  den 

Nahrungsmittelgewerben 21 

Die  Arbeitsdauer  in  den  Mainzer  Cigarren- 

und  Tabakgeschäften 21 

Arbeiterverhältnisse  im  bayerischen  Bergbau  35 

Lohnfristen  der  Bergleute 36 

Zur  Beurtheilung  der  Statistik  der  deutschen 

Gewerkschaften 36 

Peonagesystem  und  Arbeitslöhne  in  Mexico  36 
Ernährungsverhältnisse  der  Arbeiterbevöl- 

kerung 37 

Die  Zunahme  des  Pferdefleischkonsums.  . 37 

Löhne  im  Wiener  Schmiedegewerbe  ...  49 

Zustände  im  polygraphischen  Gewerbe  in 

Frankfurt  a.  M 49 

Ueber  Hamburger  Arbeiterkinder  ....  49 

Arbeiterverhältnisse  in  den  preussischen 

Staatsgruben 49 

Statistik  der  Arbeiter  und  Beamten  der 

preussischen  Staatsbahnen 64 

Arbeitsverhältnisse  bei  den  preussischen 

Staatsbahnen 64 

Mangelhafte  Ernährung  von  Arbeiterkindern  65 

Arbeitslosigkeit 65.  49 

Ländliche  Arbeiterverhältnisse 65 

Ländliche  Arbeiterverhältnisse  in  Süd- 
deutschland   79 

Zur  Arbeitsstatistik  deutscher  Gewerbe- 
inspektoren   80 

Ein  österreichisches  Amt  für  Arbeitsstatistik  80 
Ruhezeiten  für  das  Betriebspersonal  der 

preussischen  Staatsbahnen 91 

Der  Nothstand  in  der  ostschweizerischen 

Stickerei -91 

Klagen  über  Lehrlingszüchterei  ....  92 

Die  Nothlage  in  der  schweizerischen  Sticke- 
reiindustrie   107 

Zur  Lage  der  Arbeiter  in  Italien  ....  107 

Arbeitszeitreduktion  in  der  schweizerischen 

Spinnerei  und  Weberei 107 

Lohnverhältnisse  der  Baseler  Posamenter  . 107 

Ueber  die  Abnahme  der  Arbeitskraft  . . 118 

Schweizerisches  Arbeitersekretariat  . . . 131 

Untergang  einer  Hausindustrie 132 

Tagelöhne  im  Grossherzogthum  Hessen  . 132 

Zur  Lage  der  Wiener  Schuhmacher  . . . 132 

Das  Schwitzsystem  in  der  Schneiderei  der 

Vereinigtem  Staaten 132 

Statistik  der  Bergarbeiterentlassungen  . . 144 

Ländliche  Arbeiter  Verhältnisse 144 

Schneiderwerkstätten  in  der  Stadt  New-York  144 
Löhne  und  Lebenshaltung  der  ungelernten 

Bauarbeiter  Harburgs 156 


Seite 


Statistik  der  Arbeitslosigkeit  in  England  . 156 

Lohnfristen  und  Lohnzahlungstage  . . . 178 

Eine  Statistik  des  Pariser  Elends  ....  178 

Arbeitslöhne  in  der  preussischen  Staats- 
eisenbahnverwaltung   191 

Zur  Lage  der  Eisenbahnbediensteten  in 

den  Vereinigten  Staaten 191 

Statistische  Erhebungen  aus  dem  .Steinmetz- 
gewerbe von  Dresden  und  Umgebung  . 191 

Arbeiterzustände  in  Ziegeleien 192 

Der  Nothstand  unter  den  ostschweizerischen 

Stickern 192 

Lohnverhältnisse  in  der  ostindischen  Eisen- 

und  Stahlindustrie 192 

Frauenarbeit  in  der  Maschinenindustrie  . 203 


Statistische  Erhebungen  aus  dem  Steinmetz- 
gewerbe von  Dresden  und  Umgebung  . 203 

Statistik  der  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse 
der  Maurer  von  Lauenburg  a.  E.  im 


Jahre  1891 227 

Haushalt  einer  Arbeiterfamilie  in  Bayern 

203.  251.  288 

Arbeiterwanderungen  innerhalb  Deutsch- 
lands   251 

Die  Lage  der  Bäcker  in  Bremen  ....  262 

Lohnverhältnisse  der  österreichischenBinnen- 

schiffer 263 

Hygienische  Verhältnisse  in  den  Leipziger 

Buchdruckereien  und  Schriftgiessereien  275 

Weibliche  Bahnwärter 275 

Enquete  über  die  Ruhetage  auf  den  fran- 
zösischen Eisenbahnen 275 

Beseitigung  der  Kinderarbeit  durch  die 

Technik 288 

Die  Lage  der  in  den  Gärtnereien  Erfurts 

beschäftigten  Arbeiter 288 

Arbeitszeit  in  der  thüringischen  Haus- 
industrie   288 

Die  Arbeitsdauer  in  den  Wiener  Fabriken  288 
Erhebungen  über  Frauenarbeit  im  Kanton 

St.  Gallen 288 

Ländliche  Arbeiterverhältnisse  im  deutschen 

Osten 298 

Arbeiterzustände  in  hessischen  Ziegeleien  . 298 

Wiedereinführung  der  Kanakaarbeit  in 

Queensland 298 

Arbeitszeit  der  englischen  Eisenbahn- 
bediensteten   313 

Amtliche  Erhebungen  über  Arbeitslosigkeit  324 
Arbeiterverhältnisse  der  hessischen  Cigarren- 
industrie   324 

Verhandlungen  der  Kommission  für  Arbeiter- 
statistik   336 

Wirkungen  der  Frauenarbeit  in  Fabriken  . 337 

Wirkungen  verkürzter  Arbeitszeit  in  der 

westdeutschen  Textilindustrie  ....  338 

Gcsundheitli.cheNachtheile  der  Beschäftigung 

jugendlicher  Arbeiter 338 

Arbeitslosigkeit  in  Chemnitz 349 

Eine  englische  Denkschrift  über  die  Arbeits- 
losigkeit   349 

Zur  Kritik  der  Arbeitsstatistik  der  deutschen 

Gewerkvereine  für  das  Jahr  1891  . . 359 

Die  Lage  der  Arbeiter  im  Wupperthale  . 360 

Fabrikarbeiterlöhne  in  Sachsen- Altenburg  . 361 

Statistik  der  Leipziger  Buchdruckerlehr- 
linge   361 

Forderung  der  Arbeitsstatistik  für  Paris  . 361 

Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter  beim 

preussischen  Bergbau 372 

Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Böttcher 

Deutschlands 386 

Ergebnisse  der  Fabrikaufsicht  auf  dem 

Thüringer  Wald 386 


VI 


INHALT  DES  ERSTEN  BANDES. 


Seite 


Lohnverhältnisse  und  Arbeitszeit  der  Fabrik- 
arbeiter auf  dem  Thüringer  Wald  . . 408 

Arbeiterstatistik  des  Fabrikinspektors  für 

das  Grossherzogthum  Altenburg  . . . 408 

Löhne  in  Stuttgart - . . 432 

Statistik  der  Arbeitslosigkeit  in  Frankreich  432 
Zur  Lage  der  englischen  Arbeiter  . . . 433 

Zur  Lage  der  Vollmatrosen  und  Schiffs- 
jungen bei  der  deutschen  Handels- 
marine   447 

Ortsübliche  Tagelöhne  für  den  Stadtkreis 

Berlin 447 

Die  Arbeitslosigkeit  im  Hamburger  Zimmer- 
gewerbe im  Winter  1891/92  ....  447 

Lohnmissbräuche  in  der  schweizerischen 

Posamentindustrie 447 

Zur  Statistik  der  Arbeitslosigkeit  ....  456 

Die  ortsüblichen  Tagelöhne  in  der  Stadt 

Hannover 457 

Arbeiterverhältnisse  in  Lübeck 457 

Arbeiterverhältnisse  in  Bremen 457 

Achtstündige  Arbeitszeit 469 

Arbeitszeit  der  österreichischen  Südbahn- 
arbeiter   469 

Die  Ausgabenrechnung  eines  Leipziger 

Zimmermanns  im  Jahre  1891  . • 469 

Ausdehnung  der  jugendlichen  Arbeit  in 

der  reichsländischen  Industrie  ....  483 


Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung. 

Der  Ruchdruckerstrike,  Von  Dr.  Adolf 

Braun  in  Berlin 8 

Der  Stand  der  deutschen  Gewerkschafts- 
bewegung. Von  J.  Scherm  in  Nürn- 
berg   10 

Ein  Strike  der  Bierbrauergehilfen  in  Bayern. 

Von  Martin  Segitz  in  Nürnberg  . . 21 

Der  steirische  Bergarbeiterstrike.  Von  Dr. 

Leo  Verkauf  in  Wien 49 

Das  Ende  des  Buchdruckerstrikes.  Von 

Dr.  Adolf  Braun  in  Berlin  ....  51 

Das  Programm  des  deutschen  Gewerk- 
schaftskongresses. Von  C.  Legien  in 

Hamburg 65 

Der  steirische  Bergarbeiterstrike.  Von  Dr. 

Leo  Verkauf  in  Wien 67 

Zum  Programm  des  deutschen  Gewerk- 
schaftskongresses. Von  Martin  Segitz 

in  Nürnberg 92 

Die  französischen  Arbeitsbörsen.  Von  Leo 

Frankel  in  Paris 108 

Die  Kohlenarbeiterfrage  in  Grossbritannien. 

Von  Dr.  Stephan  Bauer  in  Wien.  . 139 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Die  Lage  der  deutschen  Gewerkschaften. 

Von  Dr.  Adolf  Braun  in  Berlin  . . 144 

Die  Organisationsbestrebungen  der  Gewerk- 
schaften auf  dem  Halberstädter  Kongress. 

Von  Dr.  Adolf  Braun  in  Berlin  . . 151 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze). 

Die  französischen  Arbeitergewerkschaften. 

Von  Leo  Frankel  in  Paris  ....  156 

Der  Ausstand  der  Kohlenarbeiter  in  Eng- 
land. Von  Dr,  Stephan  Bauer  in 

Wien 166 

DieErgebnisse  des  deutschen  Gewerkschafts- 
kongresses. Von  Dr.  Adolf  Braun  in 

Berlin 168 

Die  letzten  englischen  Strikes.  Von 

Eleanor  Marx-Aveling  in  London  . 251 

Frauengewerkvereine  in  England.  Von  Dr. 

Eliza  Ichenhäuser  in  Berlin  . . . 300 


Seite 

Die  deutschen  Gewerkschaftsorganisationen. 

Von  C.  Legien  in  Hamburg  ....  338 
Strikes  und  Aussperrungen  in  Deutschland 
während  der  Jahre  1890  und  1891.  Von 
Dr.  Adolf  Braun  in  Berlin  ....  418 

Die  Situation  im  deutschen  Buchdruckerge- 
werbe. Von  Dr.  Adolf  Braun  in  Berlin  458 


Die  Stellung  der  deutschen  Gewerk- 
schaften zu  den  Beschlüssen  des  Halber- 
städter Kongresses.  Von  C.  Legien  in 

Hamburg 469 

Der  englische  Gewerkvereinskongress  1892. 

Von  Prof.  Dr.  Lujo  Brentano  in 

München 471 

Der  Gewerkverein  der  englischen  Dock- 
arbeiter   11 

Die  fiskalischen  Grubenarbeiterausschüsse 

im  Saarkohlenrevier 11 

Eine  Organisation  der  an  Pferdebahn-Be- 
trieben beschäftigten  Arbeiter  ....  11 

Der  deutsche  Buchdruckcrausstand  ...  22 

Bergarbeiterausstand  in  Steiermark  und  Krain  22 

Der  schweizerische  Grütliverein  ....  22 

Die  französischen  Tabakarbeiter  und  Tabak- 
arbeiterinnen   22 

Eine  Gewerkschaft  der  Kleider-  und  Wäsche- 
näherinnen   22 

Ueber  das  französische  Arbeitersekretariat . 22 

Arbeitsbörsen 22 

Gegen  die  privaten  Stellenvermittlungs- 

bureaux 22 

Die  Neunstundenbewegung  der  schweize- 
rischen Buchdruckergehilfen  ....  23 

Der  deutsche  Buchdruckerausstand  ...  37 

Die  Achtstundenbewegung  in  den  V ereinigten 

Staaten  von  Amerika 37 

Der  Kampf  um  die  Sonntagsruhe  im  Bäcker- 
gewerbe   38 

Ueber  Arbeiterausstände  und  ihre  recht- 
lichen Folgen 38 

Arbeiterschutz  im  Bäckergewerbe  ....  68 

Holzhauerstrike  in  Frankreich 80 

Ruchdruckerstrike  in  Bukarest 81 

Wiener  Buchdruckerei-  und  Schriftgiesserei- 

arbeiter-Strike  im  Jahre  1891  ....  81 

Strike  der  Bierbrauergehilfen  in  Nürnberg  81 
Zur  Organisation  der  deutschen  Metall- 
arbeiter   81 

Organisation  der  Eisenbahnarbeiter  ...  92 

Kongress  der  französischen  Arbeitsbörsen  . 93 

Strikes  und  Lockouts  in  England  ....  109 

Der  Strike  der  Pariser  Droschkenkutscher  . 1 10 

Ein  Tramwaystrike  in  Lille 110 

Hirsch-Duncker’sche  Gewerkvereine  ...  119 

Die  Chausseearbeiter  der  Stadt  Paris  . . 119 

Krisis  im  englischen  Kohlenbergbau  . . . 132 

Die  gleitende  Skala  in  den  Kohlenwerken 

von  Süd-Wales 132 

Die  Kontrollmarke 133 

Reorganisation  der  katholischen  Arbeiter- 
vereine   133 

Leistungen  der  dänischen  Böttcher-Organi- 
sation   133 

Die  amerikanischen  Gewerkschaften  ...  134 

Die  gewerkschaftliche  Bewegung  in  Oester- 
reich-Schlesien   134 

Ein  Urtheil  über  Strikes 134 

Kontrollmarken  für  Textilarbeiter  ....  146 

Ein  Kellnerstrike .147 

Der  Strike  der  Pariser  Droschkenkutscher.  147 
Rechenschaftsbericht  der  Generalkommission 

der  deutschen  Gewerkschaften  ....  157 


Der  Gewerkschaftskongress  zu  Halberstadt 

11.  158 


Seite 


Die  Kommis  der  Gemischtwaarenhändler 

von  Paris 158 

Evangelische  Arbeitervereine  inWiirttemberg  169 
Organisation  der  deutschen  Tabakarbeiter  . 170 

Französischer  Schneiderkongress  ....  170 

Ein  Kellnerstrike 170 

Ein  neuer  Kutscherstrike  in  Paris  . . . . 178 

Schweizerischer  Gewerkschaftskongress  . . 179 

Ausstands-Versicherungsvereine  inPreussen  192 
Folgen  des  Durhamer  Kohlenarbeiteraus- 

standes 204 

Französisches  Arbeitersekretariat  ....  204 

Die  ungarische  Regierung  und  die  gewerk- 
schaftliche Organisation  der  Arbeiter  . 204 


Die  Einführung  der  Arbeiterschutzmarke 


für  die  Cigarrenindustrie 204 

Schweizerischer  Gewerkschaftskongress  . 214 

Die  schweizerische  Reservekasse  . . . . 214 

Zahl  der  Lohnkämpfe  in  der  Schweiz  . . 214 

Der  Pariser  Gemeinderath  und  die  neue 

Arbeitsbörse 214 

Die  Pariser  Omnibusgesellschaft  ....  215 

Die  Tarifgemeinschaft  im  Buchdrucker- 
gewerbe   227 

Verband  der  deutschen  Textilarbeiter  . . 228 

Hirsch  - Duncker’sche  Gewerkvereine  in 

Bayern 228 

Eine  Gewerkschaft  der  Mühlenarbeiter 

Niederösterreichs 228 

Die  Forderungen  der  schweizerischen 

Arbeiter 228 

Der  Stickereiverband  der  Ostschweiz  . . 241 

Kongress  der  französischen  Eisenbahn- 
arbeiter   241 

Zwei  neue  französische  Arbeitsbörsen  . . 252 

In  der  Schweiz  für  Strikezwecke  gesam- 
melte und  ausgegebene  Gelder  . . . 252 

Die  Strickebewegung  in  Lodz 263 

Folgen  des  Durhamer  Strikes 264 

Die  Unterstützung  bei  Arbeitslosigkeit  . . 265 

Die  Pariser  Kellner  gegen  das  Trinkgelder- 
unwesen ....  265 

Verband  deutscher  Bergarbeiter  ....  276 

Kontrolleure  zur  Ueberwachung  desWagen- 

nullens 276 

Tarifkommission  im  deutschen  Buchdrucker- 
gewerbe   276 

Rechnungsabschluss  der  Hirsch-Duncker- 

schen  Verbandskassen 276 

Zum  Ausstand  der  Kohlenarbeiter  in  Dur- 

ham 276 

Der  Erfurter  Schuhmacherstrike  vom  Jahre 

1890  289 

Strike  in  der  nordböhmischen  Hausindustrie  289 
Organisation  der  deutsch-schweizerischen 

Buchdrucker 289 

Ende  des  Bergarbeiterausstandes  in  Durham  289 
Eröffnung  der  Pariser  Central-Arbeitsbörse  289 
Internationaler  Bergarbeiterkongress  in 

London 301 

Die  Bewegung  im  Münchener  Dienstmänner- 

Gewerbe 301 

Kongress  der  Bergarbeiter  des  Departements 

Pas  de  Calais  302 

Beiträge  zu  den  Kosten  des  letzten  deutschen 

Buchdruckerstrikes 302 

Die  Tarifkommission  der  deutschen  Buch- 
drucker   302 

Internationaler  Bergarbeiter  - Kongress  in 

London 313 


Der  XI.  ordentliche  Verbandstag  der  deut- 
schen Gewerkvereine  (Hirsch-Duncker)  313 
Gewerkverein  schwedischer  Dienstmädchen 

in  Chicago 314 


INHALT  DES  ERSTEN  BANDES. 


VII 


Seite 


Arbeitsordnungen  als  Strikeanlässe  . , . 349 

Bergarbeiterbewegung  in  Rheinland-West- 
falen und  im  Saarrevier 372 

Statistik  des  schweizerischen  Gewerkschafts- 
bundes   373 

Internationaler  Typographenkongress  . . 394 

Verband  deutscher  Bergleute 394 

Die  Kosten  des  letzten  Buchdruckerstrikes 

in  Leipzig 394 

Der  Aufruhr  in  Homestead 420 

Aussperrung  von  1200  Brauern,  Brauerge- 
hilfen und  Küfern  in  Hamburg  . . . 423 

Der  32.  Jahresbericht  des  London  Trades' 

Council  über  das  Jahr  1891  . . . • 423 

Tagesordnung  des  nächsten  Trades  Unions 

Kongresses 423 

Die  Versammlung  der  englischen  Miners 

Federation 423 

Strikende  Feldarbeiter  in  Slavonien  . . . 424 

Ende  der  Hamburger  Braueraussperrung  . 433 

Kontrollmarke  der  Friseure 433 

Zum  Aufruhr  in  Homestead 433 

Internationaler  Buchdruckerkongress  . . . 448 

Die  englischen  Bergarbeiter  und  der  acht- 
stündige Arbeitstag 448 

Die  sliding  scale  als  Regulator  der  Arbeits- 
löhne   458 

Deutscher  Buchdruckertarif 474 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Die  politische  Tresse  der  deutschen  Sozial- 
demokratie   31 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

XVIII.  italienischer  Arbeiterkongress.  Von 

Prof.  Dr.  Werner  Sombart  in  Breslau  367 
(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Der  gegenwärtige  Stand  der  italienischen 


Arbeiterbewegung.  Von  Professor  Dr. 
Werner  Sombart  in  Breslau  . . . 479 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Der  Strike  von  Carmaux.  Von  Leo  Frankel 

in  Paris 4g4 

Die  deutsche  Sozialdemokratie  im  Jahre  1891  12 

Die  Aufhebung  des  Koalitionsverbotes  für 

die  ländlichen  Arbeiter 12 

Die  sozialdemokratische  Partei  der  Schweiz  12 

Die  galizisch-jtidischen  Arbeiter  und  der 

Sozialismus 13 

Die  Sozialdemokratie  und  die  Strikes  . . 52 

Die  Stellung  der  Sozialdemokratie  zum 

Boykott gg 

Sozialistische  Bauernbewegung  in  Oester- 
reich   

Die  Maifeier 240 

Ein  schweizerisches  Arbeiterprogramm  . . 276 
Der  Kongress  der  österreichischen  Sozial- 
demokratie   299 

Der  Arbeiterschutz  und  die  englischen  Par- 
lamentswahlen   299 

Die  evangelischen  Arbeitervereine  . 68.  310 

Kommunales  Programm  der  französischen 

Arbeiterpartei 3ß-| 

Katholische  Arbeitervereine  in  Deutschland  373 
Kongress  zur  Organisirung  der  italienischen 

Arbeiterschaft 3gß 

Sozialistische  Bauernbewegung  in  Oester- 

reich  395 

Schweizerischer  Grütliverein 395 

Handhabung  des  Vereinsgesetzes  in  Schwarz- 

Rudolstadt  409 

Parteitag  der  deutschen  Sozialdemokratie  . 409 


Seite 


Das  kommunale  Wahlprogramm  der  Arbeiter 

Zürichs 409 

Ein  englisches  Arbeiterprogramm  ....  409 

Französische  Arbeiterkongresse 424 

Sozialistische  Kongresse 433 

Ein  Vertreter  der  Arbeiter  in  der  Regierung 

Zürichs 434 

Der  deutsche  sozialdemokratische  Parteitag  448 
Arbeiterkongress  der  französischen  Schweiz  448 


Unternehmerverbände. 

Neues  Kartell  der  russischen  Zuckerfabri- 
kanten. Von  E.  Scholkow  in  München  228 
Der  Ausstand  - Versicherungsverband  des 

Oberbergamtsbezirkes  Dortmund  ...  13 

Feinblech-Grossgewerbe 13 

Krisis  im  rheinisch-westfälischen  Walzwerk- 
verband   23 

Der  Stickereiverband  der  Ostschweiz  . . 23 

Vereinigungen  in  der  Kohlenindustrie  . . 81 

Gegen  die  Kohlenringe 110 

Amerikanischer  Whiskeytrust 110 

Verband  zur  Besserung  der  ländlichen 

Arbeiterverhältnisse 120 

Ein  Syndikat  französischer  Spinnereibesitzer  120 
Verein  deutscher  Juteindustrieller  ....  159 

Kartell  der  bayerischen  Spiegelglasfabriken  159 

Westfälisches  Koks-Syndikat 159 

Vereinigung  niederrheinischer  Stoffdrucke- 
reien   159 

Einschränkung  in  der  schottischen  Jute- 
industrie  159 

Ein  Kokssyndikat  im  Jahre  1890/91  . . . 170 

Die  Spiegelglasfabrikanten  Böhmens  und 

Bayerns 171 

Ein  neuer  Kupferring 180 

Verein  anhaitischer  Arbeitgeber  ....  180 

Der  deutsche  Schienenverband  ....  193 

Die  Gesetzgebung  gegen  die  Trusts  und 

der  Standard  Oil  Trust 193 

Organisation  der  ländlichen  Unternehmer  in 

Braunschweig  und  Thüringen  ....  204 

Kohlenkartelle  und  Eisenwerke  ....  204 

Kartell  der  bayerischen  Spiegelglasschleif- 
und Polirwerke 204 

Westphälisches  Kokessyndikat 215 

Produktionskartell  der  Brüxer  Kohlenwerke  215 
Ländlicher  Unternehmerverband  in  Schlesien  230 
Centralverband  der  österreichischen  Gross- 


industrieller   230 

Die  Oelsnitz-Gersdorf-Lugauer  Steinkohlen- 

Bergwerke 290 

Arbeitszeitbeschränkung  in  der  sächsischen 

Stickereiindustrie 29C 

Landwirthschaftliche  Genossenschaften  . . 29C 

Der  Centralverband  der  Industriellen  Oester- 
reichs   35( 

Internationales  Kartell  der  Papierfabrikanten  350 

Deutscher  Tabakverein 373 

Das  gescheiterte  Projekt  eines  rheinisch- 
westfälischen Kohlensyndikats  ....  395 
Die  Aussperrung  von  Schuhmachergesellen 

in  Barmstedt 396 

Verkaufsverein  der  rheinisch-westfälischen 

Kohlenzechen 486 

Planmässige  Aussperrung  sozialistischer  Ar- 
beiter in  Ungarn 486 


Haiidwerkerfragen. 

Die  Bauhandwerker  und  die  Hypotheken- 
ordnung. Von  Privatdocent  Dr.  Leo 
Arons  in  Berlin 23 


Seite 


Die  Forderungen  der  Handwerkerpartei.  Von 

Dr.  Adolf  Braun  in  Berlin  ....  122 

Die  deutschen  Gewerbekammern.  Von  Dr. 

Rudolf  Grätzcr  in  Marburg  i.  H.  . . 451 

Zur  Frage  der  Gewerbekammern.  Von  Dr. 

Rudolf  Grätzer  in  Marburg  i.  FI.  . . 485 

Lehrlinge  und  Arbeiterorganisationen  . . 24 

Für  den  Befähigungsnachweis 24 

Die  Bauhandwerker  und  die  Hypotheken- 
ordnung   40 

Gewerbekammern  in  Baden 69 

Arbeiterschutz  im  Kleingewerbe  ....  70 

Auflösung  der  fakultativen  Innungen  . . 70 

Gewerbekammern  in  Baden 82 

Der  deutsche  Handwerkertag  . . .111.  276 

Gewerberäthe  in  Oesterreich 126 

Zur  Einführung  der  obligatorischen  Innung 

und  des  Befähigungsnachweises  . . . 137 

Untergang  des  Kleingewerbes  in  der  Müh- 
lenindustrie   137 

Eine  Statistik  wandernder  Handwerksge- 
hilfen  158 

Verpflegung  und  Wohnung  der  Lehrlinge 

im  Hause  der  Meister 159 

Die  Genossenschaften  in  Oestörreich  . . 171 

Innungsbewegung  in  Westfalen  . . . . 171 

Untergang  des  Kleingewerbes  in  Württem- 
berg   230 

Handwerkerorganisationen  für  die  Gewerbe- 
freiheit   230 

Schweizerisches  Gewerbegesetz 277 

Erweiterung  der  Innungsprivilegien  . . . 302 

Einigung  zwischen  einem  Gewerk-  und 

Meisterverein 302 

Innungsbewegung  im  Fleischergewerbe  . . 350 

Regelung  der  Lehrzeit  im  österreichischen 

Kleingewerbe 374 


Kaufmännische  Bewegung. 

Die  sozialpolitische  Reformbewegung  im 
deutschen  Handelsgewerbe.  Von  Dr. 


Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  . . 39 

Zur  Organisation  der  weiblichen  Angestellten 
in  kaufmännischen  und  Fabrikgeschäften. 

Von  J.  Silbermann  in  Berlin  . . . 179 

Eine  Minimalkündigungsfrist  für  Handlungs- 
gehilfen   40.  69 

Die  Arbeitszeit  kaufmännischer  Lehrlinge  . 40 

Die  gesetzliche  Regelung  der  Arbeitszeit 

für  Handlungsgehilfen 69 

Handlungsgehilfen  als  Gefängnissarbeiter  . 69 

Die  Syndikatskammer  der  kaufmännisch 

Angestellten  von  Paris 81 

Zur  Verdrängung  des  Zwischenhandels.  . 82 

Minimalkündigungsfristen  für  Handlungs- 
gehilfen in  Oesterreich 82 

Gehälter  der  Handlungsgehilfen  ....  82 

Kaufmännische  Zeugnisse  und  Schiedsge- 

gerichte 314 

Gehaltsverhältnisse  der  Handlungsgehilfen.  314 
Ein  Kongress  von  Delegirten  aller  im 

Handelsgewerbe  arbeitenden  Berufe  . . 314 

fahresversammlung  des  deutschen  Verbandes 

kaufmännischer  Vereine  in  Köln  . . . 325 

Gewerbliche  Fortbildungsschulen  für  Kauf- 
leute   325 

Organisation  der  Angestellten  im  Handels- 
gewerbe   362 

Verbandstag  der  kaufmännischen  Vereine 

Württembergs 374 

Kaufmännische  Sonntagsruhe  in  der  Schweiz  409 
Kaufmännisches  Berufssekretariat  in  der 

Schweiz  ...  409 


VIIT 


INHALT  DES  ERSTEN  RANDES. 


Seite 


Seite 


Seite 


Arbeitersctiutzgesetzgetmng. 


Die  Arbeiterschutzgesetzgebung  beim  deut- 
schen Bergbau.  Von  Dr.  Leo  Verkauf 

in  Wien 17 

(Yergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Der  französische  Gesetzentwurf,  betr.  die 
Kinderarbeit.  Von  Prof.  Raoul  J ay  in 

Grenoble 24 

Der  Entwurf  eines  Arbeiterschutzgesetzes 
für  den  Kanton  Glarus.  Von  Kantons- 
statistiker E.  Naef  in  Aarau  ....  70 

Die  neuesten  Fortschritte  der  Fabrikgesetz- 
gebung in  Russland.  Von  Dr.  Sophie 

Daszynska  in  Warschau 83 

Eine  Enquete  betr.  die  Organisation  der 
österr.  Fabrikindustrie.  Von  Dr.  Leo 
Verkauf  in  Wien  134 


Die  Novelle  zum  preussischen  Berggesetze. 

Von  Dr.  Le  o Verkauf  in  Wien  163.  271.  205 
(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Ein  Schutzgesetz  für  die  Gewerkschaften  in 

Frankreich.  Von  Leo  Frankel  in  Paris  295 
(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Das  Korporationsrecht  und  die  Gewerkver- 
eine in  Deutschland.  Von  Dr.  Arthur 

Cohen  in  Augsburg 319 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Die  Durchführung  der  kaufmännischen 
Sonntagsruhe  im  Deutschen  Reiche.  Von 
Dr.  Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  . 379 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Der  französische  Senat  und  die  Beschrän- 
kung der  Arbeitszeit.  Von  Leo  F rankel 

in  Paris 215 

Das  Arbeiterschutzgesetz  in  Glarus.  Von 

Fabrikinspektor  F.  Schüler  in  Mollis  , 265 

Die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe.  Von 

J.  Silber  mann  in  Berlin 277 

Die  schweizerische  Bundesgesetzgebung  über 
die  Arbeitszeit  beim  Betriebe  der  Eisen- 
bahnen und  anderer  Transportanstalten. 

Von  Kantonsstatistiker  E.  Nae  f in  Aarau  396 
Die  Stellung  der  schweizerischen  Hand- 
werker- und  Gewerbevereine  zur  Er- 
weiterung des  Fabrikgesetzes.  Von 
Kantonsstatistiker  E.  Naef  in  Aarau  . 409 

Arbeiterschutz  in  der  Hausindustrie  ...  13 

Fabrikgesetzgebung  in  Ostindien  ....  13 

Ein  neues  Fabrikgesetz  in  Neuseeland  . . 13 

Ein  städtisches  Arbeitersekretariat  ...  13 

Der  Entwurf  einer  revidirten  Gesinde- 
ordnung   25 

Normalarbeitstag  und  Minimallohn  bei 

öffentlichen  Arbeiten  in  Holland  ...  25 

Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  25.  41.  53 

Schutz  der  Arbeiterinnen 41 

Schweizerisches  Fabrikgesetz 41 

Arbeiterschutz  bei  dem  schweizerischen 

Verkchrsgewerbe 71 

Städtischer  Arbeitsnachweis  und  städtische 

Arbeitersekretariate 71 

Arbeiterschutz  in  der  Mühlenindustrie  . . 84 

Frankfurter  Ortsstatut  über  die  Sonntags- 
ruhe im  Handelsgewerbe 93 

Sonntagsruhe  im  Berliner  Handelsgewerbe  93 

Arbeiterschutz  in  Drahtziehereien  ...  93 

Zum  deutschen  Koalitionsrecht  .....  93 

Eintragungen  in  Arbeitsbücher  nach  deut- 
schem Gewerberecht 93 

Schutzvorschriften  für  Arbeiter  in  Briquette- 
~ fabriken 94 


Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und 
jugendlichen  Arbeitern  in  Walz-  und 

Hammerwerken 

Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und 
jugendlichen  Arbeitern  in  Cichorien- 
fabriken und  Glashütten 

Entwurf  eines  Achtstundengesetzes  für 

England 

Schutzvorschriften  für  englische  Seeleute 
Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  in  Stein- 
kohlenbergwerken   

Kinderschutz  ausserhalb  der  Fabriken  . . 

Nothwendigkeit  der  Ausdehnung  der  Schutz- 
vorschriften für  jugendliche  Arbeiter  . 

Minimallöhne  in  Frankreich 

Ein  staatliches  Arbeitsvermittelungsamt  in 

Neu-Seeland 

Schutz  von  Arbeiterinnen  und  jugendlichen 
Arbeitern  in  Zuckerfabriken  .... 
Schutz  der  jugendlichen  Arbeiter  auf  Stein- 
kohlenbergwerken   

Schutz  Vorschriften  für  Bergleute  .... 
Internationale  Regelung  der  deutschen, 
österreichischen  und  schweizerischen 

Stickerei 

Gesetzlicher  Schutz  der  Handlungsbedien- 
steten in  England 

Anweisung  zur  Ausführung  der  Gewerbeord- 
nung in  Preussen 

Die  Ausführung  der  deutschen  Gewerbe- 
ordnung   

Die  achtstündige  Schicht  für  Bergarbeiter 

im  englischen  Parlament 

Ueber  die  Beschäftigung  jugendlicher  Ar- 
beiter in  Hechelräumen 

Sonntagsruhe  im  Cigarrenhandel  .... 
Zur  Beseitigung  der  Nachtarbeit  in  den 

Kammgarnspinnereien 

Die  Bergarbeiter  und  die  preussische  Berg- 
gesetznovelle   

Kinderschutz  in  Baden 

Festtage  im  Sinne  des  Arbeiterschutzge- 
setzes   

Sonntagsruhe  der  Automaten 

Trucksystem  in  Belgien 

Möglichkeit  des  Maximalarbeitstages  für  die 

deutsche  Industrie 

Preussische  Polizeiverordnung  Uber  die 
äussere  Heilighaltung  der  Sonn-  und 

Festtage 

Sonntagsruhe  für  deutsche  Bahnarbeiter 
Arbeiterschutz  für  die  Hausindustrie  . 

Zur  preussischen  Berggesetznovelle  . 
Regelung  der  Sonntagsruhe  in  der  Industrie 

Berlins : . 

Ruhezeiten  für  österreichische  Staatsbeamte 
Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Oester- 
reich   

Arbeiterschutz  in  Schweden 

Ausführung  der  neuen  Gewerbeordnung  für 

das  Deutsche  Reich 

Enquete  über  die  Sonntagsruhe  .... 
Zweite  Berathung  der  Berggesetznovelle  im 
preussischen  Abgeordnetenhause  . . . 

Der  Maximalarbeitstag  für  Bergarbeiter  in 
der  Berggesetzkommission  des  preussi- 

t sehen  Abgeordnetenhauses 

Missbrauch  mit  Strafgeldern  im  preussi- 
schen Bergbau 

Zechenverbände  und  Berggesetznovelle  in 

Preussen 

Die  dritte  Lesung  der  preussischen  Berg- 
gesetznovelle .......... 


111 


111 

111 
1 12 

120 

120 

135 

136 

136 

147 

148 
148 


148 

148 

171 

180 

182 

193 

194 

194 

206 

207 


207 

207 

207 

217 


Arbeiterschutz  beim  Bau  der  Wiener  Ver- 
kehrsanlagen   253 

Ein  schweizerisches  Bundesgesetz  über  die 

Kündigungsfristen 253 

Ruhetage  für  das  schweizerische  Grenzauf- 
sichtspersonal   253 

Arbeiterschutzgesetz  für  den  Kanton  Glarus  253 

St.  Gallischer  Arbeiterschutzgesetzentwurf  , 253 

Der  Arbeitstag  auf  den  französischen  Eisen- 
bahnen   254 

Minimallohn  für  städtische  Angestellte  in 

Zürich 266 

Ein  internationaler  Kongress  für  Sonntags- 
feier   279 

j Sonntagsruhe  der  preussischen  Staatsbahn- 
arbeiter   279 

Zur  Ausführung  der  neuen  Gewerbeordnung 

für  das  Deutsche  Reich 290 

Bergarbeiter-Gesetzgebung  in  Baden  . . . 290 

Zur  Berggesetznovelle 291 

Sonntagsruhe  für  das  Berliner  Bäckerge- 
werbe   291 

Schutzvorschriften  für  ländliche  Arbeiter  . 291 

Sonntagsruhe  der  Eisenbahnbedientesten  . 291 

Folgen  des  Ruhetagsgesetzes  für  die  schwei- 
zerischen Eisenbahnen 291 

Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  . 302.  316 

Zur  Ausführung  der  neuen  deutschen  Ge- 
werbeordnung   303 

Festsetzung  der  Arbeitszeit  der  Eisenbahn- 
beamten bei  Personenzügen  ....  303 


Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  der 

Schweiz 

Die  Frauenarbeit  bei  den  schweizerischen 
Eisenbahnen 


Verordnung  über  die  Sonntagsruhe  im  Han- 
delsgewerbe für  Preussen  .....  314  ' 

Der  Achtstundentag  in  Australien  . . . 326 

Zum  Koalitionsrecht  der  Arbeiter  in  Deutsch- 
land   326 

Neue  Gesindeordnung  für  das  Königreich 

Sachsen  327  ■ 

Sonntagsruhe  für  das  Handelsgewerbe  im 

Grossherzogthum  Hessen 327  ; 

Sonntagsruhe  für  das  Ilandelsge werbe  in 

Berlin 327  I 

Ortsstatut  über  die  Sonntagsruhe  im  Han- 
delsgewerbe für  Frankfurt  a.  M.  . . . 328 


Arbeiterschutzvorschriften  für  Fellzurichte- 


217 

218 
218 

230 

231 
231 

231 

231 


242 

242 

243 


244  I 

245 
245 
253 


reien  320 

Arbeiterschutzmassregeln  für  die  Wiener 

Verkehrs-Anlagen 350 

Arbeitszeit  der  englischen  Eisenbahnbe- 
diensteten   350 

Möglichkeit  der  Arbeitszeitverkürzung  . . 362 

Sonntagsruhe  für  die  Landarbeiter  der 

königl.  preussischen  Domänen  ....  362 

Beschränkung  der  Sonntagsarbeit  auf  Schiffen  362 


Entscheidung  des  schweizerischen  Bundes- 
rathes  über  den  Inhalt  von  Arbeitsord- 
nungen   363 

Ausführungsverordnung  zur  neuen  Gewerbe- 
ordnung, betr.  die  Regelung  der  Frauen- 
arbeit in  Preussen • 398 

Die  Sonntagsruhe  im  Eisenbahngüterverkehr  398 
Zur  Sonntagsruhe  in  den  Berliner  Vororten  398 


Arbeiterschutzgesetz  in  New-Jersey  . . . 398 

Durchführung  der  neuen  Schutzvorschriften 

für  Arbeiterinnen  in  Baden 410 

Die  englische  Shop  Hours  Act 424 

Die  Berliner  Polizei  und  die  Sonntagsruhe  424 
Sonntagsruheverordnung  für  das  Handels- 
gewerbe im  Hamburgischen  Staate  . . 435 

Die  Sonntagsruhe  in  München 435 


INHALT  DES  ERSTEN  BANDES. 


TX 


Seite 


Die  französischen  Arbeitsräthe 435 

Zur  Frage  des  Achtstundentages  in  Eng- 
land   435 

Das  Achtstundengesetz  in  den  Vereinigten 

Staaten  . . . ' 436 

Die  Wirkung  der  Sonntagsruhe  im  Han- 
delsgewerbe   448 

Sonntagsruhe  im  sächsischen  Eisenbahn- 
dienste   458 

Enquete  über  die  kaufmännische  Sonntags- 
ruhe in  Unter-Elsass 459 

Schutzvorschriften  für  kaufmännische  An- 
gestellte in  der  Schweiz 459 

Fakultativer  Achtstundentag  in  England  . 459 

Schutzvorschriften  für  Arbeiter  an  Eisen- 
steinröstöfen   474 

Dienstbotengesetz  in  Rumänien  ....  474 


Gewerbeinspektion. 

Die  neuesten  deutschen  Inspcktoratsberichte. 

Von  Dr.  M.  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  14 
Fabrikaufsicht  und  Arbeiterbewegung  in 
Baden.  Von  Prof.  Dr.  Heinrich 

Herkner  in  Freiburg  i.  Br 149 

Die  Umgestaltung  der  Gewerbeinspektion  in 
Preussen.  Von  Dr.  Heinrich  Braun 
in  Berlin 223 


(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Aus  den  Jahresberichten  der  bayrischen 
Fabrikinspektoren  für  1891.  Von  Dr. 

Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  . . 254 

Gewerbeinspektor  und  Kesselrevisor.  Von 

Privatdozent  Dr.  j.  Jastrow  in  Berlin.  259 
(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Die  Berichte  der  schweizerischen  Fabrik- 
inspektoren für  1890  und  1891.  Von 


Kantonsstatistiker  E.  Naef  in  Aarau  . 363 

Unfallverhütung  und  Gewerbeinspektion  in 

Ungarn.  Von  Dr.  Adolf  Br  aun  in  Berlin  279 

Eisenbahn-Inspektoren 25 

Gewerbeinspektion  in  Plolland 94 

Ueberblirdung  der  Fabrikinspektoren  . . 136 

Jugendliche  Arbeiter  in  der  badischen  Fa- 
brikindustrie   136 

Die  Berichte  der  ungarischen  Fabrik- 
inspektoren   182 

Der  Ausbau  der  preussischen  Gewerbe- 
inspektion   207 

Vermehrung  der  Fabrikinspektoren  im 

Königreich  Sachsen 231 

Fabrikinspektion  in  den  Reichslanden  . . 231 

Die  preussischen  Fabrikinspektoren  und  die 

Arbeiter 303 

Mangelhaftigkeit  der  Fabrikaufsicht  durch 

Polizeibehörden 340 

Die  Ausgaben  für  die  eidgenössischen 

Fabrikinspektoren 340 

Bergbauinspektoren  in  Oesterreich  . . . 387 

Reorganisation  der  Fabrikinspektion  in 

Preussen 410 

Die  Fabrikinspektion  in  Russisch- Polen  . . 424 


Arbeiterversicherung. 

Eine  Enquete  betreffend  die  Krankenver- 
sicherung. Von  Dr.  Leo  Verkauf  in 

Wien 84 

Die  Fürsorge  für  erkrankte  Dienstboten.  Von 

J.  Silbermann  in  Berlin 94 

Amtliche  Berichte  über.,  die  deutsche  Un- 
fallversicherung in  den  Jahren  1890, 

1891.  Von  Dr.  Max  Quarck  in  Frank- 
furt a.  M 159 


Seite 

Die  Abänderung  des  deutschen  Kranken- 
versiclierungsgesetzes.  Von  Dr.  Max 


Quarck  in  Frankfurt  a.  M 172 

Geschäftsbericht  des  Reichs-Versicherungs- 
amtes für  das  Jahr  1891.  Von  Dr. 

R.  v.  d.  Borght  in  Köln  a.  Rh.  . . . 183 

Die  freien  Hilfskassen  und  ihre  Aufgabe 
gegenüber  dem  Krankenversicherungs- 
gesetz. Von  Dr.  Adolf  Braun  in 

Berlin 199 

(Vgl.  Leitende  Aufsätze.) 

Die  statistischen  Ergebnisse  der  Arbeiter- 
Unfallversicherung  in  Oesterreich.  Von 
Dr.  E.  Hirschberg  in  Berlin  ...  194 

Die  Ergebnisse  der  österreichischen 
Krankenversicherung  im  Jahre  1890. 

Von  Dr.  Adolf  Braun  in  Berlin  . . 351 


Die  Reform  der  österreichischen  Bruder- 
laden. Von  Dr.  Leo  Verkauf  in  Wien  374 

Zwei  Vorschläge  zur  Revision  des  deut- 
schen Unfallversicherungsgesetzes.  Von 

H.  Horn  in  Berlin 398 

Die  Rechtskraft  der  Rentenfestsetzungs- 
bescheide des  Reichsversicherungsamts  403 

(Vgl.  Leitende  Aufsätze.) 

Die  Krankenversicherung  in  den  deutschen 
Grossstädten.  Von  Dr.  Max  Quarck 

in  Frankfurt  a.  M 411 

Zum  Verfahren  in  Unfall-Entschädigungs- 
sachen   427 

(Vgl.  Leitende  Aufsätze.) 

Der  Grundfehler  des  Verfahrens  zur  Fest- 
stellung von  Unfallentschädigungen.  Von 


Dr.  E.  Lange  in  Friedenau  ....  474 

Eine  Statistik  der  Unfälle  für  den  Kreis  der 
landwirthschaftlichen  Berufsgenossen- 
schaften , 15 

Hausgewerbe  und  Versicherungspflicht  . . 25 

Staatliche  Unfallversicherung  in  Russland  . 26 

Die  Erweiterung  der  Unfallversicherung  in 

Oesterreich 41 

Beschäftigung  ausländischer  Arbeiter  und 

deutsche  Versicherung  .....  42 

Verstaatlichung  der  Aerzte 42 

Der  Entwurf  eines  österreichischen  Hilfs- 
kassengesetzes   54 

Zur  Statistik  der  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung   54 

Zum  deutschen  Unfallversicherungsgesetz  . 54 

Die  Unfall-  und  Krankenversicherung  in 

der  Schweiz 54 

Zur  deutschen  Krankenkassennovelle  . . 55 

Unterstützungskasse  der  westfälischen  Berg- 
leute   55 

Die  österreichische  Krankenversicherung  im 

Jahre  1889  55 

Zur  Krankheitsstatistik 72 

Zur  Reform  der  deutschen  Arbeiter verMche- 

rungsgesetze 96 

Der  Begriff  „Unternehmergewinn“  in  der 
Auffassung  des  Reichs- Versicherungs- 
amts   97 

Die  Altersversicherung  in  England.  ...  97 

Haftpflicht  und  Unfallversicherung  der  Ar- 
beiter in  Russland 120 

Die  Krankenversicherung  der  Arbeiter  im 

Jahre  1890  161 

Zur  Wirksamkeit  der  deutschen  Unfallver- 
sicherung   185 

Strengere  Handhabung  des  Unfallversiche- 

rungsgesetzes  in  Deutschland  ....  185 

Die  Einberufung  eines  Kongresses  der  freien 

Hilfskassen 185 

Knappschaftsvereine  deutscher  Bergleute  . 195 


Seite 


Krankenkassennovelle  und  Hirsch- Duncker- 

sche  Hilfskassen 208 

Konferenz  der  Vorstände  der  eingeschrie- 
benen Hilfskassen 208 

Aus  der  Praxis  der  deutschen  Unfallver- 
sicherung   208 

Die  Konferenz  der  eingeschriebenen  Hilfs- 
kassen   218 

Infektiöse  Krankheiten  und  die  öster- 
reichische Krankenversicherung  . . . 219 

Zur  organisatorischen  Reform  der  deutschen 

Arbeiterversicherung 220 

Krankenversicherung  der  Dienstboten  in 

Baden 220 

Bestrebungen  zur  Abschaffung  des  Invali- 
ditäts- und  Altersversicherungsgesetzes  220 
Organisation  der  staatlichen  Krankenver- 
sicherung in  Oesterreich 232 

Die  Berufsgenossenschaften  als  Organe  der 

Unfallverhütung 255 

Ueber  die  Wirksamkeit  der  Invaliditäts- 
und Altersversicherung 256 

Unfallversicherung  der  Handwerker  im 

Deutschen  Reich 256 

Unfall-  und  Krankenversicherung  in  der 

Schweiz 256 

Grundsätze  des  Reichsversicherungsamts  in 
Betreff  der  Ansprüche  auf  Invaliden- 
rente   267 

Abänderung  des  deutschen  Unfallversiche- 
rungsgesetzes   267 

Ausdehnung  der  Invalidität-  und  Alters- 
versicherung auf  die  Beamten  der  evan- 
gelischen Landeskirche 267 

Statut  des  Verbandes  freier  Plilfskassen  . 267 


Revision  der  ortsüblichen  Tagelöhne  nach 

dem  neuen  Krankenversicherungsgesetz  292 
Die  Photographie  im  Dienst  der  Unfallver- 


sicherung   292 

Höhere  Entschädigung  von  Unfällen  bei 

weiblichen  Arbeitern 292 

Krankenversicherung  der  Dienstboten  in 

Baden 292 

Zur  Invaliditäts-  und  Altersversicherung 

der  Seeleute 292 

Vereins-  und  Fabrikkassen  in  Ungarn  . . 293 

Konferenz  der  Vertreter  der  deutschen  In- 
validitäts- und  Altersversicherungs- 

anst  alten 316 

Der  sechste  ordentliche  deutsche  Berufs- 
genossenschaftstag   316 

Ausdehnung  der  Krankenversicherung  durch 

Ortsstatut 328 

Rechnungsergebnisse  der  staatlichen  Unfall- 
versicherung in  Niederösterreich  . . . 328 

Zur  Frage  der  Arbeiterversicherung  in 

England 328 

Altersversicherung  der  Hausindustriellen  . 340 

Unfallversicherung  des  Handwerks  . . . 341 

Reform  der  deutschen  Unfallversicherung  . 352 

Normalstatut  für  Ortskrankenkassen  im 

Deutschen  Reich 353 

Die  eingeschriebenen  Hilfskassen  und  die 


Krankenkassennovelle  364,  388,  413,  437,  449 


Krankenstatistik  des  oberschlesischen 

Knappschaftsvereines 365 

Jahresversammlungen  deutscher  Zwangs- 
kassenverbände   376 

Zur  Reform  der  deutschen  Unfallversiche- 
rung   376 

Zur  Statistik  der  deutschen  Invaliditäts- 
und Altersversicherung 376 

Arbeiterversicherung  der  Seeleute  . . . 377 

Unfallversicherung  im  Tiefbaugewerbe  . . 377 


X 


INHALT  DES  ERSTEN  RANDES. 


Seite 

Reorganisation  der  deutschen  Unfallver- 
sicherung   388 

Anweisung  zur  Ausführung  des  Kranken- 
versicherungsgesetzes vom  10.  April  1892  399 

Die  Invaliditäts-  und  Altersversicherung 

im  Stadtbezirke  Rerlin  im  Jahre  1891  . 400 

Haftpflichtschutzverband  deutscher  In- 
dustrieller   400 

Jahresversammlung  des  württembergischen 

Krankenkassenverbandes 400 

Besitzvertheilung  und  Unfallstatistik  in  der 

thüringischen  Landwirthschaft  ....  401 

Die  Kaufleute  und  die  Kranken-  und  Unfall- 
versicherung in  der  Schweiz  ....  401 

Die  Selbstverwaltung  der  Berufsgenossen- 
schaften   412 

Krankenkassengesetzgebung  in  Dänemark  . 413 

Die  Entwickelung  der  Krankenversicherung 

im  Deutschen  Reiche 424 

Zur  Spruchpraxis  des  Reichsversicherungs- 
amts   424 

Die  Kranken-  und  Sterbekasse  des  schwei- 
zerischen Grütli Vereins  im  Jahre  1891  . 425 

Zur  Ausdehnung  der  deutschen  Unfallver- 
sicherung auf  das  Handwerk,  die  See- 


fischerei etc 436 

Zur  Reform  der  deutschen  Unfallver- 
sicherung   436 

Die  Berufsgenossenschaften  und  die  Infall- 
versicherung   436 

Die  Ausdehnung  des  deutschen  Unfallver- 
sicherungsgesetzes auf  das  Handwerk  . 449 

Der  Reichszuschuss  für  die  Invaliditäts- 
und Altersversicherung 449 

Zur  Frage  der  Doppelversicherung  . . . 459 

Krankenversicherung  der  Dienstboten  in 

Deutschland 475 

Vertheilung  der  Krankenkassenarten  im 

Deutschen  Reich 476 

Normalunfallverhütungsvorschriften  der 

deutschen  Berufsgenossenschaften  . . 486 

Erhöhte  Unfallgefahr  bei  der  Verwendung 

jugendlicher  Arbeiter 486 

Leistungen  staatlich  organisirter  und  freier 

Hilfskassen  in  Deutschland 486 


Seite  | 


Städtisches  Versöhnungsamt  für  Arbeiter  . 
Ein  neues  Prud’hommesgesetz  in  Frankreich 
Der  Gesetzentwurf,  betr.  die  Prud’hommes- 

Gerichte  in  Frankreich 

Arbeiter  - Prud’hommes  und  Imperativ- 

Mandate  

Die  deutschen  Gewerbegerichtswahlen  . . 

Der  belgische  Conseil  superieur  du  travail 

Londoner  Versöhnungsrath 

Rechtsmittel  gegen  Entscheidungen  der  Ge- 
werbegerichte   

Arbeits-  und  Industriekammern  in  den 

Niederlanden 

Das  Wahlrecht  der  Frauen  in  den  italieni- 
schen Gewerbeschiedsgerichten  . . . 

Arbeiterausschüsse  in  Oesterreich  .... 
Die  österreichische  parlamentajische  Enquete 

über  Arbeiterausschüsse  etc 

Die  Gewerbeschiedsgerichte  in  Belgien  . . 

Gewerbegerichte  und  Aufsichtsbehörden  in 

Württemberg  und  Baden 

Statistik  der  Gewerbegerichte  in  Baden 
Errichtung  eines  Gewerbegerichts  in  Augs- 
burg   

Die  Gewerbegerichtswahlen  in  Berlin 
Errichtung  von  Gewerbegerichten  durch 
Ortsstatut 


122 

161 

186 

186 

208 

208 

208 

I 

220 

257 


293 

388  l 
388 

401 

401 

413 

460 

476 


Wolmungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 


Seite 


Die  Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter  in 

Brüssel 269 

Wohnungsgesetzgebung  im  Grossherzogthum 

Hessen 293 

Wohnungsverhältnisse  im  Regierungsbe- 
zirke Königsberg  i.  Pr 293 

Wohnungsstatistik  des  Deutschen  Reiches  . 317 

Der  Berliner  Frauenverein  Octavia  Hill  . 317 

Wohnungsstatistik  in  Worms 329 

Wohnungszustände  in  Frankfurt  am  Main  329 
Missstände  in  Fabrikwohnungen  ....  377 

Wohnungszustände  in  Frankfurt  a.  M.  . . 377 

Bau  von  Arbeiterwohnungen  aus  den  Ueber- 
schüssen  der  deutschen  Invaliditäts-  und 

Altersversicherung 388 

Wohnungsuntersuchung  in  Braunschweig  . 389 


389 
425 

425 
437 
460 

476 
476 

rung  in  Elsass-Lothringen 487 


Die  Zahl  der  Wohnungen  und  Haushal- 
tungen in  Belgien 

Entwurf  eines  Wohngesetzes  für  das  Gross- 
herzogthum Hessen 

Die  preussische  Regierung  und  die  Woh- 
nungsfrage in  der  Staatseisenbahn-Ver- 
waltung   

Regelung  des  Schlafstellenwesens  in  Frank- 
furt a.  M 

M assregeln  zur  Erzielung  gesunderen  Woh- 
nens in  Glasgow 

Bau  von  Arbeiterwohnungen  aus  Mitteln  der 
deutschen  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherung   

Massregeln  zur  Erzielung  gesunden  Wohnens 

in  Mühlhausen  i.  E 

Wohnungs Verhältnisse  der  Arbeiterbevölke- 


Wohnungszustände  auf  dem  Lande.  Von 
Prof.  Dr.  Heinrich  Herkner  in  Frei- 
burg i.  Br 

Arbeiterwohnungsverhältnisse  im  oberschle- 
sischen Industriebezirk.  Von  Prof.  Dr 
Werner  Sombart  in  Breslau 
Behördliche  Massnahmen  zur  Wohnungs 

frage 

Statistisches  über  Wohnungsverhältnisse 

Schlafstellenwcsen  in  Berlin 

Ueber  Versuche  zur  Hebung  der  Wohnungs 


i 


16 


Armenwesen. 


Die  Individual-Armenstatistik  des  Wiener 
Vereins  gegen  Verarmung  und  Bettelei. 

Von  Prof.  Dr.  Ernst  Mischler  in  Prag  85 
^ Versicherungsgesetze  und  Armenwesen  . . 27 

| Das  Armenwesen  der  Stadt  Berlin  im 

Etatsjahr  1890/91 281 

Die  Elberfelder  Armenpflege  in  Oesterreich  341 


Grewerbegerichte,  Einigungsämter 
und  Arbeiterausschüsse. 

Die  Neu-Organisation  der  Gewerbegerichte 
in  Deutschland  und  das  Berliner  Orts- 
statut. Von  Dr.  Max  Quarck  in  Frank- 
furt a.  M 73 

(Vgl.  Leitende  Aufsätze.) 
Arbeiterausschüsse  bei  den  preussischen 
Staatsbahnen.  Von  Dr.  Max  Quarck 

in  Frankfurt  a M 

Die  Errichtung  gewerblicher  Schiedsgerichte 

in  Deutschland 

Kaufmännische  Schiedsgerichte 

Arbeiterausschüsse  bei  den  preussischen 

Staatsbahnen 

Gewerbliche  Schiedsgerichte  in  der  Schweiz 

Gewerbegerichte  für  Bergleute 

Die  Bediensteten  der  Pariser  Omnibus- 
gesellschaft und  das  Handelsgericht  als 

Schiedsgericht 

Geschäftsthätigkeit  des  Stuttgarter  Gewerbe- 
gerichts   

Schiedsgerichte  im  sächsischen  Bergbau 
Arbeiter  Prud'hommes  und  Imperativ- 
Mandate  


noth  der  Arbeiter 

Zur  Reform  der  Berliner  Bauordnung  . 
Wohnungszustände  in  Mannheim  .... 
Amtliche  Untersuchung  von  Arbeiter- 
wohnungen   

Wohnverhältnisse  der  Bergarbeiter  . . . 

StaatlicherBau  ländlicher  Arbeiterwohnungen 
Wohnungszustände  in  Bamberg  . . . . 

Wohnungszustände  in  Warschau  . . . . 
Regelung  des  Kost-  und  Quartiergänger- 
wesens  im  Regierungsbezirk  Münster  . 
Nürnberger  Wohnungszustände 


Wohnungsverhältnisse  der  oberschlesischen 

26  Industriearbeiter 

26  Geschlechtsvermischung  in  Arbeiterwohn- 
ungen   

26  Arbeiterwohnungen  in  Russland  .... 
56  Wohnungs-  und  Haushaltungsverhältnisse 
56  der  Stadt  Halle  a.  S.  bei  der  Volkszäh- 
lung des  Jahres  1890  

Wohnungszustände  in  Worms 

99  1 Wohnungsverhältnisse  der  Kranken  in  der 

Schweiz  

99  ; Rau  von  Arbeiterwohnungen  als  geschäft- 

121  liclres  Unternehmen 

Wohnungszustände  in  München  . . . . 

121  Miethzinssparkassen  im  Rheinland 


85 

85 

85 


Kriminalität. 


121  Die  sozialpolitische  Auffassung  des  Ver- 
)21  brechens.  Von  Prof.  Dr.  F.  v.  Liszt 

150  in  Halle  a.  S 

150'  (Vergl.  Leitende  Aufsätze). 

150  Die  gesellschaftlichen  Ursachen  des  Ver- 
brechens. Von  Prof.  Dr.  Franz  v. 

100;  Liszt  in  Halle  a.  S 

135  , (Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

196  Psychologische  Glossen  zur  Strafgesetz- 
novelle. Von  Privatdozent  Dr.  Georg 

196  Simmel  in  Berlin 

Die  Zukunft  der  Rechtsstrafe.  Von  Prof. 

196  Dr.  Franz  v.  Liszt  in  Halle  a.  S.  . . 

195  (Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Arbeitsverdienst  der  Gefangenen  in  Preussen 
Armuth  und  Verbrechen 


4 


59 


173 

463 

197 

449 


220 

221 


Prostitution. 

257 

Eine  Randglosse  zur  Prostitutionsfrage.  Von 
257  Dr.  Bruno  Schoenlank  in  Berlin  . . 

268  Die  Prostitution  im  russischen  Reiche.  Von 
268  Dr.  Stephan  Bauer  in  Wien  . . . 


28 

42 


i 


I 


i 


INHALT  DES  ERSTEN  BANDES, 


XI 


Seite 

Gesetzgeberische  Massnahmen  gegen  Prosti- 
tution und  Zuhälterthum.  Von  Privat- 
dozent Dr.  Theodor  Löwenfeld  in 
München 115 


Soziale  Hygiene. 

Die  amerikanische  Trichine  und  die  obli- 
gatorische Trichinenschau  in  Deutsch- 
land. Von  Dr.  F.  B.  Simon  in 
St.  Gallen  ...  ...  29 

Der  Entwurf  eines  Gesetzes  zur  Bekämpfung 
der  Trunksucht  in  Deutschland.  Von 
Dr.  Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  . 57 

Zum  schwedischen  Trunksuchtsgesetz.  Von 

Axel  Ramm  in  Gothenburg  ....  138 

Cholera  und  Sozialpolitik.  Von  Dr.  Victor 

Adler  in  Wien 464 


(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 
Sanitätsstatistik  der  Arbeiter  im  Wiener  Klein- 
gewerbe. Von  Dr.  Adolf  Braun  in  Berlin  487 


Aeusserungen  zumTrunksuchtsgesetzentwurf  58 

Zur  Sittlichkeitsgesetzgebung 58 

Ortsgesundheitsräthe  im  Grossherzogthum 

Blessen 58 

Zum  deutschen  Trunksuchtsgesetz  ...  72 

Zum  schwedischen  Trunksuchtsgesetz  . . 72 

Gewerbe-hygienisches  Museum  in  Wien  . 112 

Lungenschwindsucht  und  Erwerbsverhält- 
nisse   137 

Die  Trunksucht  als  Todesursache  in  den 
15  grösseren  städtischen  Gemeinden  der 

Schweiz  196 

Eine  neue  Gewerbekrankheit 317 

Steigerung  des  Alkoholkonsums  in  der 

Schweiz 317 

Hygienische  Untersuchungen  der  Buch- 
druckereien in  Preussen 353 

Statistik  der  Schankstätten  in  Berlin . . 389 

Sanitätspolizeiliche  Revisionen  in  Wien  . . 437 


Die  Cholera  und  die  Wohnungsverhältnisse 

von  St.  Petersburg 

Das  Stehen  der  Pferdebahnkutscher  und 

Schaffner 

Erkrankungen  und  Berufsverhältnisse  in  Prag 
Arbeiterkrankenkassen  im  Dienste  der  so- 
zialen Hygiene 

Lebensmittelkontrolle  in  Wien  ... 
Krankenkassen  und  soziale  Hygiene  . . . 

Wohlfahrtseinrichtungen. 

Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen.  Von  Pro- 
fessor Dr.  Heinrich  Herkner  in 

Freiburg  i.  Br.  . 

(Vergl.  Leitende  Aufsätze.) 

Zur  Frage  der  Gewinnbetheiligung  der  Ar- 
beiter. Von  Professor  Raoul  Jay  in 

Grenoble 

Naturalverpflegung  bedürftiger  Durch- 
reisender   

Die  Berliner  Konferenz  der  Centralstelle 
für  Wohlfahrtseinrichtungen  . . . . 

Missbräuche  und  Vortheile  bei  Fabrik- 
kantinen   

Litteratur. 

Wörishoffer,  Die  soziale  Lage  der  Fabrik- 
arbeiter in  Mannheim  und  dessen  nächster 
Umgebung.  Besprochen  von  Prof.  Dr. 
Heinrich  Herkner  in  Freiburg  i.  B.  . 
Nordböhmische  Arbeiterstatistik.  Besprochen 
von  Prof.  Dr.  Heinr.  Herkner  in  Frei- 
burg i.  B 

Kamm,  Die  Steuerdeklaration  der  Aerzte 
auf  Grund  des  neuen  preussischen  Ein- 
kommensteuergesetzes Besprochen  von 
Privatdozent  Dr.  J.  Jastrow  in  Berlin 


Seite 


437 


437 

460 

461 
461 
476 


247 

267 
112 
232 

268 


30 


Swjatlowsky,  Die  Fabrikhygiene.  Be- 
sprochen von  E.  Scholkow  in  München 
Das  Mülhauser  Arbeiterviertel,  seine  Bade- 
anstalten und  Waschküchen.  Besprochen 
von  Prof.  Dr.  Heinrich  Herkner 

in  Freiburg  i.  B 

Taschen-Kalender  zum  Gebrauche  bei  Hand- 
habung der  Arbeiterversicherungsgesetze 
Th.  Hampke,  Der  Befähigungsnachweis 

im  Handwerk . . 

Lautenschlager,  Erhebungen  für  die  Sonntags- 
ruhe in  Stuttgart 

Somogyi,  Die  Lage  der  Arbeiter  in  Un- 
garn vom  hygienischen  Standpunkte 
Bürkli,  Der  Ursprung  der  Eidgenossen- 
schaft aus  der  Markgenossenschaft  und 

die  Schlacht  aus  Morgarten 

H.  Lux,  Die  Prostitution,  ihre  Ursachen, 
ihre  Folgen  und  ihre  Bekämpfung  . . 

Allgemeiner  Schweizer  Gewerkschafts  - 

bund 

Feling,  Die  Bestimmung  der  Frau,  ihre 
Stellung  zu  Familie  und  Beruf  . . . 

Protokoll  der  Verhandlungen  des  ersten 
Kongresses  der  Gewerkschaften  Deutsch- 
lands   

Hirsch,  Leitfaden  mit  Muster-Statuten  für 

freie  Hilfskassen 

Görres,  Handbuch  der  gesammten  Arbeiter- 
gesetzgebung des  Deutschen  Reiches 
te  Bart,  Die  Versicherungspflicht  nach 
dem  Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rungsgesetz vom  22.  Juni  1889  . . . 


44 


Vermischtes. 


Klassische  Konzerte  für  Arbeiter  .... 
44  I Oeffnung  der  Londoner  Museen  am  Sonntag 


Seite 

100 


209 

44 

150 

197 

197 

197 

209 

221 

269 

329 

329 

365 

365 


126 

341 


Inhalt  des  ersten  Vierteljahresbandes 


Seite 


Seite 


Seite 


Leitende  Aufsätze. 

Unser  Programm 1 

Die  sozialpolitische  Bedeutung  der  neuen 
Handelsverträge.  Von  Prof.  Dr.  C.  J. 

Fuchs  in  Greifswald 2 

Die  sozialpolitische  Auffassung  des  Ver- 
brechens. Von  Prof.  Dr.  F.  v.  Liszt  in 

Halle  a.  S 4 

Die  Arbeiterschutzgesetzgebung  beim  deut- 
schen Bergbau.  Von  Dr.  L.  Verkauf  in 

Wien 17 

Die  politische  Presse  der  deutschen  Sozial- 
demokratie   32 

Amtliche  Untersuchungen  sozialer  Zustände 
in  Deutschland.  Von  Dr.  Heinrich 

Braun  in  Berlin 45 

Die  gesellschaftlichen  Ursachen  des  Ver- 
brechens. Von  Prof.  Dr.  Franz  v.  Liszt 

in  Halle  a.  S 59 

Die  Neu-Organisation  der  Gewerbegerichte 
in  Deutschland  und  das  Berliner  Orts- 
statut. Von  Dr.  Max  Quarck  in  Frank- 
furt a.  M 73 

Zur  Heimstättenfrage.  Von  Dr.  Carl  Grün- 
berg in  Wien 88 

Der  parlamentarische  Kampf  gegen  die 

Börse 101 

Di.e  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik. 

Von  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  . 113 


Gesetzgeberische  Massnahmen  gegen  Pro- 
stitution und  Zuhälterthum.  Von  Privat- 
dozent Dr.  Theodor  Löwenfeld  in 


München 115 

Arbeitslosigkeit.  Von  Prof.  Dr.  Heinrich 

Herkner  in  Freiburg  i.  B 127 

Die  Kohlenarbeiterfrage  in  Grossbritannien. 

Von  Dr.  Stefan  Bauer  in  Wien  . . 139 


Die  Organisationsbestrebungen  der  Gewerk- 
schaften auf  dem  Halberstädter  Kon- 
gress. Von  Dr.  Adolf  Braun  in 


Berlin 151 

Die  Novelle  zum  Preussischen  Berggesetze. 

Von  Dr.  Leo  Verkauf  in  Wien  . . 163 


Soziale  Wirthschattspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik. 

Das  Zündholzmonopol  in  der  Schweiz.  Von 
Fabrikinspektor  Dr.  F.  Schüler  in 
Mollis 5 


Die  Hypothekenbewegung  im  preussischen 
Staate  während  der  Rechnungsjahre 
1886/87  bis  1889/90.  Von  Dr.  Carl 

Grünberg  in  Wien 

Agrarische  Bewegungen  in  der  Schweiz. 

Von  Kantonsstatistiker  E.  Na  e f in  Aarau 
Reform  der  Gewerbeordnung  in  der  Schweiz. 

Von  Kantonsstatistiker  E.  Nae  f in  Aarau 
Agrarische  Verhältnisse  in  Rumänien.  Von 
Dr.  Carl  Grünberg  in  Wien  . . . 

Ein  neuer  Lohnberechnungsplan  Von 

H.  Schlüter  in  New-York 

Zu  den  agrarischen  Zuständen  in  Mexiko. 

Von  Kantonsstatistiker  E.  Naef  in  Aarau 
Ein  deutsches  Auswanderungsgesetz.  Von 
Dr.  Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M. 

Zu  den  agrarischen  Reformplänen  in  Ru- 
mänien. Von  Dr.  Carl  Grünberg  in 

Wien 

Die  Wiener  Verkehrsanlagen  und  die  Ar- 
beiter. Von  Dr.  Heinrich  Fried- 
jung in  Wien 

Das  Schweizerische  Auswanderungsgesetz. 
Von  Kantonsstatistiker  E.  Naef  in 

Aarau 

Die  Abzahlungsgeschäfte  in  Ratenlosen  in 
der  Schweiz.  Von  Kantonsstatistiker 

E.  Naef,  Aarau 

Grossbetrieb  im  Kohlengewerbe  .... 
Neuer  sozialpolitischer  Gesetzentwurf  in 

Preussen 

Zur  Frage  der  Börsenreform 

Auswanderungsgesetz  für  Deutschland  . . 

Zahl  der  industriellen  Arbeiter  in  Russ- 
land   • . . . 

Berufsgenossenschaften  in  der  Schweiz  . 
Agitation  der  Bodenreformer  in  England  . 
Englisches  Genossenschaftswesen  .... 
Die  russische  Wirthschaftspolitik  und  die 

Hungersnoth 

Ueberseeische  Auswanderung  aus  dem  deut- 
schen Reiche 

Die  russische  Regierung  und  die  Hungers- 
noth   

Ermittelungen  über  die  landwirthschaftliche 
Bodenverschuldung  in  der  Schweiz  . . 

Sparkassen  im  Dienst  des  Arbeiterwohls  . 

Agrarzustände  auf  Haiti ' 

Zum  deutschen  Auswanderungsgesetz 
Arbeitergenossenschaften  in  Italien  . . . 

Städtische  Sozialpolitik  in  England  . 


Reform  des  Gesetzes  betr.  den  Unter- 
stützungswohnsitz   144 

Der  Entwurf  eines  Heimstättengesetzes  für 

34  das  Deutsche  Reich 155 

Das  Höferecht  in  Tirol 155 

34  Die  überseeische  Auswanderung  aus  Oester- 
reich   .166 

47 


60 

75 

90 

116 


129 


141 


154 


165 

6 

33 

35 

47 

61 

76 

76 


89 

103 

104 

104 

104 

118 

131 

131 

143 


Arbeiterzustände. 

Die  Lage  der  deutschen  Mühlenarbeiter. 

Von  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  . 
Ueber  die  Abnahme  der  Arbeitskraft.  Von 
Prof.  Dr.  Heinrich  Herkner  in  Frei- 
burg i.  B 

Ueber  die  Abnahme  der  Arbeitskraft.  Von 
Dr.  N.  Brückner  in  Frankfurt  a.  M.  . 
Erwiderung.  Von  Prof.  Dr.  Heinrich 
Herkner  in  Freiburg  i.  B . . . . 

Die  königliche  Kommission  über  die  Ar- 
beiterfrage in  England.  Von  Dr.  Ste- 
phan Bauer  in  Wien 

Die  Kinderarbeit  in  Frankreich.  Von  Prof. 

Dr.  Wilhelm  Stieda  in  Rostock  . . 

Das  Trucksystem  in  England.  Von  Prof. 

Dr.  Wilhelm  Stieda  in  Rostock  . . 

Eine  „Aufnahme“  der  ländlichen  Vrbeiter- 
verhältnisse.  Von  Dr.  Max  Quarck 

in  Frankfurt  a.  M 

Eine  Aufnahme  der  ländlichen  Arbeiter- 
verhältnisse. Von  Prof.  Dr.  Gustav 

Schm  oller  in  Berlin 

Betriebsunfälle  in  der  Industrie  Nürnbergs. 

Von  Martin  Segitz  in  Nürnberg  . 
Zur  Lage  der  Leipziger  Buchbindereiarbeiter 
Eine  „Musterarbeitsordnung“  für  Bergwerke 
Das  Tabakmonopol  und  die  Lage  der 

ungarischen  Tabakarbeiter 

Ueber  die  Ausnützung  der  Arbeiter  in  den 

Nahrungsmittelgewerben 

Die  Arbeitsdauer  in  den  Mainzer  Cigarren- 

und  Tabakgeschäften 

Arbeiterverhältnisse  im  bayerischen  Bergbau 

Lohnfristen  der  Bergleute 

Kommission  für  Arbeitsstatistik  .... 
Zur  Beurtheilung  der  Statistik  der  deutschen 

Gewerkschaften 

Peonagesystem  und  Arbeitslöhne  in  Mexico 
Ernährungsverhältnisse  der  Arbeiterbevöl- 
kerung   


7 

19 

47 

48 


62 


63 

77 

78 

105 

118 

8 

20 

21 


21 


21 

35 

36 
36 

36 

36 

37 


II 


INHALT  DES  ERSTEN  MERTELJAHRESBANDES. 


S 


Die  Zunahme  des  Pferdefleischkonsums 
Löhne  im  Wiener  Schmiedegewerbe  . . 

Zustände  im  polygraphischen  Gewerbe  ii 

Frankfurt  a.  M 

Ueber  Hamburger  Arbeiterkinder  . 
Arbeiterverhältnisse  in  den  preussischei 

Staatsgruben 

Arbeitslosigkeit 

Statistik  der  Arbeiter  und  Beamten  de 
preussischen  Staatsbahnen  . . 

Arbeitsverhältnisse  bei  den  preussischei 

Staatsbahnen 

Mangelhafte  Ernährung  von  Arbeiterkinder! 

Arbeitslosigkeit 

Ländliche  Arbeiterverhältnisse  .... 
Ländliche  Arbeiterverhältnisse  in  Süd 

deutschland 

Zur  Arbeitsstatistik  deutscher  Gewerbe 

inspektoren  

Ein  österreichisches  Amt  für  Arbeitsstatistik 
Ruhezeiten  für  das  Betriebspersonal  der 

preussischen  Staatsbahnen 

Der  Nothstand  in  der  ostschweizerischen 

Stickerei 

Klagen  über  Lehrlingszüchterei  . . . 

Die  Nothlage  in  der  schweizerischen  Sticke 

reiindustrie 

Zur  Lage  der  Arbeiter  in  Italien  . . . 

Arbeitszeitreduktion  in  der  schweizerische! 

Spinnerei  und  Weberei 

Lohnverhältnisse  der  Baseler  Posamenter 
Ueber  die  Abnahme  der  Arbeitskraft 
Schweizerisches  Arbeitersekretariat  . . 

Untergang  einer  Hausindustrie  .... 
Tagelöhne  im  Grossherzogthum  Hessen 
Zur  Lage  der  Wiener  Schuhmacher  . . 

Das  Schwitzsystem  in  der  Schneiderei  de 

Vereinigten  Staaten 

Statistik  der  Bergarbeiterentlassungen  . 
Ländliche  Arbeiterverhältnisse  .... 
Schneiderwerkstätten  in  der  Stadt  New-York 
Löhne  und  Lebenshaltung  der  ungelernten 

Bauarbeiter  Harburgs 

Statistik  der  Arbeitslosigkeit  in  England  . 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Die  deutsche  Sozialdemokratie  im  Jahre  1891 
Die  Aufhebung  des  Koalitionsverbotes  für 
die  ländlichen  Arbeiter  ...  • • 

Die  sozialdemokratische  Partei  der  Schweiz 
Die  galizisch-jtidischen  Arbeiter  und  der 

Sozialismus 

Die  Sozialdemokratie  und  die  Strikes  . . 

Die  Stellung  der  Sozialdemokratie  zum 
Boykott 


eite 

37 

49 

49 

49 

49 

49 

64 

64 

65 
65  | 
65  i 

79 

80 
80 

91 

91 

92 

107 

107 

107 

107 

118 

131 

132 
132 
132 

132 


Seite 

Das  Programm  des  deutschen  Gewerk- 
schaftskongresses. Von  C.  Legien  in 

Hamburg 65 

Der  steirische  Bergarbeiterstrike.  Von  Dr. 

Leo  Verkauf  in  Wien 67 

Zum  Programm  des  deutschen  Gewerk- 
schaftskongresses. Von  Martin  Segitz 
in  Nürnberg 92 

Die  französischen  Arbeitsbörsen.  Von  Leo 

Frankel  in  Paris 108 

Die  französischen  Arbeitergewerkschaften. 

Von  Leo  Frankel  in  Paris  ....  156 

Der  Ausstand  der  Kohlenarbeiter  in  Eng- 
land. Von  Dr.  Stephan  Bauer  in 

Wien 166 

Der  deutsche  Gewerkschaftskongress  . . 11 

I )er  Gewerkverein  der  englischen  Dock- 
arbeiter   11 

Die  fiskalischen  Grubenarbeiterausschüsse 

im  Saarkohlenrevier 1 1 j 

Eine  Organisation  der  an  Pferdebahn-Be- 
trieben beschäftigten  Arbeiter  ....  1 1 i 

Der  deutsche  Buchdruckcrausstand  ...  22 

Bergarbeiterausstand  in  Steiermark  und  Krain  22 

Der  schweizerische  Grütldverein  ....  22 

Die  französischen  Tabakarbeiter  und  Tabak- 
arbeiterinnen   22 

Eine  Gewerkschaft  der  Kleider-  und  Wäsche- 
näherinnen   22 

Ueber  das  französische  Arbeitersekretariat . 22 

Arbeitsbörsen 22 

Gegen  die  privaten  Stellenvermittlungs- 

bureaux 22 

Die  Neunstundenbewegung  der  schweize- 
rischen Buchdruckergehilfen  ....  23 

Der  deutsche  Buchdruckcrausstand  ...  37 

Die  Achtstundenbewegung  in  den  Vereinigten 

Staaten  von  Amerika 37 


Seite 

147 


Der  Strike  der  Pariser  Droschkenkutscher  . 
Rechenschaftsbericht  der  Generalkommission 

der  deutschen  Gewerkschaften  ....  157 

Der  Gewerkschaftskongress  zu  Halberstadt  158 
Die  Kommis  der  Gemischtwaarenhändler 

von  Paris 158 

Die  Ergebnisse  des  deutschen  Gewerkschafts- 
kongresses   168 

Evangelische  Arbeitervereine  inWürttemberg  169 
Organisation  der  deutschen  Tabakarbeiter.  170 
Französischer  Schneiderkongress  ....  170 

Ein  Kellnerstrike 170 


Unterueliraerverbände. 

Der  Ausstand  - Versicherungsverband  de 


Oberbergamtsbezirkes  Dortmund  . . 

Feinblech-Grossgewerbe 

Krisis  im  rheinisch-westfälischen  Walzwerl- 
verband   

Der  Stickereiverband  der  Ostschweiz  . 
Vereinigungen  in  der  Kohlenindustrie  . 

Gegen  die  Kohlenringe 

Amerikanischer  Whiskeytrust  .... 
Verband  zur  Besserung  der  ländlichen 

Arbeiterverhältnisse 

Ein  Syndikat  französischer  Spinnereibesitzer 
Verein  deutscher  Juteindustrieller  . . . . 

Kartell  der  bayerischen  Spiegelglasfabriken 

Westfälisches  Koks-Syndikat 

Vereinigung  niederrheinischer  Stoffdrucke- 

reien 

Einschränkung  in  der  schottischen  Jute- 
industrie   

Ein  Kokssyndikat  im  Jahre  1890/91  . • • 

Die  Spiegelglasfabrikanten  Böhmens  und 
Bayerns 


13 

13 

23 

23 

81 

110 

110 

120 

120 

159 

159 

159 

159 

159 

170 

171 


156 

156 


12 


Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung. 

Der  Buchdruckerstrike.  Von  Dr.  Adolf 

Braun  in  Berlin 

Der  Stand  der  deutschen  Gewerkschafts- 
bewegung. Von  J.  Scherm  in  Nürn- 
berg   

Ein  Strike  der  Bierbrauergehilfen  in  Bayern. 

Von  Martin  Segitz  in  Nürnberg  . . 

Der  steirische  Bergarbeiterstrike.  \ on  Dr. 

Leo  Verkauf  in  Wien 

Das  Ende  des  Buclidruckerstrikes.  \ on 
Dr.  Adolf  Braun  in  Berlin  .... 


144  Der  Kampf  um  die  Sonntagsruhe  im  Räcker- 

144  ge  werbe 38 

144  Ueber  Arbeiterausstände  und  ihre  recht- 
lichen Folgen 38 

Arbeiterschutz  im  Bäckergewerbe  ....  68 

Evangelische  Arbeitervereine  in  Deutschland  68 

Holzhauerstrike  in  Frankreich 80 

Buchdruckerstrike  in  Bukarest 81 

Wiener  Buchdruckerei-  und  Schriftgiesserei- 

arbeiter-Strike  im  Jahre  1891  . . ■ . 81 

Strike  der  Bierbrauergehilfen  in  Nürnberg  81 
Zur  Organisation  der  deutschen  Metall- 
arbeiter .., 81 

Organisation  der  Eisenbahnarbeiter  ...  92 

Kongress  der  französischen  Arbeitsbörsen  . 93 

Strikes  und  Lockouts  in  England  ....  109 

Der  Strike  der  Pariser  Droschkenkutscher.  110 

Ein  Tramwaystrike  in  Lille 110 

Ilirsch-Duncker’sche  Gewerkvereine  ...  119 

Die  Chausseearbeiter  der  Stadt  Paris  . . 119 

Krisis  im  englischen  Kohlenbergbau  . . . 132 

Die  gleitende  Skala  in  den  Kohlenwerken 

von  Süd-Wales 132 

Die  Kontrollmarke 133 

Reorganisation  der  katholischen  Arbeiter- 

8 vereine 133 

Leistungen  der  dänischen  Böttcher-Organi- 
sation   133 

10 1 Die  amerikanischen  Gewerkschaften  . . . 134 

Die  gewerkschaftliche  Bewegung  in  Oester- 

21  reich-Schlesien 134 

Ein  Urtheil  über  Strikes 134 

49  Die  Lage  der  deutschen  Gewerkschaften  . 144 

Kontrollmarken  für  Textilarbeiter  ....  146 

51  Ein  Kellnerstrike 147 


Handwerkerf  ragen. 


die  Hypotheken- 
Leo  Arons  in 


Die  Bauhandwerker  und 
Ordnung.  Von  Dr. 

Berlin 23 

Die  Forderungen  der  Handwerkerpartei  . 122 

Lehrlinge  und  Arbeiterorganisationen  . . 24 

Für  den  Befähigungsnachweis 24 

Die  Bauhandwerker  und  die  Hypotheken- 
ordnung   +0 

Gewerbekammern  in  Baden 69 

Arbeiterschutz  im  Kleingewerbe  ....  70 

Auflösung  der  fakultativen  Innungen  . . 70 

Gewerbekammern  in  Baden 82 

Der  deutsche  Handwerkertag 111 

Gewerberäthe  in  Oesterreich 126 

Zur  Einführung  der  obligatorischen  Innung 

und  des  Befähigungsnachweises  . . . 137 

Untergang  des  Kleingewerbes  in  der  Müh- 
lenindustrie   137 

Eine  Statistik  wandernder  Handwerksge- 
hilfen  158 

Verpflegung  und  Wohnung  der  Lehrlinge 

im  Hause  der  Meister 159 

Die  Genossenschaften  in  Oesterreich  . . 171 

Innungsbewegung  in  Westfalen  ....  171 


Kaufmännische  Bewegung 

Die  sozialpolitische  Reformbewegung  im 
deutschen  Handelsgewerbe.  Von  Dr. 

Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  . . 39 

Eine  Minimalkündigungsfrist  für  Handlungs- 
gehilfen   40 


INHALT  DES  ERSTEN  VIERTELJAHRISBANDE.S. 


III 


Seite 


Die  Arbeitszeit  kaufmännischer  Lehrlinge  . 40 

Minimalkündigungsfristen  für  Handlungs- 
gehilfen   69 

Die  gesetzliche  Regelung  der  Arbeitszeit 

für  Handlungsgehilfen 69 

Handlungsgehilfen  als  Gefängnissarbeiter  . 69 

Die  Syndikatskammer  der  kaufmännisch 

Angestellten  von  Paris 81 

Zur  Verdrängung  des  Zwischenhandels.  . 82 

Minimalkündigungsfristen  für  Handlungs- 
gehilfen in  Oesterreich  ......  82 

Gehälter  der  Handlungsgehilfen  ....  82 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Der  französische  Gesetzentwurf,  betr.  die 
Kinderarbeit.  Von  Prof.  Raoul  Jay  in 

Grenoble  ...  24 

Der  Entwurf  eines  Arbeiterschutzgesetzes 
für  den  Kanton  Glarus.  Von  Kantons- 
statistiker E.  Naef  in  Aarau  ....  70 

Die  neuesten  Fortschritte  der  Fabrikgesetz- 
gebung in  Russland.  Von  Dr.  Sophie 

Daszynska  in  Warschau 83 

Eine  Enquete  betr.  die  Organisation  der 
österr.  Fabrikindustrie.  Von  Dr.  Leo 

Verkauf  in  Wien  134 

Arbeiterschutz  in  der  Hausindustrie  ...  13 

Fabrikgesetzgebung  in  Ostindien  ....  13 

Ein  neues  Fabrikgesetz  in  Neuseeland  . . 13 

Ein  städtisches  Arbeitersekretariat  ...  13 

Der  Entwurf  einer  revidirten  Gesinde- 
ordnung   25 

Normalarbeitstag  und  Minimallohn  bei 

öffentlichen  Arbeiten  in  Holland  ...  25 

Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  ....  25 

Schutz  der  Arbeiterinnen 41 

Die  Sonntagsruhe  .im  deutschen  Handels- 
gewerbe   41 

Schweizerisches  Fabrikgesetz 41 

Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  ...  53 

Arbeiterschutz  bei  dem  schweizerischen 

Verkehrsgewerbe 71 

Städtischer  Arbeitsnachweis  und  städtische 

Arbeitersekretariate 71 

Arbeiterschutz  in  der  Mühlenindustrie  . . 84 

Frankfurter  Ortsstatut  über  die  Sonntags- 
ruhe im  Handelsgewerbe 93 

Sonntagsruhe  im  Berliner  Handelsgewerbe  93 

Arbeiterschutz  in  Drahtziehereien  ...  93 

Zum  deutschen  Koalitionsrecht 93 

Eintragungen  in  Arbeitsbücher  nach  deut- 
schem Gewerberecht 93 

Schutzvorschriften  für  Arbeiter  in  Briquette- 

fabriken 94 

Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und 
jugendlichen  Arbeitern  in  Walz-  und 

Hammerwerken Dl 

Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und 
jugendlichen  Arbeitern  in  Cichorien- 
fabriken und  Glashütten 111 

Entwurf  eines  Achtstundengesetzes  für 

England 111 

Schutzvorschriften  für  englische  Seeleute  112 

Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  in  Stein- 
kohlenbergwerken   120 

Kinderschutz  ausserhalb  der  Fabriken  . . 120 

Nothwendigkeit  der  Ausdehnung  der  Schutz- 
vorschriften für  jugendliche  Arbeiter  . 135 

Minimallöhne  in  Frankreich 136 

Ein  staatliches  Arbeitsvermittelungsamt  in 

Neu-Seeland 136 


Seite 

Schutz  von  Arbeiterinnen  und  jugendlichen 


Arbeitern  in  Zuckerfabriken  ....  147 

Schutz  der  jugendlichen  Arbeiter  auf  Stein- 
kohlenbergwerken   148 

Schutzvorschriften  für  Bergleute  ....  148 

Internationale  Regelung  der  deutschen, 
österreichischen  und  schweizerischen 

Stickerei 148 

Gesetzlicher  Schutz  der  Handlungsbedien- 
steten in  England 148 

Anweisung  zur  Ausführung  der  Gewerbeord- 
nung in  Preussen 171 


Gewerbeinspektion. 

Die  neuesten  deutschen  Inspektoratsberichte. 

Von  Dr.  M.  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  14 

Fabrikaufsicht  und  Arbeiterbewegung  in 
Baden.  Von  Prof.  Dr.  Heinrich 

Herkner  in  Freiburg  i.  B 149 

Eisenbahn-Inspektoren 25 

Gewerbeinspektion  in  Holland 94 

Ueberbürdung  der  Fabrikinspektoren  . . 136 

Jugendliche  Arbeiter  in  der  badischen  Fa- 
brikindustrie   136 


Arbeiterversicherung. 


Eine  Enquete  betreffend  die  Krankenver- 
sicherung. Von  Dr.  Leo  Verkauf  in 

Wien 84 

Die  Fürsorge  für  erkrankte  Dienstboten.  Von 

J.  Silbermann  in  Berlin 94 

Amtliche  Berichte  über  die  deutsche  Un- 
fallversicherung in  den  Jahren  1890, 

1891.  Von  Dr.  Max  Quarck  in  Frank- 
furt a.  M 159 

Die  Abänderung  des  deutschen  Kranken- 
versicherungsgesetzes. Von  Dr.  Max 

Quarck  in  Frankfurt  a.  M 172 

Eine  Statistik  der  Unfälle  für  den  Kreis  der 
landwirthschaftlichen  Berufsgenossen- 
schaften . 15 

Hausgewerbe  und  Versicherungspflicht  . . 25 

Staatliche  Unfallversicherung  in  Russland  . 26 

Die  Erweiterung  der  Unfallversicherung  in 

Oesterreich 41 

Beschäftigung  ausländischer  Arbeiter  und 

deutsche  Versicherung 42 

Verstaatlichung  der  Aerzte 42 

Der  Entwurf  eines  österreichischen  Hilfs- 
kassengesetzes   54 

Zur  Statistik  der  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung   54 

Zum  deutschen  Unfallversicherungsgesetz  . 54 

Die  Unfall-  und  Krankenversicherung  in 

der  Schweiz  54 

Zur  deutschen  Krankenkassennovelle  . . 55 

Unterstützungskasse  der  westfälischen  Berg- 
leute   55 

Die  österreichische  Krankenversicherung  im 

Jahre  1889  55 

Zur  Krankheitsstatistik 72 

Zur  Reform  der  deutschen  Arbeiterversiche- 
rungsgesetze   96 

Der  Begriff  „Unternehmergewinn“  in  der 
Auffassung  des  Reichs-Versicherungs- 
amts   97 

Die  Altersversicherung  in  England.  ...  97 

Haftpflicht  und  Unfallversicherung  der  Ar- 
beiter in  Russland 120 

Die  Krankenversicherung  der  Arbeiter  im 
Jahre  1890  161 


Seite 

Gewerbegerichte,  Einigungsämter 


und  Arbeiterausschiisse. 

Arbeiterausschüsse  bei  den  preussischen 
Staatsbahnen.  Von  Dr.  Max  Quarck 

in  Frankfurt  a M 98 

Die  Errichtung  gewerblicher  Schiedsgerichte 

in  Deutschland 26 

Kaufmännische  Schiedsgerichte 26 

Arbeiterausschüsse  bei  den  preussischen 

Staatsbahnen 26 

Gewerbliche  Schiedsgerichte  in  der  Schweiz  56 

Gewerbegerichte  für  Bergleute 56 

Die  Bediensteten  der  Pariser  Omnibus- 
gesellschaft und  das  Handelsgericht  als 

Schiedsgericht 99 

Geschäftsthätigkeit  des  Stuttgarter  Gewerbe- 
gerichts   99 

Schiedsgerichte  im  sächsischen  Bergbau  . 121 

Arbeiter  Prud’hommes  und  Imperativ- 

Mandate  121 

Städtisches  Versöhnungsamt  für  Arbeiter  . 122 

Ein  neues  Prud’hommesgesetz  in  Frankreich  161 


Wohnungszustände  und  Wolinungs- 


gesetzgebung. 

Wohnungszustände  auf  dem  Lande.  Von 
Prof.  Dr.  Heinrich  Herkner  in  Frei- 
burg i.  B 16 

Behördliche  Massnahmen  zur  Wohnungs- 
frage   27 

Statistisches  über  Wohnungsverhältnisse  . 27 

Schlafstellenwesen  in  Berlin 56 

Ueber  Versuche  zur  Hebung  der  Wohnungs- 

noth  der  Arbeiter 85 

Zur  Reform  der  berliner  Bauordnung  . . 85 

Wohnungszustände  in  Mannheim  ....  85 

Amtliche  Untersuchung  von  Arbeiter- 
wohnungen  121 

Wohnverhältnisse  der  Bergarbeiter  . . . 121 

StaatlicherBau  ländlicher  Arbeiter  Wohnungen  150 
Wohnungszustände  in  Bamberg  ....  150 

Wohnungszustände  in  Warschau  ....  150 

Regelung  des  Kost-  und  Quartiergänger- 
wesens im  Regierungsbezirk  Münster  . 100 


Armen  wesen. 

Die  Individual-Armenstatistik  des  Wiener 
Vereins  gegen  Verarmung  und  Bettelei. 

Von  Prof.  Dr.  Ernst  Mi  schier  in  Prag  85 
Versicherungsgesetze  und  Armenwesen  . . 27 

Kriminalität. 

Psychologische  Glossen  zur  Strafgesetz- 
novelle. Von  Privatdozent  Dr.  Georg 


Simmel  in  Berlin 173 

Gefängnissarbeit  in  Preussen 174 


Prostitution. 

Eine  Randglosse  zur  Prostitutionsfrage.  Von 

Dr.  Bruno  Schönlank  in  Berlin  . . 28 

Die  Prostitution  im  russischen  Reiche.  Von 

Dr.  Stephan  Rauer  in  Wien  ...  42 

Soziale  Hygiene. 

Die  amerikanische  Trichine  und  die  obli- 
gatorische Trichinenschau  in  Deutsch- 
land. Von  Dr.  F.  B.  Simon  in 
St.  Gallen  . 29 


IV 


INHALT  DES  ERSTEN  VIERTELJAHRESBANDES. 


Seite 


Der  Entwurf  eines  Gesetzes  zur  Bekämpfung 
der  Trunksucht  in  Deutschland.  Von 
Dr.  Max  Quarck  in  Frankfurt  a.  M.  . 57 

Zum  schwedischen  Trunksuchtsgesetz.  Von 

Axel  Ramm  in  Gothenburg  ...  138 

Aeusserungen  zumTrunksuchtsgesetzentwurf  58 

Zur  Sittlichkeitsgesetzgebung 58 

Ortsgesundheitsräthe  im  Grossherzogthum 

Hessen 58 

Zum  deutschen  Trunksuchtsgesetz  ...  72 

Zum  schwedischen  Trunksuchtsgesetz  . . 72 

Gewerbe-hygienisches  Museum  in  Wien  . 112 

Lungenschwindsucht  und  Erwerbsverhält- 
nisse   138 


Seite 

Wohlfahrtseinrichtungen. 


Naturalverpflegung  bedürftiger  Durch- 
reisender   112 

Vermischtes. 

Klassische  Konzerte  für  Arbeiter  . . .126 


Litteratur. 

L.  Wörishoffer,  Die  soziale  Lage  der  Fabrik- 
arbeiter in  Mannheim  und  dessen  nächster 
Umgebung.  Von  Prof.  Dr.  Heinrich 
Herkner  in  Freiburg  i.  B 30 


Seite 


Nordböhmische  Arbeiterstatistik.  Von  Prof. 

Dr.  Heinr.  Herkner  in  Freiburg  i.  B.  44 
Die  Steuerdeklaration  der  Aerzte  auf  Grund 
des  neuen  preussischen  Einkommen- 
steuergesetzes. Von  Privatdozent  Dr. 

J.  Jastrow  in  Berlin 44 

W.  Swjatlowsky,  Die  Fabrikhygiene.  Von 

E.  Scholkow 100 

Taschen-Kalender  zum  Gebrauche  bei  Hand- 
habung der  Arbeiterversicherungsgesetze  44 
Dr.  Th.  Hampke,  Der  Befähigungsnachweis 

im  Handwerk . . 150 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  4.  Januar  1892. 


Nummer  1. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Berlin. 


Preis  vierte], jälirlieli  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 


Unser  Programm. 

Die  sozialpolitische  Bedeutung  der 
neuen  Handelsverträge.  Von  Prof. 
Dr.  C.  J.  Fuchs. 

Die  sozialpolitische  Auffassung  des 
Verbrechens.  Von  Prof.  Dr.  Franz 
v.  Liszt. 

Soziale  Wirthschaftspolitik : 

1 >as  Zündholzmonopol  in  derSchweiz. 
Von  Fabrikinspektor  I)r.  F. 
S ch  u 1er. 

Grossbetrieb  im  Kohlengewerbe. 
Arbeiterzustände : 

Die  Lage  der  deutschen  Mühlen- 
arbeiter. Von  Dr.  Heinr.  Braun. 

Zur  Lage  der  Leipziger  Buch- 
bindereiarbeiter. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

1 'er  Buchdruckerstrike.  Von  Dr. 
Adolf  Braun. 

Der  Stand  der  deutschen  Ge- 
werkschaftsbewegung. Von  f. 
Seherin. 

I >er  deutsche  Gewerkschaftskon- 
gress. 

I >er  Gewerkverein  der  englischen 
Dockarbeiter. 

Die  fiskalischen  Grubenarbeiter- 
ausschüsse im  Saarkohlenrevier. 

Eine  Organisation  der  an  Pferde- 
bahnbetrieben beschäftigten  Ar- 
beiter. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Die  deutsche  Sozialdemokratie  im 
Jahre  1891. 

Die  Aufhebung  des  Koalitionsver- 
botes für  die  ländlichen  Arbeiter. 

Die  sozialdemokratische  Partei  der 
Schweiz. 

Die  galizisch -jüdischen  Arbeiter 
und  der  Sozialismus. 

Unternehmerverbände: 

Der  Ausstands  - Versicherungsver- 
band  des  Oberbergamtsbezirkes 
Dortmund. 

Feinblech-Grossge  werbe. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Arbeiterschutz  in  der  Hausindustrie. 

Fabrikgesetzgebung  in  Ostindien. 

Ein  neues  Fabrikgesetz  in  Neu- 
seeland. 

Ein  städtisches  Arbeitersekretariat. 

Gewerbeinspektion : 

Die  neuesten  deutschen  Inspek- 
toratsberichte.  Von  Dr.  Max 
Quarck. 

Arbeiterversicherung : 

Eine  Statistik  der  Unfälle  der 
landwirthschaftl.Berufsgenossen- 
schaften.VonDr.B.  Schoenl  an  k. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Wohnungszustände  auf  dem  Lande. 
Von  Prof.  I)r.  Heinr.  H e rk  n e r. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdiuck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 

Unser  Programm. 


Die  Theilnahme  an  den  sozialpolitischen  Kämpfen 
unserer  Zeit  zieht  immer  weitere  Kreise,  und  mit  der  Er- 
kenntnis ihrer  weltgeschichtlichen  Bedeutung  wächst  auch 
das  Bewusstsein,  dass  hier  das  Wohl  der  gesammten  Gesell- 
schaft mit  dem  jedes  Einzelnen  auf’s  innigste  sich  verknüpft. 
Naturgemäss  entspringt  daraus  ein  lebhaftes  Bedürfnis  nach 
Orientirung  auf  diesem  schwierigen  und  verwickelten  Gebiet. 
Die  wissenschaftliche  wie  die  populäre  Litteratur  scheint 
neuerdings  diesem  Verlangen  durch  die  rege  Behandlung 
sozialpolitischer  Probleme  Rechnung  zu  tragen.  Allein  die 
erstere  wendet  sich  ihrer  Natur  nach  an  den  kleinen  Kreis  von 
Fachmännern  und  setzt  eindringende  und  umfängliche  I 
Studien  voraus.  Die  populäre  Litteratur,  insbesondere  die 
1 ages-  und  die  ihr  verwandte  periodische  Presse  aber 
kennzeichnet  sich  dadurch,  dass  sie  der  Erörterung  sozial- 
politischer Fragen  von  vornherein  den  Massstab  einer  be- 
stimmten politischen  Parteianschauung  zu  Grunde  legt. 


Nun  liegt  gerade  uns.  nichts  ferner  als  die  blutleere 
Gesinnung,  nach  der  eine  parteilose  Politik  oder  eine  partei- 
lose Sozialpolitik  möglich  oder  gar  geboten  sein  soll.  Im 
Gegentheil  glauben  wir,  dass  die  Bildung  sozialer  und  poli- 
tischer Parteien  ein  noth wendiges  Ergebniss  der  geschicht- 
lichen Natur  unserer  Gesellschaft  ist,  und  dass  Jedermann, 
der  einer  lebendigen  Theilnahme  an  den  grossen  Interessen  der 
Zeit  nicht  unfähig  ist,  die  Pflicht  hat,  offen  und  rückhaltlos 
Partei  zu  ergreifen. 

Allein  je  ernster  wir  diese  Pflicht  autfassen,  desto 
wichtiger  erscheinen  uns  auch  die  Voraussetzungen  ihrer 
Erfüllung.  Diese  Voraussetzungen  bestehen  aber  für  Jeden, 
auf  welchem  Standpunkt  er  immer  stehe,  oder  zu  welcher 
Partei  seine  gesammte  Weltanschauung  und  prinzipielle 
Auffassung  in  Verbindung  mit  der  gewonnenen  speziellen 
Einsicht  ihn  auch  führe,  unweigerlich  darin,  sich  über  alle 
Thatsachen  des  sozialen  Lebens  und  seiner  Entwicklung 
ein  unbefangenes,  von  jeder  Voreingenommenheit  unge- 
trübtes Urtheil  zu  verschaffen.  Ohne  das  letztere  kann  man 
in  sozialpolitischen  kragen  wohl  zu  einer  fanatischen  Partei- 
meinung, niemals  aber  zu  einer  sicher  begründeten  allen 
Einwendungen  Stich  haltenden  Parteiüberzeugung  gelangen. 
Und  wir  sind  in  dem  Mass  davon  durchdrungen,  dass  eine 
vorurtheilslos  gewonnene  Kenntniss  der  sozialen  Thatsachen 
ein  nothwendiges  Element  jedes  parteipolitischen  Stand- 
punkts ist,  dass  wir  die  ehrlichen  Vertreter  aller  Par- 
teien, wissenschaftliche  Kenntniss  und  Begabung  voraus- 
gesetzt, für  befähigt  halten,  eine  solche  Orientirung  über 
die  thatsächlichen  sozialen  Zustände  darzubieten.  Schlechter- 
dings ein  Zeichen  für  die  verderblichen  Auswüchse  unseres 
politischen  Lebens  ist  es,  dass  diese  Ansicht  nicht  ohne 
Weiteres  und  nicht  allgemein  Anerkennung  findet.  Zum 
Theil  mag  es  mit  diesem  Umstand  Zusammenhängen,  dass 
ein  Organ,  mit  dem  Ziel,  über  die  Gesammtheit  der  sozial- 
politischen Vorgänge  und  Erscheinungen  Klarheit  zu  ver- 
schaffen, bisher  nirgendwo  geschaffen  worden  ist. 

Der  tiefere  Grund  dieses  Mangels  liegt  indess  darin, 
dass  die  sozialpolitische  Betrachtung  der  Volkswirt- 
schaft einen  mühsam  erkämpften  und  noch  keineswegs 
überall  zur  Geltung  gelangten  Fortschritt  der  politischen 
Oekonomie  darstellt.  Diese  Auffassungsweise  — in  der 
Hauptsache  hervorgegangen  aus  der  sozialistischen  Kritik 
— entwickelte  sich  naturgemäss  parallel  mit  den  Klassen- 
gegensätzen unserer  Gesellschaft,  die  als  eine  Wirkung  der 
modernen  Produktionsweise  immer  deutlicher  hervortreten 
und  alle  politischen  und  sozialen  Verhältnisse  auf  das  Ent- 
scheidendste bestimmen.  Nothgedrungen  ergab  sich  damit 
jeder  volkswirtschaftlichen  Erscheinung  und  gesetzgebe- 
rischen Massnahme  gegenüber  die  Frage,  welchen  Einfluss 


2 


SOZIALPOLITISCHES  CKNTRALBLATT. 


No.  1. 


sie  auf  die  Lage  der  verschiedenen  Klassen  ausüben 
werden:  diese  Klassen  selbst  traten  lebhaft  und  thatkräftig 
mit  selbständigen  Forderungen  an  die  Volkswirthschaft  und 
Gesetzgebung  auf  die  Bühne  des  öffentlichen  Lebens. 

Bei  all  diesen  in  mannigfacher  Wechselwirkung 
stehenden  Erscheinungen  handelt  es  sich  um  soziale  I rieb- 
kräfte  von  ausserordentlicher  Stärke,  die  in  rastlosem  W irken 
unsere  Gesellschaft  umgestalten.  Aber  Alles  ist  hier  im 
Fluss,  instinktives  Gefühl  überwiegt  nur  zu  oft  zielbe- 
wusstes Wollen.  Aus  diesen  Verhältnissen  entspringt  für 
das  Sozialpolitische  Centralblatt  eine  seiner  Hauptaufgaben. 
Vollständiger  und  gründlicher  als  dies  bisher  geschah,  soll 
es  bei  jeder  wirtschaftlichen  Frage  den  sozialpolitischen 
Gesichtspunkt  hervorheben.  Da  es  sich  hier  um  ein  die 
gesammte  Volkswirthschaft  beherrschendes  Prinzip  handelt, 
wird  das  Sozialpolitische  Centralblatt  nicht  nur  was  im 
engeren  Sinn  unter  Sozialpolitik  verstanden  wird,  sondern 
alle  aktuellen,  ökonomischen  Fragen  vom  sozialpolitischen 
Standpunkt  behandeln.  Bei  jedem  neu  auftauchenden 
Problem  soll  für  diesen  Zweck  das  gesammte  Material,  das 
in  der  Gesetzgebung  aller  Länder,  in  der  Statistik  und 
Litteratur  vorhanden  ist,  vorgeführt  und  an  der  Hand  des- 
selben dem  Leser  die  Möglichkeit  geboten  werden,  zu 
einem  selbständigen  Urtheil  zu  gelangen.  Die  Dis- 
kussion der  gesetzgebenden  Körperschaften  wie  der  Presse 
leidet  gleichmässig  daran,  dass  die  grosse,  in  vielen  Fällen 
auch  werthvolle  Arbeit,  die  in  jenem  Material  enthalten  ist, 
zu  einem  bedeutenden  Theil  ungenutzt  bleibt,  und  die 
öffentliche  Meinung  wie  die  Akte  der  Gesetzgebung  jene 
Förderung  entbehren,  die  ihnen  daraus  erwachsen  könnte. 
Nach  dieser  Richtung  glauben  wir  durch  das  Sozialpolitische 
Centralblatt  den  allgemeinen  Interessen  einen  wichtigen 
Dienst  leisten  zu  können. 

Die  andere  Aufgabe  der  Wochenschrift  soll  darin  be- 
stehen, dass  sie  ein  möglichst  vollständiges  Repertorium 
der  Ereignisse  und  Thatsachen  auf  dem  Gebiet  der  Sozial- 
politik werden  soll.  Die  sozialen  Vorgänge  gestalten  sich 
immer  reicher  und  mannigfaltiger  und  bilden  gleichzeitig 
einen  Gegenstand  des  höchsten  Interesses.  Die  Darstellung 
und  Schilderung  der  sozialen  Bewegung  in  ihrer  inter- 
nationalen Ausbreitung,  des  politischen  und  gewerkschaft- 
lichen Emancipationskampfes  der  arbeitenden  Klasse,  der 
Organisationen  der  Unternehmer,  die  wiederum  politische 
sowohl  wie  ökonomische  Formen  annehmen,  der  sozialen 
Gesetzgebung  in  ihren  mannigfachen,  mehr  und  mehr  sich 
specialisirenden  Zweigen  und  ihren  allmählich  alle  Gebiete 
des  Rechtslebens  beeinflussenden  Tendenzen  gestalten  sich 
zu  einer  Aufgabe  von  höchstem  Reiz  und  zugleich  von 
grösster  Fruchtbarkeit  für  die  sozialpolitische  Erkenntniss. 
Das  Sozialpolitische  Centralblatt  wird  sich  bemühen,  ein 
scharf  und  treu  gezeichnetes  Bild  jener  grossartigen  Er- 
scheinungen darzubieten.  Auf  diese  Weise  werden  die 
vielgestaltigen,  vom  höchsten  dramatischen  Leben  erfüllten 
Phänomene,  mit  denen  an  Wichtigkeit  und  weittragender 
Bedeutung  keine  anderen  zu  wetteifern  vermögen,  in  einem 
vollständigen  Ueberblick  erfasst  werden.  Alle  anderen 
hierher  gehörigen  Probleme,  wie  beispielsweise  die  Fragen 
der  Kriminalität,  der  Prostitution,  der  sozialen  Hygiene, 
der  gesellschaftlichen  Krankheiten,  des  Bevölkerung.s-, 
Unterrichts-,  Armen-,  Sparkassenwesens  u.  s.  w.  sollen 
ebenso  nach  ihrer  sozialpolitischen  Seite  erörtert  werden. 

Wie  das  unter  derselben  Leitung  stehende  und  in 
odeichem  Verlao-  erscheinende  Archiv  für  soziale  Gesetz- 
gebung  und  Statistik,  soll  auch  das  ein  viel  umfassenderes 
Gebiet  pflegende  und,  der  Natur  einer  Wochenschrift 
entsprechend,  an  weitere  Kreise  sich  wendende  Sozial- 
politische Centralblatt  nur  nach  jenem  Erfolge  ringen, 


welcher  durch  strenge  Objectivität  und  eine  nach  allen 
Seiten  bethätigte  Unabhängigkeit  zu  erzielen  ist. 

Die  dem  Sozialpolitischen  Centralblatt  vorgezeichnete 
Aufgabe  ist  eine  bedeutsame.  Die  hingebende  Arbeit  einer 
grossen  Zahl  ausgezeichneter  Fachschriftsteller,  der  Redak- 
tion und  des  Verlags  ist  ihm  gewiss.  Möge  auch  die  zur 
Erreichung  des  Zieles  unerlässliche  Theilnahme  aller  an 
einer  glücklichen  sozialen  Entwicklung  interessirten  Kreise 
des  Volkes  nicht  fehlen ! 


Die  sozialpolitische  Bedeutung:  der  neuen 
Handelsverträge. 

Die  neuen  Handelsverträge  sind  in  doppelter  Weise 
von  hervorragender  sozialpolitischer  Bedeutung.  Zunächst 
hat  jeder  prinzipielle  Umschwung  in  der  Handelspolitik  einen 
sozialpolitischen  Charakter,  weil  und  insoweit  er  das  Ver- 
hältniss  des  Staates  zu  den  verschiedenen  wirtschaftlichen 
Klassen  verändert  und  damit  überhaupt  die  Frage  autrollt, 
nach  welchen  Gesichtspunkten  dies  Verhältniss  zu  gestalten 
ist.  Die  Antwort  auf  diese  Frage  war  auf  einer  früheren 
Stufe  der  staatlichen  und  politischen  Entwickelung  sehr 
einfach,  die  Handelspolitik  war  damals  entweder  der  Aus- 
fluss des  Herrscherwillens  oder  die  Interessenpolitik  der 
herrschenden  Klasse.  Im  modernen  Staat  ist  die  Antwort 
schwieriger.  Mancher  macht  sich  freilich  auch  da  die 
Antwort  leicht:  die  Handelspolitik  — so  heisst  es  wohl  — ' 
muss  durch  das  Interesse  der  Gesammtheit  bestimmt  werden,' 
dem  sich  das  Einzelinteresse  unterzuordnen  hat.  Sehr  gut!  . 
Aber  was  heisst  „Interesse  der  Gesammtheit“  und  worin  j 
besteht  es?  Darauf  wird  die  Antwort  wohl  lauten  müssen: 
die  Gesammtinteressen  einer  Volkswirthschaft  liegen  nur 
auf  politischem  und  kulturellem  Gebiet,  in  der  Existenz  und 
Fortentwickelung  des  Staates  und  seiner  Aufgaben  aut  i 
wirthschaftlichem  Gebiet  aber  giebt  es  überhaupt  kein  j 
direktes  Gesammtinteresse,  sondern  nur  Einzel-  und  Klassen-  • 
interessen,  die  theilweise  sich  widersprechen,  und  ein  ; 
Gesammtinteresse  besteht  hier  nur  indirekt  in  der  gerechten  ■ 
Ausgleichung  und  Abwägung  dieser  verschiedenen  Klassen-  ' 
interessen,  ein  anderes  wirthschaftliches  Gesammtinteresse  ? 
giebt  es  nicht.  Die  richtige  Handelspolitik  vom  Standpunkt 
des  modernen  Staats  muss  daher,  soweit  wirthschaft- 
liche  Momente  in  Frage  kommen,  die  Resultante  der  ver- 
schiedenen hier  wirksamen  Kräfte  sein.  Damit  ist  schon 
gesagt,  dass  auf  ihre  Richtung  noch  immer  die  jeweils 
stärkste  Kraft,  die  herrschende  Klasse  also,  von  grösstem 
Einfluss  ist,  aber  ihre  Forderungen  müssen  beschränkt 
worden  durch  die  Rücksicht  aut  die  anderen  Klassen, 
an  Stelle  der  brutalen  Majorisirung  muss  weise  und  gerechte 
Berücksichtigung  der  Minorität  treten. 

Diese  Ausgleichung  der  widerstrebenden  Interessen  hat 
auch  der  Tarifreform  von  1879  als  Ziel  vorgeschwebt,  und 
diesmal  hat  Capri vi  ausdrücklich  gesagt:  Das  ist  es,  worauf 
es  ankommt:  auszugleichen  mit  Vaterlandsliebe ! Aber 

gleichwohl  stellt  die  neueste  Entwickelung  der  deutschen 
Handelspolitik  einen  prinzipiellen  Umschwung  gegenüber 
jener  dar. 

Der  Unterschied  gegenüber  der  Tarifreform  von  1879 
liegt  weniger  in  der  Höhe  der  einzelnen  Zollsätze,  welche 
z.  T.  noch  über  der  damaligen  steht,  als  vielmehr  in  der 
Aufgabe  der  autonomen  Tarilpolitik  und  der  Rückkehr  zu 
vertragsmässig  gebundenen  Tarifen,  zu  Tarifverträgen  an 
Stelle  der  bisherigen  blossen  Meistbegünstigungsverträgen,  ; 


No.  1. 


s<  >/, i ai  ,i’(  >!  i riscMKs  ( :kntralhi  . vri1. 


3 


cl.  h.  also  in  dem  Ausschluss  neuer  Erhöhungen  für  die  1 
nächsten  12  Jahre.  Da  aber  diese  Tarifverträge  zugleich 
eine  Erniedrigung  fremder  Schutzzölle  oder  eine  Abwehr 
geplanter  Erhöhungen  bezweckten,  so  bedeuten  sie  natur- 
gemäss  Opfer  für  gewisse  Zweige  der  einheimischen 
Produktion:  jeder  solche  Tarifvertrag  ist  ein  Handels-  und 
Tauschgeschäft,  bei  dem  Konzessionen  auf  der  anderen  Seite 
nur  eingetauscht  werden  durch  entsprechende  Konzessionen 
auf  der  einen  Seite.  Die  Ermässigung  fremder  Schutzzölle, 
welche  einen  'I  heil  der  einheimischen  volkswirtschaftlichen 
Produktion  schädigten,  konnte  nur  erreicht  werden  durch 
Minderung  eigener  Tarifsätze,  d.  h.  durch  momentane  Opfer 
der  an  diese  gewöhnten  Zweige  der  einheimischen  Produktion. 
Diejenigen  Zweige  aber,  für  welche  so  fremde  Erleichterungen 
durch  Opfer  anderer  einheimischer  Zweige  erreicht  werden, 
werden  damit  aber  implicite  als  die  wichtigeren  anerkannt, 
und  so  führt  diese  handelspolitische  Transaktion  notwendig 
zu  einer  Verschiebung  des  wirtschaftlichen  und  sozial- 
politischen Schwerpunkts. 

Der  weitere  Vergleich  der  neuen  Handelsverträge  mit 
der  Zollpolitik  der  80er  Jahre  aber  zeigt,  welche  Zweige 
der  einheimischen  Produktion  die  Regierung  in  diesem 
Augenblicke  für  geeignet  und  verpflichtet  hielt,  diese  not- 
wendigen Opfer  aut  sich  zu  nehmen,  nämlich  in  erster 
Linie  die  Landwirtschaft.  Diese  Abkehr  von  der  in  den 
Zollerhöhungen  der  80er  Jahre  enthaltenen  unverhältniss- 
mässigen  Berücksichtigung  der  landwirtschaftlichen  Inter, 
essen,  die  Entschiedenheit,  mit  welcher  die  Denkschrift 
und  noch  mehr  Caprivi  in  seiner  Rede  vom  10.  Dezember 
Deutschland  als  Handels-  und  Industriestaat  ersten  Ranges 
anerkennt  und  die  Wichtigkeit  des  Exporthandels  und 
blühender  Exportindustrien  auch  für  die  Landwirtschaft 
betont  — darin  liegt  der  prinzipielle,  sozialpolitisch  wichtige 
Umschwung  der  neuen  Handelspolitik.  Aber  es  entspricht 
nur  dem  vorhin  entwickelten  Grundsätze,  dass  dieser  Um- 
schwung im  Einzelnen  so  langsam  und  vorsichtig  angebahnt 
ist.  Seine  Konsequenzen  sind  gleichwohl  auch  in  anderer 
Beziehung  bereits  gezogen. 

Die  neue  deutsche  Handelspolitik  ist  nämlich  zweitens 
auch  im  engeren  Sinne  sozialpolitisch  wichtig  — nämlich 
durch  die  Folgen,  welche  sie  für  die  arbeitenden  Klassen 
haben  wird,  und  die  Rücksichtnahme  auf  diese  hat  als 
wichtiges  Moment  dabei  mitgewirkt  Dies  ist  in  geringerem 
Maasse  bekanntlich  auch  schon  bei  der  Einführung  der 
autonomen  Schutzzollpolitik  1879  der  Fall  gewesen:  viele 
Unternehmer  verlangten  damals  optima  flde  im  Interesse 
ihrer  Arbeiter  Schutzzölle1),  und  jedenfalls  ist  bei  der  An- 
nahme dieser  Schutzzollpolitik  der  sozialpolitische  Gedanke, 
damit  die  in  den  Zeiten  der  Ueberproduktion  von  der  In- 
dustrie angezogenen  Arbeitermassen  beschäftigt  zu  erhalten 
und  Lohnreduktionen  zu  vermeiden,  auch  in  Deutschland 
ähnlich  wie  in  den  englischen  Kolonien  nicht  ohne 
Einfluss  gewesen.  Auch  bei  den  späteren  Erhöhungen, 
namentlich  der  landwirthschaftlichen  Schutzzölle,  spielt  die 
Rücksichtnahme  auf  die  Arbeiter,  d.  h.  liier  die  Landarbeiter, 
eine  gewisse  Rolle  — aber  eben  diese  Erhöhungen  haben 
durch  die  allgemeine  Steigerung  des  Lebensunterhaltes  viel 
dazu  beigetragen,  jene  sozialpolitische  Wirkung  der  neuen 
Schutzzollpolitik  in  der  Hauptsache  illusorisch  zu  machen. 

Bei  der  neuen  nunmehr  eingeleiteten  Handelspolitik 
hat  nun  von  Anfang  an  die  Regierung  selbst  auf  dieses 
sozialpolitische  Moment  grosses  Gewicht  gelegt,  aber  ent- 
sprechend dem  vorher  geschilderten  Umschwung  unter 
Beschränkung  auf  die  Arbeiter  der  Industrie.  Und  mit  Recht, 
denn  die  Verhältnisse  liegen  in  dieser  Beziehung  keineswegs 


gleich  bei  den  industriellen  und  den  landwirthschaftlichen 
Arbeitern,  vielmehr  besteht  ein  grosser  Unterschied  zwischen 
beiden  zunächst  infolge  des  Zuströmens  von  Arbeitskräften 
aus  der  Landwirtschaft  zur  Industrie,  das  hier  Ueberfluss, 
dort  Mangel  verursacht,  und  daher  dort  die  Löhne  minder 
abhängig  macht  von  der  jeweiligen  Konjunktur,  während 
anderseits  auch  wohl  gesagt  werden  darf,  dass  Verteuerung 
der  noth wendigsten  Lebensmittel  den  Arbeiter  der  Industrie 
schwerer  trifft  als  den  Landarbeiter.  Die  Lage  des  letzteren 
ist  nicht  absolut  besser,  aber  gesicherter;  die  Hilfe,  die  ihm 
noth  thut,  liegt  auf  einem  anderen  als  dem  handelspoliti- 
schen Gebiete. 

Die  industriellen  Arbeiter  also  sind  es,  auf  welche 
die  neue  deutsche  Handelspolitik  ausdrücklich  gemünzt  ist. 
Dies  kommt  weniger  in  der  überhaupt  so  viel  farbloseren 
Denkschrift  zum  Ausdruck,  als  in  der  grossen  Rede  Caprivi’s 
vom  10.  Dezember.  Dort  wird  nur  gelegentlich  betont,  „wie 
sehr  die  arbeitenden  Klassen  an  dem  Export  interessirt 
sind“  und  von  den  „berechtigten  Ansprüchen  der  Kon- 
sumenten auf  thunlichste  Verbilligung  der  nothwendigsten 
Lebensmittel“  gesprochen.  In  Caprivi’s  Rede  aber  heisst 
es  gleich  am  Anfang  ausdrücklich:  „Der  Rückgang  des 
Absatzes  ins  Ausland  schädigt  nicht  blos  die  Unternehmer, 
sondern  auch  die  Arbeiter“,  und  an  einer  späteren  Stelle 
handelt  er  ex  professo  von  der  Bedeutung  der  Handels- 
verträge für  die  Arbeiter  und  bezeichnet  e$  als  einen  der 
Zwecke  dieser  Verträge,  unseren  Arbeiterstand  leistungs- 
fähig zu  erhalten  und  dem  Arbeiter  überhaupt  entgegen- 
zukommen. Die  neuen  Verträge  sollen  dies  in  doppelter 
Weise  thun:  einmal  durch  Verbilligung  der  Lebensmittel, 
soweit  diese  mit  Rücksicht  auf  die  höheren  „staatlichen 
Interessen“  möglich  ist  und  dann  durch  Schaffung  und  Er- 
haltung lohnender  Arbeit  durch  die  Erleichterung  und  Er- 
weiterung des  Exports  und  der  Exportindustrien.  Caprivi 
betont  aber  ausdrücklich  das  Letztere  als  das  viel  wesent- 
lichere hier  trennt  ihn  also  eine  tiefe  Kluft  von  dem 
freihändlerischen  Standpunkt,  seine  Argumentation  ist  in 
diesem  Punkt  vollständig  die  gleiche,  wie  bei  seinem  Vor- 
gänger.1) Das  Eigenthümliche  der  neuen  Handelsverträge 
und  ohne  Zweifel  ihr  grösster  Vorzug  liegt  nun  aber  darin, 
dass  sie,  um  es  populär  auszudrücken,  beide  Fliegen  mit 
einer  Klappe  schlagen:  entsprechend  den  volkswirtschaft- 
lichen Verhältnissen  der  Vertragsstaaten,  namentlich  von 
Oesterreich-Ungarn,  mussten  die  Konzessionen,  mit  welchen 
Vortheile  für  die  deutschen  Exportindustrien  erlangt  werden 
sollten,  hauptsächlich  in  der  Ermässigung  unserer  landwirth- 
schattlichen  Schutzzölle  bestehen,  diese  Ermässigung  aber 
wird  gleichzeitig  zu  einer  Verbilligung  der  Lebensmittel 
tiihren  Es  ist  müssig,  die  Frage  aufzuwerfen,  ob  dies 
auch  der  Fall  sein  würde,  wenn  die  Ermässigung  auf  die 
Vertragsstaaten  und  die  meistbegünstigten  Staaten  be- 
schränkt bliebe,  da  dies  von  Anfang  an  nicht  beabsichtigt 
war  und  die  wichtigste  Massregel,  die  Herabsetzung  der 
Getreidezölle,  ja  bereits  auf  die  Vereinigten  Staaten  aus- 
gedehnt worden  ist.  Nunmehr  ist  eine  wenigstens  theil- 
weise  Verbilligung  der  nothwendigsten  Lebensmittel  be- 
stimmt zu  erwarten.  Ob  dieselbe  freilich  auf  die  Dauer 
genügen  werde,  und  ob  daher  der  Getreidezoll  von  3 Mk. 
50  Pfg.  die  nächsten  12  Jahre  hindurch  wird  aufrecht  zu 
erhalten  sein,  das  erscheint  gegenüber  den  jetzigen  Ver- 
hältnissen aut  dem  Weltgetreidemarkt  als  sehr  zweifelhaft. 

Aber  mit  Verbilligung  des  Lebensunterhaltes  und  Be- 
lebung des  Exports  ist  es  nicht  gethan,  damit  ist  nur  die 
materielle  Möglichkeit  zur  Verbesserung  der  Lage  der  Ar- 
beiter geschaffen;  damit  diese  wirklich  erfolgt,  ist  noch  ein 


*)  Vergl.  Lotz,  Die  Ideen  der  deutschen 
von  1860-1891.  Leipzig  1892,  p.  134  ff. 


Handelspolitik 


l)  Vgl.  die  Rede  Bismarck’s  in  der  Reichstagssitzung  vom 
21.  Mai  1879.  * 


* 


4 


SOZI  ALPOI  .1TISCHES  CENTRAT  .BI  .ATT. 


No.  1. 


Weiteres  nothwendig.  Was  dies  ist,  zeigt  die  Geschichte 
der  Aufhebung  der  Kornzölle  in  England,  so  wenig  diese 
sonst  mit  der  gegenwärtigen  Neugestaltung  der  deutschen 
Handelspolitik  verglichen  werden  kann.  Die  englischen 
Arbeiter  — nicht  nur  die  Chartisten  unter  ihnen  — standen 
bekanntlich  anfänglich  der  Agitation  der  Anti-Cornlaw- 
League  sehr  misstrauisch  gegenüber,  da  nach  der  Lehre 
des  geistigen  Vaters  des  Manchesterthums,  Ricardo's,  Ver- 
billigung des  Lebensunterhalts  nur  zu  einer  Herabsetzung 
der  Löhne  führen  konnte,  und  die  Führer  jener  Agitation 
Cobden  und  John  Bright  gleichzeitig  ausgesprochene  Geg- 
ner der  angestrebten  Fabrikgesetze  waren.  Erst  die  Noth 
der  40er  Jahre  trieb  die  Arbeiter  in  das  Lager  der  Liga. 
Aber  die  grosse  Besserung,  welche  in  der  Lage  der  oberen 
Schichten  der  englischen  Arbeiterklasse  seit  der  Durch- 
führung des  Freihandels  eingetreten  ist,  verdanken  sie  nur 
zum  Theil  der  dadurch  herbeigeführten  Verbilligung  der 
Lebensmittel,  zum  andern  und  nicht  geringeren  Theil  aber 
ihrer  in  derselben  Zeit  zu  Stande  gekommenen  Organisation, 
welche  sie  in  den  Stand  setzte,  eine  Herabdrückung  der 
Löhne  entsprechend  der  Verbilligung  des  Lebensunterhaltes 
zu  verhindern  und  an  dem  Aufschwung  der  Industrie  stei- 
genden Antheil  zu  gewinnen. 

Ganz  ebenso  ergeben  sich  nun  auch  für  Deutschland 
heute  aus  seiner  neuen  Handelspolitik  und  ihrer  sozial- 
politischen Motivirung  eine  Reihe  wichtiger  Konsequenzen 
auf  dem  Gebiet  der  Arbeiterfrage,  auf  welche  Lotz  im 
Schlussartikel  seines  erwähnten  Werkes  über  die  „Ideen  , 
der  deutschen  Handelspolitik“  schon  vor  dem  Erscheinen 
der  Handelsverträge  hingewiesen  hat:  vollständige  Ausbil- 
dung und  Ausnützung  der  Ivoalitions-  und  Vereinsfreiheit 
und  Schaffung  einer  Arbeitsverfassung,  welche  sich  den 
Wechselfällen  der  Konjunktur  anzupassen  vermag.  Erst 
dann,  wenn  die  Regierung,  die  Unternehmer  und  die  Arbeiter 
diese  sozialpolitischen  Konsequenzen  der  neuen  Handels- 
politik ungesäumt  ziehen,  wird  die  Verbilligung  der  Lebens- 
mittel und  die  Hebung  des  Exports  wirklich  auch  dem  Ar- 
beiter nützen  und  andererseits  durch  seine.  gesteigerte  Kauf- 
kraft der  Industrie  gleichzeitig  die  ebenso  nothwendige  Ver- 
mehrung des  inländischen  Absatzes  erwachsen  — erst  dann 
wird  das  von  Caprivi  gesteckte  Ziel  erreicht  werden:  dass 
„die  neuen  Verträge,  soweit  es  möglich  ist,  beides:  das 
Wohl  der  Arbeitgeber  und  das  Wohl  der  Arbeiter  fördern“. 

Greifswald.  C.  |.  Fuchs. 


Die  sozialpolitische  Auffassung  des 
Verbrechens. 

Sie  haben,  hochgeehrter  Herr,  den  Gedanken  angeregt, 
ob  es  sich  nicht  empfehlen  würde,  in  ähnlicher  Weise,  wie 
das  von  berufenster  Seite  bezüglich  des  Entwurfes  eines 
bürgerlichen  Gesetzbuchs  für  das  Deutsche  Reich  geschehen 
ist,  auch  unser  heute  geltendes  Strafgesetzbuch  „vom  sozial- 
politischen Standpunkte  aus“  zu  beleuchten,  ln  der  That, 
der  Gedanke  ist  vortrefflich  und  verdient,  trotz  aller 
Schwierigkeiten  der  Ausführung,  näher  ins  Auge  gefasst 
zu  werden.  Was  ich  mit  meinen  Gesinnungsgenossen  an- 
strebe? das  ist  ja  gerade  die  Umgestaltung , der  Strafgesetz- 
gebung mit  allem  was  drum  und  dran  hängt  „vom  sozial- 
politischen Standpunkte  aus“.  Die  Ausführung  Ihres 
Gedankens  bedeutet  also  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
als  die  Entwicklung  unseres  Programms.  Das  an  dieser 
Stelle  thun  zu  dürfen,  ist  für  uns  um  so  werthvoller,  als 


wir  ohne  Zustimmung  und  Mitarbeit  der  ausser-juristischen 
Kreise  auf  raschen  Sieg  nicht  hoffen  dürfen. 

Aber  was  wir  meinen  und  was  wir  wollen,  das  lässt 
sich  in  wenigen  Sätzen  nicht  sagen.  Und  „Fortsetzungen 
sind  fatal“,  wie  Sie  richtig  bemerken.  .So  bleibt  kein 
andrer  Ausweg,  als  die  in  sich  abgeschlossene  Behandlung- 
einzelner  Fragen. 

Fangen  wir  mit  dem  Anfang  an!  Was  bedeutet  der 
„sozialpolitische  Standpunkt“  für  die  Betrachtung  der 
Strafgesetzgebung? 

In  dem  Worte  Sozialpolitik  liegt  ein  Doppeltes:  ein 
theoretisches  und  ein  praktisches  Moment.  Der  Sozial- 
politiker untersucht  die  gesellschaftlichen  Verhältnisse  und 
die  Gesetze  ihrer  Entwicklung;  aber  er  begnügt  sich  nicht 
bei  der  Erkenntniss,  er  legt  die  Hände  nicht  in  den  Schooss, 
sondern  er  will  thätig  eingreifen,  beeinflussen,  gestalten. 

Der  Kriminalist,  der  auf  dem  „sozialpolitischen  Stand- 
punkte“ steht,  verlangt,  wenn  wir  uns  mit  der  allgemeinsten 
Fassung  begnügen  wollen,  die  Bekämpfung  des  Ver- 
brechens als  einer  Erscheinung  des  gesellschaft- 
lichen Lebens.  Die  „Bekämpfung“,  ihr  Ziel  und  ihre 
Mittel,  wollen  wir  für  heute  bei  Seite  lassen.  Meine  Auf- 
gabe sei  darauf  beschränkt,  unsre  Auffassung  des  Ver- 
brechens in  helleres  Licht  zu  setzen. 

Im  Gegensätze  zu  Montesquieu,  zu  Quetelet  und  gar 
manchem  neueren  Schriftsteller  glauben  wir  nicht  mehr  an 
eine  durch  Klima  und  Bodenbeschaffenheit  bestimmte 
fauna  oder  flora  criminalis;  wir  glauben  nicht,  dass  durch 
die  Zahl  der  Breitengrade  die  Zahl  und  die  Art  der  Ver- 
brechen unmittelbar  bestimmt  werde.  Ob  im  Lande  die 
Weinrebe  gedeiht  oder  Kartoff'elschnaps  gebrannt  wird; 
ob  schiffbare  Ströme  und  sichere  Häfen  den  Austausch  der  ; 
Menschen,  Güter,  Gedanken  und  Laster  befördern,  oder 
unwirthhche  Gebirgszüge,  ausgedehnte  Wüsten  oder 
Wälder  ein  ansteckungsfreies  Gebiet  schaffen,  wird  freilich 
auch  für  die  Kriminalität  nicht  ohne  Bedeutung  bleiben. 
Aber  dass  der  Einfluss  des  Klimas  und  der  Bodenbeschaffen- 
heit ein  mittelbarer  ist,  vermittelt  durch  die  gesellschatt-  : 
liehen  Verhältnisse,  unterliegt  uns  keinem  Zweifel.  V ill  ; 
man  uns  lehren,  dass  die  Temperatur  an  sich  den  „Hang  j 
zum  Verbrechen“  bestimme,  so  lehnen  wir  diese  Belehrung  : 
dankend  ab.  Es  ist  richtig,  dass  in  kalten  Wintern  mehr 
Holz  gestohlen  wird,  als  im  Sommer;  aber  es  bedarf  keines  1 
Nachweises,  dass  die  Kälte  nur  mittelbar  wirkt,  und  nicht 
die  tiefste  Temperatur  des  Jahres,  sondern  die  gleich- 
mässige  Kälte  mehrerer  Wochen  und  Monate  den  Ausschlag 
giebt.  Dass  im  wunderschönen  Monat  Mai  alle  Knospen 
springen,  das  haben  wir  gewusst,  lang’  ehe  es  eine 
Kriminalstatistik  gab;  und  dass  der  Höhepunkt  der  Sittlich- 
keitsdelikte im  Sommer  und  nicht  im  Winter  zu  suchen 
sei,  konnte  uns  nicht  überraschen.  Aber  darum  glauben 
wir  doch  nicht,  dass,  wie  gar  manche  Kriminalisten  der 
Gegenwart  annehmen,  die  Hitze,  die  sonst  erschlaffend 
wirkt,  den  sexuellen  Trieb  zum  Siedepunkt  erhitze;  sonst 
wäre  es  ja  auch  nicht  zu  erklären,  dass  gerade  im  Juni 
und  nicht  im  Juli  oder  August  hüben  und  drüben  vom 
Rhein  die  meisten  Unzuchtsdelikte  begangen  werden. 

Räumen  wir  so  mit  den  so  beliebten  „kosmischen“ 
Faktoren  des  Verbrechens  auf,  so  vermag  auch  die  rein 
„anthropologische“  Auffassung  der  Kriminalität  uns  nicht 
zu  imponiren.  Mag  immerhin  — hier  sei  es  dahingestellt  — 
die  Vererbung  uns  ein  gutes  I heil  unserer  Verbrecher 
schaffen:  dass  Vater  und  Mutter  verkommen  waren,  ehe 
sie  das  Kind  ins  Leben  setzten,  lag  an  den  gesellschaft- 
lichen  Verhältnissen;  und  wer  weiss,  ob  rechtzeitiges  Ein-  i 
schreiten,  ob  Nahrung,  Pflege,  Erziehung  den  verkümmerten 
Sprössling  nicht  zu  leidlichem  Leben  entwickelt  hätten. 


No.  I. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


5 


Aber  auch  im  eigenen  Lager  müssen  wir  den  Geg- 
nern wehren.  Wer  von  uns  hat  nicht  den  Satz  gehört, 
dass,  wenn  die  Getreidepreise  um  einen  Groschen  anziehen, 
die  Zahl  der  Diebstähle  um  Einen  auf  100  000  Einwohner 
steigt?  Audi  an  dieses  Dogma  glauben  wir  nicht  mehr. 
Lasst  gleichzeitig  mit  dem  Steigen  der  Getreidepreise  die 
Löhne  um  das  Doppelte  steigen,  und  die  Zahl  der  Dieb- 
stähle wird  sinken.  Und  wer  etwa  meinen  wollte,  dass  der 
Reichtlmm  die  sicherste  Schutzwehr  gegen  verbrecherische 
Neigungen  wäre,  der  würde  durch  unsere  „gute  Gesell- 
schaft“ gar  leicht  und  gründlich  eines  Besseren  belehrt 
werden  können. 

So  einfach  also  liegt  die  Sache  nicht.  Und  darauf 
hinzuweisen,  ist  der  Zweck  meiner  heutigen  Zeilen.  Die 
Kriminalstatistik  hat  uns  bisher  ebensoviel  geschadet  als 
genützt,  ebensoviel  verschleiert  als  enthüllt.  Auf  die 
Frage:  „Woher  stammt  das  Verbrechen?“  giebt  sie  uns 
keine  Antwort.  Sie  kann  es  auch  nicht.  Soll  das  Experi- 
ment gelingen,  so  muss  ich  wissen,  was  dabei  heraus- 
kommen soll.  „Wer  sucht,  der  findet“:  das  heisst,  dass 
man  wissen  muss,  was  man  finden  will,  ehe  man  darauf 
ausgeht,  es  zu  suchen.  Die  Statistik  antwortet  nur,  wenn 
man  sie  fragt.  Sonst  stellt  sie  höchstens  Probleme,  die 
Andre  beantworten  müssen.  Wir  Kriminalisten  haben  noch 
gar  nicht  einmal  ordentlich  angefangen,  die  Statistik  zu 
befragen.  Wir  wissen  heute  weniger  von  dem  Probleme 
der  Kriminalität,  als  Quetelet  und  Alexander  von  Oettingen. 
Wir  sind  kritischer  geworden,  als  sie  es  waren.  Das  ist 
die  erste  Voraussetzung,  um  mehr  zu  wissen.  Aber  Mehr- 
Wissen  ist  es  noch  lange  nicht. 

Darum  meinte  ich  oben,  dass  es  der  gemeinsamen 
Arbeit  der  Kriminalisten  und  der  Nicht-Kriminalisten  be- 
dürfe, um  vom  Flecke  zu  kommen.  Mit  der  Betonung  des 
„sozialpolitischen  Standpunktes“  ist  wenig  mehr  gewonnen, 
als  die  Ablehnung  weit  verbreiteter  Irrthümer.  Welches 
sind  die  gesellschaftlichen  Verhältnisse,  aus  welchen  das 
Verbrechen  sich  entwickelt,  wie  der  Parasit  im  lebenden 
Körper?  Das  ist  die  Frage.  Ich  werde  später  versuchen, 
die  Antwort  zu  geben,  die  sich  mir  aufgedrängt  hat.  Dass 
ihr  die  streng-wissenschaftliche  Grundlage  fehlt,  wird  mich 
nicht  abhalten,  meine  Ansicht  zu  sagen.  Wer  dem 
„Dilettanten“  aut  diesem  Gebiete  das  Mitreden  versagen 
will,  hat  keine  Ahnung  vom  Stande  der  Wissenschaft.  In 
manchen  Dingen  giebt  es  keinen  schlagenderen  Beweis 
eigener  Unwissenheit,  als  ein  wissenschaftliches  Glaubens- 
bekenntniss. 

Halle  a.  S.  Franz  v.  Liszt. 


Soziale  Wirtschaftspolitik . 

Das  Zündholzmonopol  in  der  Schweiz. 

In  diesen  Tagen  hat  die  Bundesversammlung  der 
jSchweiz  einen  Antrag  des  Bundesrathes  zu  behandeln, 
[welcher  die  Aufnahme  des  folgenden  Satzes  in  die  Bundes- 
verfassung vorschlägt: 

„Fabrikation,  Einfuhr  und  Verkauf  der  Zünd- 
hölzchen im  Umfange  der  Eidgenossenschaft  stehen 
„ausschliesslich  dem  Bunde  zu.“ 

Der  Antrag  kommt  nicht  unerwartet.  Schon  im  Jahre 
1876,  zur  Zeit  der  Vorberathung  des  schweizerischen  Fabrik- 
gesetzes, gelangte  aus  dem  Kanton  Bern,  dem  Hauptsitze 
Jer  Zündholzindustrie,  eine  Eingabe  der  „medizinisch- 
chirurgischen Gesellschaft“  an  die  Bundesbehörden,  welche 
Schutz  der  Arbeiter  vor  den  Verheerungen  der  Phosphor- 


nekrose und  zu  diesem  Zwecke  das  Verbot  der  Verwen- 
dung gelben  Phosphors  verlangte.  Die  Anregung  hatte 
nur  insoweit  Erfolg,  als  man  zuerst  eine  spezielle  Unter- 
suchung der  Verhältnisse  durch  die  zu  schaffenden  Fabrik- 
inspektoren zu  verlangen  und  die  Wirksamkeit  derjenigen 
Mittel  zu  erproben  beschloss,  welche  das  neue  Bundesgesetz 
über  die  Fabriken  zur  Beseitigung  der  Missstände  an  die 
Hand  gebe. 

Die  Ergebnisse  der  im  Spätjahr  1878  vorgenommenen 
Untersuchung  lauteten  so  trostlos,  dass  die  Bundesversamm- 
lung beschloss,  „es  sei  die  Fabrikation,  die  Einfuhr  und  der 
Verkauf  von  Zündhölzchen,  bei  denen  gelber  Phosphor  zur 
Verwendung  kommt,  vom  1.  Januar  1881  an  verboten“.  Es 
wurden  im  Verein  mit  einer  Kommission  der  kompetentesten 
Fachmänner  die  nöthigen  Verordnungen  erlassen.  Ver- 
schiedene speziell  zum  Zweck  der  Fabrikation  der  sogen, 
schwedischen  Zündhölzchen  ganz  vortrefflich  eingerichtete 
Etablissements  entstanden;  die  bisher  bestehenden  richteten 
sich  unter  Beirath  und  strenger  Aufsicht  der  Inspektoren 
ebenfalls  bestmöglich  dafür  ein.  Doch  waren  ihre  Hülfs- 
mittel  zur  Fabrikation  zum  Theil  sehr  unvollkommen,  ihr 
Verständniss  für  die  neue  Fabrikation  gering;  der  Absatz 
des  neuen  Produktes  ermuthigte  sie  zu  keinen  Anstrengungen. 
Ein  bedeutender  Theil  der  Konsumenten  war  schon  deshalb 
gegen  die  Sicherheitshölzchen  eingenommen,  weil  sie  sich 
nicht  überall  entzünden  Hessen.  All’  dies  wirkte  zusammen, 
um  ein  Fabrikat  von  schlechter  Qualität  und  zugleich 
schlechter  Verpackung,  überhaupt  von  üblem  äussern  An- 
sehen zu  Stande  zu  bringen.  Am  verderblichsten  aber  war 
der  Eifer  allzu  geschäftiger  Chemiker,  welche  als  Erfinder 
sogenannter  „überall  entzündbarer  giftfreier  Zündhölzchen“ 
auftraten.  Diese  höchst  explosibeln,  funkensprühenden 
Zündhölzchen  fanden  bald  eine  grosse  Verbreitung,  die 
durch  keine  schon  vorhandene  gesetzliche  Bestimmung- 
gehemmt  werden  konnte  und  wurden  unter  dem  Spitz- 
namen der  Allumettes  föderales,  den  ihnen  die  Gegner  des 
Gelbphosphorverbots  gaben,  überall  berüchtigt.  Dazu  kam 
allmälig  der  Schmuggel  und  die  geheime  Fabrikation,  in 
deren  Unterdrückung  mehrere  Behörden  sich  sehr  lax  er- 
wiesen. Unter  diesen  Umständen  verlangte  der  Bundesrath 
die  Vollmacht,  „vermittelst  Reglements  alle  diejenigen 
Massregeln  zu  treffen,  welche  er  für  die  Fabrikation  der 
Zündhölzchen,  sowohl  in  Fabriken,  als  in  Privathäusern, 
für  die  Verpackung,  den  Transport  und  den  Verkauf  der- 
selben für  nöthig  erachtet  und  für  LTebertretung  der  Vor- 
schriften dieser  Reglements  Strafbestimmungen,  welche  bis 
zur  Gefängnissstrafe  gehen  können,  aufzustellen.“  Aber 
statt  dessen  hob  die  Bundesversammlung  im  Juni  1882  das 
Verbot  der  Verwendung  des  gelben  Phosphors  wieder  auf, 
nachdem  es  nur  1 V2  Jahre  bestanden  hatte. 

Die  unheilvollen  Folgen  dieses  Beschlusses  Hessen 
nicht  lange  auf  sich  warten.  Obwohl  Bundesrath  und 
Fabrikinspektoren  alles  Mögliche  thaten,  was  der  Phosphor- 
nekrose entgegenwirken  konnte,  tauchten  bald  wieder  zahl- 
reiche schwere  Fälle  derselben  auf,  so  sehr,  dass  dieselbe 
Bundesversammlung  schon  1886  wieder  einen  Bericht  ver- 
langte, „wie  der  Phosphornekrose  wirksam  vorgebeugt  wer- 
den könne“.  Wiederum  waren  es  die  Inspektoren,  die  Be- 
richt zu  erstatten  hatten.  Sie  thaten  es,  indem  sie  die 
traurige  Lage  der  Zündholzindustrie  schilderten,  bei  der 
so  viele  Fabrikanten  ökonomisch  zu  Grunde  gehen,  die 
Arbeiter  zum  Theil  Löhne  verdienen,  die  zu  wenig  zum 
Leben,  zu  viel  zum  Sterben  seien  und  dabei  ihre  Gesund- 
heit, sogar  ihr  Leben,  recht  oft  einbüssen.  Sie  zeigten,  wie 
auch  die  Ausdehnung  der  Haftpflicht  auf  diese  Industrie 
den  Arbeitern  sehr  wenig  helfe,  da  so  manche  Arbeitgeber 
selbst  wenig  oder  nichts  besitzen.  Sie  wiesen  nach,  wie  es 
selbst  in  vortrefflich  eingerichteten  und  betriebenen  Fabriken 
von  Gelbphosphorhölzchen  erfahrungsgemäss  nicht  absolut 
ausgeschlossen  sei,  dass  die  Arbeiter  an  Phosphornekrose 
erkranken.  Nur  eine  Verminderung  derselben  sei  bei  fort- 
dauernder Verwendung  des  gelben  Phosphors  zu  erreichen, 
aber  auch  diese  habe  zur. Voraussetzung; : die  Erhöhung  der 
Arbeitslöhne;  die  strenge  Auswahl  und  ärztliche  Ueber- 
wachung  des  Personals,  unentgeltliche  Verpflegung  der 


S<  )ZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  1. 


Erkrankten;  den  Anforderungen  der  Hygiene  entsprechend 
eingerichtete,  unterhaltene  und  benutzte  Lokale  und  Appa- 
rate; eine  rationell  von  gebildeten  Fachleuten  geleiteter 
Betrieb.  Sämmtlichen  Anforderungen,  betonten  sie,  könne 
nur  in  grossen  Betrieben  entsprochen  werden;  die  erste  Be- 
dingung, wenn  ein  Fortschritt  erzielt  werden  solle,  sei  die 
Beseitigung  der  kleinen,  eines  rationellen  Betriebes  gar  nicht 
fähigen  Etablissements,  welche  ja  die  grosse  Mehrzahl  aus- 
rnachen  (zwei  Drittel  haben  nicht  über  10  Arbeiter).  Dazu 
könne  man  aber  kaum  auf  andere  Weise  gelangen,  als  in- 
dem der  Bund  die  Fabrikation  der  Zündhölzer  jeder  Art 
monopolisire. 

In  der  Voraussicht,  dass  die  Gegner  der  Monopole  an 
und  für  sich  im  Verein  mit  den  Fi  eunden  der  Gelbphos- 
phorhölzchen jeden  weiter  gehenden  Antrag  zu  Falle  brin- 
gen würden,  hatten  die  Inspektoren  das  Monopol  nur  unter 
der  Voraussetzung  beantragt,  dass  die  bisherigen  Zünd- 
hölzchen mit  gelbem  Phosphor  hergestellt  würden.  Sie 
behandelten  aber  diesen  Antrag  nur  als  einen  eventuellen, 
indem  sie  darauf  hinwiesen,  dass  das  wichtigste  Ziel,  die 
vollständige  Ausrottung  der  Phosphorkrankheiten,  durchaus 
nicht  vollständig  erreicht  wurde  und  beantragten  in  erster 
Linie  erneutes  Verbot  der  Fabrikation,  Einfuhr  und  des 
Verkaufs  von  Zündhölzchen  mit  gelbem  Phosphor  unter 
Ansetzung  strenger  Bussen  und  unter  Beschränkung  der 
giftfreien  Hölzchen  auf  diejenigen  Arten,  welche  der  Bun- 
desrath ausdrücklich  bewilligt  habe. 

Man  zauderte  lange,  an  die  so  arg  verfahrene  Frage 
heranzutreten,  aber  die  Verhältnisse  gestalteten  sich  immer 
günstiger  für  diejenigen,  welche  eine  radikale  Beseitigung 
des  gelben  Phosphors  anstrebten.  In  Brochuren  und  Zei- 
tungsblättern wurden  aufs  Neue  die  Opfer  der  Phosphor- 
nekrose aufgezählt,  die  Beschlüsse  der  Bundesversammlung 
für  all  dies  Unheil  verantwortlich  gemacht. 

Das  Publikum  hatte  sich  immer  allgemeiner  an  die 
schwedischen  Zündhölzchen  gewöhnt,  nicht  zum  mindesten 
in  Folge  der  beständigen  Warnungen  der  Hygieniker  vor 
dem  giftigen  gelben  Phosphor.  Der  vermehrte  Konsum 
hatte  die  Entstehung  oder  Wiederbelebung  von  Geschäften 
zur  Herstellung  giftfreier  Hölzchen  gefördert,  welche  den 
besten  ausländischen  nicht  nachstehen.  Die  Fabrikanten 
der  Gelbphosphorhölzchen  sahen  ihre  Industrie  trotz  allen 
vorübergehenden  Erfolgen  immer  Avieder  in  den  alten 
fammer  zurücksinken  und  erblickten  schliesslich  selbst  im 
Monopol  einen  Rettungsanker.  So  kam  es,  dass  die  Ange- 
legenheit nicht  länger  ruhte.  Die  Fabrikinspektoren  bekamen 
einen  abermaligen  Auftrag  zur  Abgabe  eines  „Gutachtens 
über  das  Zündholzmonopol“. 

Was  früher  unerreichbar  erschienen  war,  wurde  nun- 
mehr entschieden  angestrebt,  das  Monopol  mit  Verbannung 
des  gelben  Phosphors.  Genaue  Nachforschungen  stellten 
auch  diesmal  heraus,  welche  ungeheuere  Wohlthat  damit 
den  Arbeitern  in  der  Zündholzindustrie  erwiesen  würde. 
Ganz  abgesehen  vom  gesundheitlichen  Schutz  ist  nur  so 
ihre  ökonomische  Lage  zu  heben,  welche  sonst  durch  eine 
erbitterte  Schmutzkonkurrenz  immer  aufs  neue  auf  eine 
fast  unerträglich  niedrige  Stufe  heruntergedrückt  wurde. 
Allerdings  mag  die  Zahl  der  Beschäftigten  etwas  sinken, 
wenn  der  Grossbetrieb  in  einigen  wenigen,  vielleicht  3 bis 
4 Etablissements,  an  die  Stelle  der  bisherigen  zahlreichen 
Zwergbetriebe  tritt;  aber  für  die  Gesammtheit  der  Arbeiter- 
schaft wird  der  Erwerb  steigen.  Der  Bundesrath  adoptirte 
den  im  Schooss  der  Bundesversammlung  gemachten  Antrag 
auf  Monopolisirung.  Er  motivirte  seinen  Vorschlag,  das 
Monopol  mit  Staatsbetrieb,  namentlich  damit,  dass 
beim  Ueberlassen  an  die  Privatindustrie  der  beabsichtigte 
humanitäre  Zweck  entschieden  nicht  so  sicher  erreicht 
würde.  Die  Existenzbedingungen  der  Arbeiter  würden  auf 
einer  niederen  Stufe  bleiben,  die  Versuchung  zur  Fabri- 
kation verbotener  Waare  würde  fortdauern;  sie  würde 
vielleicht  zu  einem  theilweisen  Zurückziehen  der  Fabri- 
kation aus  den  Fabrikgebäuden  in  die  Wohnhäuser  führen, 
die  Kontrole  könnte  keine  so  konzentrirte  und  wirksame 
sein.  Ferner  wäre  Schmuggel  leichter  möglich;  die  gute 


Qualität  der  Waare  wäre  nicht  gesichert,  obwohl  es  auf 
sie  bei  der  Verwendung  explosionsfähiger  Substanzen  so  sehr 
ankommt. 

Nach  dem,  was  bisher  in  der  Publizistik  und  gesprächs- 
weise verlautete,  ist  anzunehmen,  dass  der  bundesräthliche 
Antrag  auf  keinen  gar  zu  grossen  Widerstand  stossen  werde. 
Er  würde  es  wohl,  wenn  es  sich  um  einen  ersten  Anfang 
der  Verstaatlichung  von  Industrien  aus  rein  sozialpolitischen 
Gründen  handeln  würde,  wie  er  von  einzelnen  Seiten  an- 
gestrebt wird.  Er  würde  auch  lebhafte  Angriffe  erfahren, 
wenn  der  Monopolbetrieb  finanziellen  Zwecken  zu  dienen 
hätte,  analog  dem  Salzmonopol  der  Kantone.  Die  Neigung 
ist  eben  nicht  überall  gross,  dem  Bunde  allzureiche  Ein- 
nahmequellen zu  verschaffen,  während  die  Kantone  sich 
kümmerlich  durchschlagen.  Ja  nicht  einmal  das  Motiv 
würde  mit  Erfolg  geltend  gemacht  werden,  dass  die  Zünd- 
holz-Industrie zu  denjenigen  Betrieben  gehöre,  die  sich, 
wenn  sie  auch  wirthschaftlicher  Natur  sind,  sich  mehr  für 
den  staatlichen  Betrieb  eignen,  als  für  den  privaten,  wie 
dies  aus  den  verschiedenartigsten  Gründen,  z.  B.  bei  dem 
Münzregal,  der  Post,  den  Telegraphen  der  Fall  ist. 

Von  alledem  spricht  aber  der  Bundesrath  in  seinem 
Antrag  durchaus  nicht;  die  Verfolgung  eines  fiskalischen 
Zweckes  weist  er  mit  aller  Entschiedenheit  von  der  Hand. 
Er  setzt  allerdings  voraus,  dass  das  Erträgniss  des  Staats- 
betriebes die  Kosten  der  Einführung  des  Monopols  allmälig 
decken  solle.  Er  findet  nichts  Bedenkliches  in  der  Bemer- 
kung der  Fabrikinspektoren,  dass  die  Kosten  der  Expro- 
priation fahre  lang  die  Betriebsgewinnste  verschlingen 
werden,  ja  er  stellt  in  Aussicht,  dass  der  Preis  der  Zünd- 
hölzchen, eines  Artikels  des  allgemeinsten  und  nothwen- 
digsten  Verbrauem  allmälig  so  billig  als  irgend  möglich 
gestellt  werde;  dass  auch  der  Verkauf  möglichst  zu  er- 
leichtern sei  und  dass  nicht  nur  besonders  konzessionirte 
Personen  hierzu  berechtigt  sein  sollen.  Sein  einziger  End- 
zAveck  ist  ein  humanitärer,  die  Arbeiter  der  Zündholz- 
Industrie  von  der  Phosphorkrankheit  zu  befreien. 

Es  ist  nicht  das  erste  Mal,  dass  die  Schweiz  in  der 
Absicht,  die  sanitären  Zustände  ihrer  Bevölkerung  zu  ver- 
bessern, zur  Annahme  eines  Monopols  sich  entschliesst. 
Allerdings  handelte  es  sich  früher  bei  Annahme  des  Alkohol- 
monopols nicht  ausschliesslich  um  derartige  Endzwecke. 
Das  finanzielle  Erträgniss,  welches  den  Kantonen  ganz  oder 
theilweise  die  dahin  fallenden  Konsumsteuern  auf  Getränke 
ersetzen  sollte,  spielte  eine  bedeutende,  bei  Tausenden  die 
einzig  maassgebende  Rolle.  Aber  auch  die  Zahl  derjenigen 
war  eine  sehr  grosse,  die  lediglich  um  des  idealen  Zweckes, 
um  der  Fürsorge  für  Kraft  und  Gesundheit  der  Bevölkerung 
willen,  zur  Annahme  stimmten.  Es  erscheint  deshalb  höchst 
unwahrscheinlich,  dass  das  heute  vorgeschlagene  Zündholz- 
monopol verworfen  werden  und  das  Schweizervolk  die  mit 
solcher  Macht  sich  aufdrängenden  Gründe  sozialhygienischer 
Natur  unbeachtet  lassen  sollte. 

Mollis.  F.  Schüler. 


Grossbetrieb  im  Koblengewerbe.  Anziehend  sind  die  von 
Reismann  nach  der  „Zeitschrift  für  Berg-,  Hütten-  und  Salinen- 
Avesen“  zusammengestellten  Zahlen  über  die  EntAvickelung  der 
Kohlengruben  des  Oberbergamts  Dortmund  während  des  Zeit- 
raums 1852  bis  1890.  Im  Jahre  1857  förderten  299  Werke  mit 
einer  Belegschaft  von  30  600  Köpfen  4 004  000  Tonnen  zu  1000  kg; 
auf  ein  Werk  trafen  103  Arbeiter,  auf  den  Kopf  eine  Förder- 
menge von  131  t.  Im  Jahre  1890  dagegen  förderten  175  Zechen 
mit  127  800  Arbeitern  35  469  200  t,  auf  das  Werk  entfielen  730  Ar- 
beiter, auf  den  Kopf  277  t Der  Fortschritt  zum  Grossbetrieb, 
der  mit  allen  Mitteln  einer  vervollkommneten  Technik  Avirth- 
schaftet,  der  über  bedeutende  Kapitalien  verfügt  und  bis  zur 
kartellirten  Produktion  sich  entwickelt  hat,  tritt  klipp  und  klar 
hervor.  Die  kapitalschAvachen  Unternehmungen  sind  zu  Grunde 
gegangen  oder  von  den  grösseren  Anlagen  aufgesogen  worden. 


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No.  1. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


7 


Arbeiterzustiimle. 


Die  Lage  der  deutschen  Mühlenarbeiter. 

Eine  der  erfreulichsten  Erscheinungen  der  modernen 
Arbeiterbewegung  ist  der  Eifer,  mit  welchem  von  den  Ar- 
beitern die  soziale  Statistik  gepflegt  wird.  Das  Interesse 
und  die  Beteiligung  an  derartigen  Untersuchungen  sind 
allgemein  und  äussern  sich  bei  männlichen  und  weiblichen 
Arbeitern  der  Grossindustrie  nicht  minder  wie  in  den  klein- 
gewerblichen Berufsgruppen.  Wir  glauben,  dass  für  die 
Psychologie  der  arbeitenden  Klasse  nicht  leicht  etwas  be- 
zeichnender ist  als  diese  Thatsache.  In  einem  erschreckenden 
Maasse  ist  an  die  Stelle  kraftvoll  selbstbewusster  Existenz, 
frei  sich  äussernder  Gefühle  und  Ueberzeugungen  ein 
schwächlich  schattenhaftes,  sich  vor  sich  selbst  verbergendes 
konventionelles  Dasein  zum  typischen  Charakterzug  weiter 
Kreise  unserer  Gesellschaft  geworden.  Dagegen  zeigt  sich 
die  arbeitende  Klasse  von  dieser  gesellschaftlichen  Erschei- 
nung fast  gar  nicht  beeinflusst.  Mitten  im  Kampfe  um  die 
Verbesserung  der  eigenen  Lebensbedingungen  und  zugleich 
um  die  prinzipielle  Umgestaltung  der  sozialen  Ordnung 
werden  diese  unermüdlich  aufgemachten  Statistiken  für  die 
arbeitende  Klasse  zu  einem  Mittel,  sich  zu  zählen,  das 
Bewusstsein  der  Solidarität  zu  stärken  und  zugleich  durch 
die  Darlegung  der  tatsächlichen  Verhältnisse  zu  einer  in 
vielen  Fällen  wuchtigen  Anklage  gegen  die  herrschende 
Klasse  und  zu  dem  wirksamsten  Argument  für  die  Forderung 
reformatorischer  Maassnahmen. 

Nach  dieser  Seite  erwerben  sich  die  deutschen  Ge- 
werkschaften sehr  bedeutende  Verdienste  und  zeigen  sich 
bemüht,  die  dürftigen  amtlichen  Untersuchungen  der 
Arbeiterzustände,  soweit  es  in  ihren  Kräften  liegt,  zu  er- 
gänzen. 

Als  das  neueste  Ergebniss  dieser  Anstrengungen  ist 
kürzlich  eine  Statistik  der  Arbeitsverhältnisse  der  Müller 
Deutschlands  mit  Hilfe  des  Verbandes  deutscher  Müller  und 
verwandter  Berufsgenossen  von  H.  Käppler  ausgeführt  und 
veröffentlicht  worden'). 

Die  Untersuchung  Käppler’s  ist  ein  Seitenstück  zu  der 
verdienstvollen  Enquete  Bebel's  über  die  Lage  der  Arbeiter 
in  den  Bäckereien  (Stuttgart,  Dietz,  1890)  und,  wie  es 
scheint,  durch  sie  direkt  angeregt  worden. 

Die  Darstellung  beruht  auf  einer  vermittelst  Frage- 
bogen veranstalteten  Erhebung.  Anfangs  1890  hatte  der 
Verfasser  1000  Fragebogen  an  seine  Fachgenossen  versandt 
und  davon  668  ausgefüllt  zurückerhalten.  Nach  der  Stel- 
lung des  Verfassers  als  Redakteur  des  Fachblatts  der 
Müller  ist  anzunehmen,  dass  seine  Statistik  sich  im  Wesent- 
lichen auf  die  in  Fachvereinen  organisierten  Arbeiter  be- 
schränkt haben  dürfte.  Ueberdies  erstreckte  sich  die 
Untersuchung  in  der  Hauptsache  nur  auf  diejenigen  Theile 
Deutschlands,  welche  die  verhältnissmässig  günstigsten  Ar- 
beitsbedingungen darbieten.  Damit  ist  gegeben,  dass  wir  hier 
! eine  Darstellung  der  bessergestellten  Arbeiter  dieses 
Berufszweiges  erhalten  haben,  und  die  Schilderung  die  am 
| schlechtesten  situirte  Kategorie  gar  nicht  berührt,  ein 
Moment,  das  tür  die  richtige  Auffassung  der  dargelegten 
AVrhältnisse  von  Wichtigkeit  ist. 

Die  von  dem  Verfasser  angewendete  Methode  der 
Erhebung,  wie  die  Verarbeitung  des  Materials  ist  sehr 
primitiver  Art  und  lässt  manchen  Einwendungen  Raum. 
Von  einer  übertriebenen  Aengstlichkeit  zeugt  es,  dass  er, 
‘einzelne  Ausnahmefälle  abgerechnet,  bemüht  ist,  den 
Standort  der  in  die  Statistik  einbezogenen  Unternehmungen 
im  Dunkel  zu  lassen,  und  statt  wenigstens  nach  Regie- 
rungsbezirken und  Kreisen,  blos  nach  Provinzen  oder 
ganzen  Staaten  gruppirt.  Erwünscht  wäre  die  Veröffent- 
lichung des  Fragen-Schemas  und  eine  kritische  Mittheilung 

l)  Käppler,  H.,  Arbeitsverhältnisse  der  Müller  Deutsch- 
lands. Nach  statistischen  Quellen  bearbeitet.  Oldenburg.  1891. 
lim  Selbstverläge  des  Verfassers  Kl  8".  70  S.  Preis  60  Pf. 

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über  die  Art  der  Beantwortung  gewesen.  Die  Darstellung 
macht  im  übrigen  den  Eindruck  vollkommener  Ehrlichkeit 
und  trägt  das  Gepräge  der  Zuverlässigkeit  an  sich,  durch 
welche  nach  der  übereinstimmenden  Erfahrung  der  Statistiker 
in  den  verschiedensten  Ländern  die  von  Arbeitern  gelie- 
ferten Statistiken  sich  regelmässig  auszeichnen.  Mit  auf- 
i ichtiger  Befriedigung  werden  in  den  Fällen,  in  denen 
relativ  günstige  Verhältnisse  angetroffen  wurden,  dieselben 
konstatirt  und  auszeichnend  erwähnt.  Es  liegt  allein  an 
der  entsetzlichen  Lage  der  Dinge , dass  die  düstern 
Bilder  fortwährend  wiederkehren. 

Nach  der  Gewerbezählung  vom  5. Juni  1882  beziffert  sich 
die  Zahl  der  Getreide-,  Mahl-  und  Schälmühlen  auf  58  079  Ge- 
werbebetriebe. Von  diesen  waren  52  492  Hauptbetriebe,  in 
denen  I 18  513  Personen  beschäftigt  waren;  nur  1227  derselben 
zählten  mehr  als  5 Gehilfen  mit  im  Ganzen  18  813  Personen. 
Es  ist  klar,  dass  die  Käppler’sche  Untersuchung  auf  Grund 
von  668  beantworteten  Fragebogen  keine  erschöpfende 
Darlegung  der  Zustände  des  ganzen  Berufszweiges  geben 
kann,  allein  der  mit  grosser  Gleichförmigkeit  sich  wieder- 
holende Zustand  lässt  es  durchaus  glaubhaft  erscheinen, 
dass  es  sich  dabei  um  typische  Züge  handelt,  und  der  schon 
erwähnte  Umstand  der  Beschränkung  auf  die  höher  ent- 
lohnten Schichten  der  Mühlenarbeiter  macht  es  nur  allzu 
wahrscheinlich,  dass  die  entsetzenerregenden  Thatsachen, 
die  wir  erfahren,  nicht  ein  Extrem  darstellen,  sondern  das 
unsägliche  Elend,  unter  dem  die  Müller  leiden,  keineswegs  mit 
voller  Deutlichkeit  bezeichnen. 

Kurz  zusammengefasst  ergeben  sich  in  den  wichtigsten 
Beziehungen  folgende  Resultate  aus  der  Käppler’schen 
Untersuchung.  Was  die  Arbeitszeit  anlangt,  so  haben  von 
668  Betrieben  nur  82  Betriebe  (12%)  mit  515  Gesellen  und 
425  Hilfsarbeitern  eine  Arbeitszeit  von  täglich  12  Stunden, 
ungerechnet  die  Ueberstunden,  welche  zur  Erlangung  eines 
halbwegs  ausreichenden  Lohnes  unvermeidlich  sind;  in 
98  Betrieben  (14"/,,)  mit  609  Gesellen,  319  Hilfsarbeitern  und  19 
Lehrlingen  herrscht  eine  tägliche  Arbeitszeit  von  14  Stunden 
und  auch  hier  sind  Ueberstunden  die  Regel,  in  79  Betrieben 
( 1 1 72%)  mit  252  Gesellen,  65  Hilfsarbeitern  und  16  Lehrlingen 
beträgt  die  Arbeitszeit  15  — 16  Stunden;  17—18  Stunden 
in  304  Betrieben  (über  45  %)  mit  793  Gesellen,  154  Hülfs- 
arbeitern  und  85  Lehrlingen;  1 9— 20  Stunden  in  52  Betrieben 
(fast  8 %)  mit  89  Gesellen,  II  Arbeitern  und  10  Lehrlingen ; 
36  und  mehr  Stunden  hintereinander  in  47  Betrieben  (7%) 
mit  133  Gesellen,  9 Arbeitern  und  3 Lehrlingen!  Nur  75 
von  den  668  Betrieben  haben  vollständige  Sonntagsruhe. 
In  40  Betrieben  müssen  Sonntags  6 Stunden,  in  103  Be- 
trieben 7 12,  in  53  Betrieben  13 — 17,  in  351  Betrieben  18 

bis  24  und  in  46  Betrieben  noch  über  die  24  Stunden  des 
Sonntags  hinaus  bis  zu  30,  36  und  mehr  Stunden  ununter- 
brochen gearbeitet  werden. 

Der  Durchschnittslohn  der  Müllergesellen  Deutsch- 
lands betrug  nach  Angabe  der  Müllereiberufsgenossenschaft 
im  Jahre  1889  609  und  im  Jahre  1890  596  Mark  ! In  der 
dritten  Sektion  dieser  Berufsgenossenschaft  betrug  er  im 
Jahre  1889  397,  im  Jahre  1890  361  Mark.  Als  höchste  Löhne 
verzeichnet  die  siebente  Sektion  754  Mark  für  1 889  und  784 
tür  1890.  ln  fünf  von  den  17  Sektionen  dieser  Berufsge- 
nossenschaft stieg  der  Lohn  von  1889  auf  1890  im  Minimum 
um  2,  im  Maximum  um  30  Mark,  während  er  in  12  der- 
selben um  mindestens  5 und  höchstens  49  Mark  fiel.  In 
einzelnen  Mühlen  haben  die  Gesellen  keinen  fixen  Lohn, 
sondern  sind  ausschliesslich  auf  das  Trinkgeld  der  Kunden 
angewiesen. 

Dem  kleingew  er  blichen,  überwiegend  zwerghaften  und 
zurückgebliebenen  Charakter  der  Müllerei  entspricht  es, 
dass  Naturallöhnung  in  der  Form  von  Wohnung  und  Kost 
eine  grosse  Rolle  spielt.  Dass  beides  sehr  häufig  von  der 
denkbar  erbärmlichsten  Beschaffenheit  ist,  bedarf  nach  dem 
Bisherigen  keiner  Versicherung.  Insbesondere  erwecken  die 
Angaben  über  die  Enge  und  Ueberfüllung  der  Wohnräume, 
den  Schmutz  und  die  Verwahrlosung  das  tiefste  Mitleid  für 
das  Loos  jener  unglücklichen  Proletarier.  Mit  dieser 
beispiellosen  Arbeitsüberbürdung  und  Ausnutzung,  den 
Hungerlöhnen,  der  elenden  Kost  und  der  aller  Beschreibung 


8 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  1. 


spottenden  Wohnungsmisere  verbindet  sich  häufig  auch 
noch  eine  brutale  Behandlung,  unter  der  neben  den  Ge- 
sellen insbesondere  die  Lehrlinge,  diese  Aermsten  der 
Armen,  furchtbar  zu  leiden  haben. 

Die  moderne  Arbeiterbewegung,  in  ihren  allgemeinen 
Zügen  betrachtet,  enthält  neben  allem  Anderen  ein  Element 
in  sich,  das  ich  zu  ihren  werthvollsten  Bestandtheilen 
rechne:  sie  wirkt  durch  die  ungeheure  sittliche  Energie, 
von  der  sie  getragen  ist,  einem  aus  den  Verhältnissen 
unserer  Zeit  leicht  entspringenden,  verzweifelnden  Pessimis- 
mus entgegen.  Sie  lässt  sicheres  Vertrauen  fassen  zu  dem 
Fortschritte  der  geschichtlichen  Entwicklung.  Aber 
nirgends  kommt  wohl  ihr  erhebender  Charakter  zu  deut- 
licherem Bewusstsein,  als  wenn  man  beobachtet,  wie  selbst 
die  niedrigststehenden  Arbeiter,  beispielsweise  die 
Arbeiter  in  den  Mühlen,  von  dem  Schwung  dieser 
Bewegung  ergriffen  werden  und  mehr  und  mehr  in  den 
Kampf  um  eine  glücklichere  Gestaltung  der  gesell- 
schaftlichen Verhältnisse  eintreten.  Die  Müller  besitzen 
bereits  eine  gewerkschaftliche  Organisation,  sie  haben 
eine  Zeitschrift,  die  ihren  Interessen  gewidmet  ist,  und 
sie  erheben  bestimmte  Forderungen  zur  Verbesserung 
ihrer  Lage.  Was  sie  verlangen,  ist  von  einer  wahrhaft 
rührenden  Bescheidenheit,  rührend  besonders  darum,  weil 
diese  Wünsche  zusammengehalten  mit  ihrer  entsetzlichen 
Lage  einen  erheblichen  Fortschritt  bedeuteten. 

In  der  Hauptsache  verlangen  sie  12stündige  Arbeits- 
zeit, Sonntagsruhe,  Abschaffung  der  Naturallöhnung  oder 
doch,  wo  das  nicht  angeht,  eine  reinliche  Schlafstelle  und 
eine  das  Hungerniveau  etwas  übersteigende  Kost,  lnspek- 
tion der  Mühlen,  Ausschluss  der  Nachtarbeit  für  die  Lehr- 
linge und  V erbot  einer  die  Zahl  der  Gesellen  übersteigenden 
Zahl  von  Lehrlingen. 

Sollte  man  es  für  möglich  halten,  dass  es  Behörden 
giebt,  die  solchen  Bestrebungen  hindernd  in  den  Weg 
treten?  Und  doch  ist  es  geschehen! 

So  hat  die  Regierung  des  Königreichs  Sachsen  den 
Mühlenarbeitern  das  Korporationsrecht  verweigert.  Wir 
wollen  hoffen,  dass,  nachdem  die  Käppler’sche  Unter- 
suchung Licht  über  die  Zustände  verbreitet  hat,  den 
Mühlenarbeitern  gegenüber  fortan  keine  derartige  Politik  ein- 
geschlagen werden  wird.  Es  könnte  auch  kaum  etwas  das 
öffentliche  Vertrauen  gefährlicher  erschüttern,  als  wenn 
angesichts  der  Konstatirung  von  Nothständen,  wie  die  ge- 
schilderten es  sind,  die  herrschenden  Gewalten  unthätig 
blieben.  Eine  amtliche  Untersuchung  der  Lage  der  Mühlen- 
arbeiter ist  eine  dringende  Pflicht,  und  wenn  nur  ein 
kleiner  Theil  der  enthüllten  Nothstände  sich  bewahrheiten 
sollte  — wir  zweifeln  nicht,  dass  eine  öffentliche  unparteiisch 
geführte  Enquete  noch  schlimmere  Thatsachen  als  die 
Käppler’sche  Untersuchung  ans  Licht  stellen  würde,  - 
dann  darf  der  Bundesrath  auch  nicht  einen  Moment  zögern, 
von  der  im  § 120e  der  neuen  Gewerbeordnung  ihm  ein- 
geräumten Befugniss  hinsichtlich  der  Festsetzung  der  Arbeits- 
zeit in  den  Mühlen  einen  entsprechenden  Gebrauch  zu 
machen. 

Berlin.  Heinrich  Braun. 


Zur  Lage  der  Leipziger  Buclibimlereiarbeiter.  Der  Fach- 
verein der  in  Buchbindereien  und  verwandten  Berufszweigen 
beschäftigten  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  zu  Leipzig  hat  im 
Mai  1891  eine  Erhebung  veranstaltet,  welche  sich  auf  55  Ge- 
schäfte mit  insgesanunt  1200  Arbeitern  (darunter  1095  gelernte, 
1075  dauernd  beschäftigte)  erstreckte:  die  Daten  sind  kürzlich 
bekannt  gegeben  worden.  Der  durchschnittliche  Stunden- 
(Wochen-)  Lohn  betrug  19,82  Mk. ; auf  Zeitlohn  arbeiteten  453. 
Die  Zahl  der  in  Stücklohn  beschäftigten  Arbeiter  betrug  747, 
ihr  Wochenverdienst  bezifferte  sich  im  Durchschnitt  auf  20,75  Mk. 
Der  Durchschnittslohn  der  (43)  Arbeitsburschen  war  6,75  Mk., 
der  (61)  Markthelfer  16,50  Mk.  Von  den  1087  Arbeiterinnen  — 
diese  bilden  aber  den  Hauptan  theil  der  Hände  — waren  358  in 
Stundenlohn,  der  im  Durchschnitt  8,75  Mk.  die  Woche  aus- 
machte und  729  mit  einem  Durchschnittwochenverdienst  von 
8,40  Mk.  in  Akkord  beschättigt.  Der  Arbeitstag  war  im  Durch- 


schnitt ein  972 ständiger:  Pausen  Vormittags  Mittags  1lA>, 
Nachmittags  '/4  Stunde.  Ueberzeitarbeit  gab  es  nur  in  6 Ge- 
schäften und  zwar  6—15  Stunden  in  der  Woche,  Sonntagsarbeit 
in  4 Geschäften.  Extraentschädigung  wird  noch  in  1 1 Geschäften 


lernen  und  erhalten  wöchentlich  Kostgeld. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung*. 


Der  Buchdruckerstrike. 

Mehr  als  irgend  ein  anderer  Kampf  um  bessere  Arbeits- 
bedingungen hat  der  Buchdruckerstrike  die  öffentliche  Mei- 
nung aufgeregt.  Nach  dieser  Richtung  lässt  sich  der  Aus- 
stand der  Buchdrucker  nur  mit  der  letzten  grossen  Arbeits- 
einstellung im  rheinisch  - westfälischen  Kohlenrevier  ver- 
gleichen. Eine  ausgedehnte  Arbeitseinstellung  im  Buch- 
druckgewerbe, sowie  in  der  Kohlenproduktion  wird  heute 
von  Jedermann  verspürt,  weil  in  einem  Kulturstaate  jeder 
direkt  oder  indirekt  Konsument  der  Erzeugnisse  des  Buch- 
druckgewerbes und  der  Grubenwerke  ist. 

Das  Interesse  des  Publikums  erklärt  sich  auch  daraus,  dass 
die  Buchdrucker  als  die  sozial  höchste  Schicht  der  Arbeiter- 
klasse in  gewisser  Beziehung  den  gesellschaftlichen  Ueber- 
gang  von  der  Arbeiterklasse  zur  Mittelklasse  bilden.  All- 
gemeines Aufsehen  erregte  es,  dass  der  Buchdruckeraus- 
stand  fast  zur  gleichen  Stunde  in  ganz  Deutschland  aus- 
brach und  so  einen  grossen  Kreis  von  Personen  aktiv  und 
passiv  in  Mitleidenschaft  zog.  Die  Arbeiterklasse  sah  — 
und  dies  erklärt  ihr  durchgreifendes  Interesse  für  die  Buch- 
druckerbewegung — in  dieser  nicht  den  Lohnkampf,  sondern  - 
vor  Allem  einen  Kampf  um  die  Verkürzung  der  Arbeits- 
zeit, eine  erste  wichtige  Etappe  in  dem  Kampfe  um  den 
Achtstundentag. 

Die  Unternehmer  auch  in  anderen  Gewerben  erblicken  1 
in  dem  Ausbruche  des  Kampfes  um  den  Neunstundentag 
den  Anfang  allgemeiner  planmässig  begonnener,  sämmtliche 
Gewerbe  berührender  Kämpfe  um  kürzere  Arbeitszeit  über-  ; 
haupt,  um  den  Achtstundentag  insbesondere. 

Dazu  kommt,  dass  wir  in  einer  sozialpolitisch  hoch- 
gradig erregten  Zeit  leben,  dass  Allen,  auch  den  nicht  direkt 
Interessirten,  noch  die  Reichstags-  und  Zeitungsdebatten 
über  Arbeiterschutz,  Normalarbeitstag,  Kontraktbruch  in 
frischer  Erinnerung  waren. 

Zum  Verständniss  der  Ursachen  des  Strikes  ist  es  j 
nöthig  zu  erinnern,  dass  die  „Tarifgemeinschaft“  zwischen  \ 
den  Unternehmern  und  Arbeitern  des  Buchdruckgewerbes  » 
am  1.  Januar  1892  ihr  Ende  erreicht  hätte.  Da  aber  die 
ersten  zwei  Monate  des  Jahres  eine  „stille  Saison“  bilden,  ' 
so  wären  die  Gehilfen,  falls  sie  den  Strike  bis  zum  Ablaufe 
der  Tarifgemeinschaft  vertagt  hätten,  unzweifelhaft  in 
schweren  Nachtheil  gekommen. 

Das  Ziel  der  jetzigen  Bewegung  war  in  erster  Linie 
die  Herabsetzung  der  seit  dem  Jahre  1848  bestehenden  zehn- 
stündigen (in  letzter  Zeit  9:!/4  stündigen  effektiven)  Arbeits- 
zeit auf  9 Stunden,  in  zweiter  Linie  die  Erhöhung  der  Lohne 
um  10%)  wobei  zu  bemerken  ist,  dass  diese  Erhöhung  wohl 
für  die  Arbeitsstunde,  aber  nicht  für  den  Wochenverdienst 
bei  Voraussetzung  des  Gleichbleibens  der  Produktivität  der 
Arbeit  gilt,  so  dass  von  einer  geforderten  Lohnerhöhung  in 
gewissem  Sinne  nicht  die  Rede  sein  kann. 

In  der  Tarif kommission  für  Deutschlands  Buchdrucker, 
welche  am  6. — 8.  Oktober  1891  in  Leipzig  tagte,  um  an 
Stelle  des  am  1.  Januar  1892  ablaufenden  Tarifs  einen  neuen 
zu  schaffen,  stellten  die  Gehilfenvertreter  die  oben  ange- 
führten Forderungen  auf,  konnten  aber  keine  Einigung  er- 
zielen, obgleich  beide  Parteien  sich  zu  einem  gewissen  Ent- 
gegenkommen bereit  zeigten.  Die  Prinzipalvertreter  er- 
klärten sich  bereit,  eine  Lohnerhöhung  bis  zu  7y2n  n auf  die 
Grundpositionen  und  das  tarifmässige  Lohnminimum  zu  be- 
willigen, dasselbe  aber  nicht  auf  die  das  Minimum  über- 
schreitenden Löhne  auszudehnen,  und  hinsichtlich  der 
Arbeitszeit  und  der  Lokalzuschläge  auf  den  Lohn  es  bei 
den  bisherigen  Bestimmungen  zu  belassen.  Die  in  der 
Tarif  kommission  vertretenen  Delegirten  der  Gehilfen  er- 
klärten sich  bereit,  die  Forderung  der  neunstündigen  Arbeits- 
zeit auf  9l/2  Stunden  zu  reduziren,  sich  mit  einer  Erhöhung 
der  Grundpositionen  um  5n/0  und  mit  der  Erhöhung  der 


No.  1. 


S O Z I ALP O L T TT S C H K S CENTRAT  .BLATT. 


9 


Lokalzuschläge  für  die  grösseren  Städte  zu  begnügen.  Ein 
weiteres  Entgegenkommen  war  nicht  zu  erzielen,  der  alte 
Tarif  wurde  fernerhin  als  bindend  bezeichnet  und  die  Ver- 
handlungen, ohne  dass  ein  Resultat  erzielt  werden  konnte, 
geschlossen. 

Der  Strike  brach  aber  trotzdem  nicht  sofort  aus,  die 
Taktik  der  Gehülfen  zielte  dahin,  die  Prinzipale  zu  veran- 
lassen, die  aus  Furcht  vor  der  drohenden  Arbeitseinstellung 
zurückgestellten  Arbeiten  in  Angriff  zu  nehmen,  auch  die 
Eröffnung  der  parlamentarischen  Körperschaften  abzu- 
warten, deren  Vorlagen  und  Protokolle  die  Nachfrage  nach 
Arbeitskräften  sowohl  in  der  Werk-  als  in  der  Zeitungs- 
druckerei steigert,  die  Pause  aber  zur  Organisation  und 
Agitation  vollauf  auszunützen. 

Zwei  Wochen  nach  Abbruch  der  Leipziger  Verhand- 
lungen beschlossen  in  ganz  Deutschland  am  gleichen  Tage 
(22.  Oktober)  abgehaltene  Buchdruckerversammlungen,  am 
24.  Oktober  zu  kündigen.  Allerorts  wurde  die  Kündigungs- 
frist streng  eingehalten.  Die  Stinkenden  waren  eifrig  bemüht, 
durch  ihr  Organ,  den  „Correspondent  für  Deutschlands  Buch- 
drucker und  Schriftgiesser“,  durch  Flugblätter  und  Versamm- 
lungen und  durch  die  Arbeiterpresse  die  öffentliche  Meinung 
für  sich  zu  gewinnen.  Hauptsächlich  betonten  sie  ihre  For- 
derung der  Verkürzung  der  Arbeitszeit.  Sie  begründeten  ihr 
Verlangen  mit  den  Berufskrankheiten  der  Arbeiter  ihres  Ge- 
werbes und  mit  der  grossen  Zahl  von  Arbeitslosen,  für 
welche  ihr  Verband  jährlich  150  000  Mark  ausgiebt  und 
welchen  sie  durch  die  Verkürzung  der  Arbeitszeit  Arbeits- 
gelegenheit zu  verschaffen  hofften.  Was  den  letzteren  Grund 
betrifft,  so  erscheint  bei  dem  vorherrschenden  Akkordarbeits- 
systeme  im  Zeitungssatze  und  in  vielen  Werkdruckereien,  bei 
der  Leichtigkeit  der  Kontrolle  der  Arbeitsleistung  bei  Zeit- 
löhnung die  Annahme  gerechtfertigt,  dass  eine  Verkürzung 
der  Arbeitszeit  eine  erhöhte  Produktivität  der  Arbeit 
herbeiführen  wird,  so  dass  eine  erhöhte  Nachfrage  nach 
Arbeitskräften  auf  die  Dauer  in  grösserem  Umfange  nicht 
zu  gewärtigen  ist,  falls  auch  der  Neunstundentag  zur  nor- 
malen Arbeitszeit  im  Buchdruckergewerbe  werden  sollte. 

Trotzdem  ist  die  Reduktion  der  Arbeitszeit  ein  ge- 
rechtfertigtes Begehren.  Die  Zahl  der  Arbeitslosen  wäre 
jedoch  besser  zu  benützen  gewesen,  um  eine  andere  wichtige 
Forderung,  die  einer  strengeren  und  eingreifenderen  Rege- 
lung des  Lehrlingswesens,  zu  erheben. 

Ebenso  wie  die  Gehülfen  suchten  die  Prinzipale  die 
öffentliche  Meinung  für  sich  zu  gewinnen,  ihnen  stand  zu 
diesem  Zwecke  die  Presse  aller  Parteien,  mit  Ausnahme  der 
sozialdemokratischen,  fast  vollkommen  zur  Verfügung.  Sie 
rechneten  eine  gewaltige  Erhöhung  der  Herstellungskosten 
dem  Publikum  vor  und  behaupteten,  dass  es  unmöglich 
sei,  den  Betrieb  fortzusetzen,  falls  die  Strikenden  siegen 
sollten.  Dabei  vergassen  sie  ganz,  dass  die  ihre  Interessen 
vertretende  „Zeitschrift  für  Deutschlands  Buchdrucker“  am 
14.  September  1889  geschrieben  hatte:  „Die  Buchdrucker 

brauchen  nur  zu  wollen  und  sie  können  sich  über  die  all- 
gemeine wirthschaftliche  Lage  höher  erheben,  als  dies 
anderen  Gewerben  und  Industrien  möglich.  Sie  können 
durch  Zusammenhalt  die  Druckpreise  günstiger  gestalten 
u.  s.  w.“ 

Die  Prinzipale  erklärten  ferner,  dass  sie  bei  der  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  ihre  Maschinen  nicht  mehr  gut 
ausnutzen  könnten.  Sie  unterdessen  dabei  in  Berechnung 
zu  ziehen,  dass  die  Verkürzung  der  Arbeitszeit  grosse 
effektive  Ersparnisse  an  allgemeinen  Geschäftsunkosten, 
z.  B.  Licht  und  Heizung,  mit  sich  bringt.  Sie  suchten  die 
Ausstandsbewegung  mit  der  sozialdemokratischen  Partei  zu 
verquicken,  was  dem  Sachverhalte  indessen  durchaus 
widerspricht. 

Sie  wiesen  endlich  auf  die  hohen  Löhne  in  ihrem  Ge- 
werbe hin,  indem  sie  unausgesetzt  mit  exzeptionell  hohen 
Löhnen  Einzelner  in  grossen  Zeitungsdruckereien  operirten, 
sie  unterdessen  es  aber,  auf  die  keineswegs  hohen  Durch- 
schnittslöhne in  diesem  Gewerbe  aufmerksam  zu  machen, 
sie  hatten  nichts  den  in  Zahn’s  Abhandlung  (Sehr.  d.  V.  f. 
Sozialpol.  XLV,  S.  468  ff.)  veröffentlichten  Budgets  entgegen- 
zusetzen, aus  denen  klar  hervorgeht,  dass  selbst  ein  be- 
scheidenes Arbeiterleben  ohne  Defizite  nur  durch  Er- 
öffnung anderer  Einnahmequellen,  wie  z.  B.  Verdienst  der 
Frauen  für  die  verheiratheten  Buchdrucker  in  Deutschland 
sich  ermöglichen  lässt.  Endlich  veranlasste  die  Prinzipale 
die  Grösse  des  Strikefonds  (angeblich  1‘/4  Millionen  Mark) 
es  jetzt,  wo  der  Geschäftsgang  unter  dem  normalen  Stande 
verblieben  ist,  auf  die  Arbeitseinstellung  ankommen  zu 
lassen,  da  sie  annahmen,  dass  eine  Bewilligung  der  Ge- 


hilfenforderungen ohne  Strike  nach  kurzer  Zeit  neue 
Forderungen,  so  die  des  Achtstundentages,  gewärtigen 
lässt,  die  nach  weiterem  Anwachsen  der  Tarifkassen  noch 
schwerer  erfolgreich  abgewiesen  werden  könnten.  Gegen 
15  000  Gehilfen  hatten  gekündigt,  über  5000  wurden  die 
Forderungen  nach  Ablauf  der  Kündigung  bewilligt,  ca. 
10  000  stehen  jetzt  über  7 Wochen  im  Ausstande.  Genaue 
Zahlen  fehlen,  weil  keine  der  streitenden  Parteien  die- 
selben veröffentlicht  hat. 

Wägen  wir  nun  die  dem  Kampfe  der  Gehilfen  gün- 
stigen und  ungünstigen  Momente  gegenseitig  ab! 

Das  ungünstigste  Moment  ist  die  allgemeine  Geschäfts- 
lage, der  jetzt  nur  geringe  Verbrauch  an  Accidenzarbeiten, 
die  verhältnissmässig  geringe  Zahl  der  Zeitungsinserate, 
die  sehr  grossen  Lagervorräthe  des  Handels,  welche  durch 
Novitäten  nicht  vergrössert,  zur  Weihnachtszeit  gelichtet 
werden  konnten.  Die  Gehilfen  hatten  ferner  die  Zahl  der 
arbeitslosen  Buchdrucker  im  deutschen  Sprachgebiete  unter- 
schätzt. 

Die  Vortheile  der  Bewegung  waren  fast  ausschliess- 
lich solche,  wie  sie  jedem  Ausstande  im  Buchdrucker- 
gewerbe  zu  Gute  kommen.  In  der  Accidenz-  und  Zeitungs- 
druckerei,  bei  der  Herstellung  parlamentarischer  Berichte 
und  Drucksachen,  amtlicher  Verlautbarungen,  Plakate  und 
dergl.  ist  ein  Arbeiten  auf  Vorrath,  meist  auch  ein  Auf- 
schieben und  Einschränken  der  Arbeiten  ausgeschlossen. 
Die  Konkurrenz  fremder  Arbeiter  ist  geringer  als  in  an- 
deren Gewerben,  da  sie  sich  auf  das  Sprachgebiet  be- 
schränkt, hierzu  kommt  die  finanzielle  Stärke,  Disziplin  und 
die  treffliche  gewerkschaftliche  Schulung  in  dem  ausge- 
zeichnet organisirten  LTnterstützungsverein  deutscher  Buch- 
drucker und  endlich  die  Popularität  der  Forderung  des 
Neunstundentages  bei  den  industriellen  Arbeitern  Deutsch- 
lands und  des  Auslandes. 

Die  Art  des  Kampfes  lässt  sich  noch  nicht  ganz  ob- 
jektiv kritisiren.  Die  Prinzipale  suchten  die  Staatsgewalt 
gegen  die  Gehilfen  zu  beeinflussen,  indem  sie  andeuteten, 
dass  die  Gehilfen  ihr  Vereinsvermögen,  das  von  dem 
Strikefonds  aufs  strengste  geschieden  ist,  in  statuten- 
widriger Weise  für  die  Zwecke  des  Ausstandes  verwenden 
könnten,  dass  die  nichtstrikenden  Mitglieder  des  Llnter- 
stützungsvereins  zu  befürchten  hätten,  wegen  Nichtbetheili- 
gung an  dem  Ausstande  aus  der  Organisation  ausge- 
schlossen zu  werden  und  so  erworbener  Rechte  verlustig 
zu  gehen. 

Es  gelang  den  Prinzipalen,  verhältnissmässig  viele 
Gehilfen  aus  der  Schweiz  und  insbesondere  aus  Oesterreich 
zu  werben  und  Personen  aus  anderen  Berufen,  die  früher 
das  Setzerhandwerk  getrieben  hatten,  ihrem  alten  Berufe 
wieder  zuzuführen.  Auf  die  wankelmüthigen  Prinzipale 
wurde  ein  Druck  ausgeübt,  der  sie  veranlasste,  sich  zu 
hohen  Konventionalstrafen  durch  Sichtwechsel  zu  verpflich- 
ten. Die  von  Geheimrath  Böhmert-Dresden  und  Magistrats- 
assessor Freund-Berlin  in  die  Hand  genommenen  Einigungs- 
versuche wurden  nicht  nur  zurückgewiesen,  sondern  ohne 
Grund  den  an  ihnen  ganz  unbethedigten  Gehilten  als  Ein- 
geständniss,  dass  ihre  Sache  verloren  sei,  ausgelegt.  Die 
Prinzipale  sowie  die  Gehilfen  vertraten  während  des  ganzen 
Ausstandes  den  Standpunkt,  dass  eine  Einigung  nicht  in 
einzelnen  Orten  oder  Bezirken,  sondern  nur  für  ganz 
Deutschland  erzielt,  dass  sie  in  der  Tarif kommission  zu 
Leipzig  beschlossen  werden  müsse. 

Die  Strikenden  hielten  sich  von  jedem  Kontraktbruche 
fern,  sie  waren  bemüht,  auf  gesetzlichem  Boden  zu  ver- 
bleiben, sodass  Bestrafungen  wegen  Verrufserklärungen 
verhältnissmässig  wenig  vorkamen.  Durch  ausgiebige  Unter- 
stützung (14  Mark  pro  Woche  seitens  der  Centraltarifkasse 
und  Zuschüsse  seitens  der  Gau-  und  örtlichen  Tarif kassen) 
sowie  durch  genaue  Kontrolle  der  Strikenden  (tägliche 
Appelle)  hielten  sie  die  Ausständigen  zusammen,  die  aus 
dem  Auslande  eingetroffenen  Strikebrecher  suchte  man  zum 
Theil  mit  Erfolg  unter  Aufwand  nicht  geringer  Kosten  zur 
Abreise  zu  veranlassen,  für  Ergänzung  der  Geldmittel  wurde 
durch  Berufung  an  die  Solidarität  der  deutschen  und  aus- 
ländischen Arbeiter  gesorgt. 

Was  die  Stellung  der  öffentlichen  Gewalten  anlangt, 
so  wurden  in  Dresden  und  München  einzelne  Prinzipale 
materiell,  ihre  Sache  überhaupt  moralisch  gefördert,  indem 
aktive  Soldaten  zum  Ersätze  strikender  Buchdrucker  kom- 
mandirt  wurden.  Dass  es  sich  hierbei  um  amtliche  Arbeiten 
handelte,  kann  deshalb  nicht  in  Betracht  kommen,  weil  in 
Berlin  die  Druckereien,  welche  die^entsprechenden  Arbeiten 
für  das  Reich  ausführen,  die  Forderungen  der  Gehilfen  be- 


10 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBI .ATT. 


Xo.  1. 


willigten,  und  weil  es  z.  B.  in  München  nachgewiesener- 
maassen  ausserordentlich  leicht  gewesen  wäre,  die  amtlichen 
Drucksachen  für  den  Landtag,  um  die  es  sich  handelte,  von 
anderen  Druckereien  im  Orte  ausführen  zu  lassen.  Anzutühren 
sind  des  Weiteren  die  Sequestration  der  Invalidenkasse  in 
Stuttgart  und  die  neue  Maassregel  der  preussischen  Regierung 
gegen  den  Unterstützungsverband,  ein  Beweis,  dass  die 
Nachgibigkeit  des  Verbandes  gegen  die  im  Jahre  1887  von 
der  Regierung  ihm  aufgedrängte  behördliche  Aufsicht  ohne 
allen  Nutzen  für  ihn  geblieben  ist.  Durch  seine  Unterstellung 
unter  das  Berh'ner  Polizeipräsidium  gab  er  zu,  dass  er 
eventuell  nicht  als  Gewerkschaft  im  Sinne  des  § 152  der 
G.-O.,  sondern  als  eine  der  behördlichen  Kontrolle  unter- 
stehende Versicherungskasse  behandelt  werde.  \ ielleicht 
lenkt  die  jetzt  gewonnene  Erfahrung  die  Gewerkvereins- 
politik in  andere  Bahnen. 

Trotz  der  starken  Beeinflussung  durch  die  gesummte 
Presse,  natürlich  abgesehen  von  der  sozialdemokratischen, 
.scheint  die  öffentliche  Meinung  dem  Kampfe  gegenüber 
Neutralität  beobachtet  zu  haben. 

Was  die  Arbeiter  anlangt,  so  haben  sie  sich  für  that- 
kräftige  finanzielle  Unterstützung  der  Ausständigen  ent- 
schieden, aber  nicht  unterlassen,  öffentlich  ihr  Bedauern 
darüber  auszudrücken,  dass  die  Buchdrucker  sich  von  der 
politischen  Arbeiterbewegung  fast  ganz  fernhalten  und  sich 
lediglich  dem  Ausbau  ihrer  Gewerkschaft  widmen. 

Wir  würden  es  für  verfehlt  halten,  über  die  Aussichten 
dieser  grossen  Arbeitseinstellung  uns  im  gegenwärtigen 
Moment  ein  Urtheil  zu  erlauben,  dagegen  kann  man  über 
die  Folgen  derselben  sich  schon  jetzt  eine  Ansicht  bilden. 
Gehen  die  Gehilfen  als  »Sieger  aus  dem  Kampfe  hervor,  so 
wird  es  der  ganzen  Autorität  und  Disziplin  der  Gewerk- 
schaften bedürfen,  um  andere  Arbeiterkategorien  vom  Ein- 
treten in  Lohnkämpfe  in  der  jetzt  hiezu  überaus  ungünstigen 
Zeit  zurückzuhalten. 

Haben  die  Gehilfen  eine  Niederlage  zu  verzeichnen, 
so  wird  der  Stolz  auf  ihre  gewerkschaftliche  Organisation 
gebrochen  werden,  und  die  Lieberzeugung,  dass  die  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  auf  gesetzgeberischem  Gebiete 
durchzusetzen  ist,  immer  mehr  Boden  gewinnen;  die  Buch- 
drucker werden  der  Sozialdemokratie  sich  anschliessen. 

Das  Fortbestehen  der  Tarifgemeinschaft,  in  der  die 
Gehilfen  jetzt  fast  nur  einen  Vortheil  für  die  Prinzipale 
und  eine  Fessel  für  die  Aktionsfreiheit  im  Kampfe  um 
bessere  Arbeitsbedingungen  sehen,  ist,  wie  auch  der  Kampf 
ausgehen  mag,  in  Frage  gestellt. 

Wird  der  Strike  nachhaltig  auf  die  Aenderung  des 
Produktionsprozesses  wirken?  Man  muss  sich  hier  vor 
einer  Ueberschätzung  hüten.  Die  Erzeugung  der  Druck- 
maschinen ist  allem  Anscheine  nach  zu  einem  vorläufigen 
Abschlüsse  gelangt.  Die  allgemeine  Anwendbarkeit  der 
Setzmaschinen  ist  vorerst  noch  ein  technisches  Problem. 
Die  vermehrte  Anwendung  der  Frauenarbeit  in  der  Setzerei 
ist  wegen  des  allzustarken  Widerstandes  der  Gehilfen  bis 
auf  Weiteres  auf  die  Dauer  kaum  zu  befürchten. 

Wichtiger  als  all  dies  erscheint  uns  aber  der  Umstand, 
dass  der  lange  Strike  viele  kleine  Druckereien  schwer 
schädigen  und  die  Aufsaugung  des  Kleinbetriebes  durch 
den  Grossbetrieb  stark  fördern  wird.  So  leicht  sich  derartige 
allgemeine  Schlüsse  ziehen  lassen , so  schwer  ist  es,  den 
Ausgang  des  Kampfes  abzusehen. 

München,  30.  Dezember  1891.  Adolf  Braun. 


Der  Stand  der  deutschen  Gewerkschaftsbewegung. 

Durch  das  im  Jahre  1878  erlassene  Sozialistengesetz 
wurde  die  deutsche  Gewerkschaftsbewegung  in  ihrer  Ent- 
wickelung jäh  unterbrochen;  die  meisten  der  damals 
existirenden  Gewerkschaften  verfielen  der  polizeilichen  Auf- 
lösung, die  anderen  lösten  sich,  um  diesem  Schicksale  zu 
entgehen,  selbst  auf.  Nur  wenige  Gewerkschaften  die 
Hirsch-Dunker’schen  Gewerkvereine  scheiden  wir  aus  un- 
serer heutigen  Betrachtung  aus  — retteten  sich  in  die 
Periode  des  Sozialistengesetzes  herüber  und  überdauerten 
dasselbe.  Es  sind  dies  unseres  Wissens  die  Zentralver- 
bände der  Buchdrucker,  Tabakarbeiter,  Hutmacher  und 
Handschuhmacher. 

Die  deutsche  Gewerkschaftsbewegung,  so  wie  sie 
gegenwärtig^besteht,  ist  also  zum  grössten  Theile  unter  der 


Herrschaft  des  Sozialistengesetzes  allmählich  wieder,  oder 
nach  Ablauf  desselben  neu  entstanden.  Sie  befindet  sich 
daher  noch  im  Stadium  des  Werdens  und  der  Fortent- 
wickelung, stets  abhängig  von  den  wirthschaftlichen 
Verhältnissen.  In  dieser  Beziehung  ist  auf  Grund  der  ge- 
machten Erfahrungen  der  Schluss  gerechtfertigt,  dass  die 
Gewerkschaften  in  ihrer  Mitgliederzahl  unter  ungünstigen 
ökonomischen  Verhältnissen  zum  mindesten  stagniren, 
während  sie  sich  bei  günstiger  Wirthschaftslage  ausbreiten, 
an  Mitgliederzahl  mitunter  sogar  rapid  zu  nehmen. 

Wir  wollen  nun  in  Kürze  betrachten,  welcher  Art  die 
deutsche  Gewerkschaftsbewegung  ist.  Ueber  die  Organi- 
sationsform haben  in  den  letzten  Jahren  heftige  Meinungs- 
Streitigkeiten  stattgefunden.  Die  Frage,  ob  Lokal-  oder 
Zentralorganisation  wurde  leidenschaftlich  erörtert.  Gegen- 
wärtig ist  die  Frage  nun  fast  allgemein  zu  Gunsten  der 
letzteren  entschieden;  nur  wenige  Gewerkschaften  oder 
Theile  solcher  sind  es,  welche  die  lokale  Organisation  noch 
vertheidigen. 

Eine  weitere  Streitfrage  über  die  Organisationsform 
besteht  darin,  ob  es  zweckmässiger  sei,  für  einzelne  Berufe 
oder  für  grössere  Industriegruppen,  welche  mehrere  Berufe 
umfassen,  Zentralverbände  zu  schaffen.  Von  den  Verfechtern 
der  ersteren  wird  als  Hauptargument  angeführt,  dass  sich 
die  indifferenten  Arbeiter  leichter  einer  Organisation  ihres 
Berufes  anschliessen  als  einer  solchen,  in  welcher  mehrere  Be- 
rufe Platz  finden.  Die  Verfechter  der  anderen  Richtung 
wenden  dagegen  ein,  die  Arbeiter  müssten  sich  gleich  den 
Lhiternehmern,  für  welche  es  keine  Berufsunterschiede  gebe, 
wenn  es  sich  um  ein  Vorgehen  gegen  die  Arbeiter  handle, 
organisiren.  Man  kann  zugeben,  dass  beide  Formen  der 
Zentralverbände  ihre  Berechtigung  haben,  wenn  auch  aus 
anderen  Gründen  als  den  angeführten.  Eine  Organisations- 
form, welche  sich  für  die  Arbeiter  der  Grossindustrie  als 
vortheilhaft  erweist,  kann  sehr  wohl  für  die  Arbeiter  der 
handwerksmässigen  Betriebe  von  Nachtheil  sein. 

Zur  Zeit  bestehen  in  Deutschland  61  zentralisirte  Ge- 
werkschaften, darunter  2 für  Arbeiterinnen,  die  in  örtliche 
Verwaltungsstellen  (Filialen)  gegliedert  sind.  Der  Geltungs- 
bereich dieser  Verbände  erstreckt  sich  mit  wenigen  Aus-  : 
nahmen  auf  das  ganze  Reich.  Ueber  ihre  gegenwärtige 
Stärke  kann  Bestimmtes  nicht  gesagt  werden;  es  müssen  J 
deshalb  ältere  Ziffern  herangezogen  werden,  um  ein  unge-  , 
fähres  Bild  geben  zu  können.  Nach  einer  Ende  1890  durch 
die  Generalkommission  der  Gewerkschaften  Deutschlands  < 
aufgenommenen  .Statistik  bestanden  damals  53  Zentralver- 
bände mit  3150  örtlichen  Verwaltungsstellen  und  227  733 
Mitgliedern.  Die  einzelnen  Organisationen  zählten  Mit- 
glieder: Bäcker  983,  Barbiere  (Gehilfen)?,  Barbiere  (selbst- 
ständig) 240,  Bergleute  (Westf.)  58  000,  Bergleute  (Sachsen)  . 
7040,  Bergleute  (Schlesien)?,  Bildhauer  3169,  Böttcher  4600,  j 
Buchbinder  3000,  Buchdrucker  17  500,  Bürstenmacher  1000,  ' 

Dachdecker  571,  Drechsler  2700,  Fabrik-  und  Hilfsarbeiter 
3000,  Fabrikarbeiterinnen  300,  Formstecher  464,  Gärtner  700, 
Lohgerber  1500,  Weissgerber  1700,  Glaser  1440,  Glasarbeiter 
945,  Glacehandschuhmacher  2100,  Goldarbeiter  1840,  Hafen- 
arbeiter 6000,  Holzarbeiter  800,  Hutmacher  3000,  Korb-  ; 
macher  1360,  Kürschner  1100,  Kupferschmiede  2345,  Maler 
8126,  Maler  (Bayern)  500,  Mechaniker  670,  Müller  2980, 
Plätterinnen?,  Sattler  1791,  Schiffszimmerer  1022,  Schlosser 
1200,  Schmiede  3000,  Schneider  9500,  Schuhmacher  13  000, 
Seiler  281,  Steinmetzen  4000,  Steinsetzer  2095,  Stellmacher 
601,  Tabakarbeiter  16000,  Tapezierer  1900,  Tischler  17  600, 
Vergolder  1 1 70,  Werftarbeiter  1 800,  Ziegler  900,  Zigarren- 
sortirer  700,  Zimmerer  11000,  Zimmerer  (Süddeutsch- 
land) 500.  — Neben  diesen  Zentralverbänden  existirten 
damals  noch  712  lokale  Vereine,  und  zwar  der  Bauarbeiter 
mit  2000,  Metallarbeiter  mit  33  214,  der  Maurer  mit  33  447, 
der  Töpfer  mit  4806,  der  Stuckateure  mit  einer  mir 
augenblicklich  unbekannten  Zahl  von  Mitgliedern.  Im 
Laufe  des  Jahres  1890  haben  sich  noch  zentralisirt  die  Bau- 
arbeiter, Konditoren,  Lithographen,  Maurer,  Metallarbeiter, 
Porzellanmaler,  Posamentiere  und  Textilarbeiter.  — Dass 
seit  Aufstellung  der  obigen  Statistik  ziemliche  Verände- 
rungen in  den  Mitgliederzahlen  der  einzelnen  Gewerk- 
schaften stattgefunden  haben,  ist  gewiss,  und  wird  dies  die 
nächste  Aufstellung,  welche  seitens  der  genannten  General- 
kommission bis  Mitte  März  d.  J.  veröffentlicht  werden  wird, 
ausser  Zweifel  stellen. 

Alles  in  Allem  genommen  sind  die  deutschen  Gewerk- 
schaften trotz  ihres  verhältnissmässig  noch  jugendlichen 
Alters,  und  wenn  wir  auch  von  ihren  bereits  durchge- 
fochtenen  Kämpfen  mit  den  Unternehmern  absehen,  schon 


No.  1. 


S<  )/IAl  ,l>(  )i,ITIS( ;i  IKS  ( ’liNTRAI .Hl  .ATT. 


11 


ihrer  Mitgliederzahl  nach  ein  bedeutender  Faktor  im  öffent- 
lichen Leben. 

Allen  diesen  ( Gewerkschaften  ist  gemeinsam  das  Streben 
nach  günstigeren  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen;  dieser 
Programmsatz  ist  bei  ihnen  kein  dekoratives  Beiwerk,  wie 
bei  den  Hirsch-Duncker’schen  Gewerkvereinen,  sondern 
F u n d a m e n t a 1 p r i n z i i ). 

Als  weitere  Zwecke  sind  zu  nennen:  Gewährung  von 
Reisegeld  an  die  auf  der  Wanderschaft  sich  befindenden 
Mitglieder,  Unterstützung  in  besonderen  Nothfällen,  Pflege 
der  Berulsstatistik,  Gewährung  von  Rechtsschutz,  Einrich- 
tung zweckentsprechender  Herbergen  und  Arbeitsnach- 
weise, Pflege  der  Bildung  der  Mitglieder.  Mehrere  Ge- 
werkschaften gewähren  auch  Unterstützung  an  arbeitslose 
Mitglieder  in  der  Höhe  von  I Mk.  per  Tag. 

Nur  wenige  Gewerkschaften  sind  es,  welche  auch 
Einrichtungen  für  den  Fall  der  Krankheit  besitzen.  In 
dieser  Beziehung  hat  zunächst  das  Sozialistengesetz  be- 
stimmend für  die  Verfassung  der  Gewerkschaften  gewirkt. 
Tor  1878  waren  mit  den  Gewerkschaften  auch  Kranken- 
kassen verbunden,  und  der  Beitritt  in  diese  in  den  meisten 
Gewerkschaften  abhängig  von  der  Mitgliedschaft  in  letzteren. 
Als  die  Auflösung  der  Gewerkschaften  erfolgt  war,  organi- 
sirte  man  alsbald  die  Krankenkassen  auf  Grund  des  Hilfs- 
kassengesetzes als  Körperschaften  für  sich. 

Schliesslich  sei  noch  darauf  hingewiesen,  dass  die 
deutschen  Gewerkschaften  als  ein  vorzügliches  Mittel  zur 
Erreichung  und  Förderung  ihrer  Zwecke  die  Pflege  der 
Gewerkschaftspresse  betrachten,  was  in  den  vorhandenen 
55  Organen  dieser  Art,  wovon  die  Mehrzahl  von  sämmt- 
lichen  Mitgliedern  der  betr.  Gewerkschaft  gelesen  wird, 
den  beredtesten  Ausdruck  findet. 

Nürnberg.  J.  Seherin. 




Der  deutsche  Gewerkschaftskongress.  Die  General- 
kommission der  Gewerkschaften  hat  für  den  14.  März  1892 
nach  Halberstadt  einen  allgemeinen  deutschen  Gewerk- 
schaftskongress einberufen.  Als  Tagesordnung  ist  vorge- 
sehen: 1.  Erled'gung  der  geschäftlichen  Angelegenheiten 

: (Wahl  der  Kommissionen,  Prüfung  der  Mandate  etc.),  2.  Be- 
richt über  die  Thätigkeit  der  Generalkommission,  3.  die 
Organisationsfrage  (Organisationsentwurf).  Der  Kongress 
dürfte  4-  5 Tage  in  Anspruch  nehmen.  Der  16.  März  ist 
zur  Abhaltung  der  Spezialkongresse  der  Vertreter  der  ein- 
zelnen Industriegruppen  vorgesehen.  Das  eigentliche  Pro- 
gramm dieses  Kongresses  besteht  in  der  Zusammenfassung 
der  bisher  selbstständig  operirenden  einzelnen  Organi- 
sationen zu  einem  einheitlichen  solidarischen  Ganzen.  Es 
kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  auf  diesem  Weg  eine 
| ausserordentliche  Stärkung  der  gewerkschaftlichen  Organi- 
sationen sich  ergeben  und  eine  unvergleichlich  grössere 
Beeinflussung  der  Verhältnisse  des  Arbeitsmarktes  als  bis- 
her daraus  entspringen  würde. 

| \\  ir  begleiten  diese  Bestrebungen  mit  unseren  warmen 

Sympathien  und  wünschen  ihnen  vollen  Erfolg. 

Der  Gewerkverein  (1er  englischen  Dockarbeiter.  Vor 

wenigen  Monaten  hat  die  Dock,  Wharf,  Riverside  and 
| General  Labourers’  Union  of  Great  Britain  and  Ireland  ihren 
[ ersten  Jahresbericht  an  ihre  Mitglieder  vertheilt.  Das  inter- 
essante Dokument  legt  ein  klares  Zeugniss  ab  für  die  rast- 
lose Thätigkeit  dieses  Gewerkvereins  der  Ungelernten. 
Nach  dem  Dockstrike  von  1 889  begann  die  zweite  kritische 
Periode  seines  Bestandes;  er  war  zuerst  im  Jahre  1872  auf- 
getaucht, aber  nach  acht  Monaten  von  der 'Bildfläche  ver- 
schwunden. Die  folgenden  Angaben  illustriren  die  Schwie- 
rigkeiten, mit  welchen  die  Organisation  des  Residuums  der 
städtischen  ungelernten  Arbeiterschaft  zu  kämpfen  hat. 

Der  Report  enthält  I.  den  Bericht  des  Generalsekretärs 
Ben  1 fllet , II.  die  Rechnungsabschlüsse  der  Distrikte, 
III.  eine  Statistik  der  seit  August  1889  errungenen  Vortheile 
m jedem  Distrikte,  mit  besonderer  Angabe:  1.  jeder  Firma, 
der  Gattung  der  Arbeit.  3,  der  Zahl  der  betroffenen  Ar- 
beiter, 4.  der  Entlohnung  vor  der  Bildung  des  Gewerkver- 
emes,  5.  der  derzeitigen  Lohnhöhe,  6.  der  Länge  der 
Arbeitszeit  vor,  und  7.  nach  der  Entstehung  des  Gewerk- 
\ erems,  8.  des  Vorhandenseins  des  Middleman  vor-  und 
nachher,  9.  anderer  errungener  Vortheile,  10.  der  zu  diesem 
Zwecke  gewählten  Mittel,  11.  der  Ursachen  des  Strikes, 


12.  der  Dauer  der  Ausstände,  13.  des  Lohn  Verlustes  und 
14.  des  Lohngewinnes.  Die  Lage  der  Dockarbeiter  in  London 
gelangt  zur  gesonderten  Darstellung,  mit  genauer  Angabe 
des  Arbeitslohnes  und  der  Arbeitszeit  in  jedem  Dock.  Die 
bei  dem  Kongress  im  September  1890  gehaltene  Ansprache 
des  Präsidenten,  ferner  die  Beschlüsse  des  vorletzten  Ge- 
werkvereinskongresses und  eine  Reihe  statistischer  Tabellen 
über  den  Fortschritt  der  britischen  Schifffahrt,  Pauperismus, 
Bevölkerungszuwachs  etc.  bildet  den  Beschluss  dieses 
159  Seiten  starken  Bandes.  Wir  heben  vorläufig  im  Nach- 
stehenden nur  folgende  wichtige  Daten  hervor: 

im  Jahre  1890  betrug  die  Höhe  der  Strikegelder  im 
ganzen  Lstr.  14  549  7 s.  8 d. ; ein  Defizit  von  Lstr.  4695 
8 s.  6 d.  ist  die  Folge  gewesen.  Die  Ausgaben  für  andere 
Zwecke  betrugen  38  % der  Gesammtausgaben.  Damit  ist 
das  Jahr  als  ein  Jahr  des  Kampfes  charakterisirt,  so  sehr 
die  Friedensliebe  des  Gewerkvereins  und  seine  Anerken- 
nung für  höfliches  Entgegenkommen  seitens  der  Dock- 
beamten hervorgehoben  werden  muss.  Dem  Unterstützungs- 
tonds  wurden  Lstr.  1334  7 s.  8 d.  entnommen.  Schliesst 
man  die  Strikegelder  aus,  so  betrugen  die  Ausgaben  55  7„ 
der  Einnahmen  im  ersten  Halbjahre  (bis  30.  Juni)  und 
65'/:!%  im  zweiten  Halbjahre,  also  beiläufig  60n/„  ‘im  ganzen 
Jahre. 

Die  U ebersicht  der  seit  August  1889  errungenen  Vor- 
theile zeigt  folgende  Gesammtergebnis.se:  34  236  Personen 
haben  diese  Vortheile  errungen  durch  Strike;  21  190  Per- 
sonen ohne  Strike;  der  Gesammtverlust  an  Löhnen  betrug 
Lstr.  104  918  15  s.  7 d.;  per  Kopf:  Lstr.  3 1 s.  3'/.,  d.;  der 
gesammte  wöchentliche  durch  Strikes  herbeigeführte  Ge- 
winn betrug  Lstr.  8704  9 d.  oder  5 s.  I d.  per  Kopf;  der 
wöchentliche  Gewinn,  der  ohne  Strike  gesichert  wurde,  be- 
trug Lstr.  5284  13  s.  1 '/?  d.  oder  4 s.  11%  d.  per  Kopf.  Es 
muss  jedoch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  manche 
Distriktsbeamten  es  verabsäumten,  vollständige  Angaben  zu 
dieser  Statistik  zu  liefern  In  London  selbst  hat  der  Strike 
in  Hays  Wharf  den  Zweigverein  des  betreffenden  Distrikts 
in  Schulden  gestürzt;  im  Ganzen  hat  daselbst  jedes  derbei- 
läufig 24  500  Mitglieder  eine  Lohnaufbesserung  von  5 s.  für 
30  bis  35  Jahreswochen  errungen,  der  Lohnbetrag  für  London 
ist  also  um  etwa  Lstr.  6125  per  Woche  gesteigert  worden. 
Die  Kosten  betrugen  allerdings  einen  Lohnverlust,  der  auf 
Lstr.  90  000  veranschlagt  wird. 

Andere  Vortheile  bestanden  in:  der  Abschaffung  der 
Knabenarbeit,  Verbilligung  der  Eisenbahnfahrpreise,  Affi- 
liation mit  Gewerkyeremsräthen,  Wahl  von  Mitgliedern  der- 
selben in  den  Stadtrath,  Gründung  von  Konsumvereinen, 
1 heilnahme  an  Einigungsämtern  ( Hüll),  und  Beseitigung 
von  gegen  1700  Sweaters.  Man  kann  nach  diesen  Angaben 
nicht  nur  dem  nächsten  Berichte  mit  grossem  Interesse 
entgegensehen,  sondern  auch  den  Wunsch  nicht  unter- 
drücken, dass  anderwärts  die  „gelernten“  Arbeiter  über 
ihre  Lage  so  trefflich  Buch  führen  mögen,  wie  es  von  Seite 
des  „Ungelernten“  in  England  geschehen  ist. 

Die  fiskalischen  Grubenarbeiterausschüsse  im  Saar- 
kohlenrevier haben  eine  erneute  Eingabe  an  den  preussischen 
Handelsminister  beschlossen,  welche  auf  den  sogenannten  Völk- 
linger  Beschlüssen  vom  4.  Mai  1890  beruhen  Damals  forderten 
die  Bergleute:  achtstündige  Schicht  einschliesslich  Ei  n-  und 
Ausfahrt,  4,50  Mk  Mindestlohn  im  Akkord  und  3,50  Mindest- 
Taglohn,  Lohnaufbesserung  des  Maschinenpersonals,  Wieder- 
anlegen  der  Abgelegten.  Neugestaltung  des  Knappschaftswesens. 

Eine  Organisation  der  an  Pferdebahn-Betrieben  beschäf- 
tigten Arbeiter  wird  von  Hamburg  aus  angeregt.  Dort  besteht 
seit  dem  3.  November  1891  ein  Verein  aller  in  Pferdebahn-Be- 
trieben beschäftigten  Arbeiter.  In  dem  Aufruf  heisst  es:  „Auf 
dem  internationalen  Kongress  der  Pferdebahn-Gesellschaften, 
welcher  am  19  Juli  1891  in  Hamburg  tagte,  wurde  die  Frage 
aufgestellt:  „Wie  schützen  wir  uns  vor  der  Ausbeutung  seitens 
unserer  Untergebenen  ?“  Nachdem  man  auf  diesem  Kongress 
eine  internationale  Ruthe  für  uns  gebunden,  ist  es  unsere 
heiligste  Pflicht,  für  unsere  Interessen  einzutreten,  und  das 
kann  nur  im  Wege  der  Organisation  geschehen“.  Von  welcher 
Bedeutung  die  gewerkschaftliche  Vereinigung  für  diese  „weissen 
Sklaven“,  wie  ein  katholischer  Sozialpolitiker  sie  genannt  hat, 
lehrt  die  Geschichte  des  grossen  Wiener  Tramway-Strikes  1889. 
Ein  C harakteristikum  der  im  Verkehrsgewerbe  beschäftigten 
Arbeiter  ist  die  überlange  Arbeitszeit.  Hiergegen  Front  zu 
machen  ist  die  nächstliegende  Aufgabe. 


12 


SOZIALPOLITISCHES  CENTR  ALRL  ATT. 


No.  1. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Die  deutsche  Sozialdemokratie  im  Jahre  1891. 

War  für  die  deutsche  Sozialdemokratie  das  Jahr  1890 
eine  Epoche  bedeutungsvoller  äusserer  Erfolge,  wir  re- 
innern  nur  an  die  allgemeinen  Wahlen  zum  deutschen 
Reichstage  und  an  die  Aufhebung  des  Sozialistengesetzes, 
so  scheint  für  diese  Partei  das  abgelaufene  Jahr  eine  Zeit 
innerer  Festigung  gewesen  zu  sein. 

Zu  Beginn  des  Jahres  war  die  vom  Halleschen  Ivon- 
o-resse  den  Parteimitgliedern  gestellte  Aufgabe,  auf  Grund 
des  dort  beschlossenen  Organisationsstatuts  V ertrauens- 
männer  zu  wählen,  für  die  meisten  Wahlkreise  ausgeführt. 

Von  den  wichtigen  Anregungen  des  Halleschen  Partei- 
tages sind  noch  zu  erwähnen  die  Wünsche  nach  Gründung 
von  Blättern  zur  Verbreitung  der  sozialdemokratischen 
Prinzipien  unter  den  polnisch  sprechenden,  elsass-lothringi- 
schen  und  den  ländlichen  Arbeitern,  das  Eintreten  für  die 
Abschaffung  der  Gesindeordnungen  und  der  Verwendung 
von  Parteimitteln  für  ein  arbeitsstatistisches  Bureau. 

Ein  täglich  in  Mühlhausen  i.  E.  erscheinendes  Blatt 
für  Elsass-Lothringen,  ein  in  polnischer  Sprache  in  Berlin 
erscheinendes  Wochenblatt  wurden  mit  Unterstützung  der 
Parteikasse  gegründet,  ein  Blatt  für  die  ländlichen  Arbeiter 
existirt  zwar  noch  nicht,  doch  wird  die  Lage  der  ländlichen 
Arbeiter  jetzt  weit  mehr  als  früher  von  fast  sämmtlichen 
sozialdemokratischen  Organen  behandelt.  Einzelne  Organe 
dienen  sogar  in  der  Hauptsache  dieser  Aufgabe,  so  z.  B.  der 
„Proletarier  aus  dem  Eulengebirge“  und  der  eben  gegründete 
’’ Bayerische  Bürger-  und  Bauernfreund“,  ferner  erscheinen 
eine  Reihe  von  Brochuren  und  Flugblättern,  welche  sich 
mit  der  Lage  der  ländlichen  Arbeiter  und  der  Bekehrung 
derselben  zur  Sozialdemokratie  befassen;  die  Herausgabe 
einer  Reihe  anderer  von  langer  Hand  geplanter  Brochuren 
soll  bevorstehen.  Mit  einem  Anträge,  der  die  Abschaffung 
aller  Gesindeordnungen  fordert,  hat  sich  die  sozialdemo- 
kratische Fraktion  des  deutschen  Reichstages  befasst.  Der 
Anregung,  ein  arbeilsstatistisches  Bureau  zu  gründen,  wurde 
bis  jetzt  'nicht  Rechnung  getragen.  Dieselbe  wurde  in  einen 
sehr  beifällig  aufgenommenen  Anträge  auf  dem  Parteitage 
zu  Erfurt  wiederholt. 

Die  Parteikasse  wurde  auch  im  verflossenen  Jahre  von 
den  deutschen  Sozialdemokraten  sehr  reichlich  bedacht. 
Der  Kassenbericht  weist  für  die  Zeit  vom  I.  Oktober  1890 
bis  30.  September  1891  eine  Einnahme  von  223  866,60  Mk. 
nach,  wovon  168  845  Mk.  durch  freiwillige  Parteibeiträge 
aufgebracht  wurden.  Die  Ausgaben  betrugen  134  949,85  Mk., 
von  denen  auf  Auslagen  für  die  Agitation  im  weiteren 
Sinne  55  633,15  Mk.,  auf  Unterstützungen,  Prozesskosten 
und  Aehnliches  16  726,75  Mk.,  auf  Zuschüsse  für  die  Gründung 
des  polnischen  und  elsass-lothr ingischen  Blattes  19  379,05  Mk. 
kamen,  für  Kapitalsanlage  wurden  94  080,95  Mk.  verwandt. 

An  Strafen  wurden  gegen  Sozialdemokraten  in  der 
Zeit  vom  1.  November  1890  bis  Ende  September  1891  ver- 
hängt 87  Jahre  6 Monate  28  Tage  und  18  262,30  Mk.  Geld- 
bussen. 

Die  Zahl  der  täglich  erscheinenden  Blätter  der  Partei 
stieg  in  dieser  Zeitspanne  von  19  auf  27,  die  der  politischen 
Organe  überhaupt  von  60  auf  69,  die  der  gewerkschaftlichen 
Organe  von  42  auf  55,  seit  I.  Oktober  ist  noch  ein  halbes 
Dutzend  neuer  Blätter  gegründet  worden.  Bei  der  Gering- 
fügigkeit der  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  konnte  das 
Niveau  der  sozialdemokratischen  Presse  sich  nicht  so 
rasch  heben,  wie  es  von  den  fortgeschrittenen  Elementen 
gewünscht  wird. 

Neue  Brochuren  erschienen  nicht  viele,  die  Haupt- 
verbreitung finden  die  Neuauflagen  der  alten  Agitations- 
schriften. Ueber  die  Brochurenlitteratur  fehlen  fast  alle 
Anhaltspunkte,  sicher  ist  nur,  dass  die  Schriften  in  sonst  für 
deutsche  Verhältnisse  nicht  üblichen  hohen  Auflagen  herge- 
stellt werden. 

Die  Maifeier  wurde  am  3.  Mai  in  den  meisten  Städten 
Deutschlands  in  grossartigem  Umfange  begangen,  die  Ver- 
suche partei-oppositioneller  Elemente,  mit  einer  Feier  am 
ersten  Mai  zu  demonstriren,  waren  bedeutungslos. 

In  zahlreich  besuchten,  in  fast  allen  Städten  und 
industriellen  Bezirken  Deutschlands  abgehaltenen  Versamm- 
lungen wurde  die  Abschaffung  bezw.  Suspendirung  der 
Kornzölle  gefordert. 

An  den  Wahlen  zu  den  parlamentarischen  Vertretungs- 


körpern betheiligten  sich  auch  im  verflossenen  Jahre  die 
Sozialdemokraten  auf's  eitrigste.  Ueberraschende  Erfolge 
erzielten  sie  bei  vielen  Gemeinderathswahlen  und  insbesondere 
bei  den  Landtagswahlen  im  Grossherzogthum  Baden,  wo 
zum  ersten  Male  2 Sozialdemokraten  gewählt  wurden,  und 
im  Königreich  Sachsen,  wo  die  Zahl  der  sozialistischen 
Stimmen  sich  weit  mehr  als  verdoppelt  hat.  bei  den 
Nachwahlen  zum  Reichstage  zeigt  sich  zwar  ein  kleiner 
Rückgang  gegen  die  Hauptwahlen  vom  Jahre  1890,  er  ist 
aber  geringer  (8,3  (,/0),  wie  der  der  anderen  grossen  Parteien 
(N.-L.  13,4,  W'elfen  14,4,  Centr.  15,3,  D-Freis.  15,3,  Polen  17,3, 
Kons,  und  Reichsp.  18,8,  Dem.  24,7  u/n*)- 

Die  internationalen  Beziehungen  wurden  von  der 
Partei  in  der  üblichen  W eise  gepflegt,  der  Kongress  zu 
Brüssel  wurde  stark  beschickt,  auf  demselben  spielte  die 
deutsche  Sozialdemokratie  die  einflussreichste  Rolle.  Der 
dort  gegebenen  Anregung,  ein  Arbeitersekretariat  zu 
crründen,&  scheint  die  Parteileitung  nicht  nachkommen  zu 
wollen,  sie  lässt  wohl  vom  Parteivorstande  die  nothwendigen 
Arbeiten  des  Arbeitersekretariats  ausführen. 

Von  zwei  Seiten  schien  der  deutschen  sozialdemokra- 
tischen Partei  die  Gefahr  einer  Spaltung  zu  drohen,  von 
Seiten  Vollmar’s,  der  die  Nothwendigkeit  einer  mehr  possi- 
bilistischen  Taktik,  von  Seiten  der  sogenannten  „Jungen“ 
rlip  pinp  im  Wortsinne  revolutionäre  laktik 


forderten. 

Der  Erfurter  recht  stark  besuchte  Kongress  der  1 artei 
hat  die  Anerkennung  der  bisher  geübten  Taktik  seitens 
Vollmar’s  und  das  Ausscheiden  der  „Jungen“,  welche  sich  als 
Partei  der  „unabhängigen Sozialisten“  konstituirten,  zur  folge. 
Diese  Fraktion  dürfte,  soweit  sich  dies  bis  jetzt  übersehen 
lässt,  der  Partei,  ihrer  Stärke,  Disziplin  und  Einigkeit  kaum 
irgendwie  gefährlich  werden.  _ 

Ausser  den  Berathungen  über  die  1 aktik  ist  die  Schat- 
fung  des  neuen  Parteiprogrammes  die  wichtigste  That  des 
Erfurter  Parteitages.  Dasselbe  wurde  nach  vielfacher  und 
eingehender,  oft  tiefer  Diskussion  in  der  Parteipresse,  nach 
vielfacher  Besprechung  in  hunderten  von  Versammlungen 
und  nach  Vorberathung  in  einer  Kommission  vom  Parteitage 
zu  Erfurt  ohne  Debatte  angenommen.  Es  bedeutet  nach 
prinzipieller  und  wissenschaftlicher  Hinsicht  einen  grossen 
Fortschritt  gegenüber  dem  seit  1875  in  Kraft  gewesenen 
Gothaer  Programme. 

Die  Parteibeiträge,  der  Besuch  der  Versammlungen, 
die  Betheiligung  an  den  Wahlen  können  wegen  der  sich 
immer  ungünstiger  gestaltenden  Geschäftslage  schwächer 
werden  als  in  den  letzten  zwei  Jahren.  Die  Gegner  der 
Sozialdemokratie  thäten  Unrecht,  aus  solchen  Aeusserlich- 
keiten  Schlüsse  auf  den  Rückgang  der  Sozialdemokratie  zu 
ziehen,  denn  das  Wachsthum  dieser  Partei  wird  trotz  diesei 
äusserlichen  Rückgänge  gerade  durch  den  schlechten  Oe- 
schäftsgang  nur  befördert  werden. 


i 

\ 


1 


! 


Die  Aufhebung  des  Koalitionsverbotes  für  die  ländlichen 
Arbeiter,  sowie  all  der  Bestimmungen  ^ in  Landesgesetzen, 
Provinzialgesetzen,  Statuten  u.  s.  w.  (Gesinde- Ordnungen), 
welche  die  ländlichen  Arbeiter  dem  Züchtigungsrecht  der 
Herrschaften  unterwerfen  und  sie  des  Rechtes,  wegen  Ehr- 
verletzung  zu  klagen,  berauben,  wird  von  der  sozialdemokrati- 
schen Reichstagsfraktion  demnächst  beantragt  werden.  Die 
Gleichstellung  des  Gesindes  und  der  ländlichen  Tagelöhner  mit 
den  crewerblichen  Arbeitern  muss  in  absehbarer  Zeit  sich  voll- 
ziehen. Es  wäre  ein  verdienstliches  Unternehmen,  die  gegen- 
wärtig bestehenden  Rechtsverhältnisse  der  deutschen  Lanct- 
arbeifer  und  Dienstboten  übersichtlich  und  mit  geschichtlicher 
Einleitung  darzustellen. 

Die  sozialdemokratische  Partei  der  Schweiz  hat  durch 

Beschluss  ihres  letzten  in  Olten  abgehaltenen  Kongresses  Basel 

als  Sitz  der  Centralleitung  bestimmt.  Vorsitzender  derselben 
ist  der  Basler  Grossrath  und  Redakteur  des  „Arbeitertreund 
E.  Wullschleger.  Auf  den  10.  Januar  hat  das  Parteikomitee 
in  Gemeinschaft  mit  dem  Bundeskomitee  des  schweizerischen 
Gewerkschaftsbundes  und  dem  Centralkomitee  des  schweize- 
rischen Griitlivereins  eine  Konferenz  nach  Zürich  einberulen, 
welche  die  für  die  Ausführung  der  Beschlüsse  des  internatio- 
nalen Sozialistenkongresses  von  1890  nöthigen  Massnahmen, 
namentlich  betr.  die"  Anordnung  des  nächsten  internationalen 
Arbeiterkong-resses,  beschliessen  soll. 


*)  Die  Zahlen  beziehen  sich  auf  die  in  der  Zeit  vom 
20.  Februar  1890  bis  Mitte  August  1891  vorgenommenen  Nach- 
wahlen. 


No.  1. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


13 


Die  galizisch-jiidischen  Arbeiter  mul  der  Sozialismus. 

Die  sozialistische  Bewegung  in  den  galizischen  Städten  hat  in 
den  letzten  Jahren  einen  unvermutheten  Aufschwung  genommen : 
in  Lemberg  macht  der  sozialistische  Arbeiterverein  Sila  (Die 
Kraft),  der  über  1000  Mitglieder  zählt,  den  katholischen  und 
jüdischen  Arbeitervereinen  so  erfolgreich  Konkurrenz,  dass 
diese  bald  nur  noch  ein  Scheindasein  fristen  dürften.  Auffallend 
ist,  dass  der  Sozialismus  im  jüdischen,  jeder  revolutionären 
Neigung  und  Tradition  baaren  Proletariate  rasche  Fortschritte 
macht.  Der  Verein  Sila  zählt  über  200  jüdische  Mitglieder,  für 
welche  eigene  Diskussionsabende  eingeführt  sind.  Aehnlich 
wie  in  London  und  New- York  wird  demnächst  auch  in  Lemberg 
ein  speziell  für  die  national-jüdischen  Proletarier  bestimmtes 
Organ  in  deutscher  Sprache,  aber  hebräischen  Lettern  unter 
dem  Titel  „Hoemeth“  (die  Wahrheit),  herausgegeben  werden. 


Unteriielmierverbäiule. 


Der  Ausstands-Versicherungsverband  des  Oberberg- 
anitsbezirkes Dortmund,  welcher  nach  dem  jüngsten 
Berichte  des  Vereins  für  die  bergbaulichen  Interessen 
105  Zechen  mit  der  Förderung  von  30  975  847  Tonnen 
Kohlen  umfasst,  zeigt,  wie  die  Unternehmer  gegen  die 
Arbeiterbewegung  Deckungs-  und  Angriffswaffen  bereit 
halten.  Das  Gesammtvermögen  des  Verbandes,  welcher 
die  Mehrzahl  der  Werke  und  über  4/s  der  gesammten 
Förderung  in  sich  begreift,  betrug  1 454  924  Mk.  Im  Jahre  1891 
sind  an  Entschädigungen  230  000  Mk.  gezahlt  worden. 
Weil  die  Zeche  „Blankenburg“,  obwohl  sie  durch  den 
Verband  gestützt  war,  die  Forderungen  der  Bergleute  er- 
füllte, ist  in  das  Verbandsstatut  folgende  Bestimmung  auf- 
genommen worden:  „Der  Anspruch  auf  Schadenersatz  der 
von  einem  Ausstand  betroffenen  Zeche  wird  hinfällig,  wenn 
die  Beendigung  des  Ausstandes  dadurch  herbeigeführt 
wurde,  dass  die  von  demselben  betroffene  Zeche  die  von 
der  Belegschaft  erhoben  gewesenen  Forderungen,  deren 
Ablehnung  den  Ausstand  veranlasste,  nachträglich  voll- 
ständig oder  im  Wesentlichen  anerkannt  hat,  oder  wenn 
die  Beendigung  des  Ausstandes  durch  Massnahmen  der 
Zechenverwaltung  herbeigeführt  wurde,  welche  im  regel- 
mässigen, durch  den  Ausstand  nicht  unterbrochenen  Betrieb 
nicht  stattgefunden  haben  würden.“  So  wenig  den  Unter- 
nehmern das  Recht  auf  solche  Schutz-  und  Trutz  vereine 
bestritten  werden  kann,  so  einleuchtend  ist  es  auch,  dass 
als  Gegengewicht  und  natürliche  Gegenwirkung  die 
Berufsverbände  der  Arbeiter  auf  hoher  Stufenleiter  ins 
Dasein  treten  müssen  Ausgleiche  oder  Auseinandersetzung 
zwischen  zwei  Mächten,  nicht  der  Kampf  einer  starken 
Einung  gegen  Zersplitterung  und  Ohnmacht,  darauf  tendirt 
die  gegenwärtige  Entwickelung. 

Feinblech-Grossgewerbe.  Wie  die  „Köln.  Volksztg.“  mit- 
theüt,  ist  der  Versuch,  einen  westdeutschen  Feinblech- 
Verband  zu  begründen,  endgültig  gescheitert,  da  eine  Anzahl 
grosserer  Werke  nicht  beigetreten  sind.  Dieser  Misserfolg  wird 
den  Zusammenschluss  zu  einem  Kartell  auf  die  Dauer  nicht  ver- 
hindern können,  da  gerade  in  dieser  Industrie  die  Zustände  auf 
eine  Zusammenfassung  der  Kräfte  hindrängen.  Angesichts  der 
wilden  Preisschleuderei,  welche  unstreitig  die  Stillsetzung  oder 
Betriebs-Einschränkung  einer  Reihe  von  Unternehmungen  her- 
beiführen wird,  ist  es  eine  Frage  der  Zeit,  wann  eine  Verein- 
barung zu  Stande  kommen  wird. 


Arbeitersclnitzgesetzgelmiig. 


Arbeitsschutz  in  der  Hausindustrie.  Aus  den  Haupt- 
sitzen der  schweizerischen  Strohflechterei  kommen  in  jüng- 
ster Zeit  Berichte  über  den  flotten  Geschäftsgang.  Em 
bezeichnendes  Pendant  hierzu  liefert  dann  aber  der  Nach- 
satz  dass  man  bis  tief  in  die  Nacht  hinein  Frauen  und 
Kinder  an  der  Arbeit  sehe.  In  der  That  findet  wohl  nir- 
; genas  eine  so  übermässige  Ausbeutung  der  Frauen-  und 
Kinderarbeit  statt,  als  gerade  in  dieser  Hausindustrie.  Die 
Folgen  bleiben  nicht  aus.  Bereits  in  den  60  er  fahren  fand 
sich  ein  Bezirksarzt  im  aargauischen  Freiamt,'  einem  der 
i ^auptsitze  der  Strohindustrie,  veranlasst,  die  Regierungs- 


direktion des  Innern  auf  die  abnorme  Sterblichkeit  der 
Kinder  des  ersten  Jahres  in  jener  Landesgegend  aufmerk- 
sam zu  machen.  Es  wurde  damals  konstatirt,  dass  die 
Sterblichkeit  der  Kinder  dort,  mit  Ausnahme  von  Bayern  und 
Sachsen,  höher  als  irgendwo  in  der  Welt  stehe.  Merkwür- 
digerweise kam  aber  Niemand  auf  den  Gedanken,  dass 
diese  Sterblichkeit  im  Zusammenhang  stehen  könne  mit  der 
Hauptbeschäftigung  des  weiblichen  Theiles  der  Bevölkerung, 
sondern  man  suchte  die  Ursache  im  Mangel  an  gehöriger 
ärztlicher  Pflege  und  an  tüchtigen  Hebammen.  Und  heute 
noch  bestehen  leider  die  gleichen  Missverhältnisse.  Die 
Strohindustrie  hat  mittlerweile  sich  auch  im  aargauischen 
Frietsthale  festgesetzt  und  kaum  besteht  sie  dort,  so  wird 
auch  hier  „gerühmt“,  dass  Frauen  und  Kinder  bis  tief  in 
die  Nacht  arbeiten.  So  schwierig  es  ist,  so  wird  doch  der 
Staat  hier  interveniren  müssen,  denn  es  kann  ihm  nicht 
gleichgültig  sein,  ob  die  Mütter  infolge  übergrosser  Arbeits- 
anstrengung  keine  hinreichende  Zeit  zur  gehörigen  Wartung 
und  Pflege  der  Kinder  finden,  zum  Mutterberuf  überhaupt 
unfähig  werden.  Zudem  ist  es  gewiss  Pflicht  der  Behörden, 
über  das  Loos  der  kommenden  Generation  zu  wachen,  das 
körperliche  und  sittliche  Gedeihen  der  Jugend  zu  schützen, 
zu  verhüten,  dass  die  Kinder  überanstrengt  und  in  ihrer  Er- 
ziehung schwer  vernachlässigt  werden.  Die  Kinder  haben 
vollen  Anspruch  an  den  Schutz  der  Behörden,  damit  sie 
über  die  ihnen  unentbehrliche  Gesundheit,  Stärke  und 
Willenskraft  verfügen  können. 

Fabrikgesetzgebung  in  Ostindien.  Am  1.  Januar  1892 
tritt  ein  neues  Arbeiterschutzgesetz  in  Ostindien  (East  India 
Factory  Act  No.  XI)  in  Wirksamkeit,  welches  trotz  seiner 
grossen  Lücken  doch  zum  ersten  Male  den  Forderungen 
jener  schwer  bedrückten  indischen  Arbeiter  gerecht  wird, 
welche  die  junge  Textilindustrie  in  Bombay,  Ahmedabad 
und  Calcutta  sich  dienstbar  gemacht  hat.  Eine  halbstündige 
Ruhepause,  Verbot  der  Sonntagsarbeit  (ausser  für  Maschinen- 
reparatur oder  nothwendigerweise  ununterbrochenen  Be- 
trieb); 11  stündiger  Maximalarbeitstag  und  anderthalbstün- 
dige  Ruhepause  für  Frauen;  Verbot  der  Verwendung  von 
Kindern,  welche  das  Alter  von  9 Jahren  noch  nicht  erreicht 
haben,  der  Nachtarbeit  (8  Uhr  Abends  bis  5 Uhr  Morgens)  und 
der  Verwendung  durch  mehr  als  7 Stunden  täglich  für  unter 
14jährige,  — diese  neuen  Hauptbestimmungen  sind  in  Ost- 
indien auf  den  heftigsten  Widerstand  der  Unternehmer 
gestossen,  und  eine  in  der  objektivsten  Weise  vorgehende 
Untersuchungskommission  ist  von  der  indischen  Presse  fast 
verunglimpft  worden.  Die  Fabrikanten  entsendeten  sogar 
auf  eigene  Kosten  einen  indischen  Arzt  zum  letzten  im 
August  zu  London  tagenden  Kongresse  für  Demographie 
und  Hygiene,  um  dort  zu  erklären:  es  ginge  nicht  an,  von 
der  bisherigen  Tagesordnung  des  indischen  Arbeiters  abzu- 
weichen und  feste  Stunden  zu  fixiren  — bis  dahin  hatte  im 
Bezirke  Bombay  der  Arbeitstag  von  Sonnenaufgang  bis 
Sonnenuntergang  gedauert,  wo  elektrisches  Licht  eingeführt 
ist,  auch  länger,  d.  h.  bis  achtzehn  Stunden!  — denn  der 
indische  Arbeiter  kenne  nicht  die  Uhr.  Ferner:  der  ostin- 
dische Arbeiter  sei  langsamer  als  der  europäische,  erlaube 
sich  häufige  Unterbrechungen,  er  absentire  sich  häufig  und 
setze  dann  einen  Ersatzmann  an  seine  Arbeit.  Mit  Recht 
weist  diesen  Behauptungen  gegenüber  Mr.  John  Rae  im 
Dezemberhelt  des  Economic  Journal,  p.  805  darauf  hin,  dass 
die  von  den  Partisanen  der  indischen  Antischutzbewegung 
vorgebrachten  Argumente  ihre  Spitze  gegen  dieselben 
kehren:  denn  die  Eigenschaften,  welche  sie  an  dem  indischen 
Arbeiter  rügen,  treten  bei  jeder  Industrie  zu  Tage,  welche 
die  Arbeitszeit  ins  Maaslose  verlängert,  und  sina  noch  von 
jeder  die  Arbeitszeit  normirenden  Gesetzgebung  gemildert 
worden.  Das  Mittel,  dessen  sich  die  Fabrikanten  von  Bombay 
bedienten,  um  die  Gesetzgebung  zu  hintertreiben,  bestand 
darin,  dass  sie  die  Entlassung  von  1000  weiblichen  Arbeits- 
kräften den  englischen  Arbeiterfreunden  in  bedrohliche 
Aussicht  stellten.  Indessen  ist  es  wahrscheinlich,  dass  durch 
Einführung  zwei-  und  dreifacher  Schichten  die  ostindische 
Textilindustrie  denjenigen  Gewinn  wird  ziehen  können,  der 
ihr  nur  durch  einen  in  vielen  Fällen  skandalösen  Missbrauch 
menschlicher  Arbeitskraft  bisher  beschieden  war. 

Ein  neues  Fabrikgesetz  in  Neuseeland  wird  am  1.  Januar 
1892  in  Krait  treten.  Es  ist  dem  der  Kolonie  Victoria  nach- 
gebildet (vgl.  Stefan  Bauer,  Jahrbücher  für  National-Oekonomie, 
3.  F.,  2.  Bd„  S.  659  ff.),  enthält  aber  noch  fortgeschrittenere  Be- 
stimmungen über  Kinderarbeit  und  gesundheitliche  Massregeln. 

Ein  städtisches  Arbeitersekretariat  fordert  die  organisirte 
Arbeiterschaft  Nürnbergs,  der  grössten  Industriestadt  Bayerns. 


14 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  1. 


Die  Aufgaben  dieser  Einrichtung  werden  folgendennassen  be- 
zeichnet: „Rechtsschutz  und  Beistand  in  allen  gewerblichen 

Streitigkeiten,  in  Krankenkassen-,  Unfallversicherung;-  und 
Altersversorgungs-Angelegenheiten;  Beaufsichtigung  der  Aus- 
iührung  der  in  der  Gewerbeordnung  vorgeschriebenen  Arbeiter- 
schutzvorschriften in  den  Fabriken  und  Werkstätten;  statistische 
Aufnahmen  über  Betriebsunfälle  und  Krankheiten,  Lohn-,  Er- 
nährungs-  und  Wohnungsverhältnisse.  Zugleich  könnte,  wie 
vorgeschlagen  wird,  mit  einer  solchen  Centralstelle  der  Arbeits- 
nachweis und  die  Ausbezahlung  der  Reiseunterstützung  ver- 
bunden werden.“  Der  Gedanke  ist  ein  gesunder:  es  ist  nur  die 
Frage,  ob  es  nicht  rathsamer  ist,  an  Stelle  städtischer  Sekretariate 
grössere  Gebiete  einem  Sekretariat  zu  unterstellen  oder  die 
städtischen  Bureaux  als  Zweiganstalten  einer  Zentralstelle  ein- 
zurichten. Die  Gewerbepolizei  und  die  soziale  Statistik  werden 
durch  derartige  Institute  erheblich  gefördert  Liegt  die  letztere 
in  Deutschland,  soweit  amtliche  Thätigkeit  in  Frage  kommt, 
überhaupt  fast  völlig  brach,  so  leidet  die  Kontrolle  der  Durch- 
führung des  Arbeiterschutzes  seitens  der  Ortspolizeibehörden  an 
den  bekannten  Jahr  für  Jahr  in  den  Fabrikinspektionsberichten 
gerügten  Mängeln. 


Gewerbeinspektion. 


Die  neuesten  deutschen  Inspektoratsberichte. 

Als  neueste  Stoffsammlung  vom  Gebiete  der  deutschen 
Fabrikinspektion  liegen  die  „Amtlichen  Mittheilungen  aus 
den  Jahresberichten  der  mit  Beaufsichtigung  der  Fabriken 
betrauten  Beamten.  XV.  Jahrgang  1890.  Mit  Tabellen  und 
Abbildungen.  Behufs  Vorlage  an  den  Bundesrath  und  den 
Reichstag  zusammenges teilt  im  Reichsamt  des  Innern“ 
(Berlin,  \V.  T.  Bruer,  1891,  XX  u.  367  Seiten,  6,75  Mk.) 
vor.  Diese  wegen  ihres  äusserlichen  Umfanges  so  viel 
versprechende  amtliche  Veröffentlichung  giebt  gleichzeitig 
Anlass,  Alles  dasjenige  zu  erwähnen,  was  zu  einer  pro- 
grammatischen Einleitung  dieser  Rubrik  dienen  kann. 

Im  Gegensatz  zu  der  englischen  bringen  die  deutschen 
Regierungen  die  Fabrikinspektorenberichte  noch  immer 
nicht  als  amtliche  Gratisdrucksache  oder  wenigstens  als 
ganz  billiges  Buch,  das  in  eigener  Regie  gedruckt  wird, 
zur  Veröffentlichung,  sondern  sie  unterlassen  die  separate 
Veröffentlichung  entweder  ganz  und  begraben  das  jährliche 
Originalreferat  in  ihren  Akten  (so  u.  W.  Hamburg,  Lübeck, 
Bremen,  die  Reichslande);  oder  sie  drucken  den  Jahres- 
bericht in  Amtszeitungen  mit  unhandlichem  Format  ab,  die 
über  den  eigenen  Kreis  ihres  Territoriums  überhaupt  nicht 
verbreitet  sind  (so  z.  B.  das  Königreich  Württemberg  im 
Stuttgarter  „Gewerbeblatte“,  das  Grossherzogthum  Hessen 
in  der  „Darmstädter  Zeitung“  und  das  Fürstenthum  Schwarz- 
burg-Rudolstadt mit  seinen  interessanten  Walltndustrien  in 
der  „Landeszeitung“) ; oder  endlich  sie  lassen  die  Referate 
ihrer  Aufsichtsbeamten  wohl  in  Buchform  erscheinen, 
aber  bei  privaten  Verlegern  und  zu  theuren  Preisen, 
welche  eine  zweckdienliche  Popularisirung  von  vorn- 
herein verhindern  (so  z.  B.  Preussen  von  1874  bis  1875  bei 
Decker,  1876  bis  1878  bei  Kortkampf,  1879  bis  1887  gar  nicht 
und  von  1888  an  wieder  bei  W.  T.  Bruer,  sämmtlieh  in 
Berlin,  Sachsen  bei  F.  Lommatzsch-Dresden,  Bayern  bei 
Th.  Ackermann-München).  Und  diesen  letzteren  Weg  schlägt 
man  auch,  wie  oben  aus  der  Titelangabe  ersichtlich,  beim 
Reichsamt  des  Innern  mit  der  Zusammenstellung  sämmtlicher 
deutscher  Inspektorenberichte  ein,  die  jedes  Jahr  viel  zu 
spät,  gewöhnlich  erst  im  November  oder  Dezember,  viel  zu 
theuer  und  viel  zu  unübersichtlich  und  kritiklos  über  das 
längst  abgelaufene  vorhergehende  Jahr  erscheint.  Soweit 
die  grossen  Mängel  dieser  Veröffentlichung,  welche  ausführ- 
lich im  „Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik“,  Bd.  3, 
S.  347  ff.  besprochen  wurden,  auf  Mängeln  der  einzelstaat- 
lichen Berichte  beruhen  (z.  B.  auf  dem  Fehlen  jeder  vollstän- 
digen Arbeiterstatistik  ausserhalb  Sachsens),  werden  sie  bei 
der  fortlaufenden  und  regelmässigen  Anzeige  der  letztge- 
nannten Referate  an  dieser  Stelle  zu  besprechen  sein.  Hier 
müssen jedoch  noch  eine  Reihe  vonSchwächen  der  „Amtlichen 
Mittheilungen“  erwähnt  werden,  die  zu  vermeiden  wären, 
trotzdem  die  zu  verarbeitenden  Einzelberichte  vielfach 
selbst  mangelhaft  sind. 

Nach  § 139  b Abs.  3 der  Gewerbeordnung  brauchte 
man  sich  überhaupt  nicht  auf  „Mittheilungen“  aus  den  Be- 
richten zu  beschränken,  sondern  könnte  die  etwa  sämmtlieh 
für  Rechnung  jedes  einzelnen  Staates  in  der  Reichsdruckerei 


billig  hergestellten  Originalreferate  dem  Bundesrath  und 
Reichstag  vorlegen;  die  so  entstehende  Gesammtausgabe 
könnte  dann  nach  Einzelstaaten  bezw.  Provinzen  so  zerleg- 
bar gemacht  werden,  wie  der  praktischere  Staatssekretär 
im  Reichspostamt  sein  Kursbuch  nach  Eisenbahnbezirken 
zerlegbar  hersteilen  lässt,  wonach  dann  freilich  jedes  einzelne 
Heftchen  um  ein  ganz  Geringes  zu  kaufen  sein  müsste.  Wenn 
man  aber  gegenwärtig  jeden  Bundesstaat  eine  besondere 
oder  auch  gar  keine  Druckerei  in  Bewegung  setzen  lässt, 
sodass  Bücher  der  verschiedensten  Form  für  hohe  Preise  ’ 
herauskommen,  und  wenn  man  dann  durchaus  einen  noch- 
maligen „Auszug“  veröffentlichen  will,  statt  den  einheitlich 
gedruckten  Einzeioriginalen  einfach  eine  zusammenfassende 
Einleitung  vorauszuschicken,  so  sollte  wenigstens  jetzt  schon 
für  eine  bessere  Disposition  in  diesem  Auszuge  und  für  eine 
mehr  in  die  Sache  eindringende  Redaktion  gesorgt  werden. 

Die  neuesten  „Amtlichen  Mittheilungen“  für  1890 
geben  wieder  Belege  für  die  mangelhafte  Disposition  und 
die  mangelhafte  Redaktion.  Sie  verschwenden  z.  B.  noch 
zehn  Seiten  auf  höchst  oberflächliche  Bemerkungen  der 
Beamten  über  den  „Stand  der  Industrie  und  des  Arbeits- 
marktes“, die  schon  sozialpolitisch  werthlos,  durch  die 
späte  Veröffentlichung  aber  auch  praktisch  belanglos 
werden;  und  sie  werfen  z.  B.  in  ihrem  V.  Hauptabschnitte  - 
Notizen  über  die  wirtschaftliche  Lage  der  Arbeiter  ausser- 
halb des  Arbeitsverhältnisses  mit  Angaben  über  Wohltahrts- 
einrichtungen,  deren  Zusammenhang  mit  dem  Arbeits- 
verhältniss  meist  sehr  augenfällig  ist,  so  systematisch  durch- 
einander, dass  die  Lektüre  der  betreffenden  fünfzig  Seiten 
zu  einem  völlig  sinnverwirrenden  Eindruck  führt.  Und 
vollends  die  sachgemässe  Redaktion!  Sie  weiss  niemals, 
wenn  in  einem  Jahre  etwa  Bemerkungen  über  einen  be- 
stimmten sozialen  Gegenstand  besonders  häufig  in  den 
Originalberichten  auftreten,  einen  neuen  Abschnitt  z.  B. 
mit  dem  Titel:  „Wohnungszustände“  zu  schaffen;  Alles,  was 
ihr  unter  die  Hände  kommt,  muss  jedes  Jahr  unter  die 
bureaukratisch  vorgezeichneten  Titel  gezwängt  werden. 
Und  selbst  die  Vertheilung  des  immer  wiederkehrenden 
Stoffes  unter  die  zutreffenden  Rubriken  wird  schlecht  be-  , 
sorgt.  Die  zweite  Unterabtheilung  des  I.  Abschnittes  han- 
delt z.  B.  wie  immer  so  auch  im  neusten  Bande  wieder 
von  der  „Thätigkeit  der  Aufsichtsbeamten“,  ihrem  Zu-  i 
sammenarbeiten  mit  den  Ortsbehörden  u.  s.  w.  Es  ist  dem  : 
Bearbeiter  der  „Amtlichen  Mittheilungen“  nun  noch  niemals  ; 
und  so  auch  im  neuesten  Bande  nicht  gelungen,  an  dieser 
Stelle  alle  Berichtsstellen  über  den  Werth,  die  I ragweite 
und  die  Mängel  der  ortspolizeilichen  Aufsicht,  sowie  über  ; 
das  Verhältnis  der  eigentlichen  Fabrikinspektion  zu  ihr  ; 
auch  nur  mechanisch  zu  sammeln.  Er  speist  den  Leser  an  , 
jener  Stelle  mit  zwei  apologetischen  Angaben  ab  und  lässt  I 
das  übrige  Material  dann  gelegentlich  der  Abschnitte  über  ; 
Kinderarbeit  u.  s.  w.  auftauchen.  Ob  wir  überhaupt  alles 
Material  „amtlich  mitgetheilt“  erhalten,  wenn  auch  an  un-  I 
richtiger  Stelle,  das  ist  ja  überdies  nicht  genau  kontrolirbar. 
Man  ermesse  an  diesen  Belegen  die  Brauchbarbeit  der 
„Amtlichen  Mittheilungen“  für  gewissenhafte  Sozialpolitiker. 

Nach  alledem  reduzirt  sich  der  brauchbare  Inhalt  der 
„Amtlichen  Mittheilungen“,  auch  ihres  neuesten  Bandes, 
auf  verhältnissmässig  wenige  Angaben.  Nicht  einmal  das 
gesammte  Personal  der  im  Jahre  1890  fungirenden  Aufsicht 
kann  man  mit  Einem  Blicke  feststellen.  Man  hat  sich  viel- 
mehr erst  auszuzählen,  dass  das  Deutsche  Reich  in  51  Aul- 
sichtsbezirke zerfällt,  von  denen  aber  zwei  in  Thüringen 
durch  einen  einzigen  Beamten,  und  der  von  Waldeck  und 
Pyrmont  von  einem  preussischen  Inspektor  mitbesorgt 
werden,  sodass  also  nur  49  Hauptbeamte  (in  Preussen 
„Gewerberäthe“)  und  daneben  (wenn  unsere  eigene  Addition 
stimmt,  der  amtliche  Bearbeiter  erspart  sich  dieselbe !)  un- 
gefähr 35  Hilfsbeamte  vorhanden  waren;  „ungefähr“  muss 
deshalb  gesagt  werden,  weil  Hamburg  die  Zahl  seiner 
Hilfsbeamten  nicht  einmal  zahlenmässig  angiebt,  sondern 
nur  von  „mehreren“  spricht.  Die  meisten  der  genannten 
Beamten  fielen  im  Berichtsjahr  noch  auf  Sachsen,  welches 
7 Inspektoren  und  1 8 Assistenten  beschäftigte  und  daneben 
, noch  7 chemische  Sachverständige  amtiren  Iiess.  Neuestens 
soll  sich  ja  bekanntlich  das  Zahlenverhältniss  zu  Gunsten 
Preussens  ve~schieben.  Nach  der  im  „Archiv  für  soziale  Ge- 
setzgebung und  Statistik“,  Band  IV,  S.  207  ff.,  näher  be- 
sprochenen Denkschrift  über  die  Reorganisation  der  Gewerbe- 
aufsicht in  Preussen  sollten  im  Etatsjahre  1891/92  statt  der  bis- 
herigen 1 7 Gewerberäthe  und  1 1 Assistenten  bereits  1 7 Ge- 
werberäthe, 24  Inspektoren  und  23  Assistenten  fungiren,  diese 
Zahl  aber  im  Verlaufe  von  4 Jahren  so  gesteigert  werden, 


No.  1. 


SOZI  Al  l’<  )U TISCHES  CENyRALBLATT. 


15 


dass  nach  vollständiger  Durchführung  der  Reorganisation 
26  Gewerberäthe,  97  Inspektoren  und  40  Assistenten  vor- 
handen seien.  Es  ist  noch  nicht  genau  genug  bekannt,  ob 
man  diese  Zahlen  eingehalten  hat;  darüber  sind  Mitthei- 
lungen im  „Sozialpolitischen  Centralblatt“  vorzubehalten.  Da- 
gegen wurde  bekannt,  dass  man  in  der  Auswahl  der  neuen 
Beamten  nach  altem  bureaukratischen  Muster  vorging, 
namentlich  Bergassessoren  und  Aelmliche  bevorzugte,  Aerzte 
und  Sozialpolitiker  ganz  beiseite  Hess  und  z.  B.  dem  Berliner 
Gewerberath,  der  bereits  „Major  a.  D.“  ist,  einen  „Premier- 
lieutenant a.  D.“  zur  Unterstützung  beigab.  Nach  Preussen 
hat  sodann  Bayern  in  den  Etat  für  1892/93  zu  seinen  vier 
alten  Inspektoren  4 neue  Stellen  eingestellt  und  genehmigt 
erhalten.  Näheres  hierüber  ist  nicht  bekannt  geworden. 
Die  Zahl  der  im  einzelnen  Inspektionsbezirk  während  des 
Berichtsjahres  vorgenommenen  Fabrikrevisionen  variirt 
ausserordentlich;  das  Maximum  wurde  im  Bezirk  Hamburg 
mit  2886  Revisionen,  das  Minimum  im  Bezirk  Lübeck  mit 
93  Revisionen,  wenn  man  von  den  Zwergbezirken  Sig- 
maringen, sowie  Waldeck  und  Pyrmont  absieht,  erreicht. 
Aber  nur  in  Sachsen  ist  an  der  Hand  dieser  Zahlen  die 
Intensität  der  Inspektion  kontrolirbar,  weil  von  dort  allein 
regelmässige  Angaben  über  die  Ziffern  der  revisionsbedürf- 
tigen Anlagen  vorliegen,  nicht  aber  aus  den  anderen  Be- 
zirken, eine  Thatsache,  über  welche  jedoch  die  „Amtlichen 
Mittheilungen“  stillschweigend  hinweggehen.  Zahlenmässige 
Angaben  über  die  ortspolizeilichen  Revisionen  werden  nur 
aus  ganz  vereinzelten  Bezirken  gemacht  und  lassen  lediglich 
erkennen,  dass  auch  diese  Inspektionsthätigkeit  sehr  un- 
gleichmässig  ausgeübt  wird.  Während  z.  B.  der  Beamte 
für  den  Bezirk  Dresden  „eine  besondere  Thätigkeit  der 
Ortspolizeibehörden  nur  in  einigen  Städten  bemerkte“,  und 
in  Meissen  ganze  22  solcher  Fälle  festgestellt  wurden, 
absolvirte  die  Berliner  Ortspolizei  nicht  weniger  als 
61  440  Revisionen  in  3948  Fabriken. 

Nach  der  nur  alle  2 Jahre,  immer  in  der  geraden 
Jahreszahl,  also  auch  wieder' 1890  vorgenommenen  Zählung 
der  kindlichen  und  jugendlichen  Arbeiter  waren  im  Berichts- 
jahre in  deutschen  Fabriken  27  485  Kinder  im  Alter  von 
12 — 14  Jahren  und  214  252  jugendliche  Arbeiter  im  Alter 
von  14 — 16  Jahren  beschäftigt,  was  gegen  1884,  wo  die  erste 
zuverlässige  Zählung  stattfand,  eine  Zunahme  von  47  bezw. 
60  "/0  bedeutet.  Den  Vergleich  mit  1884  hüten  sich  aber 
die  „Amtlichen  Mittheilungen“  sorgfältig  zu  ziehen.  Bei 
einzelnen  Industriegruppen  ist  das  prozentuale  Anwachsen 
der  jugendlichen  Arbeit  noch  viel  stärker,  vor  Allem  in  der 
Industrie  der  Steine  und  Erden,  Papier  und  Leder,  Holz- 
und  Schnitzstoffe.  Darüber,  ob  diese  auffälligen  Thatsachen 
etwa  mit  der  Einführung  neuer  Maschinen  oder  Aehnlichem 
in  den  betreffenden  Gewerben  Zusammenhängen,  vermisst 
man  jegliche  Auskunft  im  amtlichen  Bericht.  Und  das 
Wichtigste,  Angaben  über  das  variirende  Verhältniss  der 
jugendlichen  Arbeiter  zu  den  erwachsenen,  ist  ebenfalls 
nur  ganz  lückenhaft  vorhanden.  Danach  ist  das  Missver- 
hältnis besonders  krass  gewesen  in  den  ländlichen  In- 
dustriebezirken Thüringens,  wo  von  je  100  Arbeitern  über- 
haupt bereits  10  kindliche  oder  jugendliche  waren.  Aber 
„kindlich“  und  „jugendlich“  ist  hier  wieder  nicht  getrennt, 
und  welchen  Antheil  die  weibliche  Arbeit  an  der  Zunahme 
der  „Arbeiter  überhaupt“  hat,  lässt  sich  auch  nur  stellen- 
weise übersehen,  nämlich  in  den  sächsischen  Bezirken, 
sowie  in  ^ Hamburg,  Lübeck,  Schleswig  und  Merseburg- 
Erfurt.  Von  diesen  Distrikten  zeichneten  sich  zwei,  Dres- 
den (-J-  12,3%)  und  Lübeck  durch  unverhältnissmässige 
Zunahme  der  F rauenarbeit  aus,  und  in  ihnen  wuchs  auch 
die  Zahl  der  kindlichen,  sowie  der  jugendlichen  Arbeiter 
von  8,1  bezw.  4,7  auf  8,4  bezw.  5 % der  Arbeiter  überhaupt; 
die  anderen  der  genannten  Bezirke  wiesen  wenigstens  keine 
unverhältnissmässige  Vermehrung  der  Frauenarbeit  auf,  über 
die  40  übrigen  Bezirke  des  Deutschen  Reichs  aber  erfahren 
wir  nichts  Genaues  nach  dieser  Richtung.  Im  Uebrigen 
befolgte  die  Redaktion  der  „Amtlichen  Mittheilungen“  auch 
ttir  das  Jahr  1890  das  alte  Rezept:  zu  jedem  Gegenstände 
zunächst  und  vor  Allem  „festzustellen“,  dass  sich  nach  den 
Beobachtungen  „zahlreicher“,  oder  „vieler“,  oder  „sehr 
vieler“  Beamten  die  oder  jene  Beschäftigung  in  den  „ange- 
messenen“  Grenzen  bewegte;  diese  laudatio  temporis  prae- 
•sentis  fehlt  fast  nirgends;  und  erst  als  kleiner,  unvermeid- 
licher, aber  doch  höchst  nebensächlicher  Anhang  zu  jener 
Feststellung  kommt  dann  die  Anführung  einzelner  Fälle, 
in  denen  es  nicht  „angemessen“,  nicht  „gesetzlich“  zuging! 
Dadurch  erhalten  die  „Amtlichen  Mittheilungen“  durchweg 
das  Ansehen  eines  Musterberichts  über  Musterzustände  mit 


einigen  kleinen  Flecken,  die  aber  die  Pracht,  die  Ordnung 
und  Sitte  im  Ganzen  nur  erhöhen,  ähnlich  wie  Schönheits- 
pflästerchen ein  hübsches  Gesicht.  Zusammen  fassend  kann 
der  objektive  Beurtheiler  nur  dringend  davor  warnen,  auf 
den  Zusammenhang,  in  welchem  die  „Amtlichen  Mitthei- 
lungen“ eine  soziale  Thatsache  bringen,  auch  nur  das  Ge- 
ringste zu  geben.  In  den  meisten  Fällen  muss?  erstens 
aut  den  Zusammenhang  im  einzelstaatlichen  Originalbericht 
| und  dann  diesem  gegenüber,  der  oft  ebenfalls  keineswegs 
unbefangen  ist,  auf  eine  Nachprüfung  an  der  Hand  anderer 
Hilfsmittel  zurückgegangen  werden.  Und  wenn  dies  für 
die  Angaben  aus  der  Fabrikarbeit  einfach  gilt,  so  gilt  es 
doppelt  für  alle  im  amtlichen  Bande  enthaltenen  Nach- 
richten über  das  häusliche  Leben,  die  Strikes,  Vereine  u.  s.  w. 
i der  Arbeiter. 

Reines  Quellenmaterial  sind  schliesslich  nur  die  dem 
amtlichen  Bande  im  Anhang  beigegebenen  Statuten  ver- 
schiedener Arbeiterausschüsse,  die  Spezialverordnungen 
einzelner  Behörden  für  besonders  gefährliche  Arbeiten,  für 
das  Schlafstellenwesen  u.  s.  w.  Wenn  mit  der  Wiedergabe 
solcher  Dokumente  bei  späteren  Bänden  noch  freigebiger 
verfahren  wird,  was  ausserordentlich  zu  wünschen  wäre, 
so  kann  es  mit  der  Zeit  gelingen,  aus  dem  Anhang  des 
amtlichen  Auszuges  ein  treffenderes  Bild  der  deutschen 
Arbeiterzustände  zu  konstruiren,  als  aus  dem  Texte  des- 
selben. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Ouarck. 


Arbeiterversicherung. 


Eine  Statistik  der  Unfälle  für  den  Kreis  der  landwirt- 
schaftlichen Berufsgenossenschaften  soll,  wie  der  „Reichs- 
anzeiger“  (No.  298,  Jahrg.  1891)  meldet,  ins  Werk  gesetzt 
werden.  Den  Anstoss  hierzu  hat  die  für  das  fahr  1887  auf 
Grund  besonderer  von  den  Vorständen  der  gewerblichen 
Berufsgenossenschaften  ausgefüllten  Zählkarten  im  Reichs- 
versicherungsamt bearbeitete  Statistik  der  entschädigungs- 
pflichtigen Unfälle  gegeben.  Nach  dem  amtlichen  Blatte  hat 
diese  Statistik  einen  so  günstigen. Funfluss  auf  die  Förderung 
der  Unfallversicherung  gehabt,  dass  das  Reichsversicherungs- 
amt zu  der  Aufnahme  einer  landwirtschaftlichen  Unfall- 
statistik aufgefordert  hat.  „ . . . . Es  lässt  sich,“  heisst  es, 
„mit  Sicherheit  annehmen,  dass  eine  Zusammenstellung, 
welche  sich  auf  die  während  eines  bestimmten  Jahres  fest- 
gestellten  entschädigungspflichtigen  Unfälle  der  gesammten 
Land-  und  Forstwirtschaft  erstreckt,  . . . berufen  wäre,  ein 
wertvolles  Material  ttir  die  Mittel  zur  Verhütung  von  Un- 
fällen aut  diesem  Gebiet  zu  sammeln,  auf  dem  es  an  ver- 
wertbaren Erfahrungen  noch  allzusehr  mangelt.“  Die  vom 
Reichsversicherungsamt  unmittelbar  abhängenden  land- 
wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften  und  fast  alle 
Landesversicherungsämter  haben  sich  für  den  Plan  ausge- 
sprochen; bis  zum  15.  Februar  d.J.  werden  die  ausgefüllten 
Zählkarten  zum  ersten  Male  eingesendet  werden. 

In  der  I hat  ist  es  von  grossem  Nutzen,  eine  genaue 
zahlenmässige  Uebersicht  auch  über  diese  Gruppe  von  Un- 
fällen zu  erhalten.  Gerade  in  den  landwirtschaftlichen 
Betrieben  ist  die  Ziffer  der  schweren  Unfälle  eine  ausser- 
ordentlich hohe,  wie  u.  a.  ein  Blick  in  die  letzten  preussi- 
schen  Fabrikinspektorenberichte  zur  Genüge  beweist.  Aus 
den  Provinzen  Ost-  und  Westpreussen  z.  B.  wird  gemeldet, 
dass  „in  der  Zahl  der  Todesfälle  und  der  von  einer  mehr 
als  13  wöchentlichen  Erwerbsunfähigkeit  begleiteten  Ver- 
letzungen die  landwirtschaftliche  Berufsgenossenschaft 
. . . allen  anderen  Berufsgenossenschaften  voransteht“;  das 
Gleiche  wird  aus  Posen  gemeldet.  „Die  Arbeitgeber,“ 
heisst  es  im  Königsberger  Bericht , „zeigen  im  Allge- 
meinen freundliches  Entgegenkommen  und  Bereitwillig- 
keit gegenüber  den  zum  Wohle  und  Schutze  der  Ar- 
beiter getroffenen  Anordnungen  Nur  in  den  mit  der  Land- 
wirtschaft im  Zusammenhänge  stehenden  Betrieben,  und 
besonders  in  der  I .and Wirtschaft  selbst,  begegnet  man 
noch  zu  häufig  einer  Gleichgültigkeit  und  Sorglosigkeit, 
sodass  man  sich  über  die  Zahl  und  die  Bedeutsamkeit  der  an 
landwirtschaftlichen  Maschinen  eingetretenen  Unfälle  kaum 
verwundern  kann.“  Mit  der  verantwortungsreichen  Be- 
wertung der  Dampfkessel  werden  Leute  betraut,  „die  sich 
nicht  einmal  bei  den  gewöhnlichen  Arbeiten  der  Land- 


16 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  1. 


wirthschaft  tauglich  erwiesen  haben“  (Jahresberichte  der 
kgl.  preussischen  Gewerberäthe,  1890,  S.  4,  10,  13,  14,  66). 
Im  Aufsichtsbezirk  Pommern  entfielen  von  2365  zur  Kennt- 
niss  der  Fabrikinspektion  gelangten  Unfällen  mindestens 
700  auf  die  land-  und  forstwirthschaftliche  Berufsgenossen- 
schaft (a.  a.  O.  S.  56). 

Neben  altfränkischen  Einrichtungen  gröbliche  Fahr- 
lässigkeit, Mangel  an  einfachsten  Schutzmassregeln,  Indolenz 
und  Gleichgültigkeit  gegen  die  Sicherung  der  Arbeiter:  das 
sind  Erscheinungen,  welche  aut  das  Entschiedenste  bekämpft 
werden  müssen.  Es  ist  deshalb  die  beabsichtigte  Aufnahme 
als  Mittel  zu  einer  umfassenderen  Erkenntniss  des  Sach- 
verhaltes willkommen  zu  heissen.  Aber  die  Erhebung  krankt 
daran,  dass  sie  nicht  von  Amtswegen  für  das  ganze  Reich 
erhoben  wird,  dass  keine  Vorschrift  die  scharfe,  erschöpfende 
Durchführung  solch  eines  Unternehmens  gewährleistet.  Es 
fehlt  der  gesetzliche  Zwang,  es  fehlt  vor  allem  die  Centra- 
lisation  des  Versicherungswesens,  das  pärtikularistisch  zer- 
splittert ist,  anstatt  von  Reichswegen  von  einem  Mittelpunkte 
aus  geleitet  und  geordnet  zu  sein.  Um  die  Ergebnisse  der 
Statistik  für  die  Unfallverhütung  nutzbar  zu  machen,  muss 
in  erster  Reihe  die  Aufsicht  über  die  Betriebe  eine  weit  pein- 
lichere, ausgedehntere,  häufigere  sein,  müssen  die  besten 
und  praktischsten,  d.  h.  für  die  Arbeiter  brauchbarsten 
Schutzmittel  und  alle  Maassregeln  zu  Gunsten  der  grössten 
Betriebssicherheit  obligatorisch  vorgeschrieben  und  einge- 
führt werden.  Strenge  Strafen,  welche  den  Unternehmer, 
der  gegen  die  Vorschriften  sich  verfehlt,  ernstlich  treffen, 
dürfen  gleichfalls  nicht  fehlen.  Und  es  ist  ein  unseres  Er- 
achtens Glücklicher  Vorschlag  des  Stettiner  Gewerberathes 
Ecker,  dass  die  Maschinenfabrikanten  bei  Strafe  gesetzlich 
zu  verpflichten  seien,  alle  erforderlichen  Schutzvorrichtungen 
an  den  von  ihnen  gelieferten  Maschinen  anzubringen. 

Berlin.  Bruno  Schoenlank. 

Wolmungszustände  und  Wolinuugs- 
gesetzgebiuig. 

Wo’nnungszusiände  auf  dem  Lande. 

In  der  grossen  Rede,  mit  welcher  der  Reichskanzler 
von  Caprivi  die  Debatte  über  die  Handelsverträge  ein- 
leitete, wurde  von  ihm  sehr  mit  Recht  ein  gesundes  Fami- 
lienleben als  „die  Quelle  der  Kraft  und  des  Gedeihens  des 
Staates  in  körperlicher  und  sittlicher  Beziehung“  gepriesen. 
Für  eine  entsprechende  Entwicklung  des  Familienlebens 
sei  aber  auf  dem  Lande  weit  mehr  die  Möglichkeit  als  in 
der  Stadt  gegeben.  Und  auch  insofern  rechtfertige  sich 
also  der  Schutz  der  Landwirthschaft  im  Interesse  des 
Staates  u.  s.  w.  Wenn  man  die  Auffassung  vertritt,  das 
Land  biete  einen  besseren  Boden  für  das  Gedeihen  des 
Familienlebens  als  die  Stadt,  so  stützt  man  diese  Meinung 
sicher  auch  darauf,  dass  auf  dem  Lande  die  Wohnungs- 
verhältnisse vorteilhaftere  seien,  und  daher  das  Familien- 
leben  weniger  bedroht  würde.  Diese  Annahme  dürfte  im 
grossen  Publikum  allgemein  gemacht  werden.  Dennoch 
ist  sie  mit  den  Thatsachen  schwer  in  Einklang  zu  setzen. 
Sie  findet  selbst  in  einem  Lande  keine  Bestätigung,  in  dem 
der  kleinere  und  mittlere  bäuerliche  Besitz  weitaus  über- 
wiegt, und  der  eigentliche  ländliche  Proletarier  als  eine 
vergleichsweise  seltene  Erscheinung  dasteht,  geschweige 
denn  in  den  mit  Rittergütern  bedeckten  Gebieten  des 
östlichen  Deutschlands.  Im  Grossherzogthum  Baden  wer- 
den bei  den  Volkszählungen  allgemein  auch  die  Wohnungs- 
zustände ermittelt,  so  dass  man  sich  über  die  auf  dem 
Lande  herrschenden  Wohnungsverhältnisse  zahlenmässig 
bestimmte  Vorstellungen  bilden  kann.  Die  Ergebnisse  der 
Aufnahme  von  1885  lassen  nun  die  Wohnungszustände  auf 
dem  Lande  in  gewissem  Sinne  sogar  noch  dunkler  er- 
scheinen als  die  städtischen. 

Fassen  wir  Haushaltungen  in’s  Auge,  welche  nur  über  j 
Einen  Wohnraum  verfügen,  so  wird  man  wohl  von  einer 
ungenügenden,  das  Familienleben  unterbindenden  Befrie- 
digung des  Wohnungsbedürfnisses  sprechen  können,  wenn 
in  diesem  einen  Wohnraume  4 — 5,  6 — 10,  oder  gar  11  und 
mehr  Personen  wohnen.  Ferner  werden  als  nachteilige 


Wohnungsverhältnisse  diejenigen  gelten  müssen,  welche  für 
6 — 10  oder  II  und  mehr  Personen  nur  zwei,  oder  für  11 
und  mehr  Personen  nur  drei  Wohnräume  gewähren.  Ueber 
die  Verbreitung  dieser  Zustände  gibt  folgende  Tabelle 
Auskunft: 


1 1 1 d i 
Stadt- 
g meinde 

In  der 
Land- 
gemeinde 

Im  Gross- 
herzog- 
thum 

Haushaltungen  mit  1 Wohnraum  und 

4 — 5 Personen  . . . 3 797 

8 297 

12  094 

6—10  „ ...  1 682 

4 757 

6 439 

1 1 und  mehr  Personen  34 

53 

87 

Haushaltungen  mit  2 Wohnräümen  und 

6 — 10  Personen  . . . 7 526 

22  374 

29  900 

11  und  mehr  Personen  129 

449 

578 

Haushaltungen  mit  3 Wohnräümen  und 

1 1 und  mehr  Personen  278 

676 

954 

13446 

36  606 

50  052 

Da  in  Baden  insgesammt  331  083  Haushaltungen  ge- 
zählt wurden,  wovon  109  497  auf  die  Stadt-,  221  586  auf  die 
Landgemeinden  entfielen,  so  kann  man  sagen,  dass  15% 
der  Haushaltungen  überhaupt  unbefriedigende  Wohnungs- 
zustände aufweisen.  Während  aber  in  den  Stadtgemeinden 
nur  12  % der  Haushaltungen  über  eine  zu  geringe  Zahl 
von  Räumen  verfügten,  war  dies  auf  dem  Land  bei  16,5% 
der  Haushaltungen  der  Fall.  Leider  gestatten  die  statisti- 
schen Nachweise  nicht,  die  Zahl  der  Personen  genau  zu 
ermitteln,  welche  in  diesen  Haushaltungen  sich  befanden. 

Nun  kann  man  allerdings  geltend  machen,  dass  die 
Zahl  der  Personen,  welche  auf  einen  Wohnraum  entfallen, 
nicht  allein  massgebend  ist  für  die  Beurteilung  der  Woh- 
nungszustände. Es  kommt  auch  die  Zahl  der  Haushaltungen 
in  Betracht,  die  in  einem  Hause  zusammen  leben.  Nach 
dieser  Hinsicht  aber  liegen  die  Verhältnisse  auf  dem  Lande 
unzweifelhaft  günstiger  als  in  der  Stadt.  Ein  Wohngebäude 
der  Stadtgemeinde  enthält  im  Durchschnitte  2,29  Haushal- 
tungen, eines  der  Landgemeinden  nur  1,32. 

Trägt  man  indess  auch  diesem  Einwande  Rechnung, 
so  wird  man  doch  zögern  müssen,  die  Zustände  auf  dem 
Lande  für  wesentlich  bessere  zu  erklären.  Auf  dem  Lande 
nicht  minder  wie  in  der  Stadt  bedroht  die  Wohnungsnoth 
den  Bestand  der  Familie,  und  daran  werden  Getreidezölle 
nichts  ändern.  Was  hier  wie  dort  noth  thut,  das  ist  eine 
gründliche  Wohnungsreform.  Nur  dann  wird  das  Familien- 
leben im  guten  Sinne  des  Wortes  erhalten  oder  wieder  her- 
gestellt werden  können.  Es  ist  schwer  zu  fassen,  dass  diese 
im  besten  Sinne  des  Wortes  konservative  und  staatserhaltende 
Reform  — denn  sie  ist  nichts  anderes  als  ein  Gebot  der 
Selbsterhaltung  — noch  immer  nicht  ernstlich  in  Angriff  ge- 
nommen wird.  Wie  wäre  es,  wenn  man  weniger  auf  die 
Vergrösserung  industrieller  Anlagen  bedacht  wäre,  für  deren 
Produkte  doch  alle  staatsmännische,  Handelsverträge 
schliessende  Weisheit  kaum  noch  lohnende  Märkte  erringen 
kann;  und  wenn  man  einmal  mehr  um  den  Bau  von 
Wohnungen  für  die  minder  bemittelten  Schichten  unseres 
Volkes  sich  kümmern  wollte? 

Freiburg  i.  B.  Heinrich  Herkner. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Adler.  Dr.  Victor,  Der  Paragraph  23  des  österreichischen 
Pressgesetzes  (Wiener  Politische  Volksbibliothek,  2.  Heft). 
Wien  1891,  Bretschneider.  8°.  40  S.  Preis  10  Kreuzer. 
Bauer,  Friedrich,  Kaiser  und  Arbeiter.  Aufruf  zur  Bildung 
einer  kaiserlich-sozialistischen  Partei.  Bonn  1891  F.  Hansteins 
Verlag.  8U.  158  S. 

Cathrein,  Victor  S.  J.,  Der  Sozialismus.  Eine  Untersuchung 
seiner  Grundlagen  und  seiner  Durchführbarkeit.  Fünfte, 
mit  Berücksichtigung  des  Erfurter  Programms  bedeutend 
vermehrte  Auflage.  Freiburg  i.  B.  1892.  Herder’sche  Ver- 
lagshandlung. XVI  und  196  S. 

Die  ötfentliclie  Fürsorge  für  die  unverschuldet  Arbeitslosen. 

Grundlinien  eines  Gesetzentwurfes  mit  Anmerkungen. 
München  1890.  Eduard  Pohl’s  Verlag.  811.  53  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 

Berlin,  den  4.  Januar  1892. 


Kür  den  Anzeigentheil  sind  die  Redaction  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Alleinige  Anzeigen-Annahmestellc  bei 
I)r.  < > 1 1 o Eysler,  Berlin  SW.,  Charlottenstrasse  11.  Anzeigenpreis  für  die  3 spaltige  Colonelzeile  40  l'f. 


Slmtlicf)  empfohlen!  £)aä  eittme  &Ber  t,  wdcfyeö  He  gef  amten 
^rkiternerfidjerung^gcfetje  in  fid)  bereinigt. 

$etf<J)ett*Äalettfcet4 


3 mit 


(ßi'lu'iimlji'  bei  ifliiöbßbiti  ber  libeiterDerinlieiiiiipiiefebe 

(&r«nfen=,  Unfall,  $nbalibität§s  unb  2llterei)erficf)erung) 

für  tm«  Jialjv  1892  itarfj  amflirijEit  jSueKeh  ptlammEitgrJMlt  unb  IjEEauspEgrlifn  nun 


ihifriftmum  (Oöijc 

©EfriräffefÜ^rEt  bEE  UtEgElEX-  EXpEblEEEttbEE  ^EftEEläE  itlt 

BEEufsgEttuflEnl'djafl.  REirfjs-DEEftdjEEUttgsamf. 

lliteittbebrltd)  für  ©cl)örben  (ber  ©vomitjett,  ©egievungobeatrfe,  Greife,  Ätreidaudfcfjufp 
©fitglieber,  ©fagiftrate  unb  ©enteiubesSBeljürbeit  tc.,  2lmt|gerid)te  int  ganzen  2)eutfd)eii  3ieid;e), 
©mifßgiuioffcnfdjnftcn  (©eitoffeiifd)aftd=  nnb  ©eftionduurftanbömitglieber,  ©etüraiteitömättnei:, 
sDf itgliebev  ber  6-tttid)äbigimgd=iye|'tfteHuiigbATuminif|'ioneii,  ©enoffenfdjaftd»  zc.  ©eamte),  ®d)iebiS; 
gcvidRc,  Äranfcttfaffcmjorftänbc,  Sianbunrtljc  rc. 


854  ©eitert.  ©reiö{  II.  „ cartonnirt 


6.25. 


Iperfrcr’fdje  ©erlagetjanblung,  fyreiburg  int  ©reisgau. 

3n  unferm  ©erläge  evfdjeiut  nnb  ift  btirdj  alle  ©iid)E)anbIungeu  311  bestellen: 

$ie  f acittle  Jyr  a g c 

beteuertet  burd)  bic  „Stimmen  anS  $JZaria=&aac()", 

S)ie  Jpeeaitdgabe  biefer  erftmald  in  ben  „Stimmen  and'  ©fariaVaad)"  oeröffentlid)teu 
2(bl)anMnngen,  roeldje  ftpon  hon  ber  37.  (fieneralbirfamntlimg  ber  Äatljolifen  S'futidjlnnbb 
3U  <Soblc«3  Wattn  empfohlen  uturbe,  erfolgt  Ijauptfädjlid)  mit  3{ncffid)t  auf  bie  päpftltd)e 
ISncljUifa  über  bte  'ilrbeiterfragc,  bereu  ruidjtigfte  Öetjren  in  jenen  Stbljanblnngen  betendjtet 
roerben.  ®te  iHnffätse  untrben  überarbeitet,  ergänzt,  gruppettrueife  georbnet  unb 
fallen  in  ber  neuen  Sammelaudgabe  einem  ermeiterten  üeferfreife  jug.äugltd)  gemad)t  roerben. 
Sie  ,s>vftc  finb  etnjcln  fäufüdj.  — Soeben  ift  erfd)ieuen: 

1.  4>eft:  ^)ie  ’5Uvbcttetfra<je  unb  bie  d)rtftlidj=ctf)tfctiett  «octalprincipien  ©on 
Sb*  9ttct)cr  S.  J.  8°.  (IV  u.  125  ©.)  ©t.  1. 

2.  -Ipeft:  ^Iibeitbüntraa  unb  Strife.  ©ou  91.  £d)mfui)l  s J.  8°.  (IV  u. 
56  S.)  50  ©f.  — 3"  ©orbereitung  befiuben  fid): 

Sic  focialc  ftrage  mtb  btc  Äird)e.  ©ou  2t.  Sdjtnfuljl  S.  J.  — Sie  ®oci als 
bcmoiratic  unb  bic  moberne  @taatßtbce.  ©ott  © ©adjtlcr  S.  J.  — Sic  focialc 
g-ragc  unb  bic  (Staatsgewalt,  ©on  21.  8el)tnful)l  S.  J.  — SaS  f^rioatgruxtbeigeu: 
tl)um.  ©ou  ©.  ßatljvein  S.  J.  — internationale  iKegclung  ber  foeiälen  g-ragc. 
©ou  2t.  Seljmfuljl  S.  J. 


Im  Verlage  von  Robert  Oppenheim 

(Gust.  Schmidt)  in  Berlin  S.W.  46  sind 

erschienen: 

■*ost,  •■..  Prof.  Dr.,  Musterstätten 
persönlicher  Fürsorge  von  Arbeit- 
gebern für  ihre  Greschäftsange- 
hörige».  Bd.  I.  Die  Kinder  und 
jugendlichen  Arbeiter,  gr.  8Ü.  XII 
u.  380  S.  mit  44  Abbildungen.  1889. 
geh.  M.  10.—,  geb.  M.  11.50. 

Patriarchalische  Beziehungen  in 

der  Grossindustrie.  Fünf  Briefe  an 
einen  Arbeitgeber.  (Sonderabdruck 
aus  „Musterstätten“  Bd.  I.)  gr.  8".  IV 
u.  86  S.  1889.  geh.  M.  1.50. 

May,  M..  Zehn  Arbeiter-Budgets, 

deren  sieben  nur  mit  Zuschüssen  des 
Arbeitgebers  balancieren.  Ein  Bei- 
trag zur  Frage  der  Arbeiterwohl- 
fahrtseinrichtungen. 36  S.  in  gr.  8Ü. 
geh.  M.  — .60. 

Scliaefer,  W.,  Prof.  Dr.,  Die  Un- 
vereinbarkeit des  sozialistischen 
Zukunftst.aates  mit  der  mensch- 
lichen Natur.  6.  Aufl.  80  S.  in  gr.  8°. 
geh.  M 1.— . 


$•  ©ttttentag,  ©erlag3bud)()anblung  in  ©erlitt. 


©efei)  betreffend  bie 

Unfallueifidjenittg  ber  Bet  bauten 
Befdjäftigteit  ^erffliteit. 

©om  11.  Sult  1887. 

(EejDTlusgabe  mit  TlnmerFungett 
8eo  aitugban, 

9)tagifivat§4tffeffor  3x1  Serltit. 
Safdjenforntat;  cart.  1 ©I.  25  ©f. 

LiranlunnterftdjeritugögerHji 

(Oom  15.  2>uni  1883. 
$ejt=s2luögabe  mit  31nmetautgeu 

UOlt 

®.  tum  roostifhE, 

Raifevl.  biet).  £>f>er=9tegterrmg§ratl),  uottvag.  Statt)  im  Dteidjg. 
amt  be-3  Snnetn. 

Slicvte  tllitfiage. 

Sfafdjenformat;  cart.  Sn  ©orbereitung. 


Soeben  gelangt  zur  Ausgabe: 

Verzeichniss  No.  1: 

Rechts-  u.  Staatswissenschaft. 

Etwa  1100  Nummern. 

Dasselbe  steht  auf  frankirtes  Verlangen 
gratis  und  franko  zu  Diensten.  Für  den 
Ankauf  ganzer  Bibliotheken  und  einzelner 
Werke  aus  dem  Gebiete  meiner  Specialität 
halte  ich  mich  empfohlen. 

Berlin,  N.  24,  Elsasserstr.  36. 

Hugo  Frankel, 

Antiquariat  für  Rechts-  u.  Staatswissenschaft. 


l®as  fjai  ber  Ufanbmann  Dort  ber 
^ojialbrmokraiiß  m ßrroarit'n? 
©reiö  25  ©f.,  20eEcntplaEe  für  5 100  grpl. 

für  15  100) » 6-jpl.  für  lOü  SK. 

(Tee  2f)CoIugtfct)c  ^itcvatuv=Älcttd)t  idjreibt : ,,'S'ic 
allgemeine  4?erbieitung  biefer  ©rofdnire  ift 
boctift  tmuifctjcueaucit.  34  rate  ben  jpeweit  '.Hmts  = 
t'vübcxii,  fie  m länblicljcn  SGeviammtüligen  jnv  Älevlcfuiig 
nnb  ätcf).necl)img  311  bringen  nnb  Devjnveche  baoon  guten 
CSrfutg. 

©erlag  uoit  Oiciiiljotb  Söerttjev  in  tfcipjig. 


Verlag  von  Hermann  Bahr  in  Berlin,  W.  0,  Linkstr.  13. 

Meyer,  Dr.  Rudolf.  Der  Einancipationskampf  des  Vierten  Standes.  Bd.  I.  2.  Aufl.  1882.  532  S.  gr.  8" 

14  Mark. 

Inhalt  Theorie  des  Socialismus.  — Der  katholische  Socialismus.  — Die  Internationale.  — Deutsch- 
land. — Schulze.  — Lassale.  — Marx.  — Die  Gewerkvereine.  — Die  Socialconservativen.  — Die  Arbeiter- 
presse. — Stellung  der  Regierungen  zu  den  socialen  Parteien.  — 

Heimstätten-  und  andere  Wirtliscksifts-ljJesetze  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  Canada, 
Russland.  China,  Indien.  Rumänien,  Serbien  und  England.  Hrsg,  mit  einleit,  und  erläuternden  Ab- 
handlungen von  Dr.  Rudolf  Meyer.  1883.  632  S.  gr.  8°.  16  Mark. 

A.  Sartorius  f'rtir.  v.  Walters  hause  11.  Die  nordamerikan.  Gewerkschaften  unter  d.  Einfluss  der 
fortschreitenden  Productionstechnik.  1886.  352  S.  gr.  8a.  7 Mark  60  Pf. 

Derselbe.  Der  moderne  Socialismus  in  den  Vereinigten  Staaten  v.  Amerika.  1890.  422  S.  gr.  8°.  8 Mark. 
Ursachen  der  amerikauisclien  Ooncurreuz.  Ergebnisse  einer  Studienreise  der  Herren  Grafen  Geza 
Andrassy,  Geza  und  [mre  Szechenyi,  Ernst  Hoyos,  Baron  G.  Gudenus  und  Dr.  Rudolf  Meyer 
durch  die  Vereinigten  Staaten.  Mit  einer  Karte.  1883.  825  S.  gr.  8°.  13  Mark  50  Pf. 
Rodbertns-Jagetssow.  Zur  Erklärung  und  Abhilfe  der  heutigen  Creditnoth  des  Grundbesitzes. 

2 Thle.  1868.  544  S.  kl.  8°.  6 Mark. 

Zeller,  J.  Zur  Erkenntniss  unserer  staats  wirtschaftlichen  Zustände.  2.  Aufl.  mit  Anhg. : Itodbertus- 
Jagetzow.  Die  soziale  Bedeutung  der  Staatswirthschaft.  Erster  sozialer  Brief  an  von  Kirchmann.  Der 
Normalarbeitstag.  1885.  305  S.  gr.  81J.  6 Mark. 

ivnies,  <J.  CI.  Ad.  Die  Statistik  als  selbstständige  Wissenschaft.  1850.  175  S.  kl.  8°.  2 Mark  25  Pf. 

(Parthieartikel.  Vorräthe  nur  noch  gering.) 


<g»crbet’fd)e  ©criaget^anMung,  g-rtiburg  tut  ©vetögau. 

Soeben  ift  erfdjietten  mtb  btird)  alte  ©itd)f)anbtuiigeu  31:  begietjeu : 

CÜatl)EEtn,  B.,  S.  J.,  P>ee  ^ucialtsmus. 

fönte  Unterfudjung  feiner  ©runblagett  mtb  feiner  Snrd)fü()rbarfeit. 

JiiitllE,  mit  BEEitdtltdliigung  Des  (grfuEtEE  j3EDgEainma  ItEhEufEuh  i'EEinEl)EtE  Flujlafle. 
(©eituted  mtb  jetjuted  Saufettb.)  8IJ.  (XVI  tt.  198  ©•)  ©l.  1.60. 


Zum  Abschluss  von  Todesfall-,  Aussteuer- 
Renten-  und  Sterbekassen- Versiche- 
rungen bei  vortheil  haften  Be- 


dingungen und  billigen 
Prämien 
sich  die 


Lebens 
Versicliernngs- 
(S  esel  Iscliaft  zu  Berlin, 

S.O.,  Kaiser  Franz  Grenadierplatz  8 
bestens  empfohlen. 

Prospecte  und  Auskünfte  postfrei  bei  der  Direction  und  den  Vertretern. 


Verlag  nun  3.  QI.  B.  Mnljr  in  Irciburg  i.  B. 
Soeben  erfcffien: 

v v t e v b u d) 

beä 

Sjeutfdjcn  Uenualtmtgsrcdjte. 

5 ii  SSerbiitbutig  mit  nieten  Sßraftifern  mib  ©elefjrteit 

f)  e r a u § fl  e fl  e b e u 
1)011 

Di-.  Ä.  bon  ©tengel. 


3to)eitee  SBanb 

8-3 

«DJ.  p.— , sieb.  9.U.  24,40. 
cialgesetzgebung  en t - 
Artikel : 

Reichsversicherungsamt. 

Unfallversicherung. 


grfter  SBanb 

21-St 

9Jt.  19.—,  scb.  SW.  21.40. 

Aus  dem  Gebiete  der  S o 
halt  das  Wörterbuch  folgende 

Arbeiter  (gewerbliche), 

Bergarbeiter. 

Fabrikaufsichtsbeamte. 

Fabrikgesetzgebung. 

Gesindepolizei. 

I nvaliditäts-  und  Altersver-  I 
Sicherung. 

Knappschafts  vereine. 

Krankenversicherung. 

Landesversicherungsämter. 

©rftcr  ßrgiinjmtgSlmnb  erfdjeitit  int  Sanitär  1892. 


Armenrecht. 

Armen  Verwaltung. 

Notstandsgesetzgebung. 

Sparkassen. 

Teuei  ungspolizei. 
Unterstützungs  Wohnsitz. 


Soeben  erfduenen: 

l|anMmd|  her  Ju^ialen 

hes  bcuffifen  Beiifs. 
g-iir  jeberntamt  jurn  prattifdjen  ©e» 
braudf)  Ijeiaitägegebeit  oon  SSüitnecfe, 

(jßerjaffcv  non:  „3>ev  fBeidjä  = mib  ©tnatäbieiiü".) 

GjnttjiUt  a 1 1 e ‘3  für  beit  p r a f t i f cf)  e n © e * 
b r a tt  cf)  fftotljrcenbige  and  beu  ©efeljeu 
betr.  bie  it  r a n f c n = , U H f a 1 1 = , S tt  o a l i = 
b i t ä t ß --  nub  A 1 1 e r ö * SB e r f i ct>  e r u n g 
fomie  © d)  lt  fc  g e f e fc  g e b tt  tt  g ber  Arbeiter 
u.  bafjer  unentbehrlich  für  ©etuerbetreibenbe, 
8anbwirtt)c  ffrnbrifen  mib  inbuftrielle  Anlagen 
aller  Art 

Preis  gelj.  3 B3.,  geh.  4 B3. 
Ausführliche  fßrofpefte  mit  genauer  Sutjattö» 
angabe  gratis  nnb  ftanfo. 

33e,3iel)bar  burd)  jebe  33ucf)t)an btiing. 

SSerlag  boit  Söilljelm  SSiolet  in  Seidig. 

®ie  öffeutlidje  ^ürforge 

für  bie 

imtmfdjitlfreten  ^dmtolofcm 

©runblinten  eined  ©efetientmnrfö. 

HJrefb  1 SWf. 

2>ie  Setibeit3  biefed  Gmtnmrfeä  ift  uornetpm 
lid)  baf)iit  gerichtet,  bie  Streitigfeiten  junfdjen 
Arbeitgebern  nnb  Arbeitnehmern  3U  üerljüteu, 
bie  Ai’beitöperf)ättniffe  fotiber  nnb  bauerpafter 
311  geftatten  nnb  tjterburd)  3ur  fpetfteünng  be§ 
f Opiaten  griebenä  bei3ittragen. 

©buarb  Verlag  in  fPlüncbeit. 


Soeben  erschien : 

Antiquarischer  Biicherkatalog. 

No.  69:  Nationalökonomie. 

Socialwissensch.-,  Finanzwiss.  Statistik, 
ca.  3200  Nummern. 

Paul  Lehmann, 

Buchhandlung  und  Antiquarist. 

3.  (Sutlenfag,  9Serfagöbiid)hanblung  in  S3erfin. 

'Saö  Dieicfisgefefc 

betreffenb 

Me  deUu'vliegeiirfjte. 

SS  0 nt  29.  Sttli  1890. 

SejPAuSgabe  mit  Aitmerfiuigen  unb  ©adjregifter 

DO» 

Steo  9)hißban, 

Söl ag iftrc} tSaffeff or  unb  SRedjtäaiimalt  311  Söcrlin. 

dtucitc  Ufnnctivtc  21 11  öq alio. 
Safdjenformat;  cart.  1 93t.  25  Sßf. 

Itnt'aUXu'iftdicntnpBflcfc^ 

tiom  6.  Snti  1884 

unb 

©ejefc  über  bie  3lu§bel)nung  ber  Unfall» 
unb  itr a n f c n 0 e r f i d) e r u n g 

uom  28.  93tni  1885. 

Sejt»  Aufgabe  mit  Anmeldungen 

DOII 

i£.  oon  ©oebttte, 

Maiicrl.  Cber=9tcgtcrung3ratl),  Dortrng.  9int()  im  iKcidjS* 
amt  &ed  3mtcrn. 

iBtci  tc  'linftage. 

Safdjenformat;  cart.  2 93t. 

MdjeiDiiipt  u®  Itripffl 

hev 

©e)uerbe=ü'evutation  be§  SKagiftratS 
jtt  Berlin 

nun  Ketdj»gefeij  befreffenb  bie  üranften- 
uerfuherung  ber  Arbeiter 
00m  15  Snni  1883. 

tt e b ft  einem  Abbruefe  biefeä  ©efe^et?. 
.perauögegeben  uon 

8c 0 Ahigbau  Dr.  jnr.  fttidiarb  ftrcunb, 

O.U  ag  iftvatö = 31  ff  eff  oren  311  ©evlin. 

Jp  e f t I unb  II. 
gr.  8°.  3 93t.  75  $f. 


Im  Verlage  von  Rud.  Petrenz,  Neu-Ruppin  erschien: 

Jäger,  A.,  Pastor  in  Werder,  F M* Cy • 2 Bde.  M.  6. — . 

I.  Ein  Schlüssel  zur  Prophetie  des  Neuen  und  Alten  Testaments. 

II.  Die  sociale  Frage  im  Licht  der  Offenbarung,  in  der  Geschichte  der  Völker  und  im 
Irrlicht  der  Zeit. 


Socialpolitische  Rundschau:  DemJHerrn  Verfasser  kann  das  grosse  Verdienst  nicht  abgesproclien  werden,  dass  er 

eine  Seite  der  socialen  Probleme  aufzog,  die  bisher  noch  wenig  berührt  wurde.  Er  hat  einer  socialpolitischen  Anschauung  Bahn 
gebröchen,  die  vielleicht  noch  weitere  Kreise  zieht. 

Märkische  Zeitung:  Er  zieht  die  Geschichte  wie  die  Bibel  in  ihrem  ganzen  Umfange  zu  Rat,  indem  er  die  Beziehung 
zur  Gegenwart  stets  in  lebendigem  Fluss  hält.  Auf  diese  Weise  ist  es  ihm  gelungen,  eine  ebenso  belehrende  wie  Vertrauen  er- 
weckende Wirtschaftsgeschichte  zu  schreiben  und  sich  ein  kritisches  Urteil  zu  bilden. 

Westfälisches  Sonntagsblatt:  Die  theologische  christlich-sociale  Litteratur  hat  in  der  Gegenwart  kein  Werk,  welches 
an  Tiefe  der  Auffassung  des  socialen  Inhalts  der  heiligen  Schrift  und  an  umfassender  Kenntnis  der  socialen  Verhältnisse  der  in 
der  Geschichte  bekannten  Völker  diesem  Werke  gleichkommt. 


3m  Vertage  non  ©corg  «Reimer  in  Söcrlin  erfdjeineit: 


füxufttfiije  SlaÖfbüdjcr. 

■fperaudgegeben 

Don 

faitö  TW'Un'iulu 

(lÄnafeldirtfl  für  Politik,  ©eJtfjtrfjfe,  Kunft  unk  Jifrratur.) 

IPT  ä)!on«tltd)  ein  \icft.  "Wü 

5Han  abonnirt  (jalbjäljvUd)  für  9 SDforf  bei  affen  Snd)banbluugen  tmb  fßoftämtern. 


3m  2.  Sabrgange  erfcfjentt,  oon  auBergemöbnlidjem  Erfolge  begleitet 
bie  geil»  unb  ©treitfcfjrtft 

X'ns  ghMngigfte  3«l>rlmnderl. 

©entfdjnationale  3DI onatöt)efte  für  fopated  'geben,  «politif,  äßiffenfdjaft  unb 
gitteratur.  .öeraudgegeben  ooit  Grumt  Sönuer,  oerlegt  oon  .^atti  £i'tften= 
ö&er  in  Sierlin  W 35.  33 i ert eXfä b rli cf)  3 je  8 Sogen  ftarfe  .Oefte  für  911.2,50. 

£n  begieben  burd)  affe  Sudgumblnngeu  nnb  ißöftanftalten 


3$erlag  oon  Siemenroti)  & äöorntd  in  Sjcrlitt,  «BBitCjelrnftr.  129. 

2Str  empfehlen  311m  Slhonnement: 

®te  SlrluMteroBerforgnug. 

©Ertlral-Prpan  für  bas  grfammfr  Kranken-,  Unfall-,  Itnnalibtfäfs-  unb 
JRlfrrs-Bßrftrljrrungsrorfrn  int  ©rntfrljrn  Brtdir. 

.peraudgegebeu  oon  Dr.  jur.  Bonipntann. 

IX.  3aU'9an3-  93touatlid)  3 «Rummern  1— P/2  Sogen  ftarl.  fßreil  'balbiä^rXid)  6 93t  arf. 

Sitte  tpoftümtcv  mtb  itud) liauMuuacu  «eljutcit  SBcftetlutficn  an. 

3nbatt:  Slbbanbtnngen  nnb  Sefprecbungen  iotrf)tiger  fragen  au^  allen  Gebieten  ber  ge* 
fammten  9lrbeiter=Serfid)ernng,  Entfärbungen  nnb  Serfügnngen  ber  oberen  nnb  unteren  Ser* 
roaliimgsbebörben,  ber  Geridge  bed  3teid)d='  nnb  ber  ganbedüerfidjerungdämter  n.  f.  10.,  Seant* 
mortnng  oon  Anfragen  int  Srieftaften. 

^ ro b ert n tttm cm  portofrei*  "3PII 


3m  Sertage  oon  f^nlm  & Gnfc  in  ©rlnngcn  ift  erfebieneu: 


"ä  ü m m v n t a r *» 

jnnt  ©rfrü  turnt'  22.  Hunt  1889, 

bie 

Unimlttntäfs-  uttfr  Blfn^trcvltdinitn  u 

betreffenb, 

ooit 

Dr.  Xndürig  3fuld, 

iRedjtäanmalt  in  SDtatnj. 

gr.  8Ü  (VI  n.  561  ©eiten.)  geheftet  10  50t f.  40  fßf. 

Hrtbeit  ber  Sertiner  ©eridjtdgeituug  1890  9fr.  55: 

t,:  ; • • Sefottberd  benebtenetoertb  erfdjetnt,  baff  bie  genaueften,  bnrd)  Setfptele  erläuterten 
Stuffd)iüffe  über  bie  Skrecbnungcit  gegeben  merben.  ©ie  Stnmerfnngen  finb  nid)t  jjerftücfelte 
Studeiuanberfetmugen  ju  einzelnen  Sßorten,  fonbern  geben  ftetd  eine  bad  Ganse  überblicfenbe 
©arlegnug.  2Bir  empfehlen  ben  Kommentar  ber  befonberett  Seaditiutg." 


Sertag  oon  JUtnrkrr  & Bnmblot  in  geipgig. 

©oorrg  3frirdrirf{  Rttapp,  ©ie  ganbarbeiter 
tu  g'ned)tfd)aft  unb  Freiheit  Sier  Sorträqe 
1891.  Sßreid  ca.  2 93  t. 

Ifrinrttg  BrrUnrv,  ©ie  fociate  «Reform  ald 
Gebot  beo  ioirtt)'d)aftIid)en  gortfdirittd.  1891 
Sßreiö  2 93t.  40  ißf. 

Begriffen  des  Bereitts  für  Gnctalpolifilt. 

49.  Sanb:  ©ie  .öanbcldpolitif  ber  ioid)tigereit 
Ü'nttnrftaaten  in  ben  lebten  3 .djrgebnten  i 
Sanb.  9t,  n.  b.  ©.:  ©ie  jöanbeldpolitif 

9torbamerifad,  Statiend,  ©efterretdjä,  Seb 
giend,  ber  Dftebertanbe,  ©änemarfd,  Sdpne* 
bend  nnb  9formegend,  afnfffanbd  nnb  ber 
tedpuets,  foiote  bie  bentfdje  ^anbetdftatiftif 
oon  1880  bid  1890.  «ßreid  13  931. 

— ©affetbe.  50.  Sanb:  ©ie  .öanbetdpotitif  :c. 
2.  Sanb,  9t.  n.  b.  ©. : ©ie  3bee"  ber  beut* 
fajett  .öanbeldpotitif  oon  1860—1891  Som 
Srof.  Dr  IDalthov  Xof?  in  93iüncben.  Sretd 
4 93t.  60  «Pf. 


Bn-ntann  Xofrfj,  Nationale 
nationale  Sernfdgtiebernna. 
6 93?.  9 


fßrobnftton  unb 
1891.  ißretd 


X|rtnvtdi  mtriut,  ©ie  äßirfungen  ber  @t. 
Gottbarbbabn.  t©.=9(.  and  ©dimoüer’d  3abr= 
bud).  1891  «Preis  2 9)f.  40  Sf- 

Verlag  üoit  G,  S.  ^trft^felb  in  Seidig. 

&imeiU  3fraiu'it 

Ittn-  üuEtifimiferl  Jal|ven 

(an  Essajr  on  Projects) 

oon 

Daniel  Defoe 

869  J. 

Ueberfeiit  oon  0 u g o 3 i f d)  e r. 
f3vcts  M.  2.40. 


J.  (Bxtftontag,  Sertagdbpfibanbluug  in  Serlin. 

Exirif0-(®|texi&E-Xh‘ünnniB 

u e b ft  91  it  ä f ii  b r n tt  g § b c ft  i ut  nt  u li  gen. 

= Brurfte  Xalftutg  kos  ©Efrifrs. 

©ej;h9tudgabe  mit  9tnmerfungen  nnb  ©ad)regifter 

DO  II 

©.  ^51).  Söergcr, 

SReflicvmtnSvatt). 

C*'  t f t C j(  1t  T 1 g g t‘. 

©afd)enformat;  cart.  1 93f.  25  Sf- 


tuvxnUcmtcvrtd|i'vunaBai'fe^ 

(ootit  15.  Smk  1883) 

und  dir  dajfrlbr  rrgänjtrndrtt  rricfis- 
gcftfjlitftrn  Brjfimntungrn. 

93dt  Einleitung  nnb  Erläuterungen 

BOlt 

t£.  »on  U)nrtiflte, 

Kaifevl.  ©et).  Sbcr^SRegierLitgärättj,  oortvag.  'Jiattj  mfSRetd;«o 
amt  bt'ä  Ämtern. 

dritte  »cruteljrtc  Stufltage. 
gr.  8°.  9 93t.,  getmnben  io  93f. 


’mmumuuuuuuumumuuuuuuummuummmbkmuHmm 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung  in  Berlin  SW.  48. 


ARCHIV 

für 

SOZIALE  GESETZGEBUNG  UND  STATISTIK. 

Vierteljahresschrift 

zur  Erforschung  der  gesellschaftlichen  Zustände  aller  Länder. 


In  Verbindung 

mit  einer  Reihe  namhafter  Fachmänner  des  In-  und  Auslandes 

herausgegeben 


3.  (riultetttag,  SßevXaqöbiict)t)anbIung  in  Söertin. 

Tas  9icd)t 

ber 

Hvltettnamluticntna. 

9ür  Sljeorie  1111b  ißrajriö  fi)ftematifd)  bargeftettt 

HO  II 

Dr.  9tofin, 

orb.  spvof.  für  Stoatävcdit  1111b  beutfdies  SKedji  a.  b. 
Uninerfität  jyrdbuvii  i.  33. 

Gaffer  23anb: 

®te  reicfysredjtlidjeit  ©nutblagen  ber 
iHrbeiteruerjtdjerimg. 

ßvfte  liub  äioeite  Slbtfjeilnng.  8°.  9 3)t.  50  5ßf. 

Sai>  gefammte  SBerl  ruirb  in  äinei  33änbe 
jerfafleni  non  benen  ber  erfte  „bie  reid)3red)t= 
lictjen  ©rnnblagen  ber  Slrbeitemerfidjerung'' 
betjmibeln,  ber  geeite  aber  in  brei  Steilen  bie 
iiranfem,  ttnfalh,  fonrie  bie  3noaIibitätö=  unb 
Sllteronerfidjernng  jur  Giinetbarftetlnng  bringen 
fall. 


Dr.  Heinrich  Braun. 

Das  Archiv  erscheint  in  Bänden  von  ca.  40  Druckbogen 

Lex.  8°.  in  4 Heften. 

Band  IV  im  Erscheinen. 

Abonnementspreis  pro  Band  M.  12. — . Einzelne  Hefte  AL  4.— . 

Abonnements  nehmen  alle  Buchhandlungen  Deutschlands  und  des 
Auslandes  sowie  die  Verlagshandlung  und  die  Postanstalten  entgegen. 
Auch  ist  jede  Buchhandlung  in  der  Lage,  die  bisher  erschienenen  Bände 
resp.  Hefte  zur  Ansicht  vorzulegen. 

Probehefte  stehen  auf  Wunsch  gratis  und  franco  zu  Diensten. 


3.  löuttrntag,  S5evlagc'bud)t)anblimg  in  SBerltn. 
SDaS  9tocf)!j(]efe£ 

betveffenb  bie 

iMliiiitnte-  tiuö  |lto- 
raftdjtning. 

93om  22.  3U11<  18S9. 

SejbSIudgabe  mit  Stninerfiuigen  unb  ©adjregifter 

UOlt 

6-.  tum  SEBocbtfe, 

Knifevl.  OSct).  £6cr*9legierunqöratfj  unb  rovtrag.  Statt)  im 
Sicicfjäanit  bcS  3nr.evn. 

Vierte  ‘ituftaae. 

2afd)eufonnat;  cart.  2 9Ä. 


üuuimuum  htuamumui 

Verlag  von  Leonhard  Simion  in  Berlin, 

SW.,  Wilhelmstrasse  121. 


ErGschiGhtc  der  Neuesten  Zeit 

1815—1885 

von 

Prof.  Constantin  Bulle.  | 

t Bände.  1&87.  Preis  brosch.  [20  .1/.,  <jeb.  24  31. 


„Bulle’s  G-escliiclite  der  Neuesten  Zeit  ist 
durchaus  vom  Standpunkte  der  Wissenschaft- 
aus  geschrieben,  soweit  bei  Beschaffenheit 
des  Quellenmaterials  eine  wissenschaftliche  . 
Behandlung  möglich  ist.  Ein  besonderes 
Geschick  bekundet  der  Verfasser  in  der 
kurzen  aber  scharfen  Characterisirung  der 
handelnden  Personen.“ 

Jenaer  Literaturzeitung. 

„Wenn  von  den  zahlreichen  Darstellungen 
der  neuesten  Geschichte  irgend  eine  em- 
pfohlen zu  werden  verdient,  so  ist  es  die- 
jenige Bulle’s.  Besonders  der  Jugend,  die 
oft  mit  einer  erschreckenden  Unwissenheit 
hinsichtlich  der  neueren  und  neuesten  Zeit- 
ereignisse ins  handelnde  Leben  tritt,  kann 
kaum  eine  nützlichere  Gabe  mit  auf  den 
Weg  gegeben  werden.“ 

Prof.  Dr.  A.  Stern  (Bern)  £ 

„(Nation“,  1887  No.  44).  fc 


Soeben  ift  im  «Berlage  öon  $«lm  & @nfe  in  frlnugeu  erfd)ienen  unb  burd)  jebe  23ud)= 
Ijanblnng  311  begieljen: 

Sie 

3)eittid)e  ©euterkorbiutitg 

in  brr  JHTumi 

ÖOltt 

1.  ^uli  1883  unb  1.  Smri  1891 

ncldf  ben  djttiff  eit  brs  Hetdjesu 

(Erläutert  oon 

Dr.  jui\  ^uliu§  Ghtgelmamt. 

3»»citc  SCuflage. 

gr.  8°  (IX,  355  nnb  CVIII  ©eiten)  get).  6 9)ff. 

JUT*  Sa3  „ßentralblatt  für  SSerroattnngäprajiä"  urteilte  f.  3.  über  bie  (Srfte  Sluftage; 

„Ser  oorliegenbe  Kommentar  ift  unftveitig  bie  befte  Searbeitmtg,  meiere 
bie  Sentfd)e  ©emerbeorbnnng  bi<3f)er  gefnttben  t)nt." 


ferner: 


Mt  Kaljtstmliälfmftß 


ber 


'llrbeitgcbcr  nnb  Ülrbritncbmer 

mid)  bent  ^tetcfjSgefek 

öont 

1.  1891 

(Eitrl  VII  brr  JHntlltljrn  ©rnirrbrnrbnung). 

(Erläutert  non 

Di*.  Jul*.  Julius  Cüngelntamt. 

gr.  8 (IV  nnb  74  ©eiten.)  tpreiä:  80  fßf. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigenteil : Dr.  Otto  Eysler  in  Berlin.  — Druck  von  II.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  11.  Januar  1892. 


Nummer  2. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber : Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  A r b e i t e r s c h u t /.  g e s e t /.  g e - 
bungbeim  deutschen  Berg- 
bau. Von  Dr.  Leo  Verkauf. 
Arbeitevzustände : 

Ueber  die  Abnahme  der  Arbeits- 
kraft. Von  Prof.  Dr.  Heinrich 
Herkner. 

Eine  „Musterarbeitsordnung“  für 
Bergwerke. 

Das  Tabakmonopol  und  die  Lage 
der  ungarischen  Tabakarbeiter. 

Ueber  die  Ausnützung  der  Ar- 
beiter in  den  Nahrungsmittel- 
gewerben. 

Die  Arbeitsdauer  in  den  Mainzer  < 
Zigarren-  und  Tabakgeschäften. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Ein  Strike  der  Bierbrauergehilfen 
in  Bayern.  Von  Martin  Segitz. 

Der  deutsche  Buchdruckerausstand. 

Bergarbeiterausstand  in  Steiermark. 

Der  schweizerische  Grütliverein. 

Die  französischen  Tabakarbeiter 
und  Tabakarbeiterinnen. 

Gewerkschaft  der  Kleider-  und 
Wäschenäherinnen. 

Das  französische  Arbeitersekretariat. 

Arbeitsbörsen. 

Die  privaten  Stellenvermittlungs- 
Bureaux  in  München. 

Die  Neunstundenbewegung  der 
Buchdrucker  in  der  Schweiz. 
Unternehmerverbände : 

Krisis  im  rheinisch-westfälischen 
Walzwerkverband. 

Der  Stickereiverband  der  Ost- 
schweiz. 

Handwerker  fra  gen : 

Die  Bauhandwerker  und  die  Hy- 
pothekenordnung. Von  Dr.  Leo 
Arons. 

Lehrlinge  und  Arbeiterorganisa- 
tionen. 

Befähigungsnachweis. 


Arbeiterschlitzgesetzgebung: 

Der  französische  Gesetzentwurf 
betr.  die  Kinderarbeit.  Von 
Prof.  Raoul  fay. 

Der  Entwurf  einer  Gesindeordnung 
in  Sachsen. 

Normalarbeitstag  und  Minimallohn 
bei  öffentlichen  Arbeiten  in 
Holland. 

Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe. 

Gewerbeinspektion : 

Eisenbahn-Inspektoren. 

Arbeite  rversicherung : 

Hausgewerbe  und  Versicherungs- 
pflicht. 

Staatliche  Unfallversicherung  in 
Russland. 

Gewerbegerichte , Einigungs- 
ämter  u.  Arbeiterausscniisse: 

Die  Errichtung  gewerblicher 
Schiedsgerichte  in  Deutschland. 

Kaufmännische  Schiedsgerichte. 

Arbeiterausschüsse  bei  den  preussi- 
schen  Staatsbahnen. 

Wohnungszustände  und  AVoh- 
nungsgesetzgebung : 

Behördliche  Massnahmen  zur 
Wohnungsfrage. 

Statistisches  über  Wohnungsver- 
hältnisse. 

Armenwesen: 

Versicherungsgesetze  und  Armen- 
wesen. 

Prostitution : 

Eine  Randglosse  zur  Prostitutions- 
frage. Von  Dr.  B.  Schoenl  ank. 

Soziale  Hygiene: 

Die  amerikanische  Trichine  und  die 
Trichinenschau.  Von  Dr.  F.  L. 
S i nt  o n. 

Litt  er  atu® 

WörishofFer,  Die  soziale  Lage  der 
Fabrikarbeiter  etc.  (H.  Herkner.) 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Arbeiterschutzgesetzgebung  beim 
deutschen  Bergbau. 

Schon  in  den  nächsten  Tagen  dürfte  dem  preussischen 
Landtage  eine  Regierungsvorlage  zugehen,  welche  Reform- 
vorschläge zu  Gunsten  der  Bergarbeiter  enthalten  soll. 
Im  gegenwärtigen  Momente  kann  auf  den  Inhalt  dieser 
Vorlage  von  der  Publizistik  ein  Einfluss  wohl  kaum  geübt 
werden;  es  verlohnt  sich  aber  trotzdem  festzustellen,  nicht 
nur,  welches  der  gegenwärtige  Zustand  der  Gesetzgebung 


ist,  sondern  auch,  welche  Forderungen  im  Interesse  der 
Bergarbeiter  erhoben  werden  müssen.  Dies  wird  die  Hand- 
habe für  eine  prinzipielle  Kritik  der  erwarteten  Vorlage 
ergeben,  während  eine  ins  Detail  eingehende  Erörterung- 
später  folgen  wird. 

Vorerst  müssen  wir  uns  dagegen  aussprechen,  dass 
die  Arbeiterschutzgebung  beim  Bergbau  den  Einzelstaaten 
überlassen  bleibe.  Pflicht  des  Reiches  ist  es,  hier  bahn- 
brechend voranzugehen  und  bei  Regelung  des  Verhältnisses 
zwischen  Werkbesitzern  und  Arbeitern  jene  Gleichheit  der 
Produktionsbedingungen  herzustellen,  die  ein  Lebens- 
bedürfniss  für  die  Industrie  ist.  In  einer  Zeit,  in  welcher  all- 
gemein nach  internationaler  Regelung  des  Arbeiterschutzes 
gerufen  wird,  kann  innerhalb  der  Grenzen  des  deutschen 
Reiches  dem  Bergbau  eine  bunte  Mannigfaltigkeit  von 
Vorschriften  nicht  zugemuthet  werden. 

Bei  der  Darstellung  des  gegenwärtigen  Zustandes  der 
Gesetzgebung  wird  deshalb  neben  Preussen  auch  das 
Königreich  Sachsen  berücksichtigt  werden.  Diese  beiden 
Länder  beschäftigten  im  Jahre  1890  über  92%  der  gesammten 
Belegschaft  des  deutschen  Bergbaues;  die  Förderung  er- 
streckte sich  auf  94%  des  Produktionswerthes.  Daraus  er- 
gibt sich  die  geringe  Bedeutung  aller  andern  deutschen 
Staaten  auf  dem  Gebiete  des  Bergbaues. 

Heute  ist  bereits  ein  Theil  des  Arbeiterschutzes  durch 
Reichsgesetz,  die  Gewerbeordnung,  geregelt,  während  ein 
anderer  Theil  durch  das  allgemeine  Berggesetz  für  die 
preussischen  Staaten  vom  24.  Juni  1865  und  das  kgl.  säch- 
sische Berggesetz  vom  16  Juni  1868,  sowie  durch  vielfache 
Polizeiverordnungen  der  Bergbehörden  seine  Regelung  ge- 
funden hat.  Betrachten  wir  die  Bestimmungen  im  Ein- 
zelnen ! 

Während  das  preussische  Berggesetz  keinerlei  Vor- 
schrift zum  Schutze  der  Frauen  enthält,  normirt  die  säch- 
sische Ausführungsverordnung  zum  Berggesetze  in  § 79, 
dass  weibliche  Personen  weder  zu  Arbeiten  in  der  Grube, 
noch  bei  der  Maschinenförderung  oder  bei  der  Wartung 
von  Maschinen  verwendet  werden  dürfen.  Im  Verordnungs- 
wege wurde  auch  für  Preussen  die  Beschäftigung  von 
Frauen  unter  Tage  verboten  und  dieses  Verbot  im 
Jahre  1878  in  die  Gewerbeordnung  aufgenommen.  Erst 
das  Gesetz  vom  1.  Juni  1891  brachte  nach  überlanger 
Stagnation  einen  erfreulichen  Fortschritt:  Die  Nachtarbeit 
wird  untersagt,  der  elfstündige  Normalarbeitstag  eingeführt, 
für  Vorabende  von  Sonn-  und  Feiertagen  zehnstündige 
Arbeitszeit  vorgeschrieben,  die  Beschäftigung  von  Wöchne- 
rinnen durchs  sechs  Wochen  nach  ihrer  Niederkunft  ver- 
boten und  die  Mittagspause  für  Frauen,  die  ein  Hauswesen 
zu  besorgen  haben,  auf  ihren  Wunsch  um  1 7s  Stunden 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALRLATT. 


No.  2 


verlängert.  Freilich  legen  die  zahlreichen  Ausnahmen  die 
Befürchtung  nahe,  dass  der  Fortschritt  nur  ein  scheinbarer 
sei,  dass  die  Regel  von  den  Abweichungen  gerade  beim 
Bergbau  überwuchert  werden  wird.  Aber  selbst  bei 
strikter  Durchführung  der  gesetzlichen  Bestimmungen 
bleibt  noch  Mancherlei  zu  wünschen  übrig;  eine  Reihe 
von  Arbeiten  müsste  als  für  den  Frauenorganismus  un- 
geeignet ausdrücklich  untersagt,  die  zehnstündige  Schicht- 
dauer normirt  und  für  den  Sonnabend  eine  nur  5-  bis 
östündige  Arbeitszeit  angeordnet  werden.  Es  sind  dies 
Vorschriften,  die  der  Coal  Miners  Regulation  Act  für  Eng- 
land schon  lange  verwirklicht  hat,  ohne  die  Entwicklung 
des  Bergbaues  im  Mindesten  zu  hemmen. 

Die  „Jahresberichte  der  kgl.  preussischen  Gewerbe- 
räthe  und  Bergbehörden  für  1890“  haben  am  unangenehm- 
sten durch  ihre  Mittheilungen  über  das  Anwachsen  der  Zahl 
von  jugendlichen  Arbeitern  überrascht.  Während  noch  bei 
der  Gewerbezählung  vom  1.  Juni  1875  in  ganz  Deutschland 
14  089  jugendliche  Personen  unter  16Jahren,  demnach  3,2% 
der  gesammten  Belegschaft,  beim  Bergbau  beschäftigt 
waren,  steigerte  sich  die  Zahl  dieser  Arbeiter  im  Jahre 
1890  fürPreussen  allein  auf  20  845,  das  ist  5,7%  der  Beleg- 
schaft. Welches  war  dem  gegenüber  das  bisherige  Ver- 
halten der  Gesetzgebung?  Während  das  preussische  Berg- 
gesetz überhaupt  keinerlei  Vorschrift  enthält,  untersagte 
das  sächsische  die  Beschäftigung  von  Kindern  unter  12  Jahren 
gänzlich,  verbot  den  12— 14  jährigen  die  Arbeit  unter  Tage  und 
gestattete  die  Beschäftigung  der  letzteren  über  Tage  nur  durch 
zehn  Stunden  und  zwar  in  der  Zeit  zwischen  5 Uhr  früh  und 
8 Uhr  Abends.  Erst  die  Gewerbeordnung  brachte  auch 
hier  einen  Fortschritt,  indem  sie  für  jugendliche  Personen 
von  14_16  Jahren  Sonn-  und  Feiertags-,  sowie  Nachtarbeit 
untersagte,  den  zehnstündigen  Maximalarbeitstag  vorschrieb 
und  die  Einhaltung  von  Pausen  forderte,  endlich  für  Kinder 
die  Arbeitsdauer  mit  sechs  Stunden  normirte.  Im  Wege 
von  Polizeiverordnungen  wurde  überdies  die  Kinderarbeit 
unter  Tage  verboten,  für  männliche  Arbeiter  unter  16  und 
weibliche  unter  18  Jahren  gewisse  Verrichtungen,  wie 
Haspelziehen,  Karrenlaufen  und  dergl.  als  unzulässig  er- 
klärt. Die  jüngste  Novelle  zur  Gewerbeordnung  hat  das 
Verbot  der  Beschäftigung  von  schulpflichtigen  Kindern  unter 
14  Jahren  auch  über  Tage  ausgesprochen. 

Auch  hier  bleibt  sonach  noch  viel  zu  thun  übrig. 
Die  grosse  Schädlichkeit  der  Bergbauindustrie  für  den  jugend- 
lichen Organismus,  die  Thatsache,  dass  die  jugendlichen 
Personen  unter  20  Jahren  die  ohnehin  grossen  Gefahren  in 
den  Gruben  für  die  andern  Arbeiter  wesentlich  erhöhen, 
lassen  den  Ausschluss  wenigstens  von  18jährigen  Personen 
von  allen  Arbeiten  unter  Tage  als  nothwendig  erscheinen. 
Aber  auch  über  Tage  muss  eine  Reihe  von  besonders  an- 
strengenden und  gefährlichen  Hantierungen  verboten,  und 
der  Zehnstundentag  auf  alle  Arbeiter  unter  18  Jahren  aus- 
gedehnt werden. 

Bisher  war  die  Sonntagsruhe  beim  Bergbau  nur  auf 
Grund  von  Polizeiverordnungen  geregelt,  erst  die  Novelle 
vom  1.  Juni  1891  brachte  das  gesetzliche  Verbot  der  Sonn- 
und.  Feiertagsarbeit.  Auf  diesem  Gebiete  erübrigt  heute 
nur  der  Wunsch,  dass  von  den  zahlreichen  Ausnahme- 
bestimmungen spärlicher  Gebrauch  gemacht  werde.  Daran 
reiht  sich  der  weitere,  dass  die  Zahl  der  Menschenopfer, 
die  der  frühe  Beginn  der  Sonntagsarbeit  fordert,  durch 
Verlängerung  der  Sonntagsruhe  auf  36  Stunden  gemindert 
werde. 

Während  die  alten  Bergordnungen  die  Schichtdauer 
genau  regelten,  überlassen  die  modernen  Berggesetze  die 
Festsetzung  der  Arbeitszeit  der  Vereinbarung  zwischen 
Werkbesitzern  und  Knappen.  Die  Folgen  waren,  wie  die 
amtliche  „Denkschrift  über  die  Untersuchung  der  Arbeiter- 


und Arbeitsverhältnisse  in  den  Steinkohlenbezirken“  ergibt, 
die  denkbar  betrübendsten:  weitgehende  Verlängerung  der 
Schichtendauer,  unter  abwechselnder  Einlegung  von  Ueber- 
schichten  und  Feierschichten.  Diesem  anarchischen  Zu- 
stande, der  die  Gesundheitsverhältnisse  grosser  Bevölke- 
rungskreise gefährdet,  darf  der  Staat  nicht  länger  unthätig 
zusehen.  Bisher  hat  man  sich  damit  begnügt,  in  Gruben, 
in  welchen  eine  Temperatur  von  mindestens  29  5 oder  30°  C. 
herrscht,  die  Arbeitsdauer  auf  sechs  Stunden  zu  bestimmen, 
für  Personen,  von  deren  Thätigkeit  Leben  oder  Gesundheit 
anderer  Werkarbeiter  abhängig  ist  (Anschläger,  Abnehmer, 
Maschinen-  und  Kesselwärter  u.  s.  w.)  eine  längere  Arbeits- 
zeit, als  die  normale  Schichtdauer  zu  untersagen.  Wie 
völlig  unzureichend  solche  Bestimmungen  sind,  braucht 
nicht  erst  gesagt  zu  werden.  Die  gesetzliche  Einführung 
der  Achtstundenschicht  ist  ein  Gebot  staatlicher  Nothwen- 
digkeit.  Dass  dadurch  die  Konkurrenzfähigkeit  auf  dem 
Weltmärkte  nicht  beeinträchtigt  würde,  ist  kaum  zu  be- 
zweifeln. Als  ernsthafter  Gegner  kann  überhaupt  nur  Eng- 
land in  Betracht  kommen,  wo  aber  die  Arbeitszeit  sich 
zwischen  7 Stunden  in  Northumberland  und  Durham  und 
10  und  1 01/«  Stunden  im  Glasgow-  und  Bristolbezirke  sowie 
in  Südwales  bewegt  ohne  dass  die  zuerst  erwähnten  Re- 
viere in  ihrer  grossartigen  Entwickelung  auch  nur  den  ge- 
ringsten Schaden  genommen  und  an  Exportfähigkeit  etwas 
eingebüsst  hätten  Schon  die  bisherigen  Ergebnisse  der 
Unfallstatistik  würden  eine  exzeptionelle  Behandlung  der 
Frage  der  Schichtdauer  beim  Bergbau  rechtfertigen.  Hat 
sich  ja  gezeigt,  dass  in  den  Monaten  der  stärksten  Förde- 
rung — September  bis  Januar  — in  welcher  die  meisten 
Ueberschichten  verfahren  werden,  die  Zahl  der  Unfälle  die 
grösste  ist. 

Der  Umstand,  dass  für  die  Arbeiten  unter  Tage  das 
Gedingesystem  (Akkordlohn)  vorherrscht,  hat  zu  einer  ; 
Reihe  krasser  Uebelstände  geführt,  welchen  die  Gesetz- 
gebung bisher  unthätig  gegenüberstand.  Schon  die  Fest-L 
Stellung  des  Gedingesystems  ist  eine  sehr  schwierige,  da 
sie  von  vielfachen  Umständen,  der  Mächtigkeit  und  Reinheit 
der  Flötze,  der  Härte  der  Kohle  und  des  Nebengesteins,  der 
Temperatur  und  Nässe,  der  Länge  der  Förderbahn  u.  s.  w.  ; 
abhängt.  Dazu  gesellt  sich  nun  noch,  dass  das  Gedinge  • 
nach  der  Zahl  der  geförderten  Wagen,  also  nach  Raum- 
inhalt, bestimmt  wird,  und  dass  die  Wagen,  welche  unreine 
Kohle  enthalten  oder  nicht  ganz  gefüllt  sind,  der  Kamerad- 
schaft nicht  bezahlt,  vielmehr  genullt  werden  und  zu  Gunsten 
des  Werkes  verfallen.  Ueberdies  werden  aber  auch  noch 
zuweilen  strafweise  gut  gefüllte  Wagen  gestrichen  und 
Geldbussen  verhängt.  Das  „Nullen“  wird  so  zu  einem  Mittel, 
das  Gedinge  einseitig  herunterzudrücken.  Wurde  ja  amtlich 
konstatirt,  dass  auf  manchen  Zechen  selbst  bei  günstiger 
Konjunktur  bis  zu  25°/0  der  geförderten  Wagen  dem  „Nullen“ 
verfielen. 

Diese  schwere  Benachtheiligung  der  Bergleute  Hesse 
sich  wie  in  England  durch  zwei  Massnahmen  beseitigen. 
Es  müsste  einerseits  an  Stelle  des  Gedinges  nach  Raum- 
inhalt ein  solches  nach  Gewicht  gesetzlich  vorgeschrieben 
werden,  ein  System,  das  sich  als  leicht  durchführbar 
erwiesen  und  selbst  für  die  grössten  Gruben  keinerlei  Nach- 
theile im  Gefolge  gehabthat.  Andererseitsmüsste  den  Arbeitern 
das  Recht  eingeräumt  werden,  Wiegekontrolleure  auf  ihre 
Kosten  einzusetzen,  welche  den  Vorgang  beim  Abwägen 
der  Kohle  wie  der  Verunreinigung  zu  überwachen  hätten. 

Eine  andere  Eigentümlichkeit  der  deutschen  Kohlen- 
industrie, welche  die  Unsicherheit  des  Verdienstes  wie  das 
Misstrauen  der  Arbeiter  in  gleicher  Weise  steigert,  besteht 
darin,  dass  die  Förderwagen  nicht  geaicht  werden  und 
überdies  von  verschiedener  Grösse  sind.  Dass  dadurch  Miss- 
bräuche ermöglicht  werden,  und  dass  solche  thatsächlich  auch 


No.  2. 


S( y/A  AI  TOLITI S(  '.I  ( ES  CENTRAI .Bl .ATT. 


19 


vorgekommen  sind,  steht  fest.  Das  allein  sollte  wohl  genügen, 
um  die  amtliche  Aichung  als  nothwendig  erscheinen  zu  lassen. 
In  Verbindungmit  der  Einführung  des  Gedinges  nach  Gewicht 
müsste  auf  jedem  Kasten  das  Gewicht  desselben  ersichtlich 
gemacht  werden. 

Zu  den  bisher  erwähnten  Uebelständen  tritt  im  Ruhr- 
kohlenrevier ein  weiterer,  der  sog.  Füllkohlenabzug.  Ergibt 
sich  zwischen  Gesammtförderung  und  verkaufter  Kohle  eine 
Differenz  — und  die  Lagerung,  die  Verladung,  der  Trans- 
port, die  nasse  Aufarbeitung  sorgen  dafür,  dass  sie  sich 
ergiebt  — so  muss  das  Manko  von  den  Bergleuten  getragen 
werden,  es  wird  ihnen  verhältnissmässig  vom  Lohne  in 
Abzug  gebracht.  Man  braucht  wohl  kein  Wort  darüber 
zu  verlieren,  dass  dieser  Vorgang  ein  rechtswidriger  ist. 
Selbst  die  „Denkschrift“  muss  zugeben,  dass  dadurch  „eine 
unnöthige  Verdunkelung  in  die  Lohnwirthschaft  hinein- 
getragen wird“.  Die  Untersagung  dieses  merkwürdigen  Vor- 
ganges scheint  ein  Gebot  der  Billigkeit  zu  sein. 

Während  für  die  erwachsenen  gewerblichen  Arbeiter 
das  obligatorische  Arbeitsbuch  lange  schon  beseitigt  ist, 
darf  der  Bergmann  auch  heute  noch  ohne  Abkehrschein, 
in  Sachsen  ohne  Arbeitsbuch,  nicht  zur  Bergarbeit  angelegt 
werden.  Der  ursprüngliche  Zweck  dieser  Bestimmung,  die 
Anlegung  von  gelernten  und  erfahrenen  Knappen  zu  den 
gefährlichen  Grubenarbeiten  zu  erzwingen,  ist  heute  weg- 
gefallen. Dem  Werkbesitzer  steht  jetzt  das  unbestrittene 
Recht  zu,  nach  seinem  Belieben  und  ohne  Rücksicht  auf 
das  Maass  vorhandener  Erfahrung  Arbeiter  anzulegen,  ein 
Recht,  von  dem  bei  jeder  aufsteigenden  Konjunktur  reich- 
licher Gebrauch  gemacht  wird.  Damit  haben  aber  Abkehr- 
schein  und  Arbeitsbuch  lediglich  einen  disziplinären 
Charakter  angenommen,  den  Werkbesitzern  ist  eine  Waffe 
in  die  Hand  gegeben,  die  zur  missbräuchlichen  Benutzung 
geradezu  auffordert.  In  der  That  sind  die  Klagen  über 
Missbräuche  sehr  zahlreich,  und  schon  deshalb  fordern  die 
Bergleute  mit  Recht  die  völlige  Beseitigung  des  Abkehr- 
scheines  wie  des  Arbeitsbuches,  die  Gleichstellung  mit  allen 
anderen  gewerblichen  Arbeitern.  Es  darf  Privatpersonen 
nicht  die  Macht  eingeräumt  werden,  die  Existenz  miss- 
liebiger Arbeitern  zu  vernichten,  sie  — wie  es  vorgekommen 
ist  — selbst  aus  der  Heimath  zu  vertreiben. 

Während  das  sächsische  Berggesetz  für  Bergwerke 
mit  einer  Belegschaft  von  mehr  als  zehn  Personen  eine 
Arbeitsordnung  vorschreibt,  welche  der  behördlichen  Ge- 
nehmigung bedarf  und  eine  Reihe  von  Fragen  behandeln 
muss,  insbesondere  aber  auch  jedes  Uebermaass  in  den 
Strafbestimmungen  vermeiden  soll,  überlässt  es  das  preussi- 
sche  Berggesetz  auch  hier  dem  Belieben  der  Werkbesitzer, 
eine  Arbeitsordnung  einzuführen  oder  nicht  und  deren  In- 
halt nach  eigenem  Ermessen  zu  gestalten.  Es  genügt, 
wenn  die  Arbeitsordnung  der  Bergbehörde  zur  Kenntniss 
gebracht  wird.  Solch  ein  Zustand,  bei  dem  das  Ermessen 
der  Werkbesitzer  den  Inhalt  des  Arbeitsvertrages  bestimmt, 
kann  unmöglich  fortbestehen.  In  erster  Reihe  muss  die 
■ Arbeitsordnung  zu  einer  obligatorischen  Einrichtung  wer- 
den; aber  auch  auf  ihren  Inhalt  muss  die  Gesetzgebung 
wie  die  Verwaltung  Einfluss  gewinnen.  Dazu  genügen  die 
mangelhaften  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  nicht. 
Besserung  ist  unter  den  heutigen  V erhältnissenjnur  zu  erwarten, 
wenn  einerseits  gesetzliche  Grenzen  für  die  einzelnen  An- 
ordnungen der  Arbeitsordnung  gezogen,  andererseits  aber 
den  Behörden  das  Recht  gewahrt  wird,  die  Prüfung  der 
Bestimmungen  nicht  nur  vom  Standpunkte  des  Gesetzes, 
sondern  auch  von  dem  der  Zweckmässigkeit  vorzunehmen.1) 

I,  .')  Wie  unumgänglich  die  Erfüllung  dieser  Forderung  ist, 
J.ewejst  die  im  Folgenden  unter  der  Rubrik:  Arbeiterzustände 

iabgedruckte  „Musterarbeitsordnung11  des  Vereins  für  die  berg- 
baulichen Interessen  im  Oberbergamtsbezirk  Dortmund. 


Als  eine  der  wichtigsten  Forderungen  an  die  gesetz- 
gebenden Faktoren  erscheint  uns  die  nach  Einführung 
einer  gut  organisirten  und  entsprechend  besetzten  Berg- 
werksinspektion. Die  Bergbeamten,  welchen  heute  die 
Aufgabe  obliegt,  die  Sicherheit  der  Gruben  sowie  die  Ein- 
haltung der  Arbeiterschutzgesetze  zu  überwachen,  sind  mit 
vielfachen  Agenden  so  sehr  überlastet,  dass  ihnen  für  die 
Inspektionsthätigkeit  die  erforderliche  Zeit  nicht  erübrigt. 
Ohne  eine  tüchtige  Inspektion  ist  aber  die  beste  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung werthlos. 

Unsere  Ausführungen  haben  gezeigt,  in  welchem 
Maasse  reichs-  und  landesgesetzliche  Vorschriften  durch- 
einander laufen,  aber  auch  wie  mangelhaft  beide  heute 
noch  sind.  Für  die  deutschen  Bergleute,  deren  Zahl  im 
Jahre  1890  391153  betrug  und  die  den  allergrössten  Ge- 
fahren bei  ihrem  Berufe  ausgesetzt  sind,  ist  bis  heute  weit 
weniger  geschehen,  als  für  jede  andere  Kategorie  gewerb- 
licher Arbeiter.  Es  ist  an  der  Zeit,  dass  man  nicht  nur  der 
Produktion,  sondern  auch  den  Produzenten  einige  Aufmerk- 
samkeit zuwendet.  Dem  Reiche  würde  es  geziemen,  hier 
energisch  vorzugehen  und  jahrelange  .Sünden  endlich  gut 
zu  machen. 

Leo  Verkauf. 


Arbeiterzustände. 


Ueber  die  Abnahme  der  Arbeitskraft. 


Während  in  den  Berechnungen  der  Unternehmer  die 
Abnützungsquote  der  Maschinen  ein  entscheidendes  Item 
bildet,  denkt  kaum  jemand  daran,  die  Abnutzung,  welcher 
die  Arbeitskraft  unserer  Arbeiterbevölkerung  heute  ausge- 
setzt ist,  in  Anschlag  zu  bringen.  Mit  der  Arbeitskraft  der 
Bevölkerung  kann  Raubbau  getrieben,  sie  kann  in  tollem 
Konkurrenzkämpfe  durch  Hungerlöhne  und  übermässige 
Arbeitszeit  verschleudert  und  verschwendet  werden. 

Solange  man  über  die  Abnutzung  der  Arbeitskraft 
keine  genauen  statistischen  Daten  Vorbringen  kann,  ist  es 
ja  gewiss  misslich,  an  dieser  Frage  zu  rühren.  Nun  haben 
aber  zwei  sozialstatistische  Untersuchungen,  die  vor  Kurzem 
erschienen  sind,  eine  Reihe  von  Ziffern  geliefert,  welche  die 
rasche  Abnutzung  der  Kraft  unserer  Arbeiter  in  ein  helles 
Licht  rücken. 

Die  eine  Untersuchung  ist  vom  badischen  Fabrik- 
inspektorate  unternommen  worden  und  erstreckt  sich  auf 
8375  männliche  Fabrikarbeiter  der  Mannheimer  Gross- 
industrie. Einen  Schluss  in  betreff  der  Abnahme  der 
Leistungsfähigkeit  kann  man  in  der  Weise  ziehen,  dass 
man  den  Altersaufbau  dieser  Arbeiter  vergleicht  mit  dem- 
jenigen der  übrigen  Bevölkerung.  Nimmt  man  auf  beiden 
Seiten  die  Altersklasse  von  20 — 40  Jahren  zum  Ausgangs- 
punkte, so  ergeben  sich  folgende  Verhältniszahlen: 


nur 


Grossherzogthum 

% 

20 — 40  Jahre  alt  100 
40—50  „ ,,  42,1 

50—60  „ „ 29,6 

über  60  ,,  „ 30,8 


Mannheimer 

Fabrikarbeiter 

% 

100 

19,7 

8,9 

2,4 


Es  erhellt  demnach,  dass  im  Alter  von  40 — 50  Jahren 
noch  etwa  die  Hälfte  der  Arbeiter  sich  in  der  Fabrik 


befindet;  mit  dem  50.  Lebensjahre  und  darüber  ist  sogar 
die  ganz  überwiegende  Mehrheit  der  Arbeiter  aus  der 
Fabrik  ausgeschieden.  Das  Ausscheiden  aus  der  Fabrik 
kann  verschiedene  Ursachen  haben.  Die  Arbeiter  können 
ausgewandert  oder  zu  anderen  nicht  in  das  Beobachtungs- 
gebiet fallenden  Beschäftigungen  übergegangen  sein.  Nach 
Ansicht  des  Berichterstatters  dürfte  aber  das  Ausscheiden 
aus  diesen  Gründen  in  beträchtlichem  Umfange  nicht  anzu- 
nehmen sein.  Man  muss  vielmehr  daraus  schliessen,  dass 


20 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  2. 


entweder  die  Sterblichkeit  der  Fabrikarbeiter  weit  höher 
ist  als  diejenige  der  übrigen  Bevölkerung,  oder  aber,  dass 
ein  grosser  Theil  der  Arbeiter  bereits  in  frühen  Jahren 
wegen  zu  weitgehender  Abnutzung  der  Arbeitskraft  durch 
jüngere,  leistungsfähigere  Elemente  ersetzt  wird.  In  jedem 
Falle  aber  liegt  die  rasche  Abnahme  der  Arbeitskraft  klar 
zu  Tage. 

Noch  werthvoller  sind  die  Berechnungen,  welche  sich 
auf  Grund  der  „Nordböhmischen  Arbeiterstatistik“,  einer 
von  der  Reichenberger  Handels-  und  Gewerbekammer  ver- 
anstalteten Erhebung,  aufstellen  lassen.  Die  folgenden 
Reihen  stellen  den  Altersaufbau  der  männlichen  Bevölkerung 
Oesterreichs  einerseits  und  denjenigen  der  57  867  Individuen 
zählenden  männlichen  Fabrikarbeiterbevölkerung  des 
Reichenberger  Kammerbezirks  andererseits  dar.  Zum 
Ausgangspunkte  sind  die  Angehörigen  der  Altersklasse 
16 — 20  Jahre  gewählt  worden.  In  der  fünften  Kolonne 
findet  sich  noch  der  durchschnittliche  Wochenverdienst  der 
Stücklohnarbeiter  der  nebenstehenden  Altersklassen.  Auch 
diese  bringt  ja  die  abnehmende  Leistungsfähigkeit  der 
Arbeiter  genau  zum  Ausdrucke: 


Mannl. 


in  %o 


Die  neben- 
stehenden Alters- 

Durchsch  nittl. 

Männl. 

klassen  der  Fabrik- 

verdienst 

P abrikarbeiter 

mehr  (-t-J  oder 
weniger  (— ) Ange- 

der  mannl. 

Nordbohmens 

Stücklohn- 

>n  %o 

hörige,  als  die- 
jenigen der  übrigen 
Bevölkerung 

arbeiter 

fl. 

16 — 20  fahre  alt 

1000,0 

1000,0 

- 50,2 

21  -25  „ 

1 

931,1 

880,9 

26—30  „ 

784,3 

968,0 

-f  184,0 

31—35  „ 

726,4 

724,9 

— 1,5 

36—40  „ 

684,1 

638,1 

— 46.0 

41—45  „ 

628,5 

472,6 

— 1 15,9 

46—50  „ 

526,9 

395.2 

- 131,7 

51—55  „ 

455,5 

274,5 

- 181,0 

56—60  „ 

’’  j 

391,1 

184.1 

— 207,0 

— 216,2 

61—65  „ 

334,6 

118,4 

66—70  „ 

H ! 
V ' 

223,2 

57,3 

— 165,8 

über  70  „ 

236,8 

28,7 

— 208,1 

4,62 
6,00 
6,87 
7,25 
7,10 
7,07 
6,61 
6.39 
6,18 
6,02 
5,31 
3,64 

Sieht  man  von  den  für  den  vorliegenden  Zweck  be- 
langlosen jüngeren  Altersklassen  ab,  so  zeigt  nur  die 
Altersklasse  31—35  Jahre  der  Arbeiterbevölkerung  eine  mit 
der  übrigen  Bevölkerung  übereinstimmende  Besetzung.  In 
dieser  Altersklasse  vermag  der  Arbeiter  auch  am  meisten 
zu  leisten.  Die  Stücklohnverdienste,  welche  die  Leistungen 
ja  getreu  abspiegeln,  stellen  sich  hier  am  höchsten.  Mit 
dem  35.  Jahre  aber  nimmt  die  Besetzung  der  Altersklassen 
bei  den ' Arbeitern  ebenso  wie  deren  Verdienst  rasch  ab. 
Nehmen  wir  an,  dass  die  Sterblichkeit  der  Arbeiter  mit 
derjenigen  der  übrigen  Bevölkerung  übereinstimme  — eine 
Annahme,  die  freilich  zu  günstig  ist  — so  würden  auch  in 
Nordböhmen,  da  Auswanderung  oder  Uebergang  zu  anderen 
Beschäftigungen  wenig  in  Betracht  kommt,  von  den  Arbeitern 
im  Alter  von  41—50  Jahren  bereits  ein  Viertel,  von  den- 
jenigen im  Alter  von  51—60  Jahren  nahezu  die  Hälfte  ihre 
Stellung  in  der  Fabrik  bereits  verloren  haben.  Auch  hier 
trifft  der  Ausspruch  der  badischen  Aufsichtsbeamten  zu: 
„Die  Arbeiter  werden  im  Allgemeinen  rasch  alt“. 

Von  den  Bevölkerungsstatistikern  wird  bekanntlich 
grosser  Werth  darauf  gelegt,  dass  innerhalb  einer  Nation 
die  Besetzung  der  „produktiven“  Altersklassen  eine  ver- 
gleichsweise starke  sei.  Das  Verhältnis  zwischen  den  pro- 
duktiven und  nicht  produktiven  Angehörigen  eines  Volkes 
muss  aber  alles  Uebrige  gleichgesetzt  um  so  ungünstiger 
werden,  je  rascher  die  Abnutzung  der  Arbeitskraft  in  den 
jüngeren  Altersklassen  vor  sich  geht.  So  dürfte  es  denn 
auch  schon  vom  rein  wirtschaftlichen  Standpunkte  aus  ge- 
rechtfertigt erscheinen,  dass  durch  Einschränkung  der 
Arbeitszeit  und  Erhöhung  des  Lohnes  der  jetzt  erschreckend 
schnelle  Verfall  der  Arbeitskräfte  aufgehalten  oder  ver- 
langsamt würde. 

Freiburg  i.  B.  Heinrich  Herkner. 


Eine  „Mnsterarbeitsordnung“  für  Bergwerke.  Der 

Verein  für  die  bergbaulichen  Interessen  im  Oberbergamts- 
bezirk Dortmund  hat  in  seiner  Hauptversammlung  vom  30.  De- 
zember 1891  gutgeheissen  und  den  Zechen  seines  Bezirks 
zur  baldigen  Annahme  empfohlen,  weil  die  Zechen  nach 
dem  Inkrafttreten  der  revidirten  Gewerbeordnung  vom 
1.  Juni  1891  und  der  im  preussischen  Landtag  zu  beraten- 
den Berngesetznovelle  ohnedies  Arbeitsordnungen  einführen, 
und  dieselben  ausserdem  mit  den  Arbeitern  vereinbaren 

müssten.  „ „ . . r , 

Da  die  Bergarbeiterenquete  von  1889  (S.  34)  u.  A.  fest- 
stellte,  dass  auf  den  westfälischen  Steinkohlengruben  sogar 
Geldstrafen  von  den  Bergleuten  eingezogen  wurden,  ohne 
dass  überhaupt  eine  schriftliche  Arbeitsordnung  vorhanden 
war,  so  bedeutet  das  nun  empfohlene  „Muster“  immerhin 
einen  Fortschritt.  Aber  andererseits  berührt  es  schon 
eigentümlich,  dass  sich  die  Zechenbesitzer  davor  scheuen, 
die  Arbeitsordnung  mit  ihren  Arbeitern  festzusetzen. 
Das  jetzt  einseitig  von  den  Unternehmern  beschlossene 
„Muster“,  welches  in  No.  99  des  Vereinsorgans  „Glückaul“ 
(12.  Dezember  1891)  veröffentlicht  wurde,  regelt  I.  den  Ar- 
beitsvertrag (Betriebsführer,  14  tägige  Kündigung,  6 Ent- 
lassungsgründe  gegen  den  Arbeiter,  4 Gründe  zum  sotorti- 
tio-en  Verlassen  der  Arbeit  gegen  den  Unternehmer).  Hier 
fällt  u.  A.  auf,  dass  „Schmähungen“  nur  dem  Unternehmer 
o-egen  Arbeiter,  nicht  aber  dem'  Arbeiter  gegen  den  Unter- 
nehmer ein  Recht  zur  sofortigen  Auflösung  des  Arbeits- 
verhältnisses  geben,  dass  im  Falle  grundloser  Entlassung 
des  Arbeiters  der  Unternehmer  nur  für  die  halbe  Kündi- 
guno-sfrist  den  Lohn  auszuzahlen  verpflichtet  sein  soll. 

* & Abschnitt  II  regelt  die  Schichtzeit  8 stiindig  (aus- 

schliesslich Ein-  und  Ausfahrt)  für  Arbeiter  unter  Tage, 

1 0 stündige  für  solche  über  Tage.  Länger  als  die  regel- 
mässige  Zeit  haben  die  Bergleute  zu  arbeiten  „bei  vor- 
handener  Gefahr  für  das  Leben  von  Arbeitern  oder  für  die 
Sicherheit  und  die  ungestörte  Unterhaltung  des  Be- 
triebes, sobald  sie  von  ihren  Vorgesetzten  dazu  aufge- 
fordert werden“.  Unter  III.  Lohnberechnung  ist  wenigstens 
bestimmt,  dass  eine  Lohnherabsetzung  den  Arbeitern  so  früh- 
zeitig»- mitgetheilt  werden  muss,  dass  sie  von  ihrem 
Kündigungsrecht  Gebrauch  machen  können.  Bei  theil- 
weiser"  Unterbrechung  der  Arbeit  haben  die  Bergleute 
keinen  Anspruch  auf  Lohn.  Veränderungen  im  Ausmass 
der  Förderwagen  sind  ihnen  bekannt  zu  geben.  Die 
Lohnfrist  wird  auf  volle  anderthalb  Wochen(!) 
festgesetzt.  Airschlagszahlungen  soll  es  nur  monatlich 
weben.  Abgezogen  werden  sollen  „die  Pf ennige,  welche 
bei  Ermittelung  des  auszuzahlenden  Restlohnes  über  die 
Zehner  hinausgehen“,  und  zwar  der  „einfacheren  Aus- 
lohnunghalber; man  würde  diese  Bestimmung  kaum  glauben, 
wenn  man  sie  nicht  im  Zechenorgan  schwarz  aut  weiss  läse. 
Sonst  sind  noch  8 Rubriken  für  Abzüge  offen  gelassen,  u.  A. , 
für  Sprengmaterialien,  „fahrlässig  verdorbene“  Werkzeuge 
und  Lampen  u.  s.  w.  Im  Entwurf  des  Veremsvorstandes 
war  wenigstens  das  üelgeld  weggelassen.  Der  Vorstand 
stand  nach  der  „Köln.  Ztg.“  auf  dem  Standpunkte,  dass  in 
Zukunft  kein  Oelgeld  abgehalten  werden  solle,  da  es  ein 
alter  Zopf  sei,  solches  zu  berechnen.  Es  wurde  betont, 
dass  der  Bergmann  der  einzige  Arbeiter  sei,  der  seine  Ar- 
beitsstätte auf  eigene  Kosten  erleuchten  müsse.  Aus  der 
Hauptversammlung  vom  30.  Dezember  erhob  sich  jedoch 
hierwegen  starker  Widerspruch,  sodass  beschlossen 
wurde,  die  Kosten  für  das  Geleuchte  mit  in  die 
Arbeitsordnung  aufzunehmen.  Denjenigen  Zechen, 
welche  hiervon  absehen  wollen  oder  bereits  das  Oelgeld 
abgeschafft  haben,  sei  es  überlassen,  nach  Belieben  zu 
handeln.  Beschwerden  wegen  unrichtiger  Lohnermittelung 
werden  unter  eine  Präklusivfrist  von  acht  Tagen  gestellt. 
Strafgelder  und  Lohnabzüge  werden  für  12  Fälle  ganz  be- 
sonders angedroht,  u.  A.  wegen  Zuspätkommens  (ohne  Zeit- 
begrenzung), wegen  „nicht  sorgfältiger  Arbeit“,  wegen 
Benützung  anderer  als  für  den  Einzelnen  bestimmten  Ma- 
terialien '"und  Werkzeuge  (!!),  w»egen  „Neckens“  oder 
„Schimpfens“  der  Mitarbeiter  oder  Grubenpierde  (!!),  end- 
lich wegen  „Belügens  der  Vorgesetzten“.  Das  „Nullen  un- 
reiner Wagen“  wird  beibehalten,  nur  der  einbehaltene  Lohn 
in  eine  Unterstützungskasse  abgeführt,  über  deren  Kontrolle 
durch  die  Arbeiter  Nichts  gesagt  ist.  Die  Kontrolle  über 
das  Nullen  können  sie  durch  Delegirte  „auf  ihre  Kosten1 
und  „ohne  dass  der  Betrieb  darunter  leidet“  vornehmen 
lassen.  Gemeinschaftliche  Beschwerden  und  Wünsche 
„dürfen  höchstens  durch  3 Betheiligte“  bei  dem  Betriebs- 
führer  voro-ebracht  werden.  Dieser  Auszug  genügt  wohl, 


No.  2. 


■SOZ I ALPOI , I TI  SC)  IKS  CENTRALBLATT. 


21 


uni  erkennen  zu  lassen,  dass  hier  wieder  Keime  zu  unver- 
meidlichen Konflikten  mit  grossem  Geschick  gelegt  sind. 
Der  Referent  in  der  oben  erwähnten  Zechen  Versammlung 
sagte  freilich  (nach  der  „Köln.  Ztg.“):  „In  Bezug  auf  die 
Verträge  sei  der  Arbeiter  dem  Arbeitgeber  in  der  neuen 
Arbeitsordnung  gleichgestellt.  Beim  Nullen  von  Wagen 
sei  der  Grundsatz  der  Gleichberechtigung  sogar  zu  Gunsten 
des  Arbeiters  verlassen,  da  die  Gelder  für  die  genullten 
Wagen  (eingehaltener  Lohn)  in  die  Unterstützungskasse 
der  Bergleute  fliessen,  die  Grube  also  gar  keine  Entschä- 
digung für  die  Reinigung  der  genullten  Kohlen  erhalte. 
Wenn  gegen  das  Nullen,  wie  es  vor  dem  Ausstand  geübt 
worden,  gearbeitet  worden  sei,  so  wäre  solches  zu  Unrecht 
geschehen,  denn  der  bisher  eingehaltene  Lohn  habe  nicht 
ausgereicht,  um  die  Zeche  zu  entschädigen.“  Aber  der 
Text  der  „Musterordnung“  straft  diese  Aeusserung  leider 
Lügen. 

Das  Tabakmonopol  und  die  Lage  der  ungarischen  Tabak- 
arbeiter. In  den  elf  staatlichen  Fabriken  wurden,  wie  ein 
Budapester  Arbeiterblatt  meldet,  nahezu  16  000  Arbeiter  be- 
schäftigt, die  jährlich  etwa  150  000  Meterzentner  Rohtabak  zu 
Zigarren,  Zigarretten  und  Rauchtabak  verarbeiten  Der  Staat  er- 
zielte aus  dem  Tabakmonopol  im  Jahre  1890  einen  Reingewinn  von 
28'A Millionen  Gulden.  Die  Arbeiter  in  den  Tabakanpflanzungen 
übernehmen  die  Felder  von  den  Grosspächtern  gegen  den 
halben  Ertrag  in  Bearbeitung.  Ausserdem  erhalten  sie  Wohnung, 
ferner  während  des  Sommers  Futter  resp.  Weide  für  eine  Kuh 
per  Familie.  In  einem  Hause  mit  1 Zimmer,  1 Kammer,  1 Küche 
und  I Stall  wohnen  2 4 Familien.  Die  Arbeiten  beginnen  Mitte 
März  und  dauern  bis  Anfangs  Dezember.  Während  dieser  Zeit 
wird  nicht  blos  die  Arbeit  der  aus  5-6  Köpfen  bestehenden 
Familie  voll  in  Anspruch  genommen,  sondern  während  des 
Sortirens  muss  jede  Familie  noch  7 — 8 Hilfsarbeiter  in  Lohn 
nehmen.  Wie  hoch  ist  nun  das  Einkommen  einer  Familie? 
Die  Familie  von  5 Köpfen  verarbeitet  etwa  58—60  Meterzentner. 
Dafür  werden  600  - 620  Gulden  bezahlt,  die  Arbeiterfamilie  be- 
kommt aber  nur  die  Hälfte,  300 — 310  Gulden  Nach  Abzug  des 
Antheils  der  Hilfsarbeiter  verbleiben  ihr  258  Gulden  als  Arbeits- 
lohn für  260  Tage  mal  die  Zahl  der  arbeitenden  Personen  1 5), 
also  für  1300  Arbeitstage.  Der  während  der  „Saison“  erreichte 
Durchschnittslohn  beträgt  somit  1 9 ll/m  Kreuzer  und  der  Tages- 
lohn im  Jahresdurchschnitt  14*/s  Kreuzer. 

lieber  die  Ausnützung  der  Arbeiter  in  den  Nahrungs- 
mittelgewerben gibt  eine  am  30.  Dezember  v.  J.  vor  dem  Stutt- 
garter Gewerbeschiedsgericht  stattgehabte  Verhandlung  Aus- 
kunft. Der  klagende  Bäckergeselle  gab  an,  dass  er  vom  23.  De- 
zember Nachts  gegen  12  LThr  bis  zum  25.  Dezember  Morgens 
5 Uhr  ohne  zu  schlafen  gearbeitet  habe.  Das  ist  eine  durch 
Schlaf  und  Erholung  nicht  unterbrochene  53  ständige  Arbeitszeit. 

Die  Arbeitsdauer  in  den  Mainzer  Zigarren-  und  Tabak- 
geschäften.  Die  Mainzer  Tabakgeschäfte  werden  vom  6.  Januar 
i dieses  Jahres  allabendlich  um  9 LThr  geschlossen  werden.  Die 
von  den  Mainzer  Metzgern  seit  einem  Jahre  durchgeführte 
Schliessung  der  Verkaufsstellen  von  1 — S'/a'Uhr  Nachmittag  hat 
! sich,  wie  der  „Frankfurter  Zeitung“  geschrieben  wird,  gut  be- 
währt. Die  Verbraucher  wissen  sich  damit  abzufinden. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Ein  Strike  der  Bierbrauergehilfen  in  Bayern. 

Die  Bierbrauer  in  Bayern,  insbesondere  in  Nürnberg, 
haben  sich  bis  in  die  jüngste  Zeit  den  gewerkschaftlichen 
Vereinigungen  der  Arbeiter  vollständig  fern  gehalten,  die 
Sozialdemokratie  hatte  nirgends  Einfluss  auf  diese  Arbeiter, 
und  nun  befinden  sich  die  Nürnberger  Brauer  in  einem  Strike, 
welcher  an  Hartnäckigkeit  keinem  anderen  Lohnkampfe  nach- 
I steht.  Die  Bewegung  geht  zurück  auMas  vergangene  Frühjahr. 
Gegen  Ende  März  vorigen  Jahres  fanden  verschiedene 
Brauerversammlungen  statt,  in  welchen  die  Verhältnisse  im 
Brauergewerbe  eine  grelle  Beleuchtung  erfuhren,  und  die 
I Zustände  im  Allgemeinen  als  unerträglich  bezeichnet  wurden, 
hi  einer  dieser  Versammlungen  wurde  beschlossen,  die 
! Forderungen  der  Arbeiter  zu  formuliren  und  sie  den  Unter- 
nehmern zu  unterbreiten.  Dies  geschah  gegen  Mitte  April. 
Die  Arbeiter  beanspruchten:  Eine  Arbeitszeit  an  Wochen- 
tagen von  1 1 Stunden,  an  Sonntagen  von  4 — 6 Stunden, 
eine  der  Verkürzung  der  Arbeitszeit  entsprechende  Lohn- 


erhöhung oder  eine  Erhöhung  des  Minimallohnes  und  Ver- 
besserung der  Schlafstätten.  Bis  dahin  lagen  die  Dinge 
folgendermassen.  In  der  Tucher’schen  Brauerei  erhielten 
die  Arbeiter  einen  Minimallohn  von  monatlich  72  Mk„  ausser- 
dem täglich  7 1 Bier  und  Freiquartier.  Die  Arbeitszeit  war 
keine  geregelte,  sie  betrug  im  Sudhaus  täglich  bis  zu 
18  Stunden.  Die  Kellerburschen  mussten  th eil  weise  schon 
Morgens  um  2 Uhr  ihr  Lager  verlassen;  die  Arbeit  im 
Keller  begann  um  3 Uhr  früh.  Für  warmes  Frühstück  war 
keine  Sorge  getragen;  da  zu  dieser  frühen  Stunde  Cafes 
noch  nicht  geöffnet  sind,  mussten  die  Leute  bis  9 Uhr  Vor- 
mittags, wo  Frühstückszeit  ist,  mit  nüchternem  Magen 
arbeiten,  in  einer  Temperatur,  welche  selten  2 Grad  Reau- 
mur  übersteigt.  Die  Schlafräume  befanden  sich  unter  dem 
Dach,  waren  nicht  heizbar  und  genügten  auch  sonst  nicht 
den  bescheidensten  Ansprüchen. 

In  der  Brauerei  Lederer  betrug  der  Minimallohn  70  Mk. 
monatlich.  Die  Arbeitsverhältnisse  sind  die  gleichen  wie 
bei  Tücher,  jedoch  sind  die  Schlafräume  gesünder,  und 
ausserdem  ist  ein  Zimmer  zu  gemeinsamer  Einnahme  der 
Mahlzeiten  vorhanden.  Die  Reif’sche  Brauerei  lieferte  die 
meisten  Arbeiter  in’s  Krankenhaus,  was  auf  die  ausser- 
ordentlich sanitätswidrigen  Schlafräume  und  darauf  zurück- 
geführt wird,  dass  der  Dampf,  welcher  durch  Bier-  und 
Maischsud  erzeugt,  wird,  keinen  genügenden  Abzug  hat, 
weshalb  die  im  Sudhaus  beschäftigten  Leute  nie  trocken 
werden.  In  der  Zeltner’schen  Brauerei  sind  die  Lohnver- 
hältnisse besser  als  in  den  vorgenannten  Geschäften,  der 
Minimallohn  beträgt  bei  Zeltner  seit  Jahresfrist  80  Mk. 
monatlich,  dagegen  ist  von  einer  geregelten  Arbeitszeit  in 
diesem  Geschäft  erst  recht  keine  Rede.  Drei,  vier  Mal  in 
der  Nacht  werden  die  Arbeiter  von  ihrem  Lager  aufge- 
scheucht, so  dass  von  einer  eigentlichen  Nachtruhe  kaum 
gesprochen  werden  kann.  Die  Betten  der  Arbeiter  sind 
von  einer  Beschaffenheit,  wie  sie  kläglicher  kaum  gedacht 
werden  kann.  Im  Brauhaus  Nürnberg  war  die  Arbeits- 
zeit einigermassen  erträglich,  es  wurde  daselbst  12  bis 
15  Stunden  gearbeitet.  Der  Minimallohn  bezifferte  sich  auf 
75  Mk.,  die  Schlafräume  und  Gehilfenstuben  sind  die  rein- 
lichsten in  Nürnberg,  die  Betten  sind  gut.  Soviel  über  die 
Grossbrauereien.  In  den  kleinen  Brauereien  weichen  die 
Verhältnisse  insofern  von  den  vorbeschriebenen  ab,  als  die 
Arbeitszeit  täglich  um  ein  bis  eineinhalb  Stunden  kürzer 
ist;  dafür  sinkt  aber  auch  das  Lohnminimum  auf  50  Mk. 
herab.  Die  Schlafstellen  in  diesen  Kleinbetrieben  sind  mit- 
unter abscheulich.  Dass  die  Gesundheitsverhältnisse  der 
Brauer  keine  günstigen  sind,  versteht  sich.  Kellerburschen, 
Schläucher,  Bierführer  und  Mälzer  stellen  ein  bedeutendes 
Kontingent  zu  den  Schwindsüchtigen  und  Magenleidenden. 
Neben  dem  anstrengenden  Beruf,  dem  Wechsel  der  Tempe- 
ratur, der  kurzen  Nachtruhe,  ist  es  besonders  der  Zwang 
zum  Trinken,  welcher  die  Leute  an  ihrer  Gesundheit 
schädigt.  Sie  erhalten  täglich  7 1 Bier;  das  ist  ein  Theil 
ihrer  Verdienstes  und  wird  natürlich  unter  allen  Umständen 
getrunken,  zum  grossen  Nachtheil  namentlich  für  junge 
Leute  und  solche,  die  nicht'  im  Brauereigewerbe  aufge- 
wachsen sind. 

Mit  den  vielgerühmten  patriarchalischen  Verhältnissen 
ist  es  somit  nicht  weit  her.  Die  Brauereibesitzer  haben 
auf  die  Forderungen  ihrer  Arbeiter  von  Mitte  April 
bis  in  die  zweite  Hälfte  des  Dezembers  nicht  reagirt 
und  sie  in  der  Hauptsache  abgelehnt.  Die  Arbeiter 
verlangen  Verkürzung  der  Arbeitszeit;  die  Grossbrauer 
setzen  insbesondere  diesem  Wunsche  den  hartnäckig- 
sten Widerstand  entgegen.  Kräftigen  Rückhalt  fanden 
die  Braugehilfen  an  den  Arbeitern  aller  Berufe,  welche 
in  zahlreichen  Versammlungen  sich  mit  den  Brauern  soli- 
darisch erklären  und  entschlossen  zu  sein  scheinen,  den 
Boykott  über  die  Brauereien  so  lange  aufrecht  zu  erhalten, 
bis  die  Forderungen  der  Braugehilfen  bewilligt  sind,  und 
die  ausständigen  Arbeiter  Unterkunft  gefunden  haben. 

Nürnberg.  Martin  Segitz. 


22 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  2. 


Der  deutsche  Buchdrnekerausstand.  DerStrike  ist  in  ein 
neues  Stadium  getreten,  die  Maassnahmen  der  preussischen 
Regierung  haben  zu  einer  Krisis  geführt.  In  einzelnen  Orten, 
wie  Stettin  und  Breslau,  haben  die  Gehilfen  sich  be- 
dingungslos  unterworfen,  in  der  Mehrzahl  der  Druckorte 
jedoch  ist  der  Beschluss,  auch  mit  geringer  Unterstützung 
den  Ausstand  fortzuführen,  mit  Begeisterung  angenommen 
worden,  so  in  Berlin,  Hamburg,  München,  Halle  a.  S., 
Mainz,  Nördlingen,  Oldenburg,  Erfurt  u.  s.  w.  Wie  die 
Dinge  liegen,  steht  ein  baldiger  Entscheid  des  Kampfes  be- 
vor. Das  konsumirende  Publikum,  dessen  Aufträge  ent- 
weder nicht  oder  nur  mangelhaft  ausgeführt  wurden,  wird 
nach  und  nach  ungeduldig  und  drängt  die  Druckfirmen  zur 
Erfüllung  ihrer  Verträge,  Adressbücher  und  ähnliche  zum 
Jahreswechsel  nöthige  Erzeugnisse  konnten  nicht  tertig- 
o-estellt  werden.  Unter  den  Prinzipalen  selbst,  welche 
äurch  jeden  Tag  der  Fortdauer  dieses  langwierigen 
Streites  ausserordentlich  geschädigt  werden,  herrschen 
Differenzen;  der  natürliche  Gegensatz  der  Klein-  und  .Mittel- 
betriebe zu  den  kapitalstarken  Grossunternehmungen  tritt 
hierbei  zu  Tage.  Finanzielle  Verluste  sind  aber  für  die 
Unternehmer  überhaupt  nicht  zu  vermeiden;  dass  sie  stetig 
wachsen,  ergibt  sich  aus  der  Sachlage.  . .. 

Glückt  es  den  Gehilfen,  durch  freiwillige  Beitrage  den 
Strike  noch  etliche  Wochen  zu  halten  und  eine  Fahnen- 
flucht der  Ausständigen  zu  verhüten,  so  ist  der  Sieg,  zum 
mindestens  die  allgemeine  Durchsetzung  eines  1 heils  der 
Forderungen  nicht  unwahrscheinlich.  ln  der  deutschen 
Arbeiterschaft  ist  nach  der  neuesten  Wendung,  welche  der 
bedeutsame  Neunstundenkampf  der  Buchdrucker  genommen 
hat,  die  Theilnahme  eine  noch  viel  regere  und  thatkräftigere 
geworden.  Allerorten  finden  Versammlungen  statt,  welche 
für  die  energische  Unterstützung  der  Strikenden  sich  aus- 
sprechen. So  betrübend  auch  die  allgemeine  wirthschaft- 
liche  Lage  ist,  so  ist  doch  zu  erwarten,  dass  die  Hilfsmittel 
reichlicher  fliessen  werden.  Nachdem  die  Strikeunterstützung 
herabgesetzt  ist,  eine  nicht  blos  wegen  des  Zwanges  der 
Umstände,  sondern  auch  aus  taktischen  Rücksichten  noth- 
wendige  Maassregel  — man  denke  an  die  Durchschnitts- 
lohnsätze  der  meisten  gewerblichen  Arbeiter  Deutsch- 
lands — ist  der  Widerstand  ein  leichterer,  der  Erfolg  ge- 
sicherter. Immer  vorausgesetzt,  dass  die  Buchdrucker  in 
altbewährter  Mannszucht  für  ihre  Aufgabe  opferwillig  ein- 

stehen.  ,r 

Die  Arbeiterschaft  des  Auslandes,  vor  allem  des  V er- 
einigten  Königreichs  und  der  nordamerikanischen  Union, 
unterstützen  die  deutsche  Bewegung  mit  erheblichen 
Summen.  Entsprechen  die  bisher  gesendeten  Gelder  — etwa 
70  000  Mk.  aus  England,  8000  Mk.  aus  den  Vereinigten 
Staaten  — nicht  den  hochgespannten  Erwartungen,  so  ver- 
gesse man  nicht,  dass  das  ausländische  Publikum  durch 
falsche  Darstellungen,  Tendenznachrichten  u.  s.  w.  mehr- 
fach getäuscht  worden  ist  und  durch  die  Urabstimmung,  wie 
sie  für  Unterstützungsfragen  in  den  englischen  1 rades 
Unions  zum  Theil  vorgeschrieben  ist,  der  Gang  der  ( ge- 
schähe etwas  verlangsamt  wird.  Bedeutsam  ist  jedenfalls 
das  warmherzige  Kingreifen  der  fremden  Gewerkschatten 
für  die  deutschen  Buchdrucker:  die  Internationalität  der 
Arbeiterbewegung,  die  Gemeinsamkeit  der  Arbeiterintet  - 
essen  in  allen  Kulturländern  tritt  klar  zu  Tage. 

Ein  letzter  Versuch,  durch  den  preussischen  Handels- 
minister eine  Vermittelung  herbeizuführen,  ist,  wie  man 
hört,  daran  gescheitert,  dass  die  Prinzipale  sich  weigerten, 
zur  Ermöglichung  von  Verhandlungen  alle  Vorbedingungen 
fallen  zu  lassen. 

Bergarbeiterausstand  in  Steiermark  und  Kram.  In  Steier- 
mark und  Krain  sind  die  Bergarbeiterverhältnisse  äusserst  un- 
günstige,und  mit  elementarer  Gewalt  von  Zeit  znZeit  ausbrechende 
Strikes  zeigen  die  tiefgehende  Verstimmung  der  Grubenleute  und 
den  Mangel  einer  straffen  Organisation.  Dass  dem  so  ist,  ver- 
schuldet nicht  allein  der  tiefe  Stand  des  Lebensfusses  der  Arbeiter, 
sondern  auch  die  gerade  in  diesen  Bezirken  mit  erstaunhchei 
Rücksichtslosigkeit  ~ auftretende  Willkür  einer  zu  mächtigem 
Kartell  vereinigten  Unternehmerschaft,  welche  an  den  öffent- 
lichen Gewalten  einen  Rückhalt  findet.  Denn  ein  steierischer 
Bergarbeiterausstand  und  zugleich  das  Eingreifen  der  militäri- 
schen Macht  ist  etwas  Regelmässiges.  „In  Tnfail  trat  Militär 
ein,  da  Ausschreitungen  stattfanden“,  meldet  denn  auch  die 
„Voss.  Zeitung“.  Im  Köflacher  Revier  striken  alle  Bergarbeiter 
bis  auf  die  Knappen  der  Gewerkschaft  Zangthal,  denen  Lohn- 
erhöhung zugestanden  wurde.  Die  Ausständigen  verlangen 
strengere  Einhaltung  der  Achtstundenschicht,  1 G.  50  Kr. 
Häuerlohn,  1 G.  20  Kr.  für  Förderung.  Seitens  der  Köflacher 
Gesellschaft  wurde  der  Häuerlohn  mit  1 G.  20  Kr.,  hörderlohn 


mit  90  Kr.  festgesetzt.  Die  Gewerken  lehnen  jede  Unterhand- 
lung. ab.  In  den  Städten  wird  Kohlenmangel  eintreten,  die 
Südbahn  hat  nach  der  „N.  Fr.  Pr.“  in  Voraussicht  des  Aus- 
standes den  Bedarf  für  längere  Zeit  gedeckt. 

Der  schweizerische  Grütliverein,  die  stärkste  gemässigte  . 
sozialdemokratische  Arbeiterorganisation  der  Schweiz,  hatte 
bisher  nur  ein  Organ  in  deutscher  Sprache,  den  dreimal 
wöchentlich  in  einer  Auflage  von  14  000  Exemplaren  erschei- 
nenden „Grütlianer“.  Vom  1.  Januar  ab  besitzt  der  Verein  auch 
ein  französisches  Organ,  „Le  Grütli“.  Ausserdem  erscheint  seit 
Kurzem  für  den  französisch  - schweizerischen  Jura  ein  neues 
Arbeiterblatt,  „Le  Socialiste“. 

Die  französischen  Tabakarbeiter  und  Tabakarbeiterinnen 
— die  Tabakfabrikation  und  der  Handel  mit  den  Produkten 
derselben  sind  in  Frankreich  bekanntlich  Staatsmonopol  — 
hielten  während  der  letzten  Weihnachtsfeiertage  in  der  Pariser 
Arbeiterbörse  einen  Kongress  ab.  Von  den  20  Staatsfabriken 
waren  15  durch  ca.  50  Delegirte  vertreten.  Die  Diskussionen 
haben  sich  beschäftigt  mit  Mer  offiziellen  Anerkennung  der 
o-ewerkschaftlichen  Organisation  der  Tabakarbeiter,  mit  der 
Anwendung  der  Fabrikordnungen,  der  Schaffung  von  Krippen 
in  den  Fabriken  und  der  Revision  der  Löhne  entsprechend  den 
lokalen  Bedürfnissen.  Ferner  wurde  der  Wunsch  ausgesprochen, 
dass  die  Verwaltung  die  Staatspensionen  auf  720  Francs  für 
die  Männer  und  auf  540  Francs  für  die  Frauen,  welche  25  Jahre 
im  Dienste  der  Staatsfabriken  standen,  festsetze.  Eine  Depu- 
tation von  sieben  Mitgliedern  hat  dem  Generaldirektor  der 
Tabakverwaltung  die  Wünsche  des  Kongresses  übermittelt 
Dieselben  wurden  zur  Kenntniss  genommen.  Eine  Deputation 
des  Kongresses  wurde  auch  von  dem  Minister  Rouvier  empfangen, 
welcher  ihren  Beschwerden  grösste  Aufmerksamkeit  zusicherte,., 
aber  ein  Eingehen  auf  dieselben  im  kommenden  Jahre,  flu 
welches  das  Budget  schon  fast  ganz  bewilligt  sei,  für  unmöglich 
erklärte. 

Eine  Gewerkschaft  (1er  Kleider-  und  V äsclienäherinnen 

wurde  in  den  letzten  Tagen  des  verflossenen  Jahres  in  Paris 
gegründet. 

Ueber  das  französische  Arbeitersekretariat,  das  am 
9 Januar  in  Thätigkeit  treten  wird,  hat  sich  Jules  Guesde  < 
einem  Interviewer  gegenüber  folgendermassen  geäussert.  Das- 
selbe  ist  infolge  der  Anregung  des  internationalen  Kon-  , 
o-resses  zu  Brüssel  gegründet  worden,  es  soll  den  Arbeitern 
ermö°-lichen,  sich  gegenseitig  zu  unterstützen,  Arbeitsgelegenheit 
in  allen  Ländern  zu  suchen.  Jeder  Konflikt  zwischen  Kapital 
und  Arbeit  soll  den  Arbeitern  Frankreichs  und  des  Auslandes 
sofort  mitgetheilt  werden  zum  Zwecke  der  Einschränkung  des 
Zuzuo-es  und  der  Konkurrenz.  Das  Arbeitersekretariat  ist  zu- 
sammengesetzt aus  Delegirten  folgender  Organisationen:  Arbeits- 
börse Föderation  der  Gewerkvereine  (Federation  des  chambres 
svndicales)  Nationale  Föderation  der  gelernten  Arbeiter 
(Federation  nationale  des  metiers)  und  aus  den  verschiedenen  3)  , 
Gruppen  der  sozialistischen  Partei.  Um  den  gewerkschaftlichen 
Interessen  den  politischen  gegenüber  eine  stärkere  \ ertretung  ; 
zu  sichern,  hat  man  den  Arbeitsbörsen  zwei,  den  übrigen  Orga- 1 
nisationen  je  einen  \rertreter  garantirt,  so  dass  vier  Vertretern^ 
der  o-ewerkschaftlichen  Arbeiterinteressen  drei  der  politischen 
o-egenüberstehen  werden.  Die  Korrespondenz  des  Arbeiter-. 
Sekretariats  mit  den  verschiedenen  Arbeiterorganisationen  wird 
durch  die  Sekretaire  der  verschiedenen  Organisationen  ver- 
mittelt werden.  Nur  eine  Schwierigkeit,  die  das  nöthige  Geld 
zu  verschaffen,  hat  sich  ergeben.  Jules  Guesde  hofft  aber  auf 
die  Subventionen  der  sozialistischen  Munizipalverwaltungen, 
deren  es,  wie  er  hofft,  nach  den  nächsten  Wahlen  recht  viele 
geben  wird. 

Arbeitsbörsen  giebt  es  gegenwärtig  in  Frankreich 
zwei  zu  Bordeaux,  von  denen  eine  in  munizipaler,  die 
andere  in  der  Selbstverwaltung  der  Arbeiter  steht,  je  eine 
zu  Paris,  Lyon,  St.  Etienne,  Roanne,  Marseille,  Beziers, 
Montpellier/ Nimes,  Toulouse,  Toulon  und  Cholet.  In  der 
Bildung  sind  Arbeitsbörsen  begriffen  zu  St.  Quentin,  Cette, 
Nantes  und  Troyes.  Die  dreizehn  französischen  Arbeits- 
börsen sind  eben  im  Begriffe  eine  Föderation  der  Arbeits- 
börsen zu  gründen.  Zu  diesem  Zwecke  soll  am  7.  Februar 
in  der  central  gelegenen  Stadt  St.  Etienne  ein  Kongress 
der  Arbeitsbörsen  stattimden.  Veranlassung  hierzu  scheint 
der  Streit  der  in  der  Pariser  Arbeitsbörse  domizilirenden 
Gewerkschaften  mit  dem  Pariser  Gemeinderath  zu  sein, 
welcher  auf  Grund  seiner  starken  finanziellen  Unterstützung 
der  Arbeitsbörse  ein  Recht  der  Mitverwaltung  derselben 
beansprucht. 

Gegen  die  privaten  Stellen vermittlungsbureaux  haben 

die  Münchener  Arbeiter  Stellung  genommen.  Im  Dezem- 
v.  J.  wurde  diese  Frage  in  ihrer  politischen  Organisation, 
dem  „Vereine  für  volksthümliche  Wahlen“  diskutirt,  worauf 
eine  Kommission  bestellt  wurde,  welche  Material  sammeln 
und  Vorschläge  der  Beschlussfassung  des  Vereines  unter- 
breiten sollte.  Die  Ermittelungen  zeigten,  dass  stellungs- 


No.  2. 


SOZI AT .POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


23 


suchende  Personen  in  München  in  unerhörter  Weise  von 
den  privaten  Stellenvermittlungsbureaux  ausgewuchert 
werden.  Es  wurde  bekannt,  dass  die  Polizei  beschwerde- 
führende  Personen  angewiesen  hat,  auf  zivilrechtlichem 
Wege  Schadenersatzklagen  zu  erheben,  wozu  natürlich  die 
Ausgewucherten  sich  nicht  veranlasst  sahen.  Das  Komitee 
schlug  vor,  die  Gemeindekollegien  aufzufordern,  eine  Arbeits- 
börse nach  dem  Muster,  wenn  auch  nicht  im  Massstabe  der 
Pariser  Arbeitsbörse  zu  errichten.  Bis  dies  geschieht,  soll 
ein  strenges  Regulativ  für  die  Arbeitsvermittlungsbureaux 
errichtet  werden,  ähnlich  wie  solche  für  die  Pfandleihanstalten 
existiren,  nur  polizeilich  festgesetzte  Taxen  sollen  erhoben 
werden  dürfen,  welche  in  prozentualem  Verhältnisse  zu  den 
bezahlten  Löhnen  stehen.  Die  Bücher  der  Vermittlungs- 
bureaux  sollen  den  Charakter  öffentlicher  Urkunden  haben 
und  Jedermann  zur  Einsicht  offen  liegen.  Demnächst  wird 
eine  öffentliche  Arbeiter-  und  Arbeiterinnenversammlung 
sich  mit  dieser  Frage  beschäftigen;  die  Beschlüsse  derselben 
werden  an  die  Polizei  und  die  Gemeindekollegien  geleitet 
werden. 

Die  Neunstundenbewegung  der  schweizerischen  Bucli- 
druckergehiilfen.  Die  grosse  Bewegung  der  Buchdruckergehülfen 
in  Deutschland  hat  ihre  Wellen  auch  in  die  Schweiz  geworfen. 
Allerdings  merkt  man  an  der  Oberfläche  nicht  viel.  Es  gab  dort 
keine  Arbeitsausstände,  sondern  es  begnügten  sich  die  Geholfen 
in  den  grösseren  Städten,  auf  dem  Wege  der  höflichenPetition,  ihre 
Prinzipale  um  Reduktion  der  gegenwärtig  10  oder  IOV2  Stunden 
betragenden  Arbeitszeit  auf  9 Stunden  zu  ersuchen.  Bis  jetzt 
sind  indessen  diese  Petitionen  meistens  erfolglos  geblieben. 
Vor  drei  Jahren  ging  die  Typographia  Bern  in  ihrer  Petition  an 
den  Bundesrath  viel  weiter,  sie  verlangte  Reduktion  der  Arbeits- 
zeit auf  8 Stunden  und  Ausschluss  der  Frauen  vom  Setzkasten. 
Der  Bundesrath  erklärte  damals  in  seiner  Antwort,  dass  beim 
Buchdruckereigewerbe  keine  so  gesundheitsschädlichen  Ein- 
flüsse Vorkommen,  dass  von  den  Bestimmungen  über  den  Nor- 
malarbeitstag abgewichen  werden  könne.  Besseren  Erfolg  hatte 
die  schweizerische  Typographia  mit  der  Einführung  des  mit  den 
Prinzipalen  vereinbarten  Lehrlingsregulativs.  In  demselben  ist 
genau  bestimmt,  wie  viele  Lehrlinge  auf  die  Zahl  der  in  einem 
Geschäfte  angestellten  Gehülfen  gehalten  werden  dürfen.  Der 
früher  vielfach  geübten  Lehrlingsausbeutung  ist  damit  gründlich 
der  Riegel  vorgeschoben. 

Für  die  heutige  Forderung  der  Reduktion  der  Arbeitszeit 
machen  die  Gehülfen  geltend  die  gesundheitsschädlichen  Ein- 
flüsse ihres  Gewerbes,  ungenügenden  Schutz  durch  das  Fabrik- 
gesetz und  die  grosse  Zahl  der  Stellenlosen.  Die  Prinzipale 
ihrerseits  begründen  ihre  ablehnende  Haltung  mit  den  heutigen 
ungünstigen  Geschäftsverhältnissen  und  der  drückenden  in-  und 
ausländischen  Konkurrenz.  Dasselbe  Lied  singen  die  Hand- 
werker- und  Gewerbevereine.  Sie  finden,  dass  solche  gesetz- 
lichen Bestimmungen  heute  nicht  am  Platze  und  für  einen  Theil 
der  schweizerischen  Bevölkerung  ungerecht  wären,  und  dass  auf 
jeden  Fall  solche  Vorschriften  von  den  Behörden  erst  erlassen 
werden  dürfen,  wenn  die  wirthschaftliche  Lage  des  Landes  eine 
Arbeitsverminderung  erheische  und  der  Nachweis  geleistet  sei, 
dass  sämmtliche  uns  umgebenden  Konkurrenzstaaten  solche 
Massregeln  bereits  ergriffen  haben.  Das  würde  aber  doch  ein 
wenig  zu  lange  dauern,  unterdessen  wäre  es  wohl  klüger,  man 
würde  sich  beiderseitig  so  verständigen,  wie  dies  in  Bern  ge- 
schehen ist,  wo  die  Offizinen  der  sieben  Klubbuchdrucker  vom 
4.  Januar  ab  die  neunstündige  Arbeitszeit  eingeführt  haben. 


Unternehmerverbände. 


Krisis  im  rheinisch  - westfälischen  Walzwerkverband. 

Der  rheinisch -westfälische  Walzwerkverband,  ein  Zweig  des 
grossen  über  das  Reich  sich  erstreckenden  Walzwerk -Kartells, 
leidet,  wie  der  „Frkf.  Ztg.“  (No.  8 vom  8.  d.  M.,  1.  Morgenblatt) 
geschrieben  wird,  an  dem  Mangel  ausreichender  Aufträge.  Ein 
Werk,  der  Aachener  Hütten-Äktien-Verein  in  Rothe-Erde  bei 
Aachen,  ist  aus  der  Vereinigung  ausgetreten  Ob  diese  in  der 
That  ernstlich  gefährdet  erscheint,  wie  der  Berichterstatter  der 
„Frkf.  Ztg.“  meint,  ist  bei  der  Festigkeit  des  Syndikats  denn 
doch  sehr  zu  bezweifeln.  Preisherabsetzungen,  wie  sie  bereits 
zugestanden  worden  sind,  werden  gegebenen  Falls  noch  weiter 
gemacht  werden;  die  Händler  können  ihren  Bedarf  bei  den 
nicht-syndizirten  Werken  keinesfalls  decken.  So  wird  die  Krisis 
eine  taktische  Schwenkung  in  der  Preispolitik,  nicht  aber  eine 
Zersetzung  des  Verbandes  herbeifuhren. 

Der  Stickereiverband  der  Ostschweiz  hat  durch  die 
Abtrennung  der  Vorarlberger  Sticker  schweren  Schaden 
erlitten.  Die  Vorarlberger  Sticker  haben  sich  eine  beson- 
dere Organisation  geschaffen,  welche  gegen  die  schweize- 


rische einen  erbitterten  Konkurrenzkampf  führt.  Der  Be- 
stand der  schweizerischen  Organisation  ist  durch  zahlreiche 
Austritte  gefährdet.  Die  Arbeiter  scheinen  sich  nun  ohne 
die  Kaufleute  organisiren  zu  wollen. 


Handwerkerfragen. 

Die  Bauhandwerker  und  die  Hypothekenordnung. 

In  Berlin  beginnt  sich  eine  lebhafte  Agitation  bemerk- 
bar zu  machen,  welche  die  alte  Forderung  der  Bauhand- 
werker auf  ein  Vorzugsrecht  für  ihre  Lieferungen  bei  ein- 
tretender  Subhastation  zum  Gegenstände  hat.  Veranlassung 
zu  dieser  Agitation  bietet  der  zur  Berathung  stehende  Ent- 
wurf eines  bürgerlichen  Gesetzbuches. 

Das  preussische  Landrecht  gewährt  den  Bauhand- 
werkern ein  Recht  auf  Vormerkung  ihrer  Forderungen  im 
Grundbuch;  diese  Vormerkungen  stehen  aber  hinter  sämmt- 
lichen  bereits  eingetragenen  Hypotheken  zurück  — und  die 
Eintragung  beliebig  vieler  Hypotheken  auf  den  Namen 
irgend  welcher  Verwandten  des  Unternehmers  lange  vor 
Beginn  des  Baues  kann  nicht  verhindert  werden.  Ein  zu- 
verlässiger Fachmann  giebt  an,  dass  ihm  Fälle  bekannt  seien, 
in  welchen  im  Herbst  schon  alle  Hypothekendokumente  für 
eine  ganze  Häuserreihe  fertig  bei  den  Unternehmern  im 
Kasten  lagen,  während  die  Bauten  im  Frühjahr  erst  be- 
gonnen werden  sollten.  Es  geschieht  dies,  um  die  drei- 
monatliche Einspruchszeit  der  übrigen  Gläubiger,  also 
namentlich  der  Lieferanten  und  Arbeiter  illusorisch  zu 
machen.  In  der  That  hat  sich  denn  auch  die  Lage  des 
Bauhandwerks  in  Folge  der  schwindelhaften  hohen  Grund- 
stückspreise und  des  dadurch  bedingten  Vorschiebens 
zahlungsunfähiger  Strohmänner  als  Bauunternehmer  sehr 
traurig  gestaltet. 

Die  Subhastationen  sind  an  der  Tagesordnung  — von 
535  Neubauten,  die  vom  1 . Oktober  1889  bis  zum  1.  Oktober 
1890  in  Berlin  aufgeführt  wurden,  sind  133  zur  Subhastation 
gekommen  und  zwar  mit  bedeutendem  Ausfall  gegenüber  den 
Eintragungen.  Im  Jahre  1891  waren  die  Verhältnisse  nicht 
besser.  Aus  den  ersten  sieben  Nummern  des  „Bauhand- 
werksschutzes“, Organ  des  kürzlich  begründeten  „Bauhand- 
werkervereins zu  Berlin“  mache  ich  folgende  Zusammen- 
stellung von  Subhastationen  für  die  Zeit  von  sechs  Wochen  : 


Datum 

Lage 

Ein- 

tragungen 

Erlös 

Ausfall 

16.  Juli 

Triftstr.  1 a 

1 1 1 680 

80  000 

31  680 

Liegnitzerstr.  41 

188  150 

160  750 

27  400 

j| 

Lindenerstr.  42 

240  250 

165  000 

75  250 

Birkenstr.  22 

248  080 

230  000 

18  080 

21.  August 

Schulstr.  39 
Kastanienallee  39 

89  000 

65  200 

24  775 

und  Oderbergerstr.7 

256  500 

183  000 

73  500 

26.  August 

Franseckistr.  17 

185  900 

131  000 

54  900 

Buttmannst.  14 

230  580 

190  700 

39  880 

28.  August 

Swinemünderst.  50 

261  140 

118  000 

143140 

Wie  sehr  unter  diesen  Ausfällen  die  Bauhandwerker 
leiden,  mögen  folgende  näheren  Angaben  über  die  Ver- 
theilung  der  Eintragungen  etc.  in  dem  zweiten  der  oben 
angeführten  Fälle  (Liegnitzerstr.  41)  darthun. 


Hypotheken-  Gläubiger 

Belastung 


133515 

Mk. 

Adam,  Baugelder 

16  835 

Werck  & Glierücke 

6000 

Holzhandlung  George  u.  Nicolas 

10  000 

Ww.  Nordgauer 

6 000 

Töpfermeister 

4 000 

Tischlermeister 

2 000 

Staakermeister 

4 000 

Malermeister 

2 000 

Schlossermeister 

2 000 

Gas-  und  Wasseranlagen-Fabrikant 

300 

Steinmetzmeister 

1 500 

55 

Zimmerpolier 

188  150  Mk. 


24 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 


No.  2. 


W\v.  Nordgauer  erwarb  bei  der  Versteigerung  das  j 
Grundstück  für  160  750  Mk. ; der  Ausfall  betrug  mithin 
27  400  Mk.,  sodass  kein  Pfennig  für  die  in  Summa  21  800  Mk. 
betragenden  Forderungen  der  Handwerker  vom  I öpfer- 
meister  bis  zum  Zimmerpolier  herauskam. 

Da  bei  weitem  nicht  alle  Handwerkerforderungen  ein- 
getragen werden,  beziffern  sich  die  Verluste  dieser  Kreise 
weit  höher,  als  aus  den  Subhastationsergebnissen  geschlossen 
werden  kann.  Von  der  Höhe  derselben  mag  man  sich  aus 
folgender  Bemerkung  des  optimistischen  „Berliner  Tage- 
blattes“ einen  Begriff  machen: 

„Die  Behauptung,  dass  in  einem  Jahre  von  Handwerks- 
meistern und  Lieferanten  allein  in  Berlin  30  Millionen  Mark 
verloren  worden  seien,  erscheint  zwar  etwas  hoch  gegriffen, 
dürfte  aber  im  Allgemeinen  den  Verhältnissen  entsprechen.“ 

Zeigt  es  sich  so,  dass  die  Schutzbestimmung  des 
preussischen  Landrechts  für  den  Bauhandwerker  völlig 
unzureichend  ist,  so  muss  es  billig  verwundern,  dass  der 
„Entwurf  eines  Gesetzes  betr.  die  Zwangsvollstreckungen“, 
welcher  neben  dem  Entwurf  einer  Grundbuchordnung  etc. 
im  Anschluss  an  den  Entwurf  des  bürgerlichen  Gesetzbuches 
im  Jahre  1889  erschien,  überhaupt  von  jeder  Schutzbe- 
stimmung absieht.  In  den  Motiven  findet  sich  folgender 
Satz,  dessen  Schluss  nach  den  oben  angeführten  Thatsachen 
geradezu  wie  Hohn  klingt: 

„In  unserer  Zeit  sind  freilich  Bestrebungen  hervorgetreten, 
welche  ein  Vorzugsrecht  für  gewisse  Verwendungsansprüche 
fordern,  namentlich  für  die  Ansprüche  von  Bauhandwerkern, 
welche  Arbeiten  und  Materialien  in  einem  Neubau  verwendet 
haben,  wegen  dieser  Verwendungen.  Allein  es  wäre  ein  höchst 
bedenkliches  Wagnis,  diesen  Bestrebungen  nachzugeben.  Das 
Reich  mag  immerhin  (sic!)  die  Aufgabe  haben,  den  wirth- 
schaftlich  Schwachen  gegen  den  wirthschaftlich  Starken  zu 
schützen.  Ein  solcher  Schutz  würde  hier  in  wirksamer  Weise 
nur  dadurch  ertheilt  werden  können,  dass  den  fraglichen  An- 
sprüchen ein  Vorzugsrecht  nicht  allein  vor  andern  persönlichen 
Ansprüchen,  sondern  auch  vor  den  Ansprüchen  aus  Hypotheken 
und  Grundschulden  zugestanden  wurde.  Auf  diesem  Wege 
käme  die  Gesetzgebung, " wenn  auch  nicht  in  der  Form,  aber 
doch  der  Sache  nach  zu  Hypotheken,  welche,  ohne  selbst  dem 
Eintragungsprinzipe  unterworfen  zu  sein,  eingetragenen  Hypo- 
theken und  Grundschulden  vorgingen.  Ein  solcher  Bruch  in 
das  Eintragungsprinzip  aber  würde,  wie  bereits  früher  dargelegt 
worden  ist,  die  Grundlage  des  Realkredites  erschüttern.  Die 
Aufnahme  von  Hypotheken  und  Grundschulden  auf  Baustellen 
würde  kaum  zu  ermöglichen  sein.  Der  Nachtheil  hiervon  träfe 
aber  nicht  allein  die  Grundbesitzer,  welche  das  zur  Bebauung 
des  Grundstückes  erforderliche  Kapital  nur  im  Wege  des  Real- 
kredites  beschaffen  können,  sondern  auch  die  Bauhandwerker, 
für  welche  die  Gelegenheit  zu  lohnender  Beschäftigung  erheb- 
lich sich  vermindern  würde.“ 

Gegen  diesen  Entwurf  und  seine  Motive  wandte  sich 
zunächst  Professor  Dernburg  in  einer  Artikelreihe  im 
„Pionier“;  ihm  gilt  das  Vorrecht  der  Handwerkerforderungen 
für  geliefertes  Material  und  gelieferte  Arbeit  gegenüber  den 
Hypothekengläubigern  als  nothwendig  und  nützlich.  Den 
ersten  Schritt  zu  einer  thatkräftigen  Agitation  unternahm 
der  „Deutsche  Bund  für  Bodenbesitzreform“.  Seiner  Ge- 
neralversammlung im  Herbst  1891  lag  folgender  Antrag  vor  : 

„Unbeschadet  der  Verfolgung  seiner  viel  durchgreifen- 
deren Forderungen  beschliesst  der  Bund,  um  einem  allgemein 
anerkannten  einzelnen  Uebelstand  schleunigst  abzuhelfen,  fin- 
den Erlass  einer  Gesetzesbestimmung  in  folgendem  Sinne  ein- 
zutreten: „Bei  dem  Besitzwechsel  eines  jeden  irgendwie  be- 
bauten städtischen  Grundstückes  sind  sämmtliche  am  Bau  be- 
theiligt gewesenen  Lieferanten,  Handwerker  und  Arbeiter  für 
das  bis  zur  Zeit  des  Besitzwechsels  gelieferte  Material  und  die 
bis  zu  derselben  Zeit  geleistete  Arbeit  von  dem  Käufer  in  Baar 
zu  bezahlen.  Diese  Schuld  gegenüber  den  Lieferanten,  Hand- 
werkern und  Arbeitern  geniesst  ein  Vorzugsrecht  auch  vor 
einer  ersten  Hypothek.“ 

Nach  einstimmiger  Annahme  des  Antrages  wurde  eine 
Kommission  aus  Bauhandwerkern  und  Juristen  gewählt, 
welche  dem  Antrag  folgende  abgeschwächte  Fassung  gaben: 

„Sämmtliche  am  Bau  eines  Grundstückes  betheiligt  ge- 
wesenen Lieferanten,  Handwerker  und  Arbeiter  haben  innerhalb 
der  Zeit  von  sechs  Monaten  nach  erfolgter  Gebrauchsabnahme 
für  ihre  durch  Lieferungen  von  Materialien  bezw.  Leistungen 
von  Arbeiten  entstandenen  Forderungen  ein  Recht  auf  Ein- 
tragung. Die  so  entstehen  den  Hypotheken  gemessen  ein  Vor- 
zugsrecht vor  allen  anderen  Hypotheken.“ 


In  dieser  Fassung  ist  der  Antrag  bereits  von  einer 
grossen  Bauhandwerkerversammlung  angenommen  und  dem 
Reichstag  als  Petition  überreicht  worden,  während  die 
Kommission  des  Bundes  für  Bodenbesitzreform  noch  immer 
an  einer  endgültigen  Fassung  arbeitet,  welche  sodann  nebst 
einer  ausführlichen  Motivirung  dem  Staatssekretär  des 
Reichsjustizamtes  Bosse  überreicht  werden  soll. 

Es  wäre  wünschenswerth,  dass  die  Regierung  die  Ge- 
legenheit ergreift,  den  Handwerkern  bei  dieser  gerechten 
Forderung  entgegenzukommen,  nachdem  sie  durch  die  Ab- 
sage in  der  Innungsfrage  den  unberechtigten  Wünschen 
endlich  einen  Damm  gesetzt  hat. 

Berlin.  Leo  Arons. 


Lehrlinge  und  Arbeiterorganisationen.  Die  Arbeiter- 
union Bern  hat  dem  Gesuche  von  36  Lehrlingen  entsprochen, 
welches  dahin  ging,  dass  sie  die  Vereinsvorstände  veranlassen 
solle,  dass  die  Lehrlinge  weder  von  den  Meistern,  noch  von  den 
Arbeitern  zu  nicht  zur  Lehre  gehörenden  oder  gesundheit- 
schädlichen Arbeiten  verwendet  werden;  ferner,  dass  man 
ihnen  Aufnahme  in  die  Fachvereine  mit  ermässigten  Beiträgen 
gewähre. 

Für  den  Befähigungsnachweis  findet  zur  Zeit  infolge  der 
letzten  Handwerksdebatten  im  Reichstage  eine  lebhafte  Agitation 
seitens  der  Innungen  statt.  Der  allgemeine  deutsche  Hand- 
werkertag, auf  welchem  diese  Frage  einen  Hauptgegenstand  der 
Verhandlungen  bilden  wird,  findet  demnächst  statt.  Den  Ent- 
scheid der  Reichsregierung  dürfte  diese  Bewegung  freilich 
kaum  beeinflussen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

* 

Der  französische  Gesetzentwurf,  betr.  die  Kinderarbeit. 

Der  Entwurf  eines  Gesetzes  betr.  die  Arbeit  der 
Kinder  und  minderjährigen  Mädchen  in  gewerblichen  Unter- 
nehmungen ist  mit  den  vom  Senat  angenommenen  Aende- 
rungen  zum  dritten  Male  an  die  Abgeordnetenkammer  in 
der  Sitzung  vom  19.  Dezember  1891  zur  Verhandlung  ge- 
langt. Indessen  hat  der  Senat  nunmehr  die  Mehrzahl  der 
Beschlüsse  der  Kammer  genehmigt,  so  namentlich  das  <* 
Verbot  der  Nachtarbeit  für  Frauen  jeden  Alters.  Ein  Zwie- 
spalt zwischen  den  beiden  Versammlungen  besteht  nur 
noch  hinsichtlich  der  Dauer  des  Arbeitstages  der  Frauen 
über  21  Jahren.  In  der  Sitzung  vom  27.  Oktober  1891 
lehnte  es  der  Senat  mit  109  gegen  99  Stimmen  ab,  die  Be- 
schränkung des  Arbeitstages  auf  zehn  Stunden,  wie  sie  für 
jugendliche  Arbeiter  unter  18  Jahren  und  minderjährige 
Mädchen  beschlossen  wurde,  auf  grossjährige  Frauen  aus- 
zudehnen. 

Die  Kommission  der  Abgeordnetenkammer  glaubte  in 
diesem  Punkte  nicht  nachgeben  zu  dürfen.  Und  die  Kammer 
selbst  ist  ihrer  Ansicht  beigetreten,  indem  sie  von  Neuem  I 
mit  362  gegen  168  Stimmen  entschied,  dass  der  Arbeitstag  j 
für  Frauen  jeden  Alters  zehn  Stunden  nicht  überschreiten 
soll.  Zu  gleicher  Zeit  verwarf  sie  einen  Zusatzantrag 
Loreau’s,  der  die  Arbeit  grossjähriger  Frauen  nur  in  den 
Unternehmungen  beschränkt  wissen  will,  welche  durch  Ver-  j 
fügung  der  Staatsregierung  besonders  bezeichnet  werden. 

Der  Artikel  4 des  Gesetzentwurfes  verbietet  die  Nacht- 
arbeit für  jugendliche  Arbeiter  unter  18  Jahren,  für  minder- 
jährige Mädchen  und  für  Frauen.  Als  Nachtarbeit  gilt 
grundsätzlich  jede  Arbeit  zwischen  9 Uhr  Abends  und 
5 Uhr  Morgens.  Indessen  wird  die  Arbeit  für  die  Zeit  von 
4 Uhr  Morgens  bis  10  Uhr  Abends  gestattet,  wenn  sie  derart 
zwischen  zwei  Arbeiterschichten  vertheilt  ist,  dass  jede  nicht 
länger  als  neun  Stunden  arbeitet. 

Diese  letztere  Bestimmung,  welche  dem  Gesetzentwurf 
auf  den  Vorschlag  Waddington’s  vom  Senat  eingefügt 
wurde,  erfuhr  von  Seiten  Drou's  eine  äusserst  abfällige 
Beurtheilung,  die  indessen  ihr  Ziel  nicht  erreichte.  Er  er- 


No.  2. 


Sozialpolitisches  centralblatt. 


25 


klärte,  unseres  Erachtens  mit  Recht,  dass  das  Zweischichten- 
system einige  der  schwersten  Missstände  der  Nachtarbeit 
fortbestehen  lassen  würde. 

Artikel  5 des  Entwurfs  lautet:  „Jugendliche  Arbeiter 
unter  18  Jahren  und  Frauen  jeden  Alters  dürfen  in  den 
unter  Art.  1 genannten  Unternehmungen  nicht  mehr  als 
sechs  Tage  wöchentlich  beschäftigt  werden,  ferner  nicht  an 
den  gesetzlichen  Feiertagen,  sei  es  auch  nur  zum  Reinigen 
und  Aufräumen  der  Arbeitsstätte. 

Ein  in  den  Arbeitsstätten  angebrachter  Anschlag  wird 
den  geeigneten  wöchentlichen  Ruhetag  bezeichnen.“ 

Leon  Say  schlug  vor,  die  Worte  „mehr  als  sechs  Tage 
wöchentlich“  durch  „Sonntags“  zu  ersetzen.  Der  Antrag 
hatte  den  Vorzug,  dem  Arbeiter  die  Freiheit  der  Religions- 
übung zu  sichern.  Zudem  wird,  wie  sein  Urheber  unter 
Anführung  von  Aeusserungen  mehrerer  Arbeits-Inspektoren 
bemerkte,  die  Ueberwachung  ungemein  erschwert,  wenn 
das  Gesetz  nicht  selbst  den  Ruhetag  bestimmt.  Der  Antrag 
wurde  indessen  von  der  Kammer  mit  316  gegen  216  Stirn- 
men  verworfen. 

Der  Gesetzentwurf  geht  von  Neuem  an  den  Senat 
zurück.  Es  steht  zu  hoffen,  dass  diese  Versammlung  ihre 
Entscheidung  vom  27.  Oktober,  die  mit  schwacher  Mehrheit 
und  bei  einer  grossen  Anzahl  von  der  Abstimmung  sich 
Enthaltenden  erzielt  wurde,  ändern  wird.  Der  Entwurf  ge- 
nügt bei  weitem  nicht  allen  Anforderungen.  Er  erweist 
sich  aber  der  bestehenden  Gesetzgebung  gegenüber  als 
grosser  Fortschritt,  und  es  ist  zu  wünschen,  dass  die 
schliessliche  Uebereinstimmung  beider  Kammern  gestatten 
wird,  ihn  sobald  als  möglich  endgültig  zum  Gesetz  zu 
erheben. 

Nach  der  Fassung,  in  welcher  das  Gesetz  aus  der 
Abstimmung  der  Kammer  hervorging,  findet  es  erst  ein  Jahr 
nach  seiner  Veröffentlichung  Anwendung. 

Grenoble.  Raoul  Jay. 


Der  Entwurf  einer  revidirten  Gesindeordming  ist 

dem  sächsischen  Landtage  in  der  ersten  Januarwoche  zu- 
gegangen. Die  heute  in  Sachsen  geltende  Ordnung  stammt 
aus  dem  Jahre  1835.  Die  meisten  Aenderungen  sind 
redaktioneller  Art,  einige  Strafen,  über  deren  Höhe  bisher 
das  Belieben  von  Polizei  oder  Richter  entschied,  sind  fest 
normirt,  die  bereits  fest  normirten  Strafen  aber  entsprechend 
dem  seit  1835  erheblich  gesunkenen  Geldwerthe  erhöht 
worden.  Der  § 95  des  Entwurfes  bestimmt,  dass  die  Dienst- 
herrschaft, welche  einen  Dienstboten  in  Stellung  nimmt, 
der  noch  einer  anderen  dienstpflichtig  ist,  oder  die  einen 
Dienstboten  zum  Verlassen  seines  bisherigen  Dienstes  ver- 
anlasst, der  geschädigten  Herrschaft  für  den  erwachsenen 
Schaden  haftet.  Während  früher  das  Gesinde  wegen  un- 
berechtigtem Verlassen  des  Dienstes  nur  dann  in  Strafe 
verfiel,  wenn  es  sich  nach  der  auf  Antrag  der  Dienstherr- 
schaft zwangsweise  erfolgten  Zurückführung  in  den  Dienst 
beharrlich  weigerte,  seine  Pflichten  zu  erfüllen,  soll 
der  Dienstbote  von  nun  an  wegen  blossen  Entlaufens  aus 
dem  Dienste  auf  Antrag  der  Dienstherrschaft  entweder 
zurückgeführt  oder  mit  8 Tagen  Haft  bestraft  weiden. 
Die  beschlossene  Zurückführung  wird  durch  ein  dagegen 
erhobenes  Rechtsmittel  nicht  aufgehoben.  Eine  sofortige 
Entlassung  des  Dienstboten  in  den  19  dafür  vorgesehenen 
Fällen  darf  nicht  mehr  eintreten,  wenn  diese  Thatsachen 
dem  Dienstgeber  länger  als  eine  Woche  bekannt  sind. 
Fortgefallen  sind  ferner  die  §§  17  und  52,  welche  be- 
stimmen, dass  geringe  Thätlichkeiten  und  leichte  Schimpf- 
worte gegen  Dienstboten  erlaubt  seien.  In  den  Motiven 
wird  freilich,  wie  die  „Sächs.  Arbeiterzeitung“  bemerkt, 
darauf  hingewiesen,  „dass  man  derselben  gar  nicht  bedürfe, 
da  im  Hinblick  auf  die  dem  Richter  zustehende  Beweis- 
würdigung auch  ohne  diese  Bestimmungen  die  Möglichkeit 
vorhanden  sei,  die  Herrschaften  vor  Strafverfolgung  zu 
schützen,  wenn  sie  durch  ungebührliches  Verhalten  der 
Dienstboten  sich  zu  strafbaren  Handlungen  diesen  gegen- 
über hinreissen  lassen“.  Seit  zwei  Jahrzehnten  sind  Er- 
hebungen u.  s.  w.  im  Gange  gewesen,  um  die  revidirte 
Gesindeordnung  in’s  Leben  zu  rufen.  Sind  auc'ft  einige 
Härten  gemildert  worden,  dem  Entwurf  ist  der  Stempel  des 
feudalen  Herrschaftsverhältnisses,  das  im  schroffen  Wider- 


spruche zu  unserer  ganzen  sozialen  Entwicklung  steht,  so 
scharf  aufgeprägt,  wie  das  nur  bei  einem  Ausnahme- 
gesetze gegen  bestimmte  Arbeiterschichten  der  Fall  sein 
kann.  Es  geht  nicht  länger,  landwirthschaftliche  Arbeiter 
und  Dienstboten  in  einem  Zustande  der  Vertragsunfreiheit 
zu  belassen,  welcher  sie  zu  Hörigen  verurtheilt  mit  allen 
Nachtheilen,  aber  keinem  Vortheil  der  mittelalterlichen 
Arbeitsverfassung. 

Norinalarbeitstag  und  Minimallohn  bei  öffentlichen 
Arbeiten  in  Holland.  In  der  Sitzung  der  niederländischen 
zweiten  Kammer  vom  25.  November  1891  wurde  seitens  eines 
Abgeordneten  der  Vorschlag  gemacht,  bei  staatlichen  Arbeiten 
einen  Minimallohn  und  einen  Norinalarbeitstag  festzusetzen. 
Vom  Regierungstische  erfolgte  keine  bestimmte  Antwort. 
Inzwischen  hat  sich,  wie  das  „Sociaal  Weekblad“  mittheilt, 
herausgestellt,  dass  derartige  Bestimmungen  bei  Vergebung 
öffentlicher  Arbeiten  in  Holland  bereits  üblich  sind.  So 
heisst  es  in  den  Bedingungen  für  den  Bau  des  Gerichts- 
gebäudes und  Gefängnisses  in  Alkmaar:  „Bei  dem  Bau 
darf  innerhalb  24  Stunden  nicht  länger  als  1 1 Stunden  ge- 
arbeitet werden,  die  Pausen  werden  nicht  als  Arbeitszeit 
gezählt.  Unter  ganz  besonderen  Umständen  kann  durch 
die  Direktion  im  Interesse  der  Arbeit  während  höchstens 
14  Tagen  längere  Arbeitszeit  bewilligt  werden.“ 

Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe.  Die  sozialdemo- 
kratischen Stadtverordneten  in  Berlin  haben  den  Erlass 
eines  Ortsstatuts  beantragt,  welches  die  Beschäftigung  von 
Gehilfen  im  Handelsgewerbe  an  Sonn-  und  Festtagen  in 
Bank-  und  Engrosgeschäften  überhaupt  untersagt,  die  Sonn- 
tagsarbeit in  Detailgeschäften  und  sonstigen  Verkaufsstellen 
auf  3 Stunden  einschränkt  mit  der  Maassgabe,  dass  dieselbe 
um  10  Uhr  beendet  sein  muss.  Es  bedarf  einer  sehr  energi- 
schen Agitation  der  Handelsgehilfen,  um  diesen  wohl- 
begründeten Antrag  durchzusetzen,  da  die  Gewerbedepu- 
tation des  Magistrats  beschlossen  hat,  über  die  bezüglichen 
Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  nicht  hinauszugehen. 


Gewerbeinspektion. 


Eisenbahn-Inspektoren.  Das  schweizerische  Bundesgesetz 
zu  Gunsten  der  Eisenbahnbediensteten  sieht  einen  höchstens 
12 ständigen  Arbeitstag  und  52  freie  Tage  im  Jahr  für  jeden 
Angestellten  und  Arbeiter  vor.  In  schweizerischen  Blättern 
wird  nun  gerügt,  dass  die  Centralbahn  am  Weihnachtstage 
Güterzüge  ausgeführt  habe.  Der  Baseler  „Arbeiterfreund“  fordert, 
dass  zur  Ueberwachung  der  Schutzvorschriften  besondere  Eisen- 
bahn-Inspektoren eingesetzt  werden  sollen;  tüchtige  GeldBussen 
und  schliesslich  Gefängnissstrafen  gegen  Direktoren  wider- 
spenstiger Bahngesellschaften  würden  gewiss  helfen.  Die 
„Züricher  Post“  meint:  „Wir  haben  ja  ein  administratives 

Eisenbahninspektorat  und  neben  demselben  soll  der  Bund  ein- 
fach, wie  auf  andern  Gebieten  — gerade  auch  beim  Fabrik- 
gesetz — die  Mitwirkung  der  betreffenden  kantonalen  Organe 
in  Anspruch  nehmen.  Den  Polizisten  der  Centralbahnkantone 
werden  die  Weihnachtsgüterzüge  wohl  nicht  unsichtbar  ge- 
blieben sein,  und  was  sie  danach  zu  thun  haben,  werden  sie 
auch  wissen!“  Die  scharfe  Kontrolle  über  den  Vollzug  der  ge- 
setzlichen Bestimmungen  im  Verkehrswesen  dürfte  u.  E.  am 
besten  durch  eigene  Aufsichtsbeamte  geübt  werden. 


Arbeiterversicherung. 

Hausgewerbe  und  Versicherungspflicht.  Die  Ver- 
sicherung der  Hausindustriellen  führt  in  der  Praxis  zu  den 
peinlichsten  Verwickelungen  und  Schwierigkeiten.  Die 
Fälle,  in  welchen  Streitigkeiten  über  das  Recht  auf  Ver- 
sicherung entstehen,  mehren  sich.  So  wird  der  »Frankf. 
Ztg.«  aus  Elberfeld  berichtet,  dass  eine  grosse  Anzahl 
dortiger  Hausweber,  welche  das  siebenzigste  Lebensjahr 
überschritten  hatten,  Anfang  1891  Anspruch  auf  Gewährung 
der  Altersrente  erhoben  hatten,  zumeist  jedoch  damit  abge- 
wiesen worden  waren.  Auf  die  hiergegen  eingelegte  Berufung 
verwies  das  Reichsversicherungsamt  die  Klage  an  das 
Elberfelder  Schiedsgericht.  Diese  Entscheidung  wurde  mit 
dem  Hinweis  begründet,  dass  der  Bundesrat  von  der  ihm 
in  § 2 des  Gesetzes  betr.  die  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung eingeräumten  Befugnis,  die  Versicherungs- 
pflicht auch  auf  das  Hausgewerbe  auszudehnen,  bisher 


26 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  2. 


I 


keinen  Gebrauch  gemacht  habe.  Tn  der  Sitzung  des  j 
Schiedsgerichts  begründeten  die  Weber  sowie  deren 
Vertreter  die  w'rthschaftliche  Unselbständigkeit  ihres 
Handwerks  und  beantragten  die  Rentengewährung.  Das 
Schiedsgericht  wies  die  Kläger  ab.  Diese  Handweber  sind 
ihrer  ganzen  Lage  und  I hätigkeit  nach  nichts  als  Lohn- 
arbeiter im  Dienste  kaufmännischer  Verleger  oder  grosser 
Unternehmer,  welche  neben  ihrem  Fabrikbetrieb  auch  der 
Heimarbeit  sich  bedienen.  Es  ist  nur  eine  F rage  der  Zeit,  j 
wann  die  schlec.htestbezahlten  und  tiefststehenden  Lohn- 
arbeiter, die  Hausindustriellen,  in  den  Bei  eich  der  \ er- 
sicherang  einbezogen  werden.  Man  wird  sich  einer  neuen 
gesetzgeberischen  Regelung  der  Frage  aut  die  Dauer  nicht 
entziehen  können.  Die  dem  Bundesrath  zugebilligte  Be- 
fugnis reicht  nicht  aus,  weil  sie  nichts  Bindendes  ist,  und 
der  § 2 setzt  an  Stelle  eines  zwingenden  Gebotes  eine  , 
diskretionäre  Vollmacht.  Dass  jüngst  laut  Bekanntmachung 
vom  16.  Dezember  1891  (Reichsgesetzblatt  30,  Jahrgang  1891 
unter  Nr.  19791  die  Versicherungspflicht  auf  die  Haus- 
crewerbetreibenden der  Tabakfabrikation  ausgedehnt  worden 
ist,  ändert  an  diesem  Sachverhalt  nichts.  Versicherung 
und  Arbeiterschutz  sollen  gerade  die  wirthschaftlich 
Schwächsten  — und  das  sind  unzweifelhaft  die  Haus- 
industriellen — am  ehesten  und  gründlichsten  erfassen. 
Dass  bei  der  anerkannt  grossen  Notlage  und  dem  niedrigen 
Lebensmassstab  der  Hausindustriellen  von  dem  Rechte  der 
freiwilligen  Selbstversicherung  nur  sehr  wenig  Gebrauch 
gemacht  werden  wird,  ist  zweitellos.  Von  dem  Recht  einer 
Selbstversicherung,  welches  nur  für  die  Lohnklasse  II,  blos 
für  Leute  unter  40  Jahren  und  nur  dann,  wenn  sie  noch 
nicht  invalide  sind,  in  Kraft  tritt. 

Staatliche  Unfallversicherung  in  Russland.  Dem  Reichs- 
rathe  ging  vom  Finanzministerium  ein  vollständig  ausgearbeitetes 
Projekt  einer  staatlichen  Unfallversicherungs- Kasse  zur  ent- 
mutigen Beschlussfassung  zu.  In  russischen  Zeitungen  finden 
wir  hierüber  vorerst  folgende  Angaben:  Die  Versicherung  soll 
für  alle  Fabriken,  Hüttenwerke  und  handwerksmässigen  Be- 
triebe, sofern  diese  alle  nicht  unter  10  Arbeiter  beschäftigen, 
obligatorisch  sein.  Die  Kosten  der  Versicherung  werden  den 
Unternehmern  auferlegt.  Anspruch  auf  lebenslängliche  Rente 
haben  diejenigen  Arbeiter,  welcne  durch  einen  Unglücksfall  , 
arbeitsunfähig  geworden  sind.  Die  Wittwen  der  verunglückten 
Arbeiter  sollen  50°/,)  des  Verdienstes  der  verstorbenen  Ehe- 
männer erhalten,  die  Waisen  bis  zur  Mündigkeit  bezw.  bis  zur  I 
Eheschliessung  20  bezw.  15%  des  Verdienstes  des  verunglückten  | 
Vaters. 


Gewerberichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 


Die  Errichtung  gewerblicher  Schiedsgerichte  in 
Deutschland  ist  auch  nach  dem  neuen  .Spezialgesetz  vom 
29.  Juli  1890,  das  gegen  die  früheren  lakonischen  Bestim- 
mungen der  Gewerbeordnung  den  Vorzug  hat,  der  ganzen 
Materie  eine  sichere  organisatorische  Grundlage  zu  geben, 
nicht  obligatorisch  gemacht,  wie  es  im  Reichstag  beantragt 
wurde,  sondern  die  Entschliessung  der  Gemeindeverwaltung 
überlassen.  In  zweiter  Linie  „kann“  die  Errichtung  aut 
Antrag  Betheiligter  durch  die  Landescentralbehörde  er- 
folgen. Die  letztere  hat  denn  auch,  in  Preussen  wenigstens, 
in  ganz  anerkennenswerther  Weise  zur  Errichtung  gewerb- 
licher Schiedsgerichte  auf  dem  Wege  der  Verordnung  an- 
zuregen gesucht.  Ein  Ueberblick  über  dasjenige,  was  auf 
Grund  des  neuen  Gesetzes  bis  jetzt  geschehen  ist,  mag 
den  Erfolg  desselben  beleuchten.  Dabei  sei  vorausgeschiekt, 
dass  die  Einrichtung  einer  Art  Centralauskunicsstelle,  an 
welches  alle  Daten  über  Gewerbegerichte  zusammenlaufen, 
leider  versäumt  wurde.  Der  Beobachter  ist  einstweilen  aut 
private  Sammlung  der  Notizen  angewiesen.  Danach  brachen 
in  einer  ganzen  Reihe  von  deutschen  Städten  seit  dem 
1.  April  1891,  an  welchem  das  neue  Gesetz  ganz  in  Kraft 
trat,  zunächst  Differenzen  zwischen  Behörden,  Arbeitern 
und  Unternehmern  wegen  Errichtung  von  Schiedsgerichten 
aus.  So  in  Augsburg,  Neuss,  Aschaffenburg,  Oberhessen 
(Giessen)  und  Siegen,  in  einzelnen  dieser  Orte,  wie  in 
Aschaffenburg  kam  es  zur  Errichtung,  in  anderen  nicht. 
Bei  einer  durch  den  Vorstand  des  1 hüringepStädteverbandes 
gehaltenen  Umfrage  erklärten  nicht  weniger  als  35  Ge- 
meindebehörden, dass  sie  an  die  Einführung'  nicht  dächten. 


In  den  Rheinlanden  verursachte  die  Ausnützung  einiger 
Latituden  des  Gesetzes  bezw.  der  Kosten,  des  Wahlmodus 
etc.  durch  die  Behörden  und  Unternehmer  Vorstellungen 
der  Arbeiter  (Ronsdorf,  Oktober  1891,  Crefeld,  September 
1891).  Dagegen  wurde  sogar  eine  ländliche  Gemeinde, 
Mombach  bei  Mainz,  bekannt,  welche  mit  der  Errichtung 
vorging.  Die  letzten  Nachrichten  über  die  Einführung 
kamen  aus  Ludwigshafen,  Eberswalde  und  Berlin,  wo  das 
Zustandekommen  des  Gerichts  eine  seit  1885  im  Gange 
befindliche  und  durch  die  Aufsichtsbehörde  öfters  gehemmte 
Bewegung  zum  Abschluss  bringen  würde.  Diese  Daten 
scheiifen  uns  nicht  zu  Gunsten  des  Fakultativums  zu 
sprechen;  die  Bewegung  geht  sehr  langsam,  wenn  man  be- 
denkt, dass  Stieda  schon  vor  dem  neuen  Gesetz  beinahe 
ein  halbes  Hundert  Schiedsgerichte  verzeichnete. 

Kaufmännische  Schiedsgerichte.  Während  für  die 
Streitigkeiten  gewerblicher  Unternehmer  mit  ihren  Arbeitern 
Fachgerichte,  die  „Gewerbegerichte“,  vorgesehen  sind,  ent- 
behrt der  Kaufmannsstand  eines  nach  gleichen  Grundsätzen 
gebildeten  Organs  vollständig  und  ist  bei  etwaigen  Streitig- 
keiten auf  die  Benutzung  der  ordentlichen  Gerichte  bezw. 
der  Kammern  für  Handelssachen  angewiesen.  Man  hat 
deshalb  wohl  daran  gedacht,  die  Zuständigkeit  der  Gewerbe- 
gerichte, für  welche  das  Reichsgesetz  vom  29.  Juli  1890 
eine  neue  Grundlage  geschaffen  hat,  auch  auf  das  kauf- 
männische Personal  auszudehnen. 

Ein  bezüglicher  sozialdemokratischer  Antrag  wurde  vom 
deutschen  Reichstage  abgelehnt  mit  Rücksicht  auf  den  be- 
sonderen Charakter  des  Handelsrechtes  und  in  der  Er- 
wägung, dass  bei  Annahme  des  Antrages  unter  den  Bei- 
sitzern  stets  ein  kaufmännischer  Unternehmer  und  Arbeiter 
vorhanden  sein,  also  die  Zahl  der  für  die  Besetzung  des  Ge- 
richts erforderlichen  Personen  zu  sehr  vergrössert  werden 

müsste.  , * 

Ausserdem  wurde  betont,  dass  m den  Kammern  für 
Handelssachen  bereits  kaufmännische  Sondergerichte  vor- 
handen seien.  Bei  der  jetzigen  Zusammensetzung  der  Ge- 
werbegerichte würde  die  Ausdehnung  ihrer  Zuständigkeit  , 
auf  die  Streitigkeiten  zwischen  kaufmännischen  Unterneh- 
mern und  Angestellten  nicht  zweckmässig  sein,  da  die  Be-  , 
theiligung  der  kaufmännischen  Sachverständigen  fehlen  < 
würde.  Aber  auch  die  Kammern  für  Handelssachen  ge-  : 
niigen  dem  Bediirfniss  nicht. 

Zunächst  erstreckt  sich  ihre  Zuständigkeit  nur  auf 
Rechtsstreitigkeiten  über  Sachen  von  mehr  als  300  Mk. 
Werth,  und  ausserdem  sind  die  kaufmännischen  Angestellten 
unter  den  Beisitzern  nicht  vertreten,  haben  auch  keinerlei 
Einfluss  auf  die  Wahl  derselben. 

Noch  weniger  kann  die  Anrufung  der  ordentlichen  , 
Gerichte  dem  Bediirfniss  gerecht  werden.  Das  sachver-  ; 
ständige  Element  fehlt  hier  ganz,  und  eine  schnelle,  mög- 
lichst ' wenig  Kosten  verursachende  Entscheidung,  wie  sie  ; 
im  Interesse  aller  Betheiligten  liegt,  ist  in  der  Regel  nicht 
möglich,  ln  den  betheiligten  Kreisen  gewinnt  deshalb  die 
Ueberzeugung  mehr  und  mehr  an  Boden,  dass  es  zweck- 
mässig sei,  besondere  kaufmännische  Schiedsgerichte  nach 
Art  der  Gewerbegerichte  zu  bilden.  Einen  praktischen 
Versuch  in  dieser  Richtung  hat  unlängst  der  Verein  „Ger- 
mania“ junger  Kaufleute  der  Kolonialwaarenbranche  in 
Berlin  gemacht.  Er  hat  ein  Schiedsgericht  gebildet,  das 
mit  je  3 Prinzipalen  und  Angestellten  besetzt  ist.  Es  darf 
indess  gezweifelt  werden,  ob  auf  diesem  Wege  viel  zu  er- 
reichen sein  wird.  Ein  Zwang  zur  Benutzung  des  privaten 
Schiedsgerichtes  besteht  nicht,  und  seine  Anrufung  wird 
nur  dann  in  grösserem  Umfange  möglich  sein,  wenn  Unter- 
nehmer wie  Angestellte  die  Gemeinsamkeit  ihrer  Interessen  in 
diesem  Punkt  vollständig  begriffen  haben.  Diese  Voraus- 
! Setzung  fehlt  noch.  Richtiger  ist  es  daher,  entsprechende 
Organe  gesetzlich  einzuführen.  Eine  solche  Massregel 
würde  unzweifelhaft  versöhnend  wirken,  und  dazu  liegt 
Anlass  genug  vor,  da  die  soziale  Frage  auch  im  Kauf- 
mannsstande immer  schärfer  in  die  Erscheinung  tritt. 

Ai’beiteransschiisse  bei  (len  preussisclien  Staatsbahnen 

sollen  geplant  sein.  Die  Erfahrungen,  welche  im  Saarbrücki- 
' sehen  Grubenrevier  mit  den  fiskalischen  Arbeiterausschüssen 
gemacht  worden  sind,  ermuthigen  gerade  nicht  zum  Fortschreiten 
uuf  dieser  Bahn.  Um  so  weniger,  da  bis  heute  die  Mittheilung 
der  Arbeiterblätter  betr.  das  geheime  Rundschreiben  vom 
21.  November  1891  noch  nicht  dementirt  worden  ist.  In  diesem 
Zirkulär  .heisst  es  u.  a.:  „Wegen  der  ungünstigen  finanziellen 
Ergebnisse  der  Staatseisenbahnverwaltung  ist  uns  die  ausserste 
Sparsamkeit  bei  Unterhaltung  der  Bahnanlagen  zur  Pflicht 
I gemacht  worden.  Wir  bestimmen  daher,  dass  alle  zur  Erhal- 


No.  2. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALULAT'l . 


27 


tung  der  Betriebssicherheit  oder  zur  notwendigsten  Instand- 
haltung der  Bahnanlagen  nicht  unbedingt  erforderlichen  Aus- 
gaben vorläufig  zu  unterbleiben  haben.  Es  wird  hierdurch 
sowohl  eine  Einschränkung  der  Ausgaben  bei  den  Handwerker- 
rechnungen, wie  insbesondere  bei  den  Ausgaben  für  Arbeiter- 
löhne durch  Herabsetzung  der  Lohnsätze  sowohl  wie  Ver- 
minderung der  Arbeiterzahl  möglich  sein.  Die  Arbeiterzahl  ist 
auf  dasjenige  Mass  herabzusetzen,  welches  für  die  unbe- 
dingt notwendigen  Arbeiten  erforderlich  ist.  Allen  hiernach 
entbehrlichen  Arbeitern  ist  unter  Einhaltung  der  vorgeschriebenen 
Frist  sofort  zu  kündigen.  Innerhalb  3 Tagen  ist  zu  berichten, 
wie  vielen  Arbeitern  gekündigt  ist.  Die  Anzahl  der  weiterzu- 
beschäftigenden Arbeiter  ist  eingehend  zu  begründen.  Die 
durch  Herabsetzung  der  Lohnsätze  wie  durch  Verminderung 
der  Kopfzahl  zu  erzielende  Ersparniss  ist  überschläglich  zu  be- 
rechnen und  anzugeben.“  Lohnreduktionen  und  Entlassungen, 
wie  sie  aus  vielen  Direktionsbezirken  gemeldet  werden,  sind 
keine  Empfehlung  für  die  „Staatsbetriebe  als  Musteranstalten“. 
Die  Ueberbürdung  der  Eisenbahnangestellten,  ihre  lange  Arbeits- 
zeit und  Unterbezahlung  sind  eine  feststehende  Thatsache.  Lind 
die  Sanitätsstatistik  im  Verkehrswesen  so  gut  wie  die  Ge- 
schichte der  LTnfälle  und  Prozesse  gegen  Verkehrsbeamte 
zeigen  mit  grösster  Deutlichkeit,  dass  im  Interesse  der  Ge- 
sammtheit  und  der  öffentlichen  Sicherheit  die  soziale  Lage  der 
Bahnarbeiter  und  subalternen  Bahnbeamten  noch  wird  gründlich 
verbessert  werden  müssen. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 

Behördliche  Massnahmen  zur  Wohnungsfrage  sind 
aus  der  letzten  Zeit  wie  folgt  bekannt  geworden.  Für  den 
Kreis  Jerichow  I hat  der  Landrath  nach  den  Amtlichen  Mit- 
theilungen aus  den  Jahresberichten  der  Fabrikinspektoren 
für  1890  (Berlin,  W.  T.  Bruer,  1891,  S.  328  ff.)  eine  Polizei- 
verordnung vom  8.  März  1890  dahin  erlassen,  dass  Schlaf- 
stellen von  der  Wohnung  des  Vermiethers  völlig  getrennt, 
gedielt,  verschliessbar,  mit  einem  Fenster  versehen  sein, 
10  cbm  Luftraum  enthalten,  Bettstellen  und  Waschgeschirr 
haben  müssen.  Das  Stroh  in  den  Betten  soll  alle  2 Monate 
erneuert,  die  Ueberzüge  und  Schlafdecken  sollen  ebenfalls 
„alle  2 Monate“  ( ! ) gereinigt  werden.  Die  Behörde  kann 
das  Halten  von  Schlafleuten  verbieten  und  wegen  Nichtbe- 
folgung obiger  Vorschriften  Strafen  einziehen.  — Für  den 
Ort  Möckern  bei  Leipzig  hat  der  dortige  Gemeindevorctand 
Ende  des  Jahres  1891  eine  Bekanntmachung  erlassen,  nach 
welcher  das  Vermiethen  blosser  Stuben  als  Familienwoh- 
nungen verboten  ist.  Nur  für  Wohnungen,  die  mehr  als 
einen  Raum  enthalten,  sind  Schlaf leute  zugelassen.  Ver- 
miethete  Schlafräume  sind  mindestens  alle  drei  Jahre  mit 
neuem  Wandanstrich  zu  versehen.  Im  Uebrigen  ähnelt  die 
Verordnung  derjenigen  für  den  Kreis  Jerichow.  — In  Frank- 
furt a.  Main  (für  die  äusseren  Stadttheile)  sowohl  als  im 
Kreise  Teltow  (südlich  von  Berlin)  haben  die  Gemeinde- 
behörde bezw.  der  Landrath  im  Laufe  des  Jahres  1891  Vor- 
schriften erlassen,  nach  welchen  zur  Verhütung  des  über- 
mässigen Baues  von  Miethskasernen  nur  ein  Bruchtheil  jedes 
Baugrundstückes  bebaut  werden  darf  (Vorgartensystem)  und 
eine  m ästige  Höhe  der  Häuser  (16  Meter  Fronthöhe  im 
Kreise  Teltow)  eingehalten  werden  muss.  An  beiden  Stellen 
hat  die  Bauspekulation  eine  lebhafte  Agitation  gegen  die 
behördlichen  Anordnungen  eröffnet,  in  Teltow  mit  Erfolg, 
sodass  die  Verordnung  des  Landraths  Stubenrauch  von  der 
Regierung  aufgehoben  wurde. 

Statistisches  über  Wohnungsverhälfnisse  liefert  in 
neuerer  Zeit  besonders  das  Grossherzogthum  Baden, 
offenbar  in  Folge  einer  Anregung  des  Ministeriums  des  In- 
nern bezw.  des  verdienstvollen  Chefs  der  Fabrikinspektion 
Wörishoffer,  welche  an  einige  Bezirksämter  in  grösseren 
Städten  erging.  Im  Anschluss  an  Herkner’s  Mittheilung  über 
das  flache  Land  in  Nr.  1 dieser  Zeitschrift  sei  hier  zunächst 
der  Ergebnisse  einer  städtischen  Erhebung  in  Freiburg  i.  Br., 
dem  Einfallthor  zu  den  schönsten  Theilen  des  badischen 
Schwarzwaldes,  gedacht.  Die  in  das  Jahr  1891  fallende 
Untersuchung  Freiburger  Miethswohnungen  erstreckte  sich 
auf  2700  (in  1078  Häusern  und  44  Strassen).  Davon  wurden 
182  gleich  6,7%  „beanstandet“.  Darunter  waren  22 „überfüllt“. 
60  waren  feucht  oder  litten  unter  üblen  Ausdünstungen. 
14  Wohnungen  und  20  einzelne  Räume  wurden  polizeilich 
geschlossen.  Näheres  ist  aus  der  Mittheilung  des  Ergebnisses 
m der  „Breisg.  Ztg.“  nicht  ersichtlich.  Aber  auch  diese 


Daten  sind  schon  charakteristisch  für  einen  Ort,  der  immer 
als  idyllischer  Aufenthalt  galt. 

Die  Berichte  des  badischen  Fabrikinspektors  selber 
machen  einige  Angaben  über  Preise  (Jahrg.  1888,  S.  59)  und 
über  das  Ergebniss  der  Mannheimer  Erhebung  (Jahrg. 
1889,  S.  71  ff.),  bei  der  in  53  Gebäuden  100  Miethswohnungen 
beanstandet  wurden,  sowie  über  die  schlimmen  Verhältnisse 
in  kleineren  Fabrikorten  Badens.  Die  beiden  im  Verlage 
von  Thiergarten  und  Raupp  (Karlsruhe)  1890  und  1891  er- 
schienenen Monographien  des  badischen  Fabrikinspektors 
über  „Die  soziale  Lage  der  Zigarrenarbeiter  im  Grossherzog- 
thum Baden“  und  „Die  soziale  Lage  der  Fabrikarbeiter  in 
Mannheim“  behandeln  die  Wohnungszustände  der  beobach- 
teten Arbeiterklassen  noch  ausführlicher.  Namentlich  aus 
der  letztgenannten  Schrift  sei  die  S.  212  ff.  stehende  genaue 
Beschreibung  von  acht  Mannheimer  Häusern  hervorgehoben, 
die  der  Beamte  theilweise  als  „Miethskasernen  der  schlimm- 
sten Art“  bezeichnet,  welche  kopfreiche  Arbeiterfamilien  meist 
in  zwei  enge  Räume  zusammengepfercht  zeigen  und  die 
fürchterlichsten  Zustände  in  materieller  und  sittlicher  Be- 
ziehung aufweisen. 


Armenwesen. 


Versicherungsgesetze  und  Armenwesen.  In  dem  kürzlich 
erschienenen  Verwaltungsberichte  über  das  Armen  wesen  der  Stadt 
Köln  für  das  Rechnungjahr  1890/91  findet  sich  folgende  Aus- 
führung: Die  Frage  der  Einwirkung  der  sozialen  Gesetzgebung 

auf  die  Armenpflege  zieht  ....  mehr  und  mehr  die  Auf- 
merksamkeit der  Armenbehörden  auf  sich.  Die  unter  der  Auf- 
sicht des  Oberbürgermeisteramts  stehenden  Orts-  und  Betriebs- 
krankenkassen des  Stadtgebiets  haben  im  Rechnungsjahr  1890 
an  Krankengeldern,  Krankenpflege-  und  Beerdigungskosten  rund 
1050  000  Mk.  verausgabt.  Es  treten  hinzu  die  Ausgaben  der 
unter  Aufsicht  der  Staatsbehörden  stehenden  Eisenbahn-  und 
Werkstättenkrankenkassen,  die  der  zahlreichen  freien  Hlilfs- 
krankenkassen,  ferner  die  Ausgaben  der  Unfallberufsgenossen- 
schaften, über  welche  für  das  hiesige  Stadtgebiet  wegen  deren 
anderweitiger  Verwaltungseinrichtung  Uebersichtsziffern  nicht 
vorliegen,  ebenso  die  schon  jetzt  erfolgenden  Ausgaben  der 
Altersversicherung.  Es  erscheint  auffällig,  dass  trotz  jener 
überaus  hohen,  einem  grossen  Theile  der  Klasse  der  Bedürftigen 
zufliessenden  Summen  die  Armenausgaben  gegen  die  Zeit  vor 
dem  Inkrafttreten  der  fraglichen  neuern  gesetzlichen  Bestim- 
mungen keineswegs  in  irgend  einer  entsprechenden  Weise  ab- 
genommen haben.  Es  bedarf  jedoch  einer  eingehenden  Prüfung 
dieser  Erscheinung,  ehe  ein  abschliessendes  Urteil  über  die 
Gründe  derselben  aufgestellt  werden  kann.  Der  Umfang  der 
Geschäfte  der  Armenverwaltung  hat  sich  durch  die  soziale 
Gesetzgebung  nicht  unbedeutend  vermehrt.  Es  ist  dies  eine 
notwendige  Folge  der  bei  jedem  Unterstützungsfalle  erforder- 
lichen Prüfung  und  Feststellung  des  Bestehens,  der  Höhe  und 
der  Dauer  etwaiger  Ansprüche  an  die  Kranken-,  Unfall-  und 
Altersrersicherung.  Gerade  die  Verschiedenartigkeit  und  die 
theilweise  Zersplitterung  der  Verwaltung  dieser  Versicherungs- 
einrichtungen erschwert  diese  Feststellung  und  erzeugt  eine 
Vermehrung  des  Schreibwerks.  Der  letztere  Umstand  macht 
sich  sogar  in  der  zunehmenden  Höhe  der  Verwaltungskosten 
der  Armenverwaltung  in  erheblichem  Masse  geltend.  Wenn 
die  an  das  Armenwesen  gestellten  Ansprüche  sich  nicht  ent- 
sprechend verminderten,  trotzdem  die  Versicherungsgesetze  die 
Aufgabe  haben,  jenes  zu  entlasten,  so  kommt  hierfür  Folgen- 
des in  Betracht.  Entweder  sind  die  Leistungen  der  Sozial- 
gesetzgebung keine  ausreichenden,  der  Kreis,  auf  welchen  sie 
sich  erstrecken,  ist  nicht  gross  genug,  was  sie  bieten,  genügt 
den  heutigen  Anforderungen  nicht.  Öder  die  Verarmung  hat 
Fortschritte  gemacht,  die  Armenpflege  wird  für  immer  breitere 
Schichten  der  Bevölkerung  ein  notwendiges  Bedürfnis,  sei  es 
auf  kürzere  Zeit,  als  Hilfsmittel  in  Perioden  der  Arbeitslosigy 
keit,  sei  es  dauernd,  für  Arbeitsunfähige.  Oder  aber,  diese  zwei 
Momente  wirken  zusammen,  um  die  oben  gekennzeichnete  Er- 
scheinung hervorzurufen.  Von  den  erhöhten  Verwaltungskosten 
ganz  zu  schweigen!  Ist  ja  jüngst  auf  einer  in  Dresden  stattge- 
habten Tagung  von  66  sächsischen  Ortskrankenkassen  der  Be- 
schluss gefasst  worden,  beim  Ministerium  wegen  Erhöhung  des 
jetzigen  Satzes  von  3 Prozent  für  die  Einziehung  der  Bei- 
träge zur  Alters-  und  Invaliditätsversicherung  vorstellig  zu 
werden,  da  z.  B.  den  Leipziger  Ortskrankenkassen  ein  Mehr- 
aufwand der  Verwaltungskosten  von  5 Prozent  der  eingezogenen 
Beiträge  erwachsen  ist.  Es  ist  zu  wünschen,  dass  über  den 
Einfluss  der  Sozialgesetze  auf  das  Armenwesen  ein  reichhaltiger, 
gesicherter  Zahlenstoff  zusammengebracht  wird,  da  das  vor- 
liegende Material  zur  endgiltigen  Beurtheilung  in  der  That  nicht 
ausreicht. 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  2. 


Prostitution. 


Eine  Randglosse  zur  Prostitutionsfrage. 

So  mannigfach  die  Ansichten  über  die  Prostitution 
auch  sein  mögen,  dass  sie  heute  eine  gesellschaftliche 
Massenerscheinung  ist,  wird  von  Niemand  mehr  bestritten. 
Nur  als  solche  ist  sie  Gegenstand  von  Erörterungen  in 
diesen  Blättern,  und  wir  setzen  uns  mit  den  verschiedenen 
Grundanschauungen  blos  soweit  auseinander,  als  sie,  histo- 
risch bedingt,  der  Ausdruck  und  das  Erzeugniss  bestimmter 
sozialer  Vorstellungskreise  sind.  Hier  begegnet  uns  die 
theologisch-ethische  Auffassung,  welche  die  Gefallenen,  an 
deren  Loos  die  Gesellschaft  eine  Kollektivschuld  trage,  zur 
Bussfertigkeit  führen  will.  Nüchtern  betrachtet  die  polizeiärzt- 
liche Richtung  die  Prostitution  als  eine  unabwendbare,  natur- 
gesetzliche Einrichtung,  deren  Nothwendigkeit  unbestreitbar, 
deren  Regelung  eine  dem  Gemeinwesen  erspriessliche  Auf- 
gabe sei.  Als  dritte  Betrachtungsweise  erscheint  die  sozial- 
politische, welche  sich  bemüht,  das  W esen  der  Prostitution 
als  eines  wirthschaftsgeschichtlichen  Phänomens  zu  begreifen 
und  am  Ende  den  Schlüssel  für  jene  anderen  Ansichten  zu 
liefern,  deren  krauses  Durcheinander  das  U rtheil  verwirrt. 

Wer  kurzer  Hand  die  Prostitution  in  den  Bannkreis 
des  Lumpenproletariats  verweiset,  der  versieht  einen  hervor- 
stechenden, grellfarbigen  Theil  für  das  Ganze.  In  der  Iliat 
besitzt  jene  ihre  Ueberlieferung  und  fügt  sich  in  einen  be- 
stimmten, seit  Langem  bestehenden  Rahmen.  Hier  ist  nicht 
zu  untersuchen,  wie  der  Abhub  aller  gesellschaftlichen 
Klassen,  eben  das  Lumpenproletariat  geschichtlich  entstand, 
wie  es  mit  dem  Anfänge  der  bürgerlichen  Wirthschaftsweise 
eine  neue  Epoche  erlebte;  dass  es  zum  Sammelbecken  auch 
des  Dirnenthums  wird,  ist  unleugbar.  Jedennoch  zwischen 
zwei  grossen  Gruppen  ist  zu  scheiden,  zwischen  der  stän- 
digen, ich  möchte  sagen  ansässigen,  und  der  flottanten 
Prostitution.  Die  erstere,  zum  grossen  Theil  aus  dem 
Lumpenproletariat  entsprossen,  ist  der  Grundstock  der 
lumpenproletarischen  Schicht,  während  in  den  unruhigen 
Wirbel  der  zweiten  alle  die  untertauchen,  welche  der  arbei- 
tenden Klasse  zuzurechnen  sind.  So  ist  diese  letztere  die 
Vorstufe,  der  Uebergang  und  Durchgangspunkt  zur  stän- 
digen Prostitution,  sobald  die  Proletarierin  aufhört,  Arbei- 
terin zu  sein,  sobald  sie  deklassirt  wird.  Wie  sie  zum 
Niederschlage  in  dem  Reservoir  der  „gefährlichen  Klassen“ 
wird,  ist  an  dieser  Stelle  nicht  zu  erörtern.  Es  genügt,  den 
grundsätzlich  vorhandenen  Unterschied  hervorzuheben  ; die 
Grenzlinien  freilich  verschwimmen  und  gehen  in  einan- 
der über. 

Besonderes  Kennzeichen  der  flottanten  Prosti- 
tution, welche  mehrfache  Schattirungen  aufweist,  ist  die 
Periodizität  ihres  Betriebes.  In  dem  Augenblicke,  da  die 
weibliche  Arbeitskraft  zur  marktgängigen  Waare  wurde, 
trat  die  moderne  Prostitution  ins  Dasein:  sie  ist  ein  so 
naturwüchsiges  Geschöpf  der  heutigen  Produktionsweise, 
wie  die  Erwerbsarbeit  der  Frau.  Und  das  gleiche  Gesetz, 
welches  die  gewerbliche  Thätigkeit  des  Weibes  zu  einem 
Gebote  des  ökonomischen  Fortschrittes  macht,  erzwingt 
mit  unwiderstehlicher  Gewalt  auch  die  Preisgabe  des  Weibes. 
Neben  dem  Verkaufe  der  Waare  Arbeitskraft  der  Verschleiss  [ 
der  Persönlichkeit,  des  ganzen  Menschen.  Diese  zwei  Thä- 
tigkeiten  gehen  nicht  allein  nach,  sie  gehen  neben  einander 
vor  sich.  Denn  die  Prostitution  ist  nicht  nur  Abschluss, 
Ablösung,  Ersatz  des  Arbeitsprozesses,  sie  ergänzt  ihn  auch, 
je  rascher,  vielseitiger,  umfassender  die  Weiberarbeit  angre- 
wendet,  ausgedehnt,  angespannt  wird,  um  so  klarer  bildet 
sich  die  Prostitution  zu  dem  aus,  was  sich  in  Kürze  als  kom- 
plementäres Gewerbe,  als  das  komplementäre  Gewerbe  der 
Arbeiterin  bezeichnen  lässt.  Sind  Ueberarbeit  und  Unter- 
bezahlung, niedriger  Lebensmaassstab  und  trotzdem  stete 
Schwierigkeit,  ihn  aufrecht  zu  erhalten,  für  die  Arbeiterin 
die  Regel,  so  bedingt  der  Eintritt  der  Noth,  des  nackten 
Mangels  die  Preisgabe,  wenn  keine  andere  Hilfsquelle  fliesst. 
Dieser  Nothstand  ist  unweigerlich  an  das  Aut  und  Ab,  an 
die  Wechselfälle  des  industriellen  Lebens  geknüpft.  Jede 
Geschäftsstockung,  das  Stillsetzen  der  Werke,  die  Reduktion 
der  Löhne,  die  Krisis  sind  von  entscheidender  Bedeutung. 
Mit  jedem  Groschen,  um  welchen  der  Brotpreis  steigt,  ohne 
dass  der  Lohn  sich  erhöht,  vermehrt  sich  auch  die  Prosti- 
tutionswahrscheinlichkeit für  die  schlecht  bezahlten  Arbei- 
terinnenkategorien. So  Kärgliches  auch  gerade  hier  die 
Statistik  bietet,  diese  Bewegung  ist  direkt  und  mittelbar  er- 


wiesen. Huppe1)  hat  für  Berlin,  Stern2 *)  für  Breslau,  um  nur 
diese  zwei  Gewährsmänner  anzuführen,  den  schlüssigen 
Nachweis  erbracht,  dass  die  Ziffer  der  Prostituirten  und 
der  geschlechtlichen  Erkrankungen  mit  dem  Nothstande 
steigt  und  fällt. 

Neben  den  heftigeren  oder  schwächeren  Schlägen, 
welche  in  bestimmten  Zwischenräumen  den  Wirthschafts- 
körper  erschüttern,  wirkt  der  regelmässige  Stillstand  in  den 
zahlreichen  Saisongewerben  verhängnisvoll,  welche  vorzugs- 
weise gerade  weibliche  Hände  beschäftigen.  Die  einzige 
von  Reichswegen  veranstaltete  sozialwirthschaftliche  Er- 
hellung, welche  brauchbare  Daten  geliefert  hat,  die  Unter- 
suchung der  in  der  Wäschefabrikation  und  Konfektions- 
branche  Deutschlands  herrschenden  Arbeiterinnenzustände,2) 
gibt  über  diesen  Punkt  genügenden  Aufschluss.  Man  hat 
nicht  nöthig,  die  allerdings  packenden  Pariser  Angaben 
Parent-Duchatelet’s  und  seiner  Fortsetzer  wieder  und  wieder 
anzuführen,  nachdem  das  amtliche  Quellenwerk  über 
deutsche  Zustände  etwelchen  Aufschluss  gibt.  Um  so 
mehr,  da  bereits  Huppe  in  seiner  sorgfältigen  und  fein- 
sinnigen Arbeit  urkundliche  Belege  für  Berlin  beigebracht 
hat,  welche  heute  noch  und  zwar  Dank  dem  Aufschwung 
des  Berliner  Gewerbewesens  in  verstärktem  Maasse  Gültig- 
keit haben.  Nach  ihm  waren  von  den  in  Berlin  im  Jahre 
1855  neu  unter  sittenpolizeiliche  Kontrolle  tretenden  296 
Dirnen  73  Fabrikarbeiterinnen,  62  Nähterinnen,  16  Wäsche- 
rinnen und  Plätterinnen,  23  Handarbeiterinnen,  32  Haus- 
arbeiterinnen, 22  Dienstmädchen.  Im  Jahre  1874  stellte 
H.  Schwabe4)  fest,  dass  bei  den  2224  eingeschriebenen  Ber- 
liner Dirnen  der  vorherige  Erwerb  gewesen  war:  6,3/., 
Aufwartung  in  Verkaufslokalen,  16,6 % Fabrikarbeit,  35,7 /„ 
Gesindedienst,  42,0%  Hausindustrie  und  Ladengeschäft.  In 
welcher  misslichen  Lage  sich  die  für  persönliche  Dienst- 
leistungen und  Hausarbeit  verwendeten  Arbeitskräfte  be- 
finden, welche  stellenlos  sind,  erhellt  gleichfalls  aus  den 
mitgetheilten  Ziffern.  Für  die  tiefststehenden  Schichten 
der^Arbeiterinnen  nun  verringert  sich  der  Abstand  zwischen 
der  Zeit  der  Erwerbsarbeit  und  derjenigen  der  Prostitution 
mehr  und  mehr;  das  Uebermaass  an  Entbehrungen  nöthigt 
die  am  schlimmsten  gestellten  und  zum  härtesten  W erk  ge- 
zwungenen Weiber  neben  der  unzureichenden  Erwerbs- 
thätigkeit  gleichzeitig  zur  Prostitution.  So  paart  sich  mit 
tiefstem  Elend  und  ärgster  Arbeitspein  die  schmählichste 
Erniedrigung.  In  den  „Ergebnissen“  wird  aus  Posen  ge- 
meldet: „Die  Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiterinnen  sind 
je  nach  den  Nebeneinkünften  aus  der  Prostitution  besser 
oder  ‘schlechter.  Bei  Arbeiterinnen  bildet,  so  lange  sie  sich 
der  Prostitution  nicht  ergeben  haben,  die  Kartoffel  das 
hauptsächlichste  Mittel  der  Ernährung;  auf  das  Mittagmahl 
kann  nicht  mehr  als  ein  Betrag  von  20  Pfennig  verwendet 
werden 5).“ 

Wollte  man  den  Stand  der  Prostitution  nach  der 
Ziffer  der  registrirten  Dirnen  bemessen,  schlüge  man  hier- 
zu ferner  die  Zahl  der  Sistirten,  der  Prostitutionsver- 
dächtigen,  bediente  man  sich  eines  indirekten  Verfahrens 
(Bewegung  der  Syphilisziffer),  ein  auch  nur  annähernd 
richtiges  Bild  wäre  trotzdem  nicht  zu  erlangen.  Entzieht 
sich  schon  ein  nicht  unbeträchtlicher  Bruchtheil  der 
ständigen  Prostitution  der  Kontrolle,  unfassbar,  schwankend, 
ein  ewiges  Ebben  und  Fluthen,  das  ist  die  andere  form 
der  Prostitution.  Wer  der  Ansicht  ist,  dass  die  Massen  m 
immer  tieferes  Elend  versinken,  dass  der  Industrialismus 
immer  grössere  Mengen  weiblicher  Arbeitskräfte  aufbraucht, 
sie  heute  zur  Ueberarbeit  zwingt,  um  sie  morgen  ausser 
Brod  zu  werfen,  der  wird  auch  auf  das  fortgesetzte  Wachs- 

1)  Der  Hauptbestandtheil  im  sozialen  Defizit  von  Berlin, 

in:  Berlin  und  seine  Entwickelung,  Städtisches  Jahrbuch  für 

Volkswirthschaft  und  Statistik.  4.  Jahrg.  Berlin  1870,  S.  28  125, 

besonders  109  ff. 

2)  Ueber  die  Ausbreitung  der  venerischen  Erkrankungen 
in  Breslau,  in  Eulenburg’s  Vierteljahrsschrift  für  gerichtliche 
Medizin  und  öffentliches  Sanitätswesen.  N.  E.  XL.  1. 

3)  Die  Ergebnisse  der  von  den  Bundesregierungen  ange- 

stellten  Ermittelungen  über  die  Lohnverhältnisse  der  Ar- 
beiterinnen in  der  Wäschefabrikation  und  der  Kontektions- 
branche  etc.  Stenogr.  Berichte  über  die  V erhandl.  des  Reichs- 
tags. 7.  Legislaturper.  — 1.  Session  1887.  Dritter  Band.  Erster 
Anlageband  No.  1—87  der  amtlichen  Drucksachen  enthaltend. 
Aktenstück  No.  83,  S.  698 — 749.  Berlin  1887.  . . 

4)  Einblick  in  das  innere  Leben  der  Berliner  Prostitution, 
im  Berliner  Städtischen  Jahrbuch  für  Volkswirthschaft  u.  Stat., 
I.  Jahrg.,  Berlin  1874,  S.  65  ff. 

' 5}  A.  a.  O.  S.  704. 


No.  2. 


.SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


29 


thum  der  flottanten  Prostitution  als  auf  eine  nothwendige 
Folge  dieses  Vorgangs  sch  Hessen. 

Ein  gesetzgeberischer  Eingriff,  welcher  ohne  eindrin- 
gendere Kenntmss  der  Thatsachen  vorgenommen  wird,  ist 
gefährlicher  als  die  Fortdauer  des  früheren  Zustandes. 
Das  Zahlenmaterial,  das  zur  Prostitutionsfrage  vorhanden 
ist,  genügt  ernsthaften  Ansprüchen  nicht.  Es  ist  lücken- 
haft, oft  unmethodisch  gewonnen,  tendenziös  zurechtge- 
stutzt und  kritiklos  bearbeitet.  Die  trefflichen  Anläufe, 
welche  die  Berliner  städtische  Statistik  in  den  siebenziger 
Jahren  auf  diesem  Felde  genommen  hat,  sind  ohne  Folgen 
geblieben.  Und  gerade  das  in  Berlin  seit  dem  I.  August 
1872  eingeführte  Zählblattsystem  böte  Handhaben  zu 
brauchbaren  Erhebungen.  Bei  der  Berathung  der  §§  180 
und  361  des  deutschen  Strafgesetzbuches  von  1876  wurde 
im  Reichstage  der  Wunsch  geäussert,  der  Reichskanzler 
möge  dafür  sorgen,  dass  vom  polizeilichen  und  medizini- 
schen Standpunkte  aus  statistisches  Material  über  die  Aus- 
breitung der  Prostitution  gesammelt  werde.  Es  ist  dieser 
Wunsch  nicht  erfüllt  worden.  Während  in  England,  in 
Frankreich,  im  Reiche  des  Czaren  diese  Dinge  mit  Unbe- 
fangenheit erforscht  und  dargestellt  werden,  ist  man  in 
Deutschland  von  einer  empfindsamen  Scheu  erfüllt,  die 
Thatsachen  rückhaltslos  aufzudecken.  Will  man  auf 
festem  Grunde  Vorgehen,  so  thut  vor  allem  eine 
nach  sozialpolitischen  Gesichtspunkten  veranstaltete 
deutsche  Prostitutions-Enquete  noth.  Aus  welchen 
Bevölkerungsschichten  rekrutiren  sich  die  Dirnen?  Alter, 
Zivilstand,  Heimath?  Welchen  Berufen  gehörten  sie 
ursprünglich  an?  Was  für  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse, 
was  für  soziale  Zustände  überhaupt  herrschen  in  diesen 
Berufen?  Wie  verhält  sich  die  ständige  zur  flottanten  Pro- 
stitution? Der  Dirnen  Antheil  am  Verbrechen?  Bordelle  und 
„freie“  Prostitution?  Welche  Rolle  das  Zuhälterthum,  über 
dessen  Ausdehnung  wir  im  Dunkeln  tappen,  spielt,  wäre 
darzulegen:  die  „Louis“  werden  zum  ersten  Male  erwähnt 

im  Berliner  Sittenpolizeibericht  von  1860  als  „arbeitsscheue, 
meist  bestrafte  junge  Männer,  welche  als  Liebhaber  prosti- 
tuirter  Frauenspersonen  auftreten  und  einen  psychologisch 
bedeutsamen  Einfluss  auf  sie  ausüben.“1)  Das  wären  einige 
Gesichtspunkte,  welche  in  Betracht  kämen.2) 

Scheut  man  sich,  den  Schleier  zu  lüften,  so  hüte  man 
sich  auch,  in’s  Blaue  hinein  zu  experimentiren.  Zum  Schlüsse 
ist  das  Eine  zu  bedenken:  ein  Kampf  gegen  Symptome  ist  ohne_ 
dauernden  Erfolg.  Soll  mit  dem  Manchesterthum  auch  auf 
diesem  Gebiete  gebrochen  werden,  so  heisst  es  die  sozialen 
Zustände  der  Arbeiterinnen  verbessern.  Einzig  der  Sozial- 
politiker erblickt  in  der  Massenerscheinung,  welche  wie  ein  Alp 
auf  uns  drückt,  das  Produkt  bestimmter  gesellschaftlicher 
Zustände,  daseinsfähig  nur  unter  gewissen  wirtschaftlichen 
Bedingungen.  So  sucht  er  die  Zusammenhänge  zu  ergrün- 
den, die  Ursachen  aufzuspüren,  die  Folgen  aufzudecken  und 
den  Weg  zu  zeigen,  auf  welchem  eine  Abhilfe  möglich  ist, 
den  Weg  der  sozialen  Gesetzgebung,  der  durchgreifenden 
Reform. 

Berlin.  Bruno  Schoenlank. 


Soziale  Hygiene. 

Die  amerikanische  Trichine  und  die  obligatorische 
Trichinenschau  in  Deutschland. 

Durch  die  Begründung  des  deutschen  Einfuhrverbots 
für  amerikanisches  Schweinefleisch  wurde  die  amerikanische 
Trichine  zu  einem  Thier  von  sozialpolitischer  Bedeutung. 
Denn  welche  Rolle  gerade  die  billigen  amerikanischen 
Fleischsorten  in  der  Ernährung  der  unbemittelten  Klassen 
spielen,  ist  ja  bekannt  und  soll  hier  nicht  weiter  erörtert 
werden. 

Im  letzten  Jahrgang  der  Deutschen  medizinischen 
Wochenschrift  sind  nun  zwei  Arbeiten  aus  der  Feder  von 
Fachmännern  erschienen,  welche  nicht  nur  die  absolute 
wissenschaftliche  Haltlosigkeit  jener  hygienischen  Moti- 
virung  des  Einfuhrverbots  klarlegen,  sondern  auch  die  bis- 

b Huppe  a.  a O.  S.  116. 

ä)  Die  Ergebnisse  einer  russischen  Erhebung  sind  ver- 
öffentlicht in  der  Statistique  de  l’Empire  de  Russie  XIII.  La 
Prostitution  d’apres  l’enquete  du  1/13  aoüt  1889. 


herigen  sozial -hygienischen  Massnahmen  gegen  die  Ver- 
breitung der  Trichinose  durch  inländisches  Schweinefleisch, 
also  die  obligatorische  Trichinenschau,  einer  zutreffenden 
Kritik  unterziehen.  Es  ist  das  die  Arbeit  Dr.  Wasserfuhr’s 
in  No.  22  vom  28.  Mai  1891:  „Die  französische  Hygiene 
gegenüber  dem  amerikanischen  Schweinefleisch“  und  die 
noch  ausführlichere  Prof.  C.  FränkePs  (Marburg)  in  No.  51 
vom  17.  Dezember  1891:  „Die  angebliche  Gesundheits- 

Schädlichkeit  des  amerikanischen  Schweinefleisches“.  Es 
soll  hier  über  diese  beiden  Artikel  im  Zusammenhänge 
referirt  werden. 

Sehr  bezeichnend  ist  die  Thatsache,  dass  von  sämmt- 
lichen  Fällen  von  Trichinose,  welche  in  Deutschland  durch 
den  Genuss  amerikanischen  Schweinefleisches  erzeugt 
worden  sein  sollten,  bei  der  genaueren  Prüfung  durch 
R.  Virchow  sich  alle  bis  auf  zwei  als  unhaltbar  entpuppten. 
Aber  auch  von  diesen  beiden  ist  noch  einer  deshalb  höchst 
unsicherer  Natur,  weil  das  trichinöse  Fleisch  nur  auf  Grund 
einer  ziemlich  willkürlichen  Vermuthung  als  amerikanisches 
bezeichnet  worden  war,  so  dass  C.  Fränkel  meint,  man 
wäre  hier  bei  näherem  Zusehen  wohl  zu  einem  ähnlichen 
Ergebniss  gelangt  wie  bei  einem  Falle  in  Frankreich,  „wo 
eine  im  Jahre  1878  in  Crepy  en  Valois  ausgebrochene 
kleine  Trichinenepidemie  den  französischen  Schutzzöllnern 
die  Handhabe  zum  Verbot  der  Einfuhr  amerikanischen 
Schweinefleisches  gab,  es  sich  aber  schliesslich  herausstellte, 
dass  das  schuldige  Schwein  nicht,  wie  behauptet  worden, 
ein  amerikanisches,  sondern  ein  normannisches  gewesen 
war“.  Und  er  fügt  hinzu:  „Das  also  sind  die  beiden  Ftisse, 
auf  denen  sich  später  der  Koloss  des  Einfuhrverbotes  er- 
hob, — es  ist  nicht  ganz  leicht,  keine  Satire  zu  schreiben.“ 
Lim  die  Tragfähigkeit  dieser  beiden  Ftisse  genügend  be- 
wundern zu  können,  darf  man  nicht  vergessen,  dass  jährlich 
im  Durchschnitt  immer  noch  mehr  als  hundert  Erkrankungen 
an  Trichinose  durch  den  Genuss  von  einheimischem 
Schweinefleisch  verursacht  werden,  welches  die  Trichinen- 
schau passirt  hat!  Nach  der  amtlichen  Statistik  Eulenburg’s 
gab  es  allein  in  Preussen  von  1876 — 81  jährlich  durch- 
schnittlich 340  Trichinenerkrankungen! 

Ueberhaupt  stellt  die  amtliche  Trichinenschau  eine 
Maschinerie  dar,  deren  Unterhaltungskosten  in  gar  keinem 
Verhältniss  zu  ihrer  Leistungsfähigkeit  stehen.  So  hat 
Günther  in  Dresden  gezeigt,  dass  nach  Einführung  der 
Zwangsuntersuchung  die  Zahl  der  Erkrankungen  an 
Trichinose  in  Sachsen  keineswegs  eine  erkennbar  geringere 
geworden  sei,  als  vor  derselben.  Und  im  Regierungsbezirk 
Münster  ist  während  6 Jahren  von  250  Untersuchern  unter 
118  000  Schweinen  glücklich  ein  trichinöses  gefunden 
worden.  Es  ist  auch  ~ kein  Wunder,  dass  in  einer  grossen 
Anzahl  der  Fälle  die  Trichinenkrankheit  des  Schweines  der 
Beobachtung  entgeht,  da  das  Personal  der  Beschauer  zum 
grössten  Theil  fachmännisch  durchaus  ungebildet  ist. 

Den  wissenschaftlich  einzig  korrekten  Standpunkt  in 
der  Beurtheilung  der  Frage,  ob  das  amerikanische  Schweine- 
fleisch gesundheitsgefährlicher  als  anderes  sei  oder  nicht, 
hat  schon  im  Jahre  1879  der  oberste  Gesundheitsrath 
Frankreichs  eingenommen.  Auch  dort  wurde  bekanntlich 
von  den  Schutzzöllnern  ein  Verbot  für  die  Einfuhr  von 
gesalzenem  Schweinefleisch  aus  den  Vereinigten  Staaten 
durchgesetzt,  das  im  Februar  1881  in  Kraft  trat,  im 
November  1883  wieder  aufgehoben,  aber  schon  im  Dezember 
wiederhergestellt  wurde,  hinter  dem  Druck  der  parlamen- 
tarischen Majorität  suchte  der  französische  Handelsminister 
wiederholt  den  obersten  Gesundheitsrath  zu  einem,  dem 
amerikanischen  Schweinefleisch  hygienisch  ungünstigen 
Gutachten  zu  bewegen,  — aber  vergeblich.  Nicht  weniger 
als  fünf  Mal  wurde  diese  wissenschaftliche  Korporation  um 
ihre  Meinung  in  der  Sache  befragt,  und  jedes  Mal  stützte 
sie  ihre  frühere  Ansicht  von  der  relativen  Unschädlichkeit 
dieses  Fleisches  mit  neuen  Argumenten.  Dabei  wurde  be- 
sonders betont,  dass  die  in  Frankreich  herrschende  Sitte, 
das  Schweinefleisch  stets  gekocht  oder  gebraten,  niemals 
aber  roh  oder  halbroh  zu  gemessen,  weit  sicherer  vor 
Trichinose  schütze,  als  die  Deutschland  vorgeschriebene 
Trichinenschau.  Zum  Beweise  dessen  führte  der  oberste 
Gesundheitsrath  die  Thatsache  an,  dass  vor  Erlass  des 
Einfuhrverbots  kein  Fall  von  Trichinose  in  Frankreich  be- 
kannt geworden  sei,  obwohl  das  amerikanische  Schweine- 
fleisch ohne  Kontrolle  namentlich  in  grossen  Fabrikorten 
und  innerhalb  des  Heeres  genossen  worden  sei,  wo  die 
Trichinose  im  Fall  ihres  Auftretens  sicher  erkannt  worden 
wäre.  F'erner  weist  er  darauf  hin,  dass  auch  in  England 
und  Belgien,  wo  ebenfalls  kein  rohes  Schweinefleisch  ge- 


30 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  2. 


o-essen  wird,  die  Trichinose  sehr  selten  sei,  obgleich  das 
amerikanische  Fleisch  dorthin  ungehindert  Zugang  habe. 

Dass  aber  selbst  in  Deutschland  die  durch  amerika- 
nisches Schweinefleisch  verursachten  Trichinenerkrankungen 
so  vereinzelt  geblieben  sind,  trotzdem  in  demselben  Zeit- 
raum tausende  von  Infektionen  durch  deutsches  Schweine- 
fleisch sich  ereigneten  bei  einer  Armee  von  mehr  als 
18  000  Trichinenschauern  allein  in  Preussen  — das  erklärt 
der  oberste  Gesundheitsrath  Frankreichs  dahin,  dass  das 
Einsalzen  des  Fleisches  — in  der  Gründlichkeit,  wie  es  für 
den  Export  geschieht  — die  Trichine  fast  ganz  unschädlich 
mache. 

Und  in  der  That  haben  die  Experimente  deutscher  ; 
Forscher  diese  Theorie  von  der  Wirkung  des  Einsalzens 
vollauf  bestätigt.  Man  hat  Hunde,  Katzen,  Meerschweinchen 
und  namentlich  das  für  die  Infektion  sehr  empfängliche 
Kaninchen  wiederholt  und  längere  Zeit  hindurch  mit  ein- 
o-esalzenem  amerikanischen  Schweinefleisch , welches 
Trichinen  enthielt,  gefüttert,  aber  niemals  ist  es  gelungen, 
die  Thiere  zu  infiziren,  während  sie  infolge  einer  Fütterung 
mit  frischem  trichinenhaltigen  Fleisch  sehr  bald  trichinös 
wurden.  Männer  von  wissenschaftlichem  Ruf,  Roeper, 
v.  Recklinghausen,  Engel  - Reimers,  Köhne  u.  A.  haben 
diese  Versuche  angestellt  und  sind  ausnahmslos  zu  dem- 
selben negativen  Resultat  gelangt. 

Demnach  muss  vom  hygienischen  Standpunkt  das 
Einfuhrverbot  nicht  nur  nicht  als  nützlich,  sondern  insofern 
als  eine  für  die  Volksgesundheit  verderbliche  Massregel  be- 
zeichnet werden,  als  dadurch  weite  Bevölkerungskreise  ge- 
zwungen wurden,  an  Stelle  des  unschädlicheren  ameri- 
kanischen Schweinefleisches  das  frische  einheimische  zu 
o-eniessen,  das  trotz  aller  Kontrolle  weit  gefährlicher  ist  als 

jenes.  . , , 

Was  aber  die  obligatorische  Trichinenschau  anlangt, 
so  ist  die  vollständige  Unzulänglichkeit  dieses  kostspieligen, 
sozialhygienischen  Apparats  durch  jene  Untersuchungen 
wieder  einmal  offenkundig  geworden.  Der  Nutzen  der- 
selben für  die  Volksgesundheit  ist  ein  minimaler  geblieben, 
ein  gar  nicht  hoch  genug  zu  schätzender  Schaden  der- 
selben ist  es  aber,  dass  dadurch  die  Bevölkerung  in  eine 
trügerische  Sicherheit  hinsichtlich  des  Genusses  rohen 
Schweinefleisches  eingewiegt  wird.  ..... 

Weit  rationeller  und  zweckmässiger  als  alle  ’lriclnnen- 
schau  wäre  es,  wenn  der  in  Mittel-  und  Norddeutschland 
verbreiteten  Unsitte,  rohes  oder  halbrohes  Schweinefleisch 
zu  essen,  von  Seiten  der  berufenen  Organe,  namentlich 
der  Aerzte,  energisch  entgegengearbeitet  würde.  Denn 
eine  Temperatur  von  60— 70  Grad  tödtet  die  Trichinen,  und 
wenn  auch  beim  Sieden  und  Braten  des  Fleisches  nicht 
überall  innerhalb  desselben  diese  Temperatur  ganz  erreicht 
wird,  so  werden  sie  dadurch  doch  soweit  m ihrer  hort- 
pflanzungsfähigkeit  geschwächt,  dass  sie  keine  Infektion 
mehr  hervorruten  können.  Das  beweist  unwiderleglich  die 
Seltenheit  der  Trichinose  in  Frankreich,  England  und 
Beluden.  Wenn  die  Sitte,  das  Schweinefleisch  nur  gekocht 
oder  gebraten  zu  gemessen,  in  Deutschland  ebenso  aus- 
schliesslich geübt  würde  wie  in  diesen  Ländern,  so  würde 
die  ganze  Trichinenschau  überflüssig,  und  dabei  doch  der 
Zweck  derselben  bei  weitem  vollkommener  erreicht,  als  er 
durch  diese  allein  jemals  erreicht  werden  könnte.  Denen, 
welche  meinen,  eine  so  tief  eingewurzelte  Gewohnheit,  wie  das 
Essen  rohen  und  halbrohen  Schweinefleisches,  werde  sich 
in  absehbarer  Zeit  nicht  gänzlich  ausrotten  lassen,  muss 
das  von  Fränkel  citirte  Wort  eines  andern  Fachmanns  ent- 
gegengehalten werden:  „Jedermann  vor  den  gesundheits- 

schädlichen Folgen  seiner  eignen  üblen  Angewohnheiten, 
Liebhabereien  oder  Unvorsichtigkeiten  zu  schützen,  kann 
unmöglich  Aufgabe  der  Sanitätspolizei  oder  gar  der  Reichs- 
gesetzgebung sein.“ 

St.  Gallen.  F.  B.  Simon. 


Litteratur. 

Wörishoffer,  L.  Die  soziale  Lage  der  Fabrikarbeiter  in 
Mannheim  und  dessen  nächster  Umgebung.  Heraus- 
gegeben  im  Aufträge  des  grossh.  Ministeriums  des 
fnnern.  Karlsruhe,  Thiergarten,  1891.  383  S. 

Eine  Beschreibung  der  gesammten  Lage  der  Ar- 
beiterbevölkerung muss  von  durchaus  unabhängigen  und 
unparteiischen  Persönlichkeiten  ausgehen,  wenn  anders  ihr 
unbedingtes  Vertrauen  beigemessen  werden  soll.  In  Deutsch- 

Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Bra 


land  und  Oesterreich  haben  sich  bisher  meist  junge,  noch 
nicht  in  Amt  und  Würden  stehende  Gelehrte  mit  Erfolg  dieser 
Aufgabe  gewidmet.  Neuerdings  aller  hat  die  badische  Fabrik- 
inspektion  den  Beweis  dafür  geliefert,  dass  es  auch  unter  den 
Beamten  im  deutschen  Reiche  Persönlichkeiten  gibt,  die  in 
völlig  unbefangener  Weise  ein  Bild  von  den  thatsächlichen 
Zuständen  in  unserer  Arbeiterwelt  zu  entwerfen  verstehen. 
Wir  haben  hier  die  ausgezeichnete  Untersuchung  des  Herrn 
Oberregierungsrathes  L.  Wörishoffer:  „Die  soziale  Lage 
der  Fabrikarbeiter  in  Mannheim  und  dessen 
nächster  Umgebung“  im  Auge.  Dieser  Bericht,  der 
neben  sorgfältig  gesammelten  und  methodisch  verarbeiteten, 
zahlreichen  statistischen  Daten  auch  der  Beschreibung  ein 
weites  Feld  einräumt,  gibt  eine,  wenigstens  in  Bezug  auf 
den  objektiven  Thatbestand,  nahezu  vollständige  Vorstellung 
von  der  Lage  der  beobachteten  Arbeiterbevölkerung.  Die 
Verhältnisse  der  Arbeitsstätten,  die  Arbeitszeiten  und  Ar- 
beitsformen, Zahl,  Alter,  Geschlecht  und  Lohn  der  Arbeiter, 
die  allgemeinen  wirthschaftlichen  Verhältnisse  der  Arbeiter- 
familien und  der  unverheiratheten  Arbeiter  in  der  Stadt 
und  auf  dem  Lande,  die  Wohnungsverhältnisse,  die  Haus- 
haltungsbudgets und  physiologischen  Bilanzen,  die  Wolil- 
thätigkeitsanstalten  und  Vereine,  die  Gesundheitszustände, 
und  last  not  least  die  Gewerkvereine  und  Fachvereine  der 
Arbeiter,  all  das  wird  in  anziehender  Darstellung  mit  ab- 
soluter Objektivität  und  eindringendem  Sachverständnis 
vorgetragen.  Zum  ersten  Male  werden  in  diesem  Werke, 
und  das  "mag  besonders  rühmend  hervorgehoben  werden, 
die  gewerkschaftlichen  Bestrebungen  öffentlich  zum  Gegen- 
stände eines  durchaus  vorurteilslosen  amtlichen  Berichtes 
o-emacht.  Dass  bei  den  Erhebungen  die  Arbeiter  selbst 
Sefrao-t  wurden,  versteht  sich  bei  einem  sozialpolitisch  so 
hochgebildeten  Manne,  wie  es  der  badische  Fabrikinspektor 

ist,  von  selbst.  . 

Es  drängt  sich  bei  dieser  Gelegenheit  vielleicht  Vielen 
die  Frao-e  auf,  ob  denn  soziale  Erhebungen  im  deutschen 
Reiche  nun  allgemein  nach  der  Methode  erfolgen  sollen, 
die  in  Baden  seit  einiger  Zeit  mit  so  grossem  Erfolge  an- 
o-ewendet  wird.  Wir  möchten  die  Frage  bejahen,  wenn 
sie  sich  nur  auf  die  soziale  Berichterstattung  der  Aufsichts- 
beamten bezieht.  Wir  würden  sie  verneinen,  wenn  ihr  der 
Sinn  beigelegt  werden  sollte,  dass  andere  Erhebungen 
überhaupt  nicht  mehr  erforderlich  seien. 

Der  Bericht  des  badischen  Inspektors  zeigt,  wie  eine 
gewaltige  Reihe  von  rhatsachen,  welche  für  die  Gestaltung 
der  sozialen  Lage  bedeutungsvoll  sind,  sich  in  Wirklichkeit 
verhalten.  Zur  vollkommenen  Beurtheilung  der  Zustände 
reicht  es  u.  E.  aber  nicht  hin,  dass  ein  Komplex  ökonomi- 
scher und  sozialer  Thatsachen  mit  peinlicher  Sorgfalt  klar- 
o-estellt  wird.  Ausser  den  rein  thatsächlichen  Momenten 
müssen  doch  auch  noch,  wenn  man  so  sagen  darf,  die 
„Imponderabilia“  des  sozialen  Lebens  erfasst  werden.  Man 
muss  Auskunft  erhalten  nicht  nur  darüber,  wie  die  Dmge 
wirklich  sind,  sondern  auch  darüber,  wie  sie  sich  in  den 
Köpfen  der  Betheiligten  darstellen,  welche  Stimmungen, 
Anschauungen  und  Gesinnungen  sie  hervorrufen,  wie 
andrerseits  wieder  letztere  auf  die  Dinge  zurückwirken  u.  s.  t. 
Der  badische  Aufsichtsbeamte  hat  sich  freilich  bemüht, 
auch  dieser  Anforderung  einigermassen  Rechnung  zu 
tragen,  allein,  hier  waren  ihm  durch  seine  Stellung,  duich 
den  Umstand,  dass  seine  Arbeit  als  amtlicher  Bericht  her- 
aus°*eo'eben  worden  ist,  lür  welchen  das  Ministerium  die 
Verantwortlichkeit  trägt,  bestimmte  Grenzen  gezogen,  die 
schlechterdings  nicht  überschritten  werden  durften. 

Ein  auch  nach  der  angedeuteten  Richtung  vollstän- 
diges Bild  vermögen  eben  doch  nur  die  Untersuchungen 
zu" gewähren,  welche  nach  dem  englischen  Enqueteverfahren 
vorgenommen  werden.  Hier  treten  die  Interessenten  selbst 
in  cter  Erhebung  auf,  sie  gelangen  selbst  unmittelbar  zum 
Worte,  sie  legen  die  Dinge  und  ihr  Denken  und  Fühlen  in 
Betreff  derselben  unumwunden  dar.  All  diese  Vorzüge 
treten  klar  hervor;  wenn  man  die  eben  besprochenen  Unter- 
suchungen mit  dem  stenographischen  Berichten  über  die 
Erhebungen  vergleicht,  die  von  der  königlichen  Arbeits- 
kommission  in  England  vorgenonnnen  worden  sind. 
Welches  Leben,  welche  Plastik,  welche  I*  rische,  welch 
dramatischer  Schwung ! Wie  schart  sind  die  Individuali- 
täten auf  beiden  Seiten  (Unternehmer  und  Arbeiter)  durch 
ihre  Aussagen  charakterisirt!  Man  lebt  bei  der  Lektüre 

mitten  in  den  Zuständen.  ... 

Die  Eimländer  besitzen  Vieles,  um  das  wir  sie  benei- 
den können."  Sollen  auch  ihre  Enqueten  dazu  gehören? 

Freiburo-  i.  B.  Heinrich  Eierkner. 

i in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 

Berlin,  den  11.  Januar  1892. 


Kür  den  Vn/eiLrentl.eil  sind  die  Rektion  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Anzeigen-  Annahme  stelle  nur  bei 
Dr.  Otto  Eysler,  Berlin  SW.,  Charlottenstrasse  11.  Preis  für  die  3 spaltige  Colonel/.eile  4U  1 ». 


(£.  l|,  BcdVfdjg  IBcriagatnuManhlnng  (Iflghar  Berit)  in  iJhinriien. 

3 u nuferem  SSerlage  ift  erfdjieneu: 

gmropäiMiEi:  Q&eVdntflfghfllcnber.  ^eue  golge.  ©edjftev 
3a tjrqaiiV  1890.  (®er  ganjen  tlteilje  XXXI.  Snttb.)  .perous* 

qerjeben  min  JhöTDr.  tpattö  ©clbviicf.  «fSreiö  gel).  8 9)i.  (Svfctjeiut  all jät)rltd).  Saljrgang 

1891  eijcljeint  im  gebrudr  1892 

jVotnpIete  @rt't.  her  frittieren  Sabrgcinge  bicie-3  h o t i t i £ e r n u u e h t b e I)  v ti  d;  e u b e r ü 1)  m t c n 3 a ti  r b u dj  si 
im-brii  neu  cintretenben  Abonnenten  31t  cvmSftigtein  Streik  geliefert. 

ferner: 

ii,  Jnto  altt»  itäte-  unü  Hltfr$VgcHdtermtgggcVeft  brnn 

1/1.  UP.  KilllKl)  22.  JUtlti  1889.  ß m e i t e uolTftäubig  umgearbeitete 
rtrojjtj.  Ijcii.  Diegierimgärat:  Auflage  mit  einem  Stuljaug,  b x e 33  o l|p5 u g § b ef a n 11 1 • 

mactjungen  bed  93unbedrat§  entfjaltenb.  $art.  1 i'i.  80  5ßf. 

Sae  HvbTtlßrJrflullSeVcll  für  bas  beutfdje  dieid)  Dütn  1.  Suui  1891  (DUmeUe 
tu  Sdt.'VITbeF ©eroerBeorbnnug).  Sejtauogabe  mit  Einleitung,  erlänternben  Stnmerfungen 
nnb  JHegifter.  8V2  39og.  Änrt.  1 9JJ-  20 


J.  ©itHimtag,  s8erlagdbud)t)aublnng  in  Söerliu. 

$a§  9icicü)SQefe^ 

betveffenb  bie 

liunlttiitiits-  uni  Jütere- 
Kifutieninj. 

SBom  22.  Suui  18S9. 

SejDßliiygabe  mit  Slumerfitugen  1111b  Sadjregifter 

U01I 

(5.  won  Sßocbtfc, 

ßaiferl.  ©eb.  ObnuStegicrungSratl)  imb  oortrag.  Otottj  im 
Steidjsamt  bc3  Snnern. 

'Tiertc  gniftage. 

Safdjeufoim.it;  cart.  2 5Üt. 


X Cjjnxtißntafl,  IfterlaggbutfjIjanMiing  in  Berlin. 


(ßuttbntaa’fdie  Sammlung 

Deut|it)tt  tttidjsijcfctje  uttii  flmi[ii(d|cr  itftltt. 

toef-3fru»gabBn  mit  3ftnm*rfmngEN. 
tEaVrfpjnforntat,  fcarfmmtrf. 


Jlctttfilf«  |tcid}00erc^i?. 

1.  ©ie  Stcrfaffung  beb  tßcntidieu  Dfcidiö  pou  Dr.  8. 
non  9tönnc.  ©erfjfte  Auflage.  1 SJtf.  25  St- 

2.  Strafgefchlwd)  für  bab  ©eutfdie  'Jieidi  mit  ben 

1 : l.rtxrt ll’nn  I 1 »• 

3. 

4. 

6. 


gcbrdüd)lid)ftcn  '3i  c i d)  $ üra  f g e ■ c hett . Ton  Dr. ß. 
St  ü bot  ff.  ftrutifaetinte  Stuftage.  1 331  f. 
S3!iiitär=®trafacfebbud)  für  beb  ©entfdie  3»ctdi 

non  Dr.  ß.  Ütiiborff.  3ll’dte  Stuftage  0011  SB.  8. 
©olmS.  2 SJtt. 

ätltgcuicmeb  ©eutfdjcb  ß>  an  b c I b g c f c hb  u di  unter 
SluSfdjluü  be3  ©eercdjtä.  Son  %.  Stttljauer.  Siebente 


6. 

P 

& 

9a. 

9b. 


10. 
i u- 

12. 

13. 

14. 


Sluflage.  2 SJtt 
©tilg  meine  U'eutidie  ©ßcdjfclorbmtng  oon  Dr. 

©.  Tovdjavbt,  ©cdjfte  Sluflage  uon  G.  Sali,  nnb 
©ßcdifelftcin  helft  euer  gef  eh  nebft  ©üed)  ie  1 ftcmuel = 
fteuertnrif  uon  S.  ©au v> p.  ftfiinftc  Stuftage.  2 tuet. 
9Ieid)5=Wemerbc=©rtuiiutg  mit  beu  für  bal  IReid) 
ertaffenen  StuSfiUiruugäbeftimniumieii.  Slcuefte  fyaffnug 
beä  ©efcfeeS.  Sou  £.  Sf).  ©erger,  Utegievuugäratf). 
Clftc  Sluflage.  1 SCRf.  25  ©f. 

©ie  ©eutfdie  'Voft=  nnb  2; e 1 c g r a v I) e 1 1 = (ü e i c tj= 
gebuna.  Ton  Dr.  ©.  *S>.  gif d) er.  Stritte  Sluflage. 
2 9Jit.  60  Tf. 

©ie  ©ciebc  über  ben  llnterftütmngswobnfife, 

ü6er  Snubee=  unb  Staat3anget)brig£eit  unb  Syreijügigfeit. 
Sou  Dr.  3.  Sved).  3'DCi|e  Sluflage.  2 331x7 
Sammlung  ftcincrev  Urinatrcditlidicr  5Reid)6= 
gefebe.  ßTaaujungSbanb  311  ben  im  3.  ©uttentaa’idien 
©erläge  crfdiieneneh  ßiujcl  Sludgaben  bcntjdjcr  9ieid)§= 
gefehe.  ©on  St  er  tja  11  §.  2 ®U.  25  ©f. 
Sammlung  lichterer  9?cid)dgcfet;c  ftraf rcd)t= 
lieben  Snbaltd.  ©rgänäungöbanb  311  ben  im  % ©utten-- 
iag'fdjen  Scvtage  crfdneneneii  (Sin}et=Slu§gabeu  bcutfdjer 
IReitbSgefe^e.  Sou  331.  äüeviter.  1 33if.  83  ©f. 

Saö  th'eidic-bcanitciigcfcfe  00m  31.  Ti  r,il873.  Streite 
Stuftage  ron  SB.  '£  11  r it  a ii,  9teidjägeridjt§rattj.  2 9Jit.  40  ©f. 
(Siuilvrosefeorbtiung  mit  © e r i di t e u c r f a f f u tt g § = 
gefcß,  ©infübrungegefebcu,  Slebcitgcicüett  unb 
©rgonjiingcn.  Sou  9t.  ©tjbotr.  5-iinite  Sluflage. 
2 2Ht.  50  ©fi 

Strafuroäefiorbiuutg  nebft  Wcrid)tencrfaffuugö= 
gefets.  fsütifte  Sluflage  uon  §cttmeg.  1 9Jtf.  60  Tf. 
ÄoiiEiireorbnung  mit  Giitrüliriiugogcfch,  9trbcn= 
ge  eben  unb  ©rgetnsungen.  Son  9t.  ©tjbo». 
Sierte  Sluflage.  80  j>f. 

©criditemcrfaffungSgcfcfe  fürbadSentfeb  ’9ieid). 
Son  9t.  ©tjbottr.  Juitfte  Stuftage.  80  Sf. 


15. 

16. 

17. 

18. 

19. 

20. 

21. 

22. 

23. 

24. 

25. 

26. 

27. 

28. 

29. 

30. 

31. 


«eriditsfoftcngcfcis  nnb  ©ebübretiorbnung  für 
©eriditeboUjtebcr.  ©ebübrcnorbmntg  für  3eit= 
gen  unb  Sadiuerftäubigc.  Ü3tit  ÄoftentabeUcn. 

Stou  9t.  ©ljbom.  Sierte  Sluflage.  80  Sßf. 
Uteditenntmatteorbming  für  bab  ©eutfdie  Slicidi. 
Sott  9t.  © i)  b 0 10.  3'rcite  Stuftage.  50  Sf. 
©ebübreitorbmuig  für  Sieditganmatte.  Sou 

9t.  ©tjbow.  ©ritte  Stuflage.  63  Sf. 

'3feieb6= 

Dom 

„.  . - Pt’- 

3./4.  Sluflage  crgänjt  biä  1890.  2 SJtt 

©ie  Scegcfcfegebung  bee>  ©cutfdien  9tcid)Cb. 

Son  Dr.  jür.  SB  ©.  SV  ui  t f dj  f tj.  3 SJtt. 

«efefec,  betreffenb  bie  Ärgnfenucrfidiemng  ber 
atrbeitcr.  Son  <S.  uon  SBoebtJe.  ©ritte  Stuftage 
1 SJi  f . 20  St- 

®ic  Aonfnlargcfcfegebung  bce©eutfd)en9{eid)cs. 

Sou  Dr.  SI)itipp  3"ürTt-  d 

atotentgefefe.  (■>> c f c tj  über  '33tuftci'=  unb  '33te'be(l= 
fdint3.  ©eich  über  93tartetifdniü.  Sicbft  Stuä« 
fütjrungäbeitimimnigen.  Son  £.  ©I).  ©erger.  Stritte 
Stuftage.  2>n  Sorbereitnug. 

UnfaHücrfidbcrungsgcfch  »om  6.  guti  1884  unb 
©eich  über  bie  Stnebebnuttg  ber  ltufau=  nnb 
Äranfeuuerfidieritng  uom  28.  SOtat  1885.  Son 
ly.  non  SBoebtte.  Sterte  Sluflage.  2 SJtt 
«HetdiHgcfehr  betreffenb  bie  Aommanbitgeic(l= 
fdiaften  auf  Blttien  unb  bte  'ilfticugefellfdiaften. 
Sou  ß.  fi1  e i)  fe u c r nnb  Dr.  ß.  St.  © i in  0 11.  Stritte  Stuf» 
tage.  1 SJtt 

©a6  S'cutfdie  Dicidisgefeh  wegen  ©rfiebung  ber 
iöraufteiter  uom  31.  SJtai  1872.  Sou  fe.  ©ertfjo. 
1 SJtt  60  tpf. 

©ie  'Ueidiägefchgcbung  über  '3Jtüni=  unb  23attf= 
nicfen,  'l'aüiergctb.  '4-'rämiemnn’ierc  unb 9}cdie= 
aiucibcii.  Son  Dr.  9t.  SVodj.  3meite  Stuflage.  2 SJtt  40  Sf. 
®ie  ©efehgebung.  betr.  bad  ©efutibebeitsmcfcn 
im  ©cutfdien  Uteiri).  Son  Dr.  jur.  G.  ©oefd)  nnb 
Dr.  med.  g.  SVarfteit.  1 SJtt  60  'Bf. 

©efeh,  betreffenb  bie  Unfatluerfidicrung  bc.r  bei 
©lauten  befdiaftigten  ©.'erfonen.  Som  .Sult  1887. 
©ton  ßeo  SJtugbau.  1 SJtt  25  Sf. 

©efehf  betreffenb  bie  ©rmcrbs=  unb  ©Birtb= 
fdiaftdgenoffcnfdiaften.  Som  1.  SJtai  1889.  ©ton 
8.  SartfiuS.  Sierte  Stuftage.  1 ÜJtf.  25  Sf. 

©efeh,  betreffenb  bie  Snnalibität6=  unb9(ltcrd= 
oerfidierung.  Som  22.  guni  1889.  Son  G.  uon 
SBoebtte.  Sierte  Stuftage.  2 SJtt 
'Jicidiogefchf  betreffenb  bie  ©ewcrbegeridi'c. 
Som  29.  3uli  1890.  S'ou  8eo  SJtugban.  2.  Sluögabc. 
1 SJtt  25  Sf. 


B 

y v* c n (j i f d> c 

1.  ©ie  ©?crfaffungä=Urfitttbe  für  beit  'ßrcufjtfdien 
Staat.  Sou  Dr.  Stbotf  Strnbt.  3>utite  Stuftagc. 
2 SJtt. 

2.  ©tcamteii=©efchgcbiiiHl,  ©.'reiiütfdjc.  Guttjalteub 
bie  lÄ)tigfteu  Seamtengefefee  in  SreuBcu.  SJat  furjeu 
Slumerfuugen,  einem  d)rouoiogifdjcn  SSerjeit^utS  ber  ab» 
gebrucfteit  ©efeijc  re.  ©Von  G.  Sraffcvotfi.  3IDChc 
ncubearbeitete  Stuftage.  1 SJtt  50  Sf. 

3. 


Sult 
3.  AVvedj 
1 SJtt 


1111b  Dr.  ©.  gifdjer.  3weih  Stuftage. 


4.  S'ie  ©.'icuniidicu  ©efehe,  betreffenb  bah  Siotariat 

in  ben  Baiibeötljeilen  be-3  gemeinen  9tcd)tä  unb  bco 
8anbrcd)t§.  3|ueiü  ueränbevte  Sluflage  tjevaudgegeben 
uon  9t.  © t) b 0 10  unb  St.  ßetllueg.  1 SJtt  60  ißf. 

5.  ®ge  ©efeh  nont  24.  ©ll'ril  1854  (betr.  bie  aufjer» 
etictidje  ©djtt)äugevuiig)  uub  bie  bauebeu  gelteubeii  Sc> 
ftimmuugru  bcS  Sl'ttg.  8anbred)tä  nebft  ben  baju  ergangenen 
Sräiubitaten,  ber  Sittevatur  ic.  Son  Dr.  jur.ß.  © dj  u tj 
75  Sf. 

6.  ®ic  'ßreitfüfdictt  ©Cuhfüliruugssjcfehe  unb  ©*er-- 

arbmuigeit  511  ben  '3f  c i d)  o j 11  ft  tj  g e f e heu . ©'ou 

9t.  © i)  b ö io.  3mei,e  Sluflage.  2 SJtt 

7.  ©tttgcmeiiie  ©criditeorbmuig  für  bie  ©•' reuf; i= 

fdieii  ©tagten  uom  (i.  Suti  1793  intb 'D  reit  fit  idle 
ftoiifarhotbiiung  uom  8.  '33tai  1855.  ©'ou 

%.  Sierljauä.  2 'SJtt  50  Sf- 

8.  ©ic©orinuitbfdiaft6=©rbnun.x  uom  5.  3ulil875, 

nebft  ben  ba.iu  ertaffenen  Stebengefeben  unb  Singe» 
meinen  Serfügungen.  Sou  SJtaj  © dj  ulije  11  ft  cm. 
1 SJtf.  20  Sßf.  ' 

9.  S'ie  ©Jrci'fjtfdie  ©rnubbudigefchgebiutg.  Sou 

Srof.  Dr.  £>.  S-ifdjer.  1 SJtt  20  St- 

10.  ©infommcnftcncrgeich  für  bie  'ßreufjifdie  '33t 0= 
nardiic.  ©ton  ©et).  Statt)  St.  SJtei^cn.  3ioeüc  Stuf» 
tage.  1 SJtt 


11. 


©eiucrbeftencrgcfch  für  bie  ßßrcuiiiidie  ©3to= 
itard)ic.  33 on  ?Kegiening0ratrj  5(.  fjernon?.  80 


Verlag  von  <>ustnv  Fisclier  in  Jena: 

Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften. 

Herauso-egeben  von  Professor  Dr.  J.  Conrad  in  Halle  a.  S.,  Professor  Dr.  L.  Elster  in 
Breslau? Professor  Dr.  W.  Lexis  in  Göttingen,  Professor  Dr.  Edg.  Loening  in  Halle  a.  S. 

Erster  und  zweiter  Band.  Preis  brosch. : 36  Mark,  gebunden  40  Mark. 
eä-  Der  dritte  Band  erscheint  (in  Folge  des  Setzerausstandes  verspätet)  im  Januar  1892. 

ggr-  Vollständig  in  5-6  Bänden  im  Umfange  von  300—350  Bogen  gross 
Lexikon  S",  welche  bis  Ende  des  Jahres  1S92  erscheinen  sollen.  Der  Preis  des 
Werkes  soll  100  Mark  nicht  übersteigen,  , . 

Ein  ähnliches  Werk  von  gleichem  Umfange  ist  bisher  weder  in  der  deutschen 
noch  in  der  ausländischen  Litteratur  vorhanden.  Der  Schwerpunkt  desselben  ruht 
in  der  Darlegung  des  thatsächlichen  Inhalts  der  wirtschaftlichen  und  sozialen  Er- 
scheinungen, die  in  ihrem  inneren  Zusammenhänge  und  ihrer  geschichtlichen  Ent- 
wickelung mit  beständiger  Rücksichtnahme  auf  die  entsprechenden  Verhältnisse  sämt- 
licher Kulturländer  vorgeführt  werden  sollen.  . 

Das  „Handwörterbuch“  bietet  die  gesamte  wirtschaftliche  Gesetzgebung,  eine 
detaillierte  'Statistik,  die  Hauptergebnisse  der  parlamentarischen  und  1 itterarischen 
Diskussion  und  eine  vollständige  bibliographische  U ebersicht. 

Eine  solche  reichhaltige  Thatsachensammlung  nach  geschichtlicher  und  ver- 
gleichender Methode  wird  nicht  nur  für  das  wissenschaftliche  Studium  von  Nutzen 
sein,  sondern  vor  allem  auch  den  Beamten  und  allen  denen,  welche  der  grofsen  wirt- 
schaftlichen und  sozialen  Bewegung  unserer  Zeit  ein  Interesse  entgegenbringen,  che 
Mittel  für  eine  rasche  Orientirung  und  richtige  Beurtheilung  der  schwebenden  kragen 

an  die  Hand  geben.  ...  . „ v 

Durch  Ergänzungshefte,  welche  dem  abgeschlossenen  Werke  von  Zeit  zu  Zeit 
folgen  sollen,  wird  dasselbe  vor  dem  Veralten  geschützt  werden. 

Ausführliche  Probehefte  werden  unentgeltlich  abgegeben.  Die  bisher  er- 
schienenen Lieferungen  können  von  jeder  Buchhandlung  zur  Ansicht  vorgelegt  werden. 

Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und 

Statistik. 

Gegründet  von  Bruno  Hildebrand.  Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  J.  Conrad  m 
Halle  a.  S.  und  Prof.  Dr.  L.  Elster  in  Breslau  in  Verbindung  mit  Prof.  Dr.  W.  Edg. 
Loenino-  in  Halle  a.  S.  und  Prof.  Dr.  W.  Lexis  in  Göttingen.  Dritte  Folge.  Monat- 
lich erscheint  ein  Heft  im  Umfange  von  etwa  10  Druckbogen  Sechs 

Hefte  bilden  einen  Band. 

Preis  des  Bandes  14  Mark.  Preis  eines  einzelnen  Heftes  3 Mark. 

Inhalt  des  Heftes  Dezember  1891: 

Munro,  [.  L.  C.  (Manchester),  Die  englische  Arbeitsstatistik.  — Conrad,  J,  Der  Grossgrund- 
besitz in  Ostpreussen.  — Die  zweite  Lesung  des  Entwurfes  eines  B u rgeilichen 
Gesetzbuches  für  das  Deutsche  Reich  von  Assessor  Greift  (Fortsetzung).  — - Grunzei, 
loseph,  1 a p a n.  — Strauss,  Altersverhaltnisse  der  Bevölkerung  verschiedener 
Staaten.  — v.  Raffalovich,  Das  Fleischgewerbe  in  Frankreich,  u.  s w. 

Das  Januarheft  1892  wird  enthalten: 

Die  Bedeutung  der  Gilden  für  die  Entstehung  der  deutschen  Stadtverfassung  von  v.  B e 1 o w.  — Die  landwirt- 
schaftlichen Verhältnisse  Englands,  von  Prof.  P a a s c h e.  — Die  Verhandlungen  der  Kommission  zur 
2 Lesun0*  des  bürgerlichen  Gesetzbuches,  von  G r e i f f.  (Fortsetzung.)  Das  neue  Armengesetz  in 
Deutschland,  von  Prof.  Dr.  Edg.  Loening.  — Die  Urteile  der  deutschen  Handelskammern  über  die 
Novelle  zur  Gewerbeordnung  nach  den  Jahresberichten  1890.  von  v.  d.  Börght.  — Das  Patentgesetz  und 
die  neueste  Litteratur  über  Patentwesen,  von  Prof.  G a r e i s u.  s.  w. 


©vfdjcint  tiiijliii)  (tttfjev  Ittotttags. 


bet  foütrtlbcntoliratifcf)Ctt 
Partei  g>eutfd)Canbs. 


Berliner  fottsBlafl 


Sfflan  abonnirt  für 


Q Utk*  pr*  (Quartal  tpojfanftalt. 

6652  ber  fpoft,)eitung§dßrei§Iifte  für  1892. 


<g£pebitiou,  ©erlitt  SW.,  ©eutlu  Strafe  3. 


■e 


SSerlag  non  JMtmfeer  & Ifumbloi  in  geipüfl. 

©Borg  XriebrtvJi  Knapp,  2)ie  Öanbarbeiter 
in  ifnedjtfdjaft  11116  33iev  Sorträge. 

1891.  ißreiö  ca.  2 931. 

©eiuridi  Berliner,  Sie  fociale  9iefonn  als 

‘*©ebot  bee*nürtt)id)aftlid)en  ^ortfdjvittö.  1891. 
SßreiS  2 9)L  40  5ßf. 

Begriffen  t»rs  fmins  für  Gncialpnlitik. 
49-  SBanb : Sie  Jpanbelspolifif  ber  nüdjtigeren 
Shilturjfaaten  in  ben  feilten  3 ,ln^e()iiten  1. 
Süanb.  2t.  u.  b.  S>ie  dpan beföpolitif 

9torbamevifaS,  Stalienö,  DefterreidjS,  23eL 
giend,  ber  9Lebertanbe,  Säitemarf‘3,  <Ecf)ioe= 
bertS  unb  9lorroegen3,  fRnfetanbä  unb  ber 
©djineia,  foiuie  bie  beutfd)e  fjanbetSftatijtif 
Don  1880  bid  1890.  fkeiS  18  93t. 

— Sajfefbe.  50.  23anb:  Sie  imubetSpolitif  ac. 
2.  33anb,  21  u.  b.  S. : ©ie  3'been  ber  beuL 
fdjen  iiaitbeldpofitif  mm  1860—1891  93om 
ißrof.  Dr  IDalflier  Xnfjt  in  9Jhnid)en.  flreiS 
4 93L.  60  $ßf. 

Bcvmanit  Xnfdi,  Nationale  Sßrobuftiou  1111b 
'nationale  33erup3gtieberung.  1891.  SßveiS 
6 93t. 

Bl.  ü.  b.  Bßen,  Sie  gaefjoereine  nnb  bie 
fociale  ifemegung  in  granfreict).  ©onberabbr. 
and  ©djmotlerS ’3af)rbucf)  1891.  f>reie>  2 93t. 


3t.  ©uttentagu  SJertagSbitdjljnubluug  in  SBertin. 

dntrdfcitiiinp  imö  Dcrfiipnp 

her 

©etticrbcs^ejuitatton  beS  Söfagiftrats 
31t  ©erlitt 

jum  Reuliagel'Efi  betrßjfEnb  btE  BranftEn- 
nerltrfiEnmg  bsr  BrbEifEr 
Dom  15  3nni  1883. 

ltebff  einem  2lbbriufe  biejeS  ©ejefje^. 
.peranbgegeben  mm 

üeo  93tugbau  Dr.  jur.  SJlidiarb  Sfreunb, 

aJtnftiftrntä  llffefforcn  311  SBetlin. 

dp  e f t I nnb  II. 
gr.  8°.  3 93t.  75 


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:|  Verlag  von  Leonhard  Simion  in  Berlin,  f|: 

dl  SW.,  Wilhelmstrasse  121.  «L 


♦ > 

1 Beschichte  der  neuesten  ieitl 


1815—1885 


Prof.  Constantin  Bulle. 

4 Bände.  1887.  Preis  brosch.  20  31.,  geb.  24  31. 


ft 


3m  SSerlage  non  ©eorg  9iciuier  in  ©erlitt  erfdjeinen: 

ficuftifdje  gialjrbüdjcr. 

dperaueigegeben 

Don 

5§aits  3xlbxüik. 

(Hunatsl'rfjrifl  für  Politik,  ©erdjidjie,  Bunft  unb  XifErafur.) 

JBF“  SHonatlid)  citt  jpeft. 

93t an  abonnirt  tjalbjätjrtid)  für  9 93tarf  bei  allen  23ud;t)anblnngen  unb  tpoftämtern. 


I 

1 


:f;  „Bulle’s  Geschichte  der  Neuesten  Zeit  ist 
^ durchaus  vom  Standpunkte  der  Wissenschaft 
di  aus  geschrieben,  soweit  bei  Beschaffenheit 
;♦»  des  Quellenmaterials  eine  wissenschaftliche 
3 Behandlung  möglich  ist.  Ein  besonderes 
Geschick  bekundet  der  Verfasser  in  der 
dl  kurzen  aber  scharfen  Characterisirung  der 
dj  handelnden  Personen.“ 

Jenaer  Literaturzeitung. 

,Wenn  von  den  zahlreichen  Darstellungen 
der  neuesten  Geschichte  irgend  eine  em- 
-4  pfohlen  zu  werden  verdient,  so  ist  es  die- 
-t  jenige  Bulle’s.  Besonders  der  Jugend,  die 
2|  oft  mit  einer  erschreckenden  Unwissenheit 
hinsichtlich  der  neueren  und  neuesten  Zeit- 
^ ereignisse  ins  handelnde  Leben  tritt,  kann 
3 kaum  eine  nützlichere  Gabe  mit  auf  den 

• Weg  gegeben  werden.“ 

♦ Prof.  Dr.  A.  Stern  (Bern) 

d|  „(Nation“,  1887  No.  44). 

^ ft  ff  ft  fff 


Verantwortlich  für  den  Anzeigenteil : Dr.  Otto  Eysler  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  18.  Januar  1892. 


Nummer  3. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

nlle  Kuchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  politischel’resseder  deut- 
schen Sozialdemokratie. 

Soziale  Wivthschaftspolitik  11. 
Wirthschaftsstatistik : 

Neuer  sozialpolitischer  Gesetz- 
entwurf in  Preussen. 

1 iieHypothekenbc wegung  im  preus- 
sischen  Staate  von  1886/87  bis 
1889/90.  Von  Dr.  C.  Grünberg. 

Agrarische  Bewegungen  in  der 
Schweiz.  Von  Kantonstatistiker 
E.  Naef. 

Zur  Frage  der  Börsenreform. 

Arbeiterzustände: 

Arbeitsverhältnisse  im  bayerischen 
Bergbau. 

Lohnfristen  der  Bergleute. 

Kommission  für  Arbeitsstatistik. 

Zur  Beurtheilung  der  Statistik  der 
deutschen  Gewerkschaften. 

Peonagesystem  und  Arbeitslöhne 
in  Mexiko. 

Ernährungsverhältnisse  der  Ar- 
beiterbevölkerung. 

Die  Zunahme  des  Pferdefleisch- 
konsums. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Der  deutsche  Buchdruckerausstand. 

Die  Achtstundenbewegung  in  den 
Vereinigten  Staaten. 

Der  Kampf  um  die  Sonntagsruhe  im 
Bäckergewerbe. 

Ueber  Arbeiterausstände  und  ihre 
rechtlichen  Folgen. 


Kaufmännische  Bewegung : 

Die  sozialpolitische  Keformbe- 
wegung  im  deutschen  Handels- 
gewerbe. Von  Dr.  Max  Quarck. 

Eine  Minimalkündigungsfrist  für 
Handlungsgehilfen. 

Die  Arbeitszeit  kaufmännischer 
Lehrlinge. 

Handwerkerfra  gen : 

Die  Bauhandwerker  und  die  Hypo- 
thekenordnung. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Schutz  der  Arbeiterinnen. 

Die  Sonntagsruhe  im  deutschen 
Handelsgewerbe. 

Schweizerisches  Fabrikgesetz. 

Arbeiterversicherung : 

Die  Erweiterung  der  Unfallver- 
sicherung in  Oesterreich. 

Beschäftigung  ausländischer  Ar- 
beiter und  deutsche  Versicherung. 

Verstaatlichung  der  Aerzte. 

Prostitution: 

Die  Prostitution  im  russischen 
Reiche.  Von  Dr.  Stephan  Bauer. 

Litteratur: 

Nordböhmische  Arbeiterstatistik. 
(H.  Herkner.) 

Taschenkalender  bei  Handhabung 
der  Arbeiterversicherungsgesetze. 

Die  Steuerdeklaration  der  Aerzte  etc. 
(J.  Jastrow). 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  politische  Presse  der  deutschen  Sozial- 
demokratie. 

Es  ist  auffallend,  dass  den  Zeitungen  der  deutschen 
Sozialdemokratie  seit  dem  Erscheinen  des  Held'schen  Essays 
über  die  deutsche  Arbeiterpresse’)  litterarisch  keinerlei  Beach- 
tung geschenkt  wurde,  obgleich  die  Zeitungen  der  Sozial- 
demokratie das  hervorragendste  Agitationsmittel  dieser  Partei 
sind,  für  die  Verbreitung  ihrer  Grundsätze  weit  wirksamer 
arbeiten  als  deren  übrige  Litteratur  und  zugleich  einen  werth- 
vollen  Massstab  für  die  intellektuelle  Stärke  der  Partei 
sowie  für  den  Geschmack  und  die  Auffassungsfähigkeit 

’)  Held,  Die  deutsche  Arbeiterpresse  der  Gegenwart. 
Leipzig,  1873. 

| 

( 


der  im  Bannkreise  der  Sozialdemokratie  stehenden  Massen 
bilden. 

Wir  unterschätzen  keineswegs  die  Schwierigkeiten 
einer  gründlichen  Untersuchung  über  das  Zeitungswesen  im 
Allgemeinen  und  über  die  sozialistische  Presse  im  Speciellen. 
Dieselben  bestehen  vornehmlich  in  dem  Mangel  an  Mass- 
stäben  für  eine  statistisch-deskriptive  Darstellung,  in  der 
Aengstlichkeit,  mit  der  alle  Interna  von  den  Zeitungen  ver- 
borgen gehalten  werden,  in  der  Schwierigkeit,  einen  objek- 
tiven Standpunkt  dem  Zeitungswesen  gegenüber  einzuneh- 
men und  endlich  in  der  Voraussetzung  für  den  Beurtheiler, 
die  journalistische  Technik  vollständig  zu  beherrschen. 

Daher  rührt  es,  dass  wir  über  den  wichtigsten 
Faktor  unseres  öffentlichen  Lebens,  die  Tagespresse,  eine 
durchaus  ungenügende  und  fast  ausnahmlos  veraltete 
Litteratur  besitzen.  Freilich  ein  Buch,  wie  das  WuttkeV), 
heute  zu  schreiben,  vor  Allem  schon  die  Sammlung  des 
Materials  zu  einer  vollständigen  Darstellung  der  deutschen 
Tagespresse  übersteigt,  so  sehr  das  Thema  auch  zur  Inan- 
griffnahme einer  solchen  Arbeit  reizen  mag,  die  Fähigkeit 
eines  Einzelnen. 

Demgegenüber  erschiene  eine  Arbeit  über  die  sozia- 
listische Tagespresse  der  Gegenwart,  etwa  für  die  Zeit  seit 
Ablauf  des  Sozialistengesetzes,  nicht  so  schwierig,  vor  Allem 
deswegen,  weil  eine  klare  Scheidung  der  sozialistischen  und 
nichtsozialistischen  Presse  möglich  ist. 

Das  Centralorgan  der  sozialdemokratischen  Partei 
Deutschlands  veröffentlicht  zu  Beginn  jeden  Quartals  eine 
Liste  der  Parteipresse,  aus  der  man  die  Entwickelung  der- 
selben, was  die  Zahl  der  Organe  betrifft,  erkennen  kann. 
Ueber  die  Verbreitung  der  Presse  erhielt  man  auf  dem 
Congresse  von  Halle  a./S.  Aufschlüsse.  Danach  erschienen 
zur  Zeit  des  Ablaufs  des  Sozialistengesetzes  wöchentlich 
6 mal  19  politische  Blätter,  welche  zwischen  30  000  und  1 100, 
im  Ganzen  120  400  Abonnenten  hatten,  wöchentlich  3 mal 
25  Blätter,  welche  zwischen  9000  und  250,  im  Ganzen  58  000 
Abonnenten  hatten,  wöchentlich  2 mal  6 Blätter,  welche 
zwischen  6000  und  450,  im  Ganzen  14  850  Abonnenten  hatten, 
endlich  wöchentlich  1 mal  10  Blätter,  welche  zwischen  14  500 
und  1000,  im  Ganzen  60  850  Abonnenten  hatten  Insgesammt 
demnach  60  politische  Blätter  mit  254  100  Abonnenten. 

Der  Stand  der  Gewerkschaftspresse  war  folgender. 
Es  erschien  wöchentlich  dreimal  der  „Correspondent  tür 
Deutschlands  Buchdrucker“  mit  einer  auf  4-  -5000  geschätzten 
Auflage,  wöchentlich  einmal  erscheinen  17  Organe,  von 
denen  eines,  dasjenige  der  Bergleute,  27  000,  das  zweite 

2)  Wuttke,  Die  deutschen  Zeitschriften  und  die  öffent- 
liche Meinung.  Hamburg  1866. 


32 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBI ATT. 


No.  3. 


16  000,  das  dritte  15  000,  das  vierte  12  500,  das  fünfte  11  000, 
das  letzte  850  Abonnenten,  alle  zusammen  155  350  Abon- 
nenten hatten;  monatlich  2 bezw.  3mal  erschienen  2 Blätter 
mit  zusammen  [4400  Abonnenten,  24  bezw.  26mal  im  Jahre 
erschienen  20  gewerkschaftliche  Organe  mit  400— 6000  Abon- 
nenten und  einem  Gesammtabnehmerkreise  von  39  750, 
monatlich  einmal  erschienen  2 Blätter  mit  zusammen  1500 
Abonnenten.  Die  gewerkschaftlich  organ isirten  sozialdemo- 
kratischen Arbeiter  verfügten  demnach  über  41  Organe, 
welche  von  201  000  Abonnenten  gehalten  wurden.  Zu  den 
angeführten  Organen  kam  die  populärwissenschaftliche, 
monatlich  erscheinende,  Revue  „Neue  Zeit“  mit  einer  Auflage 
von  damals  2500  Exemplaren,  das  wöchentlich  erscheinende 
Unterhaltungsblatt  „Der  Gesellschalter“  mit  einer  Auflage 
von  1 9 000  und  zwei  Witzblätter  mit  einer  Gesammtauflage 
von  107  000  Exemplaren.  Die  Zahl  der  politischen  Or- 
gane stieg  von  Ende  September  1890  bis  Anfang  Oktober 
?891  von  60  auf  69  und  zwar  stieg  die  Zahl  der  täglich  er- 
scheinenden von  19  auf  27,  die  der  dreimal  wöchentlich  er- 
scheinenden von  25  aut  26,  während  die  Zahl  der  zwei- 
(6)  und  einmal  (10)  wöchentlich  erscheinenden  unverändert 
blieb.  Die  Zahl  der  Gewerkschaftsorgane  stieg  von  42 
auf  55.  Unverändert  blieb  die  Zahl  der  wöchentlich  drei- 
mal (1)  und  der  monatlich  zweimal  (20)  erscheinenden. 
Die  Zahl  der  wöchentlich  einmal  erscheinenden  stieg  von 

1 7 auf  26,  die  der  monatlich  dreimal  und  einmal  erscheinen- 
den von  je  2 auf  je  4. 

Die  „Neue  Zeit“  wurde  aus  einem  monatlich  erschei- 
nenden Organe  ein  Wochenblatt,  an  Stelle  des  „Gesell- 
schafter“ trat  mit  dem  Jahre  1892  die  „Neue  Welt“  als 
Beilage  vieler  politischer  Organe  der  Sozialdemokratie. 
Die  Auflage  der  „Neuen  Welt“  beträgt  kaum  viel  unter 
180000,  die  der „NeuenZeit“  hat  sich  mehr  als  verdreifacht  und 
auch  die  der  beiden  wichtigsten  politischen  Organe  der 
Partei,  des  „Vorwärts“  und  des  „Hamburger  Echo“,  sowie 
des  „Correspondent  für  Deutschlands  Buchdruckei  ist  im 
Laufe  des  Jahres  1891  ansehnlich  gestiegen.  Auch  die  Auf- 
lage der  übrigen  Organe  der  Sozialdemokratie,  über  die 
leider  seit  dem  Kongresse  zu  Halle  keine  neuen  Angaben 
vorliegen,  dürfte  kaum  stationär  geblieben , sondern  ge- 
stiegen sein. 

Mit  Beginn  des  Jahres  1892  hat  die  Zahl  der  sozia- 
listischen Organe  wieder  zugenommen,  die  täglichen  Blätter 
zählen  jetzt  um  eines,  die  dreimal  wöchentlich  erscheinen- 
den um  3,  die  wöchentlich  einmal  erscheinenden  um  2 mehr 
als  zur  Zeit  des  Erfurter  Kongresses.  Ausser  den  hier  an- 
geführten Organen  giebt  es  noch  einige,  welche  eine  offi- 
zielle Anerkennung  durch  die  Parteileitung  nicht  gel unden 
haben.  Hiezu  gehört  der  „Sozialist“,  das  Organ  der  unter 
dem  Namen  der  „Jungen“  mehr  als  unter  dem  Namen  der 
„Unabhängigen  Sozialisten“  bekannten  Gruppe,  dann  die 
Monatsschrift  „Lichtstrahlen“,  welche  im  Gegensätze  zum 
Parteiprogramm,  das  die  Religion  als  Privatsache  betrachtet, 
in  Propagirung  einer  atheistischen  und  dabei  gleichzeitig 
sozialistischen  Weltanschauung  ihre  Aufgabe  sieht,  endlich 
die  beiden  jetzt,  wenn  wir  uns  nicht  täuschen,  eingegange- 
nen Zeitschriften:  die  populär-wissenschaftliche  Revue  „Der 
Leuchtthurm“  und  die  von  Bruno  V ille  herausgegebene 
„Jugend“.  Den  von  Karl  Schneidt  herausgegebenen  „Spott- 
vogel“ und  das  Flürscheim'sche  „Frei-Land“,  welche  beide 
ausserhalb  des  weitgezogenen  Kreises  der  sozialistischen 
Presse  stehen,  wollen  wir  nur  erwähnen.  „Der  Spottvogel“ 
behauptet  wohl  auf  sozialistischer  Basis  zu  stehen,  be- 
schränkt sich  aber  lediglich  auf  eine  ausschliesslich  pei- 
sönliche  und  verbitterte  Bekämpfung  der  sozialdemokrati- 
schen Führer.  „Frei-Land“  hingegen  ist  ein  durchaus  sach- 
lich gehaltenes,  der  Propaganda  der  Bodenreform  gewid- 
metes Organ. 


Die  politischen  Organe  der  Sozialdemokratie,  die  allein 
zu  würdigen  heute  unsere  Aufgabe  ist,  unterscheiden  sich 
wesentlich  von  den  Organen  der  anderen  Parteien.  Ihre 
Leitartikel  und  ihre  sozialpolitische  Uebersicht  sind  zum 
grossen  Theile  sozialökonomischen  Inhaltes,  nicht  selten 
trifft  man  rein  theoretische  Ausführungen  und  häufig  sta- 
tistische Tabellen  und  auf  solche  gestützte  Deduktionen  an. 
Nach  dieser  Richtung  bieten  sie  unzweifelhaft  andere  und 
schwerer  verdauliche  Kost  als  die  Mehrzahl  der  politischen 
Organe  der  bürgerlichen  Parteien.  Bei  der  Behandlung 
politischer  und  lokaler  Fragen  bleiben,  wenigstens  in  den 
grösseren  Städten  die  sozialdemokratischen  Organe  hinter 
ihren  Konkurrenzblättern  fast  ausnahmslos  zurück.  Vor 
Allem  fehlt  ihnen  hier  die  Aktualität.  Die  Berichterstattung 
über  die  Vorgänge  in  den  Landtagen  und  Gemeindevertre- 
tungen wird  von  vielen  sozialdemokratischen  Organen  sehr 
vernachlässigt,  im  Gegensätze  zur  Berichterstattung  über 
den  Reichstag,  dem  meist  grosse  Aufmerksamkeit  gewidmet 
wird.  Dem  eigentlichen  lokalen  Theile,  den  Vorgängen 
des  alltäglichen  Lebens  wird  eine  oft  auffallend  starke 
Ignorirung  zu  Theil,  während  hingegen  dem  „Gerichts- 
saale“  von  vielen  dieser  Organe  sorgfältige  Berücksichtigung 
gewidmet  wird,  dies  gilt  insbesondere  vielfach  in  Beti  eft 
der  Verhandlungen  der  gewerblichen  Schiedsgerichte.  Adel 
Raum  wird  auch  der  Berichterstattung  über  die  gewerk- 
schaftliche Arbeiterbewegung  eingeräumt,  wenn  auch  hier- 
bei bemerkt  werden  muss,  dass  eine  intensivere  Ausnützung 
der  oft  sehr  reichhaltigen  gewerkschaftlichen  Organe  diesen 
Theil  der  Blätter  noch  weit  interessanter  gestalten  könnte. 

Ein  eigentliches  Feuilleton  im  Sinne  der  französischen 
und  österreichischen  und  mancher  deutschen  Blätter  besitzt  j 
die  sozialdemokratische  Presse  Deutschlands  nicht.  Wohl 
werden  aber  in  fast  allen  politischen  Organen  dieser  Partei  , 
Romane  veröffentlicht.  Diese  haben  zwar  häufig,  aber  nicht  j 
immer  sozialdemokratische  Tendenzen,  oft  sind  sie  auch 
ganz  tendenziös.  Eine  Reihe  sozialdemokratischer  Organe 
veröffentlichen  in  ihren  Sonntagsnummern  sogenannte  Sonn- 
tagsplaudereien, in  denen  meist  in  humoristischer  Weise 
Vorgänge  des  lokalen  und  politischen  Lebens  besprochen  j 

werden.  | 

Den  Sonntagsnummern  liegen  meist  Beilagen  mit  ‘ 
belletristischem  und  populärwissenschaftlichem  Inhalte  bei.  « 
Bis  Ende  1891  stammten  diese  in  vereinzelten  Fällen 
von  Verlagsanstalten,  welche  tendenziöse  Sonntagsblätter 
für  die  Organe  aller  Parteien  liefern,  eine  Reihe 
anderer  Organe  hatten  selbstständig  redigirte  Beilagen  mit 
belletristischen  Beiträgen  meist  sozialistischer  Tendenz, 
populärwissenschaftlichen  Artikeln  und  Notizen  und  Ge- 
dichten, welche  bei  den  Arbeitein  viel  Anklang  zu  linden 
scheinen,  da  man  poetische  Beiträge  auch  sonst  in  der 
sozialistischen  Presse  häufig  antriftt. 

In  vielen  Organen  der  Sozialdemokratie  begegnet 
man  häufig  auch  der  Rubrik  „Vermischtes“,  welche  alles 
mögliche  enthält,  ohne  dass  aber  hierbei  nicht  Rück- 
sicht auf  die  sozialistische  Tendenz  genommen  würde, 
so  bei  Abdruck  von  Scherzen  aus  den  Witzblättern,  bei 
Aphorismen,  Anekdoten,  Mittheilung  von  Erfindungen, 
Verbrechen  u.  dergl.  Wenn  wir  von  den  grossen  Or- 
ganen absehen,  so  vermissen  wir  in  der  ganzen  sozia- 
listischen Presse  die  den  modernen  Zeitungsleser  am 

meisten  interessirende  Rubrik  „Telegramme“.  Ebenso  fehlt 
vollständig  ein  Börsentheil,  alle  Hof-  und  Personalnach- 
richten, Wettrennberichte,  Notizen  über  Sport  und  dergl. 
In  einer  nicht  kleinen  Anzahl  der  politischen  Organe  der 
Sozialdemokratie  wird  der  Agitation  gegen  den  Impfzwang 
und  für  das  Naturheilverfahren  ein  auffallend  grosser  Raum 

eingeräumt.  .* 

Vom  sittlichen  Standpunkte  aus  kann  man  der 


No.  3. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


33 


sozialistischen  Presse  keinerlei  Vorwurf  machen,  sie  hält 
ängstlich  alles  Unzüchtige,  ja  selbst  nur  Pikante  aus  ihren 
Spalten  fern. 

Im  Allgemeinen  ist  die  sozialdemokratische  Presse 
sehr  ernst,  ihr  Inhalt  oft  sehr  schwer  verdaulich,  meist  zu 
wenig  abwechselungsreich;  es  fehlt  das  Gegengewicht 
leichter  Kost,  Heiteres,  rein  Unterhaltendes  wird  den  Lesern 
der  sozialistischen  Presse  in  sehr  geringem  Mass  geboten. 
Mag  dies  auch  ein  Vorwurf  für  die  Leitung  der  sozialistischen 
Organe  sein,  so  ist  der  starke  und  treue  Leserkreis  der 
sozialistischen  Presse  desto  bemerkenswerther. 

Nachdem  wir  den  im  eigentlichen  Sinne  redaktionellen 
Inhalt  der  sozialistischen  Presse  besprochen  haben,  müssen 
wir  auch  einige  Worte  der  geschäftlichen  Seite  dieser  Or- 
gane widmen,  da  manche  Mängel  dieser  Organe  daraus 
erklärt  werden  können. 

Die  Gründung  der  in  Deutschland  erscheinenden 
sozialistischen  Organe,  welche  heute  fast  ausnahmslos 
Parteiunternehmungen  und  nicht  geschäftliche  Spekulationen 
Einzelner  sind,  erfolgt  meist  durch  Beschlüsse  der  Partei 
in  den  einzelnen  Orten.  Die  Arbeiter,  welche  die  Gründung 
beschliessen,  sind  fast  immer  vollständige  Laien  im  Zeitungs- 
wesen, sie  vermögen  die  finanziellen,  technischen  und 
literarischen  Erfordernisse  einer  Zeitungsgründung  nicht 
abzusehen.  Das  zur  Verfügung  stehende  Grundkapital  be- 
steht selten  aus  einigen  tausend,  oft  nur  aus  einigen  hun- 
dert Mark,  so  dass  in  erster  Linie  das  Bestreben  sich 
geltend  macht,  mit  einer  Druckerei  einen  in  Betreff  der 
Zahlungsbedingungen  möglichst  günstigen  Vertrag  abzu- 
sch Hessen.  In  Bezug  auf  die  Kosten  der  Redaktion  und 
Verwaltung  wird  ganz  ausserordentlich  gespart,  so  dass, 
und  dies  gilt  von  der  Verwaltung  noch  mehr  wie  von  der 
Redaktion,  im  Zeitungswesen  oft  gänzlich  unerfahrene 
Leute  engagirt  werden;  in  erster  Linie  werden  gemass- 
regelte  Parteimitglieder  berücksichtigt  und  Unterstützungs- 
zwecke mit  dem  Geschäftsunternehmen  verquickt,  die  dann  das 
Unternehmen  häufig  geschäftlich  dermassen  be nachtheiligen, 
dass  es  daran  oft  nach  jahrelangem  Bestände  noch  krankt. 
Lässt  sich  auch  nicht  leugnen,  dass  trotzdem  häufig  glück- 
liche Griffe  bei  der  Wahl  der  Personen  gemacht  werden, 
so  steht  doch  fest,  dass  diese  Fälle  nur  Ausnahmen  sind. 
Im  Allgemeinen  ist  es  indessen  nach  dieser  Richtung  seit 
dem  Falle  des  Sozialistengesetzes  bedeutend  besser  gewor- 
den. Die  Chefredakteure  der  sozialistischen  Organe  sind  im 
Gegensätze  zu  früher  jetzt  nicht  nur  vereinzelt  akademisch 
gebildete  Personen,  in  manchen  Fällen  können  sie  fach- 
mässige  nationalökonomische  Vorstudien  nachweisen.  Da- 
gegen sind  die  Lokalredakteure  und  die  Verwaltungs- 
personen ziemlich  allgemein  auch  jetzt  noch  gemassregelte 
Parteimitglieder.  Auch  den  Chefredakteuren,  selbst  den 
akademisch  vorgebildeten,  fehlt  übrigens  jetzt  noch  meist 
die  journalistische  Vorbildung.  Sie  kommen  aus  allen 
möglichen  Berufen  und  Vorstudien  in  die  Redaktionsstube 
der  sozialistischen  Organe  und  müssen  da  Lehrlinge  und 
Meister  gleichzeitig  sein.  Ihre  Bezahlung  ist  ausnahmslos 
niedriger  als  die  seitens  der  Organe  anderer  Parteien,  während 
ihre  Arbeitslast  bedeutend  grösser  ist.  Die  meisten  sozialisti- 
schen Redakteure  haben  ein  Gehalt,  das  150  Mk.  im  Monat 
nicht  übersteigt,  kaum  ein  Dutzend  dürfte  ein  grösseres 
Gehalt  beziehen.  Trotzdem  müssen,  von  ganz  vereinzelten 
Ausnahmen  abgesehen,  nicht  mehr  als  zwei  Redakteure  ein 
Tageblatt  redigiren,  hierzu  kommen  noch  zahlreiche  Ab- 
haltungen. Eine  grosse  Redaktions-Korrespondenz  raubt 
sehr  viel  Zeit,  da  unzählige  Briefe  mit  Anfragen,  insbeson- 
ders  juristischer  und  politischer  Natur,  beantwortet  werden 
müssen;  überdies  haben  die  sozialistischen  Redakteure  nach 
gethaner  Berufsarbeit  ihre  Abende  als  Redner  in  Agitations- 
versammlungen und  als  berathende  Personen  in  Partei- 


sitzungen zu  verbringen.  Dabei  fehlt  es  an  Zeitungsmate- 
rial,  Reportern,  Korrespondenzen  und  Telegrammen,  mit 
einem  Worte  am  ganzen  Nachrichtendienste  der  Zeitungen. 

Abgesehen  von  oft  kleinlichen  Gesichtspunkten  der 
für  das  Zeitungsbudget  maassgebenden  Personen  trägt  der 
geschäftliche  Stand  der  sozialistischen  Organe  hieran  die 
Hauptschuld.  Glänzende  Einnahmequellen  sind  die  sozia- 
listischen Blätter  sehr  selten.  Ihr  Abonnementspreis  ist 
nur  ganz  ausnahmsweise  höher  als  der  des  billigsten  anderen 
Blattes  am  Orte.  Inserirt  wird  in  der  sozialistischen  Presse 
weniger  als  in  den  Organen  der  besitzenden  Klassen.  Ab- 
gesehen von  den  auch  hiebei  mitspielenden  politischen 
Gründen,  versteht  es  sich  ja  von  selbst,  dass  Häuser  und 
Grundstücke,  Parfümerien,  Weine,  Juwelen  etc.  nicht  in 
sozialistischen  Blättern  zum  Kaufe  angeboten  werden.  Die 
grossen  Inserenten,  wie  die  Konfektionsgeschäfte,  meiden 
die  sozialistische  Presse.  Endlich  nehmen  diese  Blätter 
aus  Parteigrundsatz  meist  Inserate  von  Geheimmitteln  und 
dergl  nicht  auf.  Reklameinserate  im  Texte  und  ähnliche 
viel  Geld  einbringende  Einnahmen  besitzt,  und  dies  sei  zu 
ihrem  Lobe  gesagt,  die  sozialistische  Presse  nicht.  So  sind 
bei  einer  zudem  ihren  Aufgaben  meist  nicht  ganz  gewachse- 
nen Verwaltung  die  sozialistischen  Blätter  auf  geringere  Ein- 
nahmen angewiesen  als  die  ihrer  Gegner.  Da  aber  aus 
politischer  Konsequenz  das  technische  Personal  der  sozia- 
listischen Presse  (Setzer,  Drucker)  die  höchsten  Löhne  be- 
ziehen, so  muss  an  den  Kosten  der  Redaktion  auf’s  äusserste 
gespart  werden.  Dass  dies  nicht  klug  ist,  braucht  nicht 
besonders  hervorgehoben  zu  werden. 

Würden  die  sozialistischen  Organe  finanziell  besser 
gestellt  sein,  könnten  sie  mehr  Geld  für  die  Redaktion,  für 
Nachrichtendienst,  Ausgestaltung  des  lokalen  Theiles  ver- 
wenden, so  würde  höchst  wahrscheinlich  der  Abonnenten- 
stand der  Blätter  gewaltig  steigen  und  die  sozialistische 
Presse  zu  einer  viel  grösseren  Macht,  zu  viel  bedeutenderem 
Einfluss  gelangen,  als  sie  ihn  jetzt  besitzt. 

Ob  es  aber  nicht  nur  an  den  Mitteln  fehlt,  ob  nicht 
etwa  an  den  geeigneten  Personen  für  die  Redaktion  und 
Verwaltung  ein  vorerst  nicht  zu  behebender  Mangel  vor- 
liegt, können  wir  nicht  beurtheilen. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Neuer  sozialpolitischer  Gesetzentwurf  in  Preussen. 

Zu  den  sozialpolitischen  Vorlagen,  die  gegenwärtig  die 
gesetzgebenden  Körper  des  Reiches  und  der  Einzelstaaten 
beschäftigen,  hat  die  Thronrede,  mit  welcher  der  preussische 
Landtag  am  14  Januar  eröffnet  wurde,  die  Ankündigung 
eines  Gesetzentwurfs  hinzugefügt,  der  die  Ausgestaltung 
des  Arbeiterschutzes  der  Bergarbeiter  betrifft.  Die  Novelle 
zur  Reichsgewerbeordnung  vom  1.  Juni  1891  findet  auf  die 
Bergarbeiter  nur  soweit  Anwendung,  als  sie  die  Sicherung 
der  Sonntagsruhe  der  Arbeiter,  sowie  die  Regelung  der 
Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter  und  erwachsener  Ar- 
beiterinnen zum  Gegenstand  hat.  In  allem  Uebrigen  ist 
die  Reform  der  auf  die  Bergarbeiter  bezüglichen  Schutz- 
gesetzgebung den  Einzelstaaten  Vorbehalten  worden,  und 
soll  nunmehr  in  Preussen  in  Angriff  genommen  werden. 
Der  Aufsatz  über  die  Arbeiterschutzgesetzgebung  im  deut- 
schen Bergbau  in  No.  2 des  Sozialpolitischen  Centralblattes 
hat  es  bereits  als  einen  kardinalen  Fehler  bezeichnet,  dass 
der  Weg  der  landesgesetzlichen  statt  der  reichsgesetzlichen 
Regelung  gewählt  worden  ist.  Sobald  der  seit  langem  er- 
wartete Gesetzentwurf  vorliegt,  werden  wir  unte: suchen, 
wie  weit  er  im  Einzelnen  sich  geeignet  zeigt,  innerhalb  des 
Rahmens  der  preussischen  Verhältnisse  eine  gründliche  Re- 
form herbeizuführen. 


34 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3. 


Die  Hypothekenbewegung  im  preussischen  Staate 
während  der  Rechnungsjahre  1886/87  bis  1889/90. 

Bekanntlich  werden  einer  s.  Z.  von  dem  königlichen 
Landesökonomiekollegium  ergangenen  Anregung;  zufo  ge 
alljährlich  bei  den  Amtsgerichten  und  Hypothekenamtern 
Nachweisungen  über  die  Hypothekenbewegung  m den 
städtischen  und  ländlichen  Bezirken  Preussens  gefuhrL  Üie 
Zusammenstellung  derselben  für  die  Rechnungsjahre  1886/87 
bis  1889/90  in  der  „Zeitschritt  des  kgl.  preuss.  Statist. 
Büreaus“  1891  I.  und  II.  Vierteljahrsheft  enthält  eine  Fülle 
von  sehr  interessanten  Daten. 

Das  Verhältniss  der  Eintragungen  zu  den  Löschungen 
überhaupt  und  mit  besonderer  Rücksicht  auf  den  städtischen 
und  ländlichen  Grundbesitz  ergibt  sich  aus  folgenden 
Tabellen: 

a)  für  den  gesammten  Grundbesitz: 


Eintragungen  ! Löschungen  Mehr 

Rechnungs- 

in  Millionen  Mark 

1 der 

ja  hr 

in  städti-!  in  land-  . in  städti- in  land- 

! über-  , i-i 

sehen  liehen  sehen  liehen 

Bezirken  aUP  Bezirken 

' Eintra- 
über-  gungen 
haupt  MiU.Mk, 

Löschungen 

1889/90 

1888/89 

1887/88 

1886/87 

1 

1484,59  651.93  2136.52  670.01  472,80  1142,81  993,70 
1348  40  583,12  1931,52  624,41  462,10  1086,51  845,01 
1128,05  567,62  1695,67  561,27  479,59  1040,86  654,81 
1004  81  624.16  1628.96  570,52  491,00  1061,52  567.44 

58,8 

62.75 
67,15 

67.75 

b)  für  den  ländlichen  Grundbesitz: 


Rechnungsjahr 

Eintragungen  | 

Löschungen  j 

1 

Mehrbetrag 

der 

Eintragungen 

Prozentualsatz 

der 

Löschungen 

in 

Millionen  Mark 

1889/90  . 
1888/89  . 
1887/88  . 
1886/87  . 

651,93 

583.12 

567.62 

624,16 

472,80 

462,10 

479,59 

491.00 

179,13 

121,02 

88,03 

133,16 

72.5 
79,2 

84.5 
78,7 

c) 

für  den  städtischen  Grundbesitz: 

1889/90  . 
1888/89  . 
1887/88  . 
1886/87  . 

i 

1484,59 

1348.40 

1128.05 

1004,81 

670.01 
624,41 
561 .27 
570,52 

814,58 

723,99 

566,78 

434.29 

45,1 

46,3 

49.8 

56.8 

Eintragungen  und  Löschungen.  Die  ersteren  betrugen  füi 
städtische  Bezirke  2 367  787  Mk.,  für  ländliche  3 495  827  Mk., 
zusammen  5 863  614  Mk.;  die  Löschungen  resp.  39  089  951  Mk. 
und  36  079  877  Mk.,  zusammen  75  169  828  Mk.  Es  ergibt 
sich  demnach  ein  Ueberschuss  der  durch  Zwangsversteige- 
rung erfolgten  Löschungen  über  die  Eintragungen  zu 
69  306  214  Mk.  Ein  nicht  unbedeutender  Theil  der  „Ent- 
lastung“ des  Grundbesitzes  geht  also  im  Zwangsversteige- 
rungsverfahren vor  sich.  „Namentlich  in  den  östlichen 
Provinzen  sind  die  Kreise  zahlreich,  in  denen  der  ländliche 
Grundbesitz  zum  grossen,  mitunter  gar  überwiegenden 
Theile  nicht  durch  wirthschaftliche  oder  familienrechtliche 
Erwerbungen  seiner  Eigenthümer,  sondern  im  Wege  er- 
zwungener Ersetzung  derselben  durch  neue,  besser  gestellte 
Besitzer  von  seinen  Schulden  befreit  wird.“ 

Hervorzuheben  ist  die  grosse  Uebereinstimmung,  mit 
welcher  in  den  Begleitberichten  der  Erhebungsbehörden 
die  Zunahme  der  Belastung  auf  die  Eintragung  von  Erb- 
theilen  und  Kaufgelderresten  zurückgeführt,  und  die  Selten- 
heit der  Fälle,  in  denen  umgekehrt  von  Löschungen  in 
Folge  Erbschaft  oder  reicher  Heirath  oder  von  Seiten  eines 
wohlhabenden  Käufers  berichtet  wird. 

ln  Anlehnung  an  die  eben  skizzirten  Ergebnisse 
plaidirt  Geh.  Ober-Regierungsrath  Dr.  H.  Thiel  (Deutsche 
Landwirthschaftliche  Presse  vom  28.  November  1891) 
für  eine  Aenderung  der  bestehenden  Gesetze  über  die 
Erwerbs-,  Veräusserungs-  und  Verschuldungsfreiheit  und  das 
Erbrecht,  da  dies  unterlassen,  nur  die  Geschäfte  der  agrar- 
revolutionären Parteien  besorgen  hiesse.  Doch  anerkennt 
auch  er,  dass  vorerst  noch  eine  Vervollständigung  unserer 
Hypothekenstatistik  in  der  Richtung  nothwendig  ist,  dass 
eine  genaue  Uebersicht  der  gesammten,  wirklich  zu  Recht 
bestehenden  Schuld  Verhältnisse  und  der  aus  denselben  ent- 
springenden Zinsenlast  sowie  des  Einflusses  einei  längeren 
Reihe  von  guten  und  schlechten  Preisjahren  auf  die  Ein- 
tragungen und  Löschungen  ermöglicht  würde. 

Wien.  Carl  Grünberg. 


Die  voranstehenden  Ziffern  zeigen  eine  stetige  Zunahme 
der  Eintragungen  und  eine  ebenso  stetige  Abnahme  des 
Prozentualsatzes  der  denselben  gegenüberstehenden 
Löschuno-en  für  den  gesammten  sowohl,  als  auch  für  den 
städtischen  und  ländlichen  Grundbesitz  insbesondere.  Sie 
ermöo-lichen  freilich  keine  sicheren  Schlüsse  aut  den  wahren 
Stanc?  der  Bodenverschuldung.  Eine  verhältnissmässige  Zu- 
nahme der  letzteren  lässt  sich  mit  Berufung  auf  das  ange- 
führte Ziffernmaterial  allein  schon  deshalb  nicht  behaupten, 
weil  zweifellos  der  Grund  und  Boden  in  den  letzten  Jahren 
eine  bedeutende  Wertherhöhung  erfahren  hat  und  dadurch 
einer  stärkeren  Belastung  fähig  geworden  ist.  Anderer- 
seits ist  ein  sicherer  Schluss  auf  die  ziffermässige  Höhe 
dieser  Bodenwerthsteigerung  unmöglich.  Auch  dürfte  eine 
solche  grösstentheils  wohl  auch  nur  für  die  — namentlich 
o-rossen  — Städte,  und  nur  in  geringerem  Masse  für  die 
fändlichen  Bezirke  in  Anschlag  gebracht  werden  können. 
Zu  dem  angeführten  Momente  tritt  die  bekannte  Thatsache, 
dass  die  grundbücherliche  Löschung  von  Hypotheken- 
schulden  mit  deren  Abzahlung  nicht  immer  Hand  m Hand 
o-eht.  Auch  dürfte  ein  nicht  unbedeutender  Theil  der 
grundbücherlichen  Eintragungen  nicht  auf  einer  Aufnahme 
neuer  Schulden  des  Besitzers,  sondern  blos  auf  einer  Um- 
wandlung bereits  bestehender  Personal-  in  Hypotheken- 
schulden beruhen.  ,. 

Immerhin  aber  wird  man  wohl  sagen  dürfen,  dass  die 
Bodenverschuldung  stetig  fortschreitet  und  dass  die  Grund- 
besitzet  immer  mehr  aufhören  auch  die  Grrundeigenthümer 
zu  sein;  ein  Prozess,  der  freilich  so  sehr  mit  unserer  Wirth- 
schaftsordnung  zusammenhängt,  dass  er  sich  kaum  wird 
auf  halten  lassen.  „„„  „ . „ 

Die  Nachweisungen  über  das  Jahr  1889/90  enthalten 
auch  die  in  Folge  von  Zwangsversteigerungen  erfolgten 


Agrarische  Bewegungen  in  der  Schweiz. 

Die  wenig  rosige  Lage,  in  welcher  die  Landwirth- 
schaft  in  Folge  der  Zoll-  und  Konkurrenzverhältnisse  und 
der  andauernden  Missernten  in  einzelnen  Zweigen,  so 
namentlich  im  Weinbau,  sich  befindet,  hat  die  Bauern  der 
Schweiz  etwas  aufgerüttelt.  Viel  von  sich  reden  machte 
einige  Zeit  die  Agitation  eines  zum  Landwirth  umge- 
wandelten  Schriftsetzers,  welcher  unter  dem  Titel  „Die 
Bauernsklaverei  der  Neuzeit  oder  die  Bauern  im  Kampfe 
mit  den  Federhelden“  eine  Flugschrift  m Tausenden 
von  Exemplaren  ins  Volk  warf  und  im  Kanton  Zürich 
denn  auch  bald  die  Gründung  eines  grossen  Bauernbundes 
zu  Stande  brachte.  „Die  Bauern“,  so  erklärte  er,  „erwerben 
erst  dann  die  grösste  Macht  und  die  ihnen  gebührende 
Achtung  im  Staate,  wenn  sie  sich  nicht  mehr  durch  das 
Federheldenthum  bevormunden  lassen,  sondern  selbständig 
und  vereint  Zusammenhalten.  Wenn  die  ländlichen  Güter 
der  geo-ebenen  Natur-  und  Staatsverhältnisse  wegen,  bei 
18 ständiger  täglicher  Arbeit  von  Mann  und  Frau  nicht 
rentiren  können,  so  sind  die  Bauern  berechtigt,  deren  Be- 
Steuerung  zu  verweigern.  Die  riesenhafte  Mehrarbeit  der 
Bauern  und  der  Bäuerin  ist  die  grösste  Steuer,  welche  der 
menschlichen  Gesellschaft  geleistet  wird;  dafür  dürfen  sie 
Entlastung  verlangen“.  — Mit  dergleichen  Schlagwörtern 
o-elang  es,  die  Landwirthe  für  den  neuen  Bund  zu  begeistern, 
und  schon  träumte  der  Stifter  von  einer  grossartigen  Ei- 
hebung  in  der  ganzen  Schweiz.  Doch  die  Ernüchterung 
trat  sehr  rasch  ein.  Faktisch  ist  der  Bauernbund  nicht  weit 
über  die  Grenzen  des  Kantons  Zürich  hinausgekommen 
und  auch  dort  konnte  man  seinen  Bestand  nur  retten,  indem 
man  den  ursprünglichen  Führer  zur  Demission  zwang.  s 
zeigte  sich  je  länger  je  mehr,  dass  der  Letztere  auch  nicht 
die  leiseste  Ahnung  von  den  einfachsten  Grundregeln  der  \ olks- 
wirthschaft  besass,  vielmehr  nur  als  Strohmann  von  Anderen 
benützt  wurde,  um  die  landwirthschaftliche  Bevölkerung  für 
reaktionäre  Zwecke  zu  benützen.  Der  ganze  Rummel  ent- 
puppte sich  als  ein  ganz  gewöhnliches  Spekulationsgeschäft. 
Kein  Wunder,  dass  die  Landwirthe  in  anderen  Kantonen 
es  ablehnten,  dem  Bunde  sich  anzuschliessen.  In  mehreren 
o-rossen  Versammlungen  haben  sie  sich  übereinstimmen 
3ahin  ausgesprochen,  dass  zwar  etwas  gethan  werden 


No.  3. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


35 


müsse,  und  die  Landwirtschaft  allerdings  den  neuen  Ver- 
hältnissen gegenüber  sich  auch  besser  organisiren  solle,  als 
es  in  den  zahlreichen  landwirtschaftlichen  Vereinen  der 
Fall  sei,  aber  das  könne  geschehen  auf  Basis  der  bisherigen 
Vereinigung,  ohne  Ausschliesslichkeit  und  ohne  Hinein- 
tragen politischer  Differenzen. 

Als  Fragen,  die  in  den  Vordergrund  der  Diskussion 
gestellt  werden,  sind  anzuführen:  Versicherung,  Hypo- 

thekarkredit, Besteuerung  von  Grund  und  Boden.  Man 
fordert  obligatorische  Mobiliar-,  Hagel-,  Frost-  und  Vieh- 
versicherung. Da  das  Obligatorium  die  staatliche  Ver- 
sicherung bedingt,  so  liegt  bei  der  Kleinheit  der  Kantons- 
gebiete die  Möglichkeit  einer  rationellen  Durchführung  nur 
auf  eidgenössischem  Boden.  Am  leichtesten  liesse  sich  noch 
die  Vieh  Versicherung  kantonal  durchführen,  da  hier,  wie 
bei  den  Krankenkassen,  wegen  scharfer  Kontrolle  die  orts- 
weise Organisation  nothwendig  ist.  Der  Staatsrath  von 
Neuenburg  hat  für  den  dortigen  Kanton  bereits  ein  bezüg- 
liches Projekt  ausgearbeitet,  Auch  die  zürcherische  land- 
wirtschaftliche Gesellschaft  hat  sich  für  obligatorische 
Viehversicherung  ausgesprochen.  Gegenwärtig  bestehen 
in  der  Schweiz  einige  hundert  Vieh  Versicherungskassen; 
allein  es  fehlt  ein  Centralverband  für  Rückversicherung. 
Zur  Bekämpfung  des  Viehwuchers  wird  die  Gründung  von 
Viehleihkassen  gefordert,  welche  bis  jetzt  bloss  im  Kanton 
Thurgau  in  grösserer,  in  Zürich  in  kleinerer  Zahl  bestehen. 
In  Aargau  hat  vor  Kurzem  der  grosse  Rath  eine  bezügliche 
Motion  erheblich  erklärt,  ebenso  hat  man  in  St.  Gallen  vor- 
bereitende Schritte  gethan. 

In  Betreff  des  Hypothekarkredits  verlangt  man  vom 
Gesetzgeber  Einschränkung  des  zu  Spekulationszwecken 
betriebenen  Güterhandels,  der  Kündbarkeit  der  Hypothekar- 
forderungen, bessere  Verwendung  des  Staatskredits  und 
der  staatlichen  Geldinstitute  zur  Erleichterung  der  Zins- 
pflicht. Der  im  Obligationenrecht  zu  Gunsten  des  Pächters 
ausgesprochene  Grundsatz  der  Erleichterung  bei  Missernten 
soll  auch  auf  das  zwischen  Hypothekargläubiger  und 
Schuldner  bestehende  Zinsverhältniss  zur  Anwendung 
kommen. 

Für  die  Besteuerung  der  Grundstücke  verlangt  man, 
dass  statt  des  Verkehrswerthes  der  Ertragswerth  zu  Grunde 
gelegt  werde,  ferner  Abschaffung  der  Vermögenssteuer  und 
Ersetzung  derselben  durch  eine  reine  Einkommensteuer. 
Gegen  diese  Forderungen  wird  man  theoretisch  wenig  ein- 
wenden können.  Praktisch  macht  sich  aber  die  Sache 
mangels  eines  geschulten  Beamten-Organismus  sehr  schwierig, 
um  so  mehr,  da  eine  genaue  Vermessung  des  Bodens  fast 
noch  überall  fehlt.  Wir  werden  nur  nach  und  nach  das 
Ziel  erreichen.  Aehnlich  steht  es  mit  der  Forderung  der 
grösseren  Entlastung  der  Gemeinde  durch  den  Staat.  Weder 
Kantone  noch  Bund  haben  überflüssige  Gelder,  es  müssten 
ihnen  zu  diesem  Zwecke  neue  Einnahmequellen  eröffnet 
werden,  was  nur  durch  Schaffung  neuer  indirekter  Steuer- 
Monopole  geschehen  könnte,  und  gerade  hier  müsste  man 
vorsichtig  vorgehen,  damit  man  nicht  vom  Regen  in  die 
Traufe  gelangt.  Bestreiten  lässt  sich  freilich  nicht,  dass 
der  Ruf  nach  Erleichterung  der  Besteuerung  der  Landwirt- 
schaft begründet  ist  einerseits  durch  den  Rückgang  im 
Preise  des  Grund  und  Bodens  und  andererseits  durch  die 
sich  mehrenden  Lasten  im  Strassen-,  Armen-  und  Schul- 
wesen Der  Staat  wird  einen  Theil  übernehmen  müssen. 
Neue  Einnahmen  wird  er  auf  kantonalem  Boden  suchen 
müssen,  in  einer  erhöhten  Erbschaftssteuer,  Besteuerung 
der  Wechselgeschäfte,  der  Aktiengesellschaften,  auf  eidg. 
Boden  im  Tabaksmonopol,  welches  übrigens  bereits  als 
Finanzquelle  für  die  staatliche  Kranken-,  Unfall-,  Alters- 
und Invaliditätsversicherung  in  Aussicht  genommen  ist. 

Weitere  Forderungen  sind  Erhöhung  des  Existenz- 
minimums für  den  Steuerabzug  auf  800 — 1000  Fr.,  ferner 
Einführung  der  allgemeinen  Inventarisation  im  Todesfall. 
Soll  die  letztere  den  gewünschten  Erfolg  haben,  wird  aber 
wohl  auch  noch  die  eidliche  Einvernahme  der  Erben  be- 
züglich allfälliger  Schenkungen  vor  dem  Tode  erfolgen 
müssen,  denn  ohne  diese  verhindert,  wie  die  Erfahrung 
vielfach  zeigt,  die  allgemeine  Inventarisation  die  Steuer- 
verheimlichungen nicht  im  gehofften  Masse. 

Aarau.  E.  Naef. 


Zur  Frage  der  Börsenreform  ist  von  Reichswegen  an  die- 
jenigen Bundesstaaten,  in  deren  Bezirk  sich  Börsen  befinden, 
ein  Umschreiben  gerichtet  worden,  durch  welches  sie,  dem 
„Reichs-Anzeiger“  zufolge,  eingeladen  werden,  nach  Berlin  Ver- 
treter zu  entsenden,  um  liier  die  Grundzüge  für  eine  Prüfung 
der  Frage  der  Börsenreform  festzustellen. 


. Arbeiterzustände. 

Arbeiterverhältnisse  im  bayerischen  Bergbau.  Im  An- 
schluss an  die  Darlegungen  über  die  Arbeiterzustände  im 
preussischen  und  sächsischen  Bergbau,  wie  sie  L.  Verkauf 
bei  Besprechung  der  deutschen  Bergwerksgesetzgebung  in 
No.  2 dieser  Zeitschrift  streifte,  sollen  im  Nachfolgenden 
einige  Daten  über  die  Arbeiter  des  bayerischen  Bergbaues 
gegeben  werden:  Die  seit  1883  als  Anhang  der  Fabrik- 
inspektorenberichte erscheinenden  Mittheilungen  der  Berg- 
behörden bieten  eine  fortlaufende  Statistik,  die  einzige 
permanente  Arbeiterstatistik  Bayerns.  Von  391153  deut- 
schen Bergleuten  des  Jahres  1890  entfallen  auf  Bayern 
6449,  also  ein  sehr  geringer  Theil;  immerhin  machen  be- 
sondere Verhältnisse  die  Entwickelung  des  bayerischen 
Bergbaues  sehr  interessant.  Unter  den  im  Jahre  1890 
gezählten  335  Anlagen  bilden  nämlich  die  Kleinbetriebe, 
und  zwar  die  Steinbrüche  und  Gräbereien,  die  Hauptzahl; 
Anlagen,  die  jugendliche  Arbeiter  beschäftigten,  gab  es 
nur  22.  Ungefähr  in  derselben  Weise  beschränkt  war 
der  Motorenbetrieb.  Und  diese  Entwickelung  ist  deshalb 
so  anziehend,  weil  sie  sich  ganz  regelmässig  im  Sinne  der 
Vermehrung  des  Kleinbetriebes  ohne  Motoren  seit  1883 
vollzogen  hat,  sodass  fast  ausschliesslich  auf  Rechnung  der 
letzteren  die  Vermehrung  der  Betriebe  überhaupt  von 
274  i.  J 1883  auf  335  i.  J.  1890  zu  setzen  ist,  während  die 
Zahl  der  Anlagen  mit  Motoren  im  gleichen  Zeitraum  nur 
von  30  auf  32,  und  diejenigen  der  Anlagen  mit  jugendlichen 
Arbeitern  nur  von  15  bezw.  18  i.  J.  1884  auf  22  wuchs. 
Innerhalb  der  somit  eng  begrenzten  Anzahl  industriell  be- 
triebener Bergwerksanlagen,  als  welche  namentlich  die 
oberbayerischen  und  pfälzer  Steinkohlengruben  in  Betracht 
kommen,  vollzog  sich  freilich  die  Anwendung  schutzbedürf- 
tiger Arbeitskräfte  im  Wesentlichen  ganz  in  derselben 
Weise,  wie  anderswo.  Während  1883  auf  4590  Arbeiter 
überhaupt  erst  1 70  weibliche  Arbeiter  (144  erwachsene  und 
26  jugendliche  von  14 — 16  Jahren)  beschäftigt  wurden, 
kamen  i.  J.  1890  auf  6449  Arbeiter  überhaupt  schon  263 
weibliche  (222  erwachsene  und  41  jugendliche).  Die  Zahl 
der  jugendlichen  weiblichen  Arbeiter  verdoppelte  sich  also 
geradezu,  während  sich  die  Zahl  der  erwachsenen  männ- 
lichen noch  nicht  ganz  um  die  Hälfte  vermehrte  (von  4420  auf 
6206),  und  auch  die  Steigerung  in  der  Zahl  erwachsener  weib- 
licher Arbeiter  war  etwas  grösser  als  diejenige  der  männlichen 
erwachsenen.  Hinter  diesen  allgemeinen  Daten  verbirgt 
sich  aber  noch  eine  weit  schlimmere  Entwicklung  in  ein- 
zelnen Bergbaubezirken.  Während  der  Bezirk  Zweibrücken 
trotz  seines  Steinkohlenbergbaus  weibliche  Arbeit  gar  nicht 
kennt  und  damit  beweist,  dass  man  recht  gut  ohne  sie  aus- 
kommen  kann,  wurden  im  Bezirk  Bayreuth  statt  10  er- 
wachsener weiblicher  Arbeiter  i.  J.  1883  bereits  54  i.  J. 
1890  beschäftigt;  mässiger  wuchs  die  Zahl  im  Bezirk 
München,  nämlich  von  134  auf  168.  Die  Anwendung 
der  Mädchenarbeit  endlich  konzentrirt  sich  ausschliesslich 
auf  den  Bezirk  München,  wo  die  Ziffer  der  weib- 
lichen Arbeiter  von  26  auf  41  im  gleichen  Zeitraum 
wuchs.  Die  Ungleichmässigkeit  dieser  Entwicklung  zeigt 
wohl,  dass  es  sich  hier  um  Erscheinungen  handelt,  die  mehr 
auf  der  Willkür  des  Unternehmers,  als  auf  wirklichen  Be- 
triebsbedürfnissen beruhen  und  sich  gesetzlich  leicht  im 
Sinne  der  Ausführungen  L.  Verkaufs  ausmerzen  lassen. 
Die  Zahl  der  männlichen  Arbeiter  von  14 — 16  Jahren  nahm 
im  Zweibrücken  von  1883  auf  1890  von  52  aut  44  ab,  im 
Bezirk  München  aber  von  40  auf  77,  und  im  Bezirk  Bayreuth 
vollends  von  18  auf  42  zu.  Eine  erfreuliche  Thatsache  ist 
daneben,  dass  die  Beschäftigung  kindlicher  Arbeiter  von 
12 — 14  Jahren  im  bayerischen  Bergbau  fast  gleich  Null  ist. 
Kindliche  Arbeiter  tauchen  zum  ersten  Mal  im  Jahre  1889 
auf,  und  zwar  einer  im  Bezirk  Bayreuth,  fünf  im  Bezirk 
Zweibrücken,  und  sämmtliche  sind  Knaben.  Im  Jahre  1890 
wurde  nur  noch  je  ein  Knabe  in  jedem  dieser  beiden  Be- 
zirke beschäftigt,  wonach  wohl  zu  hoffen  steht,  dass  die 
kindliche  Arbeit  wieder  ganz  aus  dem  bayerischen  Bergbau 
verschwindet.  In  der  Art  der  Beschäftigung  jugendlicher 


36 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3. 


Arbeiter  ist  auch  in  Bayern  noch  sehr  viel  zu  bessern.  Die 
oberbayerischen  Steinkohlengruben  beschäftigten  sie  nach 
dem  Bericht  von  1883  unter  Tage  zum  Fördern  und  Ven- 
tilatortreiben und  die  Bergbehörde  bekennt  ganz  often,  dass 
die  gesetzlichen  Pausen  liir  diese  Jungen  nicht  beobachtet 
werden;  das  würde  ihren  Ausschluss  von  der  Arbeit  zur 
Folge  haben  und  das  müsste  „hinsichtlich  der  Heranbildung“ 
und  „im  Interesse  der  Bergarbeiter  selbst“  „lebhaft  beklagt“ 
werden ! 1886  heisst  es  zwar  plötzlich  ohne  jede  Erläuterung 
des  Widerspruchs,  dass  die  jugendlichen  Arbeiter  „nur  über 
Tao-e“  beschäftigt  würden;  aber  schon  1887  und  1888  taucht 
wieder  „einer“  auf,  der  unter  Tage  beschäftigt  ist,  und 
nachdem  der  Bericht  von  1889  wieder  „sämmthche“  Jungen 
über  Erde  hat  arbeiten  lassen,  schweigt  sich  der  1890  er 
über  die  Sache  vollständig  aus.  Nebenbei  erfährt  man  1889,  ! 
dass  die  Jungen  ganze  12  Stunden  täglich  einschliesslich 
der  Pausen  arbeiten.  Im  Bezirk  Bayreuth  arbeiteten  1883 
in  einem  Steinkohlenwerke  beim  Einfüllen  der  Förderwagen 
unter  „Tage“  13,  1890  dagegen  schon  25  Jungen  von  14—16 
Jahren,  hier  heisst  es  1884  von  diesen  jugendlichen  Arbeitern, 
dass  ihre  Arbeitszeit  nur  8 Stunden  einschliesslich  der  Pausen 
betrage.  Ein  Pendant  zu  der  12stündigen  Arbeit  der  Jungen 
bildet  die  Angabe,  dass  auf  einem  Bergwerk  des  Bezirks 
Zweibrücken  die  Arbeitszeit  der  Jungen  (einschliesslich 
Pausen)  unter  Tage  11  Stunden  betrage;  hier  arbeiten  3 
unter  Tage.  1888  sind  schon  4 daraus  geworden,  während 
behauptet  wird,  die  effektive  Arbeitszeit  beträgt  jetzt  nur 
10  Stunden,  und  1889  ist  die  Zahl  der  unter  Tage  beschäf- 
tigten Jungen  bei  2 Steinkohlengruben  und  7 unterirdischen 
Thongruben  bereits  auf  24  gestiegen,  1890  auf  13  gesunken. 
Der  Bezirk  Zweibrücken  hat  also  hier  die  schlimmsten  Ver- 
hältnisse. Aus  den  dürftigen  Angaben  über  die  Arbeiterinnen 
ist  nur  hervorzuheben,  dass  dieselben  im  Bezirk  Bayreuth 
nicht  bloss  zum  Tragen  von  Kalksteinen,  sondern  nach  dem 
neuesten  Bericht  sogar  zum  Fördern  von  Ilion-  und 
Kapselerde  verwandt  wurden.  Sonst  verdienen  die  theil- 
weise  sehr  langen  Schichten  (bis  zu  12  Stunden)  und  die 
ausgedehnten  Lohnfristen  (monatlich)  beim  bayerischen  Berg- 
bau" Erwähnung.  Für  die  Reform  der  deutschen  Berg- 
werksgesetzgebung liefern  also  auch  die  bayerischen  Berg- 
bauverhältnisse hinreichendes  Material. 

Lolinfristen  der  Bergleute.  Sehr  oft  ist  schon  betont 
worden,  auch  von  amtlichen  Aufsichtsbeamten  in  Deutsch- 
land (vergl.  Baden),  dass  lange  Lohnfristen  für  den  Arbeiter 
und  seinen  beschränkten  Haushalt  sehr  nachtheilig  sind, 
weil  sie  ihn  dem  Borgsystem  und  der  Uebervortheilung 
durch  den  Kleinhandel  in  die  Arme  treiben.  Irotzdem  wird 
seitens  der  deutschen  Bergwerksunternehmungen  an  sehr 
langen  Lohnfristen  festgehalten,  und  die  „Musterarbeits- 
ordnung“ des  Vereins  für  die  bergbaulichen  Interessen  des 
Bezirks  Dortmund,  welche  in  No.  2 dieses  Blattes  besprochen 
wurde,  setzt  ebenfalls  Lohnfristen  von  P/2  Monaten  (nicht 
„Wochen“,  wie  in  unserem  ersten  Artikel  infolge  eines 
Druckfehlers  zu  lesen  war)  fest.  Es  bleibt  abzuwarten,  ob 
die  bevorstehende  Novelle  zum  preussischen  Berggesetz 
hier  Wandel  schafft.  Zur  Erklärung  dafür,  dass  jener  Miss- 
brauch auch  wieder  in  die  rheinisch-westfälische  „Muster- 
arbeitsordnung“ übergehen  konnte,  mag  die  I hatsache  mit 
dienen,  dass  die  preussische  Bergarbeiterenquete  vom  Jahre 
1889  auch  über  diesen  Punkt  wie  über  so  viele  andere  mit 
Stillschweigen  hinwegging.  Wenigstens  ist  uns  aus  dem 
amtlich  veröffentlichten  Schlussberidit  über  die  Erhebung 
eine  einzige  Stelle  (S.  9)  bekannt,  welche  vom  Ruhr- 
reviere sagt:  „Auch  finden  sich  Angaben  darülrer  vor,  dass 
eine  gewisse  Unregelmässigkeit  hinsichtlich  der  Löh- 
nungen bestehe,  insbesondere  nicht  ein  für  allemal  be- 
stimmte Lohntage  festgesetzt  seien.“  Das  ist  aber  Alles. 
Demgegenüber  mag  hevorgehoben  sein,  dass  ältere  Berg- 
ordnungen weit  arbeiterfreundlichere  Vorschriften  enthielten. 
So  heisst  es  im  XII.  Artikel  des  11.  Abschnitts  der  Chur- 
trierischen  Bergordnung  vom  22.  Juli  1564,  dass  „der  Schicht- 
meister alle  Sambstag  im  beysein  des  Steigers  alle  arbeiter 
und  handwerksleuthen  lohnen  sol“.  Eine  Erneuerung  dieser 
300  jährigen  Vorschrift  würde  sicher  gerade  jetzt  ganz 
praktisch  sein. 

Kommission  für  Arbeitsstatistik. I11  ^allgemein  über- 
raschender Weise  kündigte  anlässlich  der  am  13.  d.  M.  statt- 
o-ehabten  Debatte  über  den  Etat  des  Reichsamts  des  Innern 
cler  Minister  von  Bötticher  die  Bildung  einer  Kommission  für 
Arbeitsstatistik  an.  Er  knüpfte  dabei  an  die  von  den  deut- 
schen Gewerkschaften  unternommene.  Lohnstatistik  an  und 
meinte,  in  befriedigender  Weise  lasse  sich  eine  solche  nur  durch 
jene  in  Aussicht  gefasste  Organisation  erlangen.  Leber  die  letz- 


tere sprach  er  sich  dann  folgendermassen  aus:  „ . . . die  Mitglieder 
sollen  zu  einem  Theil  vom  Bundesrath,  zum  anderen  vom  Reichs- 
tag gewählt  werden.  Diese  Kommission,  welcher  neben  dem 
einen  oder  anderen  Statistiker  Männer  angehören  werden,  die 
im  gewerblichen  Leben  stehen,  wird  die  Verwaltung  mit  sach- 
verständigem Urtheil  darüber  berathen  können,  in  welcher  Weise 
man  die  zur  Klärung  der  Arbeiterverhältnisse  notwendigen 
Aufnahmen  einzurichten  hat.  Die  nächste  Aufgabe  dieser  Kom- 
mission, die,  wie  ich  annehme,  in  nicht  zu  ferner  Zeit,  wahr- 
scheinlich noch  während  der  diesjährigen  Tagung  des  Reichs- 
tags, in  Thätigkeit  treten  wird,  haben  wir  bereits  entworfen, 
uikI  dabei  namentlich  ins  Auge  gefasst,  über  die  Arbeitsdauer 
in  gewissen  Gewerben  — ich  erinnere  nur  an  das  Müller-, 
Bäcker-  und  Verkehrsgewerbe  — Klarheit  zu  schaffen.  Ausser- 
dem ist  für  die  Thätigkeit  dieser  Kommission  ein  Feld 
dadurch  eröffnet,  dass  sie  zum  Zwecke  der  Ausdehnung 
der  Arbeiterschutzgesetzgebung  auf  das  Handwerk  und  die 
Hausindustrie  die  nöthigen  Vorbereitungen  treffen  soll.“ 

Im  allgemeinen  kann  diese  Ankündigung  nur  mit  Freude  be- 
griisst  werden.  Die  soziale  Statistik  ist  in  Deutschland  von 
Seite  der  Regierungen  dermassen  vernachlässigt  worden,  dass, 
was  auch  immer  auf  diesem  Gebiete  nun  geschehen  soll, 
einen  erheblichen  Gewinn  unseres  offiziellen  sozialstatistischen 
Besitzstandes  darstellen  wird.  Freilich,  inwiefern  die  „Kom- 
mission“ an  einem  etwas  strengeren  Massstab  gemessen  sich  für 
die  Arbeitsstatistik  und  die  Fortbildung  der  sozialen  Gesetz- 
o-ebung  fruchtbar  erweisen  wird,  lässt  sich  nach  den  dürftigen 
Bemerkungen  des  Ministers  vorerst  nicht  beurtheilen.  Hier 
wird  Alles  von  der  richtigen  Wahl  ihrer  Mitglieder  und  der 
Machtvollkommenheit  abhängen,  die  der  Kommission  zuge- 
standen werden  wird.  Da  sie  bereits  demnächst  ins  Leben 
treten  soll,  werden  die  Fragen  nicht  lange  unbeantwortet  bleiben. 

Zur  Beurtlieilung  der  Statistik  der  deutschen  Ge- 
werkschaften. In  der  Sitzung  des  Reichstags  vom  13.  d.  M. 
hat  der  Minister  v.  Boetticher  die  Nützlichkeit  der  von  den 
deutschen  Gewerkschaften  ausgeführten  Statistik  anerkannt, 
aber  als  einen  Mangel  derselben  bezeichnet,  dass  sie  ein 
erschöpfendes  Bild  nicht  biete.  Die  I hatsache  ist  als  solche 
ohne  Zweifel  richtig,  allein  es  scheint  uns  dieser  Umstand 
nicht,  wie  Herr  v Boetticher  meint,  in  der  Natur  der 
gewerkschaftlichen  Statistik,  sondern  vielmehr  in  den  ungün- 
stigen Verhältnissen  begründet  zu  sein,  in  welchen  gegen-  ; 
wärtig  jene  statistischen  Untersuchungen  vorgenommen 
werden.  Nach  dieser  Seite  liesse  sich  gewiss  durch  ein  plan- 
mässiges  methodisches  Verfahren  W andel  schaffen.  Wenn 
sich  die  deutschen  Gewerkschaften  dazu  entschlössen,  ein  cen- 
trales arbeitsstatistisches  Biireau  einzurichten,  das  die  von  den 
einzelnen  Gewerkschaften  heute  isolirt  und  nach  Gutdünken 
unternommenen  Erhebungen  leitete,  und  eine  gleichmässige 
Aufnahme  und  Bearbeitung  erzielte,  liesse  sich  Dank  dem 
unter  den  Mitgliedern  der  Gewerkvereine  vorhandenem  In- 
teresse und  ihrer  ausgesprochenen  Begabung  für  Statistik  j 
ein  noch  viel  werthvolleres  Ergebniss  als  bisher  erzielen.  i 
Die  Gewerkschaften  scheinen  uns  nach  den  Proben  ihres 
Könnens  speziell  dazu  berufen,  eine  systematisch  organisirte 
Arbeitsstatistik  für  das  Deutsche  Reich  zu  schäften,  nach 
welcher  allgemein  aber  insbesondere  unter  den  Arbeitern 
ein  lebhaftes  Verlangen  herrscht,  welches  trotz  aller  An- 
läufe bisher  nicht  befriedigt  worden  ist.  Zu  wünschen  wäre, 
dass  der  nächste  Gewerkschaftskongress  diese  Frage  in  Er- 
wägung ziehe.  So  gross  und  bedeutsam  die  Aufgaben  auch 
sine?,  die  auf  seinem  Programm  bereits  stehen,  so  sollte  er  doch 
nicht  zögern,  dieser  wichtigen  Angelegenheit  gleichfalls  ein 
tatkräftiges  Interesse  zuzuwenden.  Und  gerade  der  Umstand, 
dass  die  Regierung  nun  endlich  sich  anschickt,  auch  ihrer- 
seits die  Arbeitsstatistik  zu  pflegen,  würde  es  nur  um  so 
fruchtbarer  erscheinen  lassen,  wenn  die  Arbeiter  ihre  bisher 
befolo-te,  allzu  primitive  Methode  verbesserten  und  eine  den 
wissenschaftlichen  wie  den  praktischen  Erfordernissen  besser 
entsprechende  Arbeitsstatistik  schüfen.  Aul  diese  w eise 
würden  sich  die  von  den  Arbeitern  ausgeführte  und  die 
amtliche  Arbeitsstatistik  zu  zwei  Instanzen  gestalten,  die  sich 
p-eo-enseitig  kontrollirten  und  in  ihrem  \Vetteifer  die  Bürg- 
schalt  für  eine  unparteiische,  sachkundige  und  gründliche 
Arbeitsstatistik  darböten. 

Peoimgesystem  und  Arbeitslöhne  in  Mexiko.  Die 

Spezialität  der  mexikanischen  Unternehmer,  durch  ein  hoch- 
1 entwickeltes  System  von  Truckläden  und  durch  Vorschüsse 
ihre  Arbeiter  in  Schulden  zu  stürzen,  welche  sie  abzuarbeiten 
gezwungen  sind,  das  sogenannte  Peonagesystem,  sowie  die 
niedrigen  Löhne,  welche  in  den  meisten  Staaten  der  Republik 
vorherrschen,  scheinen  nunmehr  selbst  den  Machthabern 
dieses  Landes  nicht  mehr  vorteilhaft  zu  sein.  Ihr  bestes 
künftiges  Absatzgebiet,  die  Vereinigten  Staaten,  verschhessen 
sich  hartnäckig  den  mexikanischen  Erzeugnissen,  die  Nie- 
1 drigkeit  der  mexikanischen  __Löhne  und  die  Schrecken  dei 


No.  3. 


SOZI  AI  ,P(  )LITISCH  ES  CENTRALBLATT. 


37 


Schuldknechtschaft  werden  von  amerikanischer  Seite  als 
Ursachen  angeführt,  dass  der  Wettbewerb  mit  mexikanischen 
Produkten  auf  dem  heimischen  Markte  erschwert  werden 
müsse.  Diesem  Umstande  verdankt  man  einen  von  Herrn 
Romero,  mexikanischen  Minister  in  den  Vereinigten  Staa- 
ten, verfassten  Aufsatz  über  „Löhne  in  Mexiko“  (North 
American  Review,  Januar  1891,  p.  33— 4-9),  welcher  über  die 
in  diesem  Lande  herrschenden  Lohnverhältnisse  Einzelheiten 
bringt.  Das  Peonagesystem  ist  zwar  durch  Artikel  5 der 
Verfassung  (1857)  nominell  abgeschafft,  welcher  bestimmt, 
„dass  Niemand  zu  persönlichen  Diensten  ohne  wirkliche 
Entschädigung  und  volle  Zustimmung  seinerseits  verhalten 
werden  dürfe,“  und  jeden  Kontrakt  verbietet,  welcher  „den 
Verlust  oder  die  unwiederbringliche  Preisgebung  der  Frei- 
heit eines  Menschen  durch  Arbeit,  Erziehung  oder  Gelöbniss 
zur  Folge  hätte“.  Diese  Einrichtung  herrscht  nichtsdesto- 
weniger thatsächlich  in  den  Küstenstrichen  und  Thälern 
der  gemässigten  und  heissen  Zone,  wo  in  Folge  des  gelben 
Fiebers  und  der  Mosquitoplage  die  Arbeiterbevölkerung 
dünn  gesät  ist  und  höhere  Löhne  (bis  1 Dollar  50  cts.)  erhält, 
weniger  in  den  reicher  bevölkerten  Distrikten  mit  niedrig- 
entlohnten Arbeitern  (12  cts.),  welche  vorwiegend  im  Berg- 
lande sesshaft  sind.  Das  Vorschusswesen  und  die  Schuld- 
hörigkeit grassirt  inbesondere  in  den  fast  unbewohnten 
Gegenden  mit  guten  Holzbeständen , in  1 abasco  und  Cam- 
peachy,  wo  der  Unternehmer  zum  Kaufmanne  und  zur 
Obrigkeit  wird.  Hier  muss  der  Unternehmer,  um  einen 
Arbeiter  zu  erhalten,  dessen  Schulden  im  Betrage  von  100 
bis  500  Dollars  bezahlen.  Ebenso  wirkungslos  waren  die 
Verfassungsbestimmungen , welche  die  Aufhebung  der 
Zwischenzölle  betrafen  und  die  Zahl  der  F eiertage  aut  6 
beschränkten,  da  der  Klerus  an  der  ein  Drittel  des  Jahres 
umfassenden  Feiertagszeit  ein  materielles  Interesse  besitzt. 
Die  mexikanische  Konkurrenz  ist  der  nordamerikanischen 
nicht  gefährlich.  Der  Mangel  an  Maschinen,  sowie  an  Trans- 
portmitteln in  Mexiko  steht  hier  im  Wege.  Der  Transport,  der  1 
durch  Maulthiere  oder  durch  Indianer  besorgt  wird,  ermög- 
licht nur  die  Ausfuhr  von  Edelmetallen  (40  Millionen  Doll.) 
und  Färbstoffen  (20  Mill  Doll.).  Trotz  günstiger  Produktions- 
und Anbauverhältnisse  und  hoher  Einfuhrzölle  werden  da- 
her Baumwolle,  Zucker,  Papier  von  den  Vereinigten  Staaten 
nach  Mexiko  importirt.  Der  Tagelohn  des  mexikanischen 
Arbeiters  ist  ein  Viertel  des  amerikanischen;  zugleich  be- 
tragen die  Grosshandelspreise  in  Mexiko  das  Doppelte  der 
in  New-York  notirten.  In  Verbindung  mit  den  niedrigen 
Löhnen  steht  die  Niedrigkeit  der  Arbeitsleistung;  ein  nord- 
amerikanischer Maurer  lege  in  9 Stunden  2500  Ziegel,  ein 
mexikanischer  in  1 1 Stunden  nur  500  Ziegel.  Ein  ameri- 
kanischer Weber  bedient  8,  ein  englischer  6,  ein  belgischer 
5,  ein  französischer  4,  ein  mexikanischer  nur  2 Stühle.  Als 
Ursache  dieser  geringen  Leistungsfähigkeit  werden  die 
schlechtere  Ernährung  und  Bezahlung,  die  Ausnützung  der 
Arbeiter  bis  zur  Erschöpfung,  die  schlechtere  Erziehung, 
die  Bedürfnisslosigkeit  und  der  geringe  Ansporn  zur  Arbeit 
in  Mexiko  geltend  gemacht.  An  der  Seeküste,  wo  auch  die 
Zahl  der  Pferde  in  Folge  der  tropischen  Hitze  bei  derselben 
Arbeit  wie  in  anderen  Distrikten  vermehrt  werden  muss, 
tritt  der  Einfluss  des  Klimas  hinzu. 

Auf  ein  reformatorisches  Eingreifen  der  Gesetzgebung 
scheint  in  dem  von  Verfassungskämpfen  erfüllten  politischen 
Leben  Mexiko’s  wenig  Hoffnung  zu  sein.  Dagegen  wird 
eine  Lohnstatistik  in  Aussicht  gestellt,  welche  die  bisher 
verfügbaren  Angaben  über  die  Löhne  der  Feldarbeiter  er- 
gänzen soll.  Danach  betrug  der  Höchstlohn  eines  mexika- 
nischen Feldarbeiters  täglich  50  cts  , der  Mindestlohn  23 Vn  cts. 
Greift  man  einzelne  Bezirke  heraus,  so  wurde  der  höchste 
Tagelohn  mit  1 Dollar  in  Sonora,  der  niedrigste  in  Hidalgo 
mit  12'/2  cts.  gezahlt. 

Ernährungsverhältnisse  der  Arbeiterbevölkerung.  Wie 

schon  in  einer  grossen  Anzahl  anderer  Städte  (Wien,  Berlin  etc.), 
so  ist  jetzt  im  industriellen  Aachen  durch  Erhebungen  eines 
kürzlich  unter  dem  Vorsitz  des  Oberbürgermeisters  begründeten 
Hauptausschusses  für  soziale  Wohlfahrtseinrichtungen  festge- 
stellt worden,  dass  in  den  Elementarschulen  ein  grosser  Theil 
der  Kinder,  hier  ungefähr  1500,  eines  Frühstücks  dringend 
bedürftig  sind,  weil  sie  es  zu  Haus  nicht  erhalten.  Es  sollen 
nun  an  diese  Kinder  täglich  je  '/s  1 Vollmilch  und  ein  Brötchen 
vertheilt  werden.  Die  Ausgabe  des  Frühstücks  findet  in 
28  Schulräumen  morgens  um  8 Uhr  statt.  Die  Milch  wird  in 
passenden  Gefässen  vorgewärmt  geliefert  und  an  den  Aus- 
schankstellen warm  gehalten.  Zur  Verabreichung  sind  1500 
Becher  zu  je  '/^  1 Inhalt  und  eine  entsprechende  Anzahl  Schöpf- 
löffel zu  je  Vs  1 Inhalt  beschafft  worden.  Aus  diesen  Ermitt- 
lungen von  behördlicher  Seite  erhellt,  wie  gross  das  Manko  in 


der  Ernährung  der  Arbeiterbevölkerung  der  grössten  und  ange- 
sehensten Industriebezirke  Deutschlands  ist. 


Die  Zunahme  des  Pferdefleisehkonsums  „Die  Hippophagie“ 
macht  besonders  in  Frankreich  grosse  Fortschritte.  Einer  Ab- 
handlung von  Ch.  Morot,  Thierarzt  der  Municipalität  von  I royes 
zufolge  (vgl.  Journal  of  the  Royal  Statistical  society  vol.  54  (1891) 
p 519  fg  ) betrug  die  Zahl  der  Rossschlächter  in  Paris  1874  48,  um 
1889  bis  auf  132  zu  steigen.  Im  Jahre  1887  wurden  verzehrt: 

Pferde  geschlachtete  Pferde 

(Esel,  Maulesel)  auf  1000  Einwohner 


im  Seinedepartement  (Paris 

und  Vororte) 

in  Lyon 

„ Marseille 

„ Tours 

„ Lille 

,,  Roubaix 

„ Calais 


16  446  6 

3 291  9 

2 188  6 
1 329  26 

900  5 

765  8 

249  18 


In  Brüssel  wurden  1883  900  Einhufer  verspeist,  in  Berlin  1884 
137  700  1888:  171  100  kg  Pferdefleisch  verzehrt  (vgl.  Statistisches 
Jahrbuch  der  Stadt  Berlin.  XV.  Jahrg.  Stat.  d.  J.  1888.  Berlin 
'1890.  S.  226). 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Der  deutsche  Buchdruckerausstaml.  Der  Strike  der 
Buchdrucker  hat  nach  mehr  als  zweimonatlicher  Dauer  mit 
einer  Niederlage  der  Gehilfen  geendet.  Am  Sonntag,  den 
10  d M.  hatten  die  Vertreter  der  Gehilfen  von  München, 
Stuttgart,  Berlin,  Leipzig,  Halle  und  Dresden  in  Leipzig 
eine  Konferenz,  um  die  Situation  festzustellen.  Es  wurde 
in  fast  allen  der  genannten  Städte  eine  Verschlechterung 
der  La°e  in  zweifacher  Beziehung  konstatirt:  einerseits  ver- 
mehrtet ich  die  Zahl  der  Fahnenflücht'gen  und  andererseits 
wuchs  der  Zuzug  auswärtiger  Strikebrecher.  Die  Gehilfen- 
Vertreter  versuchten  unter  diesen  Umständen,  eine  noch- 
malige  Unterhandlung  mit  den  Prinzipalen,  diese  führte 
aber  zu  keiner  Verständigung.  Die  neunstündige  Arbeits- 
zeit wurde  seitens  der  Prinzipale  rundweg  abgelehnt,  ebenso 
die  Forderung  einer  9l/2  ständigen  Arbeitszeit  mit  den  ent- 
sprechenden Lokalzuschlägen.  Die  Forderung  der  Prinzipale 
lautete:  Beendigung  des  Strike  und  Festhalten  an  der  Tarif  - 
gemeinschaft.  Letzteres  lehnten  die  Vertreter  der  Gehilfen 
ab  die  Entscheidung  über  die  erste  Forderung  überliessen 
sieden  einzelnen  Städten.  Nach  den  in  den  Versammlungen 
vom  14.  d.  M.  in  Berlin  und  Leipzig  gefassten  Beschlüssen 
ist  nicht  daran  zu  zweifeln,  dass  der  Strike  nunmehr  in 
ganz  Deutschland  als  beendigt  zu  betrachten  ist.  Wir 
kommen  auf  den  Verlauf  desselben  und  seine  Folgen  m 
der  nächsten  Nummer  ausführlicher  zurück. 

Die  Aclitstundenhewegung  in  den  Vereinigten  Staaten 
von  Nordamerika.  Diese  Aufschrift  könnte  der  eben  zur 
Ausgabe  gelangte  Eight  Annual  Report  of  the  Bureau 
of  Statistics  of  Labor  of  the  State  of  New  York 
for  the  Year  1890,  (Albany:  1891,  2 Bde.)  führen.  Sem 
Inhalt  ist  so  reichhaltig,  die  Vielseitigkeit,  mit  welcher  das 
Arbeitsamt,  an  seiner  Spitze  der  Kommissioner  Charles 
J.  Peck,  die  Frage  des  Achtstundentages  erörtert,  eine 
so  ausserordentliche,  dass  hier  nur  auf  einige  wenige,  in 
die  Augen  springende  Ergebnisse  dieser  Erhebungen  hin- 
gewiesen werden  kann.  In  der  Einleitung  wird  aut  _ die 
ständige  Abnahme  von  Gewaltthätigkeiten  bei  den  Strikes 
der  letzten  fünf  Jahre  hingewiesen,  welche  man,  gleich 
so  vielen  Lohnerhöhungen  und  Reduktionen  der  Arbeits- 
zeit, vor  allem  der  steigenden  Organisation  der  Arbeiter- 
schaft zu  verdanken  hat.  Nur  wo  diese  letztere  aber 
die  öffentliche  Meinung  für  sich  gewonnen  habe, 
Hessen  sich  auf  gesetzgeberischem  Wege  die  Arbeitszeit 
im  Allgemeinen  und  Minimallöhne  für  die  staatlichen 
Betriebe  festsetzen.  Auf  100  Seiten  werden  ferner  die 
Forderungen  der  Arbeiter  an  den  Staat  durch  eine  Dar- 
stellung der  Fabrikgesetzgebung  aller  Länder  charakten- 
sirt;  die  Einführung  des  Normalarbeitstages  in  der  Schweiz 
und  in  Oesterreich  wird  ebenso  richtig  geschildert,  wie  das 
Fehlen  einer  Schutzgesetzgebung  in  Belgien,  das  schmählich 
allein  steht  unter  den  zivilisirten  Nationen,  („Stands  dis- 
j gracefully  alone  among  the  civilized  nations“)  heftig  ange- 
griffen wird. 


38 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3. 


Den  Ausgangspunkt  der  Achtstundenbewegung  bilden  ' 
auch  im  Staate  New-York  wie  überall  die  Arbeiter  der 
Baugewerbe.  Man  kann  hier  alle  Wirkungen  der  Verkürzung 
der  Arbeitszeit  beobachten : Verringerung  der  professionellen 
Sterblichkeitsrate  und  der  Trunksucht,  intensivere  Arbeit, 
Einführung  der  Löhnung  per  Stunde  u.  s.  w. 

Zum  Zwecke  einer  Stundenverkürzung  wurden  m den 
Jahren  1885—1889  1508  Strikes  geführt;  davon  waren  52,6  % 
erfolgreich,  28,6%  schlossen  mit  einem  Kompromisse  und 
18,8%  waren  erfolglos.  Dagegen  waren  von  78  Ausständen 
zur  Erlangung  eines  Samstaghalbfeiertages  62  erfolglos. 
Ueber  die^  Halbfeiertagsbewegung,  sowie  über  den  Stand 
des  Early  Closing  Movement  der  Handelsbediensteten  ent- 
hält der  Bericht  werthvolle  Nachweise.  Im  Jahre  1890 
nimmt  die  Achtstundenagitation  vor  allem  durch  die  Propa- 
ganda der  American  Eederation  of  Labor  (Präsident:  Samuel 
&ompers)  erheblich  zu.  Die  Stundenverkürzung  betrifft 
119  Gewerkschaften  mit  31  191  Mitgliedern.  Die  Hälfte  der 
letzteren  hat  eine  einstündige,  der  Rest  eine  mehrstündige 
Reduktion  der  Arbeitszeit  erfahren.  Ganz  vortrefflich  war 
der  Gedanke,  nicht  nur  die  Ansichten  angesehener  Oeko-  | 
nomen  und  Staatsmänner,  sondern  auch  jeden  Gewerkyerein 
um  sozialpolitische  Reformvorschläge  und  um  seine  Meinung 
über  die  Durchführbarkeit  und  die  wahrscheinlichen  Folgen 
des  Achtstundentages  zu  befragen.  Die  verschiedenartigsten 
Wirkungen  werden  da  vorausgesagt:  Steigerung  der  Löhne, 
oder  wenigstens  kein  dauerndes  Sinken  derselben;  Ver- 
schwinden der  Ueberproduktion;  die  ständigere  Verwendung 
einer  grösseren  Arbeiterzahl,  weniger  Arbeitsschaden,  mehr 
Arbeiter  („less  hours,  more  men“),  höhere  Bildung  und  mehr 
Erholung,  besseres  Familienleben,  Erfüllung  der  staats- 
bürgerlichen Pflichten,  Steigerung  der  Leistungsfähigkeit. 
Matrosen  und  Eisenbahnbedienstete  heben  ihre  Verantwort- 
lichkeit im  aufreibenden  Dienste  und  die  Verringerung  von 
Unfällen  durch  Stundenverkürzung  hervor.  Nur  eine  Union 
in  Brooklyn  meint,  die  Maassregel  wäie  „sozialistisch  und 
deshalb  schlecht“.  Mehr  auseinander  gehen  die  Meinungen 
über  die  Frage,  welche  Wirkung  der  Achtstundentag  aut 
die  Einwanderung  ausüben  werde.  „W  ird  er  nicht  den 
neuen  Ankömmlingen  mehr  Arbeit  geben?“  fragen  die 
Einen.  „Leider“,  sagen  die  Anderen,  „die  Einwanderung 
wird  dadurch  gesteigert  werden.“  „Nein“,  sagen  Optimisten, 
„überall  wird  ja  für  den  Achtstundentag  agitirt“.  Manche 
sagen  ehrlich  genug:  „Wir  haben  keine  Idee“. 

Aus  den  Ergebnissen  der  Strikestatistik  des  Jahres  1890, 
welche  den  zweiten  Band  des  Berichtes  füllt,  seien  nur 
folgende  Gesammtergebnisse  hervorgehoben:  in  6258  Eta- 
blissements fanden  Ausstände  statt.  Davon  wurden  5433 
durch  Einigung  mit  Arbeitsorganisationen  beigelegt.  296 
durch  direkte  Verständigung  mit  den  Arbeitern,  5 durch 
Schiedsspruch,  464  wurden  fallen  gelassen.  Unter  den  Ur- 
sachen der  Ausstände  tritt  namentlich  die  Zahl  der  „aus 
Sympathie“  (7321  und  wegen  Verwendung  von  Nicht- 
Gewerkschaften  (243)  ausgebrochenen  Ausstände  hervoi. 
Tn  3764  Fällen  blieben  die  Löhne  unverändert;  in  1902 
wurden  sie  erhöht;  Lohnherabsetzungen  fanden  nur  in  463 
Fällen  statt.  Zur  Verkürzung  der  Arbeitszeit  fanden  4155 
erfolglose  Strikes  statt;  in  16  Fällen  wurde  sogar  die 
Arbeitszeit  verlängert,  in  2087  Fällen  eine  Verkürzung 
durchgesetzt.  Dadurch  fanden  — nur  55  Personen  mehr 
Verwendung! 

Der  Bericht,  welcher  noch  äusserst  werthvolles  Material 
über  Aussperrungen  und  Boycotts  enthält,  kann  daher  nicht 
genug  allen  jenen  empfohlen  werden,  welche  sich  die 
Mühe  nicht  verdriessen  lassen,  in  einer  so  verantwortungs- 
vollen Frage  sich  erst  mit  den  Thatsachen  vertraut  zu 
machen,  aber  auf  Grund  derselben  den  Muth  nüchterner 
Schlussfolgerung  nicht  scheuen. 

Der  Kampf  um  die  Sonntagsruhe  im  Räckergewerbe. 

Bekanntlich  gewährt  der  § 105e  der  Reichs-Gewerbeordnung 
der  höheren  Verwaltungsbehörde  u A.  auch  das  Recht,  für  Ge- 
werbe, die  dem  täglichen  Beclürfniss  der  Bevölkerung  dienen, 
von  der  im  § 105b  allgemein  festgesetzten  Sonntagsruhe 
Ausnahmen  zuzulassen.  Die  bezüglichen  Verordnungen  sind 
noch  nicht  ergangen,  und  nun  benutzen  die  bis  zu  ihrem 
Erlass  verstreichende  Zeit  Unternehmer  und  Arbeiter  der 
fraglichen  Gewerbe,  um  durch  eine  rege  Agitation  die  von 
der  Regierung  zu  treffende  Entscheidung  in  ihrem  Sinne  zu 
beeinflussen.  Insbesondere  ist  der  Kampf  Seitens  der  Bäcker- 
meister und  Bäckergesellen  ein  lebhafter.  Die  Letzteren 
wünschen  im  Gegensatz  zu  den  Ersteren,  dass  die  Bäckereien 
von  der  allgemeinen  Sonntagsruhe  nicht  ausgenommen 


werden  und  für  dieselben  der  § 105  b zur  Geltung  gelange. 
Im  Augenblicke  zirkulirt  unter  den  Bäckergesellen  eine 
Petitioir,  die  für  die  Behörden  bestimmt  ist  und  zum 
Theil  auch  bereits  an  einzelnen  Stellen  eingereicht 
worden  ist,  in  welcher  die  Gründe  für  die  Forderung 
der  Arbeiter  m den  Bäckereien  klar  und  nüchtern  dar- 
gelegt werden. 

Die  Petition  führt  zunächst  aus,  dass  es  sehr  wohl 
möglich  sei,  in  den  letzten  Tagen  der  Woche  Vorsorge  für 
den’  Sonntagsbedarf  zu  treffen,  da  Roggenbrod  am  zweiten 
oder  dritten  Tag  wohlschmeckender  und  gesunder  sei,  als 
in  frisch o-ebackenem  Zustande,  und  das  Weizengebäck  recht 
wohl  airT  Sonnabend  hergestellt  werden  könne,  wenn  nur 
zu  der  besseren  Waare  reine  Milch  und  gute  Butter  ver- 
wendet würden.  , „ ... 

Im  Weiteren  beziehen  sich  die  Bäckergesellen  für  ihr 
Verlangen  auf  die  ausserordentlich  lange  in  diesem  Beruf  herr- 
schende Arbeitszeit.  Es  sei  unwidersprochen  geblieben,  was 
Bebel  in  seiner  Untersuchung  der  Lage  der  Arbeiter  in  den 
Bäckereien  konstatirt,  dass  in  63  Proz.  der  Bäckereien  eine 
tägliche  Arbeitszeit  von  14  Stunden  und  darüber  üblich  sei, 
in  28  Proz.  der  Betriebe  die  Arbeitszeit  sogar  täglich  16  bis 
20  Stunden  und  zwar  Sonntags  wie  Werktags  dauere 
Welchen  Einfluss  diese  Ueberanstrengung,  _ die  bei  den 
Lehrlingen  absolut  und  relativ  noch  ärger  sei,  auf  die  Ge- 
sundheit übe,  das  zeige  beispielsweise  der  Ausweis  der 
örtlichen  Verwaltungsstelle  Berlin  der  Central-Kranken- 
und  Sterbekasse  Deutschlands,  welche  etwas  über  1600  Mit- 
olieder,  meist  jüngere  Leute,  zählt  und  von  der  dennoch  im 
Monat  November  allein  über  100  Mitglieder  Krankenunter- 
stützung bezogen  haben.  Die  Bäckergesellen  weisen  sodann 
auf  die  enorme  Zahl  von  arbeitslosen  Bäckern  hin,  welche 
den  durch  die  Sonntagsruhe  etwa  entstehenden  Ausfall  von 
Arbeitskräften  leicht  zu  decken  im  Stande  wären.  Endlich 
berufen  sie  sich  in  der  Petition  auf  die  Thatsache,  dass  z.  B. 
m Elberfeld,  Barmen  und  anderen  rheinischen  Städten  schon 
seit  fahren  am  Sonntag  nicht  gebacken  werde,  und  damit 
der  praktische  Beweis  geliefert  werde,  dass  die  Bewilligung 
dieses  Verlangens  ohne  Schaden  möglich  sei. 

Die  in  der  Petition  erhobene  Forderung  ist  eine  so 
bescheidene  und  wohlmotivirte,  dass  die  Erfüllung  derselben 
als  eine  dringende  Pflicht  erscheint.  Allein  die  Regierung 
darf  sich  unseres  Erachtens  nicht  damit  begnügen,  sondern 
sie  muss  angesichts  der  überaus  traurigen  Lage  der  Arbeiter 
in  den  Bäckereien  mindestens  von  der  ihr  eingeräumten 
Befmmiss  im  § 120e  der  Gewerbeordnung  Gebrauch  machen, 
um  ein  Maximum  der  täglichen  Arbeitszeit  anzuordnen.  W lr 
möchten  glauben,  dass  gerade  in  diesem  Punkt  die  that- 
sächlichen  Verhältnisse  in  dem  Maass  verlässlich  festgestellt 
sind,  dass  es  zur  vorläufigen  Bestimmung  einer  Maximal- 
arbeitszeit im  Bäckergewerbe  der  vorbereitenden  Lnter- 
suchung  der  geplanten  Kommission  für  Arbeitsstatistik  nicht 
bedarf,  so  wichtig  es  auch  in  allem  Uebrigen  ist,  dass  eine 
amtliche  und  gründliche  Untersuchung  der  Zustände  m den 
Bäckereien  endlich  erfolge. 


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XJeber  Arbeiterausstände  und  ihre  rechtlichen  Folgen 

hat  neuerdings  das  Reichsgericht  in  Leipzig  als  letzte  Instanz 
prinzipiell  in  der  Klagesache  eines  Berliner  kokeslieferanten 
ireo-en  die  Zeche  Dannenbaum  in  Bochum  wegen  Schadenersatz 
entschieden.  Es  führt  in  den  Urtheilsgründen  Folgendes  gegen 
die  Zeche  aus,  die  sich  auf  den  Bergarbeiterstrike  von  1889 
als  rechtsgültigen  Hinderungsgrund  für  die  Lieferung  des  Ivokes 
berufen  hatte:  „Es  . . . kann  nicht  unterstellt  werden,  dass 
Jeder  Ausstand  in  dem  betr.  Kohlenrevier  an  sich  für  das  Vei- 
hältniss  zwischen  dem  Kohlenhändler  und  seinem  Abnehmer 
als  Zufall“  zu  erachten  sei,  vielmehr  darf  einem  Ausstand 
diese  rechtliche  Bedeutung  nur  dann  beigelegt  werden,  wenn 
er  derart  unvorhergesehen  und  mit  solcher  Wirkung  ein  tritt, 
dass  er  etwa  einem  Einsturz  oder  Inbrandgerathen  der  Zeche 
oder  ähnlichen  Ereignissen  gleich  zu  achten  sein  wurde,  ln 
letzterer  Beziehung  kommt  dann  weiter  in  Betracht,  ob  die  im 
einzelnen  Falle  thatsächlich  hervorgetretenen  Folgen  des  Aus- 
stands derart  gewesen  sind,  dass  die  Nichterfüllung  eines  ge- 
schlossenen Vertrages  hierauf  und  nicht  auf  eigene  Nachlässig- 
keit des  Verpflichteten  zurückzuführen  ist.  Demgemäss  ist  im 
vorliegenden  Falle  zu  erörtern,  ob  der  Beklagte  behaupten  und 
darthun  kann,  dass  der  betr.  Ausstand  als  Zufall  in  dem  "vor- 
stehend  dargelegten  Sinne  erachtet  werden  müsse  und  die  Un- 
möglichkeit der  Vertragserfüllung  verursacht  habe.  In  dieser 
Beziehung  könnte  eine  Berufung  auf  die  in  der  I resse  geschii- 
derten  allgemeinen  Ausstandsverhältnisse  im  Jahre  1890  keines- 
falls  o-enügen,  es  würde  vielmehr  allein  der  Nachweis  erheblich 
sein,  dass  der  Ausbruch  des  thatsächlich  stattgehabten  Aus- 
standes auf  der  Zeche  Dannenbaum  und  dessen  thatsächlich 
erfolgte  Einwirkung  auf  das  Vertragsverhältniss  der  Parteien 
für  den  Beklagten  als  unvorhergesehen  und  unabwendbar 


No.  3. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


39 


erachtet  werden  müsste.  Sollte  dem  Beklagten  dieser  von  ihm 
bisher  nicht  versuchte  Nachweis  gelingen,  so  würde  noch  der 
von  der  Klägerin  erhobene  Einwand  zu  prüfen  sein,  dass  der 
Beklagte  die  Sorgfalt  eines  ordentlichen  Kaufmannes  im  Sinne 
des  Handelsgesetzbuches  ausser  Acht  gelassen  habe,  indem  er 
bei  Abschluss  des  Vertrages  unterliess,  die  Möglichkeit,  dass 
während  der  Vertragsdauer  pro  1889  ein  Ausstand  der  gedachten 
Art  störend  in  die  von  ihm  getroffenen  Vorkehrungen  eingreifen 
könne,  mit  in  Berechnung  zu  ziehen  und  auch  für  solchen  Fall 
genügende  Vorkehrungen  zu  treffen.“ 


Kaufmännische  Bewegung. 


Die  sozialpolitische  Reformbewegung  im  deutschen 
Handelsgewerbe. 

Den  eigenthümlichen  Verhältnissen  des  deutschen 
Handelsgewerbes,  die  von  der  sozialen  Lagerung  der  Per- 
sonen und  Dinge  in  anderen,  namentlich  industriellen  Be- 
rufen vielfach  abweichen,  entspricht  auch  die  besondere 
Beschaffenheit  der  sozialen  Bewegung  im  deutschen  Kauf- 
mannsstande. 

Die  kaufmännischen  Verhältnisse  in  Deutschland  be- 
finden sich  mitten  im  gährenden  LTebergange  aus  den 
alten  patriarchalischen  Zuständen,  welche  das  noch  geltende 
Handelsgesetzbuch  vorausgesetzt,  mit  angemessenen  Kün- 
digungsfristen, auskömmlichen  Salären,  mit  Gehilfen,  die 
beim  Prinzipal  wie  in  der  Familie  wohnen  und  speisen, 
und  im  Krankheitsfalle  gepflegt  werden,  kurz  mit  einem 
Personal,  das  vom  Prinzipal  als  wirklicher  Nachwuchs  be= 
trachtet  wird  und  mindestens  zu  einem  grossen  Theil  An- 
wartschaft auf  späteres  Selbständigwerden  hat,  also  in 
einem  Uebergangszustande,  der  aus  diesen  Verhältnissen 
der  früheren  patriarchalischen  Beschränkung  des  Handels- 
gewerbes zu  den  weit  bewegteren  Verhältnissen  eines 
international  erweiterten  Marktes  mit  allen  Rücksichts- 
losigkeiten der  freien  Konkurrenz  auch  in  sozialen  Dingen 
führt.  Weitgehende  Arbeitsteilung  innerhalb  der  Betriebe 
und  rücksichtsloses  Anpassen  an  alle  Konjunkturen  hat  aus 
den  früheren  Gehilfen  und  Lehrlingen,  welche  Kandidaten  der 
Prinzipalschaft  waren,  teilweise  ein  Heer  von  mechanisch 
beschäftigten  Arbeitern  gemacht;  dieselben  werden  oft  aus 
ungebildeten  Schichten  rekrutirt,  und  mit  der  Unfer- 
drückung  der  Individualität  auf  zahlreichen  Posten  geht 
eine  schlechtere  soziale  Stellung  der  Betroffenen  bezüglich 
des  Salärs,  der  Kündigungsfristen,  damit  der  Pflege  in 
Krankheitsfällen  und  in  vielen  anderen  sozialen  Beziehungen 
Hand  in  Hand.  Diese  Verschlechterung  äussert  sich  aber 
wieder  weniger  in  der  Gruppe  der  Komptorarbeiter,  um 
desto  schlimmer  bei  den  Ladengehilfen  hervorzutreten. 
Bei  der  ausserordentlichen  Zersplitterung  des  deutschen 
Handelsgewerbes  — die  Zahl  der  Betriebe  stieg  von  der 
vorletzten  zur  letzten  deutschen  Berufszählung,  also  von 
1875  bis  1882,  von  529  459  auf  616  836  und  die  Zahl  der  in 
ihnen  beschäftigten  Personen  um  25  %,  während  die  ge- 
sammte  Bevölkerung  in  derselben  Frist  nur  um  6%  zu- 
nahm — vollzieht  sich  ausserdem  die  Verschlechterung  der 
sozialen  kaufmännischen  Verhältnisse  in  Stadt  und  Land, 
im  ländlichen  Osten  und  im  industriellen  Westen,  in  den 
bereits  zum  Grossbetrieb  übergegangenen  Handelszentren 
des  Nordens  und  den  noch  in  behäbigeren  Mittelverhält- 
nissen lebenden  Städten  und  Städtchen  Süddeutschlands 
ganz  ungleichartig.  Und  dieser  Verschiedenartigkeit  der 
sozialen  Lage  entspricht  auch  eine  augenfällige  Verschieden- 
heit der  Art  und  Weise,  in  welcher  die  verschiedenen 
Gruppen  der  Betheiligten  an  der  Reformbewegung  theil- 
nehmen. 

In  den  ländlichen  Bezirken  des  Ostens,  auch  in  den 
grösseren  Städten  derselben,  herrscht  noch  die  grösste 
Apathie  gegen  jede  selbständige  Bewegung  und  gegen  jede 
j Diskussion  kaufmännischer  Berufsfragen  überhaupt,  ebenso 
wie  in  den  Landstädtchen  der  übrigen  deutschen  Bezirke, 
m denen  sich  noch  vielfach  altfränkische  Verhältnisse 
zwischen  Prinzipal  und  Gehilfen  erhalten  haben,  der  Zu- 
fluss von  Gehilfen  gering,  die  Aussicht,  selbständig  zu 
werden,  hier  und  da  auch  ohne  Kapitalbesitz  noch  vor- 
handen ist,  und  in  der  Hauptsache  nur  die  zahlreiche  und 
ungenügende  Ausbildung  von  Lehrlingen,  die  aber  theil- 
jweise  in  die  grösseren  Städte  abfliessen,  beklagt  wird. 


Eine  Erhebung  der  Handelskammer  zu  Oppeln  stellte 
kürzlich  fest,  dass  von  ca.  400  Lehrlingen  acht  ober- 
schlesischer Städte  ungefähr  50%  eine  tägliche  Arbeitszeit 
von  15  Stunden  und  darüber  hatten.  Wo  also  in  diesen 
Bezirken  eine  Bewegung  vorhanden  ist,  geht  sie  fast  aus- 
schliesslich von  einsichtigen  Prinzipalen  aus,  welche  sich 
gegen  die  übermässige  Lehrhngszüchterei  wenden, 
für  obligatorische  Lehrlingsschulen  eintreten  und 
höchstens  noch  aus  Anlass  der  revidirten  Gewerbe- 
ordnung die  Regelung  der  Sonntagsruhe  herbeizuführen 
streben.  Einen  grösseren  Antheil  an  der  Reform- 
bewegung nehmen  bereits  die  kaufmännischen  Vereine 
der  Hansestädte  und  einzelne  süddeutsche  Korporationen 
insofern,  als  sie  die  Stellenvermittelung  und  das  Hilfskassen- 
wesen („Verein  für  Handlungs-Kommis  von  1858“  in  Ham- 
burg, „Verband  Kaufmännischer  Vereine  Württembergs“ 
u.  A.),  oder  das  Handels-Schulwesen  (Verein  „Merkur“, 
Nürnberg)  tüchtig  pflegen,  auch  den  zusammenfassenden 
Bestrebungen  des  „Deutschen  Verbandes  Kaufmännischer 
Vereine“  näher  stehen.  Aber  diese  Gruppe  hält  unter  dem 
Eindruck  der  günstigeren  Lage  ihrer  Vereinsangehörigen, 
die  sich  meist  aus  den  höheren  Schichten  der  kaufmänni- 
schen Angestellten  rekrutiren  (Bureaubeamte),  die  Selbst- 
hilfe innerhalb  der  Vereine  noch  für  ausreichend  und  die 
weitergehende  Reformbewegung  für  eine  „künstlich  in  den 
Kaufmannsstand  hineingetragene  Agitation“  (vgl.  Artikel 
des  „Hamburger  Vereinsblattes“).  Die  dritte  Gruppe  wird 
von  der  Mehrzahl  der  Vereine  des  „Deutschen  Verbandes 
Kaufmännischer  Vereine“  (Frankfurt  a.  M.,  Mannheim,  Köln, 
Mainz,  München,  Plauen,  Zwickau  und  viele  andere)  ge- 
bildet und  tritt  für  staatlichen  Versicherungszwang,  staat- 
lichen Arbeitsschutz  und  Schulobligatorium  neben  inten- 
siver Vereinsthätigkeit  auf  dem  Gebiete  der  Stellenvermitte- 
lung, des  Kassenwesens  etc.  ein,  indem  sie  im  Organ  des 
Verbandes,  der  „Kaufmännischen  Presse“,  Frankfurt  a.  M., 
fortlaufend  Belege  dafür  sammelt,  dass  die  Lage  eines 
grossen  Theils  der  Gehilfen  sich  zusehends  verschlechtert, 
und  dass  die  Selbsthilfe  zur  Bekämpfung  der  Mängel  nicht 
ausreicht.  Diese  Gruppe  hat  auf  dem  letzten  Verbandstag 
(Juni  1891)  zu  Braunschweig  die  Mehrheit  der  Stimmen  auf 
ihre  Vorschläge  vereinigt,  die  auf  eine  Gutheissung  der  ge- 
setzlichen Regelung  der  Sonntagsruhe,  der  Krankenversiche- 
rung und  des  Fortbildungswesens  im  Kaufmannsstande,  so- 
wie auf  die  Forderung  einer  gesetzlichen  Maximalarbeits- 
zeit für  Lehrlinge  und  einer  Minimalkündigungsfrist  für 
Gehilfen  gingen.  Theilweise  parallel  den  Bestrebungen 
dieser  Gruppe  gehen  diejenigen  des  „Verbandes  Deutscher 
Handlungsgehilfen“  (Leipzig)  und  seines  Organes  „Verbands- 
blätter“, der  aber  kein  Gehilfenverband  im  Gegensatz  zu 
den  Prinzipalen  sein  will  und  die  Reformbewegung  nur  so- 
weit mitmacht,  als  sie  seinen  besonderen  Verbandszwecken 
dienlich  erscheint.  Wenn  dann  noch  die  kleinen  Hirsch- 
Duncker’schen  „Vereine  Deutscher  Kaufleute“.,  der  „Verband 
reisender  Kaufleute  Deutschlands“  (Leipzig)  und  der 
„Deutsche  Privatbeamten- Verein“  (Magdeburg)  mit  ihren 
Versicherungskassen  erwähnt  sind,  so  hat  man  die  rein 
gewerkschaftliche  Bewegung  erschöpft,  und  es  bleibt  noch 
die  politische  zu  erwähnen,  welche  die  sozialdemokratische 
Partei  seit  einer  Reihe  von  Jahren  ohne  grossen  äusseren 
Erfolg  im  deutschen  Handelsgewerbe  eingeleitet  hat.  Rührige 
sozialdemokratische  Gehilfenvereine  bestehen  namentlich  in 
Berlin  und  Hamburg,  also  dort,  wo  die  kaufmännischen 
Vereine  in  Unthätigkeit  oder  wesentlich  auf  dem  Standpunkt 
der  Selbsthilfe  beharren.  Diese  politischen  Vereine  sind 
das  Produkt  der  betrübenden  grossstädtischen  Verhältnisse, 
bei  denen,  wie  der  Abgeordnete  .Singer  neulich  im  Reichs- 
tage mittheilte,  unter  dem  System  der  Grossbetriebe  (Bazare) 
ein  erheblicher  Theil  der  Gehilfen  sich  eintägige  Kündigungs- 
fristen oktroyiren  lassen  muss  und  in  fortwährender  Fluk- 
tuation ist.  Die  Leiter  dieser  politischen  Bewegung  würden 
jedoch  die  grossstädtischen  Verhältnisse  zu  sehr  verallgemei- 
nern, wenn  sie  die  unpolitische  und  rein  gewerkschaftliche 
Bewegung  der  kaufmännischen  Vereine  an  anderen  Orten 
durch  ihre  politische  Agitation  verdrängen  wollten,  und  ein 
Misserfolg  würde  nicht  ausbleiben.  Die  sozialen  Verhält- 
nisse des  Kaufmannsstandes  sind  denjenigen  der  Industrie 
nicht  ohne  Weiteres  analog.  Die  unpolitische  Standesbewe- 
gung hat  hier  u.  E.  die  grössere  Berechtigung  wegen 
der  noch  theilweise  patriarchalisch  geordneten  kaufmänni- 
schen Verhältnisse  im  Lande.  Insgesammt  organisirt  in 
allen  oben  aufgeführten  Vereinen  mögen  ungefähr  100  000 
Kaufleute  sein,  und  zwar  drei  Viertheile  Gehilfen,  da  in 
den  „Kaufmännischen  Vereinen“  auch  Prinzipale  enthalten 


40 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3. 


sind.  Nach  der  Berufszählung  von  1882  bezifferte  sich  aber 
das  Hilfspersonal  im  deutschen  Handelsgewerbe  schon  da- 
mals auf  391  206  Köpte.  , , 

Ueber  die  einzelnen  sozialpolitischen  Forderungen  der 
sozialpolitischen  Bewegung  im  deutschen  Handelsgewerbe, 
so  über  die  vom  „Deutschen  Verband  Kaufmännischei  V er- 
eine“  beantragte  Reichsenquete  über  die  Verhältnisse  des 
Kaufmannsstandes,  über  die  vom  1 . April  d.  J.  ab  zu  erwartenc  e 
ortsstatutarische  oder  polizeiliche  Regelung  der  Sonntags- 
ruhe, über  den  vom  1.  Januar  1893  ab  eintretenden  Kranken- 
versicherungszwang für  Handlungsgehilfen,  über  das  ' chic  - 
sal  des  dem  Reichstag  gegenwärtig  vorliegenden  Antrages 
Goldschmidt,  das  Recht  auf  Zeugnisse  betreffend,  sowie  über 
andere  Punkte  wird  gesondert  zu  berichten  sein. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Die  Arbeitszeit  kaufmännischer  Lehrlinge  ist  nach  An- 
gabe der  „Kaufm.  Presse“  (Frankfurt  a.  M.)  in  acht  schlesischen 
Städten  durch  eine  Umfrage  der  Oppelner  Handel stamm«  bei 

den  dortigen  kaufmännischen  Vereinen  festgestellt  worden,  also 
unter  doppelter  Kontrolle.  Danach  beträgt  die  Lehrlingszelt  in 
der  Mehrzahl  der  in  Betracht  kommenden  Gemeinden  3 bis 
4 Jahre,  an  einzelnen  Orten  scheinl .eine ..  vl?rJl^rl|®  wSSt^ 
die  Reffei  zu  bilden.  Die  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  ist 
im  Durchschnitt  übermässig  grosse  Nach  den  oben  genannten 
Ermittelungen  werden  Lehrlinge  beschäftigt. 


19 — 10  11  12 

Std.  i Std.  i Std. 


13 
! Std. 


14  15 

i Std. ; Std. 


Eine  Minimalkümligungsfrist  für  Handlungsgehilfen 

wird  erbeten  in  einer  Petition,  welche  der  „Kaufmännische 
Verein“  Frankfurt  a.  Main  soeben  an  den  Reichstag  richtete. 

In  der  Begründung  der  Eingabe  heisst  es:  „Die  Bestim- 
mung des  Artikel  61  des  Handelsgesetzbuches,  nach  welcher 
durch  freie  Vereinbarung  beliebig  kurze  Kündigungsfristen 
zwischen  Prinzipal  und  Handlungsgehilfen  festgesetzt  \\  er- 
den können,  befriedigt  schon  seit  einer  Reihe  von  Jahren 
den  deutschen  Kaufmannsstand  nicht  mehr.  Vierzehntägige, 
achttägige  und  eintägige  Kündigungsfristen,  welche  den 
Gehilfen  in  seiner  materiellen  Sicherheit  ausserordentlich 
schädigen,  kommen  nicht  bloss  in  Berlin  und  Norddeutsch- 
land, sondern  auch  hier  und  in  Süddeutschland  öfters  vor. 
Daher  rühren  die  Bestrebungen  der  Kaufmännischen  Ver- 
eine, dem  Handlungsgehilfen  eine  Sicherung  seiner  Existenz 
durch  Einführung  einer  Minimalkündigungsfrist  zu  ver- 
schaffen,  welche  dem  Vertrauensverhältniss  zwischen  Prin- 
zipal und  Gehilfen  entspricht  und  den  Letzteren  einiger- 
maassen  vor  allzuhäufiger  Stellenlosigkeit  schützt.  Da  das 
Stellenvermittelungswesen  der  Kaufmännischen  v er  eine  den 
Prinzipalen  Gelegenheit  bietet,  sich  hinreichende  Auskunft 
über  jeden  Gehilfen  vor  Abschluss  des  Engagements  zu 
verschaffen,  ausserdem  eingehende  briefliche  Erkundigungen 
bei  früheren  Chefs  durchgehend  üblich  sind,  so  kann  von 
einer  Benachteiligung  der  Prinzipale  durch  eine  a^Se” 
messene  Minimalkündigungsfrist  nicht  gesprochen  werden, 
dieselben  werden  sich  nach  Einführung  einer  solchen  noch 
sorgfältiger  als  bisher  über  das  zu  engagirende  Personal 
erkundigen,  was  im  Interesse  des  befähigten  und  gebildeten 
Gehilfenstandes  nur  begrüsst  werden  kann.  Aus  allen  diesen 

Rücksichten  hat  sich  die  Jahresversammlung  des  „Deutschen 

Verbandes  Kaufmännischer  Vereine“  vom  8.  Juni  1891  zu 
Braunschweig  einstimmig  für  eine  Mmimalkündigungstns 
ausgesprochen,  wofür  als  Beleg  dem  Präsidium  des  Reic  s- 
tages  die  Broschüre  „Zur  kaufmännischen  Reform  n ^er- 
reicht wird,  welche  das  Referat  und  den  Beschluss  über 
den  Gegenstand  enthält.“  Dieses  Referat  welches  vom 
Rechtsbeistand  des  petitionirenden  Vereins,  Dr.  Max  fjuarck, 
erstattet  wurde,  enthält  die  Ergebnisse  einer  Verbands- 
enquete, welche  sich  über  ganz  Deutschland  erstreckte  unc 
die  bemerkenswerthe  Thatsache  ergab,  dass  nicht  bloss  im 
schlecht  situirten  Kleinhandel,  sondern  auch  im  wohlhaben- 
den Grosshandel  die  kurzen  Kündigungsfristen  immer  mehr 
Platz  greifen  und  auch  sonst  eine  sehr  ungleichmassige 
Vertheilung  der  Pflichten  und  Rechte  zwischen  Prinzipal 
und  Gehilfen  stattfindet.  Während  nun  von  der  sozial- 
demokratischen „Freien  Vereinigung  junger  Kaufleute  m 
Berlin  um  eine  vierwöchentliche  Minimaikündigungsfrist  tu 
Handlungsgehilfen  petitionirt  wird,  schliesst  die  Frankfurter 
Eingabe  folgendermaassen:  „Die  sechswöchenthche  Dauer 
der  Kündigungsfrist  ist  eine  geschichtlich  bewahrte  Ein- 
richtung des  deutscehn  Handelsstandes,  die  deshalb  vor 
nunmehr  30  Jahren  im  Handelsgesetzbuch  sanktiomrt  wurde 
und  auch  jetzt  noch  so  weit  als  möglich  erhalten  werden 
sollte.  '- ImlNamen  seiner” 8500  Mitglieder  und  einer  grossen 
Zahl  weiterer  Interessenten  richtet  daher  der  Unterzeich- 
nete Verein  die  Bitte  an  den  hohen  Reichtag:  bei  der 
zweiten  und  dritten  Berathung  des  Antrages  Goldschmidt 
folgenden  Zusatz  zu  Artikel  61  des  Handelsgesetzbuches 
beschlossen  zu  wollen:  „Die  Vereinbarung  einer  kürzeren 
Kündigungsfrist,  als  einer  sechswöchentlichen  und  am  1 . 
und  15.  jedes  Monats  beginnenden  ist  nicht  gestattet  Dei 
erwähnte  Antrag  Goldschmidt  will  das  Recht  der  Hand- 
lungsgehilfen auf  Zeugnisse,  das  bisher  nur  aut  dem  Urts- 
o-ebrauch  basirte,  im  Handelsgesetzbuch  festlegen. 


1.  Gleiwitz 

2.  Kattowitz 

3.  Patschkau  • ■ • • 

4.  Rosdzin-Schoppinitz 

5.  Neustadt 

6.  Ziegenhals  . . . • 

7.  Rybnik • 

8.  Pless 


10 

3 


16 

20 


29 

5 


9 

11 

3 

5 


4 

5 
17 

2 

60  I 
18l) 


16 

Std. 

8 

2 


13 


4 


13 


28 


4 49  38  32  119  12 


Die  Kaufm.  Presse  bemerkt  hierzu:  „Die  Mehrzahl  dieser 
'->82  Lehrlinge  in  8 Städten  — wahrscheinlich  konnten  die  Ver- 
eine noch  n?cht  einmal  die  Arbeitszeiten  sämmtlmher  Lehrlmge 
erfahren ! - arbeitet  also  15  Stunden  täglich  nämlich  1 19  oder 
i ■ 0i  c ca  o • 19  müssen  soe;ar  16  Stunden  schaffen.  Dass  dabei 
dfe' A usb il d un g des  Gemeinsinns  und  die  Berufsfreudigkeit  schwer 
leiden  mSsem  ist  ohne  weiteres  klar.  Und  da  gibt  es  noch 
KÄute  die’ gegen  eine  Abkürzung  dieser 
durch  den  Fortbildungsschulzwang  sind!  Ihatsacnucn 
He  Jugendlichen  Arbeiter  in  Fabriken  und  Bergwerken  gegen 
diese  Parias  des  Handelsgewerbes  „die  reinen  Kavaliere  , um 
mit  dem  Reichstagsabgeordneten  Buhl  zu  sprechen,  denn  - 
Arbeitszeit  llätgefetzlTch  auf  10  Stenden  mclustve  Pensen  be- 
schränkt. 


Handwerkerfragen. 

* 

Die  Bauhandwerker  und  die  Hypothekenordnung. 

Die  in  Nummer  2 des  Sozialpolitischen  Centralblatts 
erwähnte  Petition  des  Deutschen  Bundes  für  Bodenbesitz-, 
reform  ist  nunmehr  dein  Staatssekretär  des  Reichsjustizamtes 
Bos™  Übersicht  worden.  Der  in  der  Petition  enthaltene. 
Gesetz  Vorschlag,  welcher  nach  Möglichkeit  allen  Bedenken 
weo-en  Schädigung  der  Rechte  älterer  Hypothekenglaubiger 
Rechnung  tragen  wollte,  ohne  den  berechtigten  Forderung 
der  Bauhandwerker  etwas  zu  vergeben,  hat  tolgendei 

\\  ortla^m  tli  h bejm  Neubau  eines  Gebäudes  betheihgteii 
Handwerker,  Lieferant  und  Arbeiter  haben  innerst 
eiJes  Zeitraumes  von  sechs  Monaten  nach  der  baupolizei- 
lichen "Gebrauchsabnahme  des  Gebäudes  für  ihre  durc 
Lieferung  von  Materialien  und  Arbeiten  entstandene 
Forderungen  ein  Recht  auf  Eintragung  m das  Grundbuch 
D°e  so  entstandenen  Hypotheken  gemessen  bei „Gleich- 
berechtigung  unter  sich  ein  Vorzugsrecht  vor  allen  an 
deren  dinglichen  Belastungen,  soweit  solche  nicht  a 
öffentlichen  Titeln  beruhen.  Neubau  ,m  Sinne > dwae^Ge 
setzes  ist  jedes  von  Grund  aus  oder  von  der  Erdobertiacii 

an  eTe“XeGwdche  einen  Verzicht  auf  dieses  Rechtaus 

d Türken  sind  o-esetzlich  unwirksam.  . 

drucken,  -6^.  ha(  von  jedem  von  ihr  genehmige, 

Neubau  im  Sinne  dieses  Gesetzes  der  Grundbuchbehord 
Nachricht  zu  geben,  welche  letztere Hype 
thekenp-läubio-ern  Anzeige  zu  machen  hat.  Den  nyp 
thekeno'läubilern  steht  es  nach  Erhalt  dieser  Anzeige  fre, 
binnen^  30  Tagen  ihre  Forderungen  zur  Ri ^gzahlun-  m. 

gekUkndniglnn  Forderungen  darf  » 

d6m  SS^GeÄ^ 

Bundes  für  Bodenbesitzreform,  Fabrikant  Freese,  eine  lang 



i)  Im  Sommer  sogar  I6V2  Stunden. 


No.  3. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


41 


Unterredung  mit  dem  Staatssekretär  Bosse,  welcher  auch  der 
Vortragende  Rath,  Geheimrath  Struckmann  beiwohnte.  Als 
bemerkenswerth  wird  aus  dieser  Unterredung  mitgetheilt, 
dass  zwar  die  preussische  Regierung  den  Wünschen  der 
Bauhandwerker  sympathisch  gegenüberstehe,  dass  dagegen 
die  Regierungen  der  übrigen  Bundesstaaten  den  Bauhand- 
werkern nicht  einmal  das  vom  preussischen  Landrecht  zu- 
gestandene — in  der  Praxis  freilich  durchaus  unzulängliche 
Recht  auf  Vormerkung  für  ihre  Verwendungen  einräumen 
wollen.  Wir  können  nur  unseren  Wunsch  wiederholen,  dass 
die  Regierungen  den  berechtigten  Forderungen  der  Bau- 
handwerker entgegenkommen,  indem  sie  sich  über  die  vom 
Standpunkte  des  reinsten  Kapitalismus  aus  verfassten  Motive 
des  „Entwurfes  eines  Gesetzes  betr.  die  Zwangsvoll- 
streckungen“ hinwegsetzen.  An  einer  eifrigen  Unterstützung 
eines  derartigen  Vorgehens  durch  eine  Agitation  aus  Bau- 
handwerkerkreisen heraus,  dürfte  es  allen  Anzeichen  nach 
nicht  fehlen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Schutz  der  Arbeiterinnen,  ln  den  schweizerischen 
Konfektions-  und  Modegeschäften  kommt  vielfach  eine  arge 
Ausbeutung  der  Arbeiterinnen  vor,  gegen  welche  die  Be- 
stimmungen des  Fabrikgesetzes  machtlos  sind,  da  es  sich 
hier  meistens  um  Gewerbe  handelt,  welche  diesem  Gesetz 
nicht  unterstellt  sind.  Aehnliche  Verhältnisse  linden  sich 
in  einer  Reihe  von  Hausindustriebetrieben  und  im  Schank- 
gewerbe. Um  dem  Uebelstande  abzuhelfen,  gehen  einzelne 
Kantone  von  sich  aus  mit  Erlass  von  Spezialgesetzen  vor. 
Den  Anfang  machte  Baselstadt  mit  einem  Gesetz  zum 
Schutze  der  Arbeiterinnen.  Demselben  unterstehen  alle 
Gewerbe,  in  welchen  drei  Frauenspersonen  oder  mehr  ge- 
werbsmässig arbeiten,  oder  in  welchen  überhaupt  Mädchen 
unter  18  Jahren  als  Arbeiterinnen  oder  Lehrmädchen  be- 
schäftigt werden.  Ausgenommen  sind  die  Wirthschaften 
und  die  Ladengeschäfte,  sofern  die  Inhaber  der  letzteren 
ihre  weiblichen  Angestellten  nicht  zu  gewerblichen  Ar- 
beiten, sondern  zur  Bedienung  der  Käufer  verwenden.  Für 
alle  unter  das  Gesetz  fallenden  Frauenspersonen  soll  die 
Dauer  der  regelmässigen  Arbeitszeit  nicht  mehr  als  1 1 Stun- 
den, an  den  Vorabenden  von  Sonn-  und  Festtagen  nicht 
mehr  als  10  Stunden  betragen.  Die  Arbeitszeit  muss  in  die 
Stunden  von  6 Uhr  Morgens  bis  8 Uhr  Abends  verlegt 
werden,  mit  Pause  von  mindestens  einer  Stunde  um  die 
Mitte  der  Arbeitszeit.  Die  Arbeit  an  Sonntagen  ist  unter- 
sagt. Vorübergehende  Ueberzeitarbeit  kann  das  Departe- 
ment des  Innern  bewilligen,  Arbeitsverlängerung  für  mehr 
als  2 Wochen  der  Regierungsrath.  Von  dieser  Bewilligung 
sind  in  allen  Fällen  Mädchen  unter  18  Jahren  und  Schwan- 
gere ausgeschlossen.  Sie  dürfen  nach  8 Uhr  Abends  zu 
keinerlei  Dienstleistung  mehr  angehalten  werden.  Wöch- 
nerinnen dürfen  vor  und  nach  ihrer  Niederkunft  während 
8 Wochen  nicht  in  dem  Gewerbe  beschäftigt  werden.  Für 
bewilligte  Arbeit  nach  dem  gesetzlichen  Feierabend  sind 
Frauenspersonen  besonders  zu  entschädigen  und  können 
diese  nur  mit  ihrer  Zustimmung  dazu  verwendet  werden. 
Wo  nicht  durch  schriftliche  Uebereinkunft  etwas  anderes 
bestimmt  ist,  bleibt  gegenseitige  14  tägige  Kündigung  Vor- 
behalten. Bussen  dürfen  nur  ausgesprochen  werden,  sofern  sie 
in  einer  Arbeitsordnung  angedroht  sind;  sie  sollen  die  Hälfte 
des  Tagelohnes  der  Gebüssten  nicht  übersteigen  und  sind 
im  Interesse  der  Arbeiterinnen  zu  verwenden.  Lohnabzüge 
für  verdorbene  Arbeit  sind  nur  zulässig,  wenn  der  Schaden 
aus  Vorsatz  oder  grober  Nachlässigkeit  entstanden  ist.  Die 
Räumlichkeiten,  in  welchen  Arbeiterinnen  beschäftigt  sind, 
unterliegen  in  Bezug  auf  sanitarische  Verhältnisse  der  Auf- 
sicht der  zuständigen  Behörde.  Wenn  es  der  Umfang  oder 
die  Natur  des  betreffenden  Geschäftes  rechtfertigen,  können 
die  unter  dieses  Gesetz  fallenden  Gewerbinhaber  durch  die 
Fabrikkommission  angehalten  werden,  über  die'Arbeitszeit, 
die  Bedingungen  des  Ein-  und  Austritts  und  die  Ausbezah- 
lung des  Lohnes  eine  Arbeitsordnung  zu  erlassen  und  im 
Arbeitslokal  an  sichtbarer  Stelle  anzuschlagen.  Diese  Ar- 
beitsordnungen unterliegen  der  Genehmigung  des  Departe- 
ments des  Innern.  Im  Falle  von  Anständen  entscheidet  der 
Regierungsrath.  — Mit  einem  ähnlichen  Gesetzeserlass  be- 
schäftigt man  sich  im  Kanton  Zürich.  Im  Kanton  Waadt 


will  man  die  Kellnerinnen  gesetzlich  schützen.  In  St.  Gallen 
sind  es  die  Arbeiter-  (Griitlivereine),  welche  die  Initiative 
zum  Erlass  eines  Gesetzes  zum  Schutze  der  Arbeiterinnen 
ergriffen  haben. 

Die  Sonntagsruhe  im  deutschen  Handelsgewerbe,  ln 

Bezug  auf  die  Festsetzung  der  Arbeitsstunden  für  das  Handels- 
gewerbe an  den  Sonntagen  ist  den  Regierungspräsidenten  fin- 
den Fall,  dass  nicht  ortsstatutarische  Bestimmungen  die  ge- 
setzlich zulässige  Maximalarbeitszeit  von  5 Stunden  noch 
weiter  herabsetzen,  nachfolgende  Instruktion  zur  Ausfüh- 
rung der  Gewerbenovelle  ertheilt  worden:  a)  Bei  Fest- 
setzung der  Arbeitsstunden  ist  die  für  den  öffentlichen 
Gottesdienst  bestimmte  Zeit  jedenfalls  soweit  zu  berück- 
sichtigen, dass  diese  Stunden  nicht  in  die  Zeit  des  Haupt- 
gottesdienstes und  thunlichst  auch  nicht  in  die  Zeit  solcher 
Nebengottesdienste  fallen,  während  welcher  nach  den  zur 
Zeit  geltenden  Vorschriften  die  Verkaufsstätten  geschlossen 
sein  müssen,  b)  Die  Arbeitsstunden  sind  einerseits  für 
rössere  Bezirke  — thunlichst  für  Regierungsbezirke  oder 
rovinzen  — andererseits  für  die  verschiedenen  Zweige 
des  Handelsgewerbes  möglichst  einheitlich  lestzusetzen. 
c)  Damit  den  in  Betracht  kommenden  Personen  eine  wirk- 
same Sonntagsruhe  zu  Theil  werde,  wird  der  Beginn  der 
zulässigen  Beschäftigungszeit  möglichst  früh,  und  das  Ende 
derselben  derart  festzusetzen  sein,  dass  der  grössere  Theil 
des  Nachmittags  und  der  Abend  frei  bleiben.  Ohne  be- 
sonderen zwingenden  Grund  werden  demgemäss  die  Ar- 
beitsstunden sich  nicht  über  zwei  oder  äussersten  Falls 
drei  Uhr  Nachmittags  hinaus  erstrecken  dürfen. 

Schweizerisches  Fabrikgesetz.  In  Bern  versammelten  sich 
letzthin  die  schweizerischen  Fabrikinspektoren  und  deren  Ad- 
junkten, um  sich  mit  dem  eidgenössischen  Industriedepartement 
Uber  Herausgabe  einer  Sammlung  aller  seit  Inkrafttreten  des  eid- 
genössischen Fabrikgesetzes  erlassenen  Auslegungen,  Verfügungen 
und  Kreisschreiben  zu  verständigen.  Im  Jahre  1878  erschien  schon 
eine  offizielle  Ausgabe  des  schweizerischen  Fabrik-  und  Haft- 
pflichtgesetzes mit  allen  bis  dahin  erflossenen  bundesräthlichen 
Erlassen.  Eine  Ergänzung  derselben  wird  auch  für  den  nicht- 
schweizerischen Sozialpolitiker  von  Interesse  sein. 


Arbeiterversicherung. 


Die  Erweiterung  der  Unfallversicherung  in  Oesterreich. 

Im  österreichischen  Abgeordnetenhause  wurde  kürzlich  eine 
Vorlage  betreffend  die  Ausdehnung  des  Unfallversicherungs- 
gesetzes vom  28.  Dezember  1887,  R.-G.-Bl.  No.  1 ex  1888 
eingebracht,  deren  wesentlicher  Inhalt  in  Folgendem  wieder- 
gegeben sei.  Zur  Zwangsversicherung  sollen  nunmehr 
herangezogen  werden:  1.  Alle  Unternehmungen,  welche  sich 
gewerbsmässig  aus  dem  Transporte  von  Personen  oder 
Sachen  zu  Lande  oder  auf  Flüssen  und  Binnenwassern  befassen, 
mit  Ausnahme  der  Eisenbahnen,  insofern  auf  dieselben  das 
Haftpflichtgesetz  vom  5.  März  1869  Anwendung  findet; 
2.  Baggereien;  3.  Unternehmungen,  die  sich  gewerbsmässig 
mit  der  Reinigung  von  Strassen  und  Gebäuden  (Fenstern, 
Dächern  u.  dgl.)  befassen;  4.  gewerbsmässig  betriebene 
Kellereien  und  Waarenlager-Unternehmungen,  sowie  die 
Betriebe  von  Holz-  und  Kohlenlagern;  5.  die  Unternehmungen 
von  ständigen  Theatern  bezüglich  der  darstellenden  Personen 
sowie  der  Arbeiter  und  Betriebsbeamten;  6.  Berufsfeuer- 
wehren; 7.  die  Gewerbebetriebe  der  Kanalräumer  und 
Rauchfangkehrer;  8.  die  gesummten  Betriebe  der  Stein- 
metze und  9.  jene  Gewerbebetriebe,  welche  sich  auf  die 
Ausführung  von  Bauarbeiten  erstrecken,  auch  hinsichtlich 
der  Werkstättenarbeiten. 

Rücksichtlich  dem  Binnenschifffahrtsbetriebe  erstreckt 
sich  die  Versicherungspflicht  auf  diejenigen  Unternehmungen, 
welche  in  Oesterreich  ihren  Sitz  oder  eine  ständige 
Vertretung  haben  und  deren  Fahrzeuge  ausschliesslich  oder 
zeitweilig  im  Inlande  verkehren.  Auch  für  Unfälle,  die  sich 
auf  solchen  Schiffen  im  Auslande  ereignen,  wird  den  auf 
denselben  bediensteten  Betriebsbeamten  und  Arbeitern 
Entschädigung  geleistet,  vorausgesetzt,  dass  sie  nicht  bereits 
nach  den  Gesetzen  des  anderen  Landes  gegen  die  Folgen 
von  Betriebsunfällen  versichert  sind. 

Zur  freiwilligen  Versicherung  werden  bei  den 
bestehenden  Anstalten  zugelassen:  1.  die  Unternehmer  von 
unfallversicherungspflichtigen  Betrieben  selbst,  aber  auch 


42 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3 


deren  Bevollmächtigte  oder  Repräsentanten,  ferner  ;andere 
Personen,  welche  ohne  versicherungspflichtig  zu  sein,  den 
Gefahren  eines  solchen  Betriebes  ausgesetzt  sind;  2.  Unter- 
nehmer, deren  Betriebe  gesetzlich  der  Versicherungspflicht 
nicht  unterliegen,  sammt  ihren  Arbeitern  und  Betriebs- 
beamten, der  Beitritt  muss  jedoch  korporativ  erfolgen; 
3.  Eisenbahnunternehmungen , rücksichtlich  derjenigen 
Arbeiter  und  Betriebsbeamten,  auf  welche  das  Haftpflicht- 
gesetz vom  5.  März  1869  Anwendung  findet,  wobei  jedoch 
die  nach  dem  Unfallversicherungsgesetze  zukommenden 
Entschädigungen  als  Minimum  gelten,  das  in  geeigneter 
Weise  auf  das  dem  wirklichen  Jahresbezuge  entsprechende 
Ausmaass  zu  erhöhen  ist. 

Ueber  die  Beiträge  für  die  Versicherten  sub  1 und  2 
ist  ein  Uebereinkommen  zwischen  den  Unternehmern  und 
Bediensteten  zulässig;  für  die  sub  3 angeführten  Personen 
ist  die  Prämie  zur  Hälfte  von  den  Eisenbahnen  aufzubringen. 

Einige  Aenderungen  sollen  die  Bestimmungen  über 
den  gemeinsamen  Reservefonds  erhalten.  Wenn  nämlich  in 
Folge  eines  Betriebsunfalles,  durch  welchen  mindestens  5 
Personen  verletzt  oder  getödtet  worden  sind,  Renten  an 
Verletzte  oder  die  Hinterbliebenen  getödteter  Personen 
flüssig  werden,  welche  zur  Zeit  der  Feststellung  zusammen 
ein  Deckungskapital  beanspruchen,  welches  das  Vierzigfache 
des  bei  der  betreffenden  Versicherungsanstalt  bestehenden 
durchschnittlichen  Jahresarbeitsverdienstes  eines  Versicherten 
übersteigt,  so  hat  die  Versicherungsanstalt  Anspruch  auf 
Ersatz  des  diese  Summe  übersteigenden  Deckungskapitales 
aus  dem  gemeinsamen  Reservefonds.  Welche  Beträge  als 
durchschnittliche  Jahresarbeitsverdienste  zu  gelten  haben, 
wird  vom  Minister  des  Innern  nach  Anhörung  der  Ver- 
sicherungsanstalten von  3 zu  3 Jahren  festgesetzt. 

Soweit  der  gemeinsame  Reservefonds  nicht  durch  diese 
Bestimmung  in  Anspruch  genommen  ist,  kann  derselbe 
dazu  verwendet  werden,  einen  Abgang  zu  decken,  welcher 
sich  bei  einer  Versicherungsanstalt  nach  Auszahlung  des 
Spezialreservefonds  ergiebt,  sofern  nicht  zur  Deckung  dieses 
Abganges  eine  Erhöhung  der  Versicherungsbeiträge  geboten 
erscheint. 

Der  Minister  des  Innern  ist  ermächtigt,  sobald  sich 
eine  den  Zweck  überschreitende  Ansammlung  des  gemein- 
samen Reservefonds  ergiebt,  die  Beisteuer  der  \ ersicherungs- 
anstalten  zu  reduziren  oder  gänzlich  einzustellen;  wenn  er 
zu  den  bezeichneten  Zwecken  nicht  ausreicht,  durch  eine 
2°  „nicht  übersteigende  ausserordentliche  Auflage  zu  ergänzen. 

Aus  den  der  Vorlage  beigegebenen  Motiven  ist  zu 
entnehmen,  dass  die  Regierung  die  Ausdehnung  der  L nfall- 
versicherungauf  die  Land-  und  forstwirthschaftlichen  Betriebe 
in  Aussicht  genommen  und  zu  diesem  Behufe  bereits  ein- 
gehende Studien  angestellt  hat. 


Beschäftigung  ausländ’ sch  er  Arbeiter  und  deutsche 
Versicherung.  Aus  der  Beschäftigung  fremdländischer 
Arbeiter,  deren  Bedenken  auch  in  anderer  Beziehung  sozial- 
politisch wohlbekannt  sind,  erwachsen  in  der  Praxis  der 
deutschen  Versicherungsgesetzgebung  mannigfache  Schwie- 
rigkeiten , wie  nachfolgende  interessante  Stelle  in  dem 
soeben  erschienenen  Jahresberichte  der  Handelskammer 
von  Bremen  (für  1891)  zeigt.  Es  heisst  da:  „Ganz  eigen- 
artig gestalten  sich  die  Verhältnisse  hinsichtlich  der  Ver- 
sicherung der  auf  deutschen  Seeschiffen  dienenden  aus- 
ländischen Seeleute,  da  diese  sich  vielfach  weigern,  die  ihnen 
nach  der  deutschen  Gesetzgebung  zufallende  Hälfte  der 
Beiträge  von  dem  verdienten  Lohne  sich  abziehen  zu  lassen, 
und  da  sie  in  dieser  Weigerung  von  ausländischen  Behörden 
häufig  unterstützt  werden.  Die  hierin  für  die  deutschen 
Rheder  liegende  Härte  (!)  steigert  sich  noch,  wenn,  wie  es 
bei  der  Anmusterung  farbiger  Mannschaften  meistens  der 
Fall  ist,  zur  Bemannung  der  Schiffe  eine  erheblich  grössere 
Kopfzahl  erforderlich  ist,  als  bei  Verwendung  europäischer 
Mannschaften.  Aus  dieser  Veranlassung  sind  die  Deutsche 
Dampfschiffahrtsgesellsehaft  „Hansa“  und  der  Norddeutsche 
Lloyd,  die  auf  ihren  nach  Indien  und  in  den  chinesischen 
Gewässern  fahrenden  Schiffen  neuerdings,  hauptsächlich 
wegen  klimatischer  Verhältnisse,  farbige  Mannschaften, 
Laskaren,  Chinesen  u.  s.  w.  anstellen,  mit  der  Bitte  hervor- 
getreten, die  Versicherungspflicht  möge  hinsichtlich 
solcher  Mannschaften  überhaupt  aufgehoben  werden.  Sie 
haben  sich  dabei  auf  die  fernere  Erwägung  gestützt,  dass 
derartige  Farbige  wohl  nie  so  lange  und  so  regelmässig  aut 
deutschen  Schiffen  Dienste  nehmen,  dass  sie  zur  Renten- 
berechtigung gelangen  könnten.  Aehnliche  Verhältnisse 
walten  bei  der  Fahrt  nach  Ost-  und  Westafrika  und  bei 


der  dortigen  Küstenfahrt  ob.  Die  Handelskammer  hat  sich 
dieses  Wunsches  angenommen,  und  dessen  Erfüllung  er- 
scheint nicht  als  ausgeschlossen.  Denn  das  Bedenken,  es 
möge  durch  eine  Erleichterung  der  Pflichten  der  Rheder 
bei  Anstellung  farbiger  Mannschaften  der  Arbeitsmarkt  zu 
Ungunsten  der  einheimischen  Seeleute  beeinflusst  werden, 
ist  nicht  zutreffend,  da  einmal  die  Anmusterung  der  Farbigen 
fast  stets  in  fremden  Häfen  erfolgt,  und  da  ferner,  wie  schon 
bemerkt,  diese  Mannschaften  auch  jetzt  trotz  des  Ver- 
sicherungszwanges in  anscheinend  noch  steigendem 
Umfange  aus  dem  Grunde  bevorzugt  werden,  weil  sie 
in  heissen  Zonen  den  klimatischen  Verhältnissen  gegenüber 
widerstandsfähiger  sind  als  Europäer.  Ein  Interesse  aber 
an  der  Einbeziehung  dieser  Leute  unter  die  deutsche  Ver- 
sicherungspflicht an  sich  besteht  zweifellos  nicht.“  Die 

Streiflichter,  welche  aus  diesen  widerspruchsvollen  Dar- 
legungen auf  die  Frage  der  Beschäftigung  ausländischer 
Arbeiter  fallen,  werden  nicht  unbeachtet  bleiben  können. 

Verstaatlichung  (1er  Aerzte.  Von  Rednern  der  sozial- 
demokratischen Partei  ist  bekanntlich  gelegentlich  der  Ver- 
sicherungsdebatten  im  Reichstage  öfters  geäussert  worden,  die 
deutsche  Versicherungsgesetzgebung  werde  ihr  Theil  dazu  bei- 
tragen, dass  die  Verstaatlichung  der  Aerzte,  die  von  der  Sozial- 
demokratie auch  aus  anderen  Gründen  angestrebt  werde,  zur 
Wirklichkeit  würde.  Als  Beitrag  zu  dieser  einschneidenden 
Frage  kann  eine  Mittheilung  aus  der  letzten  Sitzung  der  Aerzte- 
kammer  der  Rheinprovinz  dienen,  welche  allerdings  die  steigende 
Abhängigkeit  der  staatlichen  Versicherung  von  den  jetzt  noch 
freien  Aerzten  darthut.  In  der  genannten  Aerztekammer  wurde 
zum  ersten  Gegenstand  der  Tagesordnung : „Die  Invaliditäts- 

und Altersversicherungsanstalt  und  die  Aerzte“  folgendes  ver- 
handelt. Die  Versicherungsanstalt  theilte  mit,  nach  dem  Ge- 
setze müsse  jeder,  der  den  Antrag  auf  Bewilligung  einer  Rente 
stelle,  alle  Beweisstücke,  auch  das  ärztliche  Zeugniss  selbst 
herbeischaffen.  Nun  sei  es  aber  für  die  Anstalt  unerlässlich, 
dass  sie  ein  vollständiges,  alle  Fragen  genau  beantwortendes 
Zeugniss  erhalte,  wenn  sie  auf  Grund  desselben  sich  über  Be- 
willigung oder  Ablehnung  der  Rente  schlüssig  machen  solle. 
Die  Anstalt  habe  nun  ein  Formular  für  d ese  ärztlichen  Atteste 
aufgestellt,  das  wohl  etwas  über  den  Rahmen  einer  rem  ärzt- 
lichen Bescheinigung  hinausgehe  und  am  besten  von  dem  be-  . 
handelnden  Arzte  ausgestellt  werde.  Die  Anstalt  wolle  daher 
alle  Aerzte  der  Provinz"  als  ihre  Vertrauensärzte  ansehen  und  sie  , 
bitten,  die  Bescheinigungen  nach  dem  vorgeschriebenen  Formular  , 
auszustellen  und  diese  an  die  Verwaltungsbehörde  einzureichen;  , 
hierfür  biete  die  Anstalt  den  Aerzten  ein  massiges  Honorar,  das 
allerdings  als  eine  Honorirung  der  Ausarbeitung  der  Bescheini- 
gung nicht  angesehen  werden  könne,  da  eigentlich  der  Antrag- 
steller dieses  Honorar  zahlen  müsse.  In  den  Fällen,  wo  die 
Aerzte  die  Bescheinigungen  nicht  ausstellen  wollten,  müssten 
allerdings  besondere  Distriktsärzte  angestellt  werden.  Die  , 
Aerztekammer  beschloss  hierauf  einstimmig,  auf  die  Vorschläge  ; 
der  Versicherungsanstalt  einzugehen. 


Prostitution. 


Die  Prostitution  im  russischen  Reiche. 

George  Kennan  hat  der  Welt  die  Schrecknisse  der 
sibirischen  Gefängnisse,  enthüllt;  das  offizielle  Russland  zieht 
soeben  zum  ersten  Male  den  Schleier  von  dem  Inferno  seiner 
gefallenen  Frauen.  Herr  Staatsrath  N.  Troinitzky  veröffent- 
licht in  der  Statistique  de  FEmpire  de  Russie  XIII.  (Supple- 
ment frangais)  die  Ergebnisse  einer  am  1./13.  August  1889 
veranstalteten  Enquete,  welche  von  dem  statistischen  Central- 
comite  im  Einvernehmen  mit  dem  Sanitätsdepartement  im 
Ministerium  des  Innern  veranlasst  wurde,  und  wrelche  sich  mit 
Ausnahme  des  Bezirkes  Zakataly  im  Kaukasus,  der  Provinz 
Turgal  in  Centralasien  und  Finnlands  auf  das  ganze  rus- 
sische Reich  erstreckte.  Den  Sanitätsbehörden  wurden  Frage- 
bogen zugeschickt,  welche  sie  mit  Rücksicht  auf  den  Stand  | 
der  Prostitution  am  1./13.  August  1889  ausgefüllt,  dem 
Centralkomite  einzusenden  verpflichtet  wurden.  Auf  \ oll- 
ständigkeit  kann  selbstverständlich  eine  solche  Arbeit  auch 
in  einem  Reiche,  welches  den  kolossalsten  Beamtenapparat 
zu  diesen  Zwecken  in  Bewegung  setzt,  keinen  Anspruch 
machen;  die  Polizei  mag  in  einem  Lande  allmächtig  sein, 
— allwissend  ist  sie  nicht.  Die  Aufschlüsse  dieser  Statistik 
stehen  im  Einklang  mit  den  sozialen  Zuständen  im  russi- 
schen Reiche,  obwohl  einige  der  ermittelten  Daten  den 
Stempel  der  Ungenauigkeit  an  der  Stirne  tragen.  \\  enn 
z.  B.  die  Gesammtzahl  der  russischen  Prostituirten  auf 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBI ATT. 


43 


' No.  3. 

17  603  angegeben  wird  bei  einer  Bevölkerung  von  rund 
108  843  193  Köpfen,  — während  der  Sittenpolizeibericht  von 
1867  für  Berlin  12  497  der  Polizei  namentlich  bekannte 
Weiber  als  Prostituirte  oder  als  prostitutionsverdächtig  ver- 
zeichnet, so  springt  die  Mangelhaftigkeit  dieses  Abschnittes 
der  russischen  Erhebung  in  die  Augen. 

Auch  zu  der  Frage  der  gesetzlichen  Reguhrung  der 
Prostitution  kann  diese  Statistik  einen  Beitrag  liefern;  denn 
ausser  rein  sanitätspolizeilichen  Vorschriften  enthält  die 
russische  Gesetzgebung  keinerlei  Normative;  in  Moskau  ist 
Lselbst  die  polizeilicne  Meldung  nicht  obligatorisch.  Das 
Heim  der  Prostitution  bilden  erstens  die  „maisons  de  rendez- 
voüs“,  die  Absteigequartiere;  52  derselben  sind  im  ganzen 
Reiche,  49  im  europäischen  Russland  mit  Ausschluss 
der  Weichseldepartements  (Russ.-Polens)  eruirt  worden. 
Man  kennt  ferner  1164  maisons  de  tolerance,  Bordeille, 
(davon  74,1%  im  europäischen  Russland)  mit  7840  Be- 
wohnerinnen und  endlich  9763  selbständige  Prostituirte 
(prostituees  en  carte),  davon  69,9  % in  den  50  Gou- 
vernements des  europäischen  Russland,  und  17,6%  in  den 
Weichseldepartements  (Russ. -Polen).  Hier  ist  die  Zahl  der 
selbständigen  Prostituirten  fünfmal  so  gross  wie  jene  der 
in  Toleranzhäusern  befindlichen;  von  allen  Gouvernements 
entfällt  hier  die  höchste  Zahl  der  Gefallenen  aut  die  ge- 
sammte  weibliche  Bevölkerung:  48  Prostituirte  aut  100  000 
Frauen  (der  Reichsdurchschnitt  beträgt  32  aut  1 00  000). 
Diese  hohe  Ziffer  „erklärt  sich  einerseits  aus  der  schärferen 
Beaufsichtigung  der  Prostitution  in  diesen  Gouvernements 
(Russ.-Polen),  andererseits  aus  dem  Umstande,  dass  eine 
grössere  Anzahl  von  Soldaten  in  dieser  Gegend  kantonnirt 
sind“  (p.  7). 

Die  Prostitution  ist  eine  wesentlich  städtische  Er- 
jscheinung:  von  der  Gesammtzahl  ihrer  Opfer  entfallen  auf 
die  Hauptorte  der  Gouvernements  des  Reiches  59,6%  (Russ.- 
Polen  63,8%),  auf  die  Distrikte  36,5%  (Russ.-Polen  27,1%); 
auf  Flecken  und  Dörfer  im  ganzen  Reiche  nur  3,9%,  da- 
gegen 9,1%  auf  Flecken  und  Dörfer  in  Russ.-Polen  und 
11,7%  im  Kaukasus;  es  sind  insbesondere  „grosse  industrie- 
treibende  Dörfer,  welche  die  Centren  der  Prostitution  für 
die  ländliche  Bevölkerung  bilden  (p.  8).“ 

Die  Prostituirten  sind  zum  Theil  der  Gegenstand  eines 
Geschäftsbetriebes  der  „Matrones  des  maisons  de  tolerance“, 
der  Bordellinhaberinnen.  Seine  Einträglichkeit  lässt  sich 
erstens  aus  der  durchschnittlichen  Dauer  desselben  ermessen: 
51,7%  bis  5 Jahre  im  russischen  Reiche  (39,6  "/n  in  den 
Weichseldepartements,  60,7  % in  Sibirien),  20,5  % durch 
5— 10  Jahre  im  Reiche  (22,9  % in  den  Weichseldepartements), 
über  10  Jahre  (darunter  9 über  50  Jahre)  27,8  % im  Reiche 
(37,5 % in  den  Weichseldepartements);  zweitens  aus  der 
auf  jede  solche  Firma  entfallenden  Zahl  von  Prostituirten, 
verglichen  mit  der  Höhe  der  Jahresmiethe  ihrer  Häuser. 
Man  findet  3,1%  Prostituirte  in  Häusern,  welche  jährlich 
120  Rubel  zahlen  und  22,7%  Mädchen  dort,  wo  der  Mieth- 
zins  6600  Rubel  beträgt  — eine  durchaus  gleichmässig  an- 
steigende Reihe.  Endlich  ist  der  Preis  eines  Besuches,  einer 
Nacht,  und  des  Ausganges  (der  letztere  nur  sehr  unvoll- 
ständig) in  den  verschiedenen  Gouvernements  bekannt  ge- 
geben worden.  In  Russisch-Polen  übersteigt  er  nicht  I Rubel, 
der  der  Nacht  nicht  4 Rubel;  er  steigt  in  den  Hauptstädten 
bis  4 — 5,  und  für  die  Nacht  auf  15  Rubel. 

Der  Konfession,  Nationalität  und  dem  Stande  nach 
.sind  von  den  „Matronen“,  den  Bordellbesitzerinnen  — wohl 
so  genannt,  weil  nur  3%  derselben  weniger  als  25  Jahre 
alt  sind  — : 

■ 

57,1  % russisch-orthodox,  und  53,1  % russischer  Nationalität 

24,9%  mosaisch,  „ 27,6  % israelitischer  „ 

6)6%  protestantisch.  „ 6,5%  deutscher  „ 

2.8%  römisch-katholisch  „ 2,6  % polnischer  „ 

Dem  Stande  nach  gehört  „die  grosse  Masse  der 
Matronen  den  unteren  Klassen  der  Gesellschaft  an“  und 
i zwar  sind  3,1  /„Adelige  und  Beamtentöchter,  1,8%  Handels- 
frauen und  höhere  Bürgersfrauen,  47,5°/.,  Bürgersfrauen 
(Bourgeoises),  20,5  % Bäuerinnen,  19  % Soldatenfrauen;  8,1% 
entfallen,  auf  Fremde  und  andere  Klassen. 

Auf  die  Prostituirten  ausgedehnt  zeigt  dieselbe  Unter- 
suchung, dass  die  vier  zahlreichsten  Nationalitäten  in  den 
Toleranzhäusern  in  ganz  anderem  Ausmasse  vertreten  sind, 
als  unter  den  selbständigen  Prostituirten;  die  letzteren 
rekrutiren  sich  vornehmlich  aus  der  ortsansässigen  Bevölke- 
rung; die  ortsfremden  Prostituirten  befinden  sich  zumeist 
in  den  Häusern  ■ — ein  offenbares  Symptom  ihres  Handels- 
betriebes. Nach  dem  Alter  vertheilt  sind  von  den  selbst- 


ständigen Prostituirten  61,3%  15 — 20  Jahre  alt,  36,6% 
20— 40  Jahre  alt,  von  den  in  Toleranzhäusern  befindlichen: 
80,7  % 15—20  Jahre  alt,  19,2%  20—40  Jahre  alt. 

Dass  die  Zahl  der  jugendlichen  Prostituirten  in  den 
Toleranzhäusern  um  so  vieles  höher  ist  als  unter  den 
selbständigen  „erklärt  sich  einestheils  aus  der  Gewinnsucht 
der  Matronen,  welche  diese  Häuser  leiten;  andrerseits,  aus 
der  Unerfahrenheit  und  der  Mittellosigkeit  dieser  Mädchen, 
die  unfähig  sind,  sich  ein  freies  und  unabhängiges  Leben 
zu  begründen;  ausserdem  sind  die  Lebensbedingungin  einer 
selbständigen  Prostituirten  prekärer“  (p.  23). 

Nach  der  Konfession  gegliedert  gehören  im  Reiche 
an:  der  russisch-orthodoxen  Religion  67,9  %,  der  römisch- 
katholischen  Religion  1 3, 6 %;  israelitisch  sind  6,8%,  protestan- 
tisch 5,9%.  Von  den  russischen  Prostituirten  entfallen  85,6% 
auf  das  europäische  Russland,  1%  auf  Russisch-Polen,  6,2%, 
auf  den  Kaukasus,  5 % auf  Sibirien  und  2,2  % auf  Central- 
asien. Von  den  Polinnen:  29,3%  auf  das  europäische  Russ- 
land, 69,9%  auf  die  Weichseldepartements;  von  den  Israeli- 
tinnen 71,7%  auf  das  europäische  Russland,  25,3  "/n  auf  die 
Weichseldepartements.  Von  den  Deutschen  endlich  ent- 
fielen 85,6  % auf  das  europäische  Russland,  1.1,9%  auf  die 
Weichseldepartements.1) 

Nach  dem  Stande  sind  47,5%  Bäuerinnen,  36,3% 
Bürgerstöchter,  7,2%  Soldatentöchter;  andere  Klassen : 4,7%, 
Fremde:  1,5%,  Adelige  und  Beamtentöchter:  1,8  "/„Händle- 
rinnen und  höhere  Bürgerliche:  0,5%  und  Priesterstöchter: 
0,5°/,.  Die  ersten  drei  Klassen,  d.  i.  die  erdrückende 
Majorität  der  Prostituirten,  gehört  den  proletarischen  Volks- 
schichten an.  Sie  waren  zu  45%  früher  als  Dienstboten, 
zu  8,6%  als  Näherinnen  u.  dergl.  in  der  Arbeit  gewesen. 

Die  Prostituirten  stammen  zu  0,9  % aus  reichen,  zu 
1 5,6  % aus  Familien  mittleren  Wohlstandes;  83,5  % rekru- 
tiren sich  aus  den  Kreisen  der  Armen.  Von  diesen  Un- 
glücklichen haben  77,6%  keinerlei  Unterricht  genossen. 

Nach  zwei  wichtigen  Abschnitten  des  Lebens  ge- 
gliedert zeigt  es  sich,  dass  23,1%  der  Prostituirten  vor  dem 
16.  Lebensjahre,  80,5%  vor  dem  21.  Lebensjahre,  also  vier 
Fünftel  vor  erreichter  Volljährigkeit  und  ein  volles  Viertel 
vor  der  physischen  Reife  ihr  Gewerbe  begannen;  beiläufig 
drei  Viertel  hatten  bis  5 Jahre  darin  ausgeharrt.  Gewaltsam 
wurden  von  ihnen  im  ganzen  Reiche  14,6  u/o,  111  den  Weichsel- 
departements 26  % entehrt. 

Mit  der  Statistik  der  venerischen  Krankheiten  unter 
den  Prostituirten  Russlands  schliesst  die  Publikation.  Es 
ergiebt  sich  aus  derselben,  dass  die  Syphilis  26,1%,  vene- 
rische Krankheiten  31,8%  der  Prostituirten  ergriffen  hatten. 
Höchst  bemerkenswert!!  ist  hierbei  die  Vertheilung  dieser 
Krankheiten  auf  die  in  den  Toleranzhäusern  befindlichen 
und  die  selbständigen  Prostituirten.  Es  herrschten  nämlich: 

Syphilis:  Venerische  Krankheiten: 

in  Toleranzhäusern  ....  27,1  % 34,2% 

unten  denselbständigen.  25,3%  35,3% 

unter  den  selbständigen  grassirten  also  um  1,1  % mehr 
venerische  Krankheiten,  aber  um  1,8u/o  weniger  Syphilis, 
als  in  den  Toleranzhäusern.  Die  Liste  der  Syphilitischen 
schwillt  in  Moskau,  Petersburg  und  in  Sibirien  am 
stärksten  an.  . 

Die  alte  Erfahrung,  dass  zu  vier  Fünftel  die  Prosti- 
tution ein  Resultat  des  sozialen  Nothstandes  ist,  wird  durch 
diese  Angaben  vollauf  bestätigt;  ferner  tritt  noch,  wie 
man  aus  der  von  Soldatenfrauen  betriebenen  Kuppelei  und 
der  von  Soldatentöchtern  betriebenen  Prostitution  gesehen 
hat,  der  schwere  Druck  des  Militarismus  hinzu.  Dass  die 
sanitären  Verhältnisse  in  den  Toleranzhäusern  keineswegs 
bessere  sind,  als  unter  den  selbständigen  Prostituirten,  dass 
dieselben  vielmehr  nur  dem  schmarotzerhaften  Triebe 
einiger  Verworfener  reichere  Nahrung  bieten,  ist  ebenfalls 
hervorgehoben  worden.  So  bleibt  die  Prostitution  wie  so 
manches  Andere  auch  für  Russland,  „eine  schreckliche 
Frage“. 

Wien.  Stephan  Bauer. 

i)  Die  Tabellen  auf  S.  24  und  25  enthalten  mehrere  Irr- 
thürner:  die  „Totais“  sollen  sich  jedesmal  aut  die  nächste  Ab- 
theilung, z.  B.  jenes  für  das  europäische  Russland  sich  aut  die 
Weichseldepartements  beziehen.  Die  Ziffer  2.2  rechts  oben 
sollte  fettgedruckt  sein.  Auch  aut  S.  5,  Zeile  8 von  unten  soll 
es  statt  16  908  heissen:  11908,  und  daher  Zeile  6 von  unten  statt 
1 :0,34  heissen:  0,48:1.  Im  weiteren  Verlaute  sind  jedoch  die 
richtigen  Zahlen  der  Berechnung  zu  Grunde  gelegt. 


44 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3 


Litteratur. 


Nordböhmische  Arbeiterstatistik.  Herausgegeben  von  der- 
Reichenberger  Handels-  und  Gewerbekammer.  Reichen- 
berg in  Böhmen,  1891.  Verlag  der  Reichenberger  Han- 
dels- und  Gewerbekammer.  LV  u.  552  S. 

Statistisch  im  engsten  Sinne  des  Wortes,  d.  h.  also 
nur  die  Ziffer  als  Darstellungsmittel  verwendend,  ist  die 
von  der  Reichenberger  Handels-  und  Gewerbekammer  her- 
ausgegebene „Nordböhmische  Arbeiterstatistik“.  Sie  ist 
ganz  überwiegend  ein  Tabellen  werk,  dem  nur  eine  knappe 
^Einleitung“  zur  Orientirung  über  die  bei  der  Erhebung 
befolgte  Methode  und  einige  sparsame  „Erläuterungen  zu 
den  Tabellen“  beigefügt  sind.  Man  verfolgte  bei  der  Er- 
hebung einen  doppelten  Zweck:  „Einerseits  sollte  sie  die 
Kammer  in  die  Lage  versetzen,  an  der  bevorstehenden 
Durchführung  der  sozialen  Versicherungsgesetze  mit  Hilfe 
eines  anderen  und  besseren  Materiales  als  den  Verwaltungs- 
behörden zu  Gebote  stand,  mitzuwirken;  andererseits  sollte 
sie  im  Hinblick  auf  die  allgemein  empfundene  und  er- 
kannte Nothwendigkeit  einer  Verbesserung  der  statistischen 
Quinquennalberichterstattung  der  österreichischen  Handels- 
und Gewerbekammern  als  Prüfstein  dafür  gelten,  was  auf 
dem  Gebiete  der  Arbeiterstatistik  unter  den  gegebenen 
Verhältnissen  erreichbar  sei“.  Um  nur  bei  dem  in  zweiter 
Linie  hervorgehobenen  Zwecke  zu  verweilen,  so  muss 
anerkannt  werden,  dass  die  Kammer  auf  dem  Gebiete 
der  Lohnstatistik  eine  erhebliche  Leistung  zu  Stande  ge- 
bracht hat.  Für  etwa  100  000  der  Fabrikindustrie  des  Kam- 
merbezirks angehörige  Arbeiter  sind  die  Lohnverhältnisse 
nach  Geschlecht  und  fünfjährigen  Altersklassen,  nach  Be- 
zirken und  Industrieen,  nach  Zeitlohn  und  Akkordlohn, 
nach  der  Grösse  der  Unternehmungen  und  nach  um  je 
50  Kr.  abgestuften  Lohnklassen  zur  Darstellung  gelangt. 
Dazu  gesehen  sich  noch  Mittheilungen  über  die  Stabilität 
der  Arbeiter  in  den  einzelnen  Unternehmungen.  Was  mit 
rein  tabellarischer  Darstellung  und  Ziffern  geleistet  werden 
kann  zur  Beleuchtung  der  Lohnverhältnisse,  das  ist  hier 
geschehen.  Dennoch  wird  das  Werk  nicht  als  eine  irgend 
ausreichende  Grundlage  für  soziale  Reformen  gelten  können. 
Es  gibt  eben  noch  unendlich  viele  Momente,  welche  für  die 
Beurtheilung  der  Lage  einer  Arbeiterbevölkerung  von 
grösster  Wichtigkeit  sind,  und  die  sich  schlechterdings  nicht 
m zahlenmässig  bestimmte  Urtheile  fassen  lassen.  Um  mit 
Carlyle  zu  sprechen:  „Wir  müssen  weiter  fragen:  kann  der 
Arbeiter  durch  Sparsamkeit  und  Fleiss  emporkommen? 
Oder  ist  diese  Hoffnung  ausgeschlossen?  In  welchen  Be- 
ziehungen steht  er  zum  Unternehmer?  Die  Stimmung  des 
Arbeiters,  seine  Auffassung  darüber,  ob  er  gerecht  oder  un- 

i , i i _ T.u  J „ A ^ r*  ~ 


behauptet  werden  kann,  begnügt,  dann  hätten  wir  ein  vom 
Parteistandpunkte  entworfenes  und  verzerrtes  Bild  erhalten, 
für  welches  durchaus  kein  Bedürfnis  vorliegt.  Die  nord- 
böhmischen Industriellen  haben  sich  dieser  Aufgabe  schon 
zu  wiederholten  Malen  unterzogen. 

Freiburg  i.  B.  Heinrich  Herkner. 


1 


-Al  IJCilCl  Oj  oLIllC.  1 luuuooung  vrui  j 'J  ^ w 

gerecht  behandelt  wird,  seine  gesunde  Gemüthsverfassung, 

. 1 ^ TMönniA-nnn-  1 cl  Ci  1 1 1 CV  rv  111  1 IT  <=»  n C ITT  P»  1A  P 1 TV 


UV.llUUCiC.il.  vviivu,  ociAic  — Y 7 . 

seine  Mässigurig,  sein  Gedeihen  in  dem  einen,  seine  peini- 
gende Unruhe,  seine  Unwirthschaftlichkeit,  sein  Brannt- 
weintrinken und  sein  allmählicher  Ruin  in  dem  andern 
Falle,  — wie  sollen  Zahlen  uns  all  das  schildern?“  Wer 
die  volle  Passionsgeschichte  der  nordböhmischen  Arbeiter- 
bevölkerung, ihr  ununterbrochenes  Opfer  fast  auf  allen 
Gebieten  des  menschlichen  Daseins,  wer  ihren  nüchternen, 
ruhigen,  gesetzlichen,  anspruchslosen  Sinn,  ihre  Ordnungs- 
liebe und  ihren  Fleiss,  ihren  Drang  nach  Gerechtigkeit  und 
Bildung,  wer  das  Alles  nicht  aus  anderen  Quellen  oder 
eigener  Anschauung  bereits  kennen  gelernt  hat,  der  wird 
mit  dem  Werke  der  „Nordböhmischen  Arbeiterstatistik“ 
nicht  allzu  viel  anzufangen  wissen:  der  wird  ihm  vornehm- 
lich nur  die  Ueberzeugung  entnehmen,  dass  der  Lohn 
niedrig  in  einzelnen  Industrieen  und  Bezirken  sogar  er- 
bärmlich niedrig  ist,  dass  die  Arbeits-  und  Lebenskraft 
namentlich  bei  Akkordlöhnung  rasch  aufgebraucht  wird, 
und  dass  die  Verwendung  weiblicher  Arbeitskräfte,  obschon 
zur  Zeit  sehr  beträchtlich,  mit  dein  Uebergange  zur  mecha- 
nischen Weberei  einer  noch  weit  grösseren  Ausbreitung 
entgegengeht. 

Und  dennoch,  wir  müssen  der  Kammer  dankbar  sein, 
dass  sie  sich  auf  die  Herausgabe  von  Tabellen  beschränkt 
hat.  Die  Kammern  sind  zur  Vertretung  der  Unternehmer- 
interessen berufen.  Sie  sind  aber  — und  es  wäre  thöricht, 
ihnen  das  zum  Vorwurfe  zu  machen  — nichts  weniger  als 
unbefangene  Beobachter,  sobald  es  sich  um  Angelegen- 
heiten der  Arbeiter  handelt.  Wäre  die  Kammer  zur  Be- 
schreibung der  Zustände  übergegangen,  hätte  sie  sich  nicht 
mit  den  rein  zahlenmässigen  Ermittelungen,  bei  denen  die 
Objektivität  auch  von  einer  Unternehmervereinigung  noch 


Tasclien-Kalender  zum  Gebrauche  bei  Handhabung  (1er  Arbeiter- 
versicherungsgesetze für  Behörden,  Berufsgenossenschaften, 
Schiedsgerichte,  Krankenkassenvorstände,  Rechtsanwälte, 
Aerzte  u.  s.  w.  für  das  Jahr  1892,  nach  amtlichen  Quellen 
zusammengestellt  und  herausgegeben  von  Buschmann  und 
Götze.  4 Jahrgang.  2 Theile,  Mk.  6,25.  Berlin,  Verlag  der 
Liebei  sehen  Buchhandlung. 

Ein  hübsch  ausgestatteter  zuverlässiger  Rathgeber  für  die 
Fragen  des  Arbeiterversicherungswesens,  knapp  und  gründlich, 
durch  Uebersichtlichkeit  sich  auszeichnend,  über  die  reiche  Fülle 
des  Stoffes  rasch  unterrichtend,  kurz  ein  sehr  empfehlenswerthes 
Werkchen,  das  in  den  Händen  keines  Praktikers  fehlen  sollte. 
Werthvoll  sind  die  zahlreichen,  auf  die  Bescheide  und  Ent- 
scheidungen der  massgebenden  Behörden  sich  stützenden  Er- 
läuterungen zu  dem  Texte  der  drei  Versicherungsgesetze,  ferner 
die  lehrreichen  Angaben  über  die  Organisation  der  Alters-  und 
Invaliditätsversicherung.  Es  finden  sich,  um  nur  das  Wichtigere 
herauszuheben,  ferner  die  Landes-Unfallversicherungs-(Aus- 
führungs-jGesetze,  die  Ausführungsverwaltungen  und  -Bekannt- 
machungen zu  den  Unfallversicherungsgesetzen,  Formulare  für 
die  Anmeldung  zur  Unfallversicherung,  für  Unfallanzeigen,  ein 
Wegweiser  bei  Erhebung  und  Durchführung  von  Unfallentschä- 
dio  ungsansprüchen.  Der  als  Beilage  erschienene  zweite  l heil 
enthält  u.  a.  die  Nachweisung  der  Zentralbehörden,  sowie  der 
höheren  und  unteren  Verwaltungsbehörden,  die  Uebersicht  der 
Namen  Sitze  und  Bezirke  sämmtlicher  Berufsgenossenschaften 
i (Sektionen,  Schiedsgerichte)  u.  s.  w.,  die  Nachweisungen  der 
ortsüblichen  Taglöhne  und  des  durchschnittlichen  Jahresarbeits- 
verdienstes für  land-  und  forstwirthschaftliche  Arbeiter  im 
deutschen  Reich. 


Die  Steuerdeklaration  der  Aerzte  auf  Grund  des  neuen  preussi- 
schen  Einkommensteuer-Gesetzes  von  Dr.  med.  Max  Kamm, 
Breslau  Nach  einem  am  22.  November  1891  im  Verein  der 
Aerzte  des  Regierungs-Bezirks  Breslau  gehaltenen  V ortrage. 
Breslau.  Verlag  von  Preuss  & Jünger.  1891. 

Die  sozialpolitische  Seite  der  „Selbsteinschätzung“  (welche 
am  4 Januar  im  ganzen  Umfange  der  preussischen  Monarchie 
begonnen  hat)  zeigt  sich  auch  darin,  dass  die  Erörterung  der  Mass- 
regel  jetzt  vielfach  nach  Berufsständen  vorgenommen  wird;  ein 
deutlicher  Beweis,  dass  der  sozialen  Seite  cles  Steuerwesens  die 
Selbsteinschätzung  eher  gerecht  zu  werden  geeignet  ist,  als  das 
bisherige  Einschätzungsverfahren.  — Das  vorliegende  Schnttchen 
ist  von  einem  Arzte  für  Aerzte  geschrieben.  Ohne  aut  die  steuer- 
technische Seite  der  Frage  tiefer  einzugehen,  stutzt  sich  der 
Verfasser  fast  überall  auf  mein  Schnftchen  über  „die  Selbstein- 
schätzung und  die  geistige  Arbeit“  (Berlin,  Simion,  1891)  Der 
Nutzanwendung  von  den  dort  angegebenen  Grundsätzen  aut 
den  ärztlichen  Stand  kann  ich  mich  (von  untergeordneten  Einzel- 
heiten abgesehen)  anschliessen.  Die  drei  Beispiele  einer  ärzt- 
lichen Selbsteinschätzung,  welche  der  Verfasser  seinem  Schritt- 
chen einverleibt  hat,  sind  in  ihrer  Ausführlichkeit  ganz  besonders 
lehrreich. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Eingesendete  Schritten. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 


Ex  malis  mimina!  Reflexionen  zur  Prostitutionsfrage  von  einem 
Universitätslehrer.  Berlin  W.,  1891.  Philosophisch-historischer 
Verlag.  8T  15  S.  . , .. , , T 

Hielt,  Aug.,  Arb etaref öresä keringskomiten s Betakan de  i 

, ö ’ . i t~» fKv  A rhpf-Qrp  nrr 


Sjuk-,  Begrafnings-  och  Pensionskassor  för  Arbetare  och 


;muk-,  rsegrainings-  ocu  rcuMunsnaMui  . 

Handverkare  T Finland  Statistisk  Undersökmng.  Heisings- 
fors.  Wellin  & Görs’  Aktiebolags  Boktrykri  1891.  gr.  8. 

II  u.  115  S.  . T . , 

Jäger,  Adolf,  P.,  Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Offen- 
barung, in  der  Geschichte  der  Völker  und  im  Irrlicht  er 
Zeit.  II.  Bd.  Neu-Ruppin,  Verlag  von  Rud.  Petrenz.  1891. 

IV  und  295  S.  ......  „ . , 

Käppler,  H Arbeitsverhältnisse  der  Müller  Deutsch- 
lands. Nach  statistischen  Quellen  bearbeitet.  Altenburg, 
1891.  Selbstverlag,  kl.  8'.  70  S.  . 

Vandervelde,  Emile,  Les  associations  professionnell 
d’ar tisans  et  ouvriers  en  Belgique.  Bruxelles,  189  1, 
Imprimerie  des  travaux  publics.  gr.  8 ',  I,  X und  259  S.,  u, 
199  S 

Wurm,  Em,  Die  Naturerkenntniss  im  Lichte  des  Dar- 
winismus. Dresden,  Verlag  von  R.  Schnabel.  1891.  8 . 19-  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 


Berlin,  den’ 18.  Januar' 1892. 


Für  den  Anzeigenteil  sind  die  Redaction  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Anzeigen-Aimahxnestelle  nur  bei 
S Dr.  Otto  Eysler,  Berlin  SW.,  Charlottenstrasse  11.  Preis  für  die  3 spaltige  Colonelzeile  40  I f. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung  in  Berlin  SW.  48. 


ARCHIV 


für 


SOZIALE  GESETZGEBUNG  UND  STATISTIK. 

Vierteljahresschrift 

zur  Erforschung  der  gesellschaftlichen  Zustände  aller  Länder. 

In  Verbindung 

mit  einer  Reihe  namhafter  Fachmänner  des  In-  und  Auslandes 

herausgegeben 

von 

Dr.  Heinrich  Braun. 

Das  Archiv  erscheint  in  Bänden  von  ca.  40  Druckbogen 

Lex.  8°.  in  4 Heften. 

Band  IV. 

Abonnementspreis  pro  Band  M.  12. — . Einzelne  Hefte  M.  4.  — . 

Abonnements  nehmen  alle  Buchhandlungen  Deutschlands  und  des 
Auslandes  sowie  die  Verlagshandlung  und  die  Postanstalten  entgegen. 
Auch  ist  jede  Buchhandlung  in  der  Lage,  die  bisher  erschienenen  Bände 
resp.  Hefte  zur  Ansicht  vorzulegen. 

Probehefte  stehen  auf  Wunsch  gratis  und  franco  zu  Diensten. 
Uitln'r frfje  Bttdifjanblung  in  Berlin  SW.,  Be  (Tau  er  1fr  afp  19. 

$<tf  (freit 5 I<t  leider 

31111t 

{Stand) £ Im  ianöljatmna  Her  lüifitcriu'ilulicniiiihötlilsf 

(Äraitfen*,  Unfalls  ^ubatibitäte;=  unb  2Utcr§üerft^crunfl) 

für  bas  Halm  1892  nad)  amflirim  JBueIIeu  julammengtPElIt  unb  bucawfp&btn  mm 

^nfdimnnn  WSfyt 

854  ©eiten,  ^reis  { II.  ccmouiüvt  JJDh  6.25. 

3m  Verlage  0011  (öcorg  9tciuiev  in  «erlitt  erteilten; 

f miBifdje  Saljtüüdjct. 

*£>erau3gegel)eu 
uon 

|aits  3>eüiritdt. 

(Monalafdirift  für  Politik,  ©EftfndjiE,  BunP  unb  Xiteratur.) 
aap“  Ü3iuu«t(id)  ein  £eft.  *Wä 

53iau  abottnivt  kalbjälpttd)  für  9 531arf  bei  allen  33ud)l)anbliitigeii  unb  fßoftämtern. 


Verlag  mm  Dunrftev  & jfumbtof  in  Seip^ig 

©Borg  SriEtiritfi  Knapp,  ©ie  Sanbarbeiter 
in  itnedjtfdjaft  nnb  gmljeit.  Slier  «otträge. 
1891.  $reid  ca.  2 5)1. 

BEtnrirfi  ©Erkner,  ©ie  fociale  Slieform  alb 
©eüot  Des  tut rt  1) ’ d) n f t lictjcn  gortfdjrittd.  1891. 
fßreid  2 531.  40  $ßf. 

©tf jriffen  örs  ©rrrtna  für  ©ürialpolitih. 
49.  Jöanb:  ©ie  paubelopolitif  ber  luidjitgereii 
Shilturftaaten  in  ben  leiden  3,.l)rjel)nten  1. 
ibanb.  St.  u.  b.  Sie  .fjaitbeldpolittf 
5lorbamerifad,  Sinkend,  Defterreidjd,  33el= 
gieitd,  ber  Dheberlanbe,  ©öiiemarfo,  ©djioe* 
beud  unb  Dlorioegend,  dlufpanbd  unb  ber 
©djineij,  fomie  bie  beutfdje  .püiibeldftattftif 
oon  1880  l'iö  1890.  Jlreis  13  531. 

— ©affelbe.  50.  löanb:  ©ie  Ämubeldpolitif  ic. 
2.  «anb,  31  n.  b.  £. : ©ie  3öeeu  ber  beut= 
fdjeu  Jpanbeldpolitif  mm  1860 — 1891  33om 
Sßrof.  Dr  B)alfffrr  Xu  fr  in  53iüitd)eu.  ißreis 
4 531.  60  5ßf. 

©Ermann  Xofrfr,  5latiouale  ißrobnftion  unb 

s nationale  iBerufdglieberiutg.  1891.  ißreid 
6 531. 

BL  ü.  b.  Dlirn,  ©ie  gadjuereine  unb  bie 
fociale  ^Bewegung  in  Rrantreid).  ©onberabbr. 
and  ©cijmoilerd  Sta'bud)  1891.  J3reid  2 531. 

II.  (Suttenlag,  Slerlagdbudpiaubluug  in  JBerliu. 


<Da<3  SKedjt 

ber 

Bvlu'itnlu'vfulimimj. 

gür  Sbeorie  unb  ißrajid  fpftematifd)  bargeftetlt 

Ü011 

Dr.  Ahcittcid)  Plofin, 

mi>.  ’pvof.  ji’tr  ©taatssredjt  imö  öentnücs  Oiedjt  a.  b. 
Uiuuei fität  Jrcibuvii  i.  Sö. 

©rfter  23anb: 

®ie  reid)srecf)hi(f)en  ©runblagett  ber 
'Jlrbeitcrüerfidjeruiig. 

(gifte  unb  jmeite  Slbipeilung.  8".  9 531.  50  Jif. 

©ad  gefammte  SBerf  mirb  in  3ioei  Söäube 
3erfatlen,  oon  beuen  ber  erfte  „bie  retd;srec±)t= 
ltdjeu  ©rnnblageu  ber  Slrbeiterüerfid)erung'' 
befrmbeln,  ber  jtoeite  aber  ut  brei  ©peilen  bie 
•drunten--,  Uufaü=,  fomie  bie  Suoaltbitätö*  unb 
3llterooerfid)eruug  jur  (SinaelbarfteUuug  bringen 
fall. 

ii  c b ft  51  n d f ü 1)  r n u g d b c ft  i nt  nt  u n g e u . 

= ©EUEpE  Japung  t)E8  ©EfE^ES.  

©ejLStudgabe  mit  Stumerfnngen  unb  ©aefrregifter 
0011 

©.  ^fr.  «erger, 

iReiiiermui§vail). 

(5  l f t C 2t  1t  f I rt  fl  c. 

Safdjenformat;  cart.  1 531.  25  43f. 
Antiquarische  Lagerkataloge : 

No.  255.  Geschichte  und  Literatur  der 
National-Oekonomie  bis  Adatn 
Smith. 

No.  264.  Geschichte  und  Literatur  der 
National-Oekonomie  von  Adam 
Smith  bis  zur  Gegenwart. 

No.  278.  Socialwissenschaft.  Socialismus 
und  Kommunismus,  Grundeigen- 
thumsverhaltnisse,  Geschichte  d. 
Arbeit. 

Joseph  Baer  & Co. 

Buchhändler  u.  Antiquare. 

Frankfurt  a./Main. 


Smrcf)  {ebe  «8ucf)hanblung  au  beäiet)en  : 


fie  pp 

lniferer  foplüciiiolmitiE. 


9tad)  nmtlidjctt  Studien  eutl)«Ut 
«nb  tmöerlcgt 


xjou 


Dr.  D rttlö  § l tt Ml 

28  23ogen,  get).  2 «Dicu'f. 


I.  Sie  Siigen  unserer  (Sogialbemolratie. 

II.  ®ic  ©ntroid'elimg  nuferer  ©ogialbemo» 
fvatie  unb  ihrer  Pefyre  noit  1863— 1891.  - 

III.  Sie  Iommunil'tifche3»funTt^9eleU|chatt 
unferev  ©oaialbemofratie.  — IV.  Sie 
«Baterlcmbsltebe  nuferer  Soaialbemonatte. 
— V.  Ser  gefehlte  ihm  unlerer  ©0,3101= 
bemofraten.’  — VI.  Sie  Religion  nuferer 
©oxialbemofraten.  — VII.  Sie  2lrbeiter= 

freunblicl)feit  nuferer  ©ogialbemotratie. 


(£.  3$.  Berit*  ftftc  Bniagsburfjfranblnrtg  (Baftar  Berit)  in  HBimri)en. 


3n  unferem  S3erIoge  ift  erfdjienen: 

fT  + Qtitrpoäirdier  q^cltlndifghalcntici-.  Diene  golge.  ©edjiter 

*&U)  UltljCSB  Jahrgang.  1890.  (Ser  gaujeu  JHeifje  XXXT.  Sonb.)  heraus« 

gegeben  po’n  tprofDr.  ^angSdbrncf.  «Preis  gei).  8 3)1.  Grf<$eiiit  alljährlich-  3al)rgaug 

1891  erfdjeiut  im  gebrnar  1892 


iinHorUTüit  Sofbud)ti.,  ftrnpcrt, 

in  ü&Siewar. 


ßomptete  Grpt.  ber  früheren  Sa&rgänge  biete«  B 0 1 i t i f e r n u u c 11 1 b e I)  r 1 i d)  e n b e 1 ü t|  m t e n 3 a f)  r b u d)  ä 
werben  neu  cintretenben  Stbonnentcn  ju  ennä&igtem  »reife  geliefert. 


ferner: 

I>r.  ID.  ZrHcv, 


Jntraliftitätg-  unb  Bltn-gfrctrtrfiertmaeflddl  ^om 
.75  Hutti  1889.  3 in  e 1 1 e ooüftänbig  um  fl  e a r b e 1 1 1 1 e 
2tnl)ang, 


«Potlaugdbefaunt* 


cjro&f).  tjeff.  91egienmgSrat:  5;iii(Uige  lltit  einem  2lul)01\g,  bie 

madjungen  be3  33uubc3i*cit3  eutfjciltenb.  Äcivt.  1 ÜM»  BO 

BvbEilcrVdntltocVfll  f«r  bad  beutfdje  «Reich  com  1.  Suni  1891  («RooeUe 
ui  Sit.  vü  ötr  ©eioerbeorbunug).  SejtauSgabe  mit  (Einleitung,  erlöuternbeu  Dlnmerfnngen 
unb  Stieg  ift  er.  8V2  33og.  ÜEart.  1 «Dt.  20  tPf- 


Spcrber’jche  Sjerlagbljonbluttg,  grdbutitiin  'äieisgau 
©neben  i|t  erfdgenen  unb  bnrd)  alle  23ud)t)onblungeu  jn  beziehen: 

(Üatljrein,  ©.,  S.  J.,  ^ocialisntus. 

6inc  Unterfndjung  feiner  ©ntublagen  uufe  feiner  ®ur<$füf)rbarfe!t. 

jjinflE,  mit  BmirfUuidigmtg  bes  (Srfurier  Programms  bebeulenb  orrmrhrte  Bupage. 

— IT  I ! ’ ^ "vm  ..  r\r»  !?Z.  \ «Y>  1 ßfl 


(«Rennte«  unb  aehnteg  Soufenb.)  8U.  (XVI  u.  198  g> ) DR-  1 60. 


3.  flanttentaq.  BeulaggburijljanMung  in  Berlin. 


(Suttentag’fcfye  Sammlung 

Dculfdicr  Kcid)S0tf4e  unb  Piciifiifd)«'  OMcljt. 


fefOtagalien  mit  ^nmerfmngßn. 


üfafdienfnrmat,  fcartmmirt. 


jpetttfdje  JUtdjööeM«* 


1.  ©ie  Schaffung  be§  ©entfdien i*«äp|f80"  lJr 
oon  fHbnne.  <S-eci)fte  Auflage.  1 25  4-T* 


straf geiofeb .. d»  für  baS  ®>utfd)c ^cttb  mU  Sen 

aebvaucblidiftcn  >>.cid)SitraTac  efetn.  J '■  -• 

jftuborff.  gunf}et)nte  Sluftage.  1 SKf- 


99!ilitdr=$traf(icfcfebud)  für  b J |fciy’ 

oon  Dr.  &.  SRübovff.  Streite  Stuftage  oon  M.  r. 
@olni3.  2 2Jif. 


sjliiacuic  nee  Ü'cutfdice  Jpaitbctegcfctetmdi.  unter 
SJlfcbluS  brt6w^ä.  ®o.«  8-  St“ bauet,  siebente 
Stuftage.  2 23tt. 


5.  Sttlg  meine  Xcutfdte  aScdifelorbnunfl 

©.  Sordjarbt,  ©ecljfte  Stuftage ^pou^ 6.  Italt,  unD 


oon  Dr. 


15.  Weriditcfoftcngcf.^  unb  ©ebütirenorbnunfl .für 
©eriditeooUjictjer.  ©cbüljrcnprPnnng  für  3eu- 
acn  ui  b Sadioerftanbige.  föiit . SVoftcntabcUen. 

Sou  91.  ©Dboio.  SSierte  Sfiiftage.  80  '(St- 

16.  9{ed)ts.unraltsorbnung  für  bae f®eutfdic  9Jcid). 

SGon  91.  ©i)boui.  3»cltc  Stuflage  50  'fit- 

17.  We l) ü I) renorb n tut a für  3ieditsanttJältc.  SSen 
!R.  ©ijboro.  Eritte  Stuftage.  6J  '4>t- 
Xaö  ®entfdic  SRcicüSgefeb  über  bie.  'Reid)ö= 
ftcii'Uetabgabcn  in  ber  Raffung  beä  ©eiefee»  boiu 
29.  SJfcti  1*5&5.  S9firfenfteuergefej.  SSou  33.  ©aupp. 
3,/4.  Sluftage  ergiin.t  bt3  1890.  2 331t 
Sue  Seeaefetjgcbnn  i bee  Tciitfdicu  9icidice. 
ton  Dr  jur.  fc  S.  K u i Ift)  t * 3 SUf f. 

20  Wefcfee,  betreffenb  bie  Ärantcnoeifidicrunfl.ber 
Sib«tei.  Won  ®.  oon  SBoebtte.  ©ritte  Stuftage 
1 O.l 1 1.  20  ij}f. 


B 


18 


19. 


21. 


atc^fcUteu  pelfteiicrüc^^^  « et) ?'t  'iO. ctirf o 1 ft c m 

ftcuertarif  oon  S.  ©aupp.  ftunrte  Stuftage.  2 3311. 
6.  s3{cid)-Wemerbe=Orbnun9  mit  ^en  fftr  ba«  «teUJj 
ertafieneu  Slu«fübrung«beftimmuuaen.  Dleuejtc  nanuiui 
"eä  ©efefee«.  Hon  4.  $£  23erger,  SHegievungsra.t). 
felite  Stuflage.  1 Stßt.  25  Sßf.  . 

7 5^ie  ©eutidic  %'oft--  unb  Se(egrapt)en=feeH't5= 

aebuna  33ou  Dr.  V ©.  Sü^er.  ©ritte  Auflage. 
2 Vit  50  Sßf.  , ... 

8 T'io  W fetse  über  ben  Unterttutningewobnuei 

über  S3  nbe«-  unb  @taat8ange^ötigfeit  unb  Rreijuatgteit. 

SSou  Dr  3-  Äred).  Stoeite  Slurtage.  2 JJtt. 

9a  Sammlung  flcinercr  pvioatredtttidicr  91cid)c-= 
geietje.  tlrgäujuugäbaub  ju  ben  tm  3. ^ ©uttentag  idjen 
leidige  etidiienenen  ©injel  SluSaaben  beutlet  Ouidjä- 
gefetje.  »on  g.  »lertjau«.  2 SUit.  25  Pf. 

9b  Sammlung  flcinercr  iWeidiegcfetec  jtrafredit; 
lidien  3n batte,  ©rgänaungobaub  ju  beu  im  3.  ©litten. 
ISgi^u  actlage  erfdneiieneu  bin3et  |u.3gabeu  beutfd;ei 
9icicbSgefc&e.  3>ou  9)1.  iKcrnei.  1 ÜJlf.  8 4>T- 
10.  ©ae  91  e i di e b e a 111 1 c n g e f e fe  °om  ?hP}  $ Im 

Sluftage  oonlB.iuvnau,  SReidjägeviditä.att).  ^ JJit. 40  bt- 

11  (^tuthjroAcfeovimiuiö  wiit  (öcrldjtöucvfüffutii  ö* 

2 9)1  f.  50  bi- 


i y.ii  1.  m ipy. 

©ic  tlonf.  largefcfegebung  bce©eutfd)cn91cidice. 

33on  Dr.  bbilipp  3«tn-  4 soit- 


22.  •l  atentgeicis.  «efetj  über  991  ufter=  unb  WobclD 

fdmfe.  ©c»cfe  über  s33i arf enf d)U^»  3?cb|t  3tiio- 

füfjrungSbeiiimmungcn.  33ou  $.  bb-  'Bevger.  dritte 
Stuftage.  3n  SSovbeveitung. 

23.  UnfallweriidiC'  «ngegefefe  oom  6.  3uli  m unb 
(Seiet?  übe.  bie  Vluebebnuna  ber  «nfaü-  unb 
,tl ran f eu ocritdierung  nom  28.  bla  1885.  ^on 
©.  non  SBoebtte.  »texte  Stuftage.  2 9Jft. 

24  9icidiegefct5,  betreffenb  bie  .(VommanbitgcfelD 
fdiaften  Auf  «ItHcn  unb  bie ^«lcn«efeM*«rteii. 
»01t  & iS  eg  fi  11  er  unb  Dr.  fj.  ».  St  in  0 n.  glitte  Juf- 
Tage.  1 9)tf. 


tuvje.  j.  -'-/v*- 

25.  ©ae  ©cntfdjc  9leidiegcfe>  megen  ert)ebi.ng  ber 
itrauftcucr  boiu  31.  blat  1872.  »on  L.  ^ er 


r 1 1)  0. 


1 aut.  6°  bi.  ...  vn,  « 

26.  ©ie  9icidK-gcfct?gcbung  über  9Jluni=  unb  tgnf- 
mefeu,  b'av'ieractb.  'Vramteurut ptevc  unb  liVdie- 
anleibcn.  »011  Dr. 91. S 0 d).  Sroeite Stuflage.  2 ))».  40  bf. 

27.  ' ' 


©ic  ©efefegebnug  betr  bge  © ; ■ i 1 1 1 ib 0 Iie i . orn e f e t t 
i»Ä  9!cidi.  bau  Dr  jur.  G.  ©oefd,  unb 


Dr.  med.  3’.  Star  fielt.  1 3)1  E.  60  bf. 

28.  ©eiet?,  betreffenb  bie  Ititfatloerfidierung  bcr  bet 
93 nuten  befdiaftigten  b'enoncu-  .oom  ..gilt  1887. 
üBon  Sco  9Ji u g b a n.  1 tUif-  25  +>y. 

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29.  ©efefe,  betreffenb  bie 

f d) n f t c- g e n u 1 1 e ttfdi a f tc it.  bom  I.  lUat  i«»).  o 
g.SBartiiuä.  »terte  Stuflage.  1 9)lf.  2o  bl- 


©ic  93crfnffttttg«=Urfuttbc  für  ben  9Jreu6ifAei 
Staat  So“  Dr.  Stbotf  Strnbt.  ßmeite  StufTage., 
2 9Jlt. 


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bic  toiditigfteti  S9camtengcte0e  m »reuBeu.  _ blit^fut jen 


oie  totiDtiqiten  'oeamieiiiyeieyc  u , .y 

Sliimerfungen  einem  djronoloaddjen  ^eneidyntB  oer  ab- 
qebrurften  ©efefec  tc.  älort  © bjafferott).  3n»-tte 
neubedrbeitete  'iltiflage.  1 50  s}>f. 


©gö  ''Drctt nifdic  ©efc^i  b tr.  bic  3'l,l*ngbot’ti- 
flrecfung  in  Zä  wnb  mcalidie  Vermögen  oom 

16  3utt  1883  unb  aUen  »ebengeiehcn.  »ou  Dr. 
3 Jnedt  tittb  Dr.  O.  Sfifdier.  3»«'ti  Sluftage. 
1 9)1 1. 


©ic  tprcitfiiidicu  ©efctec,  betreffenb  ba8  9lotariat 

in  beit  SanbeSt -ctlen  beä  gemeinen  »editä  mb  W 
Canbrcdjtä.  groeite  oerimberte  Sluftage  fieiauägegeben 
non  91.  ©t)bon>  unb  St.  ©ellroeg.  1 SD1E.  60  4S|. 


©ab  ©efefe  «out  24.  SCpril  1854  (betr  bie  auwr. 
ehetidje  ©djioängerung)  unb  bie  ba  eben  gettenben  Se- 
ftimuiiing  n beä  StUg.  Öanbrecbtd  uebfl  ben  ba\u  ergangenen 
»räiubitaten,  ber  Öitteraturic.  »ott  Dr.jur.§.  ©d)  u Ij.. 
76  »f.  1 


’SÄ?»" 

91.  gijboir.  groeite  Auflage.  2 sDcr. 


uttfc  s^cr= 

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Dlttgemcinc  ©criditeorbnuttg ; für  bie  sV«u^t-- 
fdien  Staa  en  oom  >.  3fult  1794  unb  4>u 


. - .reufti  Ac 

9)!ai  1855.  »oh 


Sx o tt f röo.bnung  «pm  s. 

5-.  »iertjauS.  2 9)1 1.  50  »f. 

Tt..-  93ormunbfdiafto=Orbuun ' oom  5.  3'tti  1875, 

Sbit  bat  batu  eriafietten  Slebengefen e„  unb  Uge 
meinen  »erfiiguugen.  »on  »lay  ©djulfcenftem. 
l 9Jlf.  20  »f. 

©ie  HH-e-  fiiidic  ©runbbudigcfeügebung.  Botr 

|«f.  Dr.DSifdjer.  1 9J1E.  20  »T- 


10. 


15  yjeu  uu  . 

SBoebtte.  SSierte  Stuflage.  2 9Jlf. 

61  9!eidiogefet? , betreffenb  bie  ©ewerbegeria)  c. 

'Uom  29'  3uti  1890.  »on  2eo  9)1  ug bau.  2.  lluägabe. 
1 ü)it.  25  »f. 


13.  Sion f u rö o rbnung mit ©i n füi r u vgegeict?, 91  beu= 
ae  eben  unb  Graauäungcn.  »on  Ji.  otjooio. 
»ierte  Sluftage.  80  »T. 

14.  W-  ridit ■«crfaifuugogciet?rüvbtto icutidn' -ietd). 

»on  91.  ©tjbotn.  fünfte  Sluftage.  80  Bf. 


tage.  1 9)l£. 


11. 


©cmorbefteuergefeB  für  bie  '4>rcti|if*c  9)1  o 
uovdiic.  »on  fRegieruugäratt)  St.  Sfernom.  80  4. 1- 


■Verantwortlich  für  Änzeigentheil : I)r.  Otto  Eysler  in  Berlin.  - Druck  von 


H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  25.  Januar  1892. 


Nummer  4. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


T.  Guttentae,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  viertel,]  ähr  lieh  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Amtliche  Untersuchungen  so- 
zialer Zustände  in  Deut- 
schland. Von  Dr.  H.  Braun. 

Soziale  Wirthschaftspolitik: 

Reform  der  Gewerbeordnung  in  der 
Schweiz.  Von  E.  Naef. 

Auswanderungsgesetz  für  Deutsch- 
land. 

Arbeiterzustände: 

Ueber  die  Abnahme  der  Arbeits- 
kraft. Von  Dr.  N.  Brückner. 

Erwiderung.  Von  Professor  Dr. 
H.  Herkner. 

Löhne  im  Wiener  Schmiedege- 
werbe. 

Zustände  im  polygraphischen  Ge- 
werbe in  Frankfurt  a.  M. 

Hamburger  Arbeiterkinder. 

Arbeiterverhältnisse  in  den  preussi- 
schen  Staatsgruben. 

Arbeitslosigkeit. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Der  steirische  Bergarbeiterstrike. 
Von  Dr.  Leo  Verkauf. 

Das  Ende  des  Buchdruckerstrikes. 
Von  Dr.  Adolf  Braun. 

Politische  Arbeiterbewegung. 

Die  Sozialdemokratie  und  die 
Strikes. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe. 


Arbeiterversicherung: 

Der  Entwurf  eines  österreichischen 
Hilfskassengesetzes. 

Zur  Statistik  der  deutschen  Alters- 
und Invaliditäfsyersicherimg. 

Zum  deutschen  Unfallversicherungs- 
gesetz. 

Die  Unfall-  und  Krankenversiche- 
rung in  der  Schweiz. 

Zur  deutschen  Krankenkassen- 
novelle. 

Unterstützungskasse  der  west- 
fälischen Bergleute. 

Die  österreichische  Krankenver- 
sicherung i.  J.  1889. 

Gewerbegerichte,  Einigungs- 
ämter u.  Arbeiterausschüsse: 

Gewerbliche  Schiedsgerichte  in  der 
Schweiz. 

Gewerbegerichte  für  Bergleute. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Schlafstellenwesen  in  Berlin. 

Soziale  Hygiene: 

Der  Entwurf  eines  Gesetzes  zur 
Bekämpfung  der  Trunksucht  in 
Deutschland.  V 011  Dr.  M.  Q u a r ck. 

Aeusserungen  zum  Trunksuchts- 
gesetz-Entwurf. 

Zur  Sittlichkeitsgesetzgebung. 

Ortsgesundheitsräthe  im  Grossher- 
zogthum Hessen. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Amtliche  Untersuchungen  sozialer  Zustände 
in  Deutschland. 

I EBB BgM Wm 1 1 S I 

Der  immer  fühlbarer  werdende,  mit  grösster  Peinlich- 
keit empfundene  Mangel  einer  deutschen  Sozialstatistik 
hat  dazu  geführt,  dass  in  der  letzten  Zeit  zwei  auf  dieses 
Ziel  gerichtete  aus  der  Initiative  mehrerer  Abgeordneten 
hervorgegangene  Anträge  im  Reichstag  zur  Verhandlung  ge- 
langten, und  auch  Seitens  der  Regierung  ein  Plan  entwickelt 
worden  ist,  um  endlich  einen  Zustand  zu  beseitigen,  welcher 
der  Gesetzgebung  und  Verwaltung  aui  Schritt  und  Tritt 
Hemmnisse  bereitet  und  im  öffentlichen  Interesse  schlechter- 
dings länger  nicht  aufrecht  erhalten  werden  darf. 

Am  9.  Dezember  v.  J.  diskutirte  der  Reichstag  den 
von  den  Abgeordneten  Auer  und  Genossen  eingebrachten 
Gesetzentwurf  betreffend  die  Einsetzung  parlamentarischer 
Untersuchungskommissionen,  am  13.  Januar  d.  J.  kündigte 
der  Minister  von  Bötticher  die  Bildung  einer  Kommission 


für  Arbeitsstatistik  an,  und  in  der  Sitzung  vom  20.  Januar 
berieth  der  Reichstag  den  vom  Abgeordneten  Siegle  ein- 
gebrachten Antrag,  betreffend  eine  statistische  Aufnahme 
über  die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  und  acceptirte  den- 
selben mit  grosser  Majorität. 

Der  Gesetzentwurf  der  sozialdemokratischen  Abge- 
ordneten verlangt  einen  Zusatz  zur  Verfassung  des  deut- 
schen Reiches,  wodurch  der  Reichstag  das  Recht  erhalten 
soll,  behufs  seiner  Information  Kommissionen  zur  Unter- 
suchung von  Thatsachen  einzusetzen.  Diesen  Kommissionen 
stände  die  Befugniss  zu,  Zeugen  und  Sachverständige  — 
auch  eidlich  — zu  vernehmen  und  alle  diejenigen  Er- 
hebungen zu  veranstalten,  die  sie  zur  Klarstellung  der 
Thatsachen  für  nöthig  erachten.  Die  Behörden  würden 
verpflichtet  sein,  jenen  Kommissionen  innerhalb  der  Grenzen 
ihrer  Aufgabe  Unterstützung  zu  gewähren. 

Die  hier  geforderten  gesetzlichen  Bestimmungen  finden 
sich  mit  geringeren  oder  grösseren  Modifikationen  in  der 
Verfassung  zahlreicher  europäischer,  auch  speziell  in  der 
mehrerer  deutscher  Staaten,  wie  Preussen  und  Sachsen. 
Der  Antrag  hat  auch  bereits  einmal,  allerdings  nicht 
in  der  gegenwärtigen  durchgebildeten  Gestalt,  dem  nord- 
deutschen Reichstag  Vorgelegen  und  wurde  am  5.  Juni  1868 
verhandelt.  Seine  Ablehnung  erfolgte  damals  nur  aus  dem 
Grunde,  weil  trotz  allseitiger  Anerkennung  der  Berechti- 
gung des  Antrages  eine  Verfassungsänderung  zu  jener  Zeit 
als  inopportun  bezeichnet  wurde. 

Prinzipiell  genommen  scheint  uns  das  Recht  zur  Vor- 
nahme parlamentarischer  Enqueten  zum  Begriff  gesetzgebe- 
rischer Entscheidungen  ebenso  zu  gehören,  wie  die  prozessuale 
Beweiserhebung  zum  Begriff  richterlicher  LIrtheile.  In  der 
Diskussion  des  Reichstags  ist  hervorgehoben  worden,  dass 
ihm  auch  ohne  Verfassungsänderung  faktisch  bereits  heute 
das  Recht  zustehe,  Sachverständige  zu  laden.  Wie  dem 
nun  sei,  sicher  ist,  dass  dieses  Recht  ein  wirksames  nur 
sein  wird,  wenn  es  genau  umschrieben  und  mit  all  den 
wichtigen  Kautelen  umgeben  ist,  die  seine  nützliche  Hand- 
habung sichern.  Es  ist  bekannt,  dass  ganz  besonders 
in  England  die  Praxis  parlamentarischer  Untersuchungen 
sich  eingebürgert  hat,  und  dass  an  den  fruchtbaren  Wir- 
kungen, welche  für  die  Gesetzgebung  und  das  gesammte 
öffentliche  Leben  sich  ergaben,  neben  dem  Charakter  des 
englischen  Staatswesens  gerade  die  Grundsätze,  aut  denen 
dort  jenes  Verfahren  beruht,  den  grössten  Antheil  haben. 

Die  englischen  Eintersuchungen  dieser  Art,  die  zum 
Theil  von  parlamentarischen  Untersuchungskommissionen, 
zum  Theil  von  königlichen  auf  Vorschlag  der  Minister  ein- 
gesetzten Kommissionen  ausgehen,  kennzeichnen  sich  im 
Allgemeinen  durch  den  Geist  einer  grossen,  von  engherzigen 


46 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  4. 


Parteiansichten  freien  Objektivität,  mit  welcher  sie  ihre  Aut- 
aabe  durchzuführen  suchen.  Ein  werthvolles  Korrektiv 
o-egen  die  Möglichkeit  einer  unvollständigen  oder  befange- 
nen Art  der  Untersuchung  besteht  in  der  Oeffentlichkeit 
und  Mündlichkeit  des  Verfahrens.  Die  Kommissionen  sind 
in  der  Regel  so  zusammengesetzt,  dass  die  verschiedenen 
Parteien  vertreten  sind.  Dadurch  ist  von  vornherein  dafür 
Gewähr  geleistet,  dass  eine  genügende  Zahl  sachkundiger 
Zeuo-en  vor  die  Kommission  geladen  und  das  V erhör  in 
gründlicher  und  gewissenhafter  Weise  vorgenommen  wird. 
Die  schrankenlose  Oeffentlichkeit  und  das  dadurch  an  den 
Verhandlungen  wachgerufene  Interesse  aller  Betheiligten  in 
Verbindung  mit  dem  Grundsatz,  dass  jeder  freiwillig  sich 
meldende  Zeuge  regelmässig  auch  verhört  wird,  bewirkt 
ferner,  dass  unbequeme  Ansichten  nicht  unterdrückt 
werden  können.  Endlich  garantirt  die  den  Untersuchungs- 
kommissionen zustehende  Gewalt,  Jedermann  zur  eidlichen 
Aussage  und  zur  Vorlegung  dokumentarischer  Beweismittel 
zu  zwingen,  eine  rücksichtslose  Klarstellung  der  \ er- 
hältnisse. 

Der  dem  Reichstage  vorliegende  Gesetzentwurf  dei 
sozialdemokratischen  Fraktion  ist  mit  Recht  der  englischen 
Einrichtung  nachgebildet  worden  und  enthält  in  der  Haupt- 
sache die  nothwendigen  Bestimmungen  zu  einer  gedeihlichen 
Funktion  parlamentarischer  Untersuchungskommissionen. 
Empfehlen  würde  es  sich,  bei  der  bevorstehenden  zweiten 
Berathuno-  die  Bestimmung  in  den  Entwurf  aufzunehmen, 
Zeugen  vor  ungünstigen  Folgen  ihrer  Aussagen  gesetzlich 
zu  schützen.  Der  Mangel  einer  solchen  Sicherstellung  hat 
sich  in  Holland1)  gelegentlich  der  dortigenEnquete  bemerkbar 
gemacht,  und  er  würde  in  Deutschland  sicherlich  auch  in 
derselben  Weise  zur  Geltung  kommen. 

Im  Interesse  eines  fruchtbaren  Ergebnisses  der  ge- 
setzgeberischen Thätigkeit  überhaupt  und  einer  glücklichen 
Weiterentwickelung  der  sozialen  Gesetzgebung  insbesondei  e 
muss  der  dringende  Wunsch  ausgesprochen  werden,  dass 
dem  Reichstag  das  Recht  zur  Einsetzung  parlamentarischer 

Untersuchungskommissionen, welches  ersieh  mit  der  Annahme 

des  besprochenen  Gesetzentwurfes  vindiziren  dürfte,  nicht 
verschränkt  werde  und  ihm  die  Möglichkeit  unbenommen 
bleibe,  sich  aller  jener  informatorischen  Hilfsmittel  zu  be- 
dienen, die  er  für  seine  Wirksamkeit  nöthig  erachtet. 

Insbesondere  müsste  es  bedauert  werden,  wenn  die 
Regierung  die  Ansicht  vertreten  sollte,  die  von  ihr  geplante 
Kommission  für  Arbeitsstatistik  mache  parlamentarische 
Enqueten  entbehrlich.  Von  jener  Kommission  lasst  sich 
nach  den  bisherigen  Mittheilungen  der  Regierung  eine  ganz 
deutliche  Vorstellung  noch  nicht  gewinnen.  Aber  selbst 
für  den  Fall,  dass  ihre  Organisation  und  Zusammensetzung 
durchaus  befriedigend,  ihre  Machtvollkommenheit  gross 
o-enug  und  die  Ergebnisse  ihrer  Arbeiten  so  vortrefflich 
ausfallen  sollten,  wie  die  Untersuchungsresultate  guter 
englischer  Ausschüsse  in  ihrer  Art  waren,  so  erschiene  jene 
Kommission  für  Arbeitsstatistik  doch  nur  als  eine  willkom- 
mene Ergänzung  der  vom  Reichstage  geforderten  parla- 
mentarischen Kommissionen. 

Wir  haben  die  Vorzüge  der  englischen  königlichen 
und  parlamentarischen  Untersuchungskommissionen  so  leb- 
haft hervorgehoben,  dass  wir  gerechterweise  auch  auf  die 
Schatten  neben  dem  vielen  Licht  hinweisen  müssen.  Jene 
Kommissionen  waren  im  Ganzen  genommen  der  stärkste 
Hebel  zur  Fortbildung  der  Gesetzgebung,  speziell  auch  der 
Arbeiterschutzgesetzgebung.  Aber  man  kann  nicht  leugnen, 


>)  V er o-l  O.  Pringsheim,  Das  Gesetz  ^etr.  Veranstaltung 
einer  Enqulte  über  di!  Arbei.erve.Ml.msse  Ho  la„d|  Archiv 
für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik,  IN  f1891),  N. 


dass  sie  zu  Zeiten  mehr  einem  Hemmschuh,  als  einem 
bewegenden  Hebel  zu  vergleichen  waren.  Es  gab  im  poli- 
tischen Leben  Englands  Momente,  wo  dringende  Forderungen 
nach  einem  reformirenden  Gesetze  mit  der  Einsetzung  einer 
in  diesem  Falle  besonders  gründlich  und  langwierig  arbei- 
tenden Untersuchungskommission  beantwortet  wurden.  W ir 
wollen  hoffen,  dass  das  von  der  Regierung  geplante  arbeits- 
statistische Amt  nicht  gerade  in  diesem  Zug  solchen  in  Eng- 
land glücklicherweise  vereinzelt  dastehenden  Kommissionen 
gleichen  werde.  Der  Zeitpunkt  freilich,  in  dem  der  Plan  der 
Regierung  auf  der  Bildfläche  erscheint,  ruft  jene  unwillkom- 
mene Ideenassoziation  hervor.  Der  seit  langem  geäusserte 
Wunsch  nach  einem  Gesetz  über  parlamentarische  Enqueten 
beschäftigt  den  Reichstag  und  die  öffentliche  Meinung  leb- 
hafter als  bisher  — , da  erscheint  plötzlich  die  Mittheilung 
über  jene  Kommission,  während  gleichzeitig  die  Regierung 
selbst  gegenüber  jenem  aus  dem  Schoosse  des  Reichstags 
hervorgegangenen  Gesetzentwurf  ein  beredtes  Schweigen 
beobachtet,  ihre  publizistischen  Organe  aber  gegen  den- 
selben ins  Treffen  schickt.  Und  noch  ein  anderes  zeitliches 
Moment  schmälert  die  Freude  über  jene  Kommission  für 
Arbeitsstatisitik.  Es  trennen  uns  nur  noch  wenige  Wochen 
von  dem  Termin,  an  welchem  die  Novelle  zur  Gewerbe- 
ordnung in  Kraft  treten  soll.  So  wenig  sie  hinsichtlich  der 
Fortbildung  des  Arbeiterschutzes  berechtigten  Ansprüchen 
genügt,  immerhin  könnte  das  Gesetz  in  manchen  Be- 
ziehungen erspriesslicher  wirken,  wenn  der  Bundes- 
rath und  die  Landescentralbehörden  von  den  ihnen  vorbehal- 
tenen Ausführungsbestimmungen  im  Interesse  der  Arbeiter 
resoluten  Gebrauch  machten.  Statt  der  lange  erwarteten  Ver- 
ordnungen erhalten  wir  indessen  seitens  der  Regierung  die 
Mittheilung,  dass  es  gerade  die  Aufgabe  jener  Kommission1 
für  Arbeitsstatistik  sein  wird,  die  statistischen  Unterlagen 
für  die  Ausführungsverordnungen  zur  Gewerbeordnungs-, 
novelle  zu  beschaffen1).  Man  muss  billig  staunen,  dass  die' 
Regierung  jetzt  erst  jene  Kommission  in’s  Leben  ruft,  nach- 
dem fast  &acht  Monate  verflossen  sind,  seitdem  die  Novelle 
zur  Gewerbeordnung  publizirt  und  die  Regierungen  resp. 
der  Bundesrath  vor  der  Aufgabe  stehen,  jene  Verord- 
nungen festzustellen.  Es  zeugt  nicht  für  eine  hohe 
Schätzung  der  Wirksamkeit  des  neuen  Arbeiterschutz-' 
gesetzes,  wenn  die  Regierung  jetzt  noch  nicht  einmal  an 
die  Beschaffung  der  ihr  nöthig  erscheinenden  statistischen 
Unterlagen  geht,  sondern  vorerst  gar  sich  damit  begnügt, 
den  Zusammentritt  einer  Kommission  in  Aussicht  zu  stellen, 
von  deren  Arbeit  sie  jene  Unterlagen  für  ihre  Verordnungen 
erwartet. 

Die  angedeuteten  Umstände,  unter  denen  die  Ankün- 
digung der  Kommission  für  Arbeitsstatistik  erfolgt,  ver- 
ringern, wie  gesagt,  die  erfreulichen  Hoffnungen,  welche 
man  sonst  damit  verbinden  könnte,  dass  die  Regierung  sich 
anschickt,  für  sozialstatistische  Untersuchungen  eine  stän- 
dige Institution  zu  schaffen.  Wir  können  nur  wünschen, 
dass  die  sich  aufdrängenden  Befürchtungen  bald  zerstreut 
werden  und  sowohl  die  Organisation  der  zu  schaffenden  Ein 
richtung,  wie  die  zu  gewärtigenden  Arbeiten  derselben 
berechtigten  Forderungen  entsprechen  und  neben  den 
hoffentlich  ungestört  in’s  Leben  tretenden  parlamentarischen 
Enqueten  zu  einer  gründlichen  sozialstatistischen  Erkennt- 
niss  die  Mittel  darbieten  mögen. 

Berlin.  Heinrich  Braun. 


i)  Vero-l.  die  Rede  des  Unterstaatssekretärs  Dr.  v.  Rotten 
bürg  in  der&Sitzung  des  Reichstags  vom  20.  Januar  1892.  Steno 
graphischer  Bericht  über  die  Verhandlungen  des  Reichstags; 
Protokoll  der  152.  Sitzung,  Seite  3748. 


No.  4. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


47 


Soziale  Wirtschaftspolitik. 


Reform  der  Gewerbeordnung  in  der  Schweiz. 

Die  Notlvwendigkeit,  das  Gewerbewesen  auf  eid- 
o-enössischem  Boden  gesetzlich  zu  ordnen,  wird  in  der 
Schweiz  je  länger  je  dringender.  Die  bestehenden 

kantonalen  Gesetze  sind  vielfach  veraltet,  stehen  theil- 
weise  noch  auf  dem  Boden  der  alten  Zunftverfas- 
sung und  können,  weil  sie  mit  der  durchdie  Bundes- 
verfassung garantirten  Gewerbefreiheit  in  Widerspruch 
treten,  nicht  mehr  vollzogen  werden.  Aus  den  Kreisen  der 
Gewerbetreibenden  wird  namentlich  eine  einheitliche 
Regelung  des  Lehrlingswesens  und  die  Organisation  der 
gewerblichen  Berufsgenossenschaften  gefordert.  Ob  es 
zweckmässig  sei,  bei  den  letzteren  das  Obligatorium  einzu- 
führen, darüber  gehen  die  Meinungen  weit  auseinander. 
Es  war  anfänglich  die  Absicht,  anlässlich  der  durch  die 
Einführung  der  staatlichen  Unfall-  und  Krankenversicherung 
nothwendig  gewordenen  Revision  der  Bundesverfassung  dem 
Bund  gleichzeitig  auch  die  Befugniss  zum  Erlass  einer 
schweizerischen  Gewerbeordnung  zu  ertheilen;  allein  die 
eidgenössischen  Räthe  lehnten  diese  Forderung  ab,  weil 
man  vorläufig  mit  der  Versicherung  dem  Bund  Arbeit  genug 
auflade.  Vielleicht  wäre  es  aber  doch  besser  gewesen,  man 
hätte  zuerst  das  Gewerbewesen  geordnet,  weil  dadurch 
ie  Einführung  der  staatlichen  Versicherung  ohne  Zweifel 
rleichtert  worden  wäre. 

Mittlerweile  suchen  einzelne  Kantone  selbständig  die 
wichtigsten  Postulate  einer  Gewerbeordnung  auszuführen. 
Der  Kanton  Neuenburg  ist  mit  einem  Gesetz  über  den 
Schutz  der  Lehrlinge  vorangegangen.  Durch  dieses  Gesetz 
werden  die  Lehrlinge  in  jeder  Ortschaft  der  Obhut  der 
Gemeindebehörde  unterstellt,  welche  hierfür  eine  Spezial- 
kommission, bestehend  aus  hierzu  geeigneten  Gewerbe- 
inhabern und  Arbeitern  ernennen  kann. 

In  Ortschaften,  wo  gewerbliche  Schiedsgerichte  (conseils 
de  Prud’hommes)  eingeführt  sind,  haben  diese  unter  Ober- 
aufsicht der  Gemeindebehörde  die  Ueberwachung  der 
Lehrlinge  auszuüben.  In  Ortschaften,  wo  die  Gewerbe- 
inhaber und  Arbeiter  des  nämlichen  Berufes  Berufs- 
genossenschaften (syndicats  professionnels)  errichtet  haben, 
können  diese  auf  ihr  Verlangen  die  Ueberwachung  derjenigen 
Lehrlinge  übernehmen,  welche  den  betreffenden  Beruf 
erwählen.  Die  Abgeordneten  der  Gemeindebehörde  und 
der  mit  der  Ueberwachung  der  Lehrlinge  betrauten 
Kommission  sind  jederzeit  berechtigt,  die  Lehrlinge  in  den 
Werkstätten  zu  besuchen  und  den  Fortgang  der  Lehre  zu 
kontrolliren.  Zeigen  sich  Missbräuche,  Vernachlässigung 
oder  schlechte  Behandlung,  so  haben  sie  zum  Schutze  der 
Lehrlinge  einzuschreiten.  Es  ist  dem  Gewerbeinhaber 
untersagt,  einen  Lehrling  ohne  geschriebenen  Lehrvertrag, 
welcher  die  dauernde  Arbeitszeit,  die  Zahlungs-  oder 
eventuell  Wohnungs-  und  Kostbedingungen,  die  gegenseitigen 
Verpflichtungen  der  Parteien  festsetzt,  anzunehmen.  Ferner 
darf  er  den  Lehrling  nicht  zu  anderen  als  beruflichen 
Arbeiten  verwenden,  ortsübliche  Dienstleistungen,  aus- 
genommen. Dem  Lehrling  muss  für  seinen  Religions-  und 
gesetzlichen  Schulunterricht  die  erforderliche  Zeit  ein- 
geräumt werden.  Der  Normalarbeirstag  darf  für  13 — 15 
jährige  Lehrlinge  10  Stunden  und  für  mehr  als  15  jährige 
Lehrlinge  11  Stunden  nicht  übersteigen,  inbegriffen  die 
Stunden  für  Religions-  und  Schulunterricht.  In  der  Regel 
darf  den  Lehrlingen  keinerlei  Nachtarbeit  auf  erlegt  und  es 
dürfen  dieselben  ebenso  an  Sonn-  und  Feiertagen  zu  keiner 
Berufsarbeit  angehalten  werden.  Bei  Gewerben,  welche 
Nachtarbeit  erfordern,  sind  Ausnahmen  gestattet,  jedoch 
muss  hierfür  jedesmal  eine  ausdrückliche  Bewilligung  ein- 
geholt werden.  Der  Staatsrath  setzt  eine  dem  Industrie- 
und  Landwirthschaftsdepartement  beigeordnete  Kommission 
ein,  in  welcher  die  verschiedenen  amtlich  anerkannten 
Berufsgenossenschaften  möglichst  vertreten  sind,  mit  der 
Aufgabe,  die  thunlichen  Verbesserungen  in  der  Schutz- 
aufsicht der  Lehrlinge  und  die  Mittel  zur  Hebung  der  Berufs- 
lehre und  der  Fachbildung  der  Arbeiter  zu  begutachten. 
Die  Lehrlinge  sollen  nach  Ablauf  der  Lehrzeit  geprüft 
werden  in  den  für  den  Lehrling  nothwendig  erachteten 
grundlegenden  Fachkenntnissen,  hauptsächlich  aber  in  der 
Ausführung  von  Probestücken.  Lehrlingen,  welche  die 
Prüfung  bestehen,  wird  ein  vom  Industrie-  und  Landwirth- 
schaftsdepartement geliefertes  Diplom  zuerkannt.  Ueber- 
dies  werden  solchen,  welche  die  befriedigendsten  Noten 


erzielt  haben,  Prämien  oder  Belohnungen  verabfolgt, 
bestehend  aus  einem  Sparbuche  oder  aus  den  für  den  Beruf 
zweckmässigen  Büchern  oder  Utensilien.  Stipendien  können 
ferner  solchen  Lehrlingen  gewährt  werden,  welche  an  der 
Prüfung  ausnahmsweise  Fähigkeiten  kundgeben  und  sich 
in  ihrer  Kunstfertigkeit  noch  zu  vervollkommnen  wünschen. 
Die  Lehrlinge  werden  durch  einen  Ausschuss  von  drei 
Mitgliedern  geprüft,  von  welchen  mindestens  zwei,  ein 
Gewerbeinhaber  und  ein  Arbeiter,  dem  Berufe  der  Lehrlinge 
zu  entnehmen  sind. 

Aarau.  F.  Na  et. 


Auswanderungsgesetz  für  Deutschland.  Der  Entwurf 
eines  solchen,  dessen  Erscheinen  in  Aussicht  gestellt  wird,  soll 
sich  hauptsächlich  auf  die  Regelung  des  Agentenwesens  be- 
ziehen, um  der  erwerb.smässigen  Verleitung  zur  Auswanderung 
wirksamer  als  bisher  entgegenzutreten.  Die  konzessionirteb 
Agenten  haben  fortan  gewisse  Bürgschaften  zu  stellen  und  ihre 
Geschäftsführung  der  behördlichen  Aufsicht  zu  unterwerfen. 
In  wie  weit  unmittelbare  Beschränkungen  der  Auswanderung 
eingeführt  werden  sollen,  scheint  noch  nicht  festzustehen.  Vor- 
aussichtlich wird  man  sich  an  das  Vorbild  der  Schweiz  an- 
lehnen, wo  den  Agenten  die  Beförderung  von  solchen  Personen 
untersagt  ist,  welche  wegen  Alter,  Krankheit  oder  Gebrechlich- 
keit arbeitsunfähig  sind,  falls  nicht  ihre  ausreichende  Versor- 
gung am  Bestimmungsort  nachgewiesen  wird,  ferner  von 
minderjährigen  Personen  ohne  Erlaubniss  ihrer  Vormünder,  von 
Personen,  die  nach  Bestreitung  der  Reisekosten  ohne  Hiilfs- 
mittel  anlangen  würden,  von  militärpflichtigen  Personen,  endlich 
von  Eltern,  wenn  sie  unerzogene  Kinder  zurücklassen.  Ausser- 
dem dürfte  eine  seit  Jahresfrist  eingehaltene  Bestimmung,  nach 
welcher  die  deutschen  Dampfschifffahrts-Gesellschaften  deutsche 
Auswanderer  auf  Kosten  fremder  Staaten  oder  Unternehmer 
nicht  befördern  sollen,  auf  die  Agenten  ausgedehnt  werden. 
Endlich  ist  die  Schaffung  einer  eigenen  Abtheilung  des 
Reichsamts  für  das  Auswanderungswesen  in  Aussicht  ge- 
nommen. 


Arbeiterzustände. 


Ueber  die  Abnahme  der  Arbeitskraft. 

In  No.  2 des  Sozialpolitischen  Centralblattes  veröffent- 
lichte Herr  Prof.  Herkner  unter  obiger  Ueberschrift  einen 
kurzen  Artikel,  dessen  Inhalt  der  Richtigstellung  bedarf, 
weil  er  geeignet  ist,  beim  Leser  Schlüsse  hervorzurufen, 
für  welche  die  angeführten  Thatsachen  nicht  im  mindesten 
einen  Anhalt  geben.  Sein  Gewährsmann,  der  badische 
Fabrikinspektor  Wörishoffer  untersucht  in  seinem  Werke 
„Ueber  die  soziale  Lage  der  Fabrikarbeiter  in  Mannheim“, 
die  Altergliederung  der  8375  männlichen  Fabrikarbeiter 
Mannheims  und  die  auffallend  grosse  Besetzung  der  Alters- 
klassen 20 — 40  veranlasst  ihn  genauer  nachzuforschen,  auf 
welchen  Ursachen  sie  wohl  beruhen  möge,  warum  also  die 
Stufen  40/50,  50/60,  über  60  so  ausserordentlich  viel  weniger 
Arbeiter  für  die  Fabrikindustrie  stellen  als  die  früheren. 
Der  natürliche  Abgang  durch  Sterblichkeit  kann  keine  Er- 
klärung bieten,  deshalb  führt  er  mit  Recht  die  Verschieden- 
heit darauf  zurück,  dass  ein  Beharrungszustand  in  der  Be- 
schäftigung nicht  eingetreten  ist.  Denn  die  Zahl  der 
Fabrikarbeiter  Mannheims  ist  erst  in  den  letzten  Jahren  er- 
heblich gewachsen  und  zwar  gewiss  verhältnissmässig  weit 
stärker  als  die  Bevölkerung  zugenommen  hat.  Dass  dabei 
ausschliesslich  junge  Leute  hinzugetreten  sind,  ist  deshalb 
zweifellos,  weil  die  Zuwanderung  in  die  Städte  fast  nur  im 
Alter  von  20 — 35  erfolgt,  sich  mithin  auf  dem  Arbeitsmarkt 
wesentlich  diese  Altersklassen  vorfanden.  Daher  ist  auch 
die  Altersgliederung  in  zwei  älteren  Etablissements  wesent- 
lich von  der  für  die  ganze  männliche  Fabrikarbeiterbe- 
völkerung verschieden. 

Wörishoffer  stellt  nun  nachstehende  Tabelle  auf,  in 
welcher  die  Angehörigen  der  Altersklassen  20/40  denen  der 
späteren  Altersklassen  gegenübergestellt  sind,  indem  be- 
rechnet ist,  wieviel  von  letzteren  auf  100  Angehörige  der 
ersteren  entfallen: 


48 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  4. 


Grossh. 

Baden 

männl. 

Fabrikarbeiter 

Mannheims 

ältere  chem. 
Fabrik 

ältere 

Gummi- 

Fabrik 

20/40 
40/50 
50/60 
über  60 

100 

42,1 

29,6 

30,8 

100 

19,7 

8,9 

2.4 

100 

28,5 

16,3 

7,2 

100 

26,5 

10,0 

7,8 

Dass  sich  aus  den  in  der  dritten  Spalte  enthaltenen 
Zahlen  über  die  männlichen  Fabrikarbeiter  Mannheims 
iro-end  welche  Schlüsse  ziehen  lassen,  behauptet  Wörishoffer 
nicht,  sondern  sagt,  dass  auch  bei  den  beiden  älteren 
Fabriken  die  Abnahme  in  den  höheren  Altersklassen  weit 
grösser  ist,  als  in  der  Gesammtbevölkerung.  „Zum  Theil 
lässt  sich  dies  aus  den  Vergrösserungen  erklären,  welche 
auch  diese  älteren  Anlagen  erfahren  haben,  sodass  hei  den 
Jahrgängen  von  40/50  hierin  vielleicht  eine  genügende  Er- 
klärung der  Differenz  gefunden  werden  könnte.  Für  die 
Jahrgänge  von  50/60  Jahren  ist  der  Unterschied  aber  schon 
zu  gross  um  eine  solche  Erklärung  zuzulassen,  und  ganz 
ausgesprochen  ist  dies  bezüglich  der  über  60  Jahre  alten 
Leute  der  Fall.  Es  geht  hieraus  hervor,  dass  die  ganz 
überwiegende  Mehrzahl  der  Arbeiter  mit  dem  60.  Lebens- 
jahre schon  aus  der  Beschäftigung  gedrängt  ist,  und  dass 
dieser  Austritt  aus  der  Fabrik  schon  im  50.  Jahre  anfängt, 
eine  gewisse  Bedeutung  zu  gewinnen.“ 

Mit  Recht  sagt  Wörishoffer  nichts  davon,  dass  diese 
Thatsachen  einen  Schluss  auf  die  Abnahme  der  Arbeits- 
kraft an  die  Hand  geben.  Berücksichtigt  man,  dass  z.  B. 
die  55  Jahre  alten  Arbeiter  vermuthlich  schon  vor  etwa 
30  Jahren  in  die  Industrie  eintraten,  und  bedenkt  man, 
welch’  geringe  Ausdehnung  damals  (also  im  Jahre  1860)  die 
Mannheimer  Industrie  gehabt  hat , so  wird  man  sagen 
müssen,  dass  schon  bei  ihm  ein  gewisser  statistischer  Irr- 
thum im  Hintergründe  steht,  der  aber  in  seinem  Buche 
nicht  genügend  zum  Ausdruck  kommt. 

Hätte  er  die  Abnahme  der  Arbeitskraft  im  Auge  ge- 
habt, so  würde  er  gewiss  nicht  die  Altersgliederung  der 
männlichen  Bevölkerung  Badens  zum  Vergleich  herange- 
zogen haben,  denn  es  könnte  doch  von  dieser  nur  die 
arbeitende  in  Betracht  kommen.  Wörishoffer  verweist  nur 
darauf,  dass  die  Ursachen  des  Austritts  aus  der  Fabrikarbeit 
sehr  verschieden  sind,  wobei  die  Veränderungen  in  der 
Technik,  die  allgemeine  Vorliebe  für  jüngere  Arbeitskräfte, 
die  weit  über  das  Mass  der  Kraftunterschiede  hinausgeht, 
eine  Rolle  spielen. 

Dieselben  Einwände  treffen  auch  auf  die  von  Herrn 
Prof.  Herkner  aus  der  „Nordböhmischen  Arbeiterstatistik“ 
angeführten  Zahlen  zu. 

Natürlich  soll  nun  die  derzeitige  Abnutzung  der 
Arbeitskraft  durch  die  Industriearbeit  nicht  in  Abrede  ge- 
stellt werden,  aber  die  Behauptung  ist  zurückzuweisen,  dass 
jene  Ziffern  „die  rasche  Abnutzung  der  Kraft  unserer 
Arbeiter  in  ein  helles  Licht  rücken.“  Insbesondere  aber  ist 
es  kaum  wünschenswerth,  dass  die  von  Herrn  Prof.  Herkner 
beigefügten  Eingangs-  und  Schlussworte  durch  jene  Zittern 
scheinbar  mit  einem  wissenschaftlichen  Ernst  umkleidet 
werden. 

Frankfurt  a/M.  N.  Brückner. 


Erwiderung. 

Es  ist  zweifellos,  dass  für  die  ungemein  schwache 
Besetzung  der  höheren  Altersklassen,  welche  der  Alters- 
aufbau der  Mannheimer  Fabrikarbeiter  aufweist,  die  erst 
in  die  letzten  Jahrzehnte  fallende  Blüthe  der  Mannheimer 
Industrie  bis  zu  einem  gewissen  Grade  in  Befracht  kommt. 
Die  junge  Industrie  nahm  in  erster  Linie  jugendliche  Ar- 
beitskräfte auf.  Würde  Herr  Dr.  Brückner  sich  auf  die 
Betonung  dieses  Umstandes  in  seiner  „Richtigstellung“  be- 


schränken, so  läge  kein  Anlass  vor,  auf  dieselbe  weiter  ein- 
zugehen. 

Allein  er  behauptet,  „dass  die  angeführten  Thatsachen  ‘ 
nicht  im  mindesten  einen  Anhalt  für  die  Abnahme  der 
Arbeitskraft  ergeben,  und  das  muss  ich  entschieden  be- 
streiten. 

Dieser  noch  nicht  erreichte  Beharrungszustand  genügt 
eben,  wie  der  Altersaufbau  in  den  älteren  Anlagen  zeigt, 
zur  Erklärung  der  grossen  Unterschiede  keineswegs. 
Und  auch  Herr  Dr.  Brückner  scheint  demgegenüber  nicht 
bestreiten  zu  wollen,  dass  die  Arbeiter  verhältnissmässig 
früh  aus  der  Fabrik  ausscheiden.  Allein  die  frühe  Ent- 
lassung darf  nach  seinem  Ermessen  durchaus  nicht  durch 
die  Abnahme  der  Arbeitskraft  erklärt  werden.  Er  meint 
sogar,  dass  auch  der  badische  Aufsichtsbeamte  hierin  nicht 
die  eigentliche  Ursache  der  Entlassung  erblicke.  Ich  kann 
insofern  Herrn  Dr.  Brückner  nur  empfehlen,  S.  94  des  Be- 
richtes zu  lesen.  Ich  meine,  kein  unbefangener  Leser  wird 
auf  Grund  der  dort  gemachten  Ausführungen  zu  einem 
anderen  Schlüsse  kommen  als  den,  dass  auch  der  badische 
Aufsichtsbeamte  die  zurückgehende  Leistungsfähigkeit  als 
massgebenden  Entlassungsgrund  ansieht.  Herr  Dr.  Brückner  ■ 
meint,  in  diesem  Falle  würde  der  Altersaufbau  der  Mann- 
heimer in  Arbeit  befindlichen  Arbeiter  mit  demjenigen  der 
badischen  Arbeiter  überhaupt  verglichen  worden  sein.  Das 
konnte  einfach  deshalb  nicht  geschehen,  weil  letzterer  eben 
nicht  vorliegt. 

Wenn  nicht  die  abnehmende  Leistungsfähigkeit  die 
Ursache  bildete,  warum  wären  denn  die  Veränderungen  in 
der  Technik  und  die  Verschiebungen  in  der  Produktion 
„grade  für  die  älteren  Arbeiter  sehr  kritisch“?  Dass  hier- 
für  nur  eine  platonische  „allgemeine  Vorliebe  für  jüngere 
Arbeitskräfte  massgebend  sei,  die  weit  über  das  Maass  der 
Kraftunterschiede  hinausgeht“,  wie  Herr  Dr.  Brückner  will, 
klingt  doch  gar  zu  unwahrscheinlich.  In  seinen  Aus- 
führungen gewinnt  es  übrigens  den  Anschein,  als  ob  diese 
Worte  in  dem  in  Rede  stehenden  Berichte  enthalten  wären.  ( 
Ich  habe  sie  nicht  finden  können,  wohl  aber  wird  in  dem-  , 
selben  Zusammenhänge  ausdrücklich  hervorgehoben,  dass 
„die  Arbeiter  im  allgemeinen  rasch  alt  werden.“ 

Dass  der  badische  Aufsichtsbeamte  selbst  nicht  un- 
mittelbar den  Altersaufbau  mit  der  Abnahme  der  Arbeits- 
kraft in  Beziehung  gesetzt  hat,  ist  richtig,  von  mir  aber 
auch  nirgends  behauptet  worden. 

Herr  Dr.  Brückner  fährt  nun  fort:  „Dieselben  Ein-' 
wände  treffen  auch  auf  die  von  H.  aus  der  „Nordböhmischen 
Arbeiterstatistik“  angeführten  Zahlen  zu“. 

Mit  dieser  Behauptung  beweist  Herr  Dr.  Brückner 
nur,  dass  er  von  den  Verhältnissen  des  Reichenberger 
Kammerbezirkes,  auf  welche  sich  die  Daten  beziehen,  auch 
nicht  die  geringste  Ahnung  besitzt.  In  diesem  ausgedehnten 
Gebiete  ist  nämlich  in  der  That  eine  Art  Beharrungszustand 
vorhanden.  Seine  Bevölkerungszunahme  bleibt  hinter  der- 
jenigen Oesterreichs  zurück.  Von  Seiten  der  jüngeren  Ar- 
beiter findet  sogar  eine  nicht  unerhebliche  Auswanderung 
statt.  Der  einzige  Gesichtspunkt,  der  gegen  die  mit- 
getheilten  Daten  ins  Feld  geführt  werden  könnte  wenn 
man  eben  jener  Erwägung  aller  Umstände  sich  be- 
fleissigt,  die  ich  leider  im  Interesse  der  Kürze  in  meinem 
Artikel  vermieden  habe  — wäre  der,  dass,  wenn 
auch  nicht  in  Bezug  auf  die  Altersklassen,  so  doch 
in  Bezug  auf  die  Ausdehnung  der  fabrikmässigen 
Betriebe  in  den  letzten  Jahrzehnten  eine  ^ Verschie- 
bung stattgefunden  hat.  Letztere  haben  auf  Kosten  der 
kleineren  Betriebe  zugenommen  und  vorzugsweise  den 
Nachwuchs  angezogen.  Allein  diese  Verhältnisse  können 
nicht  entfernt  die  grellen  Unterschiede  im  Altersaufbau 
erklären,  da  in  Folge  der  ungemein  niedrigen  Löhne  jener 
Gebiete  die  mechanische  Fabrikarbeit  nur  in  äusserst  lang- 
samem Tempo  vorschreitet. 

Aus  diesen  Gründen  kann  ich  trotz  der  „Richtig- 
stellung“ Herrn  Dr.  Brückner’s  durchaus  nicht  einsehen, 
warum" die  mitgetheilten  Ziffern  — die  überdies  angeführten 
Akkordlohnsätze  der  verschiedenen  Altersklassen  scheinen 


No.  4. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


49 


seinem  Eifer  ganz  entgangen  zu  sein  — nicht  aui  die 
rasche  Abnutzung  der  Arbeitskraft  ein  helles  Licht  werfen 
sollen. 

Freiburg  i.  B.  H.  Herkner. 


Löhne  im  Wiener  Schmiedegewerbe.  Auf  dem  ersten 
österreichisch-ungarischen  Schmiedetag,  welcher  Weihnachten 
1891  in  Wien  stattgefunden  hat,  wurde,  wie  der  „Oesterreichische 
Metallarbeiter“,  Jahrg.  1892,  No.  I S.  2 mittheilt,  festgestellt,  dass 
in  Wien  die  Löhne  ohne  Kost  bei  einer  10  12  ständigen  Arbeits- 

zeit im  Durchschnitt  fl.  10,20  für  die  Woche  betragen;  in  den 
Geschäften,  welche  die  Gesellen  noch  beköstigen,  belief  sich 
der  Durchschnittswochenlohn  bei  1 1 ständigem  Arbeitstage  auf 
4,62  fl.  Kläglich  ist  die  Lage  der  Schmiedehelfer  in  den 
Fabriken:  der  Feuerbursch  verdient  viermal  so  viel  als  der  Helfer. 
Die  nachstehende  Uebersicht  bekundet,  dass"  in  den  Handwerks- 
mässigen  Unternehmungen  die  Lohnverhältnisse  günstiger  sind, 
als  in  den  Grossbetrieben. 


Zahl 

der 

Gehilfen 

Löhne  ohne  F 

Wochen-  1 Täglicher 
löhne  Lohn 

fl.  fl. 

iost 

Stunden- 

lohn 

fl. 

Zahl 

der 

j Gehilfen 

Lö 

Wochen- 

löhne 

fl. 

ine  mit  ] 

Täglicher 

Lohn 

fl. 

Co  s t 

Stunden- 

lohn 

fl. 

i 

18  — 

3,- 

,29 

i 

16,— 

2,66 

—.26 

13 

16  — 

2,66 

— ,25 

i 

13,- 

2.17 

- ,20,5 

19 

15, — 

2,50 

.24 

i 

12,  - 

2- 

-19 

26 

14,— 

2,33 

,22 

i 

1 1,— 

1,83 

— ,17,3 

19 

13. 

2,17 

.20,5 

6 

10,- 

1,67 

-,16,7 

50 

iS— 

2, — 

— ,19 

4 

9, 

1.50 

-14 

62 

II. 

1,83 

.17,3 

13 

8- 

1.38 

— ,13 

82 

10,— 

1,67 

,16,7 

21 

7r 

1,16 

.11,5 

93 

9,— 

1.50 

— 14 

20 

6- 

1 — 

— ,9,5 

63 

8,— 

1,33 

-,13,2 

54 

5- 

— ,83 

-8 

30 

7,-  - 

1,16 

,11,5 

49 

4,- 

— ,66 

— ,6)7 

12 

6, — 

L— 

-.9.5 

12 

3.50 

— ,58 

— ,5,4 

10 

480 

5- 

6897,— 

1 

CO 

oo 

— ,8.3 

75 

21 

279 

3, — 

9 

1291,— 

—.50 
— 33 

— ,4,8 
>3,2 

Zustände  im  polygraphischen  Gewerbe  in  Frankfurt  a.  M. 
In  Frankfurt  wurden  etwa  400 — 500  Steindrucker  und  Litho- 
graphen beschäftigt.  An  einer  von  der  dortigen  Mitgliedschaft 
des  Senefelder-Bundes  aufgenommene  Erhebung  betheiligten 
sich  237  Berufsgenossen.  Nach  dieser  Aufnahme  betrug  der 
Durchschnittslohn  24  Mk.  pro  Woche.  Doch  wird  in  der 
„Graphischen  Revue“  darauf  hingewiesen,  dass  die  Lohnverhält- 
nisse durchgängig  ungünstigere  sind;  die  Mehrzahl  beziehe  einen 
Wochenverdienst  von  24 — 12  Mk.  Lehrlingszüchterei  scheint  in 
bedenklichem  Umfange  stattzufinden:  in  18  Geschäften  befanden 
sich  81  Druckerlehrlinge,  davon  stehen  70  an  der  Handpresse, 
1 1 an  der  Maschine.  Geklagt  wird  über  die  Schwäche^  der  ge- 
werkschaftlichen Bewegung.  In  Frankfurt,  wo  die  Kranken- 
kasse und  der  Bund  ihren  Wohnsitz  haben,  gehören  nur  130 
dem  Verein  an,  und  von  diesen  seien,  wie  es  scheint,  % passive 
Mitglieder. 

Ueber  Hamburger  Arbeiterkinder  berichtet  ein  päda- 
gogisches Fachblatt,  dass  von  den  64  822  Volksschülern 
(35  512  Knaben,  32  310  Mädchen)  6202  zu  Erwerbszwecken 
verwendet  werden,  und  zwar  zum  Austragen  von  Zeitungen 
930  Knaben  und  307  Mädchen,  zum  Kegelaufsetzen  304 
Knaben,  zu  sonstigen  Beschäftigungen  bei  fremden  Leuten 
2312  Knaben  und  1208  Mädchen,  zu  Beschäftigungen  im 
elterlichen  Hause  647  Knaben  und  500  Mädchen.  Die 
ausserhalb  thätigen  Kinder  verbringen  5 bis  6 Stunden  in 
der  Schule,  1 bis  2 Stunden  brauchen  sie  zur  Anfertigung 
der  Schularbeiten;  dazu  kommen  3 bis  4 Stunden  Erwerbs- 
thätigkeit,  sodass  diese  Zehn-  bis  Vierzehnjährigen  einen 
Arbeitstag  von  9 bis  11  Stunden  haben.  Die  1147  bei  den 
Eltern  beschäftigten  Kinder  sind  zum  Theil  ebenso  sehr 
belastet.  Im  Ganzen  werden  9,5  Prozent  sämmtlicher  Volks- 
schüler auf  diese  Art  angewendet,  von  den  Knaben  13  Pro- 
zent, von  den  Mädchen  6,14  Prozent. 

Arbeiterverhältnisse  in  den  preussisclien  Staats- 
gruben. Den  preussisclien  Abgeordneten  ging  die  Ueber- 
sicht über  den  Betrieb  der  fiskalischen  Bergwerke,  Hütten 
und  Salinen  im  Etatsjahre  1890/91  seitens  des  Handels- 
ministers zu.  Danach  wurden  vom  preussisclien  Staat  in 
69  Betrieben  während  des  Berichtsjahres  durchschnittlich 
56  475  Arbeiter  (311  mehr  als  im  Vorjahre)  beschäftigt,  und 
zwar  der  Hauptheil,  50  856  Personen,  beim  eigentlichen 
Bergbau.  Ueber  den  Antheil  der  jugendlichen  und  weib- 
lichen Arbeiter  an  dieser  Gesammtsumme  fehlt  jede  Angabe, 


ebenso  über  die  Arbeitszeit,  die  Nachtarbeit,  die  Beschäf- 
tigung an  Sonntagen,  das  Alter  u.  s.  w.,  Mängel,  die  im 
Abgeordnetenhause  ernstlich  gerügt  werden  müssten.  Auch 
dasjenige,  was  sonst  berichtet  wird,  ist  in  viel  zu  allge- 
meinen Redewendungen  gehalten;  man  trifft  hier  auf  die 
Schreibweise  der  „Amtlichen  Mittheilungen“  aus  den  Be- 
richten der  Fahrikinspektoren.  So  heisst  es:  „der  Gesund- 
heitszustand der  Arbeiter  war  im  Allgemeinen  ein  befrie- 
digender“. „Die  wirthschaftlichen  Verhältnisse  der  Arbeiter 
waren  im  Allgemeinen  günstig“.  Von  93  im  Betriebe  tödtlich 
Verunglückten  kamen  ~ 88  allein  auf  den  Kohlenbergbau; 
jede  sonstige  Unfallstatistik  fehlt  und  die  Mittheilung  der 
"im  Berichtsjahre  für  die  Unfallversicherung  gezahlten 
Summe  (81 1456  M.)  leistet  keinen  Ersatz  für  das  Fehlende. 
Deshalb  will  die  Angabe,  dass  das  Promilleverhältniss  der 
tödtlich  Verunglückten  von  1687  im  Vorjahre  auf  1614  im 
Berichtsjahre  sank,  für  sich  allein  wenig  besagen.  Ueber 
die  bei  den  Staatsbergwerken  bestehenden  Konsumvereine, 
welche  zum  Theil  die  beschränkte  Haftpflicht  einführten 
und  prosperirt  haben  sollen,  ist  überhaupt  nichts  Näheres 
mitgetheilt.  Im  Oberharz  besteht  eine  patriarchalische  Ein- 
richtung insofern  weiter,  als  aus  staatlichen  Vorräthen 
Brotkorn  zu  ermässigtem  Preise  an  die  Leute  abgegeben 
wird.  An  Bauprämien  wurden  im  Saarbrücker  Bezirk  im 
Berichtsjahr  zusammen  130  000  Mark  als  Zuschüsse  zur  festen 
Ansiedlung  an  Bergleute  gezahlt;  eben  daselbst  verausgabte 
man  47  010  Mark  für  den  Unterricht  der  Bergmannskinder, 
für  Lesevereine  und  — „Wochenschriften“.  Da  jede  Sta- 
tistik der  Arbeitszeit  (Ueberschichten !)  fehlt,  hat  die  mitge- 
theilte  Lohnstatistik  vorläufig  keinen  wissenschaftlichen 
Werth.  Nach  ihr  erhöhte  sich,  aber  lediglich  auf  den  Saar- 
gruben, der  reine  jahresverdienst  von  933  Mark  im  Jahre 
1889/90  auf  11 14  Mark  im  Jahre  1890/91,  und  der  „reine  Lohn 
für  eine  Schicht  im  Durchschnitte  des  Kalenderjahres“  von 
3,24  Mark  auf  3,79  Mark.  Die  Abzüge,  welche  auch  der 
preussische  Staat  noch  seinen  Arbeitern  für  Arbeitsmate- 
rialien und  Versicherungsbeiträge  macht,  sanken  pro  Schicht 
von  40  Pf.  im  Vorjahre  auf  31  Pf.  im  Berichtsjahre,  was 
bei  nur  300  Schichten  im  Jahr  tlir  den  einzelnen  Arbeiter 
immer  noch  jährlich  90  Mark  für  Abzüge  macht.  Sozial- 
politisch interessant  ist  noch  die  Thatsache,  dass  in  den 
Bergwerksbezirken,  in  denen  die  Arbeiterbewegung  von 
1889  Wellen  schlug,  also  namentlich  bei  den  Steinkohlen- 
gruben trotz  einer  beinahe  8prozentigen  Vermehrung  der 
Arbeiterzahl  die  auf  den  Kopf  entfallende  Jahresleistung  um 
5 Prozent  zurückging.  Im  Ganzen  müssen  diese  amtlichen 
Nachrichten  noch  sehr  vervollkommnet  werden. 

Arbeitslosigkeit.  In  Magdeburg  betrug  Anfangs  dieser 
Woche  die  Zahl  der  Arbeitslosen,  die  sich  bei  der  städtischen 
Arbeitsdirektion  um  Beschäftigung  gemeldet  hatten,  über  1700, 
so  dass  der  Magistrat  einigermassen  in  Verlegenheit  gerathen 
ist,  wie  er  jeden  der  sich  Meldenden  beschäftigen  soll.  Arbeits- 
scheine werden  daher  jetzt  nicht  mehr  sofort  ausgestellt,  sondern 
die  Namen  der  sich  Meldenden  in  Listen  eingetragen,  die  dann 
nach  der  Reihenfolge  bei  Bedarf  beschäftigt  werden  sollen.  Eine 
Versammlung  der  Arbeitslosen  fand  am  16.  d.  Mts.  statt  und 
endigte  mit  der  Annahme  folgender  Resolution:  „In  Erwägung, 
dass  bei  den  theuren  Lebensbedürfnissen  ein  Familienvater  bei 
20  Pfennigen  Stundenlohn  nicht  im  Stande  ist,  seine  Familie 
vor  Hunger  zu  schützen,  verurtheilt  die  heutige  Versammlung 
der  Arbeitslosen  die  Massnahmen  der  Stadtverwaltung,  beson- 
ders die  Vergebung  der  Arbeiten  an  Unternehmer  und  die  Ein- 
führung der  "Akkordarbeit.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Der  steirische  Bergarbeiterstrike. 

Die  Erfahrung  hat  gelehrt,  dass  der  im  Lohnverhält- 
nisse stehende  Arbeiter  nur  schwer  zur  Ertheilung  von 
Auskünften  über  seinen  Lohn  zu  bewegen  ist.  Dies  ändert 
sich  mit  dem  Eintritte  einer  Ausstandsbewegung,  die  einen 
Theil  des  Druckes  vorübergehend  beseitigt,  welcher  in  nor- 
malen Zeiten  auf  den  Massen  lastet. 

Die  Kenntniss  dieses  Umstandes  veranlasste  mich,  ins 
steirische  Strikegebiet  zu  reisen.  Was  ich  an  Ort  und  Stelle 
über  Ursachen  und  Verlauf  des  Ausstandes,  über  die  For- 
derungen der  Bergleute  und  das  Verhalten  der  Behörden 


50 


SOZIALPOI JTISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  4. 


theils  von  den  Arbeitern,  theils  von  unbetheiligter  Seite 
erfahren  habe,  soll  hier  kurz  dargelegt  werden. 

Vorerst  sei  aber  ein  persönliches  Erlebniss  mitgetheilt, 
welches  die  Verhältnisse  im  Ausstandsgebiet  besser  charak- 
terisirt,  als  noch  so  weitwendige  Abhandlungen.  Als  ich  in 
Voitsberg,  einem  wenige  Meilen  von  Graz  entfernten  Städt- 
chen, in  Begleitung  eines  Bergmannes  anlangte,  dessen 
Bekanntschaft  ich  während  der  Reise  gemacht  hatte,  wurden 
wir  von  einem  Gendarmen  und  einem  Beamten  der  Bezirks- 
hauptmannschaft empfangen.  Mein  Begleiter  verfiel  der 
Verhaftung,  ich  musste  beim  Amte  erscheinen.  Als  ich  den 
Zweck  meiner  Reise  mittheilte,  wurde  ich  aufgefordert,  das 
Strikegebiet  sofort  zu  verlassen.  Ich  weigerte  mich  ganz 
entschieden,  diesem  ungesetzlichen  Ansinnen  zu  entsprechen. 
Da  ich  an  der  Durchführung  meiner  Absicht  nicht  gehindert 
werden  konnte,  wurde  mir  die  strengste  Ueberwachung 
aller  meiner  Schritte  angekündigt  und  diese  auch  in  der 
auffälligsten  Weise  durchgeführt. 

Der  Strike  erstreckt  sich  ausschliesslich  auf  Braun- 
kohlengruben, die  sich  fast  insgesammt  im  Besitze  von 
Aktiengesellschaften  befinden  und  eine  Belegschaft  von 
circa  7000  Personen  haben.  Das  Vorgehen  der  Werke 
gegenüber  den  Arbeitern  ist  ein  einheitliches  und  scheint 
auf  einem  Uebereinkommen  zu  basiren.  Auf  der  andern 
Seite  bekundet  auch  die  Arbeiterschaft  ein  hohes  Maass 
von  Solidaritätsgefühl  und  Disziplin.  Der  vor  nicht  langer 
Zeit  ins  Leben  gerufene  Fachverein  in  Köflach  besitzt 
800 — 1000  Mitglieder,  verfügt  jedoch  nur  über  geringe 
Mittel.  Die  Bergleute  machten  auf  mich,  soweit  ich  sie 
kennen  zu  lernen  Gelegenheit  hatte,  den  Eindruck  der 
Intelligenz  und  eines  gewissen  Maasses  von  Selbstbe- 
wusstsein. 

Die  Zeit  zum  Beginn  des  Ausstandes  war  günstig 
gewählt.  Der  Kohlenbedarf  ist  gegenwärtig  ein  bedeutender, 
während  die  Vorräthe  z.  B.  bei  der  Graz-Köflacher  Eisen- 
bahn- und  Bergbau-Gesellschaft  sehr  geringe  sind.  Ich  konnte 
mich  persönlich  davon  überzeugen,  dass  die  Lagerplätze  fast 
ganz  geräumt,  die  Kohlenwaggons  völlig  leer  waren. 

Die  äussere  Veranlassung  zum  Ausbruche  des  Strike 
gab  die  Entlassung  von  Vertrauensmännern  der  Gruben- 
leute  bei  den  meisten  Werken,  trotzdem  die  Wahl  derselben 
zum  Theil  über  Verlangen  der  Werkleitungen  erfolgt  war. 
Nach  Ansicht  der  Bergleute  war  der  Zweck  der  Kündigung 
der,  den  jungen  aufstrebenden  Köflacher  Verein  zu  derou- 
tiren,  dessen  Funktionäre  die  Verabschiedeten  waren. 

Dazu  gesellte  sich  eine  Reihe  weitere  Missstände. 
Bisher  war  im  Ausstandsgebiete  die  Zehnstundenschicht 
mit  7s  Belegung  und  gelegentlichen  Ueberschichten  üblich 
gewesen.  Vom  1.  Januar  1892  sollte  die  achtstündige  Schicht 
exklusive  Ein-  und  Ausfahrt,  zur  Einführung  gelangen, 
jedoch  in  einer  Weise,  dass  die  alten  Uebelstände  nach 
Behauptung  der  Bergleute  fortbestehen  bleiben  mussten. 
Während  nämlich  die  Arbeiter  das  ununterbrochene  Ver- 
fahren beider  üblichen  Schichten  und  das  Einlegen  einer 
dritten  Schicht  im  Falle  stärkeren  Bedarfes  fordern,  wollen 
die  Werke  zwischen  der  ersten  und  zweiten  Schicht  eine 
Pause  von  1 '/2  Stunden  eintreten  lassen.  Nicht  mit  Unrecht 
folgern  die  Arbeiter,  dass  man  die  Zwischenzeit  zum  Aus- 
fassen von  Oel,  Pulver,  Hölzern  u.  s.  w.  benutzen  und  so 
die  zehnstündige  Arbeitszeit  wieder  einführen  wolle.  Ins- 
besondere wird  aber  den  Gesellschaften  die  Absicht  zu- 
geschrieben, eine  3/s  Belegung  und  damit  eine  Entlastung 
des  Arbeitsmarktes  zu  verhindern,  und  auch  in  Zukunft  das 
Einlegen  von  Ueberschichten  zu  ermöglichen. 

Rücksichtlich  des  Lohnes  vermag  man  sich  nur  schwer 
volle  Klarheit  zu  verschaffen.  Es  scheint  heute  in  immer 
grösserem  Maasse  der  Uebergang  vom  Schichtlohn  zum 
Gedingesystem  stattzufinden.  Bisher  wurde  ein  „Grundlohn“ 
(Minimallohn)  von  1 Fl.  20  Kr.  an  Hauer,  von  90 — 100  Kr. 
an  Förderer  und  Schlepper,  und  von  50 — 55  Kr.  an  Frauen 
gezahlt,  wozu  noch  ein  „Gedinge“  (offenbar  eine  Prämie 
für  Mehrleistungen)  bei  tüchtigeren  Arbeitern  kam.  Davon 
werden  4 — 5 Kr.  für  die  Kundenlade,  8 — 10  Kr.  für  Oel, 
ferner  Beträge  für  Pulver,  Strafen  u.  s.  w.  in  Abzug  ge- 


bracht. Mancherorts  wird  aber  — offenbar  weil  ein  voll- 
ständiger Uebergang  zum  Gedingesystem  vor  sich  geht  —1 
der  Minimallohn  nicht  mehr  gezahlt,  es  werden  für  das  Ver- 
fahren von  Schichten,  wie  die  Arbeiter  klagen,  zuweilen 
70 — 80  Kr.  ausgezahlt.  Dabei  ist  es  bezeichnend,  dass  die 
Vereinbarung  des  Gedingesatzes  nicht  vor  Ort,  sondern  in 
der  Kanzlei  stattfindet,  weshalb  eine  Berücksichtigung  der 
konkreten  Verhältnisse  unmöglich  ist. 

Die  Forderung  der  Arbeiter  geht  nun  dahin,  dass  das 
System  der  Zahlung  eines  Grundlohnes  beibehalten  und 
derselbe  für  Hauer  mit  I Fl.  50  Kr.  (2,5  Mark),  für  Förderer 
mit  1 Fl.  20  Kr.  (2  Mark)  bemessen  werde.  Das  Grubenlicht 
soll  in  Zukunft  von  den  Werken  unentgeldlich  gestellt  und 
damit  auch  der  unrechtmässige  Gewinn  beseitigt  werden, 
der  aus  dem  abnorm  hohen  Preise  des  Oels  (bei  den  Gruben 
43  Kr.,  im  Geschäfte  34  Kr.  pro  kg)  für  die  Werke  resul- 
tiren  musste. 

An  diese  Forderungen  schliessen  .sich  einige  andere: 
das  Verlangen  nach  freiem  Hausbrand,  nach  Einführung 
monatlicher  Kündigungsfrist  bei  den  Werkswohnungen, 
nach  separater  Entlohnung  von  Nebenarbeiten  beim  Akkord, 
Beseitigung  des  letzteren  bei  gefährlichen  Arbeiten.  An 
letzter  Stelle  wird  gewünscht,  dass  über  „zweifelhafte  Ent- 
lassungen“ ein  Schiedsgericht  entscheide,  das  aus  je  drei 
Bergleuten  und  Beamten  unter  dem  Vorsitze  eines  Unbe- 
theiligten  bestehen  solle. 

Allen  Forderungen  gegenüber  verhalten  sich  die  Ge- 
sellschaften vollständig  ablehnend.  Trotzdem  glaube  ich, 
dass  wenigstens  ein  theilweiser  Erfolg  angesichts  des  günstig 
gewählten  Zeitpunktes  und  der  strammen  Disziplin  die  Be- 
mühungen der  Bergleute  gekrönt  haben  würde,  wenn  nicht 
das  Verhalten  der  Behörden  die  Chancen  bedeutend  ver- 
schlechtert hätte.  Obgleich  nicht  die  geringste  Unruhe  : 
vorgefallen  war,  wurden  fast  überall  die  Versammlungen 
der  Arbeiter  verboten , wodurch  der  Kontakt  mit  den  ! 
Führern  aufgehoben  wurde.  Eine  Depesche,  welche  dem 
Strikeausschusse  das  Einlangen  von  Unterstützungen  avi- 
sirte,  wurde  als  staatsgefährlich  inhibirt,  und  ein  Arbeiter,  , 
der  aus  Graz  Unterstützungsgelder  überbrachte  — es  war 
eben  mein  Begleiter  — verhaftet  und  dem  Gerichte  ein- 
geliefert. 

Durch  die  Androhung  der  Entlassung,  durch  welche  ; 
auch  alle  Ansprüche  an  die  Bruderlade  verloren  gehen,  ( 
suchten  die  Werke  auf  die  Arbeiter  vergeblich  einzuwirken.  ! 
Die  Behörde  gab  sich  nun  dazu  her,  die  Abrechnung  sammt  ‘ 
den  Entlassungsscheinen  den  Knappen  zu  übergeben,  zu 
welchem  Zwecke  jeder  einzelne  vorgeladen  wurde,  unter 
Androhung  der  zwangsweisen  Vorführung  im  Falle  des 
N ichterscheinens. 

Zahlreichen  an  der  Influenza  Erkrankten  soll  die  Aus- 
stellung des  Krankenzettels  und  die  Gewährung  ärztlicher 
Hilfe  verweigert  worden  sein,  trotzdem  dieselben  formell 
nicht  als  entlassen  gelten  konnten. 

Am  sonderbarsten  zeigt  sich  die  Auffassung  der  Be- 
hörden über  ihre  Aufgabe  bei  einem  Ausstande  in  der  Art 
einer  von  ihr  eingeleiteten  Vermittelung.  Ich  besitze  über 
eine  Besprechung,  zu  welcher  die  Vertrauensmänner  der 
Bergleute,  nicht  aber  die  Werksvertreter  zugezogen  wurden, 
die  handschriftlichen  Aufzeichnungen  eines  Theilnehmers. 
Die  Verhandlungen  bestanden  darin,  dass  Bezirkshauptmann 
und  Bergkommissär  die  Arbeiter  zu  unbedingter  Unter- 
werfung aufforderten.  Gegenüber  der  fortgesetzten  Wei- 
gerung wurde  mit  Entlassung,  Verlust  der  Unterstützungs- 
ansprüche und  zuletzt  noch  mit  der  Abschiebung  in  die 
Heimathsgemeinde,  einer  österreichischen  Spezialität  für 
Beendigung  von  Strikes,  gedroht.  Nach  der  Auffassung  der 
Behörden  ist  jeder  Strikende  als  Arbeitsscheuer  zu  behan- 
deln. Da  auch  die  letzte  Drohung  ohne  Erfolg  blieb,  wurde 
die  „Vermittelung“  aufgegeben. 

Als  ich  im  Ausstandsgebiete  weilte,  war  keine  Spur 
von  Aufregung  zu  entdecken.  Die  Führer  versicherten, 
dass  sie  all’  ihren  Einfluss  aufwenden  würden,  um  jede 
Unordnung  zu  verhüten.  Augenblicklich  soll  nach  Berichten 
der  Tagesblätter  das  Bild  sich  verändert  haben,  es  sollen 


No.  ♦. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


51 


Ruhestörungen  von  Seiten  der  Knappen  zu  befürchten  sein  i 
Beruhen  diese  Mittheilungen  auf  Wahrheit,  dann  kann  die 
'Wandlung  nur  durch  weitere  Ungeschicklichkeiten  der 
behördlichen  Organe,  welche  den  Strike  um  jeden  Preis 
unterdrücken  zu  müssen  glauben,  herbeigeführt  worden  sein. 

Die  steirischen  Kohlengräber  müssen  auf  jeden  Un- 
befangenen den  Eindruck  geistig  aufgeweckter  und  am  h 
körperlich  gesunder  Männer  machen.  Es  wäre  eine  der 
Staatsverwaltung  würdigere  Aufgabe,  die  Bemühungen  der 
Knappen  um  Verbesserung  der  Lebenshaltung,  ihren  Kamp 1 
oeo-en  die  drohende  Herabdrückung  des  körperlichen  und 
Geistigen  Niveaus  zu  unterstützen,  als  sich  für  die  Interessen 
einiger  Aktiengesellschaften  einzusetzen.  Der  jetzige  Aus- 
stand mag  aber  wie  immer  enden,  er  wird  im  steirischen 
Braunkohlengebiete  nicht  der  letzte  gewesen  sein.  Die 
Erfahrungen,  die  heute  von  den  Knappen  gesammelt  wur- 
den, werden  sie  nur  zu  weiteren  Bemühungen  beim  Ausbau 
ihrer  jungen  Organisation  anspornen. 

yYien  Leo  Verkauf. 


Das  Ende  des  Buchdruckerstrikes. 

Ist  auch  der  Ausstand  der  deutschen  Buchdruckei 
nach  zehnwöchentlicher  Dauer  von  den  Strikenden  selbst 
für  beendigt  erklärt  worden,  so  ist  ein  abschliessendes 
Urtheil  über  diese  Arbeitseinstellung,  welche  nach  mehr 
als  einer  Richtung  von  grösster  Bedeutung  für  die  ge- 
sammte  deutsche  Arbeiterbewegung  ist,  heute  ebenso  wenig 
möglich  als  während  des  Strikes  selbst. 

Trotzdem  wollen  wir,  vorbehaltlich  späterer  weiterer 
Ausführungen,  einen  Rückblick  auf  diese  Bewegung  werten. 
Vorerst  seien  die  Momente,  welche  die  Niederlage  der  Ge- 
hilfen verursachten,  hervorgehoben. 

Der  Strike  brach  nicht  zu  dem  Zeitpunkte  aus,  m dem 
die  Begeisterung  der  Gehilfen  am  grössten  war.  Man  Hess  , 
Wochen  verstreichen,  glaubte  die  Unternehmer  zu  täuschen, 
vermehrte  indessen  nur  die  Zahl  der  wankelmüthigen  Ge- 
hilfen. Der  Eintritt  in  den  Strike  erfolgte  ohne  jede  Ver- 
ständigung mit  der  übrigen  Arbeiterschaft,  ja  gegen  deren 
Willen;  speziell  die  Führer  der  sozialdemokratischen  Partei 
Deutschlands  Hessen  es  an  wohlgemeinten  Warnungen  nicht 

fehlen.  Die  Buchdrucker,  pochend  aut  ihre  Kassen,  vei  - 
trauend  auf  die  Unterstützung  ihrer  ausländischen  Kollegen, 
glaubten  sich  in  einer  Ausnahmestellung  zu  befinden  und 
fn  einer  für  eine  Arbeitseinstellung  grösseren  Styls  durch- 
aus ungeeigneten  Zeit  einen  Strike  von  ganz  ausserordent- 
lichen Dimensionen  wagen  zu  dürfen. 

Bei  der  Vorbereitung  der  Arbeitseinstellung  wurde 
der  Abhaltung  des  Zuzuges  viel  zu  wenig  Aufmerksamkeit 
geschenkt.  Durch  rechtzeitige  Entsendung  geschickter  Ver- 
treter nach  den  grossen  Städten  Deutsch-Oesterreichs  und 
der  Schweiz  wäre  die  Zahl  der  einwandernden  Gehilten 
eine  bedeutend  geringere  gewesen  und  grosse  Kosten  wären 
dadurch  den  Strikenden  erspart  geblieben. 

Trotz  so  mancher  Aufwendungen  für  die  Statistik  ihres 
Gewerbes  wurden  die  Strikenden  erst  durch  den  Verlaut 
der  Arbeitseinstellung  über  die  ungeahnte  Grösse  der 
industriellen  Reservearmee  ihres  Gewerbes  aufgeklärt. 

Aber  nicht  nur  bei  den  Vorbereitungen  des  Strikes 
wurden  Fehler  gemacht,  auch  die  oberste  Leitung  desselben 
war  ihrer  Aufgabe  nicht  vollkommen  gewachsen.  Sie  ver- 
schaffte den  provinzialen  und  lokalen  Dirigenten  des  Strikes 
nicht  die  nöthige  Klarheit  über  die  Situation,  und  wies  sie 
fast  ausnahmslos  auf  die  Berichte  des  „Correspondent“  an. 
Vor  allem  herrschte  über  die  Kassenlage  Unklarheit,  man 
rechnete  mit  imaginären  Grössen  und  beschloss  eine  Ein- 
schränkung des  Betrages  der  Unterstützungen  erst  in  einem 
Zeitpunkt,  als  die  Kassen  schon  vollständig  geleert  und 
auch  zu  minimalen  Unterstützungen  unzureichend  geworden 
waren. 

Der  verhängnisvollste  Fehler  aber  war,  dass  nach  der 
Massregelung  des  Unterstützungsvereins  deutscher  Buch- 
drucker seitens  der  preussischen  Regierung  der  Vorsitzende 


des  Vereins  auf  eigene  Faust  und  unberechtigter  Weise 
die  bedingungslose  Wiederaufnahme  der  Arbeit  empfahl. 
Wohl  hatten  die  Strikenden,  deren  Haltung , von  ganz 
vereinzelten  Ausnahmen  abgesehen,  eine  durchaus  muster- 
oiltige  und  energische  war,  sofort  ihren  Vorsitzenden 
desavouirt,  aber  der  Schaden  war  geschehen,^  das  Ein- 
gestäjfidniss  der  Schwäche  war  in  offizieller  form  dem 
Geo-ner  gegenüber  gemacht,  das  Vertrauen  m die  Leitung 
bef'  den  Strikenden  erschüttert  und  überdies  hatte  man, 
wenn  auch  in  wenigen  Orten,  auf  das  Rundschreiben  des 
Vorsitzenden  hin  das  Ende  des  Strikes  proklamirt. 

Zu  diesen  grossen  Fehlern  und  Nachtheilen  der  Striken- 
den trat  noch  die  ausserordentlich  günstige  Situation  der 
Unternehmer  hinzu,  deren  Organisation  sich  vorzüglich  be- 
währte. Ihr  zur  Seite  stand  die  in  Deutschland  bisher  noch 
nie  in  diesem  Maasse  zu  Tage  getretene  Interessensolidaritat 
der  besitzenden  Klassen.  Sämmtliche  Aufträge  für  das 
Buchdruckergewerbe  wurden,  soweit  es  nur  irgend  anging, 
zurückgestellt;  die  Behörden  wetteiferten  in  diesem  Punkte 
mit  den  anderen  grossen  Auftraggebern  des  Buchdrucker- 
gewerbes. , ^ , ... 

So  musste  eine  Niederlage  der  Gehilfen  emtreten, 

trotzdem  sich  die  Strikenden  von  der  ersten  bis  zur 
letzten  Stunde  aufopferungsfähig  gezeigt  haben,  und 
obgleich  die  internationale  Solidarität  der  Arbeiter  sich 
diesmal  nicht  als  Phrase,  sondern  als  eine  reale  Macht 

erwies.  . . „ , 

War  demnach  bei  den  Unparteiischen  auch  viel  Grund 
zur  Sympathie  für  die  Sache  der  Strikenden  vorhanden 
und  sind  die  moralischen  Momente  m einem  Kampfe  um 
die  Veränderung  der  Arbeitsbedingungen  keineswegs  be- 
langlos, so  entscheiden  doch  in  erster  Linie  die  Machtver  - 
hältnisse.  Anders  liegt  es  freilich,  wenn  es  sich  um  die 
prinzipielle  sozialpolitische  Beurtheilung  handelt.  So  sehr 
auch  in  dieser  Beziehung  die  Machtstellung  der  streitenden 
Theile  von  Wichtigkeit  ist,  so  ist  sie  doch  nicht  von  aus- 
schlaggebender Bedeutung.  Hier  kommt  m erster  Lime  die 
Frage  in  Betracht:  Waren  die  Forderungen  der  Gehilfen 
bei  'der  allgemeinen  Lage  des  Gewerbes  ohne  erhebliche 
Schädigung  desselben  durchführbar,  hätte  der  Sieg  der 
Gehilfen  eine  sprunghafte  Aenderung  im  Betriebe  zur  Fo  ge 
gehabt,  hatten  endlich  die  Forderungen  der  Gehilfen  ihre 
innere  Berechtigung  in  den  Verhältnissen  ihres  Berufes  t 

Die  Forderungen  der  Gehilfen  waren  bekanntlich.  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  von  zehn  (effektiv  9‘/r)  auf  neun 
Stunden,  10  % Aufschlag  auf  die  Grundpositionen  des  Tarifs 
und  Erhöhung  des  Lokalzuschlages.  Letztere  Forderung 
war,  wie  Prinzipale  und  Gehilfen  wussten,  nur  als  Handels- 
objekt bei  den  Verhandlungen  aufgestellt  worden.  Was  nun 
die  Erhöhung  der  Grundpositionen  anlangt,  so  haben  die 
Unternehmer  in  den  Anfangs  Oktober  zu  Leipzig  stattge- 
fundenen Tarifverhandlungen  eine  Lohnerhöhung  bis  zu 
71/  0/  auf  die  Grundpositionen  und  das  tarilmässige  Lohn- 
minimum selbst  vorgeschlagen.  War  die  Bewilligung  von 
71/0/  möglich,  so  wären  10°/0  kaum  der  Ruin  des  Gewerbes 
gewesen.  Uebrigens  haben  die  Gehilfen  selbst  bei  jedei 
Gelegenheit  und  speziell  auch  bei  Beendigung  der  Tarif- 
kommission die  Frage  der  Lohnerhöhung  als  sekundäre 
betrachtet,  ja  sie  hatten  sich  vor  Beginn  des  Strikes  zu  den 
weitgehendsten  Konzessionen  in  Bezug  aut  ihre  Lohn- 
forderungen bereit  gezeigt.  Die  Forderung  aber,  welche 
den  grossen  Widerstand  der  Unternehmer  und  die  Hart- 
näckigkeit der  Gehilfen  erzeugte,  war  die  Abkürzung  der 
Arbeitszeit.  Diese  Forderung  ist  auch  die  Ursache  des 
tiefen  sozialpolitischen  Interesses  an  dem  wStrike,  und  sie 
erhob  denselben  über  einen  Kampf  zwischen  Arbeitern 
und  Unternehmern  eines  einzelnen  Gewerbes  zu  einem 
Klassenkampf,  an  dem  die  Arbeiterklasse  und  die  Unter- 
nehmerklasse in  ihrer  Gesammtheit  sich  mitinteressirt  fühlte. 

Hier  haben  wir  aber  nicht  diese  Frage  vom  Stand- 
punkte des  Klassenkampfes  zu  beurth eilen,  sondern  lediglich 
von  dem  nüchternen  Gesichtspunkte,  ob  die  Buchdruckerei- 
besitzer ohne  erhebliche  geschäftliche  Schädigung  die 
Forderung  der  Gehilfen  hätten  bewilligen  können.  Diese 
Frage  kann  man  unseres  Erachtens  bejahen.  Nicht  nur 


52 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  4. 


1 


die  allgemeinen  Untersuchungen  Atkinson’s,  Roe’s,  Schuler’s 
über  Steigerung  der  Produktivität  der  Arbeit  bei  Verkür- 
zung der  Arbeitszeit,  sondern  auch  spezielle  Erfahrungen 
im  Buchdruckergewerbe,  so  z.  B.  in  London  lehren,  dass 
bei  der  verkürzten  Arheitszeit  nach  einer  nicht  langen 
Uebergangsperiode  das  Gleiche  geleistet  wird,  wie  vorher 
bei  der  längeren  Arbeitszeit.  Eine  grosse  Buchdruckerei 
Deutschlands  führte  vor  einiger  Zeit  freiwillig  an  Stelle 
der  zehnstündigen  die  872  ständige  Arbeitszeit  ein;  bei 
Gleichbleiben  der  Arbeit  und  bei  gleichem  Personale  wurde 
nicht  nur  die  Arbeit  in  gleicher  Weise  wie  früher  bewältigt, 
sondern  die  Setzer  sahen  sich  sogar  veranlasst,  die  Ent- 
lassung Einzelner  zu  fordern,  da  die  Produktivität  ihrer 
Arbeit  so  sehr  gestiegen  war,  dass  sie  nunmehr  in 
872  Stunden  zu  grösserer  effektiver  Leistung  befähigt 
waren,  als  vorher  in  10  Stunden. 

Rechnet  man  hierzu  die  grossen  thatsächlichen  Er- 
sparnisse an  Licht,  Heizung  und  anderen  Generalunkosten, 
so  wird  man  den  Widerstand  der  Druckereibesitzer  in 
ihrem  konservativen  Geiste  zu  suchen  haben.  Sie  haben 
wohl  weitere  Forderungen  befürchtet  und  waren  vorzugs- 
weise von  der  Absicht  geleitet,  den  starken  Gewerkverein 
zu  schwächen  und  seine  Kassen  geleert  zu  sehen.  Das 
sind  die  eigentlichen  Gründe  des  Widerstandes  und  nicht 
etwa  die  Befürchtung,  dass  die  Kardinalforderung  der  Ge- 
hilfen eine  sprunghafte  Aenderung  im  Betriebe  und  eine 
erhebliche  Schädigung  des  Buchdruckereigewerbes  herbei- 
geführt hätte.  Beweis  dafür,  dass  5000  Buchdruckergehilfen 
die  Forderungen  glatt  bewilligt  wurden,  und  dass  einem 
Theil  derselben  die  günstigen  Arbeitsbedingungen  auch 
nach  Verlust  des  Strikes,  trotz  der  Konkurrenz  der  auf 
Grund  des  alten  Tarifs  arbeitenden  Firmen  weiter  belassen 
wurden. 

Es  bleibt  die  Frage  zu  beantworten,  ob  die  Forderung 
der  Gehilfen  eine  innere  Berechtigung  in  den  Verhältnissen 
ihres  Berufes  findet.  Wenn  man  bedenkt,  dass  im  Jahre 
1848  die  zehnstündige  Arbeitszeit  bei  den  Buchdruckern 
normiert  wurde,  so  kann  man  wahrlich  nicht  von  einer 
exorbitanten  Forderung  sprechen,  wenn  nach  fast  einem 
halben  Jahrhundert  eine  Verkürzung  der  Arbeitszeit  um 
eine  Stunde  gefordert  wird.  Von  der  Seite  der  Unter- 
nehmer wird  hiergegen  eingewendet,  dass  noch  in  vielen 
Druckereien  über  10  Stunden  gearbeitet  würde,  allein  das 
ist  nicht  die  Schuld  der  Gehilfen,  sondern  der  Unternehmer, 
welche  sich  zwar  bei  jedem  Tarifvertrag  zur  Bekämpfung 
der  Schmutzkonkurrenz,  allgemeiner  Einführung  der  Tarif- 
bedingungen für  ganz  Deutschland  und  Regelung  des 
Lehrlingswesens  verpflichteten,  den  Kampf  hierfür  aber 
den  Gehilfen  überliessen,  und  diese  statt  zu  unterstützen, 
meist  noch  anfeindeten.  Aber  von  alledem  ganz  abge- 
sehen, beweisen  Morbidität  und  Mortalität  der  im  Buch- 
druckergewerbe thätigen  Personen,  dass  diesem  Gewerbe 
schwere  Berufskrankheiten  eigen  sind,  welche  die  Verkür- 
zung der  Arbeitszeit  vom  hygienischen  Standpunkt  aus  als 
eine  noch  wichtigere  Forderung  erscheinen  lassen,  als  vom 
sozialen. 

Demnach  meinen  wir,  dass  die  Forderungen  der  Ge- 
hilfen wohl  hätten  bewilligt  werden  können.  Aber  wie  alle 
sozialen  Fragen  in  letzter  Linie,  so  ist  auch  diese  eine 
Machtfrage  gewesen.  Der  Sieg  fiel  den  Unternehmern  zu, 
da  die  herrschenden  Gewalten,  besonders  gegen  das  Ende 
des  Strikes,  immer  mehr  für  das  Interesse  der  Unternehmer 
eintraten  und  die  Weiterführung  des  Kampfes  den  Gehilfen 
unmöglich  zu  machen  suchten.  Diese  Seite  der  Geschichte 
der  letzten  Strikebewegung  bedarf  einer  gesonderten  Be- 
leuchtung, hier  wollen  wir  nur  noch  die  Folgen  des  Aus- 
standes beleuchten. 

Während  vor  Ausbruch  des  Strikes  der  grösste  Theil 
der  Arbeitslosen  dem  Verein  nicht  angehörte,  weil  sie  zum 
Theil  nur  minderwerthige  Arbeitskräfte  waren,  die  das  Mi- 
nimum, die  Voraussetzung  der  Aufnahme  in  den  Verein, 
nicht  verdienten,  sind  jetzt  ca.  5000  Mitglieder  des  Unter- 
stützungsvereins arbeitslos,  die  Kassen  sind  vollständig  leer 
und  es  wird  schwer  halten,  die  Arbeitslosen  zu  unterstützen. 


Die  nächste  Generalversammlung  des  Vereins  dürfte 
wohl  eine  gründliche  Aenderung  des  Statuts  und  vielleicht 
auch  einen  Personenwechsel  in  der  Leitung  zur  Folge 
haben.  Nicht  zu  übersehen  ist,  dass  sich  in  allen  Ver- 
sammlungen, in  denen  die  Aufgabe  des  Strikes  beschlossen 
wurde,  die  Buchdrucker  mit  Entschiedenheit  und  Einmüthig- 
keit  für  den  Anschluss  an  die  Sozialdemokratie  aussprachen. 
Nur  ein  Kurzsichtiger  wird  diese  Konsequenz  des  Strikes  für 
nebensächlich  halten.  Die  Buchdrucker  haben  seit  Jahr- 
zehnten streng  darauf  gehalten,  dass  sie  als  Arbeitergruppe 
in  keinerlei  Beziehung  mit  der  Sozialdemokratie  gebracht 
wurden.  Sie  haben  nun  eine  andere  Bahn  eingeschlagen, 
den  Nichts-als-Gewerkvereinsstandpunkt  verlassen  und  sich 
in  die  Kadres  der  Sozialdemokratie  eingereiht.  Es  mag 
sein,  dass  die  Folgen  dieses  Schrittes  von  den  Prinzipalen 
nicht  gewürdigt  werden,  aber  es  wird  die  Zeit  kommen, 
wo  diese  es  vielleicht  bedauern  werden,  ihre  Gehilfen  ins 
sozialistische  Lager  getrieben  zu  haben. 

München.  Adolf  Braun. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Die  Sozialdemokratie  und  die  Strikes. 

Die  Stellung  der  Sozialdemokratie  gegenüber  der  ge- 
werkschaftlichen Bewegung  und  ihrem  wichtigsten  Kampf- 
mittel, dem  Strike,  ist  von  sehr  grosser  Bedeutung  und  ge- 
winnt im  gegenwärtigen  Moment  durch  den  Verlauf  des 
Buchdruckerausstands  ein  erhöhtes  Interesse.  Am  21.  d.  Mts. 
sprach  der  Abgeordnete  Bebel  über  diesen  Gegenstand  in 
einer  von  5000  Personen  besuchten  Volksversammlung  im 
„Feenpalast“  in  Berlin  und  setzte  in  seiner  Rede  die  Auf- 
fassung der  Sozialdemokratie  in  sehr  instruktiver  Weise  1 
auseinander.  Wir  geben  deshalb  den  Vortrag  in 
seinen  Hauptzügen  wieder.  Der  Titel  desselben  lautete: 
„Was  lehren  uns  die  letzten  grossen  Strikes?“  Der  ; 
Redner  bot  zunächst  einen  historischen  Ueberblick 

über  die  Entwickelung  der  Arbeitseinstellungen.  Die  in 
der  bürgerlichen  Gesellschaft  immer  schärfer  sich  ent- 
wickelnden Klassengegensätze  rufen  die  immer  schärfer 
werdenden  Klassenkämpfe  hervor.  Das  hauptsächlichste 
Symptom  der  letzteren  bilden  die  Arbeiterausstände.  Diese 
seien  von  zweierlei  Natur.  Aggressiv  insofern  sie  die 
Verbesserung  der  Lebenshaltung  der  Arbeiter  und  ihrer 
Arbeitsbedingungen  gegenüber  dem  bisherigen  Zustand 
erstrebten.  Defensiv  insofern  sie  den  Bestrebungen  der 
Unternehmerklasse,  die  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  der 
Arbeiter  zu  verschlechtern,  entgegenwirkten.  Diesen  Kampf 
mit  allem  Nachdruck  und  allen  verfügbaren  Mitteln  zu 
führen,  liege  im  Interesse  der  Arbeiterklasse.  Aber 
die  Aussichten  auf  Erfolge  im  Gebiete  der  Lohn- 
kämpfe und  der  Verkürzung  der  Arbeitszeit  verschlechterten 
sich  in  dem  Maasse,  wie  die  bürgerliche  Gesellschatt  sich 
entwickele,  die  Grossproduktion  immer  mehr  überhandnehme 
und  damit  die  Krisen  immer  länger  und  intensiver  würden. 
Zeiten,  wie  die  letzteren,  geben  der  Kapitalistenklasse  das 
Heft  in  die  Hand  und  sie  nutzte  diese  Situation  rücksichts- 
los aus. 

Das  erste  Gebot  für  die  Arbeiterklasse  diesen  Kampi 
I mit  einigem  Erfolg  führen  zu  können,  sei  die  Organisation. 
Eine  gute  gewerkschaftliche  Organisation  sei  die  erste  und 
Hauptforderung.  Das  habe  die  Arbeiterklasse,  soweit  sie 
zum  Klassenbewusstsein  gekommen,  auch  begriffen,  aber 
eine  solche  Organisation  sei  gegenüben  den  in  Frage  kom- 
menden Massen  nicht  leicht  zu  schäften.  Einmal  handle 
es  sich  um  die  grosse  Zahl,  dann  sei  aber  auch  zu  beach- 
ten, dass  der  rapide  Entwicklungsgang  der  grosskapitalisti- 
schen Produktion  in  Deutschland  die  alten  Arbeiterver- 
hältnisse zersetzt  und  alles  in  Gährung  und  Auflösung  ge- 
bracht habe.  In  das  so  geschaffene  Durcheinander  sei  erst 
allmählich  eine  gewisse  Ordnung  gekommen,  die  aber 
stets  wieder  durch  neue  Eingriffe  der  kapitalistischen 
Entwicklung  gestört  werde.  Die  immer  häufiger  wieder- 
kehrende Krisen  machten  die  Verhältnisse  noch  ungünstiger. 

Gegenüber  der  deutschen  sei  die  englische  Arbeiter- 
klasse in  einer  bevorzugten  Stellung  gewesen.  Englands 
insuläre  Lage,  seine  Präponderanz  als  erste  und  grösste 
See-  und  Handelsmacht,  die  sie  Jahrhunderte  lang  inne 
gehabt,  begünstigte  nicht  nur  ungemein  die  grossindustrielle 
Entwickelung, . sondern  setzte  auch  die  englischen  Arbeiter 


No.  4. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


53 


in  eine  günstige  Lage.  Herren  des  Weltmarktes,  konnten 
hei  der  rapiden  Entwickelung  der  englischen  Industrie  die 
englischen  Arbeiter  Forderungen  stellen,  die  auf  dem 
Kontinent  unmöglich  waren,  und  aus  denselben  Gründen 
vermochte  die  englische  Bourgeoisie  ihren  Arbeitern  Kon- 
zessionen zu  machen,  an  welche  die  festländische  Industrie 
nicht  denken  konnte.  Das  habe  den  englischen  Arbeitern 
bis  vor  Kurzem  jenes  Uebergewicht  gegeben,  das  sie  ver- 
anlasste,  auf  den  kontinentalen  Arbeiter  herabzusehen.  Das 
letzte  Jahrzehnt  habe  aber  diesen  Zustand  stark  verändert. 
Die  industrielle  Entwickelung  Deutschlands  und  Frankreichs 
und  vor  Allem  Nordamerikas  habe  die  handelspolitische 
Herrschaft  Englands  gebrochen,  die  Konkurrenz  dieser 
Staaten  mache  sich  der  englischen  Industrie  immer  mehr 
bemerkbar  und  nöthige  die  englische  Bourgeoisie,  ihren 
Arbeitern  mit  Zumuthungen  zu  kommen,  die  bisher  nicht 
nothwendig  waren.  Diese  Verschiebungen  der  Konkurrenz- 
und  Weltmarktsverhältnisse  drängen  die  englischen  Arbeiter 
immer  mehr  in  die  Defensive  und  dies  habe  endlich  jenes 
internationale  Solidaritätsgefühl  hervorgerufen,  wie  es 
sich  im  letzten  Buchdruckerstrike  in  überraschender  Weise 
gezeigt.  Die  englischen  Arbeiter  fangen  allmählich  an  zu 
begreifen,  dass  ihre  bevorzugte  Stellung  ein  Ende  nehme 
und  sie  gemeinsame  Sache  mit  den  Arbeitern  des  Konti- 
nents in  dem  Kampfe  gegen  die  Bourgeoisie  zu  machen  hätten. 

In  Deutschland  sei  es  hauptsächlich  eine  Branche  ge- 
wesen, die  eine  ähnliche  Stellung  gegenüber  allen  anderen 
Gewerbeindustrien  eingenommen  habe,  wie  dies  die  eng- 
lischen Arbeiter  gegenüber  der  Gesammtheit  der  continen- 
talen  Arbeiter  gekonnt,  dies  seien  die  deutschen  Buch- 
drucker gewesen.  Die  Natur  des  Gewerbes  habe  dem- 
selben von  vornherein  einen  gewissen  kapitalistischen 
Charakter  aufgedrückt,  andererseits  habe  auch  die  Natur 
desselben  eben  wieder  die  Anwendung  der  Maschine  bisher 
für  das  Setzerfach  unmöglich  gemacht.  Das  habe  der 
Bildung  eines  Chorgeistes  innerhalb  der  betreffenden  Ar- 
beiter mächtig  Vorschub  geleistet  und  jene  Organisation 
in’s  Leben  gerufen,  die  in  ihrer  Art  mustergültig  war  und 
durch  die  Opferwilligkeit  ihrer  Glieder  zu  einer  vortreff- 
lichen Waffe  in  den  Händen  der  Arbeiter  gegen  die  Unter- 
nehmer wurde. 

Redner  kritisirt  nun  die  Ursachen,  welche  den  letzten 
Strike  der  Buchdrucker  hervorgerufen  und  die  Ursachen, 
die  ihn  zu  Falle  brachten.  Der  Ausgang  sei  lehrreich,  weil 
er  die  Uebermacht  des  Kapitals  beweise,  das  letztere  trete 
immer  geschlossener  auf  in  dem  Kampfe  gegen  die  Ar- 
beiter und  es  sei  kaum  eine  Aussicht  vorhanden,  dass  auf 
diesem  Kampfgebiet  nennenswerthe  Vortheile  für  die  Ar- 
beiter zu  erreichen  seien,  um  so  weniger,  da  auch  die 
Staatsgewalt  fast  stets  für  die  Kapitalistenklasse  Partei 
ergreife. 

Das  Kampfgebiet  müsse  deshalb  erweitert  und  der 
Kampf  insbesondere  auch  auf  dem  politischen  Gebiete  ge- 
führt werden,  man  habe  sich  nicht  mehr  bloss  mit  kleinen 
Konzessionen  zu  begnügen,  man  müsse  der  herrschenden 
Gesellschaft  als  solcher  zu  Leibe  gehen  und  den  Kampf 
für  ihre  Beseitigung  führen.  Dieser  Kampf  sei  um  so  aus- 
sichtsreicher, weil  die  ganzen  Verhältnisse  eine  immer 
raschere  und  grössere  Proletarisirung  der  Massen  herbei- 
führten und  damit  das  Bedürfniss  für  eine  Umwandlung  der 
gesellschaftlichen  Organisation  von  Grund  aus  immer  allge- 
meiner gefühlt  und  anerkannt  werde.  Diese  Umwandlung 
könne  aber  nur  im  Sinne  des  Sozialismus  stattlinden  und 
deshalb  müsse  die  Arbeiterklasse  der  Sozialdemokratie  sich 
anschliessen  und  ihre  Ziele  unterstützen.  Redner  schlägt 
folgende  Resolution  vor: 

„Die  Versammlung  erklärt:  gegenüber  dem  Bestreben  der 
Unternehmerklasse,  die  wirtschaftliche  Lage  der  Arbeiterklasse 
immer  tiefer  herabzudrücken  und  die  letztere  in  die  vollstän- 
digste ökonomische  Abhängigkeit  von  der  LTnternehmerklasse 
zu  bringen,  ist  die  gewerkschaftliche  Organisation  der  Arbeiter- 
klasse eine  Notwendigkeit. 

Da  aber  die  gewerkschaftliche  Bewegung  ihrer  Natur 
nach  auf  die  Verbesserung  der  Arbeits-  und  Lebensbedingungen 
der  Arbeiterklasse  innerhalb  der  bestehenden  Gesellschaft  ge- 
richtet ist,  so  genügt  dieselbe  nicht,  um  auch  die  Befreiung 
der  Arbeiterklasse  aus  den  Fesseln  aes  Kapitalismus  herbeizu- 
führen. 

Das  ist  vielmehr  Aufgabe  des  politischen  Kampfes,  wie 
ihn  die  Sozialdemokratie  führt,  eines  Kampfes,  dessen  Endziel 
die  Aufhebung  des  Klassenstaates,  die  Verwandlung  des  Privat- 
eigentums an  Produktionsmitteln  in  gesellschaftliches  Eigen- 
thum und  die  Umwandlung  der  Waarenproduktion  in  sozia- 
listische, für  und  durch  die  Gesellschaft  betriebene  Produktion  ist. 

Die  Versammlung  betrachtet  es  daher  als  die  Pflicht  aller 


Arbeiter,  sich  der  Sozialdemokratie  anzuschliessen  und  ihre  B - 
Strebungen  thatkräftigst  zu  unterstützen.“ 

Nach  einer  längeren,  rein  sachlich  gehaltenen  Dis- 
kussion, an  welcher  sich  auch  zwei  Frauen  und  der  Referent 
als  Schlussredner  betheiligten,  fand  die  Resolution  ein- 
stimmige Annahme. 

Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe. 

Der  Schwerpunkt  des  preussischen  Ministerialerlasses 
an  die  Provinzialbehörden  in  Betreff  der  kaufmännischen 
Sonntagsruhe  und  ihrer  baldigen  Einführung  (durch  kaiser- 
liche Verordnung  vom  I.  April  dieses  Jahres  ab  oder  einige 
Zeit  später  in  Gemässheit  der  neuen  Gewerbeordnung)  liegt 
im  Folgenden.  Der  sehr  ausführliche  Erlass  bezeichnet 
es  als  dringlich  erwünscht,  dass  namentlich  in  den  grösse- 
ren Städten  durch  Ortsstatut  unter  die  vom  Reichs- 
gesetz gestattete  Maximalarbeitszeit  gegangen,  eventuell 
sogar  iede  Sonntagsarbeit  im  Handelsgewerbe  unter- 
sagt werde.  Wenn  die  zur  Berichterstattung  und 
Vorbereitung  der  Inkraftsetzung  aufgeforderten  Pro- 
vinzialbehörden auf  diesen  Punkt  mit  sehr  anerkennens- 
werthem  Nachdruck  hingewiesen  worden,  so  entspricht 
dies  den  in  der  kautmännischen  Bewegung  der  letzten 
Monate  dringlich  hervorgetretenen  Wunsch  der  Ge- 
hilfen wie  der  Prinzipale  in  grösseren  Städten  (Berlin, 
Hamburg,  Bremen,  Köln,  Frankfurt,  München,  Strassburg, 
Stuttgart,  Karlsruhe  u.  a.  m.);  in  den  Kundgebungen  dieser 
Interessentenkreise  ist  vielfach  offen  gesagt  worden,  dass 
ihnen  der  gänzliche  Sonntagsschluss  durch  Reichsgesetz 
weit  lieber  wäre,  als  die  eventuelle  Vertheilung  einiger 
Arbeitsstunden  auf  die  Zeit  vor  und  nach  dem  Gottesdienst. 
In  der  That  bleibt,  wenn  die  sonntägliche  Arbeitszeit 
keinesfalls  sich  auf  den  Nachmittag  erstrecken  soll,  wie  der 
ministerielle  Erlass  mit  Recht  betont,  und  wenn  ausserdem 
die  Zeit  des  Hauptgottesdienstes  freigehalten  werden  muss, 
nur  die  Zeit  vor  letzterem  für  die  kaufmännische  Sonntags- 
arbeit übrig,  und  dieselbe  genügt  vollkommen  nach  den 
Eingaben  wiederum  zahlreicher  Interessenten  selber.  (Frank- 
furt a/M.,  Berlin,  Hamburg,  Bremen,  Strassburg  u.  a.  m.). 
Wenn  sich  der  Berliner  Magistrat  gegen  eine  solche  Rege- 
lung durch  Ortsstatut  ohne  jede  nähere  Begründung  sträubt, 
so  steht  er  ganz  isolirt  da  und  die  Kundgebungen  von 
rechts  und  links,  von  der  „Kreuzzeitung“  über  zahlreiche 
Gehilfenversammlungen  bis  zum  Antrag  der  Sozialdemo- 
kraten in  der  Stadtverordnetenversammlung  auf  ortsstatuta- 
rische Beschränkung  beweisen,  dass  der  Magistrat  der 
Reichshauptstadt  die  Fühlung  mit  dem  grössten  Theil  der 
Interessenten  verloren  hat.  Der  Berliner  Magistrat  steht 
deshalb  isolirt  da,  weil  z.  B.  in  Frankfurt  a/M.  der  Magistrat 
infolge  einer  Petition  des  dortigen  „Kaufmännischen  Vereins“ 
bemüht  ist,  im  Einverständnis  mit  den  Kirchengemeinden 
den  Anfang  des  Hauptgottesdienstes  allgemein  auf  10  Uhr 
zu  verlegen  und  die  Sonntagsarbeit  im  Handelsgewerbe  für 
Detailgeschäfte  von  da  ab,  tür  Engros-,  Fabrik-  und  Bank- 

geschäfte  aber  überhaupt  durch  Ortsstatut  zu  verbieten. 

fle  Behörden  in  Hamburg  und  Bremen  dürften  eine  ähn- 
liche Regelung  anstreben.  Sehr  zutreffend  ist  ferner  die 
Stelle  des  Ministerialerlasses,  in  welcher  die  Provinzial- 
behörden angewiesen  werden,  die  Sonntagsruhe  möglichst 
gleichmässig  für  alle  Zweige  des  Handelsgewerbes  zu 
regeln,  nicht  aber  für  verschiedene  Zweige  verschieden;  in 
der  That  ist  in  letzterer  Richtung  durch  die  Interessenten 
selbst,  von  den  Zigarrenhandlungen  vielleicht  abgesehen, 

Sar  kein  Wunsch  geäussert  worden.  Den  entschiedensten 
eifall  in  kaufmännischen  Kreisen  findet  ferner  die  Mahnung 
des  Ministerialerlasses,  bei  der  Zulassung  von  Ausnahmen 
nur  ganz  zwingende  Gründe,  nicht  aber  die  Rücksicht  auf 
die  Bequemlichkeit  des  Pulilikums  oder  althergebrachte 
Gewohnheiten  entscheiden  zu  lassen.  Diese  Mahnung  wird 
hoffentlich  allseitig  beherzigt.  Sehr  angenehm  berührt 
endlich  an  dem  Ministerialerlass  der  den  Provinzial-  und 
Regierungsbehörden  gegebene  Wink,  zur  Vorbereitung 
ihrer  Massnahmen  auch  Gehilfenorganisationeil,  oder,  wo 
diese  nicht  vorhanden,  einzelne  Gehilfenvertreter  als  Gut- 
achter hinzuzuziehen.  Darin  äussert  sich  eine  wissenschaft- 
lich und  praktisch  sehr  lebhaft  zu  begrüssende  Neuerung, 
die  beibehalten  werden  muss,  wenn  die  soziale  ^Reform  für 
das  Handelsgewerbe  richtig  angefasst  und  durchgeführt 
werden  soll.  Freilich  ist  der  ganze  bureaukratische  Apparat, 
mit  welchem  man  in  Preussen  arbeitet,  ungeheuer  schwer- 


54 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  4. 


fällig,  und  auf  dem  schriftlichen  Wege  von  Minister  zu 
Oberpräsident,  von  Oberpräsident  zu  Regierungspräsident, 
von  Regierungspräsident  zu  Kommunalbehörde,  Landrath 
und  kaufmännischen  Vereinen,  sowie  aut  dem  Wege,  den 
das  Material  rückwärts  nach  oben  macht,  dürfte  sehr  viel 
verloren  gehen. 


Arbeiterversicherung. 


Der  Entwurf  eines  österreichischen  Hilfskassengesetzes 
hat  bei  der  Beratung  im  Herrenhause  einige  Abänderungen 
erfahren.  Die  wichtigste  derselben  bezieht  sich  auf  die  Unter- 
Stützung;  Erwerbsloser,  die  Gewährung  von  Reisegeldern,  die 
Arbeitsvermittlung,  Errichtung  von  Lesezimmern  und  Biblio- 
theken.  Die  Regierung  hatte  die  völlige  Beseitigung  dieser 
Nebenzwecke  gefordert,  das  Herrenhaus  beschloss  dagegen 
eine  stärkere  Scheidung  von  den  Hauptzwecken,  sowie  die 
Einräumung  grösserer  diskretionärer  Gewalt  an  die  Regierung, 
um  den  befürchteten  Missbrauchen  vorzubeugen.  . 

Nach  § 36  kann  einer  Kasse,  welche  von  dem  im  k ■ 
letzten  Absatz  erwähnten  Befugnisse  hinsichtlich  der  Neben- 
zwecke  einen  diesem  Gesetze  oder  den  Statuten  zuwider- 
laufenden Gebrauch  macht,  von  der  politischen  Landesbehörde 
diese  Befugniss  für  eine  bestimmte  Zeit  oder  auf  immer  ent- 
zogen und  die  Einhebung  von  Beiträgen  für  diese  Nebenzwecke 
untersagt  werden.  Nach  dem  Alinea  9 des  § 4 hat  das  Statut 
über  die  Verwendung  des  Kassenvermögens,  aber  auch  der  für 
Nebenzwecke  bestehenden  besonderen  Fonds  für  den  Pall  Be- 
stimmung zu  treffen,  als  von  der  Landesbehörde  die  ihr  nach 
8 36  vorbehaltene  Verfügung  erlassen  wird. 

Will  eine  Hilfskasse  ihre  Thätigkeit  auf  einen  der  ge- 
dachten  Nebenzwecke  ausdehnen,  so  müssen  in  ihr  Statut  ge- 
naue  Bestimmungen  über  die  Einhebung  und  Verwendung  der 
bezüglichen  Beiträge  aufgenommen  werden.  Diese  Vorscnritt 
soll  nach  den  Erläuterungen  den  Zweck  haben,  „ausserordent- 
liche Schwierigkeiten  und  Vexationen“  zu  vermeiden,  während 
die  oben  angeführte  Bestimmung  des  § 36  zu  verhindern  sucht, 
dass  dem  Bestände  der  Kasse  als  Versicherungsinstitution  eine 
unmittelbare  Schädigung  zugefügt  werde,  falls  die  überwachende 
Behörde  die  Verfolgung  der  Nebenzwecke  einzustellen  sich  be- 
müssigt  sieht.  . , , 

Eine  weitere  nicht  unwichtige  Aenderung  erfuhr  der 
§ 38.  Derselbe  räumt  der  Landesbehörde  das  Recht,  mit  der 
Auflösung  einer  Hilfskasse  vorzugehen,  auch  dann  ein,  wenn 
die  Generalversammlung  einer  dem  Gesetze  oder  Statut  zu- 
widerlaufenden Verwendung  aus  dem  Vermögen  der  Kasse  dire 
Zustimmung  ertheilt  hat.  Mit  Recht  wurde  diese  Bestimmung 
im  Herrenhause  als  zu  hart  angefochten;  man  äusserte  die 
Besorgniss,  die  Aufsichtsbehörde  könnte  zu  wenig  diskret  und 
rücksichtsvoll  Vorgehen.  Das  Recht  zur  sofortigen  Auflösung 
wurde  deshalb  durch  die  Anordnung  ersetzt,  dass  der  Kassen- 
leitung eine  vierzehntägige  Frist  zur  Zurücknahme  des  gesetz- 
oder  .statutenwidrigen  Beschlusses  gewährt  werden  und  erst 
nach  fruchtlosem  Verstreichen  dieser  Frist  mit  der  Auflösung 
vorgegangen  werden  dürfe. 

Der  § 44  endlich  wurde  durch  die  Bestimmung  ergänzt, 
dass  auf  die  freien  Hilfskassen  auch  das  Vereinsgesetz  vom 
15.  November  1867  keine  Anwendung  zu  finden  habe. 


zweiten  Lesung  des  Etats,  Kapitel  Reichsversicherungsamt, 
folgende  Resolution  eingebracht  worden:  . 

Der  Reichstag  wolle  beschliessen:  die  verbündeten  Regie- 
rungen zu  ersuchen,  noch  im  Laufe  der  gegenwärtigen  Session 
einen  Gesetzentwurf,  betreffend  die  Abänderung  des  Untal  - 
Versicherungs-Gesetzes,  vorzulegen,  in  welchem  Besonders^  fol- 
gende Punkte  Berücksichtigung  finden  sollen:  1.  den  k 5,  Abs.-, 
/'iff.  2 des  Gesetzes  dahin  zu  ergänzen,  dass  die  Zahlung  der 
Rente  an  Verletzte  nicht  erst  mit  dem  Ablauf  der  13.  Woche 
nach  Eintritt  des  Unfalls,  sondern  von  dem  Tage  der  Beendigung 
des  Heilverfahrens  an  zu  erfolgen  hat;  2.  dem  § 6 die  Bestim- 
mung hinzuzufügen,  dass  im  Falle  der  Tödtung  eines  Ver- 
sicherten, welcher  bereits  in  Folge  eines  früher  erlittenen  Un- 
falls Rente  bezogen,  die  Berechnung  des  den  Hinterbliebenen 
zu  gewährenden  Sterbegeldes  und  der  Rente  nicht  nur  nach 
dem  Arbeitsverdienst,  den  der  Getödtete  im  letzten  Jahre  gehabt 
hat,  sondern  unter  Zugrundelegung  dieses  Arbeitsverdienstes 
und  der  bezogenen  Rente  zu  geschehen  hat;  3.  die  in  den  Strat- 
und  Gefangenenanstalten  als  Arbeiter  beschäftigten  Gefangenen 
in  die  Reihe  der  durch  dieses  Gesetz  gegen  Unfälle  versicherten 
Personen  aufzunehmen;  4.  den  Strafbestimmungen  Vorschriften 
hinzuzufügen,  nach  denen  Betriebsunternehmer  und  deren  An- 
o-estellte,  welche  die  ihnen  auferlegte  Beitragspflicht  auf  die 
versicherten  Arbeiter  abwälzen,  in  Strafe  genommen  werden. 


Zur  Statistik  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung. 

Nach  den  im  Reichs-Versicherungsamt  angefertigten  Zusammen- 
Stellungen,  welche  aut  den  von  den  Vorständen  der  Invaliditäts- 
und  Altersversicherungs  - Anstalten  und  den  vom  Bundesrath 
zugelassenen  besonderen  Kasseneinrichtungen  gemachten  An- 
gaben beruhen,  betrug  am  Schluss  des  ersten  Jahres  seit  dem 
Inkrafttreten  des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes 
(Ende  Dezember  1891)  die  Zahl  der  erhobenen  Ansprüche  auf 
Bewilligung  von  Altersrenten  bei  den  31  Invaliditäts-  und 
Altersversicherungs-Anstalten  und  den  8 Kasseneinrichtungen 
173668.  Von  diesen  wurden  132917  Rentenansprüche  anerkannt, 
30  534  zurückgewiesen  und  7102  als  unerledigt  auf  den  Monat 
Januar  1892  übernommen,  während  die  übrigen  3115  Anträge 
auf  andere  Weise  ihre  Erledigung  gefunden  haben,  Von  den 
erhobenen  Ansprüchen  entfallen  auf  Schlesien  19  337,  Gst- 
preussen  16  838,  Brandenburg  13  332,  Rheinprovinz  11750,  Han- 
nover 10159,  Sachsen-Anhalt  9289,  Posen  8327,  Schleswig-Holstein 
6922,  Westfalen  6721,  Pommern  6095,  Westpreussen  6074,  Hessen- 
Nassau  3733  und  Berlin  1859.  Auf  die  acht  Anstalten  des 
Königreichs  Bayern  kommen  17  638  Altersrentenansprüche,  aut 
das  Königreich  Sachsen  7381,  auf  Württemberg  3935,  Baden 
3248,  Grossherzogthum  Hessen  3153,  beide  Mecklenburg  3^71, 
Thüringische  Staaten  3702,  Oldenburg  593,  Braunschweig  1-53, 
Hansestädte  1105,  Eisass  - Lothringen  5349  und  auf  die  acht  zu- 
gelassenen Kasseneinrichtungen  insgesammt  2304.  Von  den 
sämmtlichen  Ansprüchen  sind  168  070  in  den  elf  ersten  Mo- 
naten des  Jahres,  5598  im  Laufe  des  Monats  Dezember  erhoben 
worden. 


Zum  deutschen  Unfallversicherungs  - Gesetz.  Von  den 
sozialdemokratischen  Abgeordneten  des  Reichstags  ist  zur 


Die  Unfall-  und  Krankenversicherung  in  der  Schweiz. 

Im  November  1890  hat  das  Schweizervolk  mit  grosser 
Mehrheit  folgenden  neuen  Verfassungsartikel  angenommen: 
„Der  Bund  wird  auf  dem  Wege  der  Gesetz- 
o-ebung  die  Kranken-  und  Unfallversicherung  ein- 
richten unter  Berücksichtigung  der  bestehenden 

\Z  rci  nlrpnkjl’s^PUl 

Er  kann  den  Beitritt  allgemein  oder  für  ein- 
zelne Bevölkerungsklassen  obligatorisch  erklären. 

Wie  in  Deutschland  und  Oesterreich,  so  war  es  auch 
in  der  Schweiz  die  Haftpflicht,  welche  zur  l nfall-  und 
Krankenversicherung  führte.  Die  Schweiz  hatte  die 
schärfste  Haftpflicht  und  dehnte  sie  immer  noch  mehr  aus, 
in  der  Absicht,  die  Unternehmer  dadurch  zur  V ersicherung 
ihrer  Arbeiter  zu  veranlassen.  Allein  nicht  nur  blieben  die 
Versicherungsabschlüsse  weit  hinter  den  Erwartungen 
zurück,  sondern  es  zeigten  sich  gerade  mit  der  \ er- 
schärfung  und  der  Ausdehnung  nur  um  so  mehr  alle  die 
Uebelstände,  wie  sie  anderwärts  auch  aufgetreten  waren: 
Verbitterung  zwischen  Unternehmer  und  Arbeiter,  Ab- 
wälzung der  Haftpflicht  auf  die  Arbeiter,  indem  man  die 
Krankenkassen  in  Mitleidenschaft  zog,  ungenügende  >- 
findung  des  Arbeiter  u.  s.  w.  Auf  die  Dauer  mussten  diese 
Zustände  unhaltbar  werden,  und  so  entschloss  man  sich  zur 
Einführung  der  staatlichen  Unfallversicherung,  mit  welcher 
auch  eine  Regelung  der  Krankenversicherung  in  \ erbmdung 
gebracht  werden  musste.  Hierzu  aber  war  vorerst  eine  e- 
vision  der  Bundesverfassung  erforderlich.  Man  vermied  es,  in 
dem  neuen  Verfassungsartikel  von  einer  speziellen  Arbeiter- 
versicherung zu  sprechen,  weil  zunächst  die  Unternehmer 
die  Versicherungsorganisation  bilden  müssen,  und  ferner  die 
Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen  werden  soll,  den  Kreis 
des^ Obligatoriums  nach  Belieben  zu  ziehen.  Die  neue  In- 
stitution sollte  sich  auf  möglichst  demokratischer  Grund- 
lage erheben  und  es  vermeiden,  ihre  Vortheile  auf  einzelne 
Klassen  der  Bevölkerung  zu  beschränken.  Auch  darüber 
war  man  einig,  dass  der  Kranken-  und  Unfallversicherung 
sich  die  Alters-  und  Invaliditätsversicherung  anzuschliessen 
habe,  doch  wollte  man  nicht  Alles  auf  einmal  dekretiren 

Ueber  die  Art  und  Weise,  wie  sich  der  Bundesrath 
die  Ausführung  der  projektirten  Versicherung  denkt,  gaben 
die  Gutachten  seiner  Experten  Nationalrath  Prot-  Dr.  Ivin- 
kelin,  Nationalrath  Forrer,  Ständerath  Dr.  Göttisheim,  Pa- 
brikinspektor  Dr.  Schüler  erschöpfende  Auskunft.  Man 
kann  kurz  sagen,  es  sei  das  österreichische  System  geplant. 
Der  Bund  würde  wie  in  Oesterreich  ein  Staatsinstitut . ein- 
führen mit  a)  einem  Zentralamt,  b)  kantonalen  Unfallver- 
sicherungsbezirken mit  kantonalen  Beamten,  c)  Bezirks- 
kollegien für  Anspruchsentscheide  aus  je  2 Unternehmern 
und  Arbeitern  unter  einem  Beamten,  d.  h.  mit  Rekuis- 
kollegien  aus  2 vom  Bundesgericht  und  2 vom  Kantonsober- 
o-ericht  Gewählten  unter  einem  Zentraldirektor.  Mit  Aus- 
schluss aller  Gerichte  bliebe  das  Zentralamt  die  letzte  In- 
stanz. Einrichtungs-  und  Verwaltungskosten  würde  der 
Bund  Übernehmern  Alle  Betriebe  mit  Gehülfen  mussten 
beitreten,  auch  Dienstboten  und  landwirtschaftliche  Ar- 
beiter, im  Ganzen  750  000  Arbeiter.  Selbständige  Personen 
erlangen  das  Zutrittsrecht,  jedoch  wird  die  Versicherungs- 
summe auf  eine  gewisse  Höhe  beschränkt.  Die  \ ersicherung 
! müsste  auch  Unfälle  ausser  dem  Betriebe  umfassen.  Als 


No.  4. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


55 


Schadenersatz  wurden  2/s  Tagelohn  angenommen.  Die  ersten 
4 Wochen  fallen  auf  die  Krankenkassen.  An  die  letzteren 
hätte  der  Arbeiter  2/?,  der  Arbeitgeber  % zu  leisten 

Wie  in  Oesterreich  so  soll  auch  in  der  Schweiz  das 
Deckungsverfahren  angewendet  werden. 

Hinsichtlich  der  Krankenversicherung  denkt  man  sich 
f eine  ähnliche  Organisation  wie  in  Oesterreich  und  Deutsch- 
land. Man  will  die  bisherigen  Krankenkassen  benützen, 
insofern  sie  sich  einheitlichen  Normativbestimmungen  unter- 
ziehen. Daneben  werden  Gemeindekrankenkassen  errichtet. 
Die  Gemeindekrankenkassen  ständen  auch  Nichtversiche- 
rungspflichtigen offen.  I )ie  Verwaltung  soll  selbständig  sein, 
aber  unter  Aufsicht  der  Gemeinde  und  von  derselben  ge- 
wählt werden.  Unternehmer  wie  Arbeiter  sollen  in  der 
Verwaltung  angemessen  vertreten  sein.  Eine  Zentralstelle 
hat  Berichte  und  Rechnungen  zu  prüfen  und  den  Kassen 
mit  Rath  und  That  an  die  Hand  zu  gehen.  Die  Kosten 
übernimmt  der  Bund,  welcher  den  Vorständen  für  pünkt- 
liche Uebersendung  der  Rechnungen  und  Berichte  ange- 
messene Beiträge  leistet. 

Bevor  nun  der  Bundesrath  an  die  Ausarbeitung  des 
Gesetzes  ging,  wollte  er  noch  die  Wünsche  der  Interessenten 
vernehmen.  Zu  diesem  Zwecke  haben  die  Zentralvorstände 
des  schweizerischen  Handels-  und  Industrie  Vereins , des 
Gewerbevereins,  der  landwirthschaftlichen  Gesellschaft,  des 
Vereins  der  Handelsbeflissenen  und  das  Arbeitersekretariat 
an  die  Sektionen  Fragebogen  verschickt.  So  weit  bis  jetzt 
bekannt,  wünscht  man  in  Handwerker-  und  Arbeiterkreisen 
das  allgemeine  Obligatorium,  dazu  von  Seite  der  Arbeiter 
noch  unentgeltliche  ärztliche  Behandlung  und  Arznei.  Es 
regnet  in  jüngster  Zeit  förmlich  Vorschläge.  Wenn  es 
hierbei  nur  nicht  geht  wie  in  Baselstadt,  wo  man  seit 
20  Jahren  an  der  Einführung  der  obligatorischen  Kranken- 
versicherung laborirte,  sieben  Projekte  nacheinander  aus- 
arbeitete, von  denen  doch  keines  die  Volksgunst  erwarb, 
so  dass  man  schliesslich  aus  purem  Eifer  für  eine  staat- 
liche Krankenversicherung  zu  gar  keiner  Versicherung 
gelangte.  Aehnliche  Versuche  in  den  Kantonen  Genf, 
Aargau  und  Zürich  brachten  die  Bewegung  auf  eidgenössi- 
schem Boden  zum  Stillstand.  Einzig  St.  Gallen  hat  die 
Krankenversicherung  bis  jetzt  staatlich  durchgeführt,  aber 
der  Zwang  erstreckt  sich  nur  auf  die  sogenannten  Auf- 
enthalter, d.  h auf  diejenigen  Kantonsfremden,  welche  sich 
nicht  dauernd  im  Kanton  niederlassen. 

Zur  deutschen  Krankrnkassennovelle.  In  seinem  an 
anderer  Stelle  dieses  Blattes  (vergl.  „Soziale  Hygiene“)  aus- 
führlicher wiedergegebenen  Vortrag'  vor  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  öffentliche  Gesundheitspflege  unterwarf 
Dr.  Blaschko-Berlin  auch  die  Bestimmungen  der  §§  6 und 
26  des  Krankenkassengesetzes,  nach  welchem  die  Kassen- 
vorstände den  Geschlechtskranken  das  Krankengeld  ent- 
ziehen können,  einer  Kritik,  indem  er  nachwies,  dass  diese 
Bestimmung,  weit  davon  entfernt,  den  beabsichtigten  „mora- 
lischen“ Effekt  zu  erzielen,  nur  zur  Verschleppung,  Ver- 
heimlichung und  Weiterverbreitung  der  Syphilis  Anlass 
gebe.  Der  Vortragende,  der  wegen  seiner  reichen  Erfah- 
rungen auf  diesem  Gebiete  als  fachmännische  Autorität 
gelten  kann,  richtete  noch  in  letzter  Minute  einen  Appell 
an  die  Oeffentlichkeit,  um  zu  verhüten,  dass  bei  der  in 
nächster  Zeit  bevorstehenden  dritten  Lesung  der  Kranken- 
kassengesetznovelle diese  für  die  öffentliche  Gesundheits- 
pflege so  unheilvollen  Bestimmungen  wieder  mit  in  das 
Gesetz  aufgenommen  werden. 

Untcrstützungskasse  der  westfälischen  Bergleute. 

Nach  dem  soeben  erstatteten  Jahresberichte  dieser  Kasse 
des  sogenannten  „alten  Bergarbeiterverbandes“  (im  Gegen- 
satz zum  „neuen“,  unter  Mitwirkung  der  Centrumspartei 
gegründeten)  hatte  dieselbe  im  Jahre  1891  eine  Einnahme 
von  3375  Mk.,  der  2354  Mk.  in  Ausgabe  gegenüberstehen. 
Man  trat  in  der  Jahresversammlung  der  Forderung  ent- 
gegen, dass  für  die  Kassengeschäfte  Vergütungen  gezahlt 
werden  sollen.  Eine  längere  Erörterung  entspann  sich  bei 
Besprechung  des  Statuts,  das  von  verschiedenen  Seiten 
bemängelt  wurde;  die  Mehrzahl  entschied  sich  für  Bei- 
behaltung des  gegenwärtigen.  Die  ausständigen  Erz- 
arbeiter im  Nassauischen  (Biber)  sollen  unterstützt  werden, 
weil  sie  Verbands -Mitglieder  und  deshalb  gemassregelt 
seien.  Ein  Antrag,  für  diesen  Zweck  sofort  500  Mk.  zu 
bewilligen,  wurde  einstimmig  angenommen.  Im  Vergleich 
zur  Strikekasse  der  Zechen  verfügen  die  Bergarbeiter  über 
sehr  geringe  Summen. 


Die  österreichische  Krankenversicherung  'im  Jahre  188h. 

Nicht  früher  als  im  Juni  1891  ist  die  erste  Veröffentlichung  der 
Ergebnisse  der  österreichischen  Krankenversicherung,  die  sich 
auf  den  Zeitraum  vom  1.  August  bis  31.  Dezember  1889  bezieht'), 
erfolgt.  Wir  entnehmen  der  Publikation  lediglich  die  markantesten 
Daten.  Die  Zahl  der  theils  neu  gegründeten,  theils  umgebildeten 
Kassen  belief  sich  auf  2458,  von  welchen  56  gar  keine  oder 
völlig  unbrauchbare  Nachweisungen  lieferten;  die  Zahl  der  Ver 
sicherten  betrug  1 310  379,  wovon  1 020  746  männliche  und  289  633 
weibliche  Personen  waren.  Von  der  Gesammtzahl  waren  64  364 
freiwillig  versichert.  Die  Mitgliederzahl  nach  Kassenkategorien 
ergiebt  die  nachfolgende  Zusammenstellung: 

Zahl  der 

Zahl  der  Mitglieder  am  31.  12,  1889  ^ 

Kassenkategorie 

Kassen  am 
31.  12.  1889 

insgesammt 

davon 

weibliche 

scnnimicn 
auf  eine 
in  °/0  1 Kasse 

Mitglieder 

Bezirkskrankenkassen 
Betriebs  „ 

Bau  „ 

Genossenschafts  „ 
Vereins  „ 

524 
1 317 

2 

525 
34 

432  964 
460  065 
982 
185  774 
230  594 

59  143 
142  088 

26  392 
62010 

13,6  826 

30.8  349 

— 491 

14,2  354 

26.9  6 782 

Sämmtliche  Kassen 

Es  erkrankten 
und  erhielten  Unters 
den  Erkrankten  wäre 
85  417  = 24,2%  Erkrai 
fielen.  Die  durchsch 
sonach  13,4,  bei  weibl 
Anzahl  der  Sterbefäll 
Männer,  1748  auf  Frau 
arten  vertheilt  sich  d 
in  folgender  Weise: 

2 402  1 310  379  289  633  22,1  545 

im  Ganzen  302  028  Mitglieder  353  118  Mal 
tützung  für  4 723  710  Krankentage.  Von 
n 72  941  = 24,1  % Arbeiterinnen,  auf  welche 
lkungen  und  1398  923  Krankentage  ent- 
nittliche  Dauer  einer  Erkrankung  betrug 
ichen  Mitgliedern  dagegen  16,3  Tage.  Die 
e bezifferte  sich  auf  6538,  wovon  4790  auf 
en  und  Mädchen  kamen.  Nach  den  Kassen- 
e Erkrankungs-  und  Sterblichkeitsfrequenz 

Kassenkategorie 

Zahl  der 
Erkrankten 

Zahl  der 
Er 

krank ungen 

Ausgezahlte 

Kranken- 

tage 

Durch- 
schnittliche Sterbe- 
Dauer  der  c. 

t ’ 1 1 talle 

Erkrankung 
in  Tagen 

Bezirkskrankenkassen 
Betriebs  „ 

Bau  „ 

Genossenschafts  „ 
Vereins  „ 

65  690 
119  193 
325 
31  490 
85  330 

71  684 
141  638 
344 
36  941 
104  511 

717  721 
1 729  064 
3 485 
474  781 
1 798  659 

10.0  883 

12,2  2 360 

10.1  4 

13,6  738 

17.2  2 553 

Sämmtliche  Kassen 

302  028 

353  1 18 

4 723  710 

13,4  6 538 

Einen  Ueberblick  über  die  finanzielle  Gebahrung  und 
deren  Resultate  ergiebt  folgende  Tabelle: 


Kassen- 

kategorie 


Ein- 


Aus- 


nahmen  gaben 


in  Gulden  ü.  W. 


Von  den  Ausgaben  < 
fielen  % auf 


ho  : ^ 


hfl 

c c 

C u 

■5  o 

v 

<D 


bo  c I 
c w 

— cJ 

« ho 


Einnahmen- 

uberschuss 

absolut  °/o 


Bezirkskranken- 
kassen   

Betriebskranken- 

1125  234  803  353  39,0 

16,2 

9,2 

1,6 

27.6  321  881 

28.6 

kassen  

Baukranken- 

2 025  457  1 605  307  53,8 

20,2 

15,4 

3,6 

3,2  420  150 

20,7 

kassen  

3 321  3 906  43,7 

17,1 

8,3 

2,3 

10,0  585 

17.6 

Genossenschafts- 

krankenkassen 

Vereinskranken- 

666  793  554  899  53,0 

10,9 

8,1 

3,2 

17,5  111894 

16,7 

kassen  

1 722  104  1 569  185  68,5 

8,5 

9,4 

4,0 

6,6  152  429 

8,8 

Sämmtl.  Kassen  !5  542  909  4 536  650  56,1 

1 

14,3  11,3  3,3  10,4  1 007  429 

18,1 

Zu  dieser  Zusammenstellung  sei  noch  bemerkt,  dass  nach 
dem  österreichischen  Krankenversicherungsgesetze  auch  die 
freien  Kassen  zur  Gewährung  von  ärztlicher  Hilfe  und  Arzneien 
verpflichtet  sind. 

Auffallend  dürfte  es  sein,  dass  eine  sechste  Kassenkategorie, 
die  das  Gesetz  kennt,  die  Bruderladen,  in  der  vorliegenden  Ver- 
öffentlichung vollständig  unberücksichtigt  bleibt.  Die  Erklärung 
liegt  darin,  dass  bis  heute  die  Anpassung  dieser  Kassen  an  das 
Krankenversicherungsgesetz  nicht  erfolgt  ist. 

Zum  Schlüsse  sei  auch  noch  auf  die  Höhe  des  „durch- 
schnittlichen üblichen  Tagelohnes“,  wie  er  der  Berechnung  des 
Krankengeldes  zu  Grunde  gelegt  wird,  ein  Blick  geworfen.  Der- 


')  Bei  einem  Theile  der  Kassen  beziehen  sich  die  Daten 
auf  einen  längeren  Zeitraum. 


56 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  4 


selbe  bewegt  sich  zwischen  53  Kreuzern  in  Schlesien  und 
1 13  Kreuzern  in  Dalmatien,  wobei  jedoch  nicht  ausser  Acht  zu 
lassen  ist,  dass  diese  Ziffern  nur  Durchschnitte  sind.  Manchen 
Orts  fällt  der  bezirksübliche  ragelohn  bis  auf  15  und  20  Kreuzer 
und  das  Krankengeld  damit  aut  täglich  9 und  12  Kreuzer. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 


Gewerbliche  Schiedsgerichte  in  der  Schweiz.  Nachdem 
seit  Jahren  in  der  romanischen  Schweiz  (Genf, Neuenburg)  den 
französischen  Conseils  dePrud’hommesnachgebildetegewerb- 
liche  Schiedsgerichte  bestehen  und  mit  gutem  Erfolg  wirken, 
wird  in  jüngster  Zeit  auch  in  der  deutschen  Schweiz,  wo 
Baselstadt  mit  gutem  Beispiel  vorangegangen  ist,  die  Ein- 
richtung ähnlicher  Institutionen  immer  lauter  gefordert.  Im 
Aargau  hat  eine  von  mehreren  hundert  Arbeitern  besuchte 
Versammlung  an  den  Regierungsratfp  das  Begehren  um 
Einführung  gewerblicher  Schieds-  und  Sühngerichte  gestellt, 
mit  der  Begründung  dass  eine  allgemeine  sachverständige 
Würdigung  der  bei  Streitfällen  zwischen  Unternehmern  und 
Arbeitern  vorhandenen  Umstände  und  somit  eine  gerechte 
Beurtheilung  des  Falles  selbst  nur  möglich  sei  durch  rach- 
gerichte,  in  welchen  der  Standpunkt  beider  I arteien  zur 
Gleitung  gelangen  könne.  Die  gewerblichen  Schiedsgerichte 
hätten  alle  Streitigkeiten  zu  beurtheilen,  welche  sich  zwi- 
schen Unternehmern  (Fabrikanten,  Kaufleuten  und  Hand- 
werksmeistern) einerseits  und  ihren  Arbeitern,  Angestellten 
und  Lehrlingen  andererseits  bezüglich  der  Dienstleistung 
ergeben.  Es  wären  demnach  gewerbliche  Schiedsgerichte 
in  gewerblichen  und  industriellen  Zentren,  wo  solche  von 
den3  Interessenten  gewünscht  werden,  zu  wählen  und  zwar 
nach  folgenden  Grundsätzen: 

Die  Gemeindebehörde  hätte  die  Richter  zu  wählen  in 
o-leicher  Zahl  aus  Unternehmern  und  aus  Arbeitern,  in  Be- 
rücksichtigung der  Hauptgruppen  der  Gewerbe  und  nach 
den  Vorschlägen  der  industriellen,  gewerblichen  und  der 
Arbeitervereine.  Ferner  hätte  die  Gemeindebehörde  zum 
Obmann  ein  rechtskundiges  Mitglied  aus  ihrer  Mitte 
zu  bestellen.  Jedem  Schiedsspruch  müsste  ein  Sühne- 
versuch vorangehen  durch  einen  Sühneausschuss,  bestehend 
aus  je  einem  Unternehmer  und  einem  Arbeiter.  Das  Prozess- 
verfahren müsste  unentgeltlich  sein,  und  es  hätten  die 
Sitzungen  des  Gerichts  ausserhalb  der  üblichen  Geschäfts- 
stunden, z.  B.  Abends  stattzufinden. 

Leider  hat  das  um  ein  Gutachten  angegangene  kan- 
tonale Obergericht  gegenüber  der  Eingabe  einen  ablehnen- 
den Standpunkt  eingenommen.  Nach  ihm  sind  gewerbliche 
Schiedsgerichte  im  Aargau  kein  Bediirfniss,  wie  in  grösseren 
o-ewerbreichen  Städten,  und  ausserdem  ist  das  Gericht 
grundsätzlich  dagegen,  dass  zu  den  bisherigen  ordentlichen 
üerichten  immer  neue  den  Charakter  von  Ausnahme- 
gerichten  tragende  Gerichtsstände  geschaffen  werden  sollen. 
Das  letztere  Motiv  wird  wohl  ausschlagend  gewesen  sein; 
man  fürchtet  die  Konkurrenz.  Zum  Ueberfluss  fordert  nun 
aber  die  Staatsverfassung  ausdrücklich  die  Einrichtung  ge- 
werblicher Schiedsgerichte.  . 

Im  Kanton  Solothurn,  der  weniger  Industrie  aufweist 
als  der  Aargau,  scheint  man  die  Nützlichkeit  solcher  Gerichte 
besser  zu  würdigen.  Bereits  hat  nämlich  der  dortige  Re- 
gierungsrath  einen  Gesetzentwurf  für  Einführung  gewerb- 
licher Schiedsgerichte  im  Sinne  des  aargauischen  Vor- 
schlages ausgearbeitet.  Im  Kanton  Zürich,  wo  man  sich 
seit  Jahren  mit  der  Frage  beschäftigt,  wird  ebenfalls  die 
baldige  Veröffentlichung  eines  definitiven  Entwurfs  ange- 
kündFgt.  Derselbe  soll  auch  die  Einrichtung  von  Einigungs- 
ämtern vorsehen. 

Gewerbegericlite  für  Bergleute.  Vier  besondere  Ge- 
richte sollen  für  die  preussischen  Grubenarbeiter  in  1 reussen 
eingerichtet  werden,  und  zwar  in  Saarbrücken,  Dortmund, 
Beuthen  und  Waldenburg.  Zu  Vorsitzenden  sind  die 
königlichen  Berg-Revierbeamten  und  als  deren  Stellvertreter 
Mitglieder  von  Amts-  und  Landgerichten  in  Aussicht  ge- 
nommen. Durch  die  Zuständigkeit  jedes  Berg-Gewerbe- 


gerichts wird  die  Zuständigkeit  anderer  innerhalb  seines 
Bezirks  bestehender  oder  später  errichteter  Gewerbegerichte 
ausgeschlossen.  Die  Kosten  der  Berg- Gewerbegerichte 
werden,  soweit  sie  in  deren  Einnahmen  nicht  Deckung 
finden,  vom  Staate  getragen.  Schon  aus  Rücksicht  aut  das 
gespannte  Verhältniss,  das  zwischen  der  Arbeiterschaft  der 
Bergwerke  und  einem  nicht  geringen  Bruchtheil  der  Berg- 
beamten herrscht,  hätte  man  davon  absehen  müssen  diese 
zu  Vorsitzenden  der  bergmännischen  Schiedsgerichte  zu 
machen.  Die  in  den  fiskalischen  Gruben  Schlesiens  und 
des  Saarreviers  beschäftigten  Arbeiter,  welche  unmittelbar 
von  den  Berg-Revierbeamten  abhängig  sind,  werden  in 
ihren  Entschliessungcn,  beim  Gewerbegericht  ihr  Recht  zu 
suchen,  sicherlich  beeinflusst  werden,  von  den  Beisitzern 
aus  der  Arbeiterschaft  ganz  zu  geschweigen.  Ob  es  über- 
haupt angebracht  ist,  Sondergerichte  für  Bergleute  ins 
Leben  zu  rufen,  ist  die  Frage.  In  den  Grubenbezirken  ist 
es  ein  Leichtes,  die  nöthige  Zahl  sachkundiger  Richter  aus 
bergmännischen  Kreisen  aufzubringen:  die  Bergleute  hatten 
schon  in  ihrem  eigenen  Interesse  für  genügende  Wahl- 
betheiligung gesorgt.  Wie  die  Dinge  jetzt  liegen,  mag 
das  Sondergericht  als  Ausnahmegericht  erscheinen.  Und 
dies  liegt  nicht  in  den  Absichten  der  Gewerbegerichts- 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 


Schlafstellen  wesen  in  Berlin.  Das  Berl"1fr  P°L'ä 
iräsidium  hat  seine  untergebenen  Organe  zu  einer  schar 
eren  Durchführung  der  das  Schiafstenenwesen  n Ber 
regelnder  Polizeiverordnung  vom  17.  Dezember  188  | 

fordert  Die  Zahl  der  Schlafgänger,  welche  die  Wohnver- 
hältnisse  der  arbeitenden  Klassen  Berlins  kennzeichnet, 

hat  von  59  087  im  Jahre  1880  auf  89687  , ^r pr^ebnisse 

95  365  im  Jahre  1890  zugenommen  (Emstweilige  Ergebnisse 
der  Volkszählung  vom  1 . Dezember  1 890  in  der  Stad 
Berlin.  Veröffentlicht  vom  Statistischen  Amt  der  Maüt 
Berlin  1891.  S.  61.)  Die  meisten  Schlafgänger  wurden 
der  jenseitigen  Luisenstadt  westlicher  Theil  und  im  west- 
lichen Strafauer  Viertel  gezählt,  in  frbeit^quatUer^  von  ; 
denen  das  erstgenannte  die  zweithöchste  Behausungszitier 
unter  sämmtlichen  Berliner  Standesämtern  aufweis  ^ 
der  Luisenstadt  jenseits  des »Kanals 'westlicher ^Theil  kamen 
auf  das  bewohnte  Grundstuck  1880.  90,2,  1886.  yo,u,  iövu 
95  9 Einwohner.  Höher  ist  die  durchschnittliche  Behausungs- 

Ziffer nur  noch  in  der  jenseitigen  LuisenetptosthcherThed 

mit  127,2.  Im  westlichen  StraWr.  Viertel  belauft  sie  si 
auf  85  9 im  Jahre  1890  gegen  83,0  in  1885  und  73,5  l 
a a 6.  S.'1).  Während  der  Antheil  der  Schlafganger  für 
o-anz  Berlin  60,8  pro  Tausend  der  Wohnbevölkerung 
trug,  bezifferte  er  ‘sich  in  der  westlichen  Lmsenstad ^auf  8* 
im  westlichen  Stralauer  \ lertel  aut  81.  Der  Antnen 
Vergleich  mit  der  Gesammtheit  für  Berlin  überhau; P ™ar 
1880.  52,6,  1885:  64,4,  1890,  wie  bereits  ges; agf ,60,8 ■ /„,  sm 
dass  ein  kleiner  Rückgang  festzustellen  ist  Abei , wie  d 
Bericht  des  Statistischen  Amts  ausfuhrt,  ist  f^r  der  Anthe, 
der  weiblichen  Schlafgänger  erheblich  zujuckgegan^e, 
während  derjenige  der  männlichen  fast  de  .» 

blieben  ist.  Die  Missstände,  welche  aus  dem« 
gängerwesen  entspringen,  sind  bekann  . 
nungen  jedoch  fassen  das  Uebe  nicht  Wurzel^  m 

lange  die  Arbeiterfamilien  durch  ihre  wirthschaftliche  La| 
gezwungen  sind,  ihre  Wohnung  mit  Fremden  zu  the 
und  diese  nöthigt,  mit  solch  jammerheher  Behaus^g  « I 
zu  bep-nücren,  lässt  sich  eine  Reform  nicht  durcnserzen. 
Jedenfalls  Ist  eine  straffe  gesundheitspolizeihche  Kon  ro 
-ehr  wünschenswerth. 


No.  4. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


57 


Soziale  Hygiene. 

Der  Entwurf  eines  Gesetzes  zur  Bekämpfung  der 
Trunksucht  in  Deutschland. 

Der  vom  Bundesrath  umgearbeitete  Gesetzentwurf, 
betreffend  die  Bekämpfung  der  Trunksucht  im  Deutschen 
Reiche,  liegt  als  No.  593  der  Reichstagsdrucksachen  im  Wort- 
laute vor  und  lässt  sich  als  eine  nicht  erhebliche  Umarbei- 
tung des  zuerst  Mitte  vorigen  Jahres  für  die  öffentliche  Kritik 
publizirten  Entwurfes  erkennen.  Er  will  den  „Missbrauch 
geistiger  Getränke“  auf  dreifache  Weise  bekämpfen:  erstens 
durch  einheitliche  gesetzliche  Regelung  der  Vorbedingungen 
für  die  Ausübung  der  den  Vertrieb  geistiger  Getränke  be- 
zwecken den  Gewerbe,  sowie  gewisser  neuer  Verpflichtungen 
dieser  Gewerbetreibenden;  zweitens  durch  privatrechtliche 
Vorschriften,  den  Borg  von  Spirituosen  und  die  Entmündi- 
gung wegen  Trunksucht  betreffend;  drittens  durch  neue 
Strafbestimmungen,  deren  auffälligste  jene  des  § 18  ist, 
wonach  „mit  Geldstrafe  bis  zu  60  Mark  oder  Halt  bis  zu 
14  Tagen  bestraft  wird,  wer  in  einem  selbstverschuldeten 
Zustand  ärgernisserregender  Trunkenheit  an  einem  öffent- 
lichen Ort  betroffen  wird.“ 

Die  Begründung  dieser  Neuerungen,  welche  den  Cha- 
rakter kleinlicher  Polizeimassregeln  gemeinsam  an  der  Stirn 
tragen,  lautet  in  dem  amtlichen  Schriftstück  etwa  folgender- 
maassen.  Im  Vergleich  mit  den  Gesetzgebungen  anderer 
Staaten  sei  die  deutsche  Trunksuchtsgesetzgebung  bisher 
eine  verhältnissmässig  wenig  eingehende  gewesen.  Dass 
sie  „zur  Bekämpfung  der  durch  den  Missbrauch  geistiger 
Getränke  hervorgerufenen  moralischen,  wirthschaftlichen 
und  sozialen  Uebel“  nicht  ausreiche,  sei  durch  zahlreiche 
Erörterungen,  welche  während  der  letzten  Jahre  in  der 
Presse  und  in  der  wissenschaftlichen  Litteratur  stattgefunden 
haben,  ausser  Zweifel  gestellt.“  Folgen  Berufungen  auf 
die  Schriften  von  Dr.  A.  Baer,  Dr.  Rahts  und  auf  die  amt- 
lichen schweizerischen  Veröffentlichungen  zur  Alkoholfrage. 
Aus  den  mitgetheilten  Statistiken  geht  hervor,  dass  der 
Alkoholverbrauch  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  1890 
in  Deutschland  4,64  Liter,  im  Jahresdurchschnitt  von  1857 
bis  1881  in  England  4,72,  1888  in  Schweden  6,90, 

1880  in  Dänemark  18,9,  1885  in  den  Niederlanden  9,26, 

im  jährlichen  Durchschnitt  von  1879 — 81  in  Belgien  13,  in 
der  Schweiz  9,40,  1880  in  Oesterreich-Ungarn  5,76  Liter, 
also  in  allen  diesen  Ländern  mit  und  ohne  Trunksuchts- 
gesetzgebung mehr  als  im  deutschen  Reiche  betrug;  nur 
die  Weinländer  Frankreich  und  Italien  zeigen  einen  etwas 
niedrigeren  Konsum,  als  Deutschland.  Trotzdem  steht  in 
der  Begründung  zu  lesen:  „Hiernach  muss  der  Konsum 
geistiger  Getränke  in  Deutschland  auch  im  Vergleich 
mit  dem  Konsum  der  ebenerwähnten  ausländischen  Staaten 
als  ein  recht  beträchtlicher  bezeichnet  werden“  Die  nun 
folgenden  Statistiken  über  das  vermehrte  Vorkommen  des 
Säuferwahnsinns  in  den  allgemeinen  Krankenhäusern  des 
deutschen  Reiches,  über  die  Steigerung  gewisser  Geistes- 
krankheiten infolge  Trunks  und  die  Zunahme  der  Selbst- 
morde, sowie  von  fünf  Arten  strafbarer  Handlungen,  von 
denen  ohne  Weiteres  behauptet  wird,  dass  sie  „haupt- 
sächlich unter  dem  Einfluss  der  Trunkenheit  verübt  würden 
(Hausfriedensbruch,  Unzucht,  Beleidigung,  Körperverletzung 
und  Sachbeschädigung!),  reichen  fast  sämmtlich  nur  bis 
Anfang  oder  Mitte  der  achtziger  Jahre  und  lassen  die  Zu- 
nahme der  Bevölkerung,  welche  die  Zunahme  aller  Zahlen 
in  erster  Linie  erklärt  und  dieselbe  theilweise  noch  über- 
steigt,  ganz  unberücksichtigt.  Im  Anschluss  an  diese 
Zahlenbeweise  wird  gesagt,  dass  der  Alkoholismus  „sich 
auch  als  die  ergiebigste  Quelle  des  Pauperismus  erweist, 
das  Familienglück  vernichtet,  die  Prostitution  fördert,  den 
Sinn  für  öffentliche  Ordnung  und  Rechtssitte  untergräbt“. 
Die  Begründung  zur  einschneidendsten  Bestimmung,  zum 
§ 18,  heisst  ^wörtlich: 

„Die  in  die  Oeffentlichkeit  tretende  auffällige  Trunkenheit 
wird  nach  den  Gesetzgebungen  nahezu  aller  Staaten,  welche 
ein  in  sicly  abgeschlossenes  Strafrechtssystem  besitzen,  sei  es 
unter  der  Voraussetzung,  dass  dadurch  Unordnung,  Aergerniss 


oder  Gefahr  für  den  Betrunkenen  selbst  oder  für  Andere  ver- 
ursacht wird,  bestraft.  Die  Formulirung  der  in  dem  Entwurf 
vorgeschlagenen  Strafvorschrift  entspricht  den  Beschlüssen  der 
Kommission  des  Reichstages  zu  dem  Gesetzentwurf  vom 
Jahre  1881.  In  den  Motiven  zu  diesem  Entwurf  wird  ausgeführt, 
dass  davon  abzusehen  sei,  die  Trunksucht  innerhalb  des  häus- 
lichen Kreises  mit  den  Mitteln  des  Strafrechts  zu  bekämpfen,  weil 
ein  solches  Eingreifen  das  Familienleben  unter  Umständen  ge- 
| fährden  könne.  Eswird  dahernurdie  an  dieOeffentlichkeittretende 
Trunkenheit  unter  Strafe  zu  stellen  sein.  Aber  auch  bei  dieser 
Beschränkung  lassen  sich  Verhältnisse  denken,  unter  welchen 
ein  strafrechtliches  Einschreiten  zu  Härten  und  Unzuträglich- 
keiten führen  würde.  Um  dem  vorzubeugen,  muss  die  Straf- 
barkeit noch  an  die  weitere  Voraussetzung  geknüpft  werden, 
dass  die  Trunkenheit  das  allgemeine  Anstands-  und  Sittlich- 
keitsgefühl zu  kränken  geeignet  war.  Deshalb  will  der  Ent- 
wurf nur  denjenigen  bestrafen,  welcher  in  einem  Zustande 
ärgernisserregender  Trunkenheit  an  einem  öffentlichen  Orte 
betroffen  wird.“ 

Man  muss  einen  Blick  auf  die  Entstehungsgeschichte 
dieser  Gesetzesvorschläge  werfen,  um  sie  ganz  zu  verstehen. 
Sie  stammen  aus  dem  kleinbürgerlichen  Ideenkreis  des 
„Deutschen  Vereins  gegen  den  Missbrauch  geistiger  Ge- 
| tränke“,  dessen  Vorstand  es  z.  B.  aus  „praktischen“  Gründen 
ablehnte,  sich  1886  für  das  Branntweinsteuermonopol  zu  er- 
klären, welches  seine  Ziele  doch  gerade  am  vollkommen- 
sten fördern  könnte.  Der  Bericht,  den  der  jetzige  Vor- 
sitzende dieses  Vereins,  Abgeordneter  Struckmann,  in  der 
Session  1884/85  als  Drucksache  No.  227  dem  Reichstage  über 
die  für  im  Trunksuchtsgesetze  eingegangene  Petition  er- 
stattete, ist  in  der  Hauptsache  wörtlich  die  jetzige  Begrün- 
dung des  Regierungsentwurfes  geworden.  In  dem  seit  1883 
bestehenden  Deutschen  Mässigkeitsverein  überwiegen  je 
länger  je  mehr  die  kirchlichen  Elemente,  die  sich  im  Sinne 
der  „inneren  Mission“,  also  von  Moralgesichtspunkten  ge- 
J leitet,  an  der  im  Uebrigen  von  wenigen  Personen  besorgten 
Agitation  gegen  die  Trunksucht  betheiligen.  Es  ist  deshalb 
kein  Zufall,  dass  gleich  nach  dem  Arbeiterschutzgesetz  und 
der  Sonntagsruhe,  gleichzeitig  mit  der  konfessionellen  Volks- 
schule und  noch  vor  der  Berggesetznovelle  dieser  Gesetz- 
entwurf erscheint.  Unser  sinngetreues  Resume  der  Motive 
zeigt,  dass  dieselben  sich  auf  eine  in  ihren  Einzelheiten 
statistisch  mehrfach  anfechtbare  Schilderung  der  Ausbrei- 
tung und  Wirkung  des  Alkoholismus  beschränken,  die 
Frage  nach  der  Ursache  aber  gar  nicht  aufwerfen,  auch 
nicht  in  einem  einzigen  Satze,  wieviel  weniger  dieselbe 
zu  beantworten  suchen.  Wir  betrachten  diese  sozialpolitische 
Blösse  des  Entwurfes  als  eine  Art  Ehrlichkeit  und  Offenheit, 
die  man  anerkennen  muss.  Seit  der  Veröffentlichung  des 
ersten,  inzwischen  wenig  veränderten  Entwurfes  im  August 
1891  hat  sich  die  sozialpolitische  Kritik,  die  noch  gewünscht 
wurde,  fast  ausschliesslich  darum  gedreht,  dass  es  der  Ent- 
wurf vermeide,  irgendwie  unter  die  Oberfläche  des  Uebels 
zu  dringen,  nach  seinen  Voraussetzungen  zu  forschen  und 
im  Kampfe  gegen  diese  Voraussetzungen,  als  welche  For- 
scher wie  die  Professoren  Finkelnburg,  Binz,  Rosenthal, 
J.  Wolf  und  Fabrikinspektor  Dr.  Schüler  Ueberanstrengung 
und  physiologisch  mangelhafte  Ernährung  nachgewiesen 
haben,  eine  gründliche  Eindämmung  des  Alkoholismus  zu 
versuchen.  Wenn  die  Verfasser  des  Entwurfes  auch  in  der 
jetzigen  Umarbeitung  desselben  gänzlich  davon  abstrahiren, 
auf  diese  Kritik  auch  nur  abweisend  einzugehen,  so  sagen  sie 
damit  nichts  anderes,  als  dass  sie  ihren  Vorschlag  überhaupt 
| nicht  als  sozialpolitische  Massnahmen,  sondern  lediglich  als 
polizeiliche  Repressivmassregel  betrachtet  haben  wollen. 
Man  hebt  deshalb  unseres  Erachtens  den  Gesetzentwurf  auf 
ein  Niveau,  das  er  garnicht  beansprucht,  wenn  man  ihm 
einen  Vorwurf  daraus  macht,  dass  ihm  alle  Eigenschaften 
einer  organischen  sozialen  Reform  fehlen.  Nach  seiner  Be- 
gründung will  er  diese  garnicht  besitzen,  sondern  einfach 
polizeilich  einige  Auswüchse  beschneiden,  und  die  Frage 
steht  einfach  so,  ob  nicht  etwa  seine  polizeilichen  Mass- 
nahmen als  solche  eine  Hohn  auf  die  soziale  Gerechtigkeit 
sind.  Das  trifft  nun  freilich  im  höchsten  Masse  zu.  Man 
kann  Niemanden  für  das  Elend  bestrafen,  in  dem  er  sich 
befindet.  Der  Entwurf  bestraft  aber  lediglich  diejenige 
Trunkenheit,  die  nur  in  Ausnahmefällen  nicht  eine  Folge 
des  Elends  sind,  denn  er  schliesst  die  Bestrafung  der  nicht- 


58 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  4. 


öffentlichen  Trunkenheit  aus,  unter  dem  Vorwand,  „dass 
ein  solches  Eingreifen  das  Familienleben  unter  Umständen 
o-efährden  könnte.“  Damit  ist  aber  offenbar  nur  das  Familien- 
leben der  besitzenden  Klassen  gemeint;  denn  in  das  F amilien- 
leben  der  Arbeiter  will  der  Entwurf  liebevoll  schützend  em- 
irreifen. Die  Politik  der  polizeilichen  Hilfe,  welche  der 
Entwurf  einschlägt,  ist  also  nicht  einmal  sehr  geschickt. 
Bekanntlich  hat  sich  auch  der  deutsche  Juristentag  gegen 
diese  Art  der  Bestrafung  ausgesprochen.  Die  gewerbepoh- 
zeilichen  Bestimmungen,  welche  den  Wirthen  theilweise 
Unmögliches  vorschreiben  (Prüfung  des  Alters  ihrer  Kunden 
und  Aehnliches)  sind  im  Uebrigen  für  die  Allgemeinheit 
nicht  von  der  einschneidenden  Bedeutung,  welche  ihnen  die 
betroffenen  Gewerbetreibenden  beimessen  möchten.  Hier 
fehlen  vielmehr  genaue  hygienische  Vorschriften  für  die 
Schankräume,  die  Schankgefässe  u.  s.  w.,  also  gerade  das- 
jenige, was  die  Polizei  Nützliches  leisten  könnte.  Dass 
man  das  Detailreisen  in  Spirituosen  verbietet,  entspricht 
dem  Grundsatz,  den  Schwächsten  am  härtesten  zu  treffen. 
Die  Einführung  der  Bedürfnissfrage  für  ganz  Deutschland, 
von  welcher  die  Konzessionsertheilung  für  den  Ausschank 
von  Spirituosen  abhängig  zu  machen  ist,  ist  nur  für  Ham- 
burg- und  Bremen,  sowie  ca.  60  Städte  etwas  Neues.  Sie 
steift  eine  volkswirtschaftliche  Verwaltungsmassregel  dar, 
die  selbstverständlich  sein  sollte  und  eigentlich  den  Keim 
einer  gesellschaftlichen  Regelung  der  Produktion  und  Ver- 
teilung enthält.  Die  Bedürfnissfrage  hat  in  diesem  Sinne 
keinen0 besonderen  Zusammenhang  mit  der  Alkoholfrage. 
Ihre  Berechtigung  könnte  von  uns  für  jedes  andere 
Gewerbe  zugestanden  werden.  In  der  Praxis,  in  der 
Gemeinde-  und  Kreisverwaltung  wird  sie  freilich  viel- 
fach zur  blossen  Form,  hinter  welcher  die  Geldinter- 
ressenwirthschaft  weiter  betrieben  werden  kann,  weshalb 
die  Mässigkeitsvereinler  ein  auf  die  Bevölkerungsziffer 
basirtes  Verhältniss  der  Schnapsschenken  festgesetzt  haben 
wollten.  Hier  wagt  die  Bureaukratie  des  Entwurfs  wieder 
nicht  die  vollen  Konsequenzen  des  Polizeistandpunktes  zu 
ziehen;  sie 'möchte  den  Finanzen  der  Selbstverwaltungs- 
körper nicht  wehe  thun. 

Die  Durchsicht  des  Entwurfes  ergiebt  also  eine  bunte 
Sammlung  polizeilicher  Vorstösse  auf  der  einen  Seite  und 
bureaukratischer  Halbheiten  auf  der  anderen.  Zwischen 
diesen  beiden  entgegengesetzten  Polen,  die  jedenfalls  einer 
zielbewussten  Sozialpolitik  so  fern  liegen,  als  nur  möglich, 
schwankt  das  reformatorische  Können  der  Urheber  dieses 
künftigen  Reichsgesetzes,  die  achtlos  an  dem  Schlussatz 
Dr.  Schuler’s  in  der  von  ihnen  selbst  zitirten  schweizeri- 
schen Veröffentlichung  vorübergegangen  sind:  „würde  . . . 
der  Anlass  zur  Beschaffung  des  Schnapses  spärlicher  ge- 
macht: dann  erst  könnte  eine  verbesserte  Ernährung  dem 
Branntwein  eine  erfolgreiche  Konkurrenz  machen. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Aeusserungen  zum  Truuksuchtsgesetz-Entwurf.  Ueber 
die  Trunksuchtsgesetz- Vorlage  haben  sich  neuestens  wie- 
der zwei  offizielle  Körperschaften  geäussert.  Zunächst 
beschloss  die  Aerztekammer  der  Rheinprovinz  m 
ihrer  letzten  Sitzung:  „1.  Eine  Bestrafung  der  Trunk- 

sucht als  solcher  erscheint  nicht  zulässig.  Die  Verbrin- 
iriUw  der  Gewohnheitstrinker  in  Trinkerheilanstalten  darf 
nicht  auf  strafgerichtlichem  Wege  erfolgen.  Vom  ärzt- 
lichen Standpunkte  aus  ist  die  frühzeitige  Unterbrin- 
gung eines  Gewohnheitstrinkers  in  eine  Irmkerheil- 
anstalt  — ähnlich  wie  die  Unterbringung  eines  Geistes- 
kranken in  eine  Irrenheilanstalt  — auch  ohne  vorherige 
Entmündigung  zu  wünschen.  2.  Die  Entmündigung  der 
Trunksüchtigen  unter  den  im  § 12  des  Entwurfes  ange- 
gebenen Umständen  ist  angezeigt  Auf  das  \ erfahren  der 
Entmündigung  wegen  Trunksucht  haben  aber  die  Be- 
stimmungen über  die  Entmündigung  von  Geisteskranken  in 
Anwendung  zu  kommen  (§  593  ff  der  C.-P.-O  ),  insbeson- 
dere darf  die  Entmündigung  nicht  ausgesprochen  werden, 
ohne  dass  einer  oder  mehrere  Aerzte  als  Sachverständige 


vehört  worden  sind.  3.  Die  Trinkerheilanstalten  müssen 
unter  sachverständiger  ärztlicher  Leitung  stehen  und  sind 
in  gleicher  Weise  staatlich  zu  beaufsichtigen  wie  die 
Irrenanstalten.“  Und  die  Handelskammer  von  Bremen, 
also  eine  Unternehmervereinigung  äussert,  sich  in  ihrem 
soeben  erschienenen  Jahresbericht  für  1891  mit  aner- 
kennenswerther  Einsicht:  „Das  vorgelegte  Gesetz  sucht 

der  Trunksucht  im  Wesentlichen  durch  äussere,  gewisser- 
massen  mechanische  Mittel  entgegenzuwirken,  die  um  so 
weniger  Erfolg  versprechen,  als  die  Trunksucht,  wie  neuer- 
dings  wohl  allgemein  anerkannt  wird,  eine  Erscheinung  ist, 
deren  Wurzel  man  hauptsächlich  in  sozialen  Missstanden, 
wie  Mangel  an  Einsicht  und  Bildung,  Unwirthschaftlichkeit, 
schlechten  Wohnungs-  und  Ernährungsverhältnissen  und 
dergl.  mehr  zu  suchen  hat,  und  die  man  daher  auch  wirk- 
sam nur  durch  die  Hebung  der  sozialen  Lage  der  Bevölke- 
rung im  Allgemeinen  bekämpfen  kann.  Hat  die  Handels- 
kammer schon  von  diesem  mehr  prinzipiellen  Standpunkte 
aus  o-egenüber  dem  Gesetzentwürfe  eine  ablehnende 
Stellung  einnehmen  müssen,  so  hat  sie  gegen  die  vorge- 
schlagenen Mittel  an  sich  noch  die  gewichtigsten  Bedenken 
zu  erheben.  Denn  dieselben  bedeuten  einmal  so  schwere 
Eino-riffe  in  die  wirthschaftliche  Freiheit,  besonders  in  die 
Geschäftsführung  der  Wirthe,  der  Wein-  und  Spintuosen- 
händler  und  des  Kleinhandels  mit  Verbrauchsartikeln  über- 
haupt, und  enthalten  andererseits  ein  solches  Mass  Bevor- 
mundung und  polizeilicher  Befugnisse,  dass  sie  selbst  dann 
noch  kaum  annehmbar  erscheinen  würden,  wenn  man  sie 
wirklich  für  geeignet  hielte,  der  Trunksucht  mit  Erfolg  zu 
begegnen.“ 

Zur  Sittlichkeitsgesetzgebung.  In  einem  Vortrag,  welchen 
in  der  Dezembersitzung  der  Deutschen  Gesellschaft  für  öffent- 
liche Gesundheitspflege  Dr.  A.  Blaschko  „Ueber  die  Verl: Leitung 
der  venerischen  Krankheiten  in  Berlin  gehalten  hat,  kam  der 
selbe  auf  Grund  eines  umfangreichen  statistischen  Materials, 
das  zum  grössten  Theil  auf  amtlichen  Quellen  beruhte,  zu  dem 
Schlüsse,  dass  in  Berlin  seit  dem  Jahre  1860,  d.  h-  also  4 Jahre 

nach  Aufhebung  der  Bordelle,  die  venerischen  Krankheitei , 
insbesondere  die  Syphilis  beträchtlich  und  stetig  abgenommen 
haben,  dass  aber  trotz  dieser  Abnahme  die  Verbreitung  dieser 
Krankheiten  unter  der  Berliner  Bevölkerung  noch  eine  sel^H: 
hebliche  ist;  allein  an  Syphilis  sind  in  dieser  Zeit  ca.  50 >000  , 
Menschen  erkrankt;  unter  der  Bevölkerung  sind  jetzt  10-12  /„, , 
d.  h.  jeder  neunte  bis  zehnte  Mensch  syphilitisch.  Erst  gan 
neuerdings  scheint  wieder  ein  geringes  Anwachsen  der  vene- 
rischen Erkrankungen  stattzufinden.  Als  Grunde  für  die  beob- 
achtete Abnahme  bezeichnet  der  Vortragende  neben  der  be- 
ständigen sanitären  Kontrolle  der  Prostitution  durch  die  Polizei- 
Aerzte  die  zunehmende  Einsicht  der  Bevölkerung  m das  Wesen 
und  die  Verbreitungsweise  dieser  Krankheiten,  sowie -die  m den 
letzten  Dezennien  erheblich  erleichterten  Gelegenheiten,  diese, 
Leiden  zu  kuriren  Insbesondere  weist  er  auf  die  m^Kranken- 
geltlich  Rath  erteilenden  Polikliniken,  sowie  auf  die  Franken 
Sassen  hin,  von  denen  leider  immer  noch  eine  ganze  Anzahl 
derartigen  Kranken  ihre  Hilfe  zum  Theil  versagten  (vergl.  unter 
Arbeiterversicherung“).  Der  Referent  fand  in  der  Diskussion 
von  allen  Seiten,  insbesondere  durch  den  bekannten  Syphihdo- 
logen  Professor  Köbner,  warme  Unterstützung.  Des  Weiteren 
plädirte  der  Vortragende  dafür,  dass  die  Geschlechtskra nk< en  in 
allen  öffentlichen  Hospitälern  Aufnahme  finden  sollten  und  dass 
die  inhumane,  an  mittelalterliche  Vorurteile  erinnernde  Be- 
handlungsweise derselben  fortfallen  müsste;  überhaupt  sei  es 
nachgerade  Zeit,  derartige  Kranke  nicht  als  bunder  p^ftlmtion 
Kranke  aufzufassen.  Zwangsweise  Kaserairune  der  Prostitutton 
erklärte  der  Vortragende  überhaupt  für  undurchführbar,  wahrend 
geduldete  BordelleVom  hygienischen  Standpunkt  zum  mindesten 
ojeichgiltig  sind.  Was  zu  refornnren  sei,  sei  das  Untersuchungs- 
Verfahren  selber,  welches  den  polizeilichen  Charakter  ver- 
lieren und  ein  rein  sanitärer,  ärztlicher  Akt  werden  müsse,  -wo  - 
durch nicht  nur  der  Humanität,  sondern  auch  der  Hygiene  g 
dient  sei. 

Ortsgesundheitsräthe  im  Grossherzogthum  Hessen.  .Wie 
in  Mainz,  Darmstadt  und  Giessen,  so  ist  nun  auch  in  der  ge- 

werbsreichen  Stadt  Offenbach  ein  Ortsgesundheitsrath  gebildet 
worden.  Er  besteht  aus  dem  Oberbürgermeister  ais  Vorsitzen- 
der, einem  Vertreter  des  Polizeiamts,  des  Kreisgesundhertsamts. 
des  Kreisveterinäramts,  des  ärztlichen  Vereins  und  der  Militär 
behörde,  sowie  einem  Chemiker,  einem  Bauverstandigen  und 
mehreren  Stadtverordneten,  im  Ganzen  13  Personen  Der  Orts- 
gesundheitsrath hat  alle  auf  die  öffentliche  Gesundheitspfle|t 
Hpyiio’liclipn  Frühen  in  den  Kreis  seiner  Bctrachtungc 
ziehen.  Es  sollen  Fragen  wie  Regelung  des  Abfuhrwesens 
Reinigung  von  Luft  und  Boden,  sanitätspolizeiliche  Leb 
wachung  des  Schlafstellenwesens,  Prostitution  u.  s.  w.  zui 
Erörterung  kommen. 


V^räntwoiMichAUr  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  Tn  Berlin.  - Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 

Berlin,  den  25.  Januar  1892. 


Für  den  Anzeigentheil  sind  die  Redaktion  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht 
Dr.  Otto  Eysler,  Rerlin  SW.,  Charlottenstrasse  11.  Preis  für 


verantwortlich.  Anzeigen- Annahmestelle  nur  bei 
die  3 spaltige  Colonelzeile  40  Pf. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung  in  Berlin  SW.  4jL 

ARCHIV 

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SOZIALE  GESETZGEBUNG  UND  STATISTIK. 

Vierteljahresschrift 

zur  Erforschung  der  gesellschaftlichen  Zustände  aller  Länder. 

In  Verbindung 

mit  einer  Reihe  namhafter  Fachmänner  des  In-  und  Auslandes 

herausgegeben 

von 

Dr.  Heinrich  Braun. 

Das  Archiv  erscheint  in  Bänden  von  ca.  40  Druckbogen 

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CBrorg  Xriefcrictj  Bltapp,  ®ie  ßanbarbeiter 
in  &ned)tfd)aft  itixb  gretl)eit.  23ter  Vorträge. 
1891.  ißreiS  ca.  2 5R. 

Beinvidl  Berliner,  $ie  foctale  «Reform  al<§ 
’©ebot  bed  mirtf)id)aftlict)ett  ft-ortfdjrittd.  1891. 
fßreid  2 «JR.  40  J3f. 

Brfjriffen  i>ra  Bereitie  für  Botiatpolitifi. 
49.  Sattb:  ©ie  Jpanbeldpolitif  ber  roidpigeren 
Äulturftaaten  in  ben  lebten  2>.d)rael)uten.  1. 
23anb.  2t.  u.  b.  £.:  ©te  £au  betdpolitil 

«Rorbamerifaö,  Stpliend,  Oefterreicfjs,  SßeU 
gienb,  ber  «Rteberlanbe,  ©änemarfö,  <2c£)roe= 
beitd  unb  «Jtorroegend,  «Rufftanbd  unb  ber 
©dpueia,  fomie  bie  beutfdje  .Spanbetdftatiftil 
bon  1880  biö  1890.  Sreid  13  3R. 

— ©affelbe.  50.  23anb:  ®ie  ©anbetdpolitif  k. 
2.  23anb,  2t.  u.  b.  ©. : ©te  3>been  ber  beuh 
fdjen  Jiianbeldpoliti!  bon  1860—1891  $om 
«Prof.  Dr.  IDalllter  Xoft  in  «Btünctjen.  «jßreid 
4 «Dt.  60  «Pf. 

Brrmanu  Xofrtj,  «Rationale  «Probuftion  unb 
'nationale  Serufdglteberung.  1891.  iPretd 
6 «Bf. 

M.  Ü.  b.  Bffen,  sie  gadjoereine  unb  bie 
foctale  ^Bewegung  in  granfreidp  ©onberabbr. 
and  (Sdpnofterd  Safjrbucf)  1891.  Jkeid  2 3R. 


Soeben  gelangt  zur  Ausgabe: 

Verzeichniss  No.  1: 

Rechts-  u.  Staatswissenschaft. 

Etwa  1100  Nummern. 


Abonnements  nehmen  alle  Buchhandlungen  Deutschlands  und  des 
Auslandes  sowie  die  Verlagshandlung  und  die  Postanstalten  entgegen. 
Auch  ist  jede  Buchhandlung  in  der  Lage,  die  bisher  erschienenen  Bände 
resp.  Hefte  zur  Ansicht  vorzulegen. 


Dasselbe  steht  auf  frankirtes  Verlangen 
gratis  und  franko  zu  Diensten.  Für  den 
Ankauf  ganzer  Bibliotheken  und  einzelner 
Werke  aus  dem  Gebiete  meiner  Specialität 
halte  ich  mich  empfohlen. 

Berlin,  N.  24,  Elsasserstr.  36. 


Probehefte  stehen  auf  Wunsch  gratis  und  franco  su  Diensten. 


3 tu  «Berlage  oou  ©eorg  «Wetnter  in  lüerlin  erfreuten: 


^mtfjtfrtie  Saöthüdjer. 

.fperaudgegebeu 

Don 

Ifan#  3Mtixtk. 

(lUonatafrfirift  für  Politik,  ©EfdjidjtE,  Xunit  unb  Xifrratur.) 

Wf~  ÜJUutatltd)  citt  tpeft.  "WH 

«Dtan  abonnirt  halbjährlich  für  9 «Dtarf  bei  allen  «Budjljanbtuugeu  unb  «Poftämteru. 


QL  1f.  Betfe’fifoE  jBerlaggburfjIjanbiurtg  (Iftakar  Beck)  in  jEBümfren. 


3n  unferem  23ertage  ift  erfdjienen: 

(£urppätftf)ter  (Befdittflfgftatrnhgr.  «Rene  golge.  [ © e d) ft e r 
3<tl)rgaug.  1890.  (©er  gaujeu  «Reibe  XXXh  23anb.)  ,£)eraud= 
gegeben  oou  iprof.  Dr.  §an§  ©elbrütf.  fpreid  get).  8 «IR.  ©rfdjeiut  alljähvlid).  Satjvgaug 
1891  erfdjeint  im  gebruar  1892. 

Äomplete  CSf  pt.  ber  f ciiüereu  Sabrgünge  bieiei  S o 1 1 1 i ( e r n u it  e n 1 b e tj  x l i d;  e it  b e r ii  t)  m t e it  3 a t)  r b u d)  ? 
werben  neu  eintretenben  'llbomienten  ju  ermäfiigtem  pveiie  geliefert. 


ferner: 

|Xr  fVrthrt,.  Jnfralifrttätg-  mtfr  BHergfrErrufterunagaefefr  Vom 

' illv.  4jtllUi  22.  Hurtt  1889.  B io e i t e oollftäubig  u mgearbeitete 
grofefj.  fjeff.  SRegiening?rat:  Vuiiiage  mit  einem  2tnt)ang,  bie 

madjungen  bed  Sunbedratd  enttjaltenb.  Start.  1 «IR.  80  «flf. 


Sßottjug§be!annt> 


Xhte  BrbgitrrfdmtmgfrÜ.  für  bad  bentfd)e  «Reich  oom  l.  3uni  1891  («RooeUe 
au  ©it.  Vii  öer  ©eroerbeorbnnng).  ©ejtaudgabe  mit  (Einleitung,  erlauternben  2tntnerfnngen 
unb  «Regiftev.  8V2  Sog.  tart.  1 «5R.  20  SPf- 


Hugo  Frankel, 

Antiquariat  für  Rechts-  u.  Staatswissenschaft. 

3.  ©uftentag,  5Bertag3bud)t)anbtung  in  Sertin. 

®aä  9fed)t 

ber 

gitr  ©Ijeorie  unb  «Jlrajid  fpftematifd)  bargefteUt 

üon 

Dr.  ^eittrid)  fWofitt, 

ovb.  'pcof.  für  ©taatärecht  unb  beutftheS  !Red)t  a.  b. 
Itnioerfität  Sardburg  j.  sg. 

©rfter  Sanb: 

®ie  rci(|§rc(^tli(^en  ©runblagcn  ber 
3Irbeiteruerft«f)erung. 

(Srfte  unb  ameite  2lbttjeilung.  8°.  9 «IR.  50  SPf. 

©ad  gefammte  2Bert  roirb  in  aroei  23äitbe 
aerfatten,  oou  benett  ber  erfte  „bie  reidjdred)h 
liehen  ©ruubtagen  ber  2trbeiter0erfid^erung'‘ 
bepanbeln,  ber  ätoeite  aber  in  brei  ©keden  bie 
Uraitfeu-',  Unfall--,  fomie  bie  3,lüatibitätd*  unb 
2llterd0erfid)eruug  aur  ©inaelbarftellung  bringen 
fall.  _ 

Exirf|0-OlxUTXxtlic-^rtmmt0. 

it  e b ft  21  it  S f ü ()  r it  it  q S b e ft  t m nt  u tt  g e u. 

BeueIIe  Jalfung  öe»  ©eJe^e».  - 
©ejt--2tudgabe  mit  2lnmerfungen  unb  @ad)regifter 

üon 

©.  9$I).  ©erger, 

SRegierungäratt). 

®afct)enformat;  cart.  1 «IR.  25  Sf- 


Sn  ^weiter  ShtflaßC  evjdjien: 
ober 

(^DStgltef  otut  $ 


Sou  Julius  H)ern?r,JPf«r«y 
in  ^ofjenttjurm  b.  ^>aUe  (©.)•  ^Prei^  SKI*  1* 
ßu  belieben  burcf)  alle  93ndfjljoiiblunoen  fotnie 
nud)  unmittelbar  Oom 

(!5.  gdjnjttfdjKe'frfjen  l?frl«9  tn  i«Uc  (£a«U). 


J.  ©ufirntag,  23erlagöbud)I)anbUing  in  Berlin. 

®aö  9teid)ägeje^ 

betreffenb  bie 

lEDttltiitiits-  unö  l\\m- 
E'lfltllErUlß. 

äSom  22.  Suni  1889. 

£ej-t=2tn§gabe  mit  Slnuterfungen  unb  @od)regifter 
Don 

(£.  öon  Söoebtfc, 

ßaiferl.  (Set).  CBcv=9iegieruijaävatI)  unb  uortvag.  Staff)  im 
gteidjäamt  beä  Snnern. 

Vierte  SHnflage. 

£afd)eufoiinat;  cavt.  2 2)1.’ 


X (fenttKutag,  Bctlagalnufrfjanblnng  in  Bprlin. 


(Buttmtag’fcfye  Sammlung 

Dtuifditt  Ueidisijcfcijc  trab  J)ttußi(d)tr  itftßt. 


tfaf-JUisgabmi  mit  Bnmgrfmngim. 

üLaidjEuTnuntai,  ftartuuuirt. 


15. 


fgiitrd)^  3Mdj00*r^ 


1.  Sie  33er  f a f in  n g b c eSc u t fd) ett©  cid) | Dr.  8. 

üon  9iönne.  0ed)fte  Auflage.  1 J3ir.  25  h>[. 

-2.  Strafgefebbud»  für  bad  Seutfdtc  ©cicb mit  ben 
aebrdiidtlidiftcu  9ield)6fUafgeie|en.  Sou  Dr.  $. 
gtii b o r f f.  ftiinfaefjnte  Auflage.  1 2Jcf. 

3 9Militär=Strafacfcbbud)  für  beä  Scutfdtc  ©eidt 


*■* 


© o imä.  2 Etf. 

4.  Slllgemeined  Scutfdtcd  ^tanbelegcfcpbudi  “'der 
i)tuäfd)lufs  beä  ©eeredjtä.  Von  ff.  Stttljauer.  ©tebente 
Stugage.  2 3)1  f. 


91  tigern  eine  Scutfdie  SScdifcIorbnuug  oon  Dr 

- 9 • 11  <§ed^ftc  Sluflagc  oon  (S\  ©all,  imo 


©criditefoftengefetj  unb  ©cbübrcnorbnuug  für 


gen  u u b © ad) u erft'a it b i g e.  ®lit  Äoftentabclfen. 

i!on  31.  ©pbom.  SPierte  Stugage.  80  spp 


16.  ©cdjteaninaltdorbnung  für  baS  ®cutfdic  SHcid). 

SBon  9t.-  © 1)  b o ».  Smeite  SHugage.  60  Vf- 

Von 


©.  Vordiarbt,  i&eiplte  nujtage  uuu  u. 
aSedifclftenipclftcuergefeü  ncbftffiedifelftcmbcU 
{teuer tarif  oon  33.  ©attpp.  Sanfte  Auflage.  2 SOU. 

6 <Hcid)0=«et»crbe--Orbnnng  mit  ben  für  ba| Jeijb 
erlaffenen  9tu§ fübrungäbefttmmmigen.  Dleucfte  tfajfung 
bcS  ©efetjeä.  33on  £.  Sptj.  SSergev,  gtegiernngäratt). 
lilite  Slugage.  1 SJ1I.  25  spf. 

7.  Sie  Seutfdje  ©oft--  unb  Selegr«bl)en=©cieü-- 
gebung.  Von  Dr.  Sp.  ®.  Sa^er.  Sntte  Itugage. 
Ö 9)1  f-  50  qßf. 

8.  Sic  ©efebe  über  ben  UnterftütmncgtBoIinfiö, 

über  58imbeä=  unb  ©taatäangebörigfett  unb  preijugigfeit. 
SSon  Dr.  3-  St  red).  S»ei!e  Stuftage.  2 Elf. 


17.  ©ebührenorbnung  für  ©edttbaniBaltc. 

9t.  ©bbo».  Sritte  Suftage.  60  spf. 

18  S«§  Scutfdie  gicichegefeb  über  bie  £{eid)8= 
ftcutOelabgabcn  tn  ber  fjaffung  beä  ©efefceä  oom 
» Etat  18®  Sörfenfteuergefeb.  S3on  23.  ©aupp. 
3./4.  Slugage  ergäiijt  btä  1890.  2 9)tt 

19.  Sic  ©cegefefegebnng  be8  ®|u«*cn  IKcidieo. 
33on  Dr.  jur.  2S.  (B.  Älni tf  d) !t).  8 9Jcf. 

20.  ©efeüc,  betreffenb  bie  ft r« u f eti u e t ndj er u n g b er 

Arbeiter.  (S.  üon  SBoebtte.  ©ritte  Auflage 

1 m.  20 

Sie.ftonfulargefefegebungbe8Seutfd)cn9leid)e8. 

SSqn  Dr.  ip^ilipp  3orn.  4 3Jtt. 

l atentgeieb-  ©efeb  überJWlufter=  unb  SWobea» 


B 


Jtreitßirrfje 


Sie  S.terfiiffung8=Urfunbc  für  ben  ®rcn«f*c» 
©toat.  33on  Dr.  Slbotf  3(rnbt.  Sroeite  Sluffage. 
2 9)tf. 


:Ueeuntcn=©cfebgcbung.  r, 

bie  loidjtigften  93eamtengeiebe  t 
^ironologii 


21 


22. 


9a. 


Sammlung  flehierer  nnnatrcditlictier  9lcid)8= 
gefebe.  ergänjnngäbanb  ju  ben  tm  y.  Winentag  ffflen 
Sßerlaqe  eridjtcnenen  ©iniet=3tuSgnben  beutidher  Slteidiä- 
2.ton  §.  SBierbanä.  2 W.I.  25  ${. 


9b 


üerlage  e^iietietieit  6injel=%u6wbeu^tatf(ber  DteidjS 
gefebe.  2.ton  §.  SSt  er  1)  au  8.  2 int.  25  SPf. 

Sammlung  fleinerer  gieidtegefebc  ftrafreditj 

. ...  ~ - im  % © 


I idiett "änftältS.  ©tgänaungibanb  ju  ben  im  3-  ©utten 
taa'idien  23ertaqe  erfdtieuenen  ©injcDSlnägnbeu  beutfdjer 
9ieid)8gcjcbe.  iöon  3)t.  äßerner.  1 9)tf.  80  SPf. 

10.  Sa8  s)lcid)8bcauttcngefcb  oom31.®tnral873.  ^ette 

Slugage  oon  355.  Sur  na  u,  9teid)8gerid)tSrat£).  29Jtf.40  Spi- 
ll. ©ioilörojefeorbnung  mit  ©erid)t8»crfaffung8> 
aefcb- ©inrubrungogefebett,  iTtcbcngeicbeu  uttb 
^rgiiitjuitgcn*  S.'on  9i-  ©t)bott>.  fünfte  ilnflage. 
2 3ftf.  60  SPf. 


12.  Strafüroäcftorbnnng  nebft  «criditeuerfafmugo 
gefeb.  fünfte  Slugage  oon  apellmcg.  1 9J!t.  bO  pf. 


v.  ©ntbaltenb 

tue  touPttglten  »camtengeieKc  m -preuBen.  SDtit  furjen 
Stnmertungen,  einem  djronolofltidjen  SBerjetdjmti  ber  ab- 
qcbrucftcu  ©efefee  tc.  SSon  15.  Spjafferotl).  gtoeib 
neubearbeitete  Slugage.  1 9)if-  50  Spf. 

Sa8  SUreuftifdte  ©eieb.  betr.  bie  3mgug8uoU= 
fircctitng  in  ba8  unbeUteglidie  SBermogen  oom 

13.  3uIiB1883  unb  alten  9tebengefe|en.  SSon  Dr. 
3.  ifred)  unb  Dr.  D.  5 i ftp  er.  3»elt'  1(ugage 
1 50t  f. 


fdtnb  ©efeb  über  Öt arf enf d>n b.  «cbft  «u«. 

tübrunflSbeftimmungen.  SSon  Si.  spp.  Derc 
SUugage.  Jn  SSorbeveitung. 


rger.  Sritte 


23.  lt u f a tl B c f f i d) c f u ml 6 g c f e b oom  6.  3uti  1884  unb 
©Cicb  über  bie  Stuebcbnnng 


ftranfcuBeritdternng 

©.  oon  SBocbtfe.  SStert 


24. 


,..ö  oom 
Vierte  Stugage. 

Oteidiogefeb»  betreffenb 


ber  itnfall=  unb 

5Btai  1886.  SSon 
2 SDtt. 


, bie  ftommanbitge|cIt= 

f diaTtcu'a  tir  'Jlfticn  tttib  bic  'JinicngcfetHdiattcn 

äion  h-  Jfebiinc*  unb  Dr.  Q.  SS.  ©tm  on.  ©ritte  Huf- 


Sie^renbifdtcn  ©efe-be,  betreffenb  b«8  Notariat 

in  ben  ßanbeätfjetlen  beä  gemeinen  3tcdit3  unb  beb 
fianbrcdjtä.  Stoeite  oeränbevte  >2t 1 1 ft a ge  lj er a u S g c g e b e 1 1 
uon  ©tjbonj  unb  9t.  ^clllueg.  1 60 

Sa8  ©efeb  Bom  24.  SJtpril  1854  (betr.  bie  au6g= 
ebelidjc  ©d)ioängernng)  unb  bie  baneben  geltenbeu  Sc- 
ftimmungen  beä  ?(Ug.  8anbred)tä  neb]t  ben  baju  ergangene . 
sPväiubitaten,  ber  Sitteratunc.  Ston  Dr.jur.§.  <ss  “)  uljc. 
76 


Otai 


rnegett  ©rbebung  ber 

1872.  SSon  ©.  SBerttjo. 


13.  Uonfttrsorbnung  mit  ©infül)ruttgsgefeb>|!eben= 
aeieben  unb  ©rgeinäuttgett.  SSon  9t.  tsopbom. 
Vierte  Slugage.  80  $f. 

14.  Wcridttc-Bcrfaffmigdgcfeb  fürbadSeutfdteOleid). 

SSon  9t.  ©D bom.  fyunfte  Stugage.  80  Spf. 


er  unb  Dr.  §. 

tage.  1 9)tt. 

25.  Sab  Scutfdjc 
ilrauftener  oom  31. 

1 SDff.  60  spf. 

26.  Sic  sKcidtägefcbgcluttia  über  ®tuin=  unb5Banf= 
tuefett,  SUöBtexgetb,  SUramtcnBaBtcrc  unb  9Jet  dtf- 
anleiltcn.  SSon  Dr.  9t.  k o ä).  8»ette  Stugage.  2 5üif.  40  'Pf. 

27.  Sie  ©efebgebung.  betr.  bab  ©efntibbitcitbiuefen 
im  Seutfdjett  SKcidt.  *oaDr.  jur.  G.  Woefd)  unb 
Dr.  med.  §.  Kargen.  1 50U.  60  'Pf. 

28.  ©efeb,  betreffenb  bie  UnfattBcrfidjerung ^ber  bei 
bauten  befdtäftigten  'Ucrfonen.  SSom  .S'd' 

SSon  2eo  Stugban.  1 9J(t  25  spf. 

Mefcü.  betreffenb  bie  ©ruterbb=  unb  4Virtb= 
fd) aftogeno ff enfd) a f t ctt.  33om  1.  Etat  1889.  Pott 

8.  SPavtftub.  SSterte  Slugage.  1 9)tt.  25  Spf. 

©efeb.  betreffenb  bie  3nBaIibitätb=  uttb  3t|terb= 
Bcrfidtcruttg.  Sßom  22.  Sunt  1889.  33on  G.  uon 
JBoebtte.  SÖterte  'Itugage.  2 Elf. 

9 


3Ser= 

Pon 


29. 


30. 


5R.  ©i)boic.  ßroeite  3luftagc.  2 mt. 

Äonfurborbnung  Bom  8.  ©tat  18a5. 

ff.  Pierga  u8.  2 Ett.  50  spf. 

Stc  a?ormunbfd)aftb=Orbnun g Bpm  5.  Sali  1875, 

uefaft  ben  baju  crlaffenen  OtebengefeBen  unb  -tilge 
meinen  Verfügungen.  Von  Etaj  ©.djullje  n ft  ent 
l Elf.  20  «Pf. 

15.  fS.SS»""'  *“ 

ss-BrssgRWtt'tf  ».üsiÄts 

läge.  1 Eit. 


31 


ieidtbgefeb , betreffenb  bie  ©etBerbegcrldttc. 

Vom  29:’3uli  1890.  Von  8eo  Etugbnn.  2.  Jluägabe. 
Eit.  25’fpf. 


Verantwortlich  tü,  HÜ  A,„ciBc„tl.c,l T l>r.  "Ho  Evsle,  io  1Mb.  - Druck  von  H.  S.  Hem, an»  in  Berlin. 


I.  Jahrgang'. 


Berlin,  den  1.  Februar  1892. 


Nummer  5. 


SOZIALPOLITISCHES 


C E 


NTRALBL 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


ATT. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

die  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


T.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 


)ie  gesellschaftlichen  Ur- 
sachen des  Verbrechens. 
Von  Prof.  Dr.  Franz  v.  Liszt. 

soziale  Wirthschaftspolitik  11. 
Wirthscliaftsstatistik : 

Agrarische  Verhältnisse  in  Rumä- 
nien. Von  Dr.  Carl  Grünberg. 

Zahl  der  industriellen  Arbeiter  in 
Russland. 

Vrbeiterzustände : 

Die  königliche  Kommission  Uber 
die  Arbeiterfrage  in  England. 
Von  Dr.  Stephan  Rauer. 

Die  Kinderarbeit  in  Frankreich. 
Von  Prof.  Dr.  W.  Stieda. 

Statistik  der  Arbeiter  und  Beamten 
der  preussischen  Staatsbahnen. 

Arbeitsverhältnisse  bei  den  preussi- 
schen Staatsbahnen. 

MangelhafteErnährung  der  Arbeiter- 
kinder. 

Arbeitslosigkeit. 

Ländliche  Arbeiterverhältnisse. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Das  Programm  des  deutschen 
Gewerkschaftskongresses.  Von 
C.  Regien,  Vorsitzender  der 
Generalkommission  der  Gewerk- 
schaften. 

Der  steirische  Rergarbeiterstrike 
Von  Dr.  Leo  Verkauf. 


Arbeiterschutz  im  Bäckergewerbe. 

Evangelische  Arbeitervereine  in 
Deutschland. 

Politische  Arbeiterbewegung : 

Die  Stellung  der  Sozialdemokratie 
zum  Boykott. 

Kaufmännische  Bewegung: 

Minimalkündigungsfristen  fürHar.d- 
lungsgehilfen. 

Die  gesetzliche  Regelung  der  Ar- 
beitszeit für  Handlungsgehilfen. 

Handlungsgehilfen  als  Gefängniss-  ! 
arbeiter. 

Haml  werkerfragen : 

Gewerbekammern  in  Baden. 

Arbeiterschutz  und  Kleingewerbe. 

Auflösung  der  fakultativen  Innun- 
gen. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Der  Entwurf  eines  Arbeiterschutz- 
gesetzes  für  den  Kanton  Glarus. 
Von  Kantonsstatistiker  E.  Naef. 

Arbeiterschutz  bei  dem  schweize- 
rischen Verkehrsgewerbe. 

Städtischer  Arbeitsnachweis  und 
städtische  Arbeitersekretariate. 

Arbeiterversicherung : 

Zur  Krankheitsstatistik. 

Soziale  Hygiene: 

Zum  deutschen  Trunksuchtsgesetz,  i 

Zur  schwedischen  Trunksuchts- 
gesetzgebung. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  gesellschaftlichen  Ursachen  des 
Verbrechens. 


Das  Verbrechen  ist  das  nothwendige  Ergebniss  aus  dem 
Zusammenwirken  zweier  Gruppen  von  Bedingungen.  Die 
ärste  Gruppe  ist  gegeben  durch  die  theils  angeborne, 
theils  erworbene  Eigenart  des  Thäters;  die  andere  durch 
lie  ihn  umgebenden  äusseren  Verhältnisse.  Der  Mikrobe 
des  Verbrechens  gedeiht  nur  in  der  Nährflüssigkeit  der 
Gesellschaft.  Mit  diesem  Satze,  der  allmählich  zum  Gemein- 
plätze geworden  ist,  ist  die  Bedeutung  der  gesellschaftlichen 
Verhältnisse  für  Gestaltung  und  Entwicklung  des  Ver- 
brecherthums nachgewiesen.  Aber  diese  Bedeutung  reicht 
noch  viel  weiter,  als  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  möchte. 


Billige  Weisheit  ist  es,  die  uns  verkündet,  dass  jede 
Ordnung  der  Gesellschaft  ihre  Verbrechen  und  Verbrecher 
hat,  und  dass  das  Verbrechen  nicht  früher  aus  der  Welt 
verschwinden  werde,  als  bis  die  letzte  Familie  ausgestorben 
ist.  Mit  Sünde  und  Verbrechen  beginnt  nach  der  Bibel  die 
Geschichte  des  Menschengeschlechtes;  warum  sollte  sie 
anders  schliessen ! Es  ist  billige  Weisheit,  uns  das  zu  sagen : 
denn  Niemand  hat  es  bestritten.  Nicht  die  Beseitigung, 
sondern  die  Beschränkung  der  Kriminalität  steht  in  Frage. 
Weil  gegen  den  Tod  kein  Kraut  gewachsen  ist,  sollte 
darum  alle  Hoffnung  aufgegeben  werden,  dass  die  Sterb- 
lichkeit der  Säuglinge  vermindert,  dass  die  durchschnittliche 
Lebensdauer  erhöht  werden  könnte? 

Dass  durch  eine  Verbesserung  der  Gesellschaftsordnung 
eine  Verminderung  in  der  Zahl  bestimmter  Verbrechen 
herbeigeführt  werden  kann,  liegt  auf  der  flachen  Hand. 
Der  Antrieb  zum  Verbrechen  wird  durch  die  gesellschaft- 
lichen Verhältnisse  unzweifelhaft  bald  gestärkt,  bald  ge- 
schwächt. Politische  und  religiöse  Delikte  werden  sich 
umso  zahlreicher  einstellen,  je  geschlossener,  je  rücksichts- 
loser die  herrschende  Ansicht  gegen  abweichende  Ueber- 
zeugungen  auftritt.  Wenn  heute  eine  Richtung  der  Kunst 
staatliche  Anerkennung  und  den  Schutz  der  Strafgesetz- 
gebung erlangen  sollte,  so  werden  morgen  die  ästhetischen 
Ketzer  verfolgt  werden,  wie  die  religiösen  in  früheren 
Jahrhunderten.  Der  Geschlechtstrieb  wird  stets  nach  Be- 
friedigung verlangen  und  sie  nehmen,  wo  er  sie  findet. 
Versagt  Ihr  ihm  die  Möglichkeit,  sich  innerhalb  der 
Schranken  der  Rechtsordnung  zu  bethätigen,  so  wird  er 
die  Schranken  brechen  und  zum  Verbrechen  führen.  Und 
wer  weder  Brot  noch  Arbeit  findet,  der  wird  in  weitaus 
den  meisten  Fällen  Mittel  und  Wege  sich  zu  eröffnen  wissen, 
die  ihm  auf  Kosten  der  Gesellshaft  das  eine  ohne  die  andere 
sichern. 

Aber  die  Sache  liegt  viel  tiefer.  Ich  glaube  nicht  an 
„die  Bestie  im  Menschen“.  Heute  noch  müssen  wir  an 
sie  glauben.  Sie  ist  da,  in  allen  Kreisen,  in  allen  Schichten 
unseres  Volkes.  Wer  sie  nicht  sehen  will,  dem  freilich 
kann  nicht  geholfen  werden.  Und  dadurch,  dass  wir  die 
Schriftsteller  kreuzigen,  die  schildern  was  sie  gesehen,  so 
gut  wie  wir  gesehen,  aber  besser  als  wir  beobachtet  haben, 
schaffen  wir  die  unangenehme  Thatsache  nicht  aus  der 
Welt.  Aber  die  Bestie  mit  all’  ihren  wilden  Leidenschaften, 
mit  Zorn  und  Hass,  mit  Gier  und  Neid,  mit  Blutdurst  und 
unersättlicher  Eitelkeit  — stammt  sie  nicht  von  Papa  oder 
Mama,  die  die  Genüsse  des  Lebens  oder  das  Elend  des 
Lebens  gekostet  haben  bis  zur  Neige,  die  verfault  waren 
im  Blut  und  in  den  Knochen  durch  ihre  Schuld  oder  ohne 
ihre  Schuld,  ehe  sie  den  Keim  ins  Leben  setzten,  dem  sie 


60 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLAT  1 . 


No.  5. 


den  Fluch  der  Vorfahren  als  Erbtheil  mitgegeben  auf  den 
Lebensweg? 

Eine  bessernde  Umgestaltung  unserer  Gesellschafts- 
ordnung wird  den  Antrieb  zum  Verbrechen  m den  heute 
lebenden  Menschen  wesentlich  mindern.  Aber  unendlich 
viel  wichtiger,  unendlich  viel  dauernder  wird  ihre  Wirkung 
auf  die  kommenden  Geschlechter  sein.  Sie  wird,  indem  sie 
die  Zahl  der  erblich  Belasteten  mindert,  die  Bestie  im 
Menschen  zähmen.  Das  ist  keine  „Utopie“.  Es  wird  wohl 
leichter  sein,  die  Wirkung  einer  solchen  Umgestaltung  zu 
unterschätzen,  als  sie  richtig  in  ihrer  vollen  Tragweite,  zu 


Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Agrarische  Verhältnisse  in  Rumänien. 

Infolge  der  Koalition  der  junimistischen  (konstitutio- 
nellen) 1111?  der  konservativen  Partei  und  der  Uebernahme 
des  Portefeuilles  für  Handel,  Domänen  und  Industrie  durch 
den  Führer  der  ersteren,  Peter  Carp,  ist  eine  Wiederauf- 
nahme  der  von  letzterem  schon  1888  begonnenen  Versuche 
einer  Agrarreform  in  Rumänien l)  zu  gewärtigen.  Es  durfte 
deshalb ^nicht  ohne  Interesse  sein,  die  jetzige  agrarpolitische 


würdigen. 

Aber  welche  Umgestaltung?  Das  ist  die  Frage,  aut 
die  wir  Antwort  geben  müssen,  wollen  wir  nicht  als  harm- 
lose Schwärmer  bei  Seite  geschoben  werden. 

Auf  der  Suggestion  beruht  unsere  ganze  Erziehung, 
in  der  Schule  wie  im  Leben.  Was  uns  vom  Verbrechen 
abhält,  das  sind  die  „Hemmungsvorstellungen“,  die  uns  an- 
erzogen, die  uns  eingeprägt  werden,  bis  sie  m unser  Fleisc  i 
und  Blut  übergehen  und  unser  Thun  und  Lassen  beherrschen, 
ohne  dass  wir  uns  dessen  bewusst  werden.  „Das  sollst  Du“; 
„das  sollst  Du  nicht“  — diese  allgemeinen  Vorschriften  des 
Rechts  und  der  Sitte,  der  Religion  und  der  Menschenliebe 
oder  wie  Ihr  es  nennen  wollt,  die  müssen  uns  bestimmen, 
ohne  dass  wir  überlegen,  ohne  dass  wir  schwanken  oder 
zaudern.  Was  die  Rechtsordnung  von  uns  verlangt,  das 
müssen  wir  leisten  können,  wie  die  Gewehrgriffe,  auf  Ems, 
Zwei,  Drei,  selbst  im  Halbschlummer.  Wer  „Haltung“  hat, 
verliert  sie  nicht,  auch  wenn  der  Alkohol  seine  Sinne  um- 
nebelt. 

Die  Hemmungsvorstellungen  aber  bewahren  ilne  Kiatt 
nur,  wenn  wir  im  Kreise  der  Genossen,  im  geschlossenen, 
durch  gleiche  Anschauungen  und  durch  die  Gemeinschaft 
der  Interessen  zusammen  gehaltenen  Kreise  leben.  Aut  sich 
selbst  gestellt,  bewährt  sich  der  echte  Mann.  Aber  die 
sind  dünn  gesät,  die  das  vermögen.  Die  grosse  Mehrzahl 
von  uns  braucht  äusseren  Halt.  Wer  hat  es  nicht  an  sich 
selbst  erfahren,  wie  Urtheil  und  Vorurtlieil,  wie  Glauben 
und  Aberglauben  seiner  Genossen  bestimmend  aut  ihn 
wirkten;  wie  er  die  anderen  hielt  und  wie  er  von  ihnen 
gehalten  wurde?  Zerstört  die  geschlossenen  Kreise  und  Ihr 
schwächt  oder  vernichtet  die  Hemmungsvorstellungen; 
atomisiert  die  Gesellschaft,  dass  jeder  auf  sich  gestellt  ist 
im  Kampfe  aller  gegen  alle,  und  Ihr  entfesselt,  was  an 
bösen  Trieben  in  uns  wurzelt;  deklassirt  den  Menschen, 
und  Ihr  habt  ihn  dem  Verbrechen  in  die  Arme  getrieben. 

Und  diese  Deklassirung  hat  unsere  heutige  W irtli- 
schaftsordnung  reichlichst  besorgt.  Sie  hat  den  Egoismus 
entfesselt,  ohne  ihm  Schranken  zu  setzen.  Sie  erntet,  was 
sie  o-esäet.  In  dem  Proletariat  hat  sie  den  Nährboden  selbst 
geschaffen,  in  dem  der  Mikrobe  des  Verbrechens  gedeiht. 
Neben  dem  Reichthum  Einzelner  das  Massenelend.  Dann 
wundern  wir  uns  noch,  wenn  der  Kriminalstatistiker  über 
die  steigende  Menge  der  Zählkarten  klagt.  Jede  Gesell- 
schaft hat  die  Verbrecher,  die  sie  verdient.  Wobei  neben 
den  vielen  Kleinen  die  wenigen  Grossen  nicht  vergessen 
werden  sollten. 

Das  ist  das  Problem  der  Kriminalität.  Mit  der  Er- 
kenntnis des  Uebels  ist  der  Weg  zur  Heilung  vorge- 
zeichnet. 

Halle  a.  S.  Franz  v.  Liszt. 


Situation  daselbst  zu  skizziren.  . „000  , , 

Infolge  der  Bauernunruhen  im  Frühjahr  1888  hatte 
Peter  Carp,  der  auch  damals  im  Kabinet  Rosetti-Carp  das- 
selbe Ressort  wie  heute  inne  hatte,  den  gesetzgebenden 
Körperschaften  zwei  Agrarreformvorlagen  unterbreitet.  Die 
eine-  betreffend  die  Veräusserung  einiger  Theile  jder  Staats- 
güter und  die  Ablösung  der  Emphyteusen  (lege  despre 
instrainarea  unor  pärti  din  bunurile  statului  si  rescumperarea 
embaticurilor)  sollte  den  zahlreichen  Bauerntamihen,  die 
nur  ungenügenden,  und  den  Landarbeitern,  die  gar  keinen! 
Grundbesitz  haben,  und  sich  freilich  nicht  infolge  dessen 
allein  in  drückendster  wirtschaftlicher  Abhängigkeit  von 
den  Grossgrundbesitzern  befinden,  Gelegenheit  geben,  eine 
Heimstätte  zu  erwerben.  Diese  Vorlage  ist  auch  nach, 
heftio-en  parlamentarischen  Kämpfen  Gesetz  geworden, 
harrt*  jedoch  infolge  des  Widerstandes  der  konservativen 
Partei  noch  ihrer  wirklichen  und  nachdrücklichen  Durch- 


führung 


Die  zweite  Vorlage:  betreffend  die  Verträge  über 

Landarbeiten  (lege  pentru  tocmelile  agricole)  kam  gar  nicht 

ü TN  • i • TD r ipcP  hP 


Lanucü  UC1LCII  - — ^ : 

zur  Verhandlung.  Die  konservative  Partei  setzte  dieselbe 


zur  v enidiiuiuiib. 

nach  dem  Sturze  des  junimistischen  Kabmets  Rosetti-Carp  ; 
von  der  Tagesordnung  ab  und  keines  der  zahlreichen  seit- 
herigen Ministerien  hat  sie  wieder  aufgenommen  \V  ie 
jedoch  der  rumänischen  Presse  zu  entnehmen  ist,  soll  Herr  - 
Carp  die  Absicht  haben,  unmittelbar  nach  Zusammentritt  ■ 
der  neu  zu  wählenden  Kammern  seine  Vorlage  neuerlich  . 
der  verfassungsgemässen  Behandlung  zuzuführen  und  auch 
eine  zweite  Vorlage,  betreffend  die  Reform  des  bäuerlichen  , 
Kreditwesens  vorbereiten. 

Durch  die  erstere  soll  das  jetzt  geltende  Gesetz  vom' 
1 3.  Mai  1 882  abgeändert  werden,  das  nun  in  seinen  wesent-  ' 
liehen  Bestimmungen  skizzirt  werden  soll. 

Gegenstand  der  Verträge  über  Agrararbeiten  können 
sein-  a)  Die  Uebereinkommen,  durch  welche  sich  der< 
Landarbeiter  oder  Bauer  verpflichtet,  gegen  Bezahlung  in 
Geld  pro  Tag  oder  nach  Mass  Ackerarbeiten  zu  prastiren 
(ackern,  säen,  eggen,  graben,  sicheln,  mähen,  lesen,  ernten, 
dreschen,  einführen),  b)  Die  Weidepachtungen  durch  die 
Bauern  und  Landarbeiter,  gegen  Prästirung  des  Pacht- 
schillings in  Geld  und  Arbeit;  c)  Wiesen  oder  Acker- 
paclitungen  durch  den  Arbeiter  gegen  Leistung  eines  I aclit- 
schillings  in  Geld,  Arbeit  oder  einem  Theile  der  Ernte  zu- 
sammen oder  allein;  d)  Weide- Wiesen-  oder  Ackerpachtun- 
o-en,  bei  denen  der  Pächter  sich  verpflichtet,  den  I acht- 
schilling  in  Geld  zu  bezahlen,  oder  als  Aequivalent  Getreide- 
transporte zu  den  Häfen  und  Eisenbahnstationen  zu  besorgen, 
Arbeiten  in  Wein-  und  Obstgärten  oder  solche,  die  auf  die 
Kultur  und  Ausnutzung  des  Bodens  Bezug  haben,  in  einem 
bestimmten  Jahres-  oder  Monatsausmass  zu  verrichten 
( Art  1 ) 

Die  „Befreiung“  der  Bauern  durch  das  Agrargesetz 
von  1 864  hat  ihre  wirthschaftliclie  Abhängigkeit  vom  Guts- 
herrn natürlich  nicht  beseitigt.  Der  ehemals  frohnpflichtige 
Bauer  erhielt  meist  nicht  genug  Land,  um  seine  und  seinei 
Familie  Bedürfnisse  decken  zu  können.  Auch  mangelt  e> 
ihm  im  Grossen  und  Ganzen  an  Weide-  und  Yv  lesenlanc 

und  die  steifende  staatliche 


nnn 


WJ  alrlnno'f 


')  Vel.  Grünberg,  Carl:  „Die  rumänische  Agrargesetz 
o-ebung  im Hinblick  aff  .ihre  Reform“  im  Archiv  für  soziale 
(jesetzgebung  und  Statistik.  II,  1889,  S.  74  ff. 


No.  5. 


sozi ai. p< n.mscHES  ckntkai.blatt. 


61 


und  kommunale  Besteuerung,  sowie  seine  geringe  wirt- 
schaftliche Intelligenz  mussten  ihn  in  immer  grösseres  Elend 
bringen.  Er  war  und  ist  daher  genöthigt,  seinen  Mehrbe- 
darf dadurch  zu  decken,  dass  er  vom  Grossgrundbesitzer 
Land  pachtet,  oder  seine  Arbeitskraft  demselben  gegen  eine 
Entlohnung  in  Geld  verdingt.  Der  gutsherrliche  Gross- 
betrieb ist  seinerseits  auf  billige  Arbeitskräfte  angewiesen, 
und  es  ist  nur  natürlich,  dass  er  diese  sich  so  billig  als 
möglich  zu  verschaffen  und  zu  erhalten  sucht.  Wo,  wie 
meist  in  der  Walachei  der  Grossgrundbesitzer  seine  Güter 
nicht  in  eigener  Regie  bewirthschaftet,  ist  das  System  der 
Verpachtung  gegen  Ablieferung  eines  Theils  des  Ertrages 
(aremda  cu  dijma)  gebräuchlich,  während  sonst  das  Lohn- 
vertragssystem vorherrscht. 

Man  ist  nicht  davor  zurückgeschreckt,  alle  hierauf 
Bezug  habenden  Verträge  der  Herrschaft  des  gemeinen 
Rechtes  zu  entziehen  und  unter  ein  Sondergesetz  zu  stellen, 
wogegen  prinzipiell  sicherlich  nichts  einzuwenden  ist,  da 
besondere  Verhältnisse  einer  besonderen  Formulirung  nicht 
entbehren  können.  Aber  das  geltende  Gesetz  ist  vielfach 
im  einseitigen  Interesse  der  Grossgrundbesitzer  geschaffen 
und  hat  deshalb  und  besonders  wegen  der  Art  seiner 
Durchführung  und  Anwendung  sehr  schädlich  gewirkt.  Das 
hat  freilich  Rudolf  Meyer  (Heimstätten  und  andere  Wirth- 
schaftsgesetze,  S.  247)  nicht  gehindert,  in  vollständiger  Ver- 
kennung der  Sachlage,  das  Gegentheil  zu  behaupten. 

Ueber  die  Form  des  Abschlusses  und  die  Ausführung 
der  Agrarverträge  enthält  das  Gesetz  von  1882  folgende 
Bestimmungen : 

Die  in  Artikel  I genannten  Verträge  können  nur  von 
dem  Landarbeiter  resp.  Bauer  persönlich  und  demjenigen, 
der  die  Güter  auf  eigene  Rechnung  bewirthschaftet  resp. 
dessen  Bevollmächtigten  abgeschlossen  werden;  sie  müssen 
die  genaue  Angabe  des  Vertragsgegenstandes,  den  Preis 
und  die  Art  der  Arbeiten,  sowie  die  Zeit  der  Erfüllung, 
dürfen  dagegen  weder  Strafklauseln  noch  die  Uebernahme 
von  Solidarverbindlichkeiten  enthalten  und  sind  von  der 
Behörde  der  Gemeinde,  wo  sie  abgeschlossen  werden,  bei 
sonstiger  Nichtklagbarkeit  zu  legalisiren  und  zu  registriren 
(Art.  2,  3,  4). 

Nur  die  Gemeindebehörde  des  Domizils  des  kontrahi- 
renden  Arbeiters  ist  zur  Legalisirung  und  Registrirung  der 
von  diesem  geschlossenen  Agrarverträge  kompetent  Das 
hindert  jedoch  den  Abschluss  von  solchen  auch  in  anderen 
Gemeinden  nicht.  Nur  bedarf  es  hierzu  eines  domizilbe- 
hördlichen Zeugnisses,  dass  der  Kontrahent  sich  in  seinem 
Wohnorte  zu  keinen  ähnlichen  Arbeiten  oder  nicht  für  eine 
Zeit  verpflichtet  habe,  dass  ihm  die  Ausführung  seiner 
neuen  Verpflichtung  unmöglich  würde.  Die  Ausseracht- 
lassung  dieser  Vorschrift  hat  die  Ungültigkeit  jener  Verträge 
zur  Folge,  aus  denen  Dritten  Schaden  erwachsen  würde 
(Art.  5 und  7). 

Die  in  Artikel  1 a genannten  Verträge  dürfen  nur  für 
höchstens  2,  die  andern  nur  für  höchstens  3 Agrarjahre, 
d.  h.  eine  vom  I . März  bis  zum  nächstfolgenden  letzten 
Februar  reichende  Wirthschaftsperiode  geschlossen  werden. 
Die  Erfüllung  darf  nur  in  dem  Orte,  für  welchen  sie  ab- 
i geschlossen  und  nur  in  Betreff  der  im  Vertrage  enthaltenen 
Arbeiten  verlangt  werden.  Auch  darf  eine  Cession  des 
Anspruches  nur  an  den  Nachfolger  in  der  Bewirthschaftung 
des  Gutes  stattfinden  (Art.  8 und  9). 

Diejenigen,  welche  die  Güter  bewirthschaften  (Eigen- 
thümer  oder  Pächter)  sind  verpflichtet,  am  Ende  einer  jeden 
Jahreskampagne  die  Arbeiter  auszuzahlen  und  bis  zum 
folgenden  1.  März  auf  der  Gemeindekanzlei  ein  Verzeichniss 
ihrer  restlichen  Geld-  oder  Arbeitforderungen  aus  Agrar- 
verträgen zu  hinterlegen.  Sie  sind  jedoch  weder  berech- 
tigt, den  Arbeitern  für  geleistete  Arbeiten  schuldige  Beträge 
aut  Grund  einer  Gegenforderung  zurückzuhalten,  noch  eine 
| Schuld,  die  aus  andern  als  den  im  Gesetze  genannten 
' Agrararbeiten  herstammt,  in  einen  Agrar-Vertrag  umzuwan- 
| dein.  Ausgenommen  ist  jedoch  der  Fall,  dass  es  sich  um 
fällige  und  liquide  Forderungen  aus  Darlehen  zur  Anschaf- 
fung von  Vieh  handelt  (Art.  17—19). 


Die  obenerwähnte  Abrechnung  soll,  wenn  ein  Theil 
dieselbe  verweigert,  über  Anzeige  des  andern  mit  Verbind- 
lichkeit für  beide,  vom  Gemeindevorstand  gepflogen  werden 
und  von  dessen  Entscheidung  innerhalb  14  Tagen  der 
Rechtszug  an  das  Bezirksgericht  gehen  (Art.  20). 

Die  Restforderungen  des  Gutsbesitzers  an  Geld  oder 
Arbeiten  sind  nicht  verzinslich.  Die  Arbeiter  können  sich 
zur  Nachleistung  der  nicht  ausgeführten  Arbeiten  im 
nächsten  Jahre  verbinden,  oder  dieselben  mit  dem  vertrags- 
mässigen  resp.  zur  Zeit,  da  sie  hätten  geleistet  werden 
sollen,  gewöhnlichen  Arbeitslohn  ablösen.  Die  betreffende 
Erklärung  hat,  wenn  sie  von  der  Gemeindebehörde  legali- 
sirt  wurde,  die  volle  Beweiskraft  einer  öffentlichen  Ur- 
kunde (Art.  21). 

Wird  die  Arbeitsleistung  aus  einem  vom  Willen  beider 
Theile  unabhängigen  Grunde  unmöglich,  so  trifft  die  Ge- 
fahr den  Arbeiter,  d.  h.  er  muss  die  Arbeit  nachleisten 
(Art.  29). 

Das  Gesetz  enthält  auch  eine  Reihe  von  Vorschriften 
über  die  zwangsweise  Durchführung  von  Agrarverträgen. 
Dieselbe  hat  durch  den  Bürgermeister  oder  dessen  Adjunk- 
ten zu  geschehen.  Verweigert  der  Arbeiter  trotz  ge- 
schehener Aufforderung,  die  Leistung  der  vertragsmässig 
geschuldeten  Arbeiten,  so  ist  der  Arbeitgeber  berechtigt, 
unter  Zuziehung  des  Bürgermeisters  und  in  Gegenwart 
eines  . Gemeinderath  es  andere  Arbeiter  auf  Rechnung  des 
Vertragsbrüchigen  aufzunehmen,  resp.  den  letzteren  für 
allen  Schaden  haftbar  zu  machen.  Zur  Hereinbringung 
des  Schadens  kann  er  auf  das  gesammte  schuldenfreie  Ver- 
mögen — mit  Ausnahme  des  durch  das  Agrargesetz  von 
1864  erworbenen  Grundeigenthums,  sowie  der  anderen  ge- 
setzlich exekutionsfreien  Sachen  — Exekution  führen.  Dem 
Arbeiter  steht  im  Falle  der  Nichtzahlung  des  Lohnes  das 
gleiche  Recht  gegen  den  Arbeitgeber  zu.  (Art.  24,  25,  27). 
Jedenfalls  müssen  dem  ersteren  — zur  Besorgung  seiner 
eigenen  Wirthschaft  — 2 Tage  in  der  Woche  (Freitag  und 
Samstag)  freigelassen  werden  (Art.  26). 

Wo  Verpachtung  gegen  Ablieferung  eines  Theils  des 
Ertrages  vereinbart  wurde,  ist  längstens  innerhalb  10  Tagen 
nach  Vollendung  der  Ernte  zur  Feststellung  des  letzteren 
zu  schreiten  und  diese  ohne  Unterbrechung  zu  Ende  zu 
führen  — nöthigenfalls  durch  den  Bürgermeister  und  zwei 
Gemeind  er  äthe,  wenn  einer  der  Kontrahenten  seine  Mit- 
wirkung versagen  sollte  (Art.  30).  Im  Falle  von  Streitig- 
keiten über  das  Ausmaass  der  den  Landarbeitern  in  Pacht 
gegebenen  Grundstücke  hat  der  Bürgermeister  dasselbe 
richtig  zu  stellen. 

In  Streitfällen  über  die  Höhe  der  Arbeitslöhne,  wo 
dieselben  nicht  vertragsmässig  feststehen,  sollen  die  jährlich 
von  den  Generalräthen  aufzustellenden  Lohntarife  ent- 
scheiden (Art.  23). 

Rechtsstreitigkeiten  aus  Agrarverträgen  sollen  von 
den  ordentlichen  Gerichten  summarisch  und  gebührenfrei 
verhandelt  werden  (Art.  32).  Alle  Ansprüche  aus  Agrar- 
verträgen verjähren  innerhalb  2 Jahren  vom  Zeitpunkt  der 
Abwicklung  an  gerechnet. 

Wie  sich  nun  die  Anwendung  des  vorstehend  skizzirten 
Gesetzes  in  der  Praxis  gestaltet  hat,  in  welchen  Punkten 
eine  Reform  desselben  unumgänglich  nothwendig  erscheint, 
und  wo  die  Carp’schen  Reformversuche  einsetzen,  werde 
ich  in  einem  nächsten  Artikel  ausführen. 

Wien.  Carl  Grünberg. 


Zahl  der  industriellen  Arbeiter  in  Russland.  Der  Fabrik- 
inspektor des  Warschauer  Kreises  W.  Swjatkowsky  hat  in  seinem 
kürzlich  erschienenen  umfangreichen  Werke  „Fabrikhygiene“  sehr 
viele  statistische  Daten  über  die  Lage  der  Arbeiter  und  die  Ver- 
hältnisse in  den  Fabriken  gesammelt;  unter  anderem  finden  wir 
in  dem  Werke  eine  Schätzung  der  Zahl  der  Arbeiter  in  den 
russischen  Fabriken  und  Hüttenwerken,  die  darnach  eine  Million, 
d.  i.  mehr  als  1 % der  Gesammtbevölkerung  Russlands,  beträgt. 
Andrejew  schätzt  die  Zahl  der  Kustari  (Arbeiter  in  der  Haus- 
industrie und  im  Hausfleisse)  auf  7 Vs  Millionen:  wenn  man  hierzu 
die  Vä  Million  Arbeiter  in  den  handwerksmässigen  Betrieben  der 


62 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  5. 


russischen  Städte  nach  der  Schätzung  von  Prof.  Iwanjukow  hin- 
zurechnet, so  erhalten  wir  9 Millionen  industrieller  Arbeiter  in 
Russland,  welche  Zahl  ca.  9%  der  Gesammtbevölkerung  Russ- 
lands entspricht.  Deshalb  hat  Swjatkowsky  vollständig  Recht, 
wenn  er  behauptet,  dass  die  Gewohnheit,  Russland  als  ein  rein 
ackerbautreibendes  Land  zu  bezeichnen,  nun  nicht  mehr  den 
Thatsachen  entspricht. 


Arbeiterzustände. 

Die  königliche  Kommission  über  die  Arbeiterfrage 
in  England. 

Die  moderne  Sozialwissenschaft  und  die  Gesellschaft 
verbindet  ein  steigendes  gemeinsames  Interesse  an  der 
Lösung  einer  bedeutsamen  Frage:  das  Problem,  wie  man 
am  besten  die  Erforschung  der  Bedürfnisse  des  Volkes 
organisiren  könne,  ist  zu  einem  brennenden  geworden.  Die 
Wissenschaft  bedarf  seiner  Lösung,  denn  nur  an  der  Hand 
einer  verlässlichen  Beobachtung  vermag  sie  zu  einer  un- 
parteiischen Einsicht  in  das  Walten  jener  Mächte  zu  ge- 
langen, welche  auf  den  Bestand,  die  Ausbreitung,  oder  die 
Umwandlung  und  den  Niedergang  einer  Gesellschaft  von 
bestimmendem  Einflüsse  sind.  In  ihren  bedächtig  ge- 
wonnenen Ergebnissen  liegt  das  Heute  wie  das  Morgen 
eingebettet,  und  je  genauer  sie  mit  den  kleinsten  Details 
des  Wirthschaftslebens  bekannt  ist,  desto  besser  vermag 
sie  der  Zukunft  die  Wege  zu  weisen.  Aber  noch  dringender 
bedarf  der  moderne  Staat  allseitiger  Aufschlüsse  über  die 
Lao-e  derjenigen,  deren  Nähr-  und  Wehrkraft  die  Grundbe- 
bedingungen seines  Bestandes  bildet.  Die  Einsicht,  dass 
diese  öffentliche  Kontrolle  der  \\  irksamkeit  des  Staates  aut 
sozialpolitischem  Gebiete  zur  Nothwendigkeit  geworden  sei, 
bedeutet  einen  grossen  Umschwung  der  öffentlichen  Meinung. 
Die  einzige  Frage  richtet  sich  heute  nach  den  zweck- 
mässigsten  Werkzeugen  der  sozialen  Erkenntniss. 

In  einer  Zeit,  in  welcher  die  Deutsche  Reichsregierung 
zur  Schaffung  einer  Arbeitsstatistik  zu  schreiten  im  Be- 
griffe steht,  ist  es  vielleicht  angemessen,  nochmals  die  Vor- 
theile und  Nachtheile  jener  Einriehl ungen  zu  erörtern, 
welche  in  England  und  Amerika  seit  langer  Zeit  mit  dieser 
Aufgabe  betraut  sind.  Enquete  oder  Arbeitsamt?  Das  ist 
die  Frage,  die  in  der  nächsten  Zeit  wird  ausgetragen 
werden  müssen.  Vielleicht  vermögen  die  Erfahrungen, 
welche  man  aus  dem  Verlaufe  der  im  verflossenen  Früh- 
jahre eingesetzten  Royal  Commission  on  Labour  schöpfen 
wird,  einen  neuen  Beitrag  zu  ihrer  Lösung  zu  liefern. 

Der  Anlass  der  Einsetzung  dieser  königlichen  Kom- 
mission, die  erst  nach  den  Neuwahlen  ihre  Verhandlungen 
schliessen  wird,  ist  sowohl  in  den  Ereignissen  der  letzten 
Jahre,  als  in  den  Wandlungen  der  Parteipolitik  zu  suchen. 
Seit  dem  Dockerstrike  in  London  ist  die  Ausstandsbewegung 
nicht  zur  Ruhe  gelangt.  Der  Schottische  Eisenbahnstrike, 
die  Ausstände  der  Docker  in  Cardiff,  der  Omnibusbe- 
diensteten in  London,  die  Achtstundenbewegung  in  der 
Grossindustrie  waren  für  Politiker  und  Unternehmer  die 
Hauptelemente  der  Beunruhigung.  Schliesslich  bewog  die 
Nähe  der  Parlamentswahlen  alle  grossen  Parteien,  sich  der 
immer  schwerer  wiegenden  Stimme  der  Arbeiter  zu  ver- 
sichern. Kaum  hatte  die  Opposition  das  Schlagwort  der 
Unentgeltlichkeit  des  Elementarunterrichtes  ausgegeben,  so 
bemächtigten  sich  seiner  die  Regierungsparteien  und  noch 
im  Sommer  wurde  Free  Education  zur  Thatsache.  Kaum 
regte  Mr  John  Morley,  das  ehemalige  Mitglied  des  Glad- 
stone’schen  Cabinets,  die  Einsetzung  einer  gewerblichen 
Untersuchungskommission  an,  so  kam  auch  d e m die  Re- 
gierung zuvor;  sie  setzte  eine  „königliche  Kommission“  e.n, 
die  nicht  gleich  parlamentarischen  Ausschüssen  durch  die 
Ausschreibung  der  Neuwahlen  eo  ipso  aufgelöst  wird.  Sie 
macht  es  daher  konservativen  Kandidaten  möglich,  bei  ge- 
fährlichen Fragen  nach  ihrem  sozialpolitischem  Bekennt- 
nisse ihre  Interpellanten  auf  die  künftigen  Beschlüsse  der 
Loyal  Commission  zu  vertrösten. 


Soweit  das  politische  Manöver,  das  bereits  einige 
Verbände  der  Bergarbeiter  und  Gasstoker  veranlasst  hat, 
der  Arbeitsenquete  fern  zu  bleiben.  Zu  diesem  Nachtheile 
gesellt  sich  ein  zweiter:  die  Kommission  verhört  ausnahms- 
los, nebst  Inspektoren,  Industriellen  u.  a.,  Mitglieder  oder 
Beamte  der  Gewerkvereine.  Nun  ist  es  ja  gewiss,  dass 
gerade  diese  Beamten  mit  ihrer  beispiellosen  Erfahrung 
und  Sachkenntnis  nicht  nur  den  Unternehmern  sondern 
auch  dem  Staate  gegenüber  die  Interessen  der  unionistischen 
Arbeiter  am  besten  zu  vertreten  wissen.  Aber  um  einen 
Einblick  in  die  Gesammtlage  der  englischen  Arbeiter  zu 
gewinnen  ist  der,  wie  es  scheint,  geflissentliche  Ausschluss 
der  nichtorganisirten  Arbeiter  zu  bedauern.  Aus  einer  ein- 
seitig veranlagten  Untersuchung  können  nur  einseitige  Ei- 
gebnisse  hervorgehen. 

Dagegen  vei  mag  die  Royal  Commission  ziemlich  reich- 
haltigen ^Aufschluss  über  die  Interessen  der  organisirten 
Arbeiterschaft  zu  bieten;  ja  man  vermag  in  ihren  Mit- 
gliedern und  manchen  Zeugen  jene  Elemente  zu  erblicken, 
welche  in  der  weiteren  Entwicklung  des  Verwaltungslebens 
dem  Staatsgefüge  werden  einverleibt  werden  müssen.  An 
manchen  Mitgliedern,  wie  an  Mr.  Gerard  Balfour  und  Pro- 
fessor Marshall  bewundert  man  die  Kunst,  mit  welcher  sie 
in  die  Geheimpolitik  mancher  Gewerkvereinsführer  einzu- 
dringen und  den  innigen  Zusammenhang  allgemein  wirth- 
schaftlicher  und  sozialpolitischer  Fragen  darzuthun  im 
Stande  sind.  Die  nüchterne,  parteilose  und  doch  so  lebendige 
Behandlung  der  geschäftlichen  Interessen  der  Arbeiterschaft 
fesselt  jeden  Leser  der  Verhandlungsberichte  Nur  wo  das 
Recht  der  freien  Meinungsäusserung  in  politischen  Dingen 
so  unbeschränkt  ist,  wie  in  England,  vermag  eine  Enquete  _ 
als  Sprachrohr  der  wirtschaftlichen  Interessen  der  arbeiten- 
den Klasse  zu  dienen. 

Der  Apparat,  der  zu  diesem  Zwecke  in  Wirksamkeit 
gesetzt  wurde,  ist  ein  ziemlich  einfacher.  Die  Regierung 
betraute  den  Führer  der  unionistischen  Liberalen,  Marquis 
of  Hartington  (jetzt  Duke  of  Devonshire)  mit  dem  Vorsitze. 
Ein  vorbereitendes  Komitee  theilte  zunächst  die  zu  unter- 
suchenden Gewerbekategorien  in  drei  Gruppen  ein.  Zur 
ersten,  unter  dem  Vorsitze  Mr.  David  Dales  tagenden 
Gruppe  A gehören  die  Arbeiter  der  Berg- , Eisen-, 
Maschinen-,  Metall-,  Schiffbau-  und  verwandter  Industrien. 
Die  zweite  Gruppe  B (Präsident:  Earl  of  Derby)  umfasst 
das  Verkehrswesen  und  die  Landwirthschäft ; zu  dem  | 
ersteren  zählen  die  Eisenbahn-,  Schiff-  und  Kanalfahl  t-, 
sowie  die  Tramwaybediensteten.  In  der  dritten  Gruppe  C 
werden  endlich  von  Mr.  Mundella  und  den  übrigen  < 
Kommissionsmitgliedern  die  Arbeiter  der  I extil-,  Kleider-, 
Chemikalien-,  der  Baugewerbe  und  anderer  Branchen 
vernommen.  Für  jede  Gruppe  sind  besondere  Kommissäre 
ernannt  worden;  doch  ist  es  jedem  derselben  unbenommen, 
sich  aus  der  ihm  zugewiesenen  Abtheilung  in  eine  andeie 
zum  Zwecke  der  Fragestellung  zu  begeben.  Auch  die 
Fragesteller  werden,  soweit  sie  an  der  Spitze  einer  Arbeitei - 
oder  Unternehmerkorporation  stehen,  nicht  selten  vei- 
hört.  Die  Arbeiter  sind  in  keiner  Gruppe  unvertreten , 
in  Gruppe  A sind  ihre  Deputirten  Mr.  W.  Abraham  und 
Thomas  Burt,  in  Gruppe  B der  bekannte  Maschinenbauer 
Mr.  Tom  Mann,  in  Gruppe  C der  Sekretär  des  Gewerk- 
vereins der  Baumwollspinner  Mr.  Mawdsley.  Mr.  John 
Burnett,  der  bekannte  Arbeitskorrespondent  des  Handels- 
amtes, leitet,  von  einigen  Juristen  unterstützt,  das  Schrift- 
führeramt. Es  ist  die  Aufgabe  dieses  letzteren,  die  zur  Aus- 
sage geeigneten  Personen  hierzu  aufzufordern;  er  versendet 
an  dieselben  die  für  jede  Gruppe  verschieden  abgefassten 
Fragebogen.  Die  schriftliche  Beantwortung  derselben  bildet 
eine  Art  Vorprotokoll,  das  bei  den  späteren  Kreuz-  und 
Querfragen  vor  der  Kommission  sowohl  den  Kommissären 
als  den  Befragten  zur  Grundlage  dient. 

Es  wird  in  folgenden  Artikeln  der  Versuch  gemacht 
werden,  das  Wesen  der  Fragestellung  und  die  Hauptergeb- 
nisse der  Kommissionsberichte  in  gedrängter  W eise  zu  I >e- 
leuchten.  Nur  eines  mag  noch  hier  hervorgehoben  werden. 
So  dankenswerth  die  Billigkeit  und  Zugänglichkeit  der 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 


63 


; No.  5. 


Sitzungsberichte  sein  mag  — sie  kosten  nur  2 Pence  per 
Stück  (bis  jetzt,  17.  Juni  bis  11.  Dezember  1891  sind  50 
Sitzungen  abgehalten  worden),  so  bedarf  es  keiner  geringen 
Mühe,  die  oft  widersprechenden  Aussagen  zu  vergleichen, 
über  die  Wünsche  der  Einvernommenen  ein  bestimmtes 
Urtheil  zu  fällen,  und  den  richtigen  Massstab  an  die  Zuver- 
lässigkeit ihrer  statistischen  Angaben  anzulegen.  Es  wird 
eines  grossen  Aufwandes  von  Privatarbeit  bedürfen,  um 
den  Schlussbericht  der  Kommission  zu  verfassen,  bis  zu 
welchem  noch  längere  Zeit  verstreichen  dürfte.  Vielen, 
welchen  die  Erkenntniss  der  Arbeitsverhältnisse  am  Herzen 
liegt,  scheint  es,  als  ob  eine  natürliche  Arbeitstheilung  und 
Arbeitsvereinfachung  auch  in  England  anzustreben  wäre. 
Arbeitsstatistische  Aemter,  mit  der  Verarbeitung  des  lokal 
und  persönlich  erhobenen  Materiales  betraut,  und  ständige 
Arbeiterkommissionen,  die  in  steter  Berührung  mit  den 
arbeitenden  Klassen  stehend,  die  sozialpolitischen  Aufgaben 
der  Enquete  übernehmen  und  die  öffentliche  Meinung  be- 
lehren würden,  — das  scheint  auch  in  England  im  Schosse 
der  Zukunft  zu  liegen.1) 

Wien.  Stephan  Bauer. 


Die  Kinderarbeit  in  Frankreich. 

[Wenige  Jahre  nachdem  England  ein  Gesetz  zum 
Schutze  der  in  Fabriken  beschäftigten  Kinder  erlassen 
hatte,  traf  auch  Frankreich  Vorkehrung,  die  in  Fabriken 
und  Hüttenwerken  mit  mechanischen  Motoren  und  fort- 
währender Feuerung  oder  in  gewerblichen  Anstalten  mit 
mehr  als  20  Arbeitern  thätigen  Kinder  nur  unter  bestimmten 
Bedingungen  arbeiten  zu  lassen.  Wir  wissen  so  gut  wie 
garnichts  über  die  Ausdehnung,  die  die  Kinderarbeit  zu 
jener  Zeit  genommen  hatte,  aber  man  geht  kaum  fehl, 
wenn  man  ausspricht,  dass  es  die  höchste  Zeit  für  den 
Eingriff  der  Staatsgewalt  war.  Wenn  Sismondi  darüber 
klagt,  dass  in  den  grossen  Hauptstädten  des  Kontinents  die 
Arbeiter  durch  die  Fabriken  gezwungen  würden,  ihre  Kin- 
der vom  zartesten  Alter  an  mitarbeiten  zu  lassen,  so  hat  er 
| sicher  an  Paris  nicht  in  letzter  Reihe  gedacht.  Die  Berichte 
aber,  die  Villerme  1839/40  veröffentlichte,  zeigten  die  Lage 
der  Fabrikkinder  besonders  in  den  eigentlichen  Industrie- 
gegenden in  sehr  trauriger  Beleuchtung. 

Ob  das  Gesetz  von  1841  zunächst  eine  Verminderung 
der  Fabrikkinder  herbeiführte,  bleibe  dahingestellt.  Jedenfalls 
wurden  ihrer  immer  noch  eine  erhebliche  Anzahl  zu  regel- 
mässiger Thätigkeit  herangezogen.  Die  über  seine  Wirk- 
samkeit im  Jahre  1867  veranstaltete  Enquete  wies  nach, 
dass  in  den  dem  Gesetze  unterworfenen  Fabriken  99  212 
Kinder  im  Alter  von  8 — 16  Jahren  beschäftigt  wurden.  Dazu 
kamen  in  den  den  gesetzlichen  Bestimmungen  nicht  unter- 
stehenden Anstalten  25  003  Kinder;  im  Ganzen  waren  mithin 
124  215  Kinder  in  Fabriken  thätig.  Von  diesen  standen 
6365  im  Alter  von  8 — 10  Jahren,  22  724  im  Alter  von  10 — 12 
Jahren  und  95  126  im  Alter  von  12 — 16  Jahren. 

Für  das  damals  noch  französische  Obereisass  schätzt 
Herkner  die  Zahl  der  Fabrikkinder  im  Jahre  1842  auf  etwa 
12  000,  doch  die  Enquete  von  1867  wies  nur  8767  nach. 
Was  sich  hier  für  den  oberrheinischen  Bezirk  offenbart, 
nämlich  dass  die  Enquete  die  Zahlen  zu  niedrig  griff,  wird 
offenbar  auf  ganz  Frankreich  ausgedehnt  werden  dürfen. 
Da  es  an  jeder  sicheren  Grundlage  und  Kontrolle  für  die 
Angaben  fehlt,  werden  die  obigen  124  215  Fabrikkinder  als 
eine  Minimalrechnung  anzusehen  sein. 

Die  hässlichen  Zustände  machten  bekanntlich  im  Jahre 
1874  ein  neues  Gesetz  nothwendig.  Die  Zahl  der  Fabrik- 
kinder war  in  der  Zwischenzeit  nicht  unerheblich  gewachsen. 
Hatte  man  1867  in  den  dem  Gesetze  von  1881  unterstehen- 
den Fabriken  99  212  Kinder  festgestellt,  so  war  nunmehr 
trotz  der  erfolgten  Abtrennung  des  gewerbreichen  Elsass- 


L Vergl.  Robert  Donald  Wanted,  A Labour  Departe- 
ment. Contemporary  Review,  Dezember  1891.  Prof.  Munro  in 
Conrad’s  Jahrbüchern  für  Nationalökonomie  und  Statistik, 
Januar  1892. 


Lothringen  ihre  Zahl  auf  108  889  gestiegen.  Von  diesen 
unglücklichen  Geschöpfen  waren  12  357  weniger  als  zwölf 
Jahre  alt,  und  96  532  standen  im  Alter  von  12  16  Jahren. 

Noch  immer  kam  es  vor,  dass  Kinder  unter  acht  Jahren 
zur  Fabrikarbeit  benutzt  werden,  wenn  auch  ihre  Anzahl 
nur  58  sein  sollte. 

Unter  dem  Schutz  des  neuen  Gesetzes  ist  aber  die 
Kinderarbeit  keineswegs  zurückgedrängt  worden,  sondern 
ist  noch  stärker  angewachsen.  Nur  das  eine  scheint  er- 
reicht zu  sein,  dass  Kinder  unter  10  Jahren  nicht  mehr  zur 
regelmässigen  Arbeit  herangezogen  werden.  Im  Uebrigen 
weisen  die  von  der  oberen  Kommission  veröffentlichten 
Jahresberichte1)  folgenden  Umfang  nach. 


Kinder  unter 

in  den  Jahren 

10 — 12  jährige 

12 — 16  jährige 

16  Jahren 
überhaupt 

1889 

1049 

149  207 

150  256 

1890 

1094 

164  814 

165  858 

Zu  diesen  kommen  noch  die  in  den  Waisenhäusern, 
Zufluchtsanstalten  und  Arbeitssälen  (orphelinats,  maisons 
de  refuge,  ouvroirs),  wie  sie  sowohl  von  Laien  als  von  geist- 
lichen Körperschaften  in’s  Leben  gerufen  sind,  beschäftigten 
Kinder  unter  16  Jahren.  Nicht  alle  die  einzelnen  Berichte 
der  Fabrikinspektoren  enthalten  darüber  Angaben;  auch 
sind  die  vorhanden  Daten  nicht  im  Generalbericht  des  Vor- 
sitzenden der  oberen  Kommission  zsammengefasst  worden. 
Durch  Summirung  der  Einzelangaben  gelangt  man  zu  min- 
destens 7053  in  den  bezeichneten  Anstalten  gewerblich  be- 
nutzten Kindern,  von  denen  3274  10— 12jährig,  2308  12  bis 
15jährig,  929  15 — löjährig  und  542  12 — löjährig2)  sind. 

Stellt  sich  auf  diese  Weise  heraus,  dass  rund  etwa 
173  000  Kinder  gewerblich  beschäftigt  sind,  so  will  in  Be- 
tracht gezogen  sein,  dass  diese  Zahl  eine  Mindestangabe 
ist.  Denn  die  Berichte  lassen  nur  den  LTmfang  der  Kinder- 
arbeit erkennen,  die  die  Inspektoren  in  den  von  ihnen  im 
Laufe  des  Berichtsjahres  besichtigten  gewerblichen  An- 
stalten angetroffen  haben.  Alljährlich  aber  bleiben  wegen 
der  räumlichen  Ausdehnung  der  Bezirke  eine  Anzahl  Fa- 
briken unbesucht.  So  konnte,  um  einige  Beispiele  anzu- 
führen, der  Inspektor  des  neunten  Bezirkes  von  2321  vor- 
handenen Etablissements  nur  1 803,  der  des  zehnten  Bezirks 
von  4081  nur  2425  in  Augenschein  nehmen.  Mithin  wird 
die  vorstehende  Zahl  der  Fabrikkinder  um  einen  gewissen 
Betrag  erhöht  werden  müssen,  wenn  man  sich  von  der 
ganzen  Ausdehnung  der  französischen  Kinderarbeit  eine 
zutreffende  Vorstellung  machen  will. 

Den  besten  Massstab  zur  Beurtheilung  der  Wichtig- 
keit der  Kinderarbeit  gibt  ihr  Vergleich  mit  der  Arbeit  Er- 
wachsener. Leider  fehlt  in  dem  Bericht  des  Inspektors  des 
15.  Bezirks  (Bordeaux)  die  bezügliche  Angabe  über  die 
Zahl  der  beschäftigten  Erwachsenen  und  die  Daten  der 
Inspektoren  des  8.  (Lille)  und  17.  Bezirks  (Nimes)  können 
nicht  benutzt  werden,  weil  die  in  ihnen  angegebenen  Daten 
über  die*Z||hl  der  unter  16  jährigen  Arbeiter  im  Widerspruch 
zu  denen  in  der  Uebersicht  C (Etat  C)  mitgetheilten  stehen. 
Lässt  man  diese  Aufsichtsbezirke  ausser  Ansatz,  so  ergibt 
sich  die  folgende  Uebersicht  über  die  Gruppirung  der 
Arbeiterschaft  in  den  während  des  Jahres  1890  besichtigten 
Fabriken  Es  wäre  sehr  wünschenswerth,  wenn  diese 
ausserordentlich  lehrreiche  Aufrechnung  in  den  nächsten 
Berichten  von  der  oberen  Kommission  selbst  gemacht 
werden  würde.  Es  erhellt  aus  ihr,  dass  in  ganz  Frankreich 
mindestens  11,6%  aller  Arbeiter  im  Alter  von  noch  nicht 
16  Jahren  stehen.  Einige  der  aus  industriellen  Departements 
gebildeten  Bezirke,  wie  der  dritte,  elfte,  dreizehnte  und 
neunzehnte,  überschreiten  diesen  Durchschnitt  erheblich, 


1)  Der  neueste  betrifft  die  Inspektionsergebnisse  des 
Jahres  1890:  Rapport  sur  l’application  de  la  loi  du  19.  Mai  1874 
et  de  la  loi  du  9.  Septembre  1848  pendant  l’annee  1890.  Paris 
1891.  Imprimerie  Nationale. 

2)  Diese  Altersgruppe  lässt  sich  nicht  weiter  zerlegen. 


64 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  5. 


während  der  Bezirk  Marseille  mit  dem  niedrigsten  Relativ- 
satz am  besten  wegkommt. 


Aufsichtsbezirke 

Kinder 
im  Alter 
von  12 — 16 
Jahren 

Minder- 
jährige 
Mädchen  im 
Alter  von  16 
bis  21  Jahren 

Erwachsene 

Arbeiter 

beiderlei 

Geschlechts 

Alle 

Arbeiter 

Von  allen 
Arbeitern 
sind  die 
12 — 16  jähri- 
gen Kinder 
in  % 

1 . Paris 

30  354 

19  698 

153  681 

203  733 

10,4 

2.  Versailles  . . . 

4 547 

2318 

32  332 

39  197 

11,5 

3.  Bourges  .... 

8919 

5012 

46  251 

60  182 

14,8 

4.  Dijon 

1 900 

833 

19  418 

22  151 

8,5 

5.  Nancy 

8 374 

6 195 

64412 

78  981 

10,6 

6.  Reims 

5 668 

3 274 

40  708 

49  650 

1 1,4 

7.  Saint-Quentin 

3 159 

3 191 

34  883 

41  233 

7,6 

9.  Amiens 

9 379 

4 893 

75  352 

89  624 

10,4 

10.  Rouen 

1 1 537 

8 070 

69  003 

88610 

13,0 

1 1 . Caen 

3 131 

2 540 

16421 

22092 

14,1 

12.  Nantes 

6 592 

4 435 

43  719 

54  746 

12,0 

13.  Angers 

4 284 

3 087 

24  363 

31  734 

13,4 

14.  Limoges  . . . . 

3 562 

2 736 

21  713 

28  01 1 

12,7 

16.  Toulouse.  . . . 

2 864 

2 908 

23  658 

29  430 

9,7 

18.  Marseille.  . . . 

4 449 

4 922 

60  206 

69  577 

6,3 

19.  Grenoble.  . . • 

5 953 

9614 

29  064 

44  631 

13,3 

20.  Lyon 

3 306 

3 635 

24  039 

30  980 

10,6 

21.  Säint-Etienne  . 

11  346 

13  027 

102  575 

126  948 

8,8 

Summa 

129  324 

100  388 

881  798 

1 111  510 

11,6 

Wieviel  Kinder  im  Bergwerksbetrieb  beschäftigt  wer- 
den, giebt  unsere  Quelle  nicht  an,  die  eine  Gruppirung  der 
Arbeiter  nach  Industrien  überhaupt  unterlässt.  Nach  einer 
auf  der  Berliner  Arbeiterschutz-Konferenz  gemachten  An- 
gabe waren  1887  noch  4504  Kinder  im  Alter  von  12  16 

Jahren  unter  Tage  und  3482  Kinder  über  läge  im  Berg- 
werksbetrieb angestrengt.  Nach  den  Berichten  der  Inspek- 
toren wurden  im  Jahre  1890  Kinder  nur  noch  selten  unter- 
irdisch verwandt.  Immerhin  finden  wir  unter  Anderem  im 
ersten  Bezirk  132  Kinder  im  Alter  von  12  16  Jahren  in 

dieser  Weise  thätig.  Das  Loos  dieser  Kinder  ist  kein  be- 
neidenswerthes.  Sie  kommen  um  6 Uhr  Morgens  in  die 
Mine  und  verlassen  sie  um  4 Uhr  Nachmittags,  indem  eine 
Stunde  für  die  Mahlzeit  und  eine  Stunde  für  die  f ahrt 
hinauf  und  hinunter  angerechnet  werden.1)  Ebenso  scheinen 
die  bei  der  unterirdischen  Gewinnung  von  Phosphaten  im 
sechsten  Aufsichtsbezirke  beschäftigten  Kinder  nach  den 
Andeutungen  des  Beamten,  der  im  Jahre  1890  die  Werke 
nicht  besuchen  konnte,  in  sehr  trauriger  Lage  sich  zu  be- 
finden.2) 

Auf  diese  Weise  winkt  auch  in  Frankreich  der  Gesetz- 
gebung noch  die  hohe  Aufgabe,  für  die  Erleichterung  des 
schweren  Looses  der  Arbeiterkinder  lebhafter  als  bisher 
einzutreten  und  es  wäre  zu  wünschen,  dass  das  Anfangs- 
alter nicht  nur  für  die  eingeschulten,  sondern  für  alle  Kinder 
mit  13  Jahren  festgesetzt  würde.  Wie  weit  die  schon  seit 
mehreren  Jahren  in  Angriff  genommenen  Reformarbeiten 
gegenwärtig  gediehen  sind,  hat  uns  erst  kürzlich  an 
dieser  Stelle  (No.  2 S.  24—25)  ein  ansprechender  Artikel 
des  Herrn  Raoul  Jay  dargethan. 

Rostock.  Wilhelm  Stieda. 


Statistik  der  Arbeiter  und  Beamten  der  preussischen 
Staatsbahnen.  Dem  preussischen  Abgeordnetenhause  ging 
der  übliche  Bericht  über  die  Betriebsergebnisse  der  preussi- 
schen Staatsbahnen  im  Jahre  1890/91  zu  Demselben  ist 
über  das  Beamten-  und  Arbeiterheer  dieses  Riesenorganismus 
Folgendes  zu  entnehmen.  An  Beamten  waren  94  027  (gegen 
88  639  im  Vorjahre)  vorhanden,  und  zwar  77  361  (72  896) 
etatsmässige,  und  16  666  (15  743)  ausseretatsmässige;  man 
Hess  also  die  Anstellung  der  letzteren  in  beschränkterem 
Masse  eintreten,  als  die'  der  ersteren,  ein  Weg,  auf  wel- 
chem noch  viel  entschiedener  fortgeschritten  werden  sollte. 
Von  der  Gesammtzahl  der  Beamten  kamen  89655  aut 
die  Betriebs-,  2263  auf  die  Werkstätten-,  36  auf  die 


')  Rapport  S.  93. 
4)  Rapport  S.  33. 


Gasanstalts-  und  2073  auf  die  Neubauverwaltung.  Die 
Gesammtzahl  der  Arbeiter  betrug  183  659  (166853),  wovon 
143900  auf  die  Betriebsverwaltung,  39481  auf  die  Werk- 
stättenverwaltung und  278  auf  die  Gasanstalten  entfielen. 
Am  meisten  vermehrte  sich  gegen  das  Vorjahr  (um  13,9°/,,) 
die  Zahl  der  Streckenarbeiter  bei  der  Betriebsverwaltung. 
Von  den  2202  im  Berichtsjahre  beim  Bahnbetrieb  überhaupt 
Verunglückten  waren  weitaus  die  Mehrzahl,  nämlich  1764 
Beamte  und  Arbeiter  der  Verwaltung,  und  zwar  310Getöd- 
tete,  somit  1454  Verletzte.  Gegen  das  Vorjahr  stieg  die 
Zahl  der  beim  eigentlichen  Betriebe  gelödteten  und  ver- 
letzten Beamten  und  Arbeiter  sonach  um  nicht  weniger  als 
21  %,  während  die  Gesammtzahl  der  Arbeiter  und  Beamten 
bei  der  Betriebsverwaltung  lediglich  um  9n/0  vermehrt 
wurde.  Dieses  Verhältnis  ist  schon  seit  .einigen  Jahren  zu 
beobachten  und  lässt  auf  Dienstverhältnisse  schliessen, 
deren  Anstrengungen  weit  über  die  Kräfte  der  Beamten 
und  Arbeiter  gehen,  sonst  könnte  die  Ziffer  der  Verunglück- 
ten nicht  so  unverhältnissmässig  steigen.  Die  Abstellung 
dieses  Missverhältnisses  müsste  die  allererste  Sorge  der 
preussischen  Staatsverwaltung  sein.  Im  Uebrigen  fehlt  auch 
diesem  Bericht  jede  brauchbare  Lohn-  und  Arbeitszeitstatistik, 
was  noch  mehr  beklagt  werden  muss,  als  bei  den  amtlichen 
Nachrichten  über  den  staatlichen  Bergwerks-  und  Hütten- 
betrieb (vergl.  Arbeiterverhältnisse  in  den  preussischen 
Staatsgruben  in  No.  4 des  Sozialpolitischen  Centralblattes), 
wo  immerhin  eine  relativ  kleine  Zahl  von  Beschäftigten 
in  Betracht  kam,  während  auf  dem  Gebiete  des  Verkehrs 
der  preussische  Staat  der  grösste  Arbeitgeber  in  Deutsch- 
land ist,  folglich  zur  Offenlegung  seiner  Arbeiterverhältnisse 
ganz  besonders  verpflichtet  wäre. 

Arbeitsverhiiltnisse  bei  den  preussischen  Staatsbahnen. 

Die  Arbeiter  der  Transportgewerbe  gehören  zu  denjenigen 
Arbeiterkategorien,  die  gleichzeitig  unter  dem  Druck  einer 
übermässigen  Arbeitslast  und  durchaus  unzureichender 
Löhne  leiden.  Es  ist  bekannt,  dass  nach  dieser  Seite  die  ■ 
La°*e  speziell  der  Eisenbahnbediensteten  sich  nicht  ver- 
bessert hat,  seitdem  die  preussischen  Eisenbahnen  in  Staats-  , 
besitz  übergegangen  sind,  und  dass  bisher  alle  Klagen  über 
die  traurige  Lage  dieser  staatlichen  Arbeiter  wirkungslos 
verhallt  sind.  In  neuerer  Zeit  scheinen  im  Unterschied  von  i 
anderen  Staaten,  die  den  Angestellten  der  Transportanstalten  : 
einen  gesetzlichen  Schutz  energisch  angedeihen  lassen 
(vergl.  in  der  vorliegenden  Nummer  die  Mittheilung  über 
den  Arbeiterschutz  bei  dem  schweizerischen  Verkehrs- 
o-ewerbe),  die  Verhältnisse  bei  den  preussischen  Staats-  ; 
Bahnen  sich  noch  wesentlich  zu  verschlechtern.  Man  lese  ; 
die  folgende  Verfügung  eines  dem  Erfurter  Direktionsbezirk 
ungehörigen  Eisenbahnamtes,  die  unwidersprochen  durch  < 
die^  Presse  geht,  und  welche  hiernach  authentisch  sein  ; 
dürfte 

T No.  2.  C.  568.  I Behufs  Erzielung  von  Ersparnissen  < 
werden  die  Vorsteher  der  Dienststellen  angewiesen,  sorgsam  zu 
prüfen,  ob  nicht  zur  Zeit  mit  Rücksicht  aut  den  im  allgemeinen 
schwachen  Verkehr  Arbeiter  entlassen  werden  können.  Ist 
dies  der  Fall,  so  sind  zuerst  die  unzufriedenen  Elemente  zu  be- 
seitigen, die  vorzugsweise  auf  Erhöhung  der  Lohnsätze  hin- 
wirken. Schon  bejahrte  Arbeiter,  welche  nicht  mehr  voll 
leistungsfähig  sind,  können  zwar  ihren  Leistungen  entsprechend 
weiter  beschäftigt  werden,  es  ist  jedoch  der  Lohn  demgemäss 
zu  verringern.  — Auch  auf  Ersparniss  im  Verbrauch  ^ on  He- 
leuchtungsmaterial  ist  Bedacht  zu  nehmen,  namentlich  daraut 
zu  halten,  dass  Gas-  und  Petroleumlampen  nicht  zu  zeiti|  an- 
crezündet  und  nicht  länger  als  unbedingt  nöthig  brennend  ge- 
halten werden.  Innerhalb  14  Tagen  erwarten  wir  Bericht,  ob 
und  inwiefern  dieser  Verfügung  nachgekommen  ist  Auch  ist 
anzuführen,  wie  alt  der  jüngste  dort  beschäftigte  Arbeiter  ist, 
da  wir  beabsichtigen,  ein  Mindestmass  von  18  Jahren  für  Arbeiter 
vorzuschreiben;  etwaige  Bedenken  hiergegen  sind  anzugeben.  i 
o-ez  • ...  An  sämmtliche  Herren  Stationsvorsteher  und  V or- 

steher  selbständiger  Güter-  und  Eilgutabfertigungsstellen. 

Wir  wollen  heute  den  Inhalt  dieser  Verfügung  nicht 
cranz  ausschöpfen  und  versagen  uns  die  Charakteristik  eines 
Verhaltens,  welches  die  legalen  Bestrebungen  der  Arbeiter  | 
um  die  Erlangung  besserer  Lohnbedingungen  ächtet,  indem 
es  die  sogenannten  „unzufriedenen  Elemente“  vor  die  1 hüre 
weist,  welches  bejahrte  Arbeiter  für  ein  m angestrengter 
Arbeit  zugebrachtes  Leben  mit  der  Herabsetzung  ihres 
Verdienstes  belohnt  und  nach  diesen  beiden  Beziehungen 

eine  wahre  Ironie  auf  die  staatlichen  „Musteranstalten  , 

der  privaten  Industrie  mit  einen  zwar  nicht  nachahmens- 
werthen  aber  ohne  Frage  eifrig  nachgeahmten  Beispiel 
vorano-eht.  Diesmal  wollen  wir  nur  darauf  hinweisen,  wie 
Übel  eine  Politik  wirken  muss,  die  Ersparnisse  dadurch  zu 


No.  5. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


65 


erzielen  sucht,  dass  sie  in  einer  Zeit  sehr  schlimmen  Noth- 
standes  und  einer  weit  umsichgreifenden  Arbeitslosigkeit  in 
den  Staatsbetrieben  zu  Arbeiterentlassungen  schreitet.  Es 
Wcäre  der  Situation  wie  der  Stellung  der  Staatsverwaltung 
weit  angemessener,  in  einem  Moment  wie  dem  gegen- 
wärtigen zur  Ausdehnung  ihrer  Betriebe  und  zur  Be- 
schäftigung einer  grösseren  Anzahl  von  Arbeitern 
zu  schreiten.  Die  Verringerung  der  Löhne  und  die 

Entlassung  von  Arbeitern  erscheint  um  so  unangebrachter, 
als  die  Summe  der  dadurch  erzielten  Ersparnisse  eine 
o-eo-enüber  dem  Budget  der  Staatsbahnen  verschwindend 
Geringe  ist.  Will  die  Eisenbahnverwaltung  angesichts  der 
verringerten  Einnahmen  Ersparnisse  erzielen,  so  er  öffnete 
sich  ihr  ein  weit  geeigneterer  Weg,  wenn  sie  den  bureau- 
kratischen  Charakter  ihrer  Verwaltung  änderte.  Die  Um- 
ständlichkeit des  schriftlichen  Verfahrens  und  der  weit- 
läufige Instanzenzug,  dem,  gleichgiltig  ob  es  sich  um  Wich- 
tiges oder  Unbedeutendes  handelt,  jeder  Gegenstand  der 
Eisenbahverwaltung  unterliegt,  verursacht  enorme  und  zum 
Theil  sehr  überflüssige  Kosten.  Hier  könnte  auch  im  Inter- 
esse der  Eisenbahnverwaltung  selbst  sehr  wirksam  gespart 
werden,  während  die  Entlassung  von  Arbeitern  in  jeder 
Hinsicht  Bedenken  erregen  muss. 

Mangelhafte  Ernährung  von  Arbeiterkindern.  Wiederum 
lie°'t  aus  Mayen  am  Rhein  eine  Nachricht  vor,  nach  welcher 
auf  Veranlassung  der  dortigen  Armenverwaltung  an  arme 
Schulkinder  im  Hospital  jeden  Morgen  je  eine  Tasse  Kaffee  und 
ein  Butterbrod  und  des  Mittags  ein  Teller  Suppe  verabreicht 
wird.  Ferner  wurde  in  der  letzten  Ausschusssitzung  des  Vereins 
Knabenhort  in  Stuttgart  mitgetheilt,  dass  die  Zahl  der  Tami- 
lien,  welche  armen  Kindern  in  ihren  Häusern  Mittagskost  ge- 
währen oder  den  Verein  durch  Geldbeiträge  in  Stand  setzen, 
dieselben  in  Volksküchen  zu  speisen,  353  beträgt.  Da  aber  die 
überwiegende  Mehrzahl  der  bisher  versorgten  Kinder  nicht 
durch  andere  ersetzt  werden,  sondern  eine  länger  dauernde 
Fürsorge  für  dieselben  geboten  ist,  so  konnten  bis  jetzt  von 
den  im  Jahre  1891  dem  Ausschuss  bekannt  gewordenen  bedürf- 
tigen Ferienkolonisten  und  sonstigen  armen  Schulkindern  nur 
wenige  berücksichtigt  werden  und  es  mussten  noch  mehr  als 
150  Kinder  auf  später  vertröstet  werden.  Dabei  wird  an- 
erkannt, dass  wenigstens  dem  dringendsten  Bediirfniss  ent- 
sprochen und  einer  weiteren  Anzahl  Kinder  bei  der  strengen 
Winterkälte  die  so  nothwendige  warme  Mittagskost  wenigstens 
an  1—2  Wochentagen  verschafft  werden  muss. 

Arbeitslosigkeit.  Authentische  Nachrichten  über  die 
gegenwärtige  Beschäftigungslosigkeit  von  Arbeitern  in  Deutsch- 
land liegen  weiter  aus  folgenden  Bezirken  vor.  In  Krefeld 
berichtete  der  Oberbürgermeister  der  Stadtverordnetenversamm- 
lung am  21.  d.  M.,  dass  von  den  65  000  Mk.,  welche  zur  Beschäf- 
tigung von  Arbeitslosen  bewilligt  wurden,  63  500  Mk.  verbraucht 
seien,  so  dass  ein  abermaliger  Kredit  erforderlich  sei.  Die  Ver- 
sammlung bewilligte  einen  solchen  von  10  000  Mk.,  nachdem 
zur  Kenntniss  gebracht  worden  war,  dass  die  Zahl  der  Arbeits- 
losen seit  30.  November  v.  J.  von  452  auf  401  gesunken  sei;  von 
den  401  Personen  sind  299  Weber.  Der  Wohlthätigkeitsverem 
in  Köln  a/R.  theilt  der  Presse  mit,  dass  sich  die  Arbeitslosen 
neuerdings  ,,schaarenweise“  bei  ihm  meldeten.  Ein  Vorrath 
von  220  000  Pfund  Kartoffeln,  der  im  November  v.  J.  angeschafft 
wurde,  sei  längst  aufgebraucht;  in  der  Suppenanstalt  werden 
täglich  1500  Liter  unentgeltlich  und  150  Liter  für  10  Pfg.  ver- 
abreicht. Man  soll  nicht  annehmen,  der  Verein  handle  „zu  weich- 
herzig“, denn  täglich  würden  „unverschämte  Bettler  abgewiesen“. 
Die  Kleiderkammer  sei  auch  gänzlich  geräumt  Die  täglichen 
Ausgaben  für  Brod  und  Suppe  betrugen  300 — 350  Mk.  Auch  in 
Solingen,  wie  in  Wald  und  Höhscheid  mehren  sich  die 
Anmeldungen  Arbeitsloser  bei  den  Behörden,  die  ihnen  Arbeit 
verschaffen  sollen,  und  in  Höhscheid  wie  auch  in  Wald  ist  das 
Armenbudget  für  das  laufende  Etatsjahr  schon  überschritten 
bezw.  erschöpft.  So  viel  als  möglich  werden  die  Arbeitslosen 
an  Wegebauten  und  für  Strassenarbeiten  u.  _s.  w.  verwandt; 
aber  alle  diese  Hilfsmittel  reichen  bei  weitem  nicht  aus,  um  alle 
die  Arbeitsuchenden  ausgiebig  mit  Arbeit  und  Verdienst  zu 
versorgen.  Ferner  stand  in  Erfurt  auf  der  Tagesordnung  der 
letzten  Stadtverordneten-Versammlung : „Bewilligung  von  Kosten 
zur  Beschäftigung  brotloser  Arbeiter“.  In  Anbetracht  des 
wirklich  bestehenden  Nothstandes  bewilligten  die  Stadtverord- 
neten gegen  17  000  Mk.  Die  Arbeiter  — nur  Familienväter  — 
nehmen  Arbeiten  vor,  welche  im  Interesse  der  Stadt  über  kurz 
oder  lang  doch  hätten  vorgenommen  werden  müssen.  Bis 
.Montag,  den  18.  Januar  hatten  170  Mann  Beschäftigung.  An 
diesem  Tage  beschloss  die  Nothstands-Kommission,  noch  weitere 
80  Arbeiter  anzunehmen,  so  dass  nunmehr  die  Zahl  derselben 
auf  250  gewachsen  ist.  Die  Leute,  welche  für  die  Stunde 
Arbeitszeit  20  Pfg.  erhalten,  verdienen  einen  Tagelohn  von  1 Mk. 
80  Pfg. 

Ländliche  Arbeiterverhältnisse.  In  einem  Vortrag,  den 
Professor  Sering  - Berlin  im  „Club  der  Landwirthe“  über  die 
Ergebnisse  der  Ansiedelung  von  Bauern  und  Arbeitern  auf 


Privatgütern  in  den  östlichen  Provinzen  auf  Grund  persönlicher 
Beobachtungen  und  Erfahrungen  hielt,  fällte  er  ein  scharfes  Lr- 
thcil  über  manche  Versuche,  wie  sie  seitens  grösserer  Grundbesitzer 

eingestellt  worden  sind,  um  Arbeiter  auf  kleinen  Kentengüti  rn 
sesshaft  zu  machen.  Die  Bedingungen,  unter  denen  dies  ge- 
schehen, sind  so  ungeheuerliche,  dass  die  betreffenden  Arbeiter 
in  eine  förmliche  Leibeigenschaft  gerathen  sind,  und  schon  um 
deswillen,  wie  Redner  ausführte,  für  den  Gutsherrn  weit  weniger 
leisten,  als  dessen  freie  Arbeiter,  weil  sie  viel  schlechter  genährt 
sind,  als  diese.  Die  gutsherrlichen  Gründer  solcher  Arbeiter- 
kolonien  scheinen  noch  sehr  wenig  von  der  Gährung  bemei  kt 
ZU  haben,  welche  in  Arbeiterkreisen  herrscht,  und  ihre  Werke 
Hilden  eher  eine  soziale  Gefahr,  als  einen  sozialen  Fortschritt. 
Weit  erfreulicher  ist  nach  der  Meinung  des  Vortragenden  das 
Bild,  welches  die  bäuerlichen  Kolonisationen  darbieten,  wie  er 
sie  namentlich  im  Kreise  Kolberg-Köslin  in  Pommern  ange- 
troffen hat. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Das  Programm  des  deutschen  Gewerkschaftskongresses. 

Bekanntlich  tritt  am  14.  März  der  Kongress  der  deut- 
schen Gewerkschaften  in  Halberstadt  zu  sehr  bedeutsamen 
Verhandlungen  zusammen.  Kurz  präci'sirt  ist  die  Aufgabe  des 
Kongresses:  die  bisher  getrennt  operirenden  Gewerkschaften 
zu  einem  einheitlichen  Vorgehen  zusammenzuschliessen. 
Damit  ist  wohl  gesagt,  in  welchem  Rahmen  sich  die  Verhand- 
lungen des  Kongresses  bewegen  werden,  es  bleibt  jedoch 
festzustellen,  um  welches  Ziel  es  sich  handelt  und  welche 
Mittel  zur  Erreichung  desselben  angewendet  werden  sollen. 

Hier  muss  man  sich  zunächst  den  Charakter  der  ge- 
werkschaftlichen Bewegung  Deutschlands  vergegenwärtigen. 
Die  Vertreter  der  Gewerkschaftsorganisationen,  welche  zu 
diesem  Kongress  zusammentreten,  stehen  im  Gegensatz  zu 
den  sogenannten  Hirsch-Duncker’schen  Gewerk  vereinen  aut 
dem  Standpunkte,  dass  die  Gewerkschaftsbewegung  und 
Organisation  nicht  Selbstzweck,  sondern  ein  Mittel  sei,  um 
die  Sozialisirung  der  Produktion  vorzubereiten.  Wähl  und 
die  Hirsch-Duncker’schen  Gewerkvereine  die  heutigen  Pro- 
duktionsverhältnisse anerkennen  und  sie  weder  zu  ändern, 
noch  zu  beseitigen  wünschen  und  der  Ansicht  sind,  durch 
die  Organisation  der  Arbeiter  könne  deren  volle  Gleichbe- 
rechtigung in  der  heutigen  Gesellschaft  errungen  werden, 
vertreten  die  Gewerkschaften  die  Ansicht,  dass  eine  ma- 
terielle Gleichberechtigung  und  eine  Garantie  für  eine,  be- 
friedigende Existenz  der  Arbeiterklasse  von  der  heutigen 
Gesellschaft  nicht  zu  erreichen  ist.  Danach  muss  man  zu 
dem  Schluss  kommen,  dass,  wenn  auch  die  Organisation  der 
Gewerkschatten  der  Form  nach  den  Gewerkvereinen  ähnelt, 
doch  die  Differenz  in  der  prinzipiellen  Auffassung  eine  der- 
artig grosse  ist,  dass  eine  Annäherung  dieser  beiden  Orga- 
nisationen nahezu  undenkbar  erscheint.  Die  Gewerkschaften 
haben  daher  auch  eine  andere  Kampfesweise  als  die  Ge- 
werkvereine. Diese  legen  das  Schwergewicht  aut  das  Unter- 
stützungswesen, während  jene  den  Lohnkampf  in  den 
Vordergrund  stellen  und  gleichzeitig  bestrebt  sind,  durch 
geeignete  Agitation  die  Arbeiter  zum  Klassenkampf  zu 
erziehen. 

Im  Uebrigen  hat  sich  in  den  Arbeiterkreisen  die 
Ansicht  über  die  Bedeutung  der  gewerkschaftlichen  Bewe- 
gung in  neuerer  Zeit  erheblich  verändert.  Die  früher  viel- 
fach vertretene  Aulfassung,  dass  die  T hätigkeit  dei  Gewerk- 
schaften durch  die  politische  Arbeiterbewegung  vollkommen 
überflüssig  gemacht  werde,  ist  auch  in  den  Kreisen  der 
sozialdemokratischen  Arbeiter  fast  gänzlich  fallen  gelassen. 
Man  ist  nicht  nur  zu  der  Ueberzeugung  gekommen,  dass 
die  Gewerkschaften  die  Arbeiterklasse  vor  \ ersumpfung 
und  Verelendung  bewahren  können,  sondern  man  lernte 
auch  einsehen , dass  die  Gewerkschaften  insbesondere 
diejenigen  Schichten  der  Arbeiterbevölkerung  zu  gewinnen 
vermögen,  welche  dem  politischen  Leben  und  der  politischen 
Thätigkeit  verständnislos  gegenüberstehen.  Die  Kampfes- 
mittel der  Gewerkschaften  sind  folgende;  1.  Erringung 


No.  5. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 

66  - 


besserer  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  durch  den  Stnke; 

2.  die  Agitation  unter  den  nichtorganisirten  und  für  die 
Theilnahme  am  öffentlichen  Leben  noch  nicht  gewonnenen 
Arbeitern;  3.  die  Klarstellung  der  Lage  der  Arbeiter  durch 
die  Aufstellung  von  Statistiken 

Alle  Gewerkschaften  sind  bisher  in  diesem  Sinne 
thätig  gewesen,  doch  hat  die  Erfahrung  gelehrt,  dass  die 
Lohnkämpfe  gegenüber  dem  sich  gleichfalls  orgamsirenden 
Unternehmerthum  und  bei  der  ungeregelten  Unterstützung 
seitens  der  anderen  Gewerkschaften  von  den  einzelnen 
Berufsorganisationen  nicht  wirksam  geführt  werden  können. 
Es  ist  bisher  bei  den  Kämpfen  der  Gewerkschaften  seitens 
der  oro-anisirten  Arbeiter  immer  hilfreiche  Hand  geboten 
worden,  aber  diese  Hilfe  konnte  nicht  ausreichend  sein,  weil 
sie  ohne  systematische  Organisation  war  und  sich  deshalb 
den  Bedürfnissen  nicht  anzupassen  vermochte.  Der  Gewerk- 
schaftskongress soll  eine  Regelung  nach  der  Richtung  her- 
beiführen, dass  die  verwandten  Berufsorganisationen  sich 
durch  Kartellverträge  zu  Unionen  Zusammenschlüssen.  Mit 
dieser  Verbindung  würden  dann  bei  allen  Ausständen 
sämmtliche  Mitglieder  der  betheiligten  Organisationen  gleich- 
mässig  zur  Unterstützungsleistung  herangezogen  werden, 
und  zwar  wird  die  Höhe  der  Unterstützung  sich  nach  dem 
Bedürfniss  richten,  so  dass  bei  allen  Strikes  die  Sicherheit 
geboten  wäre,  dass  die  erforderlichen  Mittel  aufgebracht 
werden.  Trotz  dieser  Garantie  würde  aber  dennoch  nur 
eine  verhältnissmässig  geringe  Belastung  dei  einzelnen  Mit- 
glieder eintreten,  weil  die  Zahl  der  tür  den  Ausstand  Steu- 
ernden durch  die  Verbindung  der  Berufsorganisationen  be- 
deutend erhöht  wird.  Um  auch  für  den  Fall  gerüstet  zu 
sein  dass  eine  solche  Union  in  einen  Ausstand  zu  treten 
gezwungen  ist,  welcher  eine  die  Mitglieder  sehr  stark  be- 
lastende Ausdehnung  annimmt,  soll  als  Bindeglied  zwischen 
den  Unionen  eine  Kommission  eingesetzt  werden,  welche 
die  Befugniss  erhält,  in  solchen  Fällen  die  gesammten  orga- 
nisirten  Arbeiter  zur  Beitragsleistung  heranzuziehen. 

Auch  die  Agitation  ist  stets  von  den  einzelnen  Orga- 
nisationen eifrig  betrieben  worden,  und  für  ihren  Zweck 
sind  in  manchen  Gewerkschaften  enorme  Mittel  verwandt 
worden.  Da  aber  die  einzelnen  Vereinigungen  ohne  alle 
Fühlung  mit  verwandten  Berufsvereinen  die  Agitation 
leiteten,  wurden  häufig  nicht  die  Erfolge  erzielt,  welche 
erreichbar  gewesen  wären,  wenn  die  Agitation  tür  eine 
bestimmte  Industriegruppe  gemeinsam  betrieben  worden 
wäre.  Der  Gewerkschaftskongress  soll  nun  eine  Regelung 
der  Agitation  dadurch  herbeiführen,  dass  er  Einrichtungen 
schafft,  welche  die  Agitation  für  die  verwandten  Berufs- 
zweige von  einer  Zentralstelle,  der  Unionsleitung,  ermög- 
lichen würde.  Auch  hier  soll  eine  Theilung  der  Arbeit  in 
der  Form  eintreten,  dass  die  Agitation  unter  den  Berufen 
und  in  den  Gegenden,  in  denen  die  Arbeiter  noch  nicht 
organisirt  sind,  der  als  Bindeglied  zwischen  den  Unionen 
stehenden  Kommission  zufällt.  Bei  der  Betreibung  dieser 
Agitation  durch  die  erwähnte  Kommission  soll  mit  Rück- 
sicht auf  die  für  alle  Berufe  gleichmässige  Bedeutung  der 
Agitation  unter  den  unorganisirten  Massen  dieselbe  auf 
Kosten  der  gesammten  organisirten  Arbeiterschaft  statt- 
finden. Eng  verbunden  mit  dieser  mündlichen  Agitation 
ist  diejenige  durch  die  Fachpresse. 

Auch  die  letztere  bedarf  einer  Regelung.  Es  bestehen 
heute  fast  für  jeden  einzelnen  Beruf  eigene  Fachorgane,  die 
nur  mit  Aufwendung  bedeutender  Geldmittel  hergestellt 
werden  können.  Durch  die  Einrichtung  eines  Verbandsorgans 
für  die  verwandten  Berufsorganisationen  werden  bedeutende 
Summen  erspart  werden  können,  und  dennoch  wird  den 
Mitgliedern  der  Gewerkschaften  ein  ausreichenderer  und 
besserer  Lesestoff  als  gegenwärtig  geboten  werden.  Die 
hierdurch  zu  erübrigenden  Summen  werden  vortheilhaft  für 
andere  gewerkschaftliche  Aufgaben  verwendet  werden 
können. 

Die  Statistik  liegt  gegenwärtig  bei  den  meisten  Ge- 
werkschaftsorganisationen noch  im  Argen.  Es  mangelt 
einerseits  in  den  einzelnen  Organisationen  an  geeigneten 
Kräften,  um  die  statistischen  Aufnahmen  zweckmässig  vor- 


zubereiten, andererseits  ist  die  Verwerthung  des  gewonnenen 
Materials  überaus  unvollkommen.  Die  Aufstellung  der 
Statistiken  ist  aber  eines  der  wirksamsten  Kampfesmittel 
der  Arbeiterbewegung,  und  sind  die  Gewerkschaftsorga- 
nisationen in  erster  Linie  berufen  und  geeignet,  die  Statistik 
zu  pflegen. 

Der  Gewerkschaftskongress  soll  auch  hier  Besserung 
schaffen,  dadurch  dass  in  Betreff  statistischer  Aufnahmen 
für  einen  grösseren  Kreis  der  industriellen  Arbeiter  einheit- 
liche Einrichtungen  getroffen  werden,  und  die  Zusammen- 
stellung der  in  den  einzelnen  Berufsorganisationen  ge- 
wonnenen Resultate  in  der  Unionsleitung  erfolgt.  Hier- 
durch wird  nicht  nur  der  Mangel  an  geeigneten  Hilfs- 
kräften beseitigt,  sondern  es  stehen  dann  auch  grössere 
Mittel  zur  Verfügung,  um  die  Zusammenstellung  dem  Publi- 
kum zugänglich  zu  machen.  Ein  einheitliches  Bild  von 
der  Lage  der  gesammten  industriellen  Arbeiterschaft  soll 
dadurch  gegeben  werden,  dass  die  für  die  verschiedenen 
Industriegruppen  gewonnenen  Resultate  von  der  erwähnten 
Kommission  zusammengestellt  werden.  Ob  dieselbe  zu 
diesem  äusserst  schwierigen  Werke  der  Hinzuziehung  ge- 
eigneter, technisch  gebildeter  Kräfte  bedarf,  wird  sich  in 
der  Folge  ergeben.  Der  Kongress  soll  zunächst  einmal  die 
in  den  Organisationen  jetzt  schon  vorhandenen  Kräfte  zu 
gemeinsamer  Arbeit  zusammenziehen. 

Das  sind  die  Aufgaben,  die  des  Gewerkschaftskongresses 
harren.  Ob  sie  in  der  vorstehend  geschilderten  Form  ge- 
löst werden,  kann  nicht  mit  Bestimmtheit  gesagt  werden, 
weil  die  Vorschläge,  die  in  dieser  Richtung  gemacht  wer- 
den, sehr  mannigfaltig  sind.  Indessen  bewegen  sich  alle  in 
dem  gezeichneten  Rahmen.  In  allen  Anträgen  ist  die  An- 
wendung der  geschilderten  Mittel  mehr  oder  weniger  be- 
stimmt empfohlen.  An  den  bisherigen  Grundsätzen  und 
Zielen  der  Gewerkschaften  festhaltend,  drehen  sich  die 
Meinungen  nur  darum,  in  welcher  W eise  die  Mittel  am  ge- 
eignetsten  zu  wählen  sind. 

Es  ist  klar,  dass  es  äusserst  schwierig  sein  wird,  die 
Meinungen  vollständig  auszugleichen,  jedoch  ist  die ' 
Schwierigkeit  nicht  so  gross,  als  viele  Gewerkschafter 
glauben,  und  sie  ist  bedeutend  geringer,  als  die  Gegner 
der  Organisationen  annehmen.  Die  Gewerkschaften  sind  bis 
jetzt,  jede  für  sich,  ihren  eigenen  Weg  gegangen  und 
haben  sich  in  Folge  dessen  in  ihrer  \\  irksamkeit  . 
verschieden  entwickelt.  Einzelne  Organisationen  haben 
durch  die  Dauer  ihres  Bestehens  nicht  nur  die, 
Lage  der  Mitglieder  zu  heben  vermocht,  sondern 
auch  die  Leistungsfähigkeit  ihrer  Mitglieder  in  Be- 
zug auf  die  Höhe  der  Beitragsleistung  bedeutend  zu 
steigern  verstanden.  Dagegen  vermochten  andere  Gewerk- 
schaften wegen  der  ungünstigeren  Lage  des  betreffenden 
Industriezweiges,  oder  der  geringeren  Intelligenz  der  Ar- 
beiter desselben  mit  den  Ersteren  nicht  gleichen  Schritt  zu 
halten.  Diese  zum  Theil  starke  Verschiedenheit  in  den 
Leistungen  wird  zunächst  Schwierigkeiten  für  eine  einheit- 
liche Verbindung  bieten.  Ferner  ist  aber  auch  die  Meinung 
der  Gewerkschafter  selber  über  die  Art  der  Betreibung  der 
Agitation  und  der  Aufklärung  der  Mitglieder  verschieden. 
Eine  ganze  Reihe  von  Vertretern  der  Gewerkschaften  ist 
der  Ansicht,  dass  die  Organisationen  neuerdings  eine  poli- 
tische Thätigkeit  entfalten  müssen,  weil  ohne  dieselbe  die 
, Gewerkschaften  zu  reinen  Kasseneinrichtungen  werden 
würden.  Unter  diesen  Umständen,  mit  politischer  I endenz 
ausgestattet,  würden  die  Gewerkschaftsorganisationen  sich 
lokalisiren  müssen,  weil  die  Vereinsgesetze  in  Deutsch- 
land eine  Centralisirung  politischer  Vereine  nicht  zulassen. 
Die  Frage  ob  Lokalorganisation  oder  Centralisation  ist 
eigentlich  dadurch  entschieden,  dass  immer  mehr  Stimmen, 
sogar  hervorragender  Politiker,  sich  tür  die  letztere  aus- 
sprechen, ferner  aber  dadurch,  dass  die  meisten  der  gewerk- 
schaftlich organisirten  Arbeiter  in  den  Centralvereinen  sind 
Der  Lohnkampf  kann  nur  in  den  Centralorganisationer 
wirksam  geführt  werden.  Mehr  noch  aber  ist  der  Erfolg  dei 
statistischen  Aufnahmen  von  ihr  abhängig.  Der  Meinungs- 
austausch über  diese  Frage  wird  wohl  auf  dem  Gewerk- 


No.  5. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


67 


schaftskongress  ziemlich  heftig  werden,  unter  keinen  Um- 
ständen aber  eine  Vereitelung  der  gestellten  Aufgaben 
herbeiführen. 

Den  schwierigsten  Punkt  bildet  die  Vereinsgesetz- 
gebung. Hier  kommt  zunächst  in  Betracht,  dass  es 
in  einzelnen  Bundesstaaten  Vereinsgesetze  gibt,  welche 
nach  dem  klaren  Wortlaut  eine  Centralisirung  der  Gewerk- 
schaftsorganisationen unmöglich  machen.  Dann  aber  ist  in 
den  Bundesstaaten,  nach  deren  Vereinsgesetzen  die  gewerk- 
schaftliche Centralisation  zulässig  ist,  seitens  der  Behörden 
und  Gerichtshöfe  eine  solche  Auslegung  der  Gesetze  beliebt, 
dass  es  auch  hier  möglich  ist,  den  Centralorganisationen 
Schwierigkeiten  zu  bereiten,  ja  sie  völlig  zu  vernichten. 
So  bedauerlich  eine  solche  Sachlage  mit  Rücksicht  aut  die 
hohe  kulturelle  Aufgabe  der  Gewerkschaften  ist,  so  muss 
mit  dieser  Thatsache  gerechnet  werden  und  es  wird  des 
ganzen  Scharfsinnes,  der  grössten  Ueberlegung  der  Ver- 
treter auf  dem  Kongress  bedürfen,  um  diese  gesetzlichen 
Klippen  zu  umschiffen.  Die  Lösung  der  Aufgaben  des 
Kongresses  wird  keine  leichte  sein,  sie  wird  jedoch  bei 
dem  anerkannt  gesunden  Sinne,  den  die  organisirte  deutsche 
Arbeiterschaft  sich  bewahrt  hat,  erfolgen,  und  mit  ihr  wird 
ein  weiteres  Stück  Kulturaufgabe  vollzogen  werden. 

Hamburg.  C.  Legien. 


Der  steirische  Bergarbeiterstrike. 

Der  Ausstand  im  Köflach-Voitsberger  Revier  hat  den 
Ausgang  genommen,  den  er  angesichts  des  Verhaltens  der 
Behörden  nehmen  musste : Die  Knappen  sind  unterlegen. 

Zahlreiche  Maassregelungen  sind  erfolgt,  die  Führer,  welche 
sich  erfolgreich  um  die  Aufrechthaltung  der  Ruhe  bemüht 
haben,  wurden  abgeschoben,  einige  Verhaftete  harren 
ihrer  Verurtheilung.  Noch  im  letzten  Augenblicke  wurde 
Denjenigen,  welche  die  Arbeiter  zum  Ausharren  beim 
Strike  ermunterten,  mit  der  Anklage  wegen  des  Ver- 
brechens der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe  gedroht.  Ein 
Knappe,  der  Subsidien  ins  Strikegebiet  bringen  wollte, 
wird  sonderbarerweise  wegen  Verbrechens  des  Betruges 
verfolgt.  Angesichts  solcher  Zustände  ist  es  nur  zu  ver- 
wundern, wenn  der  Ausstand  erst  nach  dreiwöchentlicher 
Dauer  unterdrückt  — der  Ausdruck  ist  nicht  bildlich  zu 
nehmen  — werden  konnte. 

Während  ich  diese  Zeilen  schreibe,  dürfte  auch  im 
Trifailer  Revier,  in  welchem  das  slavonische  Element  weit- 
aus überwiegt,  der  Strike  zu  Ende  gegangen  sein.  Ein 
letzter  Versuch,  den  die  Arbeiter  durch  Entsendung  einer 
Deputation  an  den  Ackerbauminister  unternahmen,  scheiterte 
an  der  Weigerung  des  letzteren,  ausständige  Bergleute  zu 
empfangen.  So  erübrigt  mir  denn  nur  die  Lage  der 
Knappen  im  Trifailer  Revier,  die  von  den  im  Ivöflach  Voits- 
berger  nicht  unwesentlich  abweicht,  hier  darzulegen. 

Von  den  ca.  19  Gruben  gehören  nur  einige  kleinere 
Privatpersonen,  alle  übrigen  sind  Eigenthum  der  Trifailer 
Gewerkschaft,  einer  Aktiengesellschaft.  Bis  zum  1.  August 
des  Vorjahres  war  überall  2/s  Belegung  mit  12stündiger 
Schicht  und  gelegentlichen  U eberschichten  üblich.  Mit  dem 
gedachten  Tage  führte  die  Trifailer  Gewerkschaft  3/H  Bele- 
gung sammt  nomineller  Achtstundenschicht  ein.  Die  Ein- 
fahrt begann  für  die  erste  Schicht  um  7^6  Uhr  Früh,  für 
die  zweite  um  Uhr  Mittags,  für  die  dritte  '/glO  Uhr 
Nachts.  Da  die  Ablösung  von  dort  erfolgen  musste  und 
die  Einfahrt,  Ausfahrt,  sowie  der  Weg  zum  und  vom  Ar- 
beitsplätze für  manche  bis  zu  zwei  Stunden  währt,  so 
dauerte  die  Schicht  in  Wirklichkeit  bis  zu  10  Stunden. 
Dazu  kamen  aber  auch  jetzt  noch  Ueberschichten  bis  zu 
vier  Stunden,  welche  keineswegs  vom  freien  Willen  der 
Knappen  abhängig  waren,  die  vielmehr  über  Anordnung 
der  Werkleitung  verfahren  werden  mussten.  Endlich 
| suchte  man  die  nominelle  Achtstundenschicht  den  Berg- 
leuten dadurch  unbequem  zu  machen,  dass  man  den  Zeit- 
lohn, soweit  er  noch  gezahlt  wird,  um  ein  volles  Drittel 
reduzirte. 


Nur  die  Bremser,  Schienenleger  und  Arbeiter  über 
Tage  standen  im  Schichtlohne,  für  alle  andern  galt  das  Ge- 
dingesystem. Der  Gedingesatz  wurde  nach  Angabe  der 
Arbeiter  in  der  Weise  fixirt,  dass  der  Schichtmeister  ein- 
fach erklärte,  wie  viel  er  für  das  Metergedinge  oder  den 
Wagenkasten  zahle.  Nur  äusserst  selten  wurde  das  Ge- 
stein behauen,  so  dass  auch  hier  die  wirklichen  Verhält- 
nisse ausser  Betracht  blieben.  Neben  dem  auch  ander- 
wärts bekannten  Nullen  kommt  in  Trifail  auch  noch  eine 
Reihe  weiterer  Seltsamkeiten  vor.  Vor  Allem  wird  jeder 
Wagen,  bei  dem  die  Nummer  während  der  Förderung  in 
Verlust  geräth,  der  Kameradschaft  unbarmherzig  ge- 
strichen. Ich  glaube  nicht,  dass  dieses  Vorgehen  in  ge- 
ringerem Maasse  die  Aufmerksamkeit  des  Strafgerichtes 
verdient,  als  das  Verhalten  der  Arbeiter.  Nicht  minder  gilt 
dies  von  dem  in  Verlust  gerathenen  und  vom  Knappen 
wieder  gefundenen  Werkzeuge.  Er  darf  dasselbe  bei 
Strafe  nicht  an  sich  nehmen,  er  erhält  aber  auch  nicht  den 
Kaufpreis  für  das  neuerhaltene  Gezähe  zurück.  Vielmehr 
muss  er  es  im  Magazine  abliefern,  so  dass  er  leicht  in  die 
Lage  kommt,  dasselbe  Werkzeug  der  Gesellschaft  mehrfach 
zu  bezahlen. 

Was  nun  den  Verdienst  anbelangt,  so  soll  die  Mehr- 
zahl der  Häuer  per  Schicht  auf  höchsens  90  Kreuzer  kom- 
men, während  nur  etliche  besonders  geschickte  junge 
Knappen  bis  zu  1 Fl.  50  Kr.  erhalten.  Der  „Grundlohn“ 
mit  Prämie  ist  hier  völlig  unbekannt  geworden  und  dem 
reinen  Gedingsystem  gewichen.  Die  Förderer  verdienen 
bis  zu  80  Kreuzer,  Männer  über  Tage  bis  70,  Frauen  45 
bis  50  Kreuzer. 

Von  dem  Verdienste  kommt  der  Beitrag  für  die 
Bruderladen,  das  Oelgeld,  die  Auslagen  für  Pulver,  sowie 
die  etwaigen  Strafen  in  Abzug.  Die  letzteren  sind  keines- 
wegs gering.  Man  zahlt  bei  Versäumen  des  Verlesens 
20  Kreuzer,  bei  Versäumen  einer  Schicht  1 Fl.,  zweier 
Schichten  bis  2 Fl.,  für  Verunreinigung  70 — 200  Kreuzer. 
Selbst  die  gesetzlich  verpönte  Sonntagsarbeit  soll  durch 
Strafen  bis  5 Fl.  zeitweilig  erzwungen  werden. 

Von  dem  karg  genug  bemessenen  Lohn  erhalten  die 
Arbeiter  wenig  oder  Nichts  in  Baarem.  Aus  Mitteln  der 
Bruderladen  werden  Lebensmittelmagazine  errichtet,  aus 
welchen  die  Knappen  auf  Grund  von  Blechmarken  oder 
eines  eio-enen  Buches  ihren  Bedarf  beziehen.  Es  soll  sich 
nicht  selten  ereignen,  dass  der  Verdienst  so  knapp  wird, 
dass  die  Arbeiter  sogenannte  „Reste“  machen,  d.  h.  dem 
Werke  schuldig  bleiben  müssen. 

Die  Organisation  der  Arbeiter  wird  auf  jede  Art  ver- 
folgt. Kein  Bergmann  darf  es  wagen,  Funktionär  des 
Vereins  zu  werden  Als  ein  auswärtiger  Gehilfe  sich  in 
Trifail  dort  niederlassen  und  ein  selbständiges  Geschäft  er- 
öffnen wollte,  daneben  aber  auch  die  Kassir erstelle  versehen 
sollte,  wurde  er  ausgewiesen.  Anlässlich  der  dabei  vorge- 
nommenen Hausdurchsuchung  fiel  ein  Mitgliederverzeichniss 
in  die  Hände  der  Behörden.  Sonderbarerweise  hatte  dies 
die  sofortige  Entlassung  der  Vereinsmitglieder  zur  Folge. 
Die  Arbeiter  behaupten,  dass  sie  der  Werksleitung  die 
Namen  der  Gemassregelten  nicht  bekanntgegeben  hätten. 
Daraus,  sowie  aus  der  raschen  Aufeinanderfolge  von  Haus- 
durchsuchung und  Entlassungen  folgern  sie,  dass  die  Be- 
hörden auch  in  diesem  Falle  der  Gewerkschaft  ihre  Unter- 
stützung hatten  zu  Theil  werden  lassen. 

Die  Zustände  im  Trifailer  Revier  sind  demnach  noch 
weit  trauriger,  als  in  Köflach-V oitsberg.  Dabei  besteht  hier 
keine  Hoffnung,  dass  durch  die  Vereinigung  der  Arbeiter 
in  absehbarer  Zeit  eine  Besserung  herbeigeführt  werden 
könnte.  Jeder  Versuch  einer  Organisation,  jede  Bemühung 
nach  Erreichung  besserer  Arbeitsbedingungen,  werden  durch 
die  vereinigte  Macht  des  Staates  wie  der  Unternehmung 
niedergedrückt.  Es  wäre  ein  des  österreichischen  Ackerbau- 
ministers würdiges  Werk,  wenn  er  sich  die  Prüfung  der 
Trifailer  Zustände  angelegen  sein  und  eine  Sanirung  der- 
selben herbeiführen  wollte. 

Wien.  Leo  Verkauf. 


68 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  5. 


Arbeiterscluitz  im  Bäckergeworbe.  Es  ist  erfreulich, 
dass  die  Agitation  zur  Durchsetzung  von  Schutzbestim- 
mungen, welche  der  im  Bäckergewerbe  herrschenden  mass- 
losen  Ausbeutung  der  Arbeiter  wenigstens  irgendwelche 
Grenzen  setzen  würden,  nicht  nachlässt.  Gegenwärtig  ver- 
öffentlicht die  Agitations-Kommission  der  Bäckerei-Arbeiter 
Deutschlands  eine  von  ihr  verfasste  Petition  an  den  Bundes- 
rath, in  der  dieser  aufgefordert  wird,  von  der  ihm  im 
8 1 20  e,  Absatz  3 der  Gewerbeordnung  eingeräumten  Be- 
fuo'niss  Gebrauch  zu  machen  und  1.  die  höchste  zulässige 
Arbeitszeit  für  Bäckerei  - Betriebe  auf  12  Stunden  täglich 
inkl.  der  zum  Essen  u.  s.  w.  nothwendigen  Pausen  zu  be- 
schränken ; 2 die  Nachtarbeit  jugendlicher  Arbeiter,  Lehr- 
lhme  unter  16  Jahren  zu  verbieten;  3.  die  Bäckerei-Be- 
triebe der  Aufsicht  der  Fabrik-Inspektoren  zu  unterstellen. 
Die  grauenhaften  Zustände  in  den  Bäckereien  sind,  man 
sollte  meinen,  nun  bekannt  genug,  um  so  massvolle  For- 
derungen, wie  sie  hier  von  den  Bäckern  erhoben  werden, 
zum  Schutz  derselben  ohne  weiteres  Zögern  zu  gewähren. 
Glaubt  die  Regierung  und  der  Bundesrath  erst  noch  einer 
neuerlichen  Feststellung  durch  die  zu  schaffende  Kom- 
mission für  Arbeitstatistik  zu  bedürfen,  so  möge  sie 
wenigstens  mit  derselben  sich  beeilen,  um  nicht  V erhält- 
nisse andauern  zu  lassen,  welche  die  bitterste  Anklage 
gegen  unsere  Gesellschaft  bedeuten. 

, Evangelische4  Arbeitervereine  in  Deutschland  Zu  dem 

Gesanunt verband  der  deutschen  Evangelischen  Arbeitervereine 
gehören  zur  Zeit  ca.  250  Vereine  mit  etwa  10  000  Mitgliedern. 
Davon  kommen  auf  Rheinland  und  Westfalen  121  Vereine, 
Baiern  46,  Provinz  Sachsen  16,  Königreich  Sachsen  14  W ürttem- 
berg 12,  Schlesien  und  Hessen-Nassau  je  I,  Brandenburg  6, 
Baden  5,  Pommern  4,  Hessen-Darmstadt  3,  Preussen  und 
Posen  je  1. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Die  Stellung  der  Sozialdemokratie  zum  Boykott. 

Unter  dem  Titel:  „Der  Boykott  und  dessen  Bedeutung 
für  die  Arbeiterbewegung“  hielt  der  Reichstagsabgeordnete 
Auer  am  26.  Januar  in  einer  Berliner  Volksversammlung  einen 
Vortrag,  der  ebenso  wie  einige  in  dieser  Versammlung  ge- 
machte* Mittheilungen  für  die  Anwendung,  welche  der  Boykott 
in  Deutschland  gefunden,  und  für  die  sozialdemokratische  Auf- 
fassung der  Frage  lehrreiches  Material  enthielt.  Dem  Vor- 
tra0*  crjng  der  Bericht  der  Lokal-lvonnnission  voraus,  aus 
welchem  sich  ergab,  dass  den  politisch  und  gewerkschait- 
lieh  orgaipsirten  Arbeitern  Berlins  und  der  V ororte  gegen- 
wärtig eine  respektable  Zahl  (ca.  120)  mehr  oder  weniger 
grosser  Säle  für  ihre  Versammlungen  unentgeltlich  zur 
Verfügung  stehen. 

Der  Abgeordnete  Auer  knüpfte  an  das  Referat  des 
Berichterstatters  der  Lokal-Kommission  an  und  kon.statirte, 
dass  dieser  Erfolg  wesentlich  dem  vor  Jahren  gegen  eine 
Anzahl  Brauereien  inscenirten  Bierboykott  zu  danken  ist. 
Dadurch  seien  die  grossen  Aktienbrauereien  gezwungen 
worden,  ihre  Säle  Arbeiterversammlungen  zu  öffnen  und 
die  Arbeiter  lernten  so  den  Boykott  als  Kampfesmittel 

würdigen.  . . 

Dieselben  Schwierigkeiten,  welche  die  Berliner  Arbeiter 
in  Bezug  auf  die  Saalsperre  zu  überwinden  hatten,  stellten 
sich  de^  Arbeitern  in  den  meisten  Städten  und  Provinzen 
Deutschlands  in  den  Weg  und  das  Mittel  des  Boykottiiens 
sei  dagegen  allgemein  in  Anwendung  gebracht  worden.  Die 
Argumentation  wäre  einfach  die  gewesen:  wollt  ihr  Lokal- 
besitzer uns  nicht  in  eueren  Räumen  haben,  wenn  wir  in  den- 
selben unsere  politischen  und  gewerkschaftlichen  Angelegen- 
heiten zu  besprechen  wünschen,  dann  verzichten  wir  aut  den 
Besuch  derselben  auch  dann,  wenn  ihr  uns  zu  Konzert  und 
Tanz  und  sonstigen  Unterhaltungen  einladet.  Der  Boykott 
sei  später  auch  auf  das  Bier  jener  Brauer  ausgedehnt  worden, 
welche  den  Arbeitern  Versammlungen  in  ihren  Lokalen 
nicht  gestatteten.  . 

Wie  in  Berlin  der  Bierboykott,  so  habe  in  der  Provinz 
der  Boykott  gegen  gewisse  Lokalbesitzer  für  die  Arbeiter 
sich  als  vortheilhaft  bewährt.  Den  besten  Beweis,  dass 
dies  der  Fall  war,  dürfe  man  wohl  darin  finden,  dass 
schliesslich  auch  auf  diesem  Gebiete  die  Polizei  und  die 
Gerichte  herangezogen  wurden,  um  den  Lokalbesitzern 


und  Brauern  gegen  den  „unerträglichen  Terrorismus“  seitens 
der  Arbeiter  beizustehen.  Sächsiche  Staatsanwälte  kon- 
struirten  gegen  jene  Arbeiterblätter,  in  deren  Spalten  die 
Lokale  genannt  wurden,  welche  für  Arbeiterversammlungen 
nicht  zu  haben  waren,  Anklagen  auf  Grund  des  §360,  al.11 
(o-rober  Untug)  und  die  sächsischen  Gerichte  Gis  in  die 
höchste  Instanz  verurtheilten  auch  wirklich  zu  theilweise 
recht  empfindlichen  Haft-  oder  Geldstrafen.  Ausserhalb 
Sachsens  habe  indess  diese  Praxis  keine  Nachahmung  ge- 
funden, einzelne  Versuche  ähnlicher  Art  durch  preussische 
Staatsanwälte  haben  ausnahmslos  zub  reisprechungen  geführt.! 

Der  Erfolg  gegenüber  den  Versammlungs  - Lokalen 
habe  naturgemäss  unter  den  organisirten  Arbeitern  che 
Frage  angeregt,  ob  der  Boykott  nicht  allgemein  als  Waffe 
in  den  Kämpfen  zwischen  den  Arbeitern  und  den  Unter- 
nehmern in  Anwendung  zu  bringen  sei  und  zahlreiche 
Arbeiterversammlungen  entschieden  diese  Frage  im  be- 
jahenden Sinne.  So  sei  es  gekommen,  dass  gelegent- 
lich der  Arbeiterausstände  der  letzten  Jahre  besonders 
wo  es  sich  um  Lohnkämpfe  in  der  Lebensmittelbranche 
oder  der  Fabrikation  von  Massenkonsumartikeln  handelte — 
fast  regelmässig  mit  der  Proklamirung  des  Strikes  der 
Appell  ^an  die  organisirten  Arbeiter  erging,  die  W aaren 
jener  Firmen,  deren  Arbeiter  sich  im  Strike  befanden,  zu 
boykottiren.  Begründet  wurde  diese  Anwendung  des 
Boykotts  damit,  dass  jeder  Strike  einer  einzelnen  Branche 
die  Interessen  der  gesammten  Arbeiterschaft  m Mitleiden- 
schaft ziehe  und  dass  diese  ihre  Solidarität  dadurch  be- 
kunden müsse,  dass  sie  den  Konsum  von  Artikeln  dei  mit 
Strike  heimgesuchten  Fabriken  meide. 

Gegen  diese  Anwendung  des  Boykotts  seien  indessen 
von  Anfang  an  sehr  beachtenswerthe  Stimmen  in  der 
sozialdemokratischen  Partei  laut  geworden.  Besonders  ent- 
schieden sei  der  Abgeordnete  Bebel  gegen  diese  Ver- 
quickung von  Strike  und  Boykott  in  einer  grossen  Volks- 
versammlung in  der  Lips’schen  Brauerei  in  Berlin  im  vorigen 
fahre  kurz  nach  dem  F alle  des  Sozialistengesetzes  aut- 
Tetreten.  Auch  der  Parteitag  in  Halle  habe  gegen  Strikes 
und  Boykotts  „am  Unrechten  Orte  oder  zur  Unrechten  Zeit 
angewende't“  resolvirt. 

Der  Vortragende,  der  diesen  Aeusserungen  sich  voll- 
kommen anschloss,  zeigte  im  Verlauf  seines  Vortrags  an 
der  Hand  aktenmässiger  Feststellungen,  wie  es  m Deutsch- 
land die  Unternehmer  gewesen  seien,  welche  che  U affe 
des  Boykotts  gegen  die  Arbeiter  zuerst  in  Anwendung 
brachten.  Es  sei  dies  zunächst  durch  Kennzeichnung  der  Fnt- 
lassuno-szeugnis.se,  später  durch  die  sogenannten  „Schwarzen 
Listen“  und  förmliche  Verrufserklärungen  geschehen.  Dieses 
Vorgehen  sei  1 378  nach  den  Attentaten  von  der  gesammten 
Unternehmerschaft  allgemein  geübt,  und  von  da  ab  hätten 
sich  auch  die  Staatsbetriebe  diesem  Verfahren  angeschlossen. 
Privatunternehmer  und  Staatsbetriebe  seien  Hand  in  Hand 
geo-angen,  um  die  Arbeiter  zur  Untreue  gegen  ihre  poli- 
tische Ueberzeugung  oder  zur  Heuchelei  zu  zwingen. 

Wenn  heute  die  Unternehmer  sich  als  che  \ ergewaf- 
tigten  hinzustellen  suchen,  so  erinnere  das  nur  an  das 
Märchen  vom  Wolfe,  dem  das  unterhalb  am  Bache  stehende 
Lamm  angeblich  das  Wasser  getrübt  habe. 

Die  Arbeiter,  welche  heute  von  dem  Boykott  den  aus- 
oedehntesten  Gebrauch  machten,  übten  nur,  führte  der 
Redner  aus,  das  Recht  der  Wieder  Vergeltung.  Frotzctem 
1 aber  sei  vor  der  allgemeinen  Anwendung  dieses  Kamples- 
mittels zu  warnen.  Durch  dasselbe  werden  nur  allzu  leicht 
unbetheiligte  Kreise  geschädigt  und  dadurch  die  öffentliche 
Meinung  jener  Schichten,  an  deren  Wohlwollen  die  im 
Kampfe  befindlichen  Arbeiter  interessirt  sind,  gegen  letztere 
aufgebracht.  Auch  die  Gefahr,  dass  der  Boykott  zu  einem 
Zwangsmittel  gegen  die  politische  und  soziale  Leberzeu- 
o-uno-  Andersgesinnter  missbraucht  werde,  sei  nicht  ausge- 
schlossen, gegen  eine  solche  missbräuchliche  Anwendung 
des  Boykotts  müsse  sich  aber  die  klassenbewusste  Aibeiter- 
schaft  mit  aller  Energie  verwahren.  Würde  ein  solcher 
Missbrauch  bei  der  Arbeiterschaft  Platz  greifen,  dann  wurde 
damit  der  brutalsten  Vergewaltigung  der  Arbeiter  seitens 
der  Unternehmer  ein  Schein  von  Berechtigung  gege  ie 

werden  • 

Der  Redner  empfahl  zum  Schluss  folgende  Resolution 
zur  Annahme,  welche  nach  längerer  Diskussion  gegen  sehr 
wenige  Stimmen  zur  Annahme  gelangte.  , , 

Die  Versammlung  wolle  beschliessen:  „1.  Der  Boykott 
ist  für  die  Arbeiterklasse  nur  unter  besonderen  Yoraus- 
setzungen  und  im  beschränkten  Umfange  ein  brauchbares 
Kampfesmittel. 


No.  5. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAT  .BLATT. 


69 


2.  Der  Boykott  darf  unter  keinen  Umständen  zu  einem 
Mittel  der  politischen  oder  wirthschaftlichen  Vergewaltigung 
werden  zu  dem  Zwecke,  die  persönliche  Ueberzeugung  zu 
strafen  oder  Heuchelei  zu  erzwingen. 

3.  Der  Boykott  ist  aber  überall  da  berechtigt,  wo  es 
für  die  Arbeiterklasse  gilt, 

a)  die  auf  materielle  oder  politische  Schädigung  ge- 
richteten Bestrebungen  ihrer  Gegner  zurückzuweisen; 

b)  in  besonders  gearteten  Fällen  auch  da,  wo  es  sich 
für  die  Arbeiterklasse  darum  handelt,  ihre  soziale  und  poli- 
tische Lage  innerhalb  der  bürgerlichen  Gesellschaft  zu  ver- 
bessern.“ 


Kaufmännische  Bewegung. 

Minimalkümligu ngsf risten  für  Handlungsgehilfen.  Die 

sozialdemokratische  Fraktion  des  Reichstages  hat  nunmehr 
ihren  Zusatzantrag  zu  Artikel  61  des  Handelsgesetzbuches 
beim  Reichstage  eingebracht.  Derselbe  lautet  dahin,  dass 
die  Vereinbarung  einer  kürzeren,  als  vierwöchigen  Kündi- 
gungsfrist, zwischen  Prinzipal  und  Handlungsgehilfe  nicht 
statthaft  sein  soll.  Der  Kaufmännische  Verein  Frankfurt 
a.  Main  hat  bekanntlich,  wie  schon  in  No.  2 dieser  Zeit- 
schrift gemeldet  wurde,  um  eine  sechswöchige  Minimal- 
kündigungsfrist petitionirt,  und  alle  diese  Anträge  werden 
mit  dem  zur  zweiten  Lesung  stehenden  Antrag  Goldschmidt, 
das  Recht  der  Gehilfen  auf  Zeugnisse  betreffend,  ver- 
handelt werden.  Zur  Begründung  dieser  sehr  zeitgemässen 
Anträge  ist  in  No.  2 schon  Einiges  aus  der  Frankfurter 
Petition  mitgetheilt  worden.  Weiteres  Material  zur  Be- 
schlussfassung über  diese  gewerbepolitische  Frage  liefert 
aber  die  vom  „Deutschen  Verband  Kaufmännischer  Ver- 
eine“ im  vorigen  Jahre  veranstaltete  Erhebung,  das  Vor- 
kommen kurzer  Kündigungsfristen  für  Handlungsgehilfen 
in  den  verschiedenen  Gegenden  Deutschlands  betreffend. 
Nach  dem  in  Broschürenform  veröffentlichten  Ergebniss 
dieser  allerdings  nicht  lückenlosen  Enquete  („Zur  kauf- 
männischen Reform“,  Frankfurt  a.  Main,  Mahlau  und  Wald- 
schmidt) meldeten  von  75  kaufmännischen  Vereinen  nicht 
weniger  als  58,  mithin  79  Prozent,  das  Vorkommen  kurzer 
Kündigungsfristen  in  ihrem  Bezirk.  Zunächst  ist  nament- 
lich der  Kleinhandel  betheiligt,  und  zwar  fast  ohne  LTnter- 
'schied  der  Gegend.  18  Vereine  melden,  dass  die  Kündi- 
gung meist  auf  4 bis  6 Wochen  verkürzt  sei,  und  Berlin, 
Hamburg,  Leipzig  sowie  Strassburg  geben  die  kurzen 
Kündigungsfristen  als  Regel  an;  Hamburg  fügt  hinzu,  dass 
dieselben  vielfach  bis  auf  einen  Tag  sinken.  Aber  nicht 
nur  in  den  Kleinhandel,  sondern  auch  schon  in  den  Gross- 
handel ist  die  Kürzung  eingedrungen.  42  Vereine  aus 
iallen  Gegenden  bestätigen  dies,  theilweise  mit  dem  Hinzu- 
fügen, dass  auch  die  Fabrikgeschäfte  in  Betracht  kommen. 
10  Vereine  berichten,  dass  namentlich  die  monatliche  Kün- 
digung immer  mehr  um  sich  greife,  und  von  14-,  8-,  ja 
1 tägiger  Kündigungsfrist  in  Bank-  und  Engrosgeschäften 
erzählen  die  Vereine  Frankfurt  a.  Main  und  Nürnberg. 
Dass  die  dem  Reichstag  vorliegenden  Anträge  noch  einer 
Ergänzung  bedürfen,  darauf  weist  noch  ein  anderes  Resul- 
tat der  Verbandsenquete  hin.  21  Vereine  theilen  nämlich 
mit,  dass  das  Kündigungsrecht  stellenweise  ungleich  für 
Prinzipal  und  Handlungsgehilfe  festgesetzt  wird.  In  einem 
Dresdener  Hause  kann  der  Prinzipal  '/4  jährlich,  der  Kommis 
aber  nur  V2  jährlich  kündigen.  In  Karlsruhe  bedingt  sich 
hier  und  da  der  Prinzipal  vierwöchentliche  Kündigung, 
während  der  Kommis  sechswöchentliche  zu  beobachten 
hat;  ähnlich  in  Mannheim.  In  Göppingen  vollends  existirt 
ein  Geschäft,  bei  welchem  sich  die  Kommis  auf  3 Jahre 
binden  müssen,  während  der  Prinzipal  vierwöchentlich 
kündigen  kann.  Daraus  ergiebt  sich  wohl  die  Nothwendig- 
keit,  auch  noch  eine  Bestimmung  in  Artikel  61  des  Handels- 
Gesetz-Buches  aufzunehmen,  welche  besagt:  „Die  Kündi- 
gungsfrist muss  für  beide  Theile  gleich  sein.“  Hoffent- 
lich wird  dies  bei  den  bevorstehenden  Verhandlungen  be- 
achtet. 

Die  gesetzliche  Regelung  der  Arbeitszeit  für  Handlungs- 
gehilfen wird  in  Wien  von  allen  Gehilfenorganisationen  ange- 
| strebt,  nur  denkt  man  sich  die  Art  der  Einführung  verschieden. 
‘Der  Wiener  Kaufmännische  Verein,  der  übrigens  auch  eine 
j grosse  Anzahl  von  Prinzipalen  umfasst,  wünscht  eine  zwölf- 

| 

i 

I 


ständige  Maximalarbeitszeit  einschliesslich  einer  einstiindigen 
Mittagspause,  aber  ohne  Stundenbestimmung  für  Anfang  und 
Ende;  der  Verein  der  österreichischen  Handelsangestellten,  der 
nur  Gehilfen  zu  Mitgliedern  hat,  sowie  mehrere  Gehilfenaus- 
schüsse der  wiener  Kaufmannsgenossenschaften  wollen  dagegen 
den  Maximalarbeitstag  als  Maximalgeschäftszeit  mit  gesetz- 
licher Stundenbestimmung,  für  Detailgeschäfte  von  6 Uhr  früh 
bis  8 Uhr  abends,  für  Engrosgeschäfte  von  8 Uhr  früh  bis  6 Uhr 
abends,  einschliesslich  der  Mittagspause.  Die  Urheber  des  letzt- 
genannten Antrages  begründen  denselben  mit  der  leichteren 
Durchführbarkeit  und  Kontrolirbarkeit.  Der  Abgeordnete  Fürst 
Liechtenstein  hat  eine  Petition  des  Gehilfenausschusses  von 
Hernals,  welche  die  Maximalgeschäftszeit  erbittet,  beim  Reichs- 
rath zur  dringlichen  Behandlung  eingereicht.  Alle  diese  Fragen 
dürften  ihre  Erörterung  in  der  Enquete  des  österreichischen 
Abgeordnetenhauses  über  Sonntagsruhe,  Arbeitszeit  u.  s.  w.  der 
Handlungsgehilfen  finden,  über  deren  Ergebnisse  noch  zu 
berichten  sein  wird. 

Handlungsgehilfen  als  Gefängnissarbeiter.  Die  Gross- 
herzogliche  Gefängnissverwaltung  in  Darmstadt  hat  seit  Kurzem 
eine  derartig  grosse  Anzahl  von  Handlungsgehilfen  in  Ver- 
wahrung, dass  sie  u.  A.  an  frankfurter  Firmen  folgendes  Zirkular 
richtete:  „Wir  theilen  Ihnen  ergebenst  mit,  dass  sich  gegen- 

wärtig eine  grosse  Zahl  von  Handlungsgehilfen  in  unserer  An- 
stalt befindet,  die  wir,  da  unsere  eigenen  Bureauarbeiten  hierzu 
nicht  ausreichen,  nur  unvollständig  beschäftigen  können,  zumal 
diese  Leute  sich  durchaus  nicht  zu  anderen  Arbeitsbetrieben 
eignen.  Es  wäre  uns  daher  sehr  erwünscht,  wenn  uns  von  Ge- 
schäftsleuten schriftliche  Arbeiten,  wie  das  Schreiben  ^ von 
Adressen  und  dergleichen  übertragen  würde.“  Folgt  ein  Tarif 
für  solche  Schreibarbeiten,  dessen  Sätze  20-  -30  Prozent  unter 
denjenigen  stehen,  welche  sonst  für  Schreibarbeiten  bezahlt 
werden.  Die  „Kaufmännische  Presse“  in  Frankfurt  a.  M.  wendet 
sich  mit  Recht  dagegen,  dass  auf  solche  Weise  vom  Staate 
menschliche  Arbeitskraft  zu  niedrigen  Preisen  feilgeboten  wird. 
Das  ist  aber  nur  die  eine  Seite  der  Sache.  Nahezu  proletarisch 
müssen  auf  der  anderen  Seite  die  materiellen  Verhältnisse  der 
deutschen  Handlungsgehilfen  sein,  wenn  dieselben  in  der 
jetzigen  Krisenzeit  solche  Schaaren  in  die  Gefängnisse  eines 
einzelnen  Landes  liefern.  Und  die  Bemerkung  der  hessischen 
Gefängnissverwaltung  über  die  mangelhafte  Eignung  der  jungen 
Kaufleute  zu  anderweitigen  Arbeiten  kann  doch  nur  dahin  ge- 
deutet werden,  dass  die  Leute  auch  körperlich  schon  so  ver- 
elendet sind,  wie  einzelne  Kategorien  industrieller  Arbeiter. 


Handwerkerfragen. 


Gewerbekammern  in  Baden. 

Eine  Vertretung  des  Kleingewerbes  soll  auf  gesetz- 
lichem Wege  im  Grossherzogthum  Baden  hergestellt  werden, 
so  dass  man  dort  dem  entsprechenden  Reichsgesetz,  welches 
Staatssekretär  v.  Boetticher  vor  Kurzem  in  Aussicht  stellte, 
gewissermassen  vorgreifen  würde.  Die  halbamtliche  „Bad. 
Corr.“  veröffentlicht  jetzt  bereits  die  wichtigsten  Einzel- 
heiten des  Entwurfes,  die  freilich  erkennen  lassen,  dass  der- 
selbe theilweise  ausserordentlich  verbesserungsbedürftig  ist, 
wenn  man  es  nämlich  dem  durch  die  Fabrikindustrie  hart 
bedrängten  Kleingewerbe  ernsthaft  möglich  machen  will, 
sich  in  seinen  übrig  gebliebenen  Resten  noch  vollständig 
zu  organisiren,  von  dem  zweifelhaften  Erfolg  einer  solchen 
Organisation  für  die  Lebensfähigkeit  des  Handwerks  einmal 
ganz  abgesehen.  Zunächst  sollen  wahlberechtigt  zur  Ge- 
werbekammer sein  diejenigen  Gewerbetreibenden,  „welche 
1.  handwerksmässig  bewegliche  Sachen  für  Andere  her- 
stellen,  bearbeiten  oder  verarbeiten  und  2.  zur  Gewerbe- 
steuer nicht  oder  mit  weniger  als  10  000  Mark  veranlagt 
sind.“  Der  Begriff  „handwerksmässig“  wird  wohl  hierbei 
noch  etwas  näher  mit  Rücksicht  auf  die  Verwendung  von 
Motoren  und  die  Zahl  der  beschäftigten  Arbeiter  zu  defi- 
niren  sein;  auch  ist  die  Grenze  nach  oben  mit  10  000  Mark 
Gewerbesteuer  etwas  zu  hoch  gegriffen.  Hauptsächlich 
aber  vermisst  man  eine  V ertretung  und  ein  V ahlrecht  der 
Gesellen  bei  der  projektirten  Gewerbekammer,  die  doch 
erst  dann  sozialpolitisch  brauchbar  wäre,  wenn  sie  in  eine 
Meister-  und  eine  Gehilfenabtheilung  zerfiele  und  nicht 
bloss  die  ersteren  als  souveräne  Vertreter  des  Handwerks 
ins  Auge  fasste.  Ein  ebenso  grosser  Fehler  des  Ent- 
wurfs scheint  die  allzu  ängstliche  Umgrenzung  der  Zu- 
ständigkeit der  künftigen  Gewerbekammern  zu  sein. 
Die  bezügliche  halbamtliche  Mittheilung  lautet : „Den 

Gewerbekammern  steht  laut  § 5 das  Recht  zu,  auf  Hebung 
des  Kleingewerbes  abzielende  Anträge  und  Wünsche  an 


70 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI  .BLATT. 


No.  5. 


die  zu  deren  Erledigung  geordneten  Behörden  zu  richten, 
sie  haben  diese  durch  Erstattung  von  Gutachten  und  that- 
sächlichen  Mittheilungen  zu  unterstützen  und  dem  Ministe- 
rium des  Innern  Jahresberichte  einzureichen.  Die  Gewerbe- 
kammern sollen,  soweit  th unlieb,  vor  gesetzlicher  oder 
behördlicher  Regelung  von  wichtigeren,  die  Interessen 
des  Kleingewerbes  unmittelbar  berührenden  Angelegen- 
heiten mit  ihrer  gutachtlichen  Aeusserung  gehört  werden.“ 
Diese  beschränkten  Kompetenzen  erinnern  lebhaft  an  die- 
jenigen des  entschlafenen  preussischen  Volkswirthschafts- 
rathes,  der  mit  an  der  Gleichgiltigkeit  der  Betheiligten  zu 
Grunde  ging.  Das  Recht,  Anträge  zu  stellen  und  die  Pflicht, 
Gutachten  sowie  Jahresberichte  zu  erstatten,  kann  den  Ge- 
werbekammern noch  kein  Leben  verleihen,  zumal,  wenn  die- 
selben zur  Beschaffung  authentischen  Materials  für 
ihre  Anträge,  Gutachten  und  Jahresberichte  nicht  mit 
weitgehenden  Enquete  - Befugnissen  ausgestattet  werden. 
Die  Hauptsache  wäre , dass  die  neuen  Hand- 
werkerorganisationen mit  ihren  Arbeitern  vor  jeder 
das  Kleingewerbe  mitbetreffenden  Massregel  gehört  werden 
müssten,  dass  ihre  Zustimmung  und  ihr  Veto  einen  auto- 
ritativen Charakter  und  wirklichen  Einfluss  auf  Gesetzgebung 
wie  Verwaltung  erhielten.  Gerade  dies  soll  aber,  wie  aus 
dem  gewundenen  Wortlaut  des  oben  zitirten  § 2 hervorgeht, 
ängstlich  vermieden  werden;  das  Mitbestimmungsrecht  der 
Gewerbekammern  soll  ein  ganz  problematisches  werden, 
und  die  Aufrechterhaltung  dieser  Bestimmung  dürfte  unseres 
Erachtens  über  die  Lebensfähigkeit  der  geplanten  Organi- 
sation entscheiden.  In  den  Kreisen  des  ohnedies  indolenten 
und  mit  einem  beschränkten  Gesichtskreis  ausgestatteten 
Kleingewerbes  wird  für  solche  Neuschöpfungen  wenig 
Interesse  zu  finden  sein,  und  auch  das  sozialpolitische 
Interesse  für  den  badischen  Entwurf  knüpft  sich  nicht  an 
die  spezielle  Bestimmung  der  neuen  Kammern  für  das 
Handwerk,  sondern  lediglich  an  die  Methode,  mittelst 
welcher  man  irgend  einem  Stande  eine  Art  gesetzlicher 
Vertretung  zu  schaffen  hofft.  Wenn  man  in  Baden  den 
Handwerksmeistern  und  ihren  Kammern  nicht  grössere 
Rechte  einräumen  will,  so  kann  hieraus  bereits  ein  Schluss 
darauf  gezogen  werden,  wie  man  dort  und  anderswo  Ar- 
beiterkammern organisiren  wird.  Mit  der  untergeordneten 
Stellung,  die  man  in  Baden  den  Gewerbekammern  einräumen 
will,  hängt  es  schliesslich  wohl  zusammen,  dass  die  Erhal- 
tung der  neuen  Vertretung  nach  den  halbamtlichen  Mit- 
theilungen über  dieselbe  nicht  einmal  theilweise  staatlich 
mitgetragen  werden  soll.  Die  Gewerbekammern  sollen  ihre 
Kosten  von  den  Handwerkern  einziehen,  wie  die  Handels- 
kammern von  den  Kaufleuten.  Bei  den  letzteren  handelt 
es  sich  aber  um  zahlungsfähige  Elemente,  bei  der  Masse 
der  Kleingewerbetreibenden  dagegen  um  sehr  wenig  geld- 
kräftige Existenzen,  so  dass  auch  dieser  Punkt  nicht  dazu 
beitragen  dürfte,  die  in  Baden  geplanten  Gewerbekammern 
beliebt  zu  machen.  Beschränkt  man  aber  etwa  die  Kosten 
der  neuen  Organisation  auf  sehr  kleine  Beträge,  so  kann 
die  Kammer  weder  ein  ständiges  Bureau  haben,  noch  ein- 
gehende Erhebungen  oder  Vorarbeiten  für  Verwaltung  und 
Gesetzgebung  leisten;  sie  wird  auch  dadurch  wieder  zur 
Dekoration  heruntergedrückt.  Dass  sich  das  Ministerium 
des  Innern  Vorbehalten  will  , die  Kammern  selbst  zu- 
sammenzurufen, oder  zu  deren  Berathungen  einen  Ver- 
treter zu  entsenden,  kann  die  Sachlage  nicht  wesentlich 
ändern.  Lediglich  aus  Ersparungsrücksichten  ist  wohl  auch 
der  Vorschlag  zu  erklären,  dass  die  Gewerbekammer  even- 
tuell als  Abtheilung  an  eine  bestehende  Handelskammer 
angegliedert  werden  kann.  Eine  solche  Verkuppelung  ver- 
schiedener Interessen  unter  einem  Dach  hat  sich  bekannt- 
lich bei  den  von  1884  ab  neu  geschaffenen  preussischen 
Gewerbekammern  als  geradezu  lebensgefährlich  erwiesen. 
Fasst  man  zusammen,  so  kommt  man  zu  dem  Ergebniss, 
dass  der  badische  Entwurf  einer  völligen  Neugestaltung 
bedürfte,  wenn  er  auch  nur  das  Wenige  leisten  soll,  was 
bei  einer  Organisation  des  Handwerks  noch  geleistet 
werden  kann. 


Arbeiterschutz  und  Kleingewerbe.  Ein  interessantes 
Streiflicht  auf  die  Wechselwirkung  zwischen  fortgeschritte- 
nem  Arbeiterschutz  und  technisch  zurückgebliebenen  Klein- 
handwerk wirft  folgender  Bericht.  Die  selbständigen  Kon- 
ditoren Stuttgarts  hielten  kürzlich  eine  Versammlung,  in 
welcher  behauptet  wurde,  der  Konsum  an  Konditoreiwaaren 
werde  durch  die  neuen  Sonntagsvorschriften  entschieden 


vermindert.  Wenn  dem  Publikum  die  Gelegenheit  genom-  j 
men  sei,  Sonntags  seinen  Bedarf  an  feinerem  Nachtisch  und  j 
süssen  Speisen  zu  festlichen  Gelegenheiten  zu  jeder  erfor-  j 
derlichen  Zeit  ru  decken,  so  sei  es  gezwungen,  passenden  j 
Ersatz  in  der  eigenen  Küche  anzufertigen.  Es  wurde  daher 
befürchtet,  dass  sich  das  Publikum  allmählich  gewöhne,  mit 
selbst  angefertigten  einfacheren  Sachen  sich  zu  begnügen,  I 
und  Zustände  wie  in  England  einträten,  wo  das 
Konditoreikleingewerbe  schon  geraume  Zeit  auf- 
gehört habe,  zu  bestehen.  Das  Mindeste,  was  die 
Konditoren  verlangen  müssen,  sei  das  Oftenhalten  der 
Läden  an  Sonntagen  von  11—2  Uhr  Nachmittags.  Be- 
züglich der  Sonntagsarbeit  der  Gehilfen  und  Lehrlinge 
einigte  man  sich  dahin,  nur  die  im  Gesetz  erlaubten  3 Stun-  | 
den  zu  arbeiten  und  das  Personal  schichtenweise  zu  ver- 
wenden. Hierdurch  falle  die  lästige  Kontrolle  ganz  weg, 
ebenso  die  an  einem  Wochentage  zu  gewährende  ununter- 
brochene Ruhepause  von  24  Stunden. 

Auflösung  der  fakultativen  Innungen.  Der  Wortlaut  des  j 

Antrages,  welchen  der  frankfurter  Innungsausschuss  bei  dem 
nächsten  allgemeinen  deutschen  Innungstag  stellen  jwill,  wird  j 
jetzt  bekannt  und  heisst:  „In  Erwägung:  dass  auf  Grund  der 

im  Namen  der  Reichsregierung  Seitens  des  Staatsministers  von  i 
Bötticher  in  der  Reichstagssitzung  vom  24.  November  v.J.  ab- 
gegebenen Erklärung  ein  Entgegenkommen  der  jetzigen  Regie- 
rung gegenüber  den  seit  Jahren  aut  allen  Handwerkertagen  fest 
formuiirten  Wünschen  des  deutschen  Handwerkerstandes  in 
Bezug  auf  Einführung  des  gewerblichen  Befähigungsnachweises, 
sowie  der  obligatorischen  Innung  nicht  mehr  zu  rechnen  ist; 
in  fernerer  Erwägung:  dass  die  freien  Innungen  erwiesener- 
massen  nicht  im  Geringsten  die  Mittel  bieten,  den  Zerfall  des 
Handwerkerstandes  aufzuhalten,  sondern  den  Innungsmitgliedern  I 
nur  schwer  zu  tragende  Lasten  und  Pflichten  auferlegen,  welche 
leider  noch  sehr  oft  durch  die  Massnahmen  der  aufsichtführenden  ; 
Behörden  erschwert  werden,  beschliesst  der  Allgemeine  Deutsche  J 
Innungs-  und  Handwerkertag:  „Den  bestehenden  freien  Innun- 
gen die  Auflösung  zu  empfehlen  und  dafür  die  Umwandlung  . 
derselben  in  unabhängige  Vereine  oder  Genossenschaften  zu 
veranlassen.“  * 


1 

Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Der  Entwurf  eines  Arbeiterschutzgesetzes  für  den 
Kanton  Glarus. 

Nachdem  einzelne  Kantone  bereits  Spezialgesetze  zum  | 
Schutze  der  Lehrlinge  und  der  Arbeiterinnen  in  den  nicht  ‘ 
dem  eidgenössischen  Fabrikgesetz  unterstellten  Gewerben 
erlassen  haben,  rückt  nun  der  Kanton  Glarus  mit  einem  voll- 
ständigen Arbeiterschutzgesetz  in  die  Reihe.  Bekanntlich  war 
der  Industriekanton  Glarus  einer  der  ersten  Staaten,  die  ein 
Fabrikgesetz  schufen,  und  nun  trägt  er  auch  zum  Schutze 
der  kleingewerblichen  Arbeiter  die  Fahne  des  sozialpoliti- 
schen Fortschrittes  voran.  Den  Anstoss  hierzu  gab  ein  An- 
trag des  kantonalen  Arbeiterbundes  vom  29.  Dezember  1890  j 
an  die  Landgemeinde  auf  Erlass  eines  Arbeiterschutz- 
gesetzes, welchem  alle  Geschäfte,  die  mehrere  Arbeitei 
oder  Arbeiterinnen  beschäftigen  und  nicht  unter  das  eid- 
genössische Fabrikgesetz  fallen  (als  Schneider  und  Schneide- 
rinnen, Konfektions-  und  Modengeschäfte,  V irthschaften 
u.  s.  w.)  unterstellt  werden  sollen. 

In  der  Begründung  wurde  darauf  hingewiesen,  dass 
auch  diese  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  keineswegs  auf 
Rosen  gebettet,  sondern  der  Ausbeutung  durch  ihre  Arbeit- 
geber ebenso  sehr  ausgesetzt  seien,  als  die  Fabrikarbeiter, 
komme  es  doch  nicht  selten  vor,  dass  diese  Leute  gezwun- 
gen werden,  13,  14,  15  und  mehr  Stunden  angestrengt  für  einen 
sehr  kärglichen  Lohn  zu  arbeiten.  Es  scheine  nun  höchst 
ungerecht,  dass  die  Fabrikarbeiter  die\\  ohlthat  des  staatlichen  j 
Schutzes  mit  gesetzlichem  Normalarbeitstag  gemessen  sollen, 
während  diese  fast  noch  schlechter  gestellten  Arbeiter  allen 
staatlichen  Schutzes  entbehren.  Da  aber  gegenwärtig  das 
eidgenössische  Fabrikgesetz  sie  nicht  schütze,  so  sei  es 
Pflicht  der  kantonalen  Gesetzgebung,  sich  dieser  armen 
Geschöpfe  anzunehmen  und  für  sie  eigene  Gesetze  zu 
schaffen,  welche  auch  ihnen  zu  einem  menschenwürdigen 
Dasein  zu  verhelfen  im  Stande  seien. 

Auf  Befürwortung  des  Regierungsrathes  und  Vorschlag 
des  Landrathes  hin  hat  die  Landgemeinde  am  7.  Mai  vorigen 
Jahres  den  Antrag  einmüthig  zum  Beschluss  erhoben  und 


No.  5. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAT  .BLATT. 


71 


den  Landrath  mit  der  Ausarbeitung  eines  bezüglichen  Ge- 
setzes-Entwurfes  beauftragt.  Dieser  Entwurf,  vom  Re- 
gierungsrath  zu  Händen  des  Landrathes  verfasst,  liegt  heute 
mit  Motivenbericht  vor. 

Der  Regierungsrath  stellt  sich  bezüglich  der  Noth- 
rvendigkeit  des  Gesetzes  vollständig  auf  den  Standpunkt 
des  Arbeiterbundes,  auch  er  findet,  dass  auf  eidgenössischem 
Boden  auf  eine  Regelung  so  bald  noch  nicht  gehofft  werden 
könne,  weshalb  die  kantonale  Gesetzgebung  eingreifen 
müsse. 

Das  projektirte  Gesetz  soll  Anwendung  finden  auf  alle 
dem  eidgenössischen  Fabrikgesetz  nicht  unterstellten  Ge- 
schäfte, in  denen  mehr  als  zwei  Personen  gewerbsmässig 
und  gegen  Lohn  im  Dienste  des  Inhabers  arbeiten,  oder  in 
denen,  ohne  Rücksicht  auf  die  Zahl,  Personen  unter  18  Jah- 
ren, sei  es  als  Arbeiter,  Arbeiterinnen,  Lehrlinge  oder  Lehr- 
töchter, regelmässig  beschäftigt  sind.  Gänzlich  ausgenommen 
ist  der  Betrieb  der  Landwirtschaft.  Bedienstete  der  Wirt- 
schaften und  Ladengeschäfte  können,  die  ersteren  zur  Be- 
dienung der  Gäste,  die  letzteren  zur  Bedienung  der  Kunden 
in  der  offenen  Geschäftszeit,  ohne  Beschränkung  verwendet 
werden,  jedoch  ist  ihnen  mindestens  eine  Nachtruhe  von 
8 Stunden  zu  gestatten.  In  bestrittenen  Fällen  entscheidet 
die  Militär-  und  Polizeidirektion,  unter  Vorbehalt  des  Re- 
kurses an  den  Regierungsrath,  ob  ein  Geschäft  dem  Gesetz 
zu  unterstellen  sei. 

Nach  Ansicht  des  Regierungsrathes  kann  das  Gesetz 
unmöglich  in  alle,  also  auch  in  die  kleinsten  Geschäfte  ein- 
greifen, obgleich  dies  nur  eine  Konsequenz  des  Grundsatzes 
wäre;  eine  solche  Ausdehnung  müsste  eine  Schädigung 
kleinerer  Leute  herbeiführen,  deshalb  sollen  unter  das  Ge- 
setz nur  eigentliche  Geschäfte  und  Gewerbe  von  etwelchem 
Belang  fallen,  zu  welchen  man  die  Beschäftigung  mit  blos 
einem  Arbeiter  nicht  rechnen  könne.  Die  Ausnahmestellung 
der  Landwirthschaft  sei  durch  verschiedene  Faktoren  be- 
dingt; man  habe  bis  jetzt  auch  nirgends  daran  gedacht,  die 
Arbeiterschutzgesetze  ohne  Weiteres  auf  die  landwirthschaft- 
lichen  Arbeiter  auszudehnen.  Es  ist  dies  zweifellos  richtig; 
nichtsdestoweniger  bleibt  unbestritten,  dass  gerade  hier  die 
Arbeitsausbeutung  ausserordentliche  Dimensionen  hat,  das 
Loos  vieler  Bauernknechte  ein  sehr  trauriges  ist  und  zu 
gesetzlichem  Schutze  förmlich  zwingt. 

Uebereinstimmend  mit  dem  eidgenössischen  Fabrik- 
gesetz verlangt  der  Entwurf,  dass  die  Arbeitsräume  hell, 
trocken,  gut  ventilirt  und  überhaupt  derart  beschaffen  seien, 
dass  die  Gesundheit  der  Arbeiter  nicht  Schaden  leidet. 
Ebenso  sind  Maschinen  und  Werkgeräthschaften  in  möglichst 
sicherer  Weise  zu  erstellen.  Je  nach  Umfang  und  Natur 
des  Geschäftes  kann  die  Aufstellung  von  Arbeitsordnungen 
.Liber  Arbeitszeit,  Bedingungen  des  Ein-  und  Austrittes, 
Auszahlung  des  Lohnes  verlangt  werden.  Wenn  nicht  durch 
schriftliche  Uebereinkunft  etwas  Anderes  bestimmt  ist,  kann 
der  Dienstvertrag  beiderseits  auf  14  Tage  gekündigt  werden, 
,iedoch  nur  am  Zahltag  oder  am  Samstag.  Bei  Einstellung 
v'on  Lehrlingen  oder  Lehrtöchtern  muss  in  allen  Fällen  ein 
Schriftlicher  Lehrvertrag  abgeschlossen  werden.  Der  Lohn 
st  mindestens  alle  14  Tage  in  gesetzlichen  Münzsorten  baar 
mszuzahlen;  längere  Termine  sind  bei  gegenseitiger  Ver- 
einbarung zulässig.  Bussen  dürfen  nur  ausgesprochen  wer- 
den, sofern  sie  in  einer  vom  Regierungsrathe  genehmigten 
Arbeitsordnung  angedroht  sind;  sie  sollen  die  Hälfte  des 
1 agelohnes  nicht  übersteigen  und  sind  im  Interesse  der 
Arbeiter  zu  verwenden. 

Im  Einklang  mit  dem  eidgenössischen  Fabrikgesetze 
wird  ferner  bestimmt,  dass  die  Normalarbeitszeit  nicht  mehr 
als  1 1 Stunden,  an  Tagen  vor  Sonn-  und  Feiertagen  nicht 
nehr  als  10  Stunden  betragen  soll.  Für  das  Mittagessen  ist 
wenigstens  eine  Stunde  freizugeben.  Die  Arbeit  an  Sonn- 
end Feiertagen  ist  untersagt.  Das  Gesetz  gestattet  auch 
Jeberzeitarbeit;  dagegen  sorgt  es  durch  schärfere  Bestim- 
nungen,  dass  mit  den  Ueberzeit-Bewilligungen  kein  Miss- 
brauch getrieben  und  nicht  unter  dem  Vorwände  öfterer, 
periodischer  und  angeblich  durch  Ausnahmefälle  begründeter 
Bewilligungen  faktisch  der  Normalarbeitstag  illusorisch  ge- 
nacht werden  kann,  wie  es  beim  eidgenössischen  Fabrik- 
Gesetz  leider  nur  zu  häufig  geschieht.  Von  Ueberzeitbe- 
villigungen  sind  von  vornherein  in  allen  Fällen  weibliche 
Personen  unter  18  Jahren  ausgeschlossen.  Dieselben  dürfen 
l'iach  8 Uhr  Abends  zu  keinerlei  Dienstleistung  in  Anspruch 
b'enommen  werden.  Frauenspersonen,  die  ein  Hauswesen 
;u  besorgen  haben,  sind  eine  halbe  Stunde  vor  der  Mittags- 
Jause  zu  entlassen,  sofern  diese  nicht  mindestens  I '/2  Stunden 
jeträgt.  Vor  und  nach  ihrer  Niederkunft  dürfen  Wöch- 


| nerintien  im  Ganzen  während  8 Wochen  nicht  in  Gewerben 
[ beschäftigt  werden,  die  dem  Gesetz  unterstellt  sind.  Ihr 
Wiedereintritt  in  dieselben  ist  an  den  Ausweis  geknüpft, 
dass  seit  ihrer  Niederkunft  wenigstens  6 Wochen  verflossen 
sind.  Kinder  unter  14jahren  dürfen  weder  zu  gewerblicher 
Lohnarbeit  verwendet,  noch  als  Lehrlinge  oder  Lehrtöchter 
angestellt  werden. 

Der  Vollzug  des  Gesetzes  ist  den  kantonalen  Organen 
zugewiesen,  die  auch  mit  demjenigen  der  eidgenössischen 
Arbeiterschutzgesetze  betraut  sind.  Dieselben  haben  Berech- 
tigung zum  Eintritt  in  die  Arbeitsräume  und  Geschäftslokale. 
Uebertretungen  des  Gesetzes  werden  vom  Polizeigericht 
mit  Geldbussen  von  10 — 500  Fr.  bestraft.  In  Wiederholungs- 
fällen und  bei  schwerem  Thatbestand  darf  Gefängnissstrafe 
bis  auf  14  Tage  ausgesprochen  werden.  Von  der  Festsetzung 
der  Haftpflicht  für  diese  kleineren  Geschäfte  glaubte  der 
Regierungsrath  im  Hinblick  auf  die  projektirte  eidgenössische 
Kranken-  und  Unfallversicherung  absehen  zu  dürfen. 

Aarau.  E.  Naef. 


Arbeitersclmtz  bei  dein  schweizerischen  Verkehrs- 
gewerbe. In  der  gegenwärtigen  Session  der  eidgenössischen 
Räthe  sind  im  Nationalrath  zwei  sozialpolitische  Motionen 
behandelt  worden,  von  denen  die  eine  die  Abänderung 
des  Gesetzes  über  die  Arbeitszeit  bei  Eisenbahnen  im 
Sinne  einer  den  Anforderungen  des  Betriebes  und  der 
öffentlichen  Sicherheit  besser  entsprechenden  Vertheilung 
der  Ruhetage,  die  andere  eine  Untersuchung  von  Seite  des 
Bundesrathes  fordert,  ob  nicht  eine  besondere  Kontrolle 
über  die  Ausführung  des  Gesetzes  betreffend  die  Arbeits- 
zeit in  den  Transportanstalten  zu  schaffen  sei.  Beide 
Motionen  wurden  erheblich  erklärt,  die  erstere  mit  dem 
Zusatz,  dass  der  Bundesrath  untersuchen  solle,  ob  nicht  in 
Bezug  auf  die  Arbeitszeit  die  Bahnen  mit  beschränktem  Be- 
trieb (Sekundärbahnen)  vom  Gesetze  auszunehmen  seien.  Das 
eidgenössische  Gesetz  über  die  Arbeitszeit  bei  Eisenbahnen 
sichert  den  Bahnbediensteten  jährlich  52  Ruhetage,  wovon 
mindestens  17  Sonntage,  zu.  Die  Ausführung  dieser  Be- 
stimmung ist  sowohl  für  die  Bahngesellschaften,  als  für  die 
Angestellten  mit  Inkonvenienzen  verbunden.  Die  erste 
Motion  will  sie  durch  das  Gesetz,  die  zweite  durch  be- 
sondere Kontrolle  beseitigen.  Die  Befürworter  der  letzteren 
befürchten,  dass  durch  eine  Gesetzesänderung  eine  Schmäle- 
rung der  Freisonntage  beabsichtigt  werde,  während  sie 
diese  eher  vermehren  wollen.  Daher  opponirten  sie  zum 
Theil  der  ersten  Motion  und  suchten  sie  durch  die  zweite 
zu  Falle  zu  bringen.  Die  Befürworter  der  ersten  Motion 
machten  dagegen  geltend,  dass  eine  Revision  des  Gesetzes 
nöthig  sei,  indem  dasselbe  seinen  Zweck  verfehle  und  infolge 
dessen  die  Sonntagsruhe  häufig  keine  Wohlthat  mehr  sei. 
Von  Seite  des  Vertreters  des  Bundesraths  wurde  betont, 
dass  die  gewünschte  Spezialkontrolle  nicht  dem  Fabrik; 
inspektorat  übertragen  werden  dürfe. 

Städtischer  Arbeitsnachweis  und  städtische  Arbeiter- 
sekretariate. In  einer  unserer  ersten  Nummern  meldeten 
wir,  dass  die  organisirten  Arbeiter  in  Nürnberg  die  Errich- 
tung eines  städtischen  Arbeitersekretariates  anstreben.  Man 
geht  dort  ohne  Anknüpfung  an  schon  vorhandene  Einrich- 
tungen direkt  auf  sein  Ziel  los  In  Frankfurt  a.  M.  dagegen 
wird  möglicher  Weise  auf  einem  anderen  Wege  etwas 
Aehnliches  langsamer  erreicht,  wenn  sich  die  Arbeiter- 
organisationen zeitig  und  wirksam  rühren.  Vorläufig  liegt 
freilich  nur  noch  sehr  wenig  vor.  Ein  bisher  unter  sehr 
unwürdigen  Verhältnissen  bestandener  öffentlicher  Arbeits- 
markt, der  auf  einem  der  offenen  Plätze  der  Stadt  stattfand 
und  ein  Sammelplatz  der  untersten  Arbeiterkategorien  ge- 
worden war,  ist  durch  Verordnung  des  Polizeipräsidenten 
vom  14.  Januar  1892  aufgehoben  und  nach  einem  geschützten 
Orte,  einer  umfangreichen  Baulichkeit,  verlegt  worden, 
welche  die  „Aktiengesellschaft  für  Wohlfahrtseinrichtungen“ 
erwarb.  Die  Verwaltung  dieser  neuen,  für  den  Arbeitsmarkt 
geschaffenen  Räumlichkeiten  besorgt  der  Vorsitzende  des 
gewerblichen  Schiedsgerichtes,  jedoch  nicht  allein,  sondern 
unter  Zuziehung  eines  Ausschusses  dieses  Gerichtes,  der  aus 
Unternehmern  und  Arbeitern  gleichmässig  zusammengesetzt 
ist.  Ein  Beamter  nimmt  im  Saal  des  Ärbeitsmarktes,  der 
den  Arbeitslosen  täglich  von  9 bis  3 Uhr  unentgeltlich  ge- 
öffnet ist,  Angebote  und  Nachfragen  entgegen.  Die  Be- 
kanntmachung offener  Stellen  erfolgt  nach  dem  anderwärts 
bewährten  Muster  durch  Ausrufen  derselben;  dem  sich 


72 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  5. 


meldenden  Arbeiter  wird  eine  offene  Karte  mit  der  Adresse 
der  vakanten  Arbeitsstelle  übergeben,  die  mit  dem  Vermerk, 
ob  die  Einstellung  stattfand  oder  nicht,  an  die  Verwaltung 
zurückzugeben  ist.  Das  neue  System  offener  Karten  wurde 
gewählt,  damit  jeder  Anlass  zu  irgendwelchem  Misstrauen 
für  die  Arbeiter,  die  Benachrichtigung  enthalte  einen  nicht 
dazu  gehörigen  Vermerk,  wegfällt.  Zweifellos  ist,  dass  der 
Betrieb  Anfangs  mit  den  bekannten  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen  haben  wird,  zumal  sich  vorläufig  beim  Weiterbe- 
stehen der  Fachvereins-  und  Innungs-Arbeitsnachweise  die 
Vermittelung  nur  auf  untergeordneteArbeitskräfte  erstrecken 
kann.  Zunächst  müsste  also  aus  den  Interessentenkreisen 
eine  Vervollkommnung  dahin  angestrebt  werden,  dass  die 
Stadt  eine  vollständige  Arbeitsbörse  aus  dem  jetzt  ein- 
gerichteten Arbeitsnachweis  niederen  Ranges  machte^  und 
die  Arbeitsnachweise-Bureaus  der  Arbeiter-  wie  der  Unter- 
nehmer-Organisationen in  das  Gebäude  aufnähme,  natürlich 
unter  Zuziehung  der  Vertreter  dieser  Organisationen  bei  der 
Verwaltung,  was  sehr  leicht  möglich  ist,  da  bereits  jetzt 
jener  Ausschuss  des  gewerblichen  Schiedsgerichts  be- 
theiligt ist.  Die  Arbeitsnachweise  der  Innungen  wie  der 
Fachvereine  kranken  bekanntlich  sehr  tief  an  ihrer  Ein- 
seitigkeit, und  die  Vereinigung  unter  einer  unparteiischen 
Selbstverwaltung  würde  einen  wichtigen  Fortschritt  bedeu- 
ten. Gelingt  es  aber,  den  Arbeitsnachweis  in  Verbindung 
mit  dem  gewerblichen  Schiedsgericht  zu  vervollkommnen, 
so  ist  ein  weiterer  Schritt  schon  halb  gemacht:  die  Ausge- 
staltung der  neuen  Einrichtung  zu  einem  förmlichen  städti- 
schen Arbeitsamt  mit  Versammlungsräumen,  Lesezimmern, 
Fachbibliothek  u.  s.  w.  Diese  Andeutungen  und  Aussichten 
sind  keine  unbestimmten  Projekte,  sondern  ihre  Ausführung 
ist  bereits  vor  zwei  Jahren  in  Erhebungen  sehr  ernsthaft  erör- 
tert worden,  welche  der  damalige  Frankfurter  Oberbürger- 
meister und  jetzige  preussische  Finanzminister  Miquel  zu- 
sammen mit  dem  Vorsitzenden  des  Frankfurter  gewerblichen 
Schiedsgerichts  Dr.  Flesch  veranlasste.  Der  Letztgenannte 
wird  sich  jetzt,  wo  endlich  ein  praktischer  Anfang  gemacht 
ist,  dem  Hinweis  auf  die  damals  von  behördlicher  Stelle 
abgegebenen  Zusicherungen  nicht  entziehen  können  und 
es  ist  auf  diese  Wreise,  bei  gehöriger  Agitation  seitens  der 
Arbeiter,  leicht  möglich,  dass  die  Arbeiterschaft  in  Frank- 
furt a.  M.  auf  diesem  besonderen  Wege,  den  die  Verhält- 
nisse anbieten,  zu  einem  städtischen  Arbeitersekretariate 
kommen. 


Arbeiterversicherung. 


4:3.  Diese  Thatsache  würde  wohl  verdienen,  von  der 
Sanitätsstatistik  nicht  unbeachtet  gelassen  zu  werden. 


Krankheitskategorien. 

Erkrankungen, 
welche  Erwerbsunfähigkeit 

zur 

Folge  hatten 

nicht  zur 
Folge  hatten 

1.  Entwicklungskrankheiten  .... 

47 

72 

2.  Inlektionskrankheiten 

4 195 

1 038 

3.  Venerische  und  syphilitische  Krank- 

heiten 

426 

808 

4.  Neubildungen 

63 

67 

5.  Krankheiten  des  Blutes  und  mehr- 

sitzige 

2 224 

1 888 

6.  Krankheiten  des  peripheren  und 

zentralen  Nervensystems  .... 

494 

817 

7.  Krankheiten  des  Auges 

590 

658 

8.  „ „ Gehörorgans  . . 

89 

160 

9.  „ der  Athmungsorgane  . 

5 194 

3 100 

10.  ,,  Zirkulationsorgane 

602 

529 

11.  „ „ Verdauungsorgane 

2713 

4 035 

12.  „ „ Harn-  und  Ge- 

schlechtsorgane 

443 

331 

13.  ,,  „ Haut 

909 

1 164 

14.  „ „ Bewegungsorgane. 

939 

376 

15.  Verletzungen 

2 050 

685 

16.  Vergiftungen  durch  mineralische 

Gifte.  

i 113 

37 

Zusammen  . . 

21  091 

15  765 

Soziale  Hygiene. 

— 

Zum  deutschen  Trunksuchtsgesetz.  Im  letzten  Jahres-  J 
bericht  des  Sächsischen  Landes  - Medizinal  - Kollegiums  stellt  j 
Ober-Medizinal-Rath  Weber  fest,  dass  in  der  von  ihm  geleiteten 
sächsischen  Landes  - Irrenanstalt  „Sonnenstein“  der  Alkohol-:' 
missbrauch  als  Krankheitsursache  viel  weniger  in  Betracht 
komme,  als  Nahrungssorgen,  Ueberanstrengung,  Kummer,  schwere 
Gemüthsbewegung  und  körperliche  Krankheit.  Der  genannte  < 
Irrenarzt  beweist  ausserdem  zahlenmässig,  dass  der  Einfluss  des  •] 
Alkohols  als  Krankheitsursache  sich  im  Aufnahmegebiet  der 
von  ihm  geleiteten  Anstalt,  also  in  Sachsen,  nicht  etwa  steigerte,  I 
sondern  seit  1887  von  16,2%  ständig  und  bis  auf  11,7%  der 
männlichen  Anstaltsinsassen  im  Jahre  1890  gesunken  ist.  Ober- 
Medizinal-Rath  Weber  bemerkt  hierzu,  dass  diese  Thatsache 
zum  Mindesten  nicht  auf  einen  steigenden  Einfluss  des  Alkohols  ; 
als  Ursache  von  Geistesstörungen  schliessen  lasse.  Unter  diesen  : 
Gesichtspunkten  eine  Nachprüfung  und  Kritik  der  Trunksuchts-  j 
Statistik  in  den  Motiven  der  Reichstagsvorlage  vorzunehmen, 
würde  unseres  Erachtens  von  grossem  Interesse  für  die  ärzt- 
lichen Kreise  sein. 


Zur  Krankheitsstatisük. 

Einem  Berichte  des  „Verbandes  der  Genossenschafts- 
krankenkassen für  Wien  und  Umgebung“  für  das  Jahr  1890') 
entnehmen  wir  eine  für  die  Morbiditätsstatistik  nicht  un- 
interessante Thatsache.  Erismann  hat  bereits  im  1 . Bande 
des  „Archivs  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik“  darauf 
hingewiesen,  dass  es  zur  Kenntniss  der  Erkrankungsfrequenz 
keineswegs  hinreicht,  lediglich  diejenigen  Fälle  zu  registriren 
und  in  die  statistischen  Berechnungen  einzubeziehen,  welche 
die  vollständige  Arbeitsunfähigkeit  des  Behandelten  zur 
Folge  habqn.  Man  vernachlässigt  damit  eine  Reihe  von 
Erkrankungen,  welche  für  die  Beurtheilung  der  sanitären  V er- 
hältnisse  von  Wichtigkeit  sind.  Diese  Behauptung  findet  . 
in  der  angeführten  Publikation  ihre  volle  Bestätigung.  Dem 
genannten  Verbände  gehörten  im  Jahre  1890  im  Ganzen 
31  Krankenkassen  mit  rund  66  000  Mitgliedern  an.  Es  wur- 
den nun  sowohl  diejenigen  Erkrankungen,  welche  Arbeits- 
unfähigkeit zur  Folge  hatten,  als  auch  diejenigen,  bei 
welchen  die  Berufsthätigkeit  fortgesetzt  werden  konnte, 
verzeichnet  und  gesondert  verarbeitet.  Das  Ergebniss  ist 
denn  auch  überraschend  genug,  wie  die  Tabelle  in  der 
folgenden  Spalte  zeigt. 

Bei  zahlreichen  Krankheitskategorien  überwiegen 
geradezu  jene  Fälle,  wo  der  Erkrankte  die  Arbeit  fort- 
setzt, so  insbesondere  bei  den  venerischen  und  syphi- 
litischen Krankheiten,  den  Nervenleiden,  den  Erkrankungen 
des  Auges  und  Ohres,  der  Verdauungsorgane  und  der 
Haut.  Insgesammt  verhalten  sich  die  Erkrankungen,  die 
Erwerbsunfähigkeit  zur  Folge  hatten,  zu  den  andern  wie 


Zum  schwedischen  Trunksuchtsgesetz.  Der  Bericht  des 
Stockholmer  Polizeigerichts  über  die  Bestrafungen  wegen 
Trunkenheit  auf  öffentlicher  Strasse  im  Jahre  1891  zeigt  gegen 
das  vorhergehende  Jahr  wohl  eine  kleine  Abnahme;  aber  die 
Ziffern  sind  doch  noch  so  hoch,  dass  von  einer  Abnahme 
der  Trunksucht  keine  Rede  sein  kann.  Zu  der  Abnahme 
der  Bestrafungen  hat  aber  sicher  der  Umstand  beigetragen, 
dass  die  Polizeiorgane  während  der  letzten  Jahre  den  Be- 
griff „betrunken“  immer  humaner  auffassen,  so  dass  selbst 
schwer  Angetrunkene,  wenn  sie  sich  nur  ruhig  aut  der 
Strasse  verhalten  und  noch  heim  zu  finden  vermögen,  un- 
angestastet  bleiben.  Das  Polizeigericht  verurtheilte  also 
nur  sinnlos  Betrunkene  und  zwar  7532  Männer  und  588 
Frauen  oder  zusammen  8120  Personen.  Die  geringste  An- 
zahl der  Betrafungen  kam  im  Februar  vor  mit  530  Fällen, 
die  folgenden  Monate  zeigen  stets  höhere  Ziffern,  Oktober 
mit  865  Fällen  die  höchste.  Diese  Personen  wurden  zu- 
sammen zu  80  275  Kronen  Geldstrafe  verurtheilt.  Im  Jahre 
1890  wurden  dagegen  7918  Männer  und  522  Frauen  oder  zu- 
sammen 8440  Personen  wegen  Trunkenheit  auf  offener 1 
Strasse  bestraft.  Auch  in  diesem  Jahre  kamen  die  meisten 
Bestrafungsfälle  mit  931  im  Oktober  vor,  die  wenigsten  im 
Januar  mit  551.  Die  Strafgelder  beliefen  sich  aut  82  880 
Kronen.  Auch  aus  anderen  Theilen  des  Reiches  wird  be- 
richtet, dass  trotz  der  zahlreichen  Mässigkeitsvereine  oder 
Enthaltsamkeitsvereine,  welche  letzteren  nicht  nur  Brannt- 
wein, sondern  auch  Bier  und  Wein  verpönen,  die  Trunk- 
sucht doch  noch  immer  zunimmt,  welche  Erfahrung  aus 
der  nordischen  Heimath  der  Trunksuchtsgesetzgebung  ge- 
rade im  gegenwärtigen  Augenblicke  für  Deutschland  werth- 
voll  sein  dürfte. 


>)  Wien  1891.  Selbstverlag. 

Verantwortlich  flir  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — - Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 

Berlin,  den  1.  Februar  1892. 


Für  den  Anzeigentheil  sind  die  Redaktion  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Anzeigen- Annahmestelle  nur  bei 
Dr.  Otto  Eysler,  Berlin  SW.,  Charlottenstrasse  11.  Preis  für  die  3 spaltige  Colonelzeile  40  Pf. 


SBevtng  hon  XHuuftßr  & 3§untbllif  in  Seip^ig. 


©Born  3frt£i»rttfj  Knapp,  Sie  Sanbavbeiter 
in  ffned)tfdjaft  unb  gveUjeit.  23ier  Beiträge. 
1891.  ißreid  ca.  2 93t'. 

Krtuvtrfi  Ifrrlmcv,  Sie  fociale  Reform  ald 
"©ebot  ö es“’«? ir 1 1) i dj o f 1 1 i dj en  fyortfctjrittö.  1891. 
fpretd  2 93h  40  ipf. 

SdjvtfiBn  enc-e  Dercina  für  önttalpnltlth. 

49.  Söanb:  Sie  tpaubeldpolitif  her  uridjtigeren 
^ulturftaaten  in  ben  leisten  S-ditjelpiten.  1. 
löanb.  31.  n.  b.  £.:  Sie  Jpaubeldpolitif 

91orbamerifad,  3hdiend,  £>efterreid)d,  3M= 
gieitd,  ber  9heberlaube,  Sanemarfö,  fcdpoe* 
bend  unb  iftonuegenS,  fRujjlanbd  unb  ber 
©d)iuet3,  foiuie  bie  beutfdje  Jpanbetdftatiftif 
oon  1880  bid  1890.  fßreid  18  93h 

— Safelbe.  50.  süanb:  Sie  «öanbetdpolitif  tc. 
2.  33anb,  21  u.  b.  £. : Sie  S'beeit  ber  beut» 
fd)eit  Jpii'iibeldpolttif  oon  1860 — 1891  23out 
5ßrof.  Dr  WaltfxtV  XxJÜ  in  DJiiindMu.  ißreid 
4 * 60  5ßf. 

©BlTUamt  Xofdj,  Nationale  fßrobuftion  unb 
"nationale  Senifsglieberung.  1891.  fßreid 
6 «Dt. 

P.  b.  JbJfiUl,  S)te  gadjoereine  unb  bie 
fociale  Bewegung  in  f^ranfreid).  ©onbevabbr. 
and  ©dpnotlerd  3 afjrbudj  1891.  fßveid  2 9)h 


Soeben  gelangt  zur  Ausgabe: 

Verzeichniss  No.  1: 

Rechts-  u.  Staatswissenschaft. 

Etwa  1100  Nummern. 

Dasselbe  steht  auf  frankirtes  Verlangen 
gratis  und  franko  zu  Diensten.  Für  den 
Ankauf  ganzer  Bibliotheken  und  einzelner 
Werke  aus  dem  Gebiete  meiner  Specialität 
halte  ich  mich  empfohlen. 

Berlin,  N.  24,  Elsasserstr.  36. 

Hugo  Frankel, 

Antiquariat  für  Rechts-  u.  Staatswissenschaft. 

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®(l<3  9ied)t 

ber 

Sur  Stjeorie  unb  ißrajtd  ft>fteuiatifd)  bargefteüt 

D01I 

Dr.  .SAeituidj  Pfoftit, 

orb.  Sprof.  für  ©taatSrcdjt  mib  bcntfdreä  3Icd)t  a.  b. 
Umueijität  grcibnrq  i 33. 

@r]’ter  23aub: 

®ie  mdj§redjtlid)en  ©rmtblageit  ber 
9trbeiteruerfid)erung. 

(ävfte  unb  gtoeite  2lbtljeiluug.  8’.  9 9)h  50  5ßf. 

Sud  gefnmmte  äßerl  wirb  in  groei  23nnbe 
verfallen,  oon  beueu  ber  erfte  „bie  mdjdredjt* 
lidjeu  ©nutblageu  ber  2lrbetterüerfid)erung" 
beljanbelu,  ber  pneite  aber  in  brei  Abeilen  bie 
Ävunfeu»,  Unfall»,  foiuie  bie  3nUalibitätc-=  unb 
2llterboerfid)erung  gur  SinjelbarfteUung  bringen 
folt. 

u c b j't  21  n ö f it  1)  r lt  u g § b c ft  i m nt  u u g c n. 

— Mtuefle  Jaibing  heg  ©rhdjt'g, 

£ejt=21udgabe  mit  2tnmerfungieh  unb  ©ad)  vegift  er 

DOlt 

2.  fJJt).  iöerger, 

SKcqiermiflävatl). 

(5  l f t e 31  tl  f 1 n fl  c. 
Safd)euforuiat;  cart.  1 93h  25  fßf. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung  in  Berlin  SW.  48. 


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SOZIALE  GESETZOEBÜNG  UND  STATISTIK. 

Vierteljahresschrift 

zur  Erforschung  der  gesellschaftlichen  Zustände  aller  Länder. 

In  Verbindung 

mit  einer  Reihe  namhafter  Fachmänner  des  In-  und  Auslandes 

herausgegeben 

von 

Dr.  Heinrich  Braun. 

Das  Archiv  erscheint  in  Bänden  von  ca.  40  Druckbogen. 

Lex.  8°.  in  4 Heften. 

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HBF“  äJtonatlid)  ein  jpeft.  "33U 

93t au  abouuirt  ijalbjäljvlid)  für  9 93t  arf  bei  alten  äSudjfjanbluugen  unb  fßoftämtern. 


C.  1|,  XVrlLfrlR  D c r higs b u rlj I)  a nb  In  mi  (Vahar  Bcth)  in  iDümfjrit. 

3u  uuferem  SBeiiage  ift  evfdpeuen: 

Ra  Hm  (f  h sX  ’ (hurnpäifdi.rr  (Drfciii  dif  eltalcnbcr.  9teue  golge.  ©edjfter 
llj  lllUf  tPt>  3 a () r g a 11  g.  1890.  ($er  gaumen  Dteitje  XXXI.  SSanb.)  ^eraud* 
gegeben  uon  ijirof.  Dr.  tjjand  2)clbrücf.  ißreid  gel).  8 93t.  (ävfdjeiut  a 1 1 j äT)  r ti  cf).  3'aI)r9aiI9 
1891  erfdjeint  im  gebruar  1892. 

fi'omplcte  (Srp(.  bei-  früheren  gftjfqäitflc  btefeä  13  0 I i t i £ c v u u it  c it  t b e I)  r 1 1 Ät  n b e v ii  t)  m t en  3a  t;  vb  u ä)  3 
ffierbcu  neu  eintreteubev  'Abonnenten  311  eftnäBigtem  'preife  gelicfevt. 

genier: 

I |j,  itflk  tVi'll  i'r  ditnatibitätg-  unb  B 1 1 r r n u c r 1 ’t  di.  cntit  a u n 0 fr  h ntnn 

2*2.  3mtt  1889.  fjumU’  o 0 tlft  ä it  big  umgearbeitete 
grofif;.  tjeff.  3legiennuj3vat:  2luflage  mit  einem  2tul)aug,  bie  5Botl3ugdbefanut= 

mad)uugen  bed  23uubedratd  entfialtenb.  Äart.  l 93t.  80  ißf. 

IDae  H r It  cif  r r frh  nh  tl  c f 0 h für  bad  b e u t f cl;  e 9teid;  nottt  1.  3nni  1891  (9tooeUe 
311  $it.  Vli  Oer  ©eiuerbeorbnung).  Se^taitdgabe  mit  (Einleitung,  erläuternben  2tnmer!mtgeit 
unb  Stegifter.  8V2  23og.  Sart.  1 93i.  20  ißt 


3«  ^weiter  Sluflnfle  erfdjten: 

(^oätnltefroiittion 

ober 

o \ i q 1 1 c f o v nt  ? 

Sun  Julia e ID  e euer,  Sßfaruev 
in  ^)ol)t'ntl)uvm  b.  .Spaüe  (©.)•  $iei€  9JÜ- 1. 
gu  belieben  buvcf)  alle  SBiidjIjrtnblungcii  fohlte 
nnef)  unmittelbar  bunt 

C5.  Sci)uu'trd)lu'’fd)cn  Ucrlag  tu  §ailc  (Sank). 


3.  ©uttvnlag,  SSerlogslntdjljoublnug  in  Söevtiit. 

Intfilititnmp  imii  Ufrfiipngra 

ber 

©ewcrbcs®evutatton  be$  §0lagiftrat§ 
gu  ^Berlin 

jum  ItudisgeU^  bflrtlfcnb  bis  üvanftun- 
nniuljEVum;  bet  .Rrbt'iU't 
uom  15  Suui  1883. 

nebl't  einem  21  bb  rüde  biefeä  (flefelje^. 
$evau3gegeben  uoit 

See  SKuflbon  Dr.  jur.  Dtidjarb  g-rettnb, 

SDlcifliftvatS-Slffcfforcn  311  SBcvliu. 

jp  e f t I inib  II. 
gv.  8°.  3 23t.  75  SPf. 


jl,  QI  11 1 1 c it  t a g , Dcrlagaburijftanbluim  in  Berlin. 

glatter  für  (Seno|Tenfd)öftsTDefen. 

(Snmtitg  her  ßiifunft  XXXIX.  S,d)rgang.) 

Organ  bee  Stügcnicinen  SBerüaitbeS  beutfefjer  (Svioerbö*  ititb  3SMitfgcf)afti§= 

©euoffcnfdjaftcn. 


SSegriinbet  ooit 

Dr. 

IferaitsiUHU’lu'n  tum  turnt  Bunmlte. 

2Böd)entlid)  eine  Ütummer  in  (Starte  ooit  1 — 1 V2  ©rudbogeit. 

SlbmisienmttSc^rciS  Jjalbjätjrig  3 9Jif. 


Verlag  von  Hermann  Bahr  in  Berlin,  W.  9,  Linkstr.  13. 


Meyer,  l>r.  Rudolf.  Der  EmancLpationskainpf  des  Vierten  Standes.  Bd.  I.  2.  Aufl.  1882.  532  S.  gr.  8 

4 1 Inhalt  Theorie  des  Socialismus.  — Der  katholische  Socialismus.  — Die  Internationale.  — Deutsch- 

land. — Schulze.  — Lassale.  — Marx.  — Die  Gewerkvereine.  — Die  Socialconservativen.  — Die  Arbeiter- 
presse. — Stellung  der  Regierungen  zu  den  socialen  Parteien.  — 

Heimstätten-  und  andere  Wirthschafts-Oesetze  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  Canada, 
Russland.  China,  Indien.  Rumänien,  Serbien  und  England.  Hrsg,  mit  einleit,  und  erläuternden  Ab- 
handlungen von  Dr.  Rudolf  Meyer.  1883.  632  S.  gr.  S°.  i5  Mark.  , 

A.  Sartorius  Frlir.  v.  Waltershausen.  Die  nordamerikan.  Gewerkschaften  unter  d.  Einfluss  der 
fortschreitenden  Productionstechnik.  i885.  332 _S.  gr.  8°.  7 Mark  60  Pf. 

Derselbe.  Der  moderne  Socialismus  in  den  Vereinigten  Staaten  v.  Amerika.  1890.  422  S.  gr.  8 . 8 Mark. 
Ursachen  der  amerikanischen  Concurrenz.  Ergebnisse  einer  Studienreise  der  Herren  Grafen  Geza 
Ancl  ras  sy,  Geza  und  Imre  Szechenyi,  Ernst  Hoyos,  Baron  G.  Gudenus  und  Dr.  Rudolf  Meyer 
durch  die  Vereinigten  Staaten.  Mit  einer  Karte.  1883.  825  S.  gr.  8°.  13  Mark  50  Pf. 
Rodbertus-Jagetzow.  Zur  Erklärung  und  Abhilfe  der  heutigen  Creditnoth  des  Grundbesitzes. 

2 Thle.  1868.  544  S.  kl.  8°.  6 Mark.  , . „ 

Zeller,  J.  Zur  Erkenntnis  unserer  staatswirthscliaftlicheii  Zustande.  2.  Aufl.  mit  Anhg. : Kodbertus- 
Jagetzow.  Die  soziale  Bedeutung  der  Staatswirthschaft.  Erster  sozialer  Brief  an  von  Kirchmann.  Der 
Normalarbeitstag.  1885.  305  S.  gr.  8U.  6 Mark.  . „r 

Knies,  C.  Ad.  Die  Statistik  als  selbstständige  Wissenschaft  1850.  175  S.  kl.  8°.  2 Mark  25  Pf. 

(Parthieartikel.  Vorräthe  nur  noch  gering.) 


3.  CÜPitf fentag,  BedaggLnttfofjanMung  in  Berlin. 


(ßuttentag’fcüe  Sammlung 

Beutler  Betdiögel’e^c  unb  }3icitffl|'d)ei: 


tfef-J&usgaben  mif  Bumer  hungert. 

tEafrfienfavntat,  fiavfmtuivt. 


§e|et;e. 

1 

i 


A 

Ucutfdje  |Utd)$0eret?f* 


1. 

2. 

3. 


®ic  Slcrfaffung  bcc-  ®eutfd)cu  Dfcid)§»0H  Dr. 

dou  [Könne.  ©edjfte  Stuftage.  1 SDR.  25  Sßf. 


Strafgcfcfebud)  für  ba§  ®cit4fd)e  SHcidi  mit  beit 
gcbrandiiidiftcn  SHcidiettrafgciefecit.  Sou  Dr.  j,i. 
fRüborff.  Tyiinfjeljnte  Stuftagc.  1 SDcf. 
ÜRilitär=®trafgefcfeIiud)  für  b o ®cutfd)c  SKcid) 

non  Dr.  &.  SKuborff.  ßiocite  Stuflage  tioit  2».  V. 
©olmS.  2 SDif. 


4.  Slllgemeincb  ®cutfd)cö  ipanbelägcictshndi  unter 
stuc.fditufj  beb  ©eeredjts.  Sou  %.  Sitttjauer.  Siebente 
Stuflage.  2 SDR. 


5.  Sl II g: meine  ®ciitid>c  SBcdifclorbmuig  oon  Dr. 

©.  Sovd)arbt.  ©edjfie  Stuftage  uott  G.  Satt,  inib 

SBc  d)f  elftem  p elfte  u er  g e f cfs  uebft  S£öcd)fclficmpel= 
ftcuertarif  uou  SB.  bi  an  pp.  fünfte  Stuftage.  2 SDR. 


6 SJcid)e=WeU)crbe=3C'rbiuutg  mit  bcn  für  b«3  SReid) 
ertaffenen  StuSfubvungSbRtiminumieii.  SKeuefte  Raffung 
beä  ©efefceS.  a>ou  S.  Sßt).  SBergcr,  SRegierungSratl).  , 
Gifte  Stuftage.  1 SDR.  25  ißf. 

7.  ®ic  ®cutfd)c  'ßoft=  unb  2clcgrapl)cn=©cicfe= 
getmttg.  SSou  Dr.  Sß.  ©.  gifdjer.  Suite  Stuftage. 

2 sdr.  50  sßf. 


8.  ®ic  Gleiche  über  bcn  Unterftüfeungömolmfifei 

über  SunbeS=  utib  ©taatäangetjörigfeit  unb  gveijügigfeit. 
SBon  Dr.  3.  ttred).  3>DCt|c  Stuftage.  2 9J!f. 


9a.  Sammlung  tTcinercv  piiuatteditlidicr  Pfeidic- 
gefehc.  Ergänjuiigäbanb  311  bcn  im  3-  ©iitteutag’fdjen 
Serlaqe  erfÄieneiten  Ginsch'Oluänaben  beutfdjcr  9icid)§= 
gefefce.  i'Oii  ff.  SBt er ^ a 11  ä.  2 fflif.  25  Spf. 

9b.  Sammlung  flcitterer  fWetdjbgefchc  fnaft'edit= 
lidicit  Snljaltö.  Grgätiäungä.bar.b  311  ben  im  3-  ©nttem 
tag'fdien  SBcrlaqe  erfdjieueiten  GiiijeDSInägabeu  bentfdjer 
SReidibgefe^c.  Soft  SW.  SB ern er.  1 SSJif.  80  Sßf. 

10.  ®a§  fWcidjebeauitcngcfeh  uotn  31. 9Ji  1-3 1873.  Srnette 
Stuflage  non  2B.2  um  au,  9teidjSgcrid)t§vatl>  29Jif.40  Sßf- 

11.  ©iutlprosefiovbmuig  mit  Gicrtd)t6ucifaffuug0= 
gefeb,  G'i it f ii I) nui g c- g c fc Be n , fUebcugciehen  unb 
GSrgoiiiimgen.  SBon  SK.  ©i)bom.  ffünfte  Stuftage. 
2 SKf.  50  Sßf- 

12.  Stvafproäefunbuung  uebft  Gi e r i di 1 0 n c r f a f f 11 1 1 g § = 
geietj.  ffünftc  Stuftage  oon  ^elltoeg.  1 9-Kt.  60 -ßf. 

13.  Äonfur0ovbnuug  mit  einfübrung0gcfch,91i  bcn= 
geeben  unb  G'rgdiijimgeit.  goii  3i.  (sstjbom. 
fBierte  Stuftage.  80  $f. 

14.  Gi e r i d i t-ni c r f a f f n 1 ' g 0 g e f c h fürba0®cutfd)  Sicid). 

SBon  SK.  ©hboiu.  (fünfte  Stuftage.  80  ‘ßf- 


15.  Gicvicbtöfoftengefeh  uub  ©cbftbrctiorbmutg  für 
Gicridjtetiolljteber.  Gicbütncuorbmuig  für  3c u= 
gen  uub  ©admerftdnbige.  SJiit MoftciitabcUcn. 

3?ou  9t.  ©tjboiu.  SBierle  Suiftage.  80  Sßf. 

16.  'Hcd)10anmalt0orbniutg  für  bao  ®eutfd)C  SK  cid). 

Klon  9t.  © i)  b 0 tu.  Ißieite  Stuftage.  50  Sßf. 

17.  Giebii (1  reu 0 rb  11  n 11  g für  Sicditbanmaltc.  Sßcn 
sK.  ©ljbom.  ©ritte  Stuftage.  60  sßf. 

18  ®a0  ©eutfdie  SJeidiogcfeh  über  bie  'Reid)0= 
ftcinpclabgabett  in  oer  ffaffung  beä  ©efefeeS  uom 
29.  SJJlai  1885.  Sörfenfteuergefeti.  SBon  2h  ©aupp. 
3./4.  Stuflage  ergänzt  bis  1890.  2 StKt. 

19.  ®ic  ©ccgcfefegebintg  beb  Teutfdien  Sieidjcb. 
SBon  Dr.  jur.  S®.  (S.  Änitfdjlt).  3 SDu- 

20.  Gicfcfec,  betreffenb  bic  Mrantenucrfiriieutiig  ber 
Stibciter.  2'on  Gr.  uon  SBoebtfe.  ©ritte  sUuflage 
1 üJif.  20  Sßf. 

21.  ®ic  Monfnlargcfehgcbung  bc0®cutfd)cn SleidicS. 

31 011  Dr.  SßtjiliJip  ,3  0 v it.  4 99it. 

22.  't  atetitgeicb.  Giefets  über  SlJt uftct=  unb  SJtobelD 
fdiuß.  ©eich  über  SJtarfenfdjitb.  iKcbft  Sluä- 
fü^rungäbeftiminuiigeii.  Sy 011  ©.  Sßl).  'Berger,  ©ritte 
Stuftage.  3«  SBorbereitung. 

23.  lInfatItierfiri)eiHiig0gefeh  uom  6.  3ul*  l^t  unb 
Giefefe  über  bic  Stuobchitung  ber  Unfall1  unb 
Äranfeuucrfidierung  uom  28.  'J.Kai  1885.  i'on 
©.  uoii  SBoebtfe.  SBierte  Stuftage.  2 9Kf. 

24.  SJcidibgcfch»  betreffenb  bie  ftotnmanbitgefcI(= 

idiaften  auf  Stfticn  unb  bic  SIfticngcfcIlfdiaften. 
Sy 01t  Sei)  6 n er  unb  Dr.  6.  SB.  ©im  on.  ©ritte  Stuf = 

läge.  1 2Kf. 

25.  ®ab  ©entfdjc  Sicicfibgefefe  megen  ©rbebiing  ber 
süraufteucr  uom  31.  ÜJiai  1872.  sy oti  (S.  SBcrtljo. 
1 3Kf.  60  sßf. 

26.  ®ic  'Mcid)0gcfcbgcbuug  über  fö}ünj=  unb  S8anf= 
Uicfen,  slSaptcrgelb.  sVramicnuapicrc  unb  SKcid)0= 
anlcihcn.  Bon  Dr.  SK.  41'od).  Biudh:  SKuflag«  2 ÜKt.  40  Sßf. 

27.  ©ic  ©efehgebung.  betr  bas  Gi.efiinbebcttemcfeii 
ittt  ®cxttfä)cn  Sicid).  Bon  Dr.  jur.  G.  öoefd;  uub 
Dr.  med.  3.  Sarften.  1 SDtf.  60  'ßf. 

28.  G3efcfe,  betreffenb  bie  U tifallucrfidierung  ber  bei 
Stauten  bcfdiaftigtcn  sß'crfoncn.  Born  ,3ulil887. 
SBon  Seo  ÜKugban.  1 sJJif.  25  Sßf. 

29.  Giefefe,  betreffenb  bie  GSruierb0=  unb  SSHrtlu 
fdiaftogcuoffcufdiaftcn.  Born  1.  SDZai  1889.  Bon 
S.  SBartfiuS.  Stierte  Stuftage.  1 ÜKt.  25  Sßf. 

30.  G cfehi  betreffenb  bic  3n»aiibitdt0=  unb  3(ltcr0= 
uerfidicru ng.  Born  22  Juni  1889.  SBon  (S.  uoti 
SB  0 e b t £ c.  SBierte  Stuftage.  2 9.Kf. 

31.  sKeidiegcfeh,  betreffenb  bie  ©emerbegerid)  e. 
SBont  29.  3>d'  1890.  Sion  Beo  SKuqban.  2.  SluSgabc. 
1 SDR.  25  sßf. 


B 

JHeitßirdje  . 


1.  ®ic  SBcrfaffmig0=Urfunbe  für  bcn  sfJrcufeifdjen 
©taat.  Sou  Dr.  Sl  b 0 1 f Strnbt.  Blueite  Stuftage. 
2 SDif. 


2.  öcamten=©cfefegcbungi  SfSreufüfdje.  Gntliattciib 
bie  luuijtigften  sBeauitengcfd3e  in  ?)3veuBeii;  DJcit  turnen 
Sllimerfuiigen.  einem  djronologifdjen  Serseidjnifi  bev  ab. 
aebruiften  (Sicfc^e  ic.  Soll  G.  Sßiafferotb-  3wntc 
ueubearbeitete  Stuftage.  1 ÜKf.  50  Sf. 

3.  ®a0  SBrcufjifdjc  ©eich-  b.  tr.  bie  jlmgngsuoü-- 
ftrcctiing  in  ba0  nnb.uicalidic  SBermbgen  uom 

13.  Suti  1883  1111b  atteu  Slebengefe^cn.  Soit  Dr. 

3-  tfre di  uub  Dr.  S.  fyifdjer.  Sireib  Stuftage. 
1 SDR. 


4.  ®ic  Süreuptfdien  ©efefee,  betreffenb  bao  sRotariat 

in  ben  BanbeStljeilen  beö  gemeinen  9red)tb  uub  bev 
Banbredjtv.  3'ueite  ueväuberte  Stuftage  gcrauSgegeben 
uon  9(.  ©ijbolu  unb  Sl.  §elllueg.  1 SDR.  60  ’ßf. 


5. 


6. 


7. 


8. 


®a0  ©efefe  uom  24.  Stpril  1854  (betr.  bie  auftcr» 
ebelidje  ©djiuängerung)  uub  bie  banebeu  geltenbeu  Sic. 
ftimmuiigen  beä  Slüg.  Banbveditä  uebft  beu  baju  ergangenen 
sßräiubif'ateu,  ber  Bitteratur  :c.  Sou  Dr.  jur.  .3.  © d)  u 13 .. 
75  Sfr. 


ie  sVreufjifdjeit  Sluefübrutigegcfcbe  unb  SJer= 
rb  nun  gen  31t  ben  SKeidicjuitiigefcheu.  Sou 


StUgemeinc  ©eridjtborbnung  für  btc  S<5reu6i= 
fdicn  Staaicn  uom  <>.  Juli  1793  unb  S-H-enfetldic 
.ivonfur0orbiiung  uom  8.  Sölat  1855.  Sou 

3.  Sicvbauä.  2 9Kf.  50  Sßf. 


®icSHormnnbfd)aft0=®rbnun  .i  uout.i.  3ult  187.»' 

uebft  bcn  ba.iu  erlaffeneu  SKebengefekeu  unb  Sluge- 
meinen  Serfüguugeu.  Sou  SDlaj  © d)  u l^e  uftei  11. 
1 9.Kf.  20  Sßf. 


9.  ®ie  't-'rcafnidie  Girunbbudigcfcfegcbung.  Sou 

Sßrof.  Dr.  ©.  fy  1 f d)  e r.  1 SDif.  20  'ßf. 

10.  GSinfommcnftcucrgeicb  für  bic  'Vrcufjifdic  O.K g: 
nardiie.  Sou  ©cl).  SKatl)  9i.  SDici^en.  Smeite  Slup 
läge.  1 SDR. 

11.  Gicmcrbeftcucrgefch  für  bic  'i'rcufiifdic  IKo-- 
ltard)ic.  Sou  SiogierungSvatt)  Sl.  gern  oft.  80  St- 


1 

1 


! 


\ erant wörtlich 


für  den  Anzeigentheil : Dr.  Otto  Eysler  in  Berlin.  — Druck  von  11.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  8.  Februar  1892. 


Nummer  6. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag, 

in  Berlin  SW.  48 


Verlagsbuchhandlung 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


1 > i e Neu- Organisation  der  Ge- 
werbegerichte in  Deutsch- 
land und  das  Berliner  Orts- 
Statut.  Von  Dr.  Max  Quarck. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik : 

Ein  neuer  Lohnberechnungsplan. 

Von  H.  Schlüter. 
Berufsgenossenschaften  in  der 
Schweiz. 

Agitation  der  Bodenreformer  in 
England. 

Englisches  Genossenschaftswesen. 

Arbeiterzustände: 

Das  Trucksystem  in  England. 

Von  Prof.  Dr.  W.  Stieda. 

Eine  Aufnahme  der  ländlichen 
Arbeiterverhältnisse.  Von  Dr. 
Max  Quarck. 

Ländliche  Arbeiter  Verhältnisse  in 
Siiddeutschland. 

Zur  Arbeitsstatistik  deutscher  < ie- 
werbeinspektoren. 

Ein  österreichisches  Amt  für 
Arbeitsstatistik. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung : 

Ilolzhauerstrike  in  Frankreich. 
Buchdruckerstrike  in  Bukarest. 
Wiener  Buchdruckerei-  und  Schrift- 
giessereiarbeiter-Strike  im  fahre 

1891. 

Strike  der  Bierbrauergehilfen  in 
Nürnberg. 

Zur  Organisation  der  deutschen 
Metallarbeiter. 


Unternehmerverbände: 

Vereinigungen  in  der  Kohlen- 
industrie. 

Kaufmännische  Bewegung : 

Die  Syndikatskammer  der  kauf- 
männisch Angestellten  in  Paris. 

Zur  Verdrängung  des  Zwischen- 
handels. 

Minimalkündigungsfristen  ftirHand- 
lungsgehilfen  in  Oesterreich. 

Gehälter  der  Handlungsgehilfen. 

Handwerkerfragen : 

Gewerbekammern  in  Kaden. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Die  neuesten  Fortschritte  der 
Fabrikgesetzgebung  in  Russland. 
Von  Dr.  Sophie  Daszynska. 

Arbeiterschutz  in  der  Mühlen- 
industrie. 

Arbeiterversicherung: 

Eine  Enquete  betr.  die  Kranken- 
versicherung. Von  Dr.  Leo 
Verkauf. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Ueber  Versuche  zur  Hebung  der 
Wohnungsnoth  der  Arbeiter. 

Zur  Reform  der  berliner  Bau- 
ordnung. 

Wohnungszustände  in  Mannheim. 

Armenwesen: 

Die  Individualstatistik  des  Wie- 
ner Vereins  gegen  Verarmung 
und  Bettelei.  Von  Prof.  Dr.  E. 
Misch  1 e r. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Neu-Organisation  der  Gewerbegerichte  in 
Deutschland  und  das  Berliner  Ortsstatut. 


In  Deutschland  müssen  kleine  sozialpolitische  Fort- 
schritte, welche  man  eigentlich  nur  als  Wohlfahrtseinrichtun- 
; gen  bezeichnen  kann,  wenn  sie  auch  weit  über  den  Kreis 
einzelner  Fabriken  undGewerbe  hinaus  im  praktischen  Leben 
sich  äussern,  fast  regelmässig  eine  Menge  Reibungen  und 
Widerstände  überwinden,  die  man  anderswo  nicht  kennt. 
Was  sind  gewerbliche  Schiedsgerichte  doch  eigentlich  für 
! selbstverständliche  Einrichtungen  für  eine  industrielle  Zeit! 

In  Deutschland  haben  sie  sich  aber  keineswegs  widerstandslos 
1 eingebürgert.  Und  speziell  der  Entwurf  eines  Ortsstatuts  für 
j c^as  zukünftige  Gewerbegericht  der  deutschen  Reichshaupt- 


stadt, welcher  als  Drucksache  des  Berliner  Magistrats  vor 
uns  liegt,  bedeutet  den  endlichen  Abschluss  jahrelanger 
Kämpfe  mit  der  preussischen  Büreaukratie  um  die  innere  Or- 
ganisation dieses  Gerichtes,  Kämpfe,  die  seine  Errichtung  bis 
jetzt  verzögerten.  Hier,  wo  für  die  Bedürfnisse  der  fortge- 
schrittensten Arbeiterbevölkernng  im  Reiche  gestritten  wer- 
den musste,  während  in  Leipzig,  Frankfurt  a.  M.  u.  s.  w. 
längst  entsprechende  Einrichtungen  getroffen  waren,  liegt  ein 
Stück  jener  kommunalen  Sozialpolitik  vor  Augen,  das  lehr- 
reicher erscheint,  als  manche  grosse  Staatsaktion.  In  jenem 
Kampfe  um  die  Errichtung  eines  gewerblichen  Schiedsge- 
richts für  Berlin  vertrat  der  Magistrat  der  Reichshauptstadt 
den  sozialen  Fortschritt,  der  sich  anderswo  bereits  gesund 
entwickelt  und  in  der  Praxis  bewährt  hatte,  während  die 
staatlichen  Aufsichtsbehörden  von  dem  offenen  Bestreben 
geleitet  waren,  das  Zustandekommen  eines  den  Arbeitern 
entgegenkommenden  Statuts  zu  verhindern,  damit  das- 
selbe nicht  dem  damals  geplanten  und  erst  später  zu 
Stande  gekommenen  Reichsgesetz  vom  29.  Juli  1890  vor- 
greife, welches  in  der  That  für  die  bisher  bestandenen 
Schiedsgerichte  theilweise  Rückschritte  gebracht  hat. 

Der  sozialdemokratische  Stadtverordnete  Tutzauer  regte 
zuerst  am  4.  Juni  1885  die  Errichtung  eines  gewerblichen 
Schiedsgerichtes  für  Berlin  auf  Grund  des  damaligen 
§ 120a  der  Gewerbeordnung  an,  eines  Paragraphen,  der  den 
Gemeindebehörden  das  Recht  der  Errichtung  gewerblicher 
Schiedsgerichte  gab  und  ihnen,  die  Zustimmung  der  oberen 
Behörde  vorausgesetzt,  volle  Freiheit  in  der  Organisation 
derselben  durch  Ortsstatut  liess.  Die  Herstellung  dieses 
Ortsstatutes,  dessen  erster  Entwurf  ebenfalls  von  Tutzauer 
stammt,  und  die  endgiltige  Einigung  aller  städtischen 
Behörden  über  den  schliesslichen  Wortlaut  nahm  volle 
zwei  Jahre  in  Anspruch.  Der  letzte  Beschluss  der  Ber- 
liner Gemeindebehörden  wurde  im  Dezember  1887  gefasst 
und  der  Entwurf  im  März  1888  der  staatlichen  Aufsichts- 
behörde zur  Genehmigung  unterbreitet.  Erst  im  Oktober 
1889  aber,  also  ca.  1 V2  Jahr  nachher,  erfolgte  der  staatliche 
Bescheid,  und  zwar  ablehnend.  Der  Oberpräsident  bean- 
standete die  Bestimmungen  des  Statuts,  welche  das  Recht 
zur  Theilnahme  an  den  Beisitzerwahlen  mit  dem  21.  Jahre 
beginnen  Hessen,  dasselbe  auch  den  weiblichen  Arbeitern 
gewährten,  den  Innungs -Schiedsgerichten  ihre  Ausnahme- 
stellung nehmen,  die  Befugniss  des  Schiedsgerichtes  zur 
Eidesabnahme  feststellen  und  die  Endgiltigkeit  der  schieds- 
gerichtlichen Entscheidung  statuiren  wollten.  Da  die  Ber- 
liner Gemeindebehörde  sich  in  keinem  wesentlichen  der 
vorhin  angeführten  Punkte  trotz  aller  Berathungen,  die  zu 
Anfang  des  Jahres  1890  stattfanden,  auf  den  Standpunkt  der 
staatlichen  Aufsichtsbehörde  zu  stellen  vermochte,  so  war, 


74 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  6. 


gewollt  oder  ungewollt,  die  Wirkung  erzielt,  dass  ein  Ge- 
werbe-Schiedsgericht der  deutschen  Reichshauptstadt  vor 
dem  Inkrafttreten  des  inzwischen  von  der  Reichsregierung  j 
eingebrachten  Spezialgesetzentwurfes  nicht  zu  Stande  kam. 
Das  neue  Spezialgesetz  ist  materiell  seit  1.  April  1891  in 
Kraft.  Es  enthält  fast  alle  jene  Vorschriften,  welche  die 
staatliche  Aufsichtsbehörde  auf  dem  Verwaltungswege  bei 
den  Berliner  Gemeindebehörden  nicht  durchsetzen  konnte, 
als  bindende  gesetzliche  Normen.  Wohl  oder  übel  hat  des- 
halb der  neue,  jetzt  vorliegende  Entwurf  des  Magistrats 
jene  berücksichtigen  müssen. 

Somit  mussten  im  § 4 eventuelle  Innungs-Schieds- 
gerichte als  gleichberechtigte  Sondergerichte  anerkannt 
werden;  in  §9  ist  die  Berechtigung  zur  Theilnahme  an  der 
Wahl  der  420  Beisitzer  (210  Unternehmer  und  210  Arbeiter, 
von  denen  immer  je  2 an  einer  Spruchsitzung  theilnehmen) 
an  die  Vollendung  des  25.  Lebensjahres  geknüpft,  und  im 
§ 6 das  zur  Wählbarkeit  berechtigende  Alter  auf  30  Jahre 
hinaufgesetzt.  Das  Wahlrecht  der  weiblichen  Arbeiter  ist 
ausgeschlossen.  Der  Vorsitzende  des  Gewerbegerichtes,  der 
bekanntlich  weder  Unternehmer  noch  Arbeiter  sein  darf, 
sowie  seine  Stellvertreter  werden  vom  Magistrat  ernannt 
und  müssen  vom  Oberpräsidenten  bestätigt  sein;  das  Letz- 
tere war  früher  auch  nicht  der  Fall.  Nur  die  Vereidigung  von 
Zeugen  und  Sachverständigen  hat  das  neue  Gesetz  zulassen 
müssen  und  infolgedessen  auch  der  Berliner  Statutenentwurf 
aufgenommen.  Die  Endgiltigkeit  der  schiedsgerichtlichen 
Urtheile  ist  zwar  für  Streitsachen  zugestanden,  bei  denen 
der  Werth  des  Streitgegenstandes  100  Mk.  nicht  übersteigt; 
im  Uebrigen  ist  jedoch  Berufung  an  das  Landgericht  I 
statthaft.  Die  Funktionen,  welche  das  künftige  Gewerbe- 
gericht der  Reichshauptstadt  eventuell  als  Einigungsamt 
und  gutachtliche  Sozialbehörde  zu  erfüllen  hat,  sind  im 
Wesentlichen  so  umgrenzt,  wenigstens  in  ernsterer  Hinsicht, 
wie  es  das  neue  Gesetz  in  seinen  bekannten  § 61  ff.  und 
§ 70  in  Anlehnung  an  vorhandene  Schiedsgerichtsinstitute, 
sowie  die  ersten  Berliner  Entwürfe,  vorschreibt. 

Wenn  nun  aber  auch  in  diesen  Hauptpunkten  nichts 
gethan  werden  konnte,  als  die  genaue  Beobachtung 
der  neuen  gesetzlichen  Normalvorschriften,  durch  deren 
Abänderung  erst  einmal  wieder  ein  freierer  sozialpolitischer 
Geist  in  die  Organisation  der  gewerblichen  Schiedsgerichte 
kommen  kann,  so  lässt  das  Gesetz  vom  29.  Juli  1890  doch 
nach  einigen  anderen,  ebenfalls  nicht  unwichtigen  Seiten, 
der  statutarischen  Regelung  noch  einige  Freiheit,  und  hier 
wird  die  Betrachtung  des  neuen  Berliner  Statutenentwurfs 
im  gegenwärtigen  Stadium  am  interessantesten.  Man  stösst 
hier  auf  einige  recht  praktische  und  einsichtsvolle  Bestim- 
mungen, daneben  aber  auch  manches  Verfehlte,  das  durch 
die  Stadtverordnetenversammlung  am  Magistratsentwurf  zu 
bessern  wäre.  Der  Grundsatz  der  sachverständigen,  schnellen 
und  möglichst  kostenlosen  Rechtsprechung,  sowie  eines 
volksthümlichen , leicht  verständlichen  Gerichtsverfahrens 
wurde  zunächst  an  mehreren,  durch  das  Reichsgesetz  offen 
gelassenen  Stellen  durch  den  Statutenentwurf  gut  verwirk- 
licht. Hier  ist  vor  Allem  die  durch  § 65  bestimmte  völlige 
Gebührenfreiheit  zu  nennen,  die  z.  B.  leider  in  dem  dem- 
nächst zu  besprechenden  neuen  Statut  für  Frankfurt  a.  M. 
nicht  ausgesprochen  ist,  sodann  die  Besorgung  der  Zustel- 
lungen durch  die  städtischen  Briefboten,  sowie  die  mit  den 
ersten  Berliner  Vorschlägen  und  der  Frankfurter  Bestimmung 
korrespondirende  Festsetzung  der  Beisitzerentschädigung 
in  der  angemessenen  Höhe  von  4 Mark  täglich,  welche  es 
den  Arbeitern  erst  möglich  macht,  mit  Lust  und  Liebe  am 
Gericht  mitzuarbeiten;  nur  sollte  in  § 30  nicht  die  viertel- 
jährliche, sondern  die  sofortige  Auszahlung  der  Entschädi- 
gung als  Regel  eingeführt  werden,  da  ein  Arbeiter  doch 
nicht  so  lange  vorschiessen  kann.  Aus  dem  anerkennens- 


werthen  Bestreben,  die  sachgemässe  Zusammensetzung  des 
Gerichtes  zu  fördern,  ist  wohl  auch  Al.  4 des  § 29  ent- 
sprungen, nach  welchem  der  Vorsitzende  ,, darauf  zu  sehen 
hat,  dass  thunlichst  mindestens  ein  Arbeitgeber  und  Arbeiter 
demselben  oder  einem  verwandten  Berufszweige  angehören, 
wie  die  streitenden  Parteien“;  der  Vorsitzende  soll  für 
diesen  Zweck  sogar  von  der  in  Gemässheit  des  § 26  durch 
das  Loos  festgestellten  Reihenfolge,  in  welcher  die  Beisitzer 
jährlich  an  den  Spruchsitzungen  theilzunehmen  haben,  ab- 
weichen können.  Diese  Bestimmung  wird  jedoch  u.  E.,  so  gut 
sie  gemeint  ist,  in  der  Praxis  zu  sehr  bedenklichen  Folgen 
führen.  Vor  dem  Berliner  Gewerbegericht  werden  sich 
die  Fälle  aus  den  verschiedensten  Berufszweigen  häufen. 
Sollen  dieselben  schnell  erledigt  werden,  so  müssen  sie  in 
der  bunten  Reihenfolge  ihrer  Anmeldung  zur  Verhandlung 
angesetzt  werden,  und  es  hiesse  einen  Hauptvortheil  des 
Gerichts  aufgeben,  wenn  immer  gewartet  werden  sollte,  bis 
mehrere  Sachen  aus  einem  Berufszweig  Zusammenkommen, 
damit  sie  auch  von  Berufsgenossen  abgeurtheilt  werden. 
Soll  aber  dies  in  Ausführung  des  § 29  Al.  4 nicht 
geschehen , so  müssten  zu  jeder  Spruchsitzung  eine 
o-anze  Auswahl  von  Beisitzern  der  verschiedenen  Berufs- 
zweige einberufen  und  diese  in  fortwährender  Abwechse- 
lung zu  den  verschiedenen  Sachen  hinzugezogen  werden. 
Durch  beide  Massregeln  würde  die  Schnelligkeit  des  Ver- 
fahrens ausserordentlich  gehemmt  und  etwas  Unnöthiges 
angestrebt  werden,  da  spezielle  Sachkenntniss  der  Beisitzer 
nur  in  den  seltensten  Fällen  nothwendig,  vielmehr  ihre 
sozialpolitische  Mitwirkung  als  Unternehmer  und  Arbeiter 
die  Hauptsache  ist.  Diese  Vorschrift  sollte  also  gestrichen 
werden.  Ebenso  würde  die  Promptheit  des  gewerbegericht- 
lichen Verfahrens  in  Berlin  sehr  gefördert  werden,  wenn 
die  in  § 5,  Al.  2 des  Statutenentwurfes  ins  Auge  gefasste 
Bildung  von  Kammern  sogleich  durch  das  Statut  zur  That- 
sache  gemacht  würde.  Bei  der  grossen  Ausdehnung  Berlins 
wäre  wohl  die  1 heilung  des  Gerichts  in  drei  oder  viel 
Kammern  für  die  drei  oder  vier  gewerblichen  Hauptbezirke 
der  Reichshauptstadt  im  Centrum,  im  Norden,  im  Osten 
und  im  Südwesten  eine  grosse  Erleichterung  für  den  Ver- 
kehr des  Publikums  mit  dem  Gericht.  Ferner  sollte  die 
Stadtverordnetenversammlung  erwägen,  ob  es  nothwendig 
ist,  dass  lediglich  Juristen,  wie  § 7 des  Entwurfes  will, 
zu  Vorsitzenden  ernannt  werden.  Das  Reichsgesetz  ver- 
langt dies  keineswegs,  vielmehr  kann  nach  seinen  Motiven 
„unter  Umständen  ein  vertrauenswürdiger  und  mit  den 
Verhältnissen  des  Lebens  näher  bekannter  Mann  sehr  wohl 
geeignet  sein,  in  der  Stelle  des  Vorsitzenden  erspriesslich 
zu  wirken,  auch  wenn  ihm  rechtsgelehrte  Bildung  abgeht“ 
(vgl.  hierzu  den  trefflichen  Kommentar  von  Stein,  Berlin 
1891,  Verlag  von  Fr.  Vahlen,  S.  106).  Endlich  giebt  das 
von  dem  Magistratsentwurf  vorgesehene  Wahlverfahren  zu 
Bedenken  Anlass;  hierauf  hat  sich  bis  jetzt  besonders  die 
Kritik  der  Arbeiter  (vgl.  „Vorwärts“,  Beilage  vom  31.  De- 
zember 1891)  konzentrirt,  ohne  übrigens  irgendwie  er- 
schöpfend gewesen  zu  sein.  Abweichend  z.  B.  vom  be- 
währten Statut  in  Frankfurt  a.  M.  will  der  Berliner  Entwurf 
in  § 13  das  System  der  Wahllisten  einführen  und  in  diese 
nur  diejenigen  Wahlberechtigten  eintragen,  welche  inner- 
halb einer  Präklusivfrist  an  bestimmten  Stellen  angemeldet 
werden.  Damit  würden  sehr  einseitige  W ählerlisten  ent- 
stehen, und  die  Entscheidung  bei  den  Wahlen  würde  regel- 
mässig in  den  Händen  zufällig  gut  organisirter  Minderheiten 
liegen.  Dieses  System  ist  ganz  nach  Wunsch  der  Innungen, 
die  mit  ihm  alle  anderen  Gewerbetreibenden  majorisiren 
dürften,  während  doch  gerade  durch  die  Wahlen  für  das 
Gewerbegericht  die  sozialpolitische  Theilnahme  der  bisher 
Gleichgültigen  angeregt  werden  soll.  Das  Frankfurter 
System,  bei  welchem  von  Listen  ganz  abgesehen  und  tüi 


No.  6. 


SOZTALPOI JTISCHES  CENTRALBLATT. 


75 


die  Wahl  lediglich  eine  einfache,  leicht  zu  beschaffende 
Legitimation  der  sich  Betheiligenden  vorgeschrieben  ist, 
verdient  entschieden  auch  für  Berlin  den  Vorzug.  Sodann 
müsste  in  sämmtlichen  Bezirken  für  die  Gesammtzahl  der 
Beisitzer  gestimmt  werden,  sodass  das  ebenfalls  anderweit 
bewährte  Listenskrutinium  Platz  griffe;  jedenfalls  dürfte  in 
§ 11,  Abs.  2 dem  Magistrat  nicht  überlassen  werden,  die 
Ziffer  der  zu  wählenden  Beisitzer  für  jeden  Bezirk  will- 
kürlich zu  bestimmen,  sondern  es  wäre  gleich  im  Statut 
mindestens  eine  Norm  festzusetzen  (z.  B.  die  Zahl  der  im 
Bezirk  vorhandenen  gewerblichen  Betriebe),  nach  welcher 
die  Bestimmung  stattzufinden  hätte.  Im  § 12  empfiehlt  sich 
vielleicht  die  Wahl  der  Wahlausschüsse  durch  das  Gewerbe- 
gericht, statt  ihre  Ernennung  durch  den  Magistrat.  Was 
dann  die  Dauer  des  Beisitzeramtes  anbelangt  (§  8),  so  hätte 
der  Entwurf  nicht  gerade  gleich  die  vom  Reichsgesetz  vor- 
gesehene Maximalfrist  von  6 Jahren  aufnehmen,  sondern 
Wahlperioden  von  kürzerer  Dauer  (2  Jahre)  fixiren  sollen, 
zur  Auffrischung  des  Beisitzerpersonals,  dessen  soziale  Ver- 
hältnisse in  6 Jahren  zu  grossen  Veränderungen  unterworfen 
sind.  Eine  so  lange  Wahlperiode  ist  nirgends  sonst  in 
einer  Grossstadt  mit  rasch  fortschreitendem  gewerblichen 
Leben  eingeführt.  Durch  den  Zusatz,  dass  alle  zwei  Jahre 
ein  Drittheil  der  Beisitzer  neu  gewählt  werden  soll,  ist 
ja  die  Berechtigung  dieses  Einwurfes  abgeschwächt,  aber 
doch  prinzipiell  zugegeben. 

Möge  nun  die  Organisation  des  reichshauptstädtischen 
Gewerbegerichts  nach  so  langen  Geburtsschmerzen  bald 
ihre  sachgemässe  Erledigung  durch  übereinstimmende  Be- 
schlüsse des  Magistrats,  der  Stadtverordneten  und  der  staat- 
lichen Aufsichtsbehörde  finden.  Man  wird  sich  dabei  in 
der  Reichshauptstadt  seitens  aller  Betheiligten  bewusst 
bleiben,  dass  die  Vorzüge  und  Mängel  der  neuen  Einrich- 
tung, wie  die  Dinge  nun  einmal  liegen,  für  die  Städte  des 
ganzen  Reichs  vorbildlich  wirken  dürften  und  deshalb  auf 
eine  Beseitigung  der  letzteren  doppelt  bedacht  sein  müssen. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
statistik. 

Ein  neuer  Lohnberechnungsplan. 

Eine  neue  Art  der  Lohnauszahlung  wird  in  jüngster 
Zeit  in  den  Vereinigten  Staaten  besprochen  und  die  kapi- 
talistischen Fachblätter  jenes  Landes  lenken  die  Aufmerk- 
samkeit auf  dieselbe. 

Dieser  neue  Plan  der  Unternehmer,  die  Arbeitsleistung 
der  von  ihnen  beschäftigten  Arbeiter  zu  berechnen,  wird 
der  „Prämienplan“  genannt.  Derselbe  geht  aus  von  einem 
Herrn  J.  A.  Halsey  aus  Sheerbrooke,  Canada,  welcher 
seinen  Vorschlag  kürzlich  vor  der  „American  Society  of 
Mechanical  Engineers“  in  einer  Vorlesung  näher  be- 
gründete. 

Da  die  Angelegenheit  von  allgemeinem  Interesse  ist, 
dürfte  die  Wiedergabe  der  hauptsächlichsten  Gesichtspunkte 
nicht  ohne  Nutzen  sein. 

Nach  Halsey  sind  die  drei  bestehenden  Arten  der 
Lohnzahlung  der  Arbeiter  folgende:  1.  die  Zahlung  nach 
Tagelohn,  bei  welchem  der  Arbeiter  nach  der  Zeit,  in 
der  er  beschäftigt  ist,  bezahlt  wird;  2.  die  Zahlung  nach 
gelieferter  fertiger  Arbeit,  die  Stückarbeit,  bei  der  die 
Leistung  des  Arbeiters  die  Grundlage  der  Lohnberech- 
nungbildet und  3.  die  Gewinnbetheiligung,  bei  welcher 
der  Arbeiter  neben  seinem  Lohne  am  Jahresschluss  einen 
Antheil  an  dem  erzielten  Geschäftsgewinn  überwiesen  erhält. 

Was  die  Zahlung  nach  Tagelohn  anlange,  so  sei 
bei  derselben  kein  rechter  Antrieb  für  den  Arbeiter  vor- 
hauden  und  er  werde  zu  nachlässiger  Arbeit  veranlasst,  so 


dass  der  Untefnehmer  den  höchsten  Preis  für  die  Arbeits- 
leistung zu  zahlen  habe. 

Die  Stückarbeit  sei  ein  Versuch,  diesem  Uebelstande 
— der  nicht  genügenden  Anfeuerung  des  Arbeiters  bei 
seiner  Arbeit  nämlich  — abzuhelfen.  Der  Unternehmer 
kalkulirt,  dass  irgend  ein  Stück  Arbeit,  welches  beim  Tage- 
lohn einen  Dollar  kostet,  bei  erhöhter  Anstrengung  des 
Arbeiters  für  80  Cents  herzustellen  sei.  Deshalb  bietet  er 
dem  Arbeiter  einen  Theil  des  Profits  an,  der  aus  den  herab- 
gesetzten Kosten  resultirt,  indem  er  dem  Manne  90  Cents 
für  jedes  Stück  zahlt.  Dies  geht  zunächst  recht  gut,  bis 
entweder  der  Arbeiter  findet,  dass  er  nach  harter,  er- 
höhter Anstrengung  nichts  verdient,  oder  dass  er  eine  so 
grosse  Anzahl  von  Stücken  fertiger  Arbeit  herstellt,  dass 
der  Unternehmer  den  bisher  gezahlten  Stückpreis  zu  be- 
schneiden beginnt,  und  in  diesem  Fall  der  Arbeiter  anfängt, 
weniger  intensiv  zu  arbeiten,  bis  dieselben  Uebelstände 
wie  früher  sich  einstellen. 

Bei  der  Gewinnbetheiligung  erhält  jeder  Arbeiter  einen 
gleichen  Antheil  an  dem  Profit  des  Geschäftes.  Diese  Gleich- 
heit sei  bei  diesem  System  das  Uebel.  Ein  fleissiger  schwer 
arbeitender  Mann  erhält  hierbei  denselben  Antheil,  wie  eine 
Schaar  faullenzender  Bursche,  und  der  erstere  habe  keinen 
persönlichen  Gewinn  von  seiner  grösseren  individuellen 
Anstrengung.  Hierzu  komme,  dass  bei  diesem  System  keine 
Rücksicht  auf  schlechte  Geschäftsjahre  genommen  werde, 
und  der  Arbeiter,  welcher  an  dem  Profit  der  guten  Jahre 
Theil  nimmt,  murre,  wenn  ihm  zugemuthet  wird,  auch 
an  den  Verlusten  zu  participieren.  Vom  Standpunkte  des 
Unternehmers  zahle  dieser  bei  der  Gewinnbetheiligung  den 
Arbeitern  Profite,  mit  denen  sie  nichts  zu  thun  haben, 
z.  B.  einen  Antheil  an  dem  durch  reduzirte  Unkosten  im 
kommerziellen  Vertriebe  oder  durch  systematischere  Fabri- 
kationsweise erzielten  Gewinn.  Der  Arbeiter  sei  bei  Ein- 
führung der  Gewinnbetheiligung  froh,  ausser  seinem  Lohne 
etwas  zu  erhalten,  und  begriisse  seinen  Antheil  als  Bonus 
über  sein  bisheriges  Total-Einkommen.  Nach  und  nach 
aber  glaube  er,  dass  die  Bestimmungen  der  Abmachung 
nicht  innegehalten  werden,  und  die  Streitigkeiten  beginnen. 
Der  einzige  Weg  für  den  Unternehmer,  die  Angelegenheit 
zu  regeln,  sei,  dass  er  seine  Bücher  zeigt,  und  falls  er  selbst 
hierzu  bereit  sein  sollte  — was  nicht  Jeder  ist  — so  gebe  es 
doch  wenig  Arbeitercomitees,  die  genügend  in  der  Wissen- 
schaft des  Gewinns  und  Verlustes  bewandert  sind,  um  den 
Gegenstand  zu  begreifen. 

Dagegen  sei  der  Prämienplan  ein  Versuch,  alle  Uebel- 
stände zu  beseitigen,  die  den  übrigen  Systemen  der  Lohn- 
zahlung anhaften,  und  Herr  Halsey  entwickelte  denselben 
in  folgender  Weise. 

Zunächst  werde  ein  den  Umständen  angemessener 
(reasonable)  Voranschlag  über  die  Zahl  der  Stunden  ge- 
macht, die  zunächst  zur  Herstellung  eines  bestimmten  Stückes 
Arbeit  nöthig  seien,  sodann  einige  man  sich  über  den  Stun- 
denlohn, der  gezahlt  werden  solle.  Für  jede  Stunde,  die 
der  Arbeiter  bei  Herstellung  der  betreffenden  Arbeit 
weniger  gebrauche,  als  der  Voranschlag  vorgesehen,  er- 
halte er  eine  auf  einer  vereinbarten  Skala  basirte  Prämie. 
Diese  Stunden-Prämie  müsse  geringer  sein,  als  der  Stun- 
denlohn, so  dass,  wenn  eine  Stunde  gespart  ist,  die 
Kosten  des  Stückes  für  den  Unternehmer  kleiner  seien, 
und  gleichzeitig  der  Verdienst  des  Arbeiters  sich  ver- 
grössere.  Man  nehme  einen  Fall,  wie  ihn  die  folgende 
Tabelle  zur  Grundlage  hat: 


1. 

2. 

3. 

4- 

5. 

Verbrauchte 

Zeit. 

Stunden 

Lohn 

pro  Stück. 
$ 

Prämie. 

$ 

Gesammtkosten 
der  Arbeit 
Rubrik  2 + 3. 

Lohn  des 
Arbeiters  pro 
Stunde 

= Rubrik  4/1. 

S 

10  .... 

3,00 

0,00 

3,00 

0,30 

9 ...  . 

2,70 

0,15 

2,85 

0,317 

8 ...  . 

2,40 

0,30 

2,70 

0,333 

7 ...  . 

2,10 

0,45 

2,55 

0,364 

6 ...  . 

1,80 

0,60 

2,40 

0,40 

5 ...  . 

1,50 

0,75 

2,25 

0,45 

76 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  6. 


Wenn  ein  Mann  zehn  Stunden  brauche,  um  ein  Stück 
Arbeit  zu  beendigen,  und  sein  Stundenlohn  betrage  30  Cents, 
so  würde  die  Summe  seines  Tagelohnes  Doll.  3,00  ausmachen. 
Beende  er  dagegen  seine  Arbeit  in  acht  Stunden,  so  würde 
er  8 Mal  30  Cents,  das  ist  Doll.  2,40  als  seinen  gewöhn- 
lichen Lohn  erhalten  und  zusätzlich  der  Prämie  von 
15  Cents  per  Stunde  für  die  zwei  Stunden,  die  er  gespart 
hat,  so  dass  sein  Tagelohn  Doll.  2,70  oder  33“/4  Cents  per 
Stunde  betragen  würde,  während  die  Lohn  Unkosten  des 
Unternehmers  für  das  Stück  Arbeit  um  30  Cents  reduzirt 
sein  würden.  In  diesem  Falle  wären  die  Unkosten  des 
Unternehmens  um  lOpCt.  verringert,  während  der  Stunden - 
lohn  des  Arbeiters  sich  um  die  gleiche  Rate  erhöhte.  Die 
Stundenprämie  müsste  sorgfältig  festgesetzt  und  konsequent 
beibehalten  werden,  bis  verbesserte  Maschinerie  oder  ähn- 
liche Ursachen  eine  neue  Grundlage  der  Berechnung  noth- 
wendig  machen.  Sollte  der  Unternehmer  heisshungrig  sein 
und  versuchen,  die  Prämienrate  herabzusetzen,  so  wurde  er 
die  Citrone  zu  sehr  ausquetschen  und  seine  Absicht  selbst 
vereiteln,  da  der  Arbeiter  dann  einfach  langsamer  arbei- 
tete. Ist  andererseits  die  Prämie  zu  hoch,  so  zahle  dei 
Unternehmer  zu  grosse  Löhne,  aber  trotzdem  würde  er  immei 
noch  billiger  dabei  fahren,  als  vor  Einführung  des  Pramien- 

systems.  . J 

Soweit  die  Ausführungen  des  Herrn  F.A.  Halsey,  der, 
das  muss  man  ihm  lassen,  es  mit  grossem  Scharfsinn  ver- 
standen hat,  einen  Plan  auszuhecken,  durch  den  die  Arbeiter 
zur  höchsten  physisch  möglichen  Anstrengung  veran  asst 
werden  sollen.  Dieser  Plan  ist  ein  Versuch,  durch  eine 
Prämie  den  Arbeiter  zu  veranlassen,  das  höchst  mögliche 
Arbeitsprodukt  in  möglichst  kurzer  Zeit  herzustellen  und 
ihn  durch  den  verlockend  hohen  Lohn  der  S tun  denarbeit 
zu  bewegen,  möglichst  viele  Stunden  des  I ages  zu  arbeiten 
und  die  allgemeine  Arbeitszeit  zu  verlängern. 

Es  wird  nicht  nöthig  sein,  hier  aut  die  allgemeinen 
ökonomischen  Ursachen  näher  einzugehen,  die  bei  Einfüh- 
rung des  Prämienplanes  den  etwaigen  höheren  Lohn  der 
Arbeiter  bald  wieder  auf  das  alte  Niveau  herabdrücken 
würden;  nur  einige  Worte  noch  über  den  unmittelbaren 
Vortheil,  den  derselbe  für  den  Unternehmer,  und  den  un- 
mittelbaren Nachtheil,  den  derselbe  für  den  Arbeiter 

bedeutet.  . . . .,  , 

Mehr  noch  als  die  Akkordarbeit,  ist  die  Arbeit  nach 
dem  Prämiensystem  eine  Mordarbeit.  Die  Extravergütung, 
die  Jeder  erhält,  der  seine  Arbeit  in  kürzester  Zeit  fertig- 
o-estellt,  — nicht  beendet  hat,  denn  es  wird  fortgearbeitet  - 
spornt  den  Arbeiter  zur  Aufwendung  aller  seiner  Kraft  an, 
welche  er  natürlich,  da  die  Kraft  begrenzt  ist,  bald  veraus- 
gabt, um  vorzeitig  zu  altern.  Bei  der  Stückarbeit  erhalt  der 
Arbeiter  wenigstens  von  vorneherein  für  das,  was  er  m 
FoDe  seiner  erhöhten  Anstrengung  mehr  erzeugt  als  m 
der  nach  Tagelohn  gezahlten  Arbeit,  durchschnittlich  den- 
selben Lohnsatz  berechnet.  Beim  Prämiensystem  bean- 
sprucht der  Unternehmer  von  vorneherein  einen  Extra- 
antheil  von  dem  Mehrerzeugniss  des  Arbeiters.  Der  Vor- 
theil, der  ihm  durch  die  grössere  Leistung  des  Arbeiters 
an  sich  (durch  Verbilligung  der  Betriebsunkosten)  erwächst, 
o-enügt  dem  Unternehmer  des  Prämiensystems  nicht.  Er 
verlangt  eine  Prämie  für  die  erhöhte  Leistung  des  Arbei- 
ters, indem  er,  je  rascher  das  Produkt  fertig  wird,  desto 
weniger  dafür  zahlt. 

Wenn  es  nun  auch  kaum  anzunehmen  ist,  dass  die 
Lohnzahlung  nach  diesem  Prämiensystem  in  solchen  Arbeits- 
branchen eingeführt  werden  kann,  in  denen  kräftige  Orga- 
nisationen der  Arbeiter  ihr  Interesse  wahren,  so  ist  doch 
nicht  ausgeschlossen,  dass  sie  dort  Eingang  findet,  wo  die  Ai  - 
beiter  unorganisirt  sind  und  infolge  der  maschinellen  Entwick- 
lung oder  der  Verwendung  billiger  Arbeitskraft  von  frisch 
Eingewanderten  dem  Unternehmer  ohnmächtig  gegenüber- 
stehen. Es  ist  daher  nicht  unwahrscheinlich,  dass  das  Prä- 
miensystem auch  noch  eine  Rolle  in  den  Kämpfen  der 
amerikanischen  Arbeiter  spielen  wird. 

New- York.  H-  Schlüter. 


Bernfsgenossenschaften  in  der  Schweiz.  ln  einer 

früheren  Session  des  schweizerischen  Nationalraths  hatte 
Herr  Favon  den  Antrag  gestellt,  es  sollen  die  Kantone  er- 
mächtigt werden,  für  gewisse  Industrien  obligatorische  Be- 
rufsgenossenschaften einzuführen.  Dieser  Antrag  ist  jetzt 
zurückgezogen  und  durch  einen  anderen  ersetzt  worden, 
welche  von  den  Herren  Favon,  Comtesse,  Decurtins  und 
Voo-elsanger  unterzeichnet  und  folgenden  Wortlaut  hat. 

„Der  Bundesrath  wird  eingeladen,  über  die  Frage 
Bericht  und  Antrag  einzubringen,  ob  es  nicht  angezeigt 
wäre,  Art.  31  der  Bundesverfassung  im  Sinne  der  Ermög- 
lichung der  Bildung  von  Bernfsgenossenschaften  zu  modi- 
fiziren,  welche  die  Aufgabe  hätten: 

1 . Die  Arbeitsverhältnisse  in  den  verschiedenen  Gewerben 

2.  die  Elemente  zur  Bestellung  ständiger  Schiedsgerichte 

zu  bilden,  welche  von  Rechtswegen  in  allen  Streitig- 
keiten zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  zu 
entscheiden  hätten.  , 

„Er  wird  eingeladen,  insbesondere  nachfolgende 
Punkte  zu  prüfen:  empfiehlt  es  sich,  in  der  Schweiz 
obligatorische  Berufsgenossenschaften  ins  Leben  zu  rufen, 
oder  empfiehlt  es  sich  eher,  freiwillige  Berufsgenossen- 
schaften mit  gesetzlichen  Kompetenzen  zu  dem  Zwecke 
auszurüsten,  um  für  jedes  Gewerbe  zu  ordnen. 

a)  den  Normalarbeitstag, 

b)  den  Minimallohn, 

c)  das  Lehrlingswesen, 

und  die  genaue  Anwendung  des  Gesetzes  übei  die  Arbeit 
in  den  Fabriken,  sowie  die  hygienischen  Verhältnisse  der 
Arbeitslokale  zu  überwachen.“  , „ ,. 

Es  ist  auffallend,  dass  man  nicht  lieber  herzhaft  die 
Revision  des  Fabrikgesetzes  und  vermittelst  der  Revision  der 
Bundesverfassung  den  Erlass  einer  eidgenössischen  Ge- 
werbeordnung verlangt,  welche  alle  diese  Dinge  rege  n 
würde  und  auch  hinsichtlich  des  Arbeiterschutzes  im  Klem- 
o-ewerbe  einmal  Ordnung  schaffte.  Das  wäre  doch  gewiss 
vernünftiger  als  diese  zahllosen  Anträge,  die  bestenfalls  , 
Halbheiten,  Flickereien  und  willkürliche  Gesetzesinter- 
pretationen bringen. 

Agitation  (1er  Bodenreformer  in  England.  Während 
die  deutschen  Bodenreformer  ihr  Hauptaugenmerk  auf  die 
kleinbürgerlichen  Kreise  zu  richten  scheinen,  haben  ihre 
englischen  Gesinnungsgenossen  unter  der  jeder  politischen 
Propaganda  so  schwer  zugänglichen  Klasse  der  Landarbeiter 
Anhänger  zu  werben  verstanden.  In  Erwägung,  dass  alle  j 

Versuche  der  städtischen  Arbeiter,  ihre  Lage  zu  verbessern,  t 

durch  den  Zuzug  ländlicher  Arbeitskräfte  gehindert  werden,  < 
und  dass  die  Lohn-  und  Landfrage  im  innigen  Zusammen-  , 
hange  stehen,  beschloss  die  „English  Land  Restoration  * 
League“  die  Landarbeiter  selbst  über  ihre  Interessen  au 
zuklären.  Zu  diesem  Behufe  setzte  sich  der  \ orstand  uei 
Gesellschaft,  dem  u.  a.  Miss  Taylor,  die  Stieftochter  John 
Stuart  Mill’s,  und  der  bekannts  Geistliche  Rev.  Headlam 
angehören,  mit  der  „Eastern  Counties  Labour  Federation“ 
einem  seit  1890  bestehenden  Landarbeiter  verein  in  Verbin- 
dung und  sandte  seine  Redner  nach  der  Grafschaft  Suttolk, 
wo  dieselben  vom  April  bis  Oktober  1891  nicht  wenmei 
als  165  Meetings  abhielten.  Ein  Hinderniss,  das  sich  der 
Landpropaganda  in  der  Regel  entgegenstellt,  der  Mangel 
an  Versammlungslokalen,  wurde  in  höchst  origineller  \\  eise 
beseitigt.  Die  Gesellschaft  erwarb  nämlich  eine  Postkutsche, 
die  als0 Mittel  zur  Beförderung  von  Agitationslitteratur,  als 
Platform  und  als  Schlafstelle  für  die  mit  der  Agitation  be- 
trauten Personen  diente.  Wenn  die  rothe  Kutsche  m _em 
Dorf  kam,  heisst  es  im  Bericht  der  Liga  (Among  the  Suflotk 
Labourers  with  the  red  Van)  so  wurde  sie  an  einer  weithin 
sichtbaren  Stelle  plaziert.  So  erregte  sie  bald  die  allge- 
meine Aufmerksamkeit.  Der  nächste  Schritt  bestand  darin, 
den  Schulkindern  beim  Verlassen  der  Dorfschule  hlug- 
blätter  einzuhändigen  und  sie  über  den  Ort  des  Meetings 
zu  instruiren.  Am  Tage  wurden  andere  Flugblätter  untei 
der  Dorfbevölkerung  verbreitet  und  die  Lage  der  Arbeitei 
erforscht,  während  Abends  stets  Versammlungen  stattlanden. 
Der  Erfolg  dieser  originellen  Propaganda  blieb  nicht  aus. 

Es  bildeten  sich  83  neue  Sektionen  des  Landarbeitervereins 
und  seine  Mitgliederzahl  stieg  von  2500  aut  7128. 


Englisches  Genossenschaftswesen.  Dem  von  der  eng- 
lischen in  Verbindung  mit  der  schottischen  Grosshandels- 
genossenschaft herausgegebenen  Jahrbuche  für  1892  en  - 
nehmen  wir  folgende,  für  die  glänzende  Entwicklung  des 


No.  6. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRÄLBLATT. 


77 


Genossenschaftswesens  in  Grossbritannien  charakteristische 
Daten: 

Die  Mitgliederzahl  der  1621  grossbritannischen  Genossen- 
schaften, welche  Berichte  erstatten,  belief  sich  Ende  1889 
auf  I 071  089,  der  gesammte  Umsatz  auf  813  Milk  Mk.,  der 
Reingewinn  auf  74'/2  Mill.  Mk. 

In  der  englischen  Grosshandelsgenossenschaft  waren 
1890  924  Genossenschaften  mit  837  435  Mitgliedern  vereinigt. 
Ihr  Umsatz  betrug  148  Milk  Mk.  und  der  Reingewinn 
2 1/2  Milk  Mk.  Ende  September  1891  standen  4649  Personen 
in  dem  Dienste  der  Grosshandelsgenossenschaft;  davon 
waren  1706  Personen  in  den  Schuhfabriken  derselben  zu 
Leicester  beschäftigt.  Die  Genossenschaften  bezogen  von 
der  Grosshandelsgenossenschaft  im  Jahre  1890  für 
109  600  000  Mk.  Lebensmittel,  für  10  940  080  Mk.  Kleidungs- 
stücke, für  1520  000  Mk.  Wollenstoffe,  für  7 500  000  Mk. 
Schuhe  und  Stiefel  und  für  4 660  000  Mk.  Eisenwaaren  und 
Möbel. 

Neben  der  englischen  besteht  noch  eine  besondere 
schottische  Grosshandelsgenossenschaft.  Ihr  Umsatz  wird 
für  das  mit  Ende  Juni  1891  schliessende  Geschäftsjahr  mit 
52  Milk  Mk.  (gegen  46  Milk  Mk.  im  Vorjahre)  angegeben. 
Die  Mitgliederzahl  derjenigen  Genossenschaften,  welche  die 
genannte  Grosshandelsgenossenschaft  bilden,  belief  sich  auf 
109  647.  Neu  errichtet  wurde  im  abgelaufenen  Jahre  eine 
Konservenfabrik,  deren  Entwicklung  sich  so  günstig  ge- 
staltet hat,  dass  man  bereits  Vorsorge  trifft,  ihre  Leistungs- 
fähigkeit zu  verdoppeln.  Sodann  wurde  ein  grosses  Fabrik- 
gebäude aufgeführt,  um  in  demselben  die  Wirkwaaren-, 
Mäntel-  und  Wäsche  - Abtheilung  entsprechend  unterzu- 
bringen. Da  der  Umsatz  der  Grosshandelsgenossenschaft 
in  Tabak  und  Tabakfabrikaten  jährlich  ungefähr  auf  2 Milk 
Mk.  sich  beziffert  hat,  ist  auch  eine  mit  den  neuesten  und 
vollkommensten  Maschinen  ausgestattete  Tabakmanufaktur 
eingerichtet  worden.  Die  Kleider-  und  die  Möbelfabrik 
haben  wesentliche  Erweiterungen  aufzuweisen.  Zur  Unter- 
stützung für  die  Vieheinkauf- Abtheilung  hat  man  eine  Farm 
gepachtet.  Ausserdem  soll  im  nächsten  Jahre  eine  Mühle 
in  der  Nähe  Edinburghs  errichtet  werden. 

Ausser  der  Verzinsung  des  eingezahlten  Kapitals  er- 
hielten die  Mitglieder  2,8%  vom  Betrage  ihrer  Einkäufe  als 
Dividende,  und  den  2006  im  Dienste  der  Genossenschaft 
befindlichen  Personen  konnte  eine  Prämie  von  nahezu 
4%  des  von  ihnen  verdienten  Lohnes  gewährt  werden. 


Arbeiterzustände. 


Das  Trucksystem  in  England. 

Einer  der  empfindlichsten  und  gefährlichsten  Uebel- 
stände  im  Industrie  wesen  der  Gegenwart  ist  die  Auslohnung 
der  Arbeiter  in  Waaren  aller  Art  statt  in  baarem  Gelde  — 
das  sogenannte  Trucksystem.  Empfindlich,  weil  es  den  so 
oft  unter  kargem  Verdienste  leidenden  Arbeitern  die 
Befriedigung  ihrer  Bedürfnisse  nur  unvollkommen  gestattet; 
gefährlich,  weil  es  sie  in  grosse  Abhängigkeit  von  den 
Unternehmern  bringt  und  ihr  Vorwärtskommen  auf  dem 
Wege  solider  Ersparniss  erschwert.  Aber  um  gerecht  zu 
sein,  ist  dieses  System  nicht  ein  Ausfluss  der  modernen 
Fabriken.  Vielmehr  handelt  es  sich  um  ein  alteingewurzeltes 
Uebel,  das  in  England  bereits  1464  gesetzliche  Verbote 
nöthig  machte  und  in  Deutschland  (Solingen)  in  der  zweiten 
Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  Verordnungen  hervorrief.  Die 
moderne  Produktionsweise  mit  ihrem  auf  die  Beschaffung 
billiger  Arbeitskräfte  gerichteten  Streben  griff  nur  eine 
vorhandene  Einrichtung  auf,  die  sie  allerdings  dann  zu 
seltener  Verzerrung  brachte. 

Dass  das  Uebel  zu  grosser  Höhe  emporwachsen  konnte, 
ist  um  so  bemerkenswerther,  als  es  an  obrigkeitlicher  Ueber- 
wachung  nicht  fehlte.  In  England  folgten  seit  dem  ge- 
nannten Gesetze  bis  1887  nicht  weniger  als  18  Verfügungen, 
die  alle  dem  Missbrauche  steuern  wollten,  die  meisten  — 
nämlich  12  — im  Laufe  des  vorigen  Jahrhunderts,  d.  h.  in 
der  Periode,  während  welcher  die  Entstehung  der  Fabriken 
vor  sich  ging.  Um  dieselbe  Zeit  sah  man  auch  in  Deutsch- 


land, in  der  Solingensehen  Metallindustrie,  dem  einreissenden 
Uebel  nicht  ruhig  zu.  Die  hier  sich  ausbreitende  Haus- 
industrie bewirkte  unter  ihren  Arbeitern  die  gleiche  soziale 
Missbildung  wie  später  das  Fabriksystem  und  schon  1724 
musste  ein  besonderer  Ausschuss  mit  der  Untersuchung  der 
Frage  betraut  werden.  Indessen  seine  Feststellungen  so 
wenig,  wie  die  späteren  kurfürstlichen  Erlasse  von  1777 
und  1789  vermochten  das  Unwesen  zu  beseitigen.  Bis  auf 
den  heutigen  Tag  macht  man  die  beschämende  Wahr- 
nehmung, dass  die  Fälle  des  Trucks  nicht  aufhören. 

Greift  man  zum  neuesten  Jahrgang  der  amtlichen 
Mittheilungen  der  deutschen  Fabrikinspektoren  1890 
so  liest  man  freilich,  dass  im  Allgemeinen  die  Anwendung 
des  Trucksystems  nur  selten  noch  beobachtet  wird.  Gleich- 
wohl werden  mehrere  Fälle  von  Verurteilungen  wegen 
Abgabe  und  Kreditirens  von  Nahrungsmitteln  erzählt  und 
für  einzelne  Gegenden  Vermuthungen  ausgesprochen,  dass 
nicht  alles  in  Ordnung  sei,  obgleich  eine  direkte  Ueber- 
tretung  der  bezüglichen  Vorschriften  der  Gewerbeordnung 
nicht  nachweisbar  war.  Klingt  dies  scheinbar  günstig,  so 
darf  nicht  übersehen  werden,  dass  dem  Auge  auch  des 
wachsamsten  Beamten  mancher  Fall  sich  entziehen  muss, 
zumal  die  Arbeiter  wegen  der  ihnen  drohenden  Gefahr,  ihre 
Beschäftigung  zu  verlieren,  selbst  an  der  Geheimhaltung 
interessirt  sind.  Ferner  aber  kommt  in  Betracht,  dass  es 
gerade  die  der  Aufsicht  der  Fabrikinspektoren  viel  weniger 
unterliegende  Hausindustrie  ist,  in  der  der  Truckunfug 
einen  grossen  Platz  inne  hat.  Gesetzlich  verboten  ist  er 
allerdings  auch  für  deren  Personal.  Da  nun  Jahr  für  Jahr 
unsere  Fabrikinspektoren  über  einige  Truckfälle  zu  berich- 
ten haben,  so  bleibt  keine  andere  Annahme  übrig,  als  dass 
in  dieser  Beziehung  die  Zustände  noch  weit  davon  entfernt 
sind,  zufriedenstellende  zu  sein. 

Das  Gleiche  gilt,  wie  der  neueste  „Report  of  the  Chief 
Inspector  of  Factories  and  workshops“1)  erkennen  lässt,  für 
England.  Die  Unzulänglichkeiten  des  Truckgesetzes  von 
1831,  das  theilweise  nicht  weit  genug  ging,  sich  z.  B.  auf 
den  Eisenbahnbau  nicht  erstreckte,  theilweise  umgangen 
oder  gröblich  verletzt  wurde2),  bewirkten  erst  kürzlich 
1887  ein  Ergänzungsgesetz.  Indess  selbst  dieses,  obwohl 
es  mit  seiner  Feststellung  des  Begriffs  eines  Handarbeiters 
(artificer)  seine  Ausdehnung  und  Anwendung  auf  jede  Art 
von  Arbeitern  gestattet,  die  in  dem  Employers  und  Work- 
man  Act  von  1875  näher  bezeichnet  ist,  hat  noch  nicht 
völlige  Besserung  zu  erzielen  vermocht.  Besonders  der  dem 
„Inspector  for  the  Western  Division  of  the  Metropolis  and 
neighbouring  counties“,  Herrn  Gould,  unterstellte  Bezirk 
lässt  so  viel  zu  wünschen  übrig,  dass  der  Herr  Ober- 
inspektor Redgrave  Veranlassung  genommen  hat,  dessen 
Bericht  über  das  in  Frage  stehende  Thema  wörtlich  in  den 
seinigen  einzurücken. 

Herr  Gould  spricht  sich  dahin  aus,  dass  das  Truck- 
system ursprünglich  in  guter  Absicht  Eingang  fand.  Es 
wurde  namentlich  von  den  grossen  Eisenbahnunternehmern 
angewandt,  die  mit  ihren  Arbeiterschaaren  von  Ort  zu  Ort, 
in  dem  Masse  als  der  Bau  vorwärts  rückte,  weiter  ziehend 
diesen  Gelegenheit  bieten  wollten,  sich  in  den  ihnen 
fremden  Gegenden  bequem  mit  dem  nöthigen  Lebensunter- 
halt versehen  zu  können.  In  solchen  Fällen,  sowie  in  ein- 
sam, entfernt  von  einem  städtischen  Markt  gelegenen 
Fabriken,  konnte  das  System  eine  wirkliche  Erleichterung 
für  den  Arbeiter  bedeuten.  In  späterer  Zeit  gewinnt  es, 
besonders  wenn  die  Zeiten  schlecht  sind  und  Beschäftigung 
schwer  zu  erlangen  ist,  den  Charakter  vollkommener  und 
drückendster  Tyrannei.  Wo  immer  es  wirksam  war,  hat  es 
dazu  beigetragen,  die  Arbeiterklasse  zu  entsittlichen  und 
tiefer  herabzudrücken,  hat  ihre  Unabhängigkeit,  soweit 
noch  vorhanden,  zerstört  und  sie  ganz  in  die  Gewalt  ihrer 
Brotherren  gegeben,  aus  der  sie  sich  nur  schwer  empor- 
heben können. 

V)  Für  das  am  31.  Oktober  1890  endende  Gerichtsjahr. 

2)  Vgl.  Samuel  Moore,  Das  Trucksystem  in  Grossbrittanien 
im  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  II,  S.  219— 258.  In  derselben 
Zeitschrift,  S.  340  und  ff.  ist  auch  me  1887  er  Truck- Amendement- 
Act  abgedruckt. 


78 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  6. 


Für  die  Gegenwart  nimmt  er  an,  dass  in  den  grossen 
Industrie-Mittelpunkten  das  verhängnissvolle  System  fast 
ganz  verschwunden  sei.  Manche  Ursachen  haben  dazu  bei- 
getragen, es  allmälig  auszurotten:  das  Aufkommen  neuer 
Industriezweige,  die  Centralisationsbestrebungen  der  ver- 
schiedenen Gewerbe,  der  erleichterte  Verkehr  zwischen 
den  eigentlichen  Industriestätten,  die  Verbindung  von 
Dörfern  und  Städten  durch  die  Eisenbahn,  nicht  zuletzt 
der  Einfluss  der  Gewerkvereine.  Dagegen  ist  ihm  in  den 
ländlichen  Distrikten,  besonders  in  von  den  grossen  Handels- 
und Verkehrsstrassen  abgelegenen  Gegenden  nicht  recht 
beizukommen  und  hier  werden  noch  immer  ungestraft 
Uebertretungen  der  gesetzlichen  Bestimmungen  begangen. 

So  verweist  Herr  Gould  auf  ein,  etwa  16  Meilen  von 
Oxford,  einsam  auf  den  Gipfel  der  Chiltern  Hills  belegenes 
Dorf,  dessen  Bevölkerung  sich  mit  der  Anfertigung  von 
Stuhlbeinen,  Sitzen  u.  dgl.  m.  beschäftigt.  Hier  beflnden 
sich  2 oder  3 Fabriken  (factories)  und  eine  Anzahl  kleinerer  I 
Werkstätten,  die  ausschliesslich  auf  diesen  Betrieb  ein- 
gerichtet sind.  Fast  alle  Unternehmer  haben  Läden, 
Magazine  oder  Bierkneipen  eröffnet  und  zwingen  ihre  Ar- 
beiter in  diesen  die  zu  ihrem  Unterhalt  erforderlichen 
Bedarfsartikel  einzukaufen.  Nur  ein  einziger  Unternehmer 
pflegt  seinen  Leuten  wöchentlich  ihren  vollen  Lohn  baar 
auszuzahlen.  Die  Bevölkerung  hat  ein  träumerisches,  nieder- 
gedrücktes, höchst  armseliges  Aussehen.  „Einen  besonders 
erbärmlichen  Anblick  bot  ein  armer  Tropf,  der  buchstäb- 
lich mehr  als  halb  verhungert  aussah  und  mit  wenigen 
Lumpen  bekleidet  war,  die  man  kaum  noch  Kleider  nennen 
konnte.  Er  klagte  mir,  völlig  gebrochenen  Herzens,  sein 
Elend,  dass  er  selten  oder  fast  nie  baares  Geld  in  die  Hand 
bekäme.“  Die  in  diesen  Läden  veräusserten  Waaren  sind 
von  der  denkbar  schlechtesten  Qualität;  aber  der  Arbeiter 
hat  keine  Wahl,  denn  er  ist  dem  Unternehmer  beinahe 
immer  verschuldet  und  wenn  die  Zahltage  kommen,  so 
stellt  sich  oft  heraus,  dass  die  Schuld  grösser  ist  als  der 
verdiente  Lohn. 

In  einem  andern  winzigen  Dörfchen,  gleichfalls  aut 
den  Chilterns  gelegen,  ist  die  Hauptpersönlichkeit  der  Post- 
meister, der  ein  Waarenmagazin  unterhält  und  eine  Ziegel- 
hütte betreibt.  Er  veranlasst  alle,  die  bei  ihm  arbeiten,  in 
seinem  Laden  einzukaufen.  Baares  Geld  gelangt  an  den 
Lohntagen  selten  zur  Auszahlung;  gewöhnlich  wird  der 
Lohn  in  schlechtem  Speck,  noch  schlechterem  Käse  und 
zweifelhaften  Kolonialwaaren  ausgeglichen.  Die  Unglück- 
lichen müssen  es  sich  gefallen  lassen,  denn  bei  etwaigen 
Beschwerden  lautet  die  Antwort:  „Nimm  meine  Waaren, 
oder  suche  Dir  anderswo  eine  Beschäftigung.“ 

In  einem  dritten  Dorfe  an  den  Grenzen  von 
Oxfordshire  und  Buckinghamshire  eröffnete  ein  Stuhlbein- 
fabrikant einen  Bierausschank  und  bestand  daraut,  dass 
seine  Arbeiter  ihr  Getränk  bei  ihm  holten.  Diesen  hat  man 
leicht  fassen  können,  indem  man  ihn  der  Steuerbehörde 
anzeigte,  da  er  ohne  Licenz  ein  Fass  Bier  verschänkte. 

In  einem  Dorfe  in  Middlessex,  etwa  2 — 3 Meilen  von 
der  nächsten  Stadt,  vereinigt  ein  unternehmendes  Genie 
die  Berufe  eines  Gastwirths,  Materialwaarenhändlers,  Bau- 
unternehmers, Ziegelstreichers  und  Sägemüllers  und  versteht 
seine  günstige  Stellung  auszubeuten.  Seine  Arbeiter  wohnen 
in  seinen  Hütten,  müssen  sich  in  seinem  Laden  oder  Gast- 
hause mit  dem  Nothwendigen  versehen  und  empfangen  statt 
des  baaren  Lohns  kleine  Metallstücke,  die  ihnen  zu  einem 
Schilling  angerechnet  werden.  In  allen  Läden  oder  Bier- 
häusern, zu  denen  der  Unternehmer  Beziehungen  hat, 
werden  diese  Zeichen  entgegengenommen,  doch  nur  für 
11  Pence,  so  dass  die  elenden  Besitzer  noch  10%  von 
ihrem  sauer  verdienten  Lohne  einbüssen. 

Sicherlich  würden  solche  Vorkommnisse  wie  die  er- 
zählten selbst  unter  der  Herrschaft  der  neuen  Akte 
mehr  zur  Sprache  kommen,  wenn  die  schon  ohnehin 
überbürdeten  Inspektoren  genügend  Zeit  übrig  hätten,  alle 
Uebertreter  des  Gesetzes  aufzustöbern.  Allerdings  sollen 
sie  (Art.  13)  nach  den  neuen  Zusätzen  die  Pflicht  haben, 
den  Bestimmungen  innerhalb  ihrer  Distrikte  Nachdruck  zu 


verschaffen,  aber  doch  nur  insofern,  als  Fabriken,  Werk- 
stätten und  Bergwerke,  die  jeweilig  von  ihnen  inspizirt 
werden,  in  Betracht  kommen.  Wenn  man  nun  auch  das 
Vertrauen  in  sie  setzen  darf,  dass  sie  ihrer  I flicht  nach 
besten  Kräften  eingedenk  sein  werden,  so  haben  diese 
Kräfte  ihre  Grenzen  und  sie  können  nicht  alle  die  ihnen 
überwiesenen  Etablissements  regelmässig  aufsuchen. 

Selbst  wenn  aber  die  Inspektoren  in  ihren  Bezirken 
vollständig  herum  kämen  und  alle  mit  dem  gleichen  aus- 
dauernden Eifer,  wie  Herr  Gould  es  offenbar  thut,  das 
Trucksystem  verfolgten,  so  ständen  seiner  gänzlichen  \ er- 
nichlung  spezifische  Schwierigkeiten  entgegen.  Einmal 
gelangen  nicht  alle  Fälle  zur  Kenntniss  des  Beamten  und 
tst  es  nicht  immer  möglich,  die  Zeugen  zu  beschaffen  weil  die 
unter  der  Alternative  Beschäftigungslosigkeit  oder  stilles 
Dulden  stehenden  Arbeiter  selbst  Schweigen  beobachten. 
Zweitens  verbietet  kein  Gesetz  einem  Fabrikanten,  einen 
Laden  zu  eröffnen,  folglich  kann  man  keinen  Arbeiter 
hindern,  dort  einzukaufen  und  Schulden  zu  machen.  Selbst 
wenn  also  die  Lohnzahlung  wöchentlich  in  baarem  Gelde 
erfolgte,  so  würde  ein  Theil  der  Arbeiter  immer  mit  den 
im  Unternehmerladen,  wo  man  ihm  bereitwilligst  Kredit 
gewährte,  aufgelaufenen  Schulden  zu  ringen  haben.  Das 
Beste  wäre  ein  gesetzliches  Verbot  für  Llnternehmer  Läden 
zu  halten,  in  denen  sie  ihren  Arbeitern  Waaren  aller  Art 
feilböten.  Doch  das  würde  man  nicht  nur  in  England  als 
einen  unberechtigten  Eingriff  in  die  wirtschaftliche  Freiheit 
ansehen. 

So  bleibt  einstweilen  keine  andere  Hoffnung  übrig, 
als  auf  das  unnachsichtige  Vorgehen  einer  starken  Regie- 
rung, die  den  Willen  hat,  ein  hässliches  Uebel  endgültig 
aus*der  Welt  zu  schaffen,  in  allen  den  Fällen,  die  zu  ihrer 
Kenntniss  gelangen.  In  zweien  von  den  hier  erzählten 
Fällen  ist  eine  Verurtheilung  erfolgt  und  auf  diese  Weise 
werden,  bei  nicht  ermüdendem  Eiter  der  Beamten,  wie  sich 
annehmen  lässt,  mit  der  Zeit  Vorgänge  solcher  Alt  zu  immer  < 
grösseren  Seltenheiten  werden. 

Rostock  i.  M.  Wilhelm  St ieda. 


Eine  „Aufnahme“  der  ländlichen  Arbeiterverhältnisse. 

Der  „Verein  für  Sozialpolitik“  hat  beschlossen,  „eine  ; 
Aufnahme  der  ländlichen  Arbeiterverhältnisse  zu  veran- 
stalten und  zu  diesem  Zweck  die  gefällige  Mitwirkung  der 
ländlichen  Arbeitgeber  anzurufen.“  So  sagt  der  Ausschuss 
des  Vereins,  gezeichnet  Geheimer  Ober-Regierungsrath 
Dr.  H.  Thiel,  in  einem  Cirkular  vom  Dezember  1891.  Im 
Interesse  des  Vereins  soll  nun  hier  dem  Bedauern  darüber 
Ausdruck  gegeben  werden,  dass  auch  dieses  an  und  für 
sich  so  nützliche  Unternehmen  wieder  von  vornherein  stark 
beeinträchtigt  erscheint  durch  die  Art  und  Weise  seiner 
Inangriffnahme.  Nach  der  herben  Kritik,  welche  sich  be- 
reits* eine  andere  Erhebung  des  Vereins  über  soziale  Ver- 
hältnisse auf  dem  Lande  von  wissenschaftlicher  Seite  aus 
dem  gleichen  Grunde  gefallen  lassen  musste,  hätte  man 
wohl  auf  einen  Wandel  in  der  Erledigung  dieser  wichtigen 
Vorfragen  hoffen  dürfen  (vergl.  „Zur  Methodologie  sozialer 
Enqueten“.  Von  Dr.  G.  Schnapper- Arndt,  Frankfurt  a.  M., 
1888).  Es  scheint  jedoch,  als  wenn  der  neue  Fragebogen 
von  genau  demselben  Verfasser  ebenso  einseitig  formulirt 
worden  wäre,  wie  der  frühere  für  die  Wucherenquete; 
wenigstens  ist  es  mir  undenkbar,  dass  an  dem  gedruckt 
vorliegenden  Formular  Kenner,  wie  Bücher,  Knapp  oder 
Schnapper  - Arndt , lauter  Vereinsmitglieder , mitgewirkt 
haben,  die,  zu  einer  ad  hoc  gebildeten  Kommission  ver- 
einigt, sicher  einen  Fragebogen  geliefert  und  eine  Er- 
hebungsmethode festgesetzt  hätten,  die  jeder  Kritik  Stand 
halten  würde. 

Was  zunächst  die  Methode  der  „Aufnahme“  betrifft, 
so  hat  der  Ausschuss,  was  ausdrücklich  anerkannt  sei,  eine 


No.  6. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


79 


kleine  Verbesserung  gegenüber  der  Wucherenquete  im 
Sinne  der  Kritik  von  Schnapper- Arndt  insofern  vorge- 
nommen,  als  er  nicht  mit  „General-“  oder  „Stimmungsbe- 
richten“ zugleich  anfängt  und  aufhört,  sondern  wenigstens 
eine  Art  Urmaterial  von  den  Betheiligten  selbst  zu  beschaffen 
sucht,  indem  er  Fragebogen  — ich  weiss  allerdings  nicht, 
wie  viele  — an  Landwirthe  aussandte,  deren  Namen  er  sich 
von  der  geschäftsführenden  Leitung  der  landwirthschaft- 
lichen  Vereine  beschaffte.  Erst  wenn  diese  Stoffsammlung 
aus  Interessentenkreisen  beendet  ist,  die  der  Verein  diesmal 
selbst  in  die  Hand  nahm,  statt  sie  der  Willkür  und  Sorgfalt 
der  Referenten  zu  überlassen,  soll  die  eigentliche  Bericht- 
erstattung beginnen,  und  zwar  so,  „dass  für  jede  Gegend 
ein  Generalberichterstatter  gewonnen  werden  soll,  welchem 
die  einzelnen  Fragebogen  nach  ihrer  Ausfüllung  zur  Be- 
arbeitung überwiesen“  werden.  Wählt  man  zu  diesen 
Generalberichterstattern  überall  wissenschaftlich  geschulte 
Kräfte  mit  dem  nöthigen  Unterscheidungsvermögen  für 
methodisch  festgestellte  und  bloss  einseitig  behauptete 
Thatsachen,  und  umgrenzt  man  die  „Gegenden“  so  eng, 
dass  der  Berichterstatter  die  Verhältnisse  wirklich  übersehen 
kann,  so  werden  die  schliesslichen  Berichte  immerhin  auf 
einer  etwas  höheren  wissenschaftlichen  Stufe  stehen,  als 
diejenigen  der  früheren  Erhebung.  Freilich  fehlt  ihnen 
trotzdem  von  vornherein  noch  immer  etwas  Wesentliches: 
die  wissenschaftliche  Vollständigkeit  des  Materials.  Dasselbe 
stammt  ausschliesslich  von  „Arbeitgebern“  (Unternehmern), 
und  das  Cirkular  des  Ausschusses  übergeht  die  eigentlich 
Betheiligten,  die  ländlichen  Arbeiter,  als  Auskunftspersonen 
über  ihre  eigenen  Verhältnisse  mit  völligem  Stillschweigen. 
Der  Mangel  an  Organisationen  von  Landarbeitern  und  an 
Adressen  von  Einzelpersonen,  welche  man  zur  Mitarbeit 
hätte  heranziehen  können,  ist  kein  Entschuldigungsgrund. 
Diese  Sachlage  kannte  man  von  vornherein,  und  sie 
musste  entscheidend  für  die  Wahl  der  ganzen  Er- 
hebungsmethode werden.  Bei  einer  wissenschaft- 
lichen „Aufnahme“  von  Arbeiterverhältnissen,  ja  selbst 
bei  einer  solchen,  die  nur  praktischen  Gesichtspunkten 
dienen  will,  kann  heute  Niemand  mehr  an  den  Arbeitern 
selbst  vorübergehen.  Die  Wege,  um  ihre  direkte  Auskunft 
neben  derjenigen  der  Unternehmer  zu  erhalten,  konnten 
verschieden  gewählt  werden.  Man  hätte  durch  Vermittlung 
der  Staatsbehörden  Fragebogen  für  Arbeiter  hersteilen  und 
ausfüllen  lassen  können.  Dieser  Weg  wäre  freilich  kaum 
gangbar  und  so  umständlich  gewesen,  dass  ihn  die 
wenigsten  Behörden  betreten  hätten.  Es  blieb  also  die 
förmliche  Befragung  aller  in  den  Unternehmerauskünften 
erwähnten  Landarbeiter  durch  die  Berichterstatter  und  jene 
enge  Abgrenzung  ihrer  Bezirke,  folglich  auch  die  Ver- 
wendung einer  sehr  grossen  Zahl  von  wissenschaftlichen 
Referenten,  die  übrigens  von  Seiten  der  vielen  deutschen 
Universitäten  ohne  allzu  grosse  Schwierigkeiten  gestellt 
worden  wären,  mindestens  blieb  die  Nothwendigkeit  einer 
Anweisung  an  die  Generalberichterstatter,  durch  persön- 
liche Forschung  und  Befragung  einiger  Arbeiter  mittels 
Stichproben  die  einseitige  Auskunft  der  Llnternehmer  zu 
ergänzen.  Diese  Methode  hat  aber  der  Ausschuss  offenbar 
selbst  in  ihrer  abgeschwächtesten  Form  nicht  gewählt. 
Er  sagt  kein  Wort  von  einer  Nacherhebung  bei  den 
Landarbeitern  und  bezeichnet  die  Thätigkeit  der  General- 
berichterstatter mit  den  Worten:  „Bearbeitung  der  einzelnen 
Fragebogen“,  hat  also  lediglich  eine  Redaktions-  und  Kom- 
; pilationsthätigkeit  im  Auge,  sonst  könnte  ja  auch  nicht  da- 
von die  Rede  sein,  die  Ergebnisse  „baldmöglichst“  zu  ver- 
öffentlichen, d.  h.  nach  allem  Brauch  vor  der  Herbstver- 
sammlung dieses  Jahres.  Damit  ist  auch  die  neueste  Er- 
hebung des  Vereins  leider  wieder  mit  einem  Mangel  be- 
haftet, der  für  die  Beurtheilung  von  Aufnahmen  über 
Arbeiterverhältnisse  keineswegs  im  günstigen  Sinne  ent- 
; scheidend  zu  sein  pflegt. 

Und  nun  der  Fragebogen  selbst.  Er  versöhnt  mit 
jenem  tiefgehenden  Mangel  weder  durch  seine  formale  An- 
i Ordnung,  noch  durch  seinen  Inhalt.  Er  mag  als  der  ausser- 
ordentlich fleissige  und  unterrichtende  Entwurf  einer  Auf- 
stellung gelten,  welche  ein  praktischer  Landwirth  und 


statistischer  Laie  als  Unterlage  für  einen  wirklichen  Frage- 
bogen liefern  kann.  Aber  er  ist  Alles  weniger,  als  ein  zum 
Gebrauch  fertiger  Fragebogen,  selbst  wenn  dieser  nur  für 
Unternehmer  bestimmt  sein  soll.  Er  zerfällt  in  drei  Haupt- 
abschnitte: A.  Zur  allgemeinen  Orientirung;  B.  Die  Arbeits- 
und Einkommensverhältnisse  und  C.  Besondere  Mittel  zur 
Bedarfsbefriedigung  der  ländlichen  Arbeiter.  Der  Verfasser 
des  Fragebogens  hat  nun  noch  nicht  einmal  vermocht, 
seine  Unterfragen  richtig  unter  diese  drei  Hauptrubriken 
zu  plaziren.  Mitten  unter  den  Fragen  des  Abschnittes  A, 
welche  allgemein  über  die  landwirtschaftlichen  Verhält- 
nisse der  Gegend  des  Antwortenden  orientiren  sollen,  tauchen 
z.  B.  plötzlich  Fragen  auf,  welche  unter  B gehören,  weil 
sie  den  Nebenverdienst,  die  Hausarbeit,  die  Betheiligung 
am  Reinerträge,  das  Sparen  der  Arbeiter  (vgl.  A 9, 
Abs.  2 u.  3,  10,  Abs.  2,  11,  12),  also  doch  die  unter  B zu  be- 
handelnden Einkommensverhältnisse  derselben  betreffen, 
theilweise  sogar,  wie  die  Sparfrage,  erst  Folgezustände  dieser 
Einkommensverhältnisse  sind,  deren  Behandlung  vor  der- 
jenigen der  eigentlichen  Lohn-  und  Verdienstfrage  den 
Beantworter  nur  verwirren  und  in  einseitigen  Vorstellungen 
bestärken  kann.  Dies  als  Probe  für  die  erste  Schwäche  des 
Fragebogens.  Die  zweite  liegt  in  der  kaum  verständlichen 
Lückenhaftigkeit  desselben  in  Punkten,  die  nicht  etwa  ge- 
sucht sind,  sondern  in  allererster  Reihe  stehen,  wenn 
man  eine  Aufnahme  veranstalten  will,  welche  dazu  helfen  soll, 
„vorhandene  Schäden  in  dem  ganzen  Arbeitsverhältniss“ 
zu  verbessern“  und  „unberechtigten  Anforderungen  mit 
Erfolg  zu  begegnen“.  Da  fehlt  unter  B,  I,  1 jede  Frage 
'über  das  Vorkommen  der  Sonn-  und  Festtagsarbeit  auf  dem 
Lande,  sowie  über  den  Beginn  der  täglichen  Arbeitszeit, 
deren  Dauer  lediglich  erfragt  wird.  Unter  4 (Frauenarbeit) 
ist  vergessen,  Auskunft  über  die  Art  der  Frauen-Beschäftigung 
über  die  Schonzeit  der  Wöchnerinnen  und  über  die  Arbeit 
erwachsener  unverheiratheter  Mädchen  zu  erbitten  hinter  5 
fehlt  jede  Frage  nach  der  Art  der  Beschäftigung  kindlicher 
Arbeiter,  und  die  jugendlichen  Arbeiter,  auf  deren  Schutz 
von  der  Goltz  S.  29  ff.  seiner  „Ländlichen  Arbeiterfrage“ 
(Danzig  1872)  so  hohen  Werth  legt,  sind  völlig  übergangen. 
Wohnung  und  Kost  der  verschiedenen  Arbeiterkategorien 
würden  nur  als  Rechenposten  für  die  Bemessung  des  Lohnes 
in  Betracht  gezogen;  Auskunft  über  ihre  Beschaffenheit  zu 
verlangen,  ist  gänzlich  vergessen,  und  dabei  muss  man  sich 
erinnern,  dass  schon  von  der  Goltz  (a.  a.  O.  S.  16  ff.)  sehr 
schwere  Anklagen  wegen  der  Wohnungsverhältnisse  der 
ländlichen  Arbeiter  gegen  ihre  „Arbeitgeber“  erhebt.  Lieber 
Heizung  und  Beleuchtung  der  Arbeiterwohnungen,  Gesund- 
heits-  und  Bildungsverhältnisse  der  Landarbeiter,  über  die 
Vertheilung  der  Altersklassen,  ferner  über  die  Lohnfristen 
und  die  Formalien  der  Lohnzahlung,  über  Arbeitsverträge, 
Mängel  der  bestehenden  Gesindeordnungen  u.  v.  m.  schweigt 
sich  der  Fragebogen  gänzlich  aus,  um  schliesslich  in  frag- 
würdige Gemeinplätze,  in  Rubriken,  die  z.  B.  „das  Jahres- 
einkommen einer  durchschnittlichen  Tagelöhnerfamilie“  (sic!) 
enthalten  sollen,  auszulaufen.  Diese  Proben  müssen  für 
diese  Stelle  genügen. 

Man  sieht,  es  wäre  dringend  wtinschenswerth,  dass 
der  „Verein  für  Sozialpolitik“  schon  um  seiner  selbst  willen 
auf  die  Tagesordnung  der  nächsten  Generalversammlung 
wieder  einmal  folgenden  Punkt  setzte:  „Das  Verfahren  bei 
der  Erhebung  sozialer  Thatsachen“.  Wegen  der  neuen 
Reichskommission  für  Arbeiterstatistik  ist  ja  die  Frage  auch 
„zeitgemäss“. 


Frankfurt  a.  M. 


Max  Quarck. 


Ländliche  Arbeiterverhältnisse  in  füddeutschland.  Einem 
halbamtlichen  „Landwirtschaftlichen  Jahresbericht  für  189 1 ‘, 
den  Oekonomierath  Stirm  im  „Schwäbischen  Merkur“  über 
Württemberg  erstattet,  entnehmen  wir  folgende  bezeichnende 
Stellen:  „Der  grosse  Uebelstand,  an  dem  unsere  Landwirtschaft 


80 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  6. 


seit  langer  Zeit  krankt,  ist  der  Mangel  an  Betriebskapital. 
Dieser  hat  zur  Folge,  dass  namentlich  Kraftfuttermittel  und 
künstliche  Düngmittel  nicht  in  dem  Masse  angewendet  werden, 
als  nöthig  wäre,  um  lohnende  Ernten  und  Stallerträge  zu  er- 
zielen. Wenn  man  auch  in  solchen  Orten,  welche  verhältniss- 
mässig  gute  Ernten  gemacht  haben  und  Feld-  und  Stallprodukte 
zu  guten  Preisen  absetzen  konnten,  heuer  über  Geldmangel 
klagen  hört,  so  kann  dies  ausser  jenem  Mangel  an  Betriebs- 
kapital nur  daher  kommen;  dass  die  Preise  von  Grund  und 
Boden  gegenüber  der  kapitalisirten  Grundrente  viel  zu  hoch,  dass 
die  Arbeitslöhne  und  namentlich  die  öffentlichen  Abgaben 
(Gemeinde-  und  Amtsschäden)  im  Verhältniss  zu  den  Roh- 
erträgen zu  hoch  sind  und  dass  auch  in  bäuerlichen  Kreisen 
der  Luxus  zu  sehr  überhand  genommen  hat.  Dass  Grund  und 
Boden  zu  hoch  im  Preise  steht,  rührt  ausser  anderen  Ursachen 
auch  daher,  dass  die  Unterpfandsbehörde  bei  der  Beleihung 
von  Grund  und  Boden  nicht  den  kapitalisirten  Reinertrag,  son- 
dern die  Kaufpreise  zu  Grunde  legt.  Eine  gesetzliche  Aencle- 
rung  würde  heilsam  wirken.  Ein  grosser  Uebelstand,  unter  dem 
die  Landwirtschaft  schwer  leidet,  ist  ferner  in  den  Arbeiter- 
verhältnissen gelegen.  Die  Industrie  in  den  Städten,  bei 
welcher  die  heranwachsende  männliche  und  weibliche  Jugend 
der  Dörfer  leichtere  und  ununterbrochene  Arbeit,  guten  Lohn 
und  namentlich  ungebundeneres  Leben  hat,  zieht  die  meisten 
und  gerade  die  besseren  Kräfte  an  sich,  und  der  Landwirth  ist 
genöthigt,  mit  geringen,  unzuverlässigen,  zu  manchen  landwirt- 
schaftlichen Arbeiten  kaum  tauglichen  Leuten  sich  herum- 
zuschlagen. Dabei  ist  die  Unbotmässigkeit,  Faulheit  und 
Trunksucht  im  Zunehmen.  Bei  dem  geringen  Arbeiterangebot 
sind  zudem  die  Löhne  im  Steigen.  Diese  sind,  wie  aus  einem 
Bericht  eines  Gutspächters  hervorgeht,  allein  in  Folge  der 
Kranken-,  Unfall-,  Alters-  und  Invaliditätsversicheruiig,  deren 
Beiträge  grösstenteils  auf  die  Arbeitgeber  übergewälzt  sind, 
um  20%  erhöht  worden  Derselbe  schreibt  u.  A.:  „Schreiber 
dieses  zahlt  an  Beiträgen  inkl.  Lohnerhöhungen  rund  600  Mk. 
jährlich;  derselbe  hat  bei  einem  Pachtgeld  von  4200  Mk.  somit 
in  Folge  dieser  Gesetze  über  Nacht  einen  Pachtaufschlag  um 
1 /-  erfahren,  per  Morgen  P/2  Mk.‘‘  Durch  die  meisten  andern 
Berichte  klingt  die  gleiche  Klage  über  die  Arbeiterverhältnisse.“ 
Weil  also  die"  wtirttembergische  Landwirtschaft  im  rationellen 
Betrieb  weit  zurückgeblieben  ist,  sollen  sich  die  Arbeiter  mit 
noch  geringeren  Löhnen  begnügen,  als  eingestandenermassen 
die  städtischen  Arbeiter  beziehen. 


industrie  im  Herzen  Deutschlands,  vorausgesetzt  natürlich, 
dass  der  Inspektor  über  das  Vorkommen  der  jugendlichen 
und  kindlichen  Arbeit  von  den  Unterbehörden  zutreffend 
berichtet  wurde.  Innerhalb  13  Jahren  eine  75prozentige 
Zunahme  der  erwachsenen  männlichen  Arbeiter,  welche 
über  die  57  prozentige  Zunahme  der  Fabrikbetriebe  weit 
hinausgeht,  eine  noch  unter  diesen  Prozentsätzen  bleibende 
mässige  Vermehrung  der  Frauenarbeit  (um  54"/0),  eine  noch 
schwächere  Zunahme  der  jugendlichen  Arbeiter  (um  50%), 
sowie  endlich  eine  bedeutende  Abnahme  der  kindlichen 
Arbeiter  (um  59%),  während  die  Betriebe  mit  jugendlichen 
Arbeitern  überhaupt  nur  um  24%  sich  vermehrten,  — das 
I ist  das  Ergebniss  obiger  Uebersicht.  Lediglich  2 Porzellan- 
fabriken, 4 Holzwaaren-  und  Pinselfabriken,  sowie  je 
1 Zündholzfabrik  und  Spinnerei  beschäftigten  im  Jahre  1890 
überhaupt  Kinder.  Freilich  dürfte  dieser  gesunden  sozialen 
Entwicklung  einer  meist  jungen  Gebirgsindustrie  eine  desto 
ungesundere  Gestaltung  der  Arbeiterverhältnisse  in  der 
ausgedehnten  Hausindustrie  desselben  Bezirkes  entsprechen, 
ein  Umstand,  der  die  Unterstellung  auch  dieser  Betriebe 
unter  die  Aufsicht  der  Gewerbeinspektoren,  sowie  allmählich 
auch  unter  die  Arbeiterschutzvorschriften  als  eine  unum- 
gängliche Nothwendigkeit  erscheinen  lässt. 

Ein  österreichisches  Amt  für  Arbeitsstatistik.  Die 

Unentbehrlichkeit  einer  systematischen  Sozialstatistik  hat 
nun  auch  in  Oesterreich  zur  Anregung  eines  arbeitsstati- 
stischen Amtes  geführt.  In  der  Sitzung  vom  30.  Januar 
brachten  die  Abgeordneten  Neuwirth  und  Genossen  einen 
darauf  bezüglichen  Antrag  ein.  Das  Amt  soll  eine  Ab- 
theilung des  Handelsministeriums  bilden  und  seine  Ausge- 
staltung im  Einzelnen  durch  den  Handelsminister  im  Ein- 
vernehmen mit  dem  Minister  des  Innern  erfolgen.  Die  Auf- 
gabe des  Amtes  soll  in  der  fortlaufenden  Erhebung,  syste- 
matischen Bearbeitung  und  periodischen  Veröffentlichung 
aller  für  die  Zwecke  sozialer  Gesetzgebung  und  Verwaltung 
erforderlichen  Daten  bestehen.  Wir  kommen  auf  die  Ein- 
zelheiten des  Antrages  noch  zurück. 


Zur  Arbeitsstatistik  deutscher  Gewerbeinspektoren. 

ln  der  ersten  Nummer  dieser  Zeitschrift  wurde  hervorge- 
hoben, dass  im  Gegensatz  zu  den  preussischen  Fabrik- 
inspektoren,  welche  auf  dem  Gebiete  der  exakten  Arbeiter- 
statistik so  gut  wie  Nichts  leisteten,  vor  Allem  die  sächsischen 
Beamten  alljährlich  genaue  und  vollständige  Uebersichten  der 
Schwankungen  in  der  Arbeiterbevölkerung  lieferten.  Neben 
den  sächsischen  Inspektoren  sind  aber  noch  einige  Beamte 
kleinerer  Bundesstaaten  zu  nennen,  die  seit  Beginn  ihrer  Thä- 
tigkeit  der  Arbeiterstatistik  die  nöthige  Aufmerksamkeit  zu- 
wendeten. Hier  sei  zunächst  der  Aufsichtsbeamte  für  das 
Fürstenthum  Schwarzburg- Rudolstadt  erwähnt.  In 
seinem  Bezirke,  dessen  Gewerbethätigkeit  dadurch  inter- 
essant ist,  dass  sie  den  echten  Charakter  einer  ländlichen 
Geliirgsindustrie  zeigt,  entwickelte  sich  nach  den  Jahres- 
berichten in  der  „Schwarzb.-Rudolst.  Landesztg.“  die  Ar- 
beiterbevölkerung nach  ihren  verschiedenen  Kategorien  wie 
folgt; 


An- 

Zahl 

Arbeiter 

lagen 

der 

Jugendliche 

Kinde 

’ 

mit 

Be- 

im  Ganzen 

jugendl. 

Ar- 

beitern 

männl.  1 

weibl. 

männl. 

weibl. 

männl.  weibl. 

1879 

93 

2623 

895 

154 

139 

1 

31 

35 

54 

1880 

102 

2943 

950 

177 

146 

18 

32 

63 

1881 

109 

2981 

926 

295 

202 

16 

23 

63 

1882 

109 

3457 

975 

268 

182 

19 

32 

63 

1883 

114 

j 3505 

1042 

293 

200 

13 

35 

• 70 

1884 

114 

3768 

1088 

241 

182 

15 

22 

62 

1885 

115 

3737 

998 

221 

155 

17 

18 

61 

1886 

120 

3513 

1041 

183 

156 

11 

19 

61 

1887 

124 

3762 

1076 

219 

175 

14 

21 

68 

1888 

131 

3788 

1096 

238 

155 

23 

12 

73 

1889 

132 

4024 

1 186 

252 

196 

23 

7 

69 

1890 

140 

4346 

1227 

281 

169 

32 

8 

71 

1891 

146 

4601 

1387 

246 

195 

18 

9 

67 

Hier 

bietet 

sich 

mitten  in 

der 

von 

Aus- 

wüchsen  aller  Art  begleiteten  industriellen  Entwicklung 
der  grossgewerblichen  Gegenden  ein  Blick  aut  die 
gesündere  Anfangsentwicklung  einer  halbländlichen  Gebirgs- 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Holzhauer-Strike  in  Frankreich.  Ein  Strike,  der  in 
der  Geschichte  der  Arbeiterbewegung  wohl  einzig  dastehen 
dürfte,  ist  sicherlich  der  vor  einiger  Zeit  im  Cherdeparte-  j 
ment  ausgebrochene  Holzhauerstrike.  Ausgegangen  war  er  . 
von  den  Holzhauern  der  Gemeinde  Uzey-les-Venon,  denen 
sich  bald  die  der  nächstgelegenen  Ortschaften  anschlossen, 
und  gegenwärtig  umfasst  derselbe  mehr  als  dreissig  Ge- 
meinden. Deutet  sein  rasches  Umsichgreifen  allein  schon 
darauf  hin,  dass  die  Lage  dieser  Landarbeiter,  deren  Be- 
dürfnisse sich  ohnedies  nur  auf  die  allernothwendigsten 
Lebensmittel  beziehen,  eine  höchst  drückende  sein  muss, 
so  machen  dies  die  jüngst  im  Senate  gemachten  Angaben 
zur  Gewissheit.  Darnach  erhalten  sie  nämlich,  je  nach  den 
Waldungen,  in  welchen  sie  beschäftigt  werden,  1,75  Frcs. 
bis  2 Frcs.  pro  Klafter,  zu  deren  Fertigstellung  sie  aber, 
je  nach  der  Beschaffenheit  des  Waldes  und  seines  Betriebes, 
zwei  bis  vier  Tage  brauchen.  Wie  hoch  sich  solcherart 
ihr  täglicher  Arbeitslohn  beläuft,  zeigen  folgende  Daten; 
Im  Coury-Wald  erhält  der  Holzhauer  2 Frcs.  für  die  Klafter, 
von  der  er  im  Durchschnitt  täglich  nur  40%  fertigstellen 
kann,  was  einen  Tagelohn  von  80  Cent,  ergibt;  im  Pluzaine- 
Wald  1,75  Frcs.  pro  Klafter,  Durchschnittsarbeit  40%, 
Tagelohn  70  Cent;  im  Sevaines-Wald  1,75  Frcs.  pro  Klafter, 
Durchschnittsarbeit  50%,  Tagelohn  87  Cent;  im  Vieussat- 
Wald  1,75  Frcs.  pro  Klafter,  Durchschnittsarbeit  28  "/0,  Tage- 
lohn 45  Cent;  im  Champ-d’Avoine-Wald  1,75  Frcs.,  Durch- 
schnittsarbeit 50%,  Tagelohn  87  Cent;  im  Largentiere- 
Wald  2 Frcs.  pro  Klafter,  Durchschnittsarbeit  28%,  Tage- 
lohn 55  Cent;  im  Meuliere- 1 urpies-\\  ald  2 Frcs  pro  Klafter, 
Durchschnittsarbeit  25%,  Tagelohn  50  Cent.  Aus  diesen 
Daten  ergibt  sich,  dass  der  durchschnittliche  Tagelohn  sich 
auf  61  Cent  stellt.  Dabei  ist  noch  zu  bemerken,  dass  der 
Arbeitstag  12  Stunden  beträgt.  Der  Verdienst  war  ehedem 
ein  bedeutend  grösserer.  Die  Klafter  wurde  erstlich  besser 
bezahlt,  zweitens  war  sie  auch  kleiner  als  jetzt.  Sie  hatte 
nämlich  bei  einer  Breite  von  2,66  m eine  Höhe  von  0,70  m 


No.  6. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAT, RI, ATT. 


81 


und  wurde  im  Durchschnitt  mit  2,50  Frcs.  bezahlt,  während 
ilire  Höhe  jetzt  0,80  m beträgt  und  die  Klafter,  wie  oben 
gezeigt,  weit  schlechter  bezahlt  wird.  Dazu  treten  noch  ver- 
schiedene kleinere  Umstände,  welche  die  Arbeit  des  Holz- 
hauers erschweren  und  weniger  einträglich  machen.  Alles, 
was  die  Strikenden  verlangen,  ist,  dass  ihre  Arbeit  so  be- 
zahlt werde,  dass  sie  wieder  auf  ihren  früheren  Durch- 
schnittsverdienst kommen.  Wie  die  Dinge  gegenwärtig 
stehen,  unterliegt  es  auch  kaum  einen  Zweifel,  dass  sie  ihr 
Ziel  erreichen  werden,  wie  dies  noch  jedesmal  und  überall 
der  Fall  war,  wo  die  öffentliche  Meinung  hinter  den 
Strikenden  stand.  Und  das  ist  hier  der  Fall,  wie  die 
Hilfsgelder  zeigen,  die  ihnen  von  den  verschiedensten  Seiten 
zufliessen.  In  der  That  erhalten  sie  nicht  nur  Unter- 
stützungen seitens  der  verschiedenen  Fraktionen  der 
Arbeiterpartei  und  zahlreicher  Arbeitersyndikate,  sondern 
auch  von  einzelnen  Munizipien,  die  ihnen  grössere  oder 
kleinere  Summen  votiren,  ja  selbst  vom  Senat  und  das 
will  viel  sagen  — , der  unter  seinen  Mitgliedern  eine  Samm- 
lung veranstaltete,  welche  1000  Frcs.  ergab.  Dazu  kommt, 
dass  mit  dem  Strike  die  Holzhauer  sich  zugleich  organisirten 
und  nun  eine  Gewerkschaft  bilden,  die  sicherlich  viel 
dazu  beitragen  wird,  ihre  Arbeitsbedingungen,  je  nach  den 
Verhältnissen,  so  günstig  als  möglich  zu  gestalten. 

Buchdruckersttfke  in  Bukarest.  Seit  einiger  Zeit 
stehen  die  Bukarester  Buchdrucker  im  Strike  um  den 
9stündigen  Arbeitstag.  Ein  Theil  der  Patrone  hat  denselben 
gleich  bewilligt.  Ein  anderer  hat  die  Forderungen  der 
Gehilfen  abgewiesen.  In  Jassy  ist  der  9stündige  Arbeitstag 
in  sämmtlicnen  Druckereien  seit  längerer  Zeit  eingeführt. 
Die  öffentliche  Meinung  scheint  auf  Seite  der  Strikenden 
zu  sein.  Wie  wir  der  Lupta  (vom  2.  Februar)  entnehmen, 
hat  die  Bukarester  Stadtverwaltung  an  alle  Druckereien 
eine  Verordnung  erlassen,  in  welcher  auf  Grund  des  Ge- 
setzes über  die  öffentliche  Gesundheitspflege  Bestimmungen 
über  die  Einrichtung  der  Arbeitsräume,  das  Verhalten  der 
Arbeiter  in  denselben  und  das  Alter,  in  welchem  Lehrlinge 
aufgenommen  werden  dürfen,  getroffen  werden.  Der  Verein 
„Gutenberg“  hat  beschlossen,  die  Strikenden  auf  alle  Weise 
zu  unterstützen. 

Wie  der  „Romänul“  vom  2.  Februar  meldet,  haben 
sämmtliche  Patrone  in  einer  Sonntag  den  31.  Januar  ab- 
gehaltenen Versammlung  die  allgemeine  Bewilligung  des 
9stündigen  Arbeitstages  beschlossen. 

Wiener  Buchdruckerei-  und  Schriftgiessereiarbeitei- 
Strike  vom  Jalire  1891.  Ueber  diesen  veröffentlicht  der  Wiener 
„Vorwärts“,  das  Organ  sämmtlicher  Buchdrucker-Gehilfenvereine 
Oesterreichs  eine  ausführliche  Abrechnung,  der  wir  folgende 
Daten  entnehmen:  Es  sind  im  Ganzen  während  der  Zeit  vom 
9.  Mai  bis  zum  5.  September  1891  eingekommen  1 18  319  fl.  34  Kr  , 
denen  eine  Ausgabe  von  117  773  fl.  16  Kr.,  von  welchen  114  772  fl. 
9 Kr.  für  Unterstützungen  ausgegeben  wurden,  gegenübersteht. 

Die  Einnahmen,  last  lediglich  aus  Sammlungen  stammend, 

| vertheilen  sich  folgendermassen:  Aus  Niederösterreich  flössen  der 
iStrikekasse  zu  54  571  fl.  95  Kr.,  aus  den  anderen  österreichischen 
I Grönländern  6896  fl.  05  Kr.,  aus  Ungarn  2092  fl.  19  Kr.,  aus 
Deutschland  74  951  Mk.  60  Pf.,  aus  der  Schweiz  14  335  Frcs. 
50  Cents.  Ferner  wurden  Beiträge  aus  Frankreich,  England, 
Italien,  Luxemburg,  Dänemark,  Schweden,  Norwegen,  Spanien, 
'Serbien,  Bulgarien,  ja  auch  aus  Russland  und  Argentinien 
Iquittirt. 

| An  Unterstützungen  der  Strikenden  wurden  verrechnet 
113  162  fl.  49  Kr.,  ausserdem  Abreiseunterstützungen  in  der  Höhe 
von  1609  fl.  60  Kr.  an  154  Personen.  An  Spesen  (Wagengebühren, 
Telegramme,  Reisen,  Druckkosten  etc.)  fanden  sich  verrechnet 

1811  fl.  32  Kr. 

Die  Ausgaben  waren  am  stärksten  in  der  2.  Woche 
(17  647  fl.  13  Kr.),  am  schwächsten  in  der  vorletzten  ( 17.)  Strike- 
woche  (894  fl.  70  Kr.). 

; . Der  Strike  hat  bekanntlich  mit  der  Niederlage  der  Ge- 
hilfen geendet. 

Strike  der  Bierbrauer  - Gehilfen  in  Nürnberg.  Der 

Brauerstrike  kann  nunmehr  als  beendigt  betrachtet  werden, 
die  Braugehilfen  haben  in  der  Hauptsache  ihre  Forderungen 
durchgesetzt.  Gegenwärtig  wird  in  allen  Brauereien  pro 
Tag  11  Stunden  gearbeitet  mit  Ausnahme  der  Tucher’schen 
Brauerei,  _ wo,  technischer  Schwierigkeiten  wegen,  die 
Arbeitszeit  nicht  sofort  reduzirt  werden  kann.  Die  Sonntags- 
arbeit  ist  erheblich  beschränkt  und  auch  sonstige  Be- 
schwerden der  Arbeiter  haben  eine  befriedigende  Lösung 
gefunden.  Der  Minimallohn  für  gelernte  Brauer  beträgt 
nunmehr  80  Mk.  monatlich,  gegen  70  Mk.  vor  dem  Strike. 
Behufs  Schlichtung  zukünftiger  Differenzen  wurde  eine 
(Kommission  ernannt,  welche  zu  gleichen  Theilen  aus 


Brauereibesitzern  und  Braugehilfen  besteht.  Durch  dieses 
Komitee  sollen  in  Zukunft  auch-  die  Lohn-  und  Arbeits- 
verhältnisse geregelt  werden.  Da  alle  Arbeitsplätze  wenige 
Tage  nach  Beginn  des  Ausstandes  besetzt  waren,  bereitet 
die  Wiedereinstellung  der  strikenden  Arbeiter  Schwierig- 
keiten. Zwar  sind  alle  verheiratheten  Arbeiter  nunmehr 
untergebracht,  jedoch  können  ledige  Arbeiter  nur  bei 
eintretenden  Vakanzen  auf  Anstellung  rechnen,  da  die 
Brauereibesitzer  sich  weigern,  die  Strikebrecher  zu  ent- 
lassen. 

Zur  Organisation  der  deutschen  Metallarbeiter.  Die 

Bestrebungen,  sämmtliche  Branchen  der  Metallindustrie  in 
einer  Organisation  zu  vereinigen,  waren  bekanntlich  nur 
zum  Theil  von  Erfolg  begleitet.  Von  kleineren  Branchen 
abgesehen  tragen  die  Former  hieran  die  Schuld.  Dieselben 
gründeten  im  verflossenen  Jahre  auch  ein  selbständiges 
Organ,  das  in  Hamburg  erscheinende  „Glück  auf“.  Die 
Organisation  der  Former  war  bemüht,  ein  Kartell  zwischen 
ihrem  Centralverein  und  denen  der  Schmiede,  Schlosser, 
Kupferschmiede  und  Goldarbeiter  zu  Stande  zu  bringen. 
Da  die  Kupferschmiede  und  Goldarbeiter  erst  die  Zu- 
stimmung ihrer  demnächst  stattfindenden  Generalversamm- 
lungen einholen  müssen,  tritt  der  Vertrag  zunächst  und 
zwar  vom  1.  Februar  ab  nur  zwischen  Schlossern,  Schmieden 
und  Formern  in  Kraft.  Der  Vertrag  bezweckt  vorerst  nur 
die  gegenseitige  Verabfolgung  des  Reisegeschenkes  an  die 
auf  der  Wanderschaft  befindlichen  Mitglieder  obiger  Or- 
ganisationen. 


Unternehmerverbände. 


Vereinigungen  in  der  Kohlenindustrie.  Bei  dem  ge- 
sunkenen Bedarf  nach  Kohlen  würden  die  Preise  im  Januar 
von  ihrer  normalen  Höhe  im  vergangenen  Monat  sicher 
gefallen  sein,  wenn  sich  nicht,  wie  das  Organ  der  westfälischen 
Zechen  „Glückauf“  in  Essen  in  seiner  Nummer  vom  3.  d.  M. 
berichtet,  „ein  Ereigniss  vollzogen  hätte,  welches  dem  Berichts- 
monat (Januar)  in  der  Geschichte  des  rheinisch-westfälischen 
Kohlenbergbaues  einen  besonderen  Stempel  aufzudrücken 
geeignet“  sei:  eine  allgemeine  Vereinigung  der  rheinisch- 
westfälischen Zechen  und  Verkaufsgesellschaften,  welche 
am  I I . Januar  endgiltig  in  Dortmund  zu  Stande  kam  und 
bis  jetzt  85  bis  90"/0  der  gesammten  Förderung  umfasst, 
„ein  trotz  allen  früheren  Bemühungen  bisher  noch  nie  er- 
reichter Erfolg“.  Es  sei  gelungen,  für  die  einzelnen  Gruppen 
(Flamm-,  Fett-  und  Steinkohle)  eine  gemeinsame  feste  Be- 
zeichnung der  Kohlensorten,  die  Preise  dafür,  sowie  gleiche 
Lieferungs-  und  Zahlungsbedingungen  festzustellen.  Gross- 
abnehmern sollen  Rückvergütungen  auf  die  festgesetzten 
Preise  bis  zu  5 Mk.  pro  Doppelwagen  gewährt  werden. 
Das  betreffende  Blatt  veröffentlicht  die  beschlossenen 
Grundpreise,  die  auf  der  alten  Höhe  gehalten  sind.  Die  neu- 
geschaffene  Gemeinschaft  soll  ferner  die  Produktion  „dem 
Bedarf  entsprechend“  regeln.  Da  derselbe  geringer  ge- 
worden sei,  „dürften  sich  baldige  Beschlüsse  über  allgemeine 
oder  gruppenweise  Förderbeschränkung  empfehlen“.  Man 
kann  also  trotz  der  künstlich  hoch  gehaltenen  Preise  auf 
baldige  Arbeiterentlassungen  im  Kohlenrevier  rechnen.  — F ast 
gleichzeitig  beschloss  das  westfälische  Kokessyndikat  auf 
seiner  Generalversammlung  vom  28.  Januar  zu  Bochum,  die 
bisherige  Produktionseinschränkung  (20%)  für  Februar  fest- 
zuhalten. Man  erzeugte  1891  im  Ganzen  4,3  Milk  Tonnen 
gegen  4,1  im  Vorjahre,  der  Geldwerth  sei  dagegen  um 
12  Mill.  Mk.  niedriger  geworden.  — Unter  den  Zechen  in 
Oberschlesien  ist  nach  derselben  Quelle  eine  Bewegung 
im  Gange,  welche  den  Engros-Zwischenhandel  in  Kohlen 
beschränken  und  mehr  den  direkten  Verkehr  zwischen 
Zeche  und  Verbraucher  anstreben  will. 


Kaufmännische  Bewegung. 

Die  Syndikatskammer  (1er  kaufmännisch  Angestellten 
von  Paris  hat  soeben  ihren  Jahresbericht  für  1891  ver- 
öffentlicht. Darnach  zählt  dieselbe  gegenwärtig  5156  Mit- 


82 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  6. 


glieder  und  beschäftigt  sich  mit  der  Plazirung  und  Fort- 
bildung ihrer  Mitglieder  sowie  deren  Unterstützung  bei  Be- 
schäftigungslosigkeit. Jeder  Beschäftigungslose  hat  ein 
Anrecht  auf  2 Frcs.  täglich,  und  zwar  während  30  Tage  im 
Jahre.  Die  hierfür  verausgabte  Summe  hat  sich  im  ver- 
flossenen Jahre  auf  10  000  Frcs.  belaufen.  Plazirt  wurden 
384  Mitglieder.  Die  Unterrichtskurse  umfassen  Handels- 
recht, gemeines  Recht,  vergleichende  Gesetzgebung,  Ge- 
schichte, Hygiene  etc.  und  erhält  das  Syndikat  hierfür  vom 
Pariser  Gemeinderath  eine  jährliche  Subvention  von 
2000  Frcs.  Das  Syndikat  besitzt  auch  einen  Rechtsbeirat h, 
dem  im  abgelaufenen  Jahre  87  Streitangelegenheiten  unter- 
breitet wurden,  von  welchen  nur  23  zu  einem  Prozesse 
führten,  während  die  übrigen,  Dank  des  Rechtsbeiraths,  auf 
gütlichem  Wege  ausgetragen  wurden.  Damit  sind  aber  die 
Aufgaben,  die  sich  die  Syndikatskammer  gestellt  hat,  noch 
nicht  beendet.  Sie  streikt  u.  A.  auch  darnach,  dass  die 
Institution  der  Prud’hommes  auf  die  kaufmännisch  Ange- 
stellten ausgedehnt  werde,  zu  welchem  Zwecke  sie  am 
I . Mai  v.  J.  eine  Delegation  an  den  Präsidenten  der  Kammer 
absandte,  um  ihm  eine  bezügliche  Petition  zu  überreichen. 
Dieselbe  hat  indess  noch  keine  Erledigung  gefunden,  und 
das  Syndikat  wird  sie  deshalb  aufs  Neue  urgiren. 

Zur  Verdrängung  des  Zwischenhandels.  Für  Beseitigung 
des  Detailreisenden,  welcher  zwischen  Ladenbesitzer  bezw. 
Engroshändler  und  Fabrikanten  einerseits , sowie  dem 
Publikum  andererseits  vermittelt,  neuerdings  aber  nament- 
lich von  Fabrikanten  und  Engroshändlern  in  Konkurrenz 
mit  dem  Ladenbesitzer  gesetzt  wird , agitiren  seit  Jahren 
die  letzteren , namentlich  die  Kolonialwaarenhändlervereine. 
Dieselben  haben  den  Detailreisenden  in  zünftlerischen  Petitionen 
zu  einer  Art  gemeingefährlicher  Persönlichkeit  gestempelt 
und  ihn  für  immer  zu  brandmarken  geglaubt , indem 
sie  ihn  „Hausirer  im  Frack“  nannten,  nicht  beachtend,  dass  der 
Fabrikant  mit  demselben  Recht  die  Vermittlung  der  Klein- 
händler zu  beseitigen  versuchen  und  die  direkte  Verbindung  mit 
dem  Verbraucher  anstreben  kann.  In  der  letzten  Zeit  mehren 
sich  nun  die  Stimmen,  welche  für  die  grundsätzliche  Berechti- 
gung des  Detailreisenden  eintreten,  so  lange  die  Nützlichkeit 
des  Zwischenhandels  überhaupt  nicht  zu  den  Dingen  der  Ver- 
gangenheit gehört.  So  Hessen  kürzlich  300  Bielefelder  und 
Herforder  Firmen  eine  Eingabe  an  den  Reichskanzler  abgehen, 
in  welcher  sie  ausführen,  dass  in  ihrem  Bezirk  allein  180  Leinen- 
firmen beständen,  welche  Privatkundschaft  durch  Reisende  be- 
suchen lassen  und  zu  bester  Zufriedenheit  des  Publikums 
arbeiteten.  Es  entwickelten  sich  immer  neue  Formen  des 
Zwischenhandels;  der  Gesetzgeber  könne  nicht  die  eine  auf 
Verlangen  der  anderen  unterdrücken,  hier  das  Detailreisen  auf 
Verlangen  der  ansässigen  Detail  listen  verbieten.  Und  ähnlich 
äussert  sich  die  Mannheimer  Handelskammer  in  ihrem  neuesten 
Jahresbericht  ('S.  222).  Auch  in  Süddeutschland  nahmen  Ge- 
schäfte, deren  Betrieb  auf  Detailreisen  basire,  eine  sehr  geachtete 
Stellung  ein,  die  man  nicht  durch  gesetzgeberische  Eingriffe  er- 
schüttern dürfe.  Hausirer  und  Detailreisende  dürften  nicht  zu- 
sammengeworfen werden,  und  die  Beschwerden  kämen  aus- 
schliesslich von  der  Konkurrenz.  Eine  Veranlassung,  einzu- 
schreiten, sei  nach  Ansicht  der  Kammer  nicht  gegeben. 

Minimalkündigungsfristen  für  Handlungsgehilfen  in 
Oesterreich.  Auch  in  Oesterreich  mehren  sich  die  Versuche, 
gesetzliche  Reformen  zum  Besten  der  Kommis  herbeizu- 
führen. Der  Abgeordnete  Dr.  Bendel  hat  im  Abgeordneten- 
hause einen  Antrag  auf  Abänderung  des  Artikel  61  des 
Handelsgesetzes  dahin  gestellt,  dass  „das  Dienstverhältnis 
zwischen  dem  Prinzipal  und  dem  Handlungsgehilfen  von 
jedem  Theile  nach  vorgängiger  sechs  wöchentlich  er 
Kündigung  aufgehoben  werden  kann.  Nur  in  dem  Falle 
einer  vereinbarten,  aber  nicht  länger  als  einen  Monat  dau- 
ernden Probezeit  genügt  eine  vierzehntägige  Kündigungs- 
frist “ Hierzu  bemerkt  das  Blatt  der  reisenden  Kaufleute 
Oesterreichs:  „Derzeit  ist  die  gesetzliche  Kündigungsfrist 

für  Handelsangestellte  sechs  Wochen  vor  jedem  Quartal  des 
Kalenderjahres.  Man  kann  demnach  ohne  besondere  Ueber- 
einkunft  einen  Angestellten  nur  beispielsweise  Mitte  Mai, 
pro  Ende  Juni  kündigen,  nicht  aber  Ende  Mai  pro  Mitte  Juli. 
Diese  gesetzliche  Kündigungsfrist  bildet  schon  lange  nicht 
mehr  die  Norm,  ja  wir  möchten  beinahe  soweit  gehen  zu 
sagen,  dass  sie  nur  ausnahmsweise  angewendet  wird.  Die 
privaten  Uebereinkommen  zwischen  Prinzipal  und  Gehilfen 
sind  nämlich  allmählich  so  gangbar  geworden,  dass  wohl 
in  neunzig  unter  hundert  Fällen  eine  vierzehn- 
tägige, eine  achttägige  Kündigungsfrist,  ja  sogar 
die  Möglichkeit  einer  täglichen  Entlassung  bedun- 
gen wird.  Solche  Verhältnisse,  welche  den  Mann  zum 
Sklaven  herabwürdigen,  indem  sie  ihn  bei  der  gering- 
sten Regung  der  Selbstständigkeit  vor  die  Gefahr  stellen, 


binnen  24  Stunden  brodlos  und  obdachlos  zu  werden,  sind 
allerdings  nachgerade  unhaltbar.  Es  unterliegt  ja  keinem 
Zweifel,  dass  die  Mehrzahl  der  Angestellten,  wenn  sie  die 
eine  Anstellung  verlieren,  in  Bälde  auch  eine  andere  finden. 
Die  Gehaltsverhältnisse  sind  jedoch  solche,  dass  von  Erspar- 
nis zumeist  nicht  die  Rede  sein  kann,  so  dass  der  gestern 
gekündigte  und  heute  auf  die  Strasse  gestellte  Gehilfe  schon 
morgen  hungern  muss  oder  in  Schulden  geräth,  von  denen 
frei  zu  kommen  ihm  schwer  fällt  oder  gar  unmöglich  ist, 
so  dass  die  Nothwendigkeit  besteht,  längere  Kündigungs- 
fristen zu  sichern.“  Das  Organ  der  reisenden  Kaufleute 
Oesterreichs  wünscht  den  Antrag  Bendel  nun  dahin  ver- 
bessert zu  sehen,  dass  wohl  auch  kürzere  Kündigungsfristen 
auf  Probe,  dagegen  lediglich  die  Quartalskündigung  als 
Minimalkündigungsfrist  für  feste  Stellungen  zugelassen  werde. 
Es  übersieht  dabei,  dass  dann  einfach  die  Probeengagements 
überhand  nehmen  werden. 

Gehälter  (1er  Handlungsgehilfen.  Bislang  fehlte  es  durch- 
aus an  zuverlässigen  Erhebungen  über  den  Arbeitsverdienst  der 
Handlungsgehilfen  in  Deutschland.  Es  scheint,  dass  dort,  wo 
die  Handlungsgehilfen  krankenversicherungspflichtig  und  des- 
halb in  abgegrenzte  Lohnklassen  eingereiht  sind,  sich  mit  Hilfe 
des  Kassenmaterials  der  Alters-  und  Invaliditätsversicherung 
annähernde  Berechnungen  über  die  Höhe  der  Commisgehälter 
anstellen  lassen.  Wenigstens  hat  der  Assistent  der  Handels- 
kammer in  Plauen  i.  V.,  Dr.  Dietrich,  auf  jenem  Wege  eine 
Gehaltsstatistik  herzustellen  versucht,  die  er  kürzlich  in  einem 
Vortrage  mittheilte.  Danach  bezogen  in  Plauen  von  370  ver- 
sicherungspflichtigen Gehilfen  (Gehalt  unter  2000  M.)  101  im 
Alter  bis  zu  20  Jahren  949  M.  jährlich,  148  im  Alter  von  21 — 26 
Jahren  1271  M., '73  im  Alter  von  26— 30  Jahren  1476  M.,  und  48 
im  Alter  von  über  30  Jahren  1619  M.  durchschnittlich.  Nament- 
lich bei  der  ersten  und  letzten  Klasse  fällt  die  relative  Niedrig- 
keit des  Verdienstes  auf.  Bei  der  Ausscheidung  nach  Branchen 
ergaben  sich  die  niedrigsten  Gehälter  mit  1021  M.  im  Durchschnitt 
für  die  Angestellten  der  Kolonialwaaren-,  Eisen-,  Kurzwaaren- 
und  Cigarrengeschäfte  en  detail,  sodann  1135  M.  für  die  Gehilfen 
in  Manufaktur-  und  Garderobegeschäften,  1 172  M.  für  die  Kommis 
der  Kolonialwaaren-,  Droguen-  und  Kohlenhandlungen  en  gros,: 
1233  M.  für  die  Angestellten  in  Gerbereien,  Lederhandlungen. 
Brauereien.  Bier-  und  Weinhandlungen,  sowie  Seifengeschäften, 
1282  M.  Durchschnittsgehalt  in  Stickerei-  und  Konfektionsge-i 
schäften,  1306  M.  in  Webereien,  Gardinengeschäften  und  den- 
entsprechenden  Agenturen,  1362  M.  in  Maschinenfabriken,  Tuch- 
fabriken und  -Handlungen,  Optiker-  und  Mechanikergeschäften,  i 
sowie  1372  M.  in  Bankgeschäften.  Ueber  die  prekäre  Stellung 
vieler  dieser  Handlungsgehilfen  werden  freilich  erst  weitere  An- 
gaben bezüglich  ihrer  Arbeitszeit,  ihrer  Kündigungsfristen,  ihres  : 
Kleidungsaufwands  und  ihrer  Ernährung  erschöpfenden  Auf-; 
Schluss  verschaffen.  Endlich  wäre  es  wünschenswerth,  zu  erfahren, 
wieviel  Angestellte  mit  Gehältern  über  2000  Mark  neben  den,: 
370  versicherungspflichtigen  Kommis  in  Plauen  vorhanden  sind.; 
Neben  den  Durchschnittszahlen  müssten  sodann  die  höchster 
und  niedrigsten  Gehaltssätze  jeder  Klasse  und  Branche  ange- 1 
geben  sein. 


Handwerkerfragen. 


Gewerbekammern  in  Baden. 

Nachdem  an  dieser  Stelle  (vgl.  No.  5 dieses  Blattes,, 
S.  69)  die  Grundzüge  eines  Gewerbekammergesetzes  für  j 
das  Grossherzogthum  Baden,  wie  sie  aus  einer  Mittheilung 
der  „Bad.  Korr.“  hervorgingen,  besprochen  worden  sind, 
ist  der  Jahresbericht  der  Mannheimer  Handelskammer  für 
1891  erschienen,  unter  dessen  Anlagen  sich  der  Entwurf 
des  badischen  Gesetzes  nebst  Begründung  und  Gutachten 
der  Handelskammer  im  Wortlaute  abgedruckt  finden. 
(S.  169  ff.)  Dem  Anschein  nach  handelt  es  sich  dabei  um 
den  ersten  Regierungsentwurf,  während  die  Mittheilungen  j 
der  „Bad.  Korr.“  aus  einer  theilweise  umgearbeiteten  Vor- 
lage geschöpft  sein  dürften.  Dies  geht  daraus  hervor,  dass 

in  dem  von  der  Mannheimer  Handelskammer  wiedergegebenen 

Entwurf  die  Beschränkung  der  Wahlberechtigung  auf  das 
„handwerksmässig“  betriebene  Kleingewerbe  noch  nicht 
enthalten  ist.  Im  Uebrigen  aber  herrscht  wesentliche  Ueber- 
einstimmung  zwischen  dem  von  zwei  verschiedenen  Seiten 
bekannt  Gewordenen,  und  die  frühere  Besprechung  sei 
deshalb  sofort  durch  einige  Einzelheiten  aus  der  neuesten 
Mannheimer  Veröffentlichung  ergänzt. 

Deutlich  ist  jetzt  zu  erkennen,  dass  es  sich  nur  um 
Einführung  fakultativer  Vertretungen  des  Kleingewerbes 


No.  6. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


83 


handeln  soll.  Die  Wünsche  der  Betheiligten  sollen  nicht 
nur  für  die  Abgrenzung,  sondern  schon  für  die  Frage  der 
Errichtung  von  Gewerbekammern  überhaupt  massgebend 
sein.  Die  obligatorische  Gewerbekammer  hätte  nach  den 
Motiven  des  Entwurfes  den  §§  97  und  97a  der  Gewerbe- 
ordnung „widersprochen“,  „die  von  dem  Grundsatz  frei- 
willigen Zusammenschlusses  ausgehe“  und  den  Beitritts- 
zwang ausschliesse.  Diese  Berufung  auf  die  Gewerbeordnung 
ist  unseres  Erachtens  sehr  anfechtbar;  die  letztere  ordnet 
in  den  betr.  Paragraphen  die  Stellung  freiwilliger  gewerb- 
licher Vereinigungen  (Innungen),  verbietet  aber  nicht  die 
landesgesetzliche  Errichtung  obligatorsicher  Interessenver- 
tretungen. Die  mangelhafte  Kompetenz  der  geplanten 
Gewerbekammern  ist  einfach  mit  der  Redewendung  „be- 
gründet“, dass  ihnen  ein  Mehr  „nicht  zukomme“.  Die  schon 
besprochenen  Bestimmungen,  nach  welchen  sich  Industrielle 
betheiligen  und  Gewerbekammern  als  Abtheilungen  ein- 
zelner Handelskammern  errichtet  werden  können,  werden 
damit  gerechtfertigt,  dass  „die  Erfahrungen  bezüglich  der 
Wirksamkeit  freiwilliger  Vereinigungen,  deren  Mitglieds- 
kreis  auf  die  Kleingewerbetreibenden  beschränkt  sei,  ernst- 
liche Zweifel  an  der  Nützlichkeit  einer  derartigen  Isolirung 
erweckten“  und  es  als  richtiger  erscheinen  Hessen,  das 
Kleingewerbe  „in  möglichst  lebhafte  Beziehungen  zu  seiner 
Lehrmeisterin,  der  Industrie,“  zu  bringen.  Die  Vermuthung, 
dass  die  Handwerker  dies  von  ihrem  sozialen  Standpunkt 
aus  als  eine  Bestellung  des  Bocks  zum  Gärtner  bezeichnen 
werden,  ist  nicht  abzuweisen,  und  auf  der  andern  Seite 
verwahrt  sich  auch  die  Mannheimer  Handelskammer  gegen 
die  projektirte  Verquickung,  indem  sie  ausführt:  „Es  ist 
gar  nicht  abzusehen,  warum  die  Grossgewerbetreibenden 
zur  Berathung  von  Fragen  des  Kleingewerbes  sollen  bei- 
gezogen werden  können.“  Lind  wenn  sie  auch  die  Möglich- 
keit streift,  „dass  sich  in  den  Gewerbekammern  eine  Art 
Trutzkammern  zu  den  bestehenden  Handelskammern  bilden“, 
so  schliesst  sie  doch  damit,  „dass  die  Gewerbekammern  mit 
den  Handelskammern  nicht  vereinigt  werden  sollten,  wenn 
die  letzteren  das  nicht  wünschen“,  denn  das  Bestreben, 
verbunden  zu  werden,  gehe  ja  doch  vom  Gefühl  einer  ge- 
wissen Unselbständigkeit  aus.  Ueberhaupt  lässt  die  Handels- 
kammer sehr  deutliche  Zweifel  an  der  Organisationsfähigkeit 
des  Handwerks,  sowie  das  starke  Bestreben  durchblicken, 
dass  die  Grossindustriellen  unter  sich  bleiben.  Weiter 
ist  aus  der  neueren  Veröffentlichung  ersichtlich,  dass  sich 
der  Regierungsentwurf  die  Organisation  der  Kammern  und 
ihr  Verhältnis  zu  den  Handwerkern  so  zwanglos  wie 
möglich  denkt,  eigentlich  nicht  viel  anders,  als  wenn  freie 
Vereinigungen  geschaffen  werden  sollten;  die  Gewerbe- 
kammer soll  Versammlungen  ihrer  Wahlberechtigten 
veranstalten  können,  kleine  örtliche  Unterabtheilungen 
haben  u.  s.  w.,  und  von  der  Einrichtung  fester  Sekretariate, 
von  denen  allein  Erhebungen  und  Aehnliches  ausgehen 
könnten,  ist  gar  keine  Rede.  Die  Begründung  bezweifelt 
freilich  selbst,  ob  es  auf  diesem  Wege  gelingen  werde,  „die 
weit  verbreitete  Theilnahmlosigkeit“  zu  überwinden,  und 
sie  hat  sehr  Recht,  diesen  Zweifel  zu  äussern.  Als  be- 
zeichnende Zuthaten  im  Kleinen  sei  die  bekannte  Ver- 
knüpfung der  Wahlfähigkeit  mit  der  Ueberschreitung  des 
25.  Lebensjahres,  sowie  die  Uebertragung  einer  gewissen 
sittenpolizeilichen  Aufsicht  über  ihre  Mitglieder  an  die 
Kammer  (§  12)  erwähnt. 

Danach  sind  die  Urheber  des  Entwurfes  noch  viel 
mehr  in  einer  gewissen  sozialpolitischen  Aengstlichkeit  und 
Halbheit  befangen,  als  das  die  ersten  Mittheilungen  der 
„Bad.  Korr.“  erkennen  Hessen,  wozu  freilich  die  Eigen- 
thümlichkeit  des  Stoffes,  der  hier  zu  einer  lebensfähigen 
Gestalt  geformt  werden  soll,  nicht  wenig  beigetragen  haben 
mag.  Viel  kann  auch  bei  diesem  Experiment  für  das 
Handwerk  nicht  herauskommen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Die  neuesten  Fortschritte  der  Fabrikgesetzgebung 
in  Russland. 

Die  allmähliche  Entwickelung  der  Fabrikindustrie  in 
Russland  ist  begleitet  von  einem  steten,  wenn  auch  lang- 
samen Wachsthum  der  Schutzgesetzgebung  zu  Gunsten  der 
jArbeiter  und  mehr  noch  von  einem  Eindringen  der  behörd- 


lichen Vorschriften  in  alle  Einzelheiten  des  Verhältnisses 
zwischen  Arbeit  und  Kapital. 

Erst  im  Jahre  1882  hat  man  überhaupt  an  Arbeiter- 
schutz gedacht.  Ein  Projekt,  das  alle  Einzelheiten  des  ge- 
werblichen Lebens  umfasste,  wurde  durch  Einwendungen 
verschiedener  Behörden  auf  eine  solche  Weise  zugeschnitten, 
dass  davon  nur  das  Verbot  von  Kinderarbeit  unter  12Jahren 
und  die  Beschränkung  der  Nachtarbeit  der  Frauen  übrigblieb. 
Auch  dieses  Wenige  wurde  nicht  für  das  ganze  Reich 
nothwendig  erachtet.  Man  bildete  bloss  drei  Inspektions- 
bezirke,  Moskau,  Petersburg  und  Wladimir,  das  übrige 
Land  tiberliess  man  seinem  früheren  Schicksale;  das  grösste 
Arbeiterelend  und  eine  masslos  lange  Arbeitszeit  herrschten 
jetzt,  ebenso  wie  früher.  Doch  schon  im  Jahre  1886  wurde 
die  Zahl  der  Inspektionsbezirke  um  sechs  neue  vermehrt 
und  Vorschriften  zur  Regelung  der  Arbeit  der  Erwachsenen 
erlassen.  Bezeichnend  ist  dabei,  dass  nur  einzelne 

Provinzen  (Gouvernement)  den  vollen  Vortheil  der 

Arbeiterschutzgesetzgebung  gemessen.  Bis  aut  das  Jahr 
1891  die  Moskauer,  Petersburger  und  Wladimirer,  seit 
Oktober  dieses  Jahres  noch  die  Provinz  Warschau 
und  Petrokow.  Da  man  in  wirthschaftlichen  Regierungs- 
massregeln  immer  das  politische  Moment  suchen  soll  und 
umgekehrt,  ist  es  nicht  überflüssig  daran  zu  erinnern,  dass 
in  den  beiden  zuletzt  genannten  Provinzen  die  Maifeier  in 
diesem  Jahre  ganz  nach  westeuropäischem  Muster  begangen 
wurde,  und  dass  hier  die  Arbeiter  an  Selbst-  und  Klassen- 
bewusstsein den  deutschen  und  österreichischen  keineswegs 
nachstehen.  Die  Ausdehnung  der  Fabrikgesetzgebung  auf 
diese  Provinzen,  wo  jetzt  statt  des  einen  Fabrikinspektors 
in  Warschau,  zwei  Inspektionsbezirke  in  Warschau  und 
Petrokow-  mit  je  einem  Inspektor,  drei  Gehilfen  und  zwei 
Komitees  gebildet  wurden,  ist  also  wohl  begründet  und  ihre 
Ursachen  leuchten  ein. 

Die  Fabrikinspektion  umfasst  alle  industriellen  Betriebe 
mit  Ausnahme  von  Handwerk,  Hausindustrie,  derjenigen 
Llnternehmungen,  welche  der  Regierung  gehören  und 
solcher  Gruben,  wo  eine  besondere  Aufsicht  seitens  der 
Regierung  ausgeübt  wird.  Die  Aufsichtskomitees  haben 
eine  so  ausgedehnte  Vollmacht,  dass  sie  den  Schutz  auch 
auf  neue  Betriebe  anwenden  dürfen.  So  wurde  in  Warschau 
der  Schutz  auf  jeden  Handwerksbetrieb  ausgedehnt,  wenn 
er  1 6 Gehilfen  beschäftigt,  oder  Maschinen  und  mechanische 
Motoren  anwendet. 

Neben  den  Bezirksinspektoren,  ihren  Gehilfen  und 
den  Komitees  besteht  noch  ein  Hauptinspektor;  seine  Rolle 
ist  aber  mehr  formell  und  die  unteren  Beamten  sind  für 
ihre  Bezirke  massgebend.  Russland  ist  zu  ausgedehnt  und 
in  seiner  Entwickelung  zu  mannigfaltig,  als  dass  ein  einziger 
centraler  Wille  alle  Theile  nach  einem  Muster  leiten  könnte, 
wie  es  z.  B.  in  England  vom  Chiefinspektor  Redgrave  ge- 
schieht. Hier  soll  zwar  über  alles  an  den  Hauptinspektor  be- 
richtet werden,  die  Inspektoren  aber  dürfen  im  übrigen  walten, 
wie  es  ihnen  und  den  Komitees  am  besten  scheint.  Letztere 
bilden  eigentlich  eine  vollziehende  Behörde  in  allem,  was 
das  Verhältniss  der  Unternehmer  zu  ihren  erwachsenen 
Arbeitern  betrifft.  Die  Unternehmer  werden  für  eine  eigen- 
willige Entlassung  des  Arbeiters  oder  für  andere  Miss- 
bräuche mit  Geldstrafen  bis  zu  100  Rubel  oder  Einsperrung 
bis  zu  einem  Monat  bestraft;  und  das  ist  keine  blosse  Drohung, 
sie  müssen  auf  die  Anklage  ihrer  Arbeiter  nicht  selten  ins 
Gefängniss  wandern,  wie  diese  wegen  der  ihrigen.  Nur  unter- 
liegen die  Arbeiter  viel  höheren  Strafen  und  werden  von 
den  Gerichten  abgeurtheilt.  Vom  Gerichte  werden  auch 
die  Anklagen  in  Sachen  der  Minderjährigen  entschieden. 

Die  Komitees  sind  eine  so  merkwürdige  und  lür 
die  russischen  Zustände  charakteristische  Einrichtung, 
dass  wir  ihnen  ein  paar  Worte  widmen  müssen.  In  jeder 
Stadt  bestehen  ihrer  zwei.  Die  eine  wird  von  der  Polizei-, 
die  andere  von  den  Provinzbeamten  gebildet,  beide  mit 
Zuziehung  zweier  Industrieller  oder  Fabrikbesitzer  und 
eines  Gendarmen  Letzterer  soll  in  den  Charakter  des 
Verhältnisses  zwischen  Unternehmer  und  Arbeiter  Einsicht 
haben  und  die  Entwickelung  der  sozialistischen  Tendenzen 
unter  den  Arbeitern  verfolgen.  Dem  Polizeikomitee  unter- 


84 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  6. 


liegt  alles  was  sich  auf  die  Ausweise  der  Arbeiter,  ihre 
Zugehörigkeit  und  ihren  Aufenthalt  in  einer  Fabrik  be- 
zieht. Das  Provinzkomitee  sorgt  für  industrielle  Ange- 
legenheiten, Schutz  der  Arbeiter,  pünktliche  Auszahlung 
der  Löhne,  Einhaltung  des  Arbeitsvertrags,  Beseitigung  des 
Trucksystems,  Entschädigung  für  Unfälle,  Krankenkassen 
und  dergleichen  mehr.  In  beiden  ist  der  Fabrikinspektor 
das  anklagende,  referirende  und  Bescheid  gebende  Mitglied. 
Es  ist  aber  erlaubt,  gegen  diesen  Beamten  vor  dem  Komitee 
Klagen  zu  erheben,  welche  dann  an  den  Finanzminister 
gelangen.  Solche  Komitees  (prisutstwia)  sind  eben  im 
Oktober  vergangenen  Jahres  in  Warschau  und  Petrokow 
errichtet  worden  und  haben  schon  Vorschriften  erlassen, 
einerseits  bezüglich  der  strengeren  Aufsicht  über  die  Pässe 
und  die  Ausweise  der  Arbeitenden,  andererseits  zum  Schutz 
und  zur  Wahrung  der  Gesundheit  und  zur  Vorbeugung 
von  Unfällen. 

Warschau.  Sophie  Daszynska. 


Arbeiterschutz  in  der  Mühlenindtistrie.  Im  Aufträge 
von  2500  Müllergesellen  hat,  wie  No.  3 des  Fachblattes  der 
Müller  und  verwandten  Berufsgenossen  Deutschlands  vom 
3.  Februar  mittheilt,  der  Redakteur  H.  Käppler  eine  Petition 
an  den  Bundesrath  gerichtet,  in  der  folgende  Forderungen 
zu  Gunsten  der  Mühlenarbeiter  aufgestellt  werden:  1.  die 
Festsetzung  einer  Arbeitszeit  von  täglich  12  Stunden  (incl. 
einer  Stunde  Mittagspause),  2.  eine  Verordnung,  wonach 
§ 105  b der  Gewerbe-Ordnung  ohne  alle  Einschränkung 
Geltung  erhalten  solle,  3.  die  Anwendung  des  § 135,  Ab- 
satz 3,  der  Gewerbe-Ordnung,  wonach  junge  Leute  zwischen 
14  und  16  Jahren  nur  10  Stunden  täglich  beschäftigt  werden 
und  4.  eine  Anweisung  an  die  überwachenden  Beamten 
der  Unfall-Berufsgenossenschaften,  wonach  die  „geradezu 
skandalöse“  Nichtachtung  der  Unfallverhütungsvorschriften 
seitens  der  grossen  Mehrzahl  der  Mühlenbesitzer  energischer 
verfolgt  werden  solle  als  bisher. 

Die  traurige  Lage  der  deutschen  Mühlenarbeiter  ( vgl. 
Sozialpolitisches  Centralblatt,  No.  1,  S.  7 fg.)  lässt  jede  der 
hier  formulirten  Forderungen  durchaus  berechtigt  erschei- 
nen, und  wenn  der  Degeneration  dieser  Arbeiterklasse  ein 
Ziel  gesetzt  werden  soll,  ist  die  Bewilligung  ihrer  Ansprüche 
dringend  geboten. 


Arbeiterversicherung. 

Eine  Enquete  betreffend  die  Krankenversicherung. 

Die  Ansicht,  dass  eine  Enquete  nur  dann  Erfolg  ver- 
spricht, wenn  ihre  Einberufung  von  der  Staatsvei  waltung 
oder  einer  gesetzgebenden  Körperschaft  erfolgt,  ist  eine 
sehr  verbreitete.  Ich  hatte  kürzlich  Gelegenheit,  mich  da- 
von zu  überzeugen,  dass  auch  Untersuchungen,  die  von 
privater  Seite  veranstaltet  werden,  schöne  Ergebnisse  zu 
liefern  vermögen.  Zum  Zwecke  der  Klarlegung  der  bis- 
her mit  dem  Krankenversicherungsgesetze  gemachten  Er- 
fahrungen, den  zu  Tage  getretenen  Härten  und  Lücken,  hat 
zu  Ende  des  \ orjahres  der  Verband  der  genossenschaft- 
lichen Krankenkassen  V iens  eine  mündliche  Enquete  ver- 
anstaltet, die  nach  meiner  Beurtheilung  werth  volles  Material 
für  die  Reform  der  Krankenversicherung,  aber  auch  inter- 
essante Daten  sozialpolitischen  Charakters  zu  Tao-e  o-e- 
fördert  hat. 

Es  kann  nicht  Zweck  der  folgenden  Zeilen  sein,  die 
Ergebnisse  der  Untersuchung  mitzutheilen.  Dies  wird  erst 
dann  geschehen  können,  wenn  die  stenographischen  Auf- 
zeichnungen der  Oeffentlichkeit  übergeben  sein  werden. 
Heute  soll  lediglich  die  Einrichtung  und  Durchführung  der 
Enquete  skizzirt  werden. 

Von  vornherein  stand  es  fest,  dass  die  Untersuchung 
eine  ausschliesslich  mündliche  sein  müsse.  Dafür  sprach 
der  Umstand,  dass  die  zahlreichen  Erfahrungen  allzu  um- 


fangreiche Aufzeichnungen  erfordern  würden:  es  fiel  aber 
noch  ins  Gewicht,  dass  vielen  Funktionären,  insbesondere 
der  kleineren  Kassen,  die  schriftliche  Bekanntgabe  ihrer  An- 
schauungen und  Wünsche  unmöglich  zugemuthet  werden 
durfte. 

Anders  gestaltete  sich  die  Sachlage  rücksichtlich  der 
frage  der  Oeffentlichkeit  der  Verhandlungen.  Auf  der 
einen  Seite  stand  derselben  das  österreichische  Versamm- 
lungsrecht im  Wege:  andererseits  konnte  man  sich  auch 
nicht  verhehlen,  dass  der  Kreis  derjenigen,  die  gleichzeitig 
Verständniss  und  Interesse  dem  Gegenstände  entgegenzu- 
bringen vermöchten,  ein  enggezogener  sei.  So  entschloss 
man  sich  denn,  auf  die  unbeschränkte  Oeffentlichkeit  zu 
verzichten,  dafür  aber  Allen,  die  Aufschlüsse  zu  gewähren 
in  der  Lage  sein  konnten,  den  Zutritt  zu  ermöglichen.  Dies 
erfolgte  in  der  Art,  dass  die  in  Betracht  kommenden  Kassen, 
sowie  einzelne  Personen,  deren  Interesse  für  die  Kranken- 
versicherung bekannt  war,  endlich  aber  auch  die  berufenen 
Behörden  von  dem  Stattfinden  der  Enquete  und  dem  Zwecke 
derselben  Mittheilung  erhielten.  Auf  Grund  dieser  Benach- 
richtigung bewarben  sich  fast  alle  Krankenkassen  um 
Eintrittskarten  für  ihre  Delegirten;  auch  die  Gewerbe- 
behörde entsandte  zeitweilig  einen  Vertreter. 

Zur  Leitung  der  Diskussion  wurde  eine  Kommission 
von  erfahrenen,  auf  dem  Gebiete  der  Krankenversicherung 
bewanderten  Personen  eingesetzt,  von  welcher  ein  Fragebogen 
1 ausgearbeitet  und  längere  Zeit  vor  Beginn  der  Enquete  an 
die  Theilnehmer  ausgesendet  wurde.  Bei  dieser  Gelegen- 
heit zeigte  sich  recht  drastisch,  wie  unrichtig  es  ist,  die 
Aufstellung  von  Fragebogen  unter  allen  LTmständen  zu  ver- 
werfen. Bei  der  grossen  Menge  von  Punkten,  die  behandelt 
werden  mussten,  hätten  Experten  wie  Konimissionsmitglieder 
den  Faden  verloren,  wären  viele  Fragen  mehrfach,  andere  . 
gar  nicht  beantwortet  worden.  Gewiss  wird  der  Frage- 
bogen nicht  am  Platze  sein,  wo  man  nur  ganz  allgemein 
weiss,  worauf  die  Untersuchung  sich  zu  erstrecken  hat.  ! 
Sind  jedoch,  wie  vorliegend,  die  konkreten  Punkte,  die  der 
Klärung  bedürfen,  bekannt,  dann  ist  der  Fragebogen  ein 
unumgängliches  Erforderniss.  Das  Fragenschema  hatte  den 
Vortheil,  die  einzelnen  Punkte  zumeist  nur  kurz  anzudeuten, 
ohne  in  eine  nähere  Spezialisirung  einzugehen. 

Bei  der  grossen  Anzahl  von  Theilnehmern  konnte  der  j 
Vorgang  nicht  eingehalten  werden,  dass  Jedermann  zu  jeder  < 
Frage  aufgerufen  werde.  Dies  hätte  neben  einer  unge- 
bührlichen Verlängerung  der  Verhandlungen  — circa  50Theil- 
nehmer  hätten  über  78  Fragen  vernommen  werden  müssen 
auch  eine  zu  grosse  Monotonie  herbeigeführt.  Aus  diesen 
Gründen  wurde  jeder  einzelne  aufgefordert,  sich  zu  frei- 
auszuwählenden  Punkten  in  die  Rednerlisten  einzuzeichnen. 
Ausserdem  erging  nach  Erschöpfung  der  Rednerliste  jedes- 
mal die  Anfrage,  ob  noch  Jemand  vernommen  zu  werden 
wünsche.  Die  Betheiligung  war  so  eine  ausserordentlich 
rege;  das  Auditorium  folgte  dem  Frage-  und  Antwortspiel 
durch  4 —5  Stunden  mit  nicht  ermüdender  Ausdauer. 

Mit  Recht  glaube  ich,  wurde  darauf  gesehen,  dass 
lange  Reden,  breitspurige  Ausführungen  vermieden  wurden. 
Die  drei  abgehaltenen  Sitzungen  waren  fast  ganz  — - wie 
schon  bemerkt  durch  Fragen  und  Antworten  ausgefüllt. 
Dabei  wurden  Unklarheiten  mitleidslos  aufgedeckt,  allge- 
meine Behauptungen  kritisch  geprüft,  auf  Beibringung  von 
Beispielen  gedrungen.  Es  konnte  nicht  fehlen,  dass  auch 
scharfe  Gegensätze  aufeinander  stiessen,  dass  Verschieden- 
heit der  Ansichten  zu  Tage  trat.  All  dass  dürfte  aber  den 
Werth  der  Enquete  nur  steigern. 

Das  Eine  darf  aber  nicht  verschwiegen  werden,  dass 
die  Ergebnisse  nur  theilweise  auf  allgemeineres  Interesse 
Anspruch  erheben  können.  Dahin  gehörten  die  Daten  über 
die  Verbreitung  der  Hausindustrie  und  des  Sitzgesellen- 
wesens in  zahlreichen  Wiener  Gewerben,  über  die  Fluktua- 
tion der  Arbeiterschaft  u.  s.  w.  Der  grösste  Theil  der  Zeit 
wurde  mit  Details  ausgefüllt,  die  für  den  Gesetzgeber  wie 
für  die  Ausführungsbehörden,  die  Kassenfunktionäre  und 
einen  recht  engen  Kreis  von  Theoretikern  Werth  haben 
mögen,  im  Uebrigen  aber  grösster  Gleichgiltigkeit  begegnen 


No.  6 


SO/TAI  ,1’OT  ITISCHES  CRNTKAT.BT.ATT. 


85 


dürften.  Ich  werde  es  trotzdem  nicht  unterlassen,  seiner 
Zeit  die  Reformvorschläge  zum  Krankenversicherungs- 
gesetze, wie  die  Aussagen  sozialpolitischer  Natur  den 
Lesern  dieses  Blattes  zu  vermitteln. 

Wien.  Leo  Verkauf. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 


Ueber  Versuche  zur  Hebung  (1er  Wohnungnoth  der 
Arbeiter  wurde  in  der  Versammlung  vom  1 . d.  Mts.  des 
„Vereins  zur  Beförderung  des  Gewerbfleisses“  in  Berlin  de- 
battirt.  Die  Aeusserungen  der  verschiedenen  Vertreter  der 
in  der  Reichshauptstadt  für  obigen  Zweck  bestehenden 
Gesellschaften  Hessen  erkennen,  dass  beinahe  jeder  Verein 
dem  Uebel  auf  einem  anderen  Wege  steuern  will,  was  wohl 
nicht  anders  sein  kann,  so  lange  man  lediglich  gegen  die 
vielgestaltigen  Symptome  der  eigentlichen  Krankheit  kämpft. 
Professor  Post  von  der  Centralstelle  für  Wohlfahrtseinrich- 
tungen will  die  Arbeiter  aufs  Land  drängen.  Ein  Industrieller 
in  Ludwigsburg  mache  es  schon  jetzt  zur  Bedingung,  dass 
seine  Arbeiter  auf  dem  Lande  Wohnung  nehmen,  andere 
setzten  Prämien  für  die  aus,  die  auf  dem  Lande  wohnen, 
wogegen  Fabrikdirektor  Holtz  geltend  machte,  dass  sich  die 
Arbeiter  mit  Recht  dagegen  wehrten,  aus  der  direkten 
Wohnverbindung  mit  anderen  Klassen  herausgerissen 
zu  werden,  — als  wenn  dieses  an  und  für  sich 
durchaus  berechtigte  Streben  nicht  heute  schon  in 
allen  grösseren  Städten  durch  die  Macht  der  Verhältnisse 
durchkreuzt  wäre!  Professor  Post  war  sodann  mehr  für 
die  Erzielung  billigerer  Miethspreise  für  Arbeiter  durch 
Genossenschaften,  während  die  Vertreter  der  Bauvereine 
und  Baugenossenschaften  an  der  Nützlichkeit  des  Häuser- 
erwerbes durch  Arbeiter  festhielten,  ohne  zu  beachten,  wie 
bewegt  ein  Arbeiterleben  heute  sich  zu  gestalten  pflegt. 
Amtsrichter  Aschrott  sprach  sich  für  gross  angelegte  und 
deshalb  dem  Arbeiter  billiger  zu  bietende  Wohnungen,  für 
Aktienwohnhäuser  (Kasernensystem)  aus  und  will  die  Kapi- 
talien der  Alters-  und  Invaliditäts-Versicherung  zum  Bau 
derselben  verwendet  wissen,  während  Bankier  W eissbach  diese 
Aufgaben  den  Gemeinden  zuweist.  Recht  bezeichnend  ist 
es,  dass  in  der  Debatte  gerade  die  für  die  Wohnungsfrage 
entscheidenden  Gesichtspunkte  nicht  hervorgehoben  wurden. 
Weder  die  ökonomische  Lage  des  Arbeiters  und  ihr  Ein- 
fluss auf  die  Gestaltung  der  Wohnungsverhältnisse,  noch 
der  unvermeidliche  Zusammenhang  des  monopolistischen 
Charakters  des  städtischen  Grundeigenthums  nebst  seinen 
Begleiterscheinungen  des  Baustellen-  und  Häuserwuchers 
mit  der  herrschenden  Wohnungsnoth,  noch  auch  endlich 
die  Frage  näch  der  Stellung  des  Staates  und  der  Gemeinde 
wurden  gewürdigt.  Und  doch  bewegt  man  sich  in  Betreff 
der  Wohnungsfrage  auf  unfruchtbaren  Irrwegen,  so  lange 
man  über  die  Bedeutung  jener  ausschlaggebenden  Momente 
nicht  zur  Klarheit  gelangt  ist. 

Zur  Reform  der  Berliner  Bauordnung.  Der  Vor- 
stand des  deutschen  Bundes  für  Bodenbesitzreform  hat  am 
21.  Januar  d.  J.  an  den  Berliner  Polizeipräsidenten  eine 
Petition  gerichtet,  in  welcher  um  eine  verschärfte  Bauord- 
nung für  die  äusseren  Stadttheile  gebeten  wird.  Es  wird 
ausgeführt,  dass  die  Bauordnung  vom  15.  Januar  1887  in 
vielfacher  Hinsicht  eine  bessere  bauliche  Gestaltung  der 
Stadt  herbeigeführt  hat.  Wolle  man  aber  die  Möglichkeit 
für  den  Bau  kleinerer  Wohnhäuser  in  ausgedehnterem  Mass- 
stab  schaffen,  so  müsste  die  jetzige  Bauordnung  für  die 
äusseren  Stadttheile  d.  h.  für  die  Terrains  ausserhalb  der 
alten  Stadtthore  bis  zur  Weichbildgrenze  ergänzt  werden.  Es 
müsse  bestimmt  werden,  dass  dort  vom  Inkraftreten  der  zu 
erlassenden  Verordnung  an  die  Höhe  der  Häuser  nur  drei 
Stockwerke  betragen  dürfe  und  dass  die  bebauungsfähige 
I'  läche  für  diese  Stadttheile  von  zwei  Dritteln  auf  die  Hälfte 
der  Gesammtfläche  herabgesetzt  werden  müsse.  Es  heisst 
in  der  Petition  weiterhin:  „Ist  die  Errichtung  von  Mieths- 
kasernen  erlaubt,  so  lassen  die  Besitzer  die  Bauflächen  lieber 
zehn  oder  zwanzig  Jahre  als  Wüstenei  liegen,  ehe  sie  den 
Boden  zu  einem  Preise  abgeben,  welcher  die  Errichtung 
von  niedrigen  Einzelhäusern  erlaubt.  Die  Errichtung  von 


Landhäusern  rund  um  die  Stadt,  welche  ein  soviel  gesun- 
deres Wohnen  herbeiführen,  ist  aus  diesem  Grunde  so  gut 
wie  unmöglich.  Aus  demselben  Grunde  kann  es  den  zahl- 
reichen gemeinnützigen  Baugesellschaften  nicht  gelingen, 
sei  es  auch  in  noch  so  erheblicher  Entfernung  vom  Mittel- 
punkte der  Stadt,  niedrige  Arbeiterhäuser  zu  errichten.“ 

Wohnungszustände  in  Mannheim.  Bekanntlich  bestehen 
in  den  grösseren  Städten  des  Grossherzogthums  Baden  Kom- 
missionen zur  Untersuchung  der  kleinen  Wohnungen  (Ar- 
beiterwohnungen). 

Wie  übel  noch  die  Wohnungs Verhältnisse  der  Arbeiter 
in  Mannheim  bestellt  sind,  wie  theuer  und  schlecht  da  noch 
viele  Arbeiter  wohnen  müssen,  hat  man  in  objektiver  Dar- 
stellung aus  dem  Werk  des  Fabrikinspektors  Wörishoffer 
ersehen  können.  Jetzt  liegt  wieder  ein  Bericht  der  Unter- 
suchungskommission vor,  welcher  die  innere  alte  Stadt 
umfasst,  während  die  Aussenstadt,  die  neuen  Arbeiterviertel, 
noch  zu  untersuchen  bleiben. 

Das  Resultat  der  Untersuchung  ergab  traurige  Zustände 
und  mussten  250  Wohn-  und  Schlafräume  als  gesundheits- 
widrig bezeichnet  und  deren  Benutzung  für  solche  Zwecke 
untersagt  werden.  Bei  einer  weiteren  Anzahl  von  Räumen 
wurde  die  fernere  Benutz'ung  nur  gestattet,  wenn  die  noth- 
wendigen  Verbesserungen  sofort  vorgenommen  würden. 

Die  Häuser  mit  gänzlich  verbotenen  Wohnungen 
müssen  vollständig  umgebaut  werden , um  der  Hygiene 
entsprechende  Räume  herzustellen.  Wird  man  endlich  auch 
in  anderen  Staaten  oder  im  Reich  für  Untersuchungen  der 
Arbeiterwohnungen  sorgen? 


Armenwesen. 

Die  Individual-Armenstatistik  des  Wiener  Vereins 
gegen  Verarmung  und  Bettelei.1) 

Der  grösste  Wiener  Armenpflegeverein,  der  „Verein 
gegen  Verarmung  und  Bettelei“,  verfügt  seit  den  II  Jahren 
seines  Bestandes  über  Personalakten  von  50  000  Hilfe- 
suchenden. Der  Präsident  des  Vereins  v.  Inama-Sternegg 
hat  dieselben  benützt,  um  eine  Individualstatistik  für  10ÖÖ0 
dieser  Personen,  bezüglich  welcher  die  besten  Daten  Vor- 
lagen, zu  veranstalten  und  legt  das  Resultat  den  Lesern 
vor.  Damit  ist  die  erste  grössere  Individualstatistik  aus 
österreichischen  Verhältnissen  gegeben  und  ein  Einblick 
gewonnen,  der  sowohl  vermöge  der  bedeutenden  Zahl  der 
Individuen  als  auch  in  Folge  ganz  neuer  Erhebungsmomente 
Beachtung  verdient. 

Was  die  Wirksamkeit  des  Vereins  anlangt,  so  ist  sie  zu- 
nächst nicht  auf  die  - um  mit  dem  Verfasser  zu  sprechen 
„chronisch  Nothleidenden“  gerichtet,  sondern  sie  bezweckt 
vor  Allem  die  „Hebung  sinkender  Existenzen“. 

Die  Nachrichten,  welche  wir  über  die  Zuständigkeit 
erhalten,  beweisen,  dass  das  österreichische  System  des 
mit  dem  Heimathsrechte  in  Verbindung  stehenden  gesetz- 
lichen Armenwesens  nur  deshalb  fortbestehen  kann,  weil 
es  nicht  gehandhabt  wird.  Es  waren  von  je  100  gezählten 
Armen  zuständig:  in  Wien  31,8%  und  auswärts  68,2  %. 
Angenommen,  die  Gemeinde  wollte  von  den  gesetzlichen 
Bestimmungen  Gebrauch  machen  und  die  Fremdzuständigen 
nur  in  den  dringendsten  Fällen  momentan  selbst  unter- 
stützen, später  aber  und  in  allen  anderen  Fällen  ihrer 
Heimathsgemeinde  überantworten,  so  hätten  von  der  hier 
untersuchten  Klientel  des  Vereins  gegen  Verarmung  und 
Bettelei  allein  7000  Individuen  den  Wanderstab  ergreifen 
müssen.  Es  ist  heute  gar  nicht  mehr  möglich,  dass  die 
Gemeinden  sich  nach  den  Bestimmungen  des  Heimaths- 
gesetzes  richten,  auch  dann  nicht,  wenn  sie  auf  eine 
Rückerstattung  der  für  Fremdzuständige  ausgelegten  Be- 
träge gar  nicht  rechnen  können.  Noch  deutlicher  wird 
dies,  wenn  wir  nachfragen,  wie  lange  diese  ca.  7000  fremd- 
zuständigen Armen  bereits  in  Wien  wohnten: 

1)  Die  persönlichen  Verhältnisse  der  Wiener 
Armen.  Statistisch  dargestellt  nach  den  Materialien  des  Vereins 
gegen  Verarmung  und  Bettelei  von  dessen  Präsidenten  K.  Th. 
von  Inama-Sternegg.  Wien  1892,  Selbstverlag  des  Vereins, 
4-",  22  S. 


86 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  6. 


Dauer  des  Aufenthaltes 

In  Prozenten 

Männer  Weiber  I zusammen 

bis  1 Jahr 

1,6 

1,7 

1,6 

1 — 2 Jahre 

2,9 

2,8 

2,9 

3-  5 „ 

5,6 

5,1 

5,4 

6—10  „ .... 

15,4 

13,8 

14,8 

11—20 

35,5 

33,6 

34,9 

über  20  „ 

39,0 

43,0 

40,4 

zusammen  . . . 

100,0 

100,0 

100,0 

Aus  den  Nachrichter 

über  den 

Civilstand 

möchte  ich 

nur  auf  ein  Moment  hinweisen  und  das  ist  die  enorme  Zahl 
der  unehelichen  Kinder  bei  dieser  Bevölkerung;  von 
den  weiblichen  Ledigen  haben  4- 1 °/0  uneheliche  Kinder  und 
zwar  26,5  % mehr  als  eines,  und  von  den  ledigen  Männern 
8%.  Rechnet  man  dazu  jene  Fälle,  bei  denen  das  unehe- 
liche Kind  bereits  gestorben  ist,  und  diese  mögen  nicht 
wenig  zahlreich  sein,  so  kann  man  wohl  ruhig  behaupten, 
dass  eine  uneheliche  Progenitur  zum  charakteristischen 
Merkmal  dieser  Bevölkerungsklasse  gehört. 

Neue  Aufschlüsse  bietet  die  Erhebung  über  das  Ein- 
kommen und  die  Miethsverhältnisse  der  Armen.  Nur  ist 
dabei  stets  zu  bedenken,  dass  es  im  Allgemeinen  „sinkende 
Existenzen“  und  nicht  der  Armuth  ganz  Anheimgefallene 
sind,  um  welche  es  sich  hier  handelt.  Demnach  fanden 
sich  14%  der  Männer  und  16%  der  Frauen  ohne  jedes 
Einkommen.  Die  letzteren  sind  fast  ausschliesslich  Tag- 
löhnerinnen und  Personen  mit  wechselnder  oder  ohne  alle 
Beschäftigung.  Bei  den  männlichen  Einkommenslosen  sind 
dagegen  fast  alle  Berufsgruppen  vertreten,  relativ  am 
stärksten  natürlich  die  Berufslosen,  von  denen  überhaupt 
fast  die  Hälfte  auch  ganz  ohne  Einkommen  war.  Da  aber 
nun  von  allen  berufslosen  Männern  % verheirathet  und  % 
Familienväter  sind,  so  ergibt  sich,  dass  wir  hier  vor  einer 
breiten  Schichte  der  eigentlichen  Massenarrouth  stehen. 

Der  sogenannte  Nebenerwerb  spielt  bei  diesen 
Volksklassen  eine  ungemein  wichtige  Rolle  und  kommt  bei 
ca.  V*  der  Fälle  in  Betracht;  bei  besonderen  Klassen  steigt 
der  Prozentsatz  auch  bis  annähernd  an  60.  In  wieweit  das 
Nebeneinkommen  die  Existenzverhältnisse  zu  verbessern 
vermag,  kann  aus  der  folgenden  Uebersicht  entnommen 
werden;  von  je  100  ein  Einkommen  Beziehenden  waren  im 
Besitze  eines  solchen  von: 


bis 
25  fl. 

25  bis 
50  fl. 

über 
50  fl. 

zu- 

sammen 

rnännl.  Personen  mit  Neben- 
erwerb . . 

14 

49 

37 

100 

„ ohne  Neben- 
erwerb . . 

33 

53 

14 

100 

weibl. 

„ mit  Neben- 
erwerb . . 

30 

42 

28 

100 

V 

„ ohne  Neben- 
erwerb . . 

77 

18 

5 

100 

Unter  den  Ausgaben  beansprucht  der  hohe  Mieth- 
zins  die  grösste  Beachtung  seitens  der  Armenpflege.  Die 
hier  beobachteten  Armen  vermochten  zur  Hälfte  nicht  mehr 
als  5 fl.  monatlich  =:  60  fl.  jährlich  für  die  Miethe  selbst 
(d.  h.  ohne  Rücksicht  auf  Aftermiether,  Schlafleute  etc.) 
aufzubringen.  Es  zahlten  überhaupt  von  je  100  gar  keine 
Miethe  3,  einen  Monatszins  bis  5 fl.  13,  von  5 — 10  fl.  40,  und 
über  10  fl.  44  Unterstützte.  Dabei  kommt  eine  Afterver- 
miethung  bei  einem  Miethzins  von  bis  5 fl.  fast  gar  nicht 
vor,  dagegen  bei  einem  Zinse  von  5 — 10  fl.  monatlich  in 
13%  und  bei  einem  solchen  von  über  10  fl.  in  37  % der 
Fälle.  Im  Allgemeinen  fand  sich  die  Weitervermiethung 
bei  26%  der  männlichen  und  31%  der  weiblichen  Unter- 
stützten. Diese  Zahlen  erhalten  einen  düsteren  Hintergrund 
durch  die  Wiener  Wohnungszustände.  Eine  Wohnung  resp. 
ein  Zimmer  (ohne  Küche)  zum  Preise  von  weniger  als  5 fl. 
dürfte  wohl  in  »'anz  Wien  nicht  zu  erhalten  sein  und  auch 
kaum  in  den  Vororten,  abgesehen  von  einigen  dumpfen 
Kellern  und  Dachräumen.  Die  13%  Lhiterstiitzten,  welche 
diesen  Miethzins  zahlen,  dürften  vielleicht  Schlafleute  sein, 
denn  in  der  Stadt  wird  von  Schlafleuten  für  1 Bett  per 
Woche  1 fl.  gezahlt.  Die  eigentlichen  Wohnungen,  be- 
stehend aus  einem  Zimmer  und  allenfalls  einem  ganz  kleinen 
Küchen-  oder  Vorraum,  kosten  selbst  in  den  ehemaligen 
Vororten  8 fl.  monatlich  = ca.  100  fl.  jährlich  und  unter 


diesen  Verhältnissen  wohnen  40n/n  der  Unterstützten,  von 
welchen  aber  13%  Aftermiether  resp.  Schlafleute  beher- 
bergen. Es  wohnen  also  nun,  was  diese  beiden  Gruppen  an- 
belangt, 13  -J-40  = 53"/0  in  einem  Wohnraume,  davon  ‘/7  bis  ! 
7S  mit  Schlafleuten  etc.  Aber  auch  bei  denjenigen,  welche  ! 
eine  höhere  Miethe  als  10  fl.  monatlich  zahlen,  wird  die  j 
Sache  im  Allgemeinen  nicht  besser  stehen.  Eine  Wohnung, 
bestehend  aus  Zimmer  und  Küche,  kostet  im  Allgemeinen 
mehr  als  100  fl.  und  in  solchen  dürften  jene  44%  wohl  zu  f 
suchen  sein,  welche  mehr  als  10  fl.  monatlich  zahlen;  von 
diesen  aber  hatten  37  % Aftermiether,  welche  wieder  zum 
grossen  Theil  Schlafleute  sein  dürften.  Damit  haben  wir 
die  Wohnverhältnisse  dieser  Unterstützten  klar  vor  uns.  >. 
Das  ausschlaggebende  Gros  derselben  sind  entweder  selbst 
Schlaf leute  oder  Bewohner  je  eines  Zimmers  resp.  eines  ) 
Zimmers  und  einer  Küche  und  diese  beiden  letztgenannten 
Kategorien  haben  zu  1 „■ — '/♦  selbst  wieder  Schlafleute  resp. 
in  gewissen  Fällen  Aftermiether.  Dabei  aber  darf  man 
nicht  übersehen,  dass  es  immer  noch  nicht  die  eigentliche  i ! 
Massenarmuth  ist,  welcher  wir  hier  begegnen,  sondern  die  J 
sinkenden  Existenzen.  Man  kann  daraus  einen  Schluss  I 
ziehen,  wie  die  Wohnverhältnisse  der  eigentlichen  Armen  j 
beschaffen  sein  mögen.  Dass  die  hier  skizzirten  Zustände  i 
wohl  im  Allgemeinen  zutreffen  dürften,  ergibt  sich  aus  den  ! 
Ziffern,  welche  das  Oesterreichische  Städtebuch  im  I.  Jahr-  ] 
gange  tür  die  Stadt  und  jene  damaligen  Vororte,  welche 
von  der  armen  Bevölkerung  bewohnt  werden,  ermittelte: 


Stadt 

und 

Vororte 

Von  je  100  Wohnungen  hatten 

i Wohn- 
raum1) 

2 Wohn- 
räume  *) 

i und  2 
Wohn- 
räume 
zusammen 

einen  Jahres-Miethzins  von 
bis  1 ioo  bis  1 zusammen 
ioo  fl.  200  fl.  1 bis  200  fl. 

Wien 

29,66 

35,27 

64,93 

13,67  34,07 

47,74 

Fünfhaus  . . . 

10,39 

10,91 

21,30 

18,92  54,55 

73,47 

Sechshaus  . . . 

18,60 

45,65 

64,25 

27,62  49,16 

76,78 

Oberdöbling  . . 

31,84 

23,48 

55,32 

33,26  31,32 

64,58 

Hernals  .... 

55,13 

32,82 

87,95 . 

41,22  I 46,20 

87,42 

Währing  . . . 

45,49 

34,65 

79,14 

25,51  51,89 

77,40 

Ottakring  . . . 

60,67 

23,92 

84,59 

50,71  39,72 

90,43 

Neulerchenfeld  . 

65,26 

26,33 

91,59 

39,05  | 50,29 

89,34 

Hält  man  das  Einkommen  mit  dem  Miethzins  zusammen,  i 
so  kann  wenigstens  so  viel  konstatirt  werden,  dass  in  der  j 
ganz  überwiegenden  Anzahl  der  Fälle  mehr  als  '/*  des  Ein- 
kommens zur  Wohnungsmiethe  verwendet  wird. 

Was  zum  Schlüsse  noch  die  Verschuldung  dieser  ■ 
„sinkenden  Existenzen  anbelangt,  so  geht  aus  der  Erhebung  , 
hervor,  dass  von  den  Unterstützten  ca.  55 — 60%  Mieths- : i 
schulden  und  etwa  70%  andere  Schulden  haben;  je  */4 . 1 
dürfte  keine  Schulden  oder  nur  eine  Kategorie  derselben 
haben , 2/4  aber  sowohl  Miethsschulden  als  auch  andere  |i 
Passiva;  und  zwar  sind  diese  um  so  häufiger,  je  kleiner  das  : 
Einkommen  ist.  Von  den  Miethsschulden  entfallen  auf  die 
Schuldhöhe  bis  25  fl.  80 — 90  % und  zwar  dürfte  dabei  der 
Miethsbetrag  in  den  meisten  Fällen  2 — 3 Monate,  also  nicht 
ganz  ein  Vierteljahr  ausstehen. 

Prag.  Ernst  Mischler. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Damaschke,  Adolf,  Manchesterthum,  Antisemitismus  oder 
Bodenbesitz-Reform.  Vortrag.  Berlin,  Thormann  und 
Goetsch,.  1892.  84  32  S. 

Ex  malis  mimina!  Reflexionen  zur  Prostitutionsfrage. 
Von  einem  Universitätslehrer.  Berlin,  1891,  Philos.-histor. 
Verlag.  8".  15  S. 

Losch,  Dr.  Hermann,  Nationale  Produktion  und  nationale 
Berufsgliederung.  Leipzig,  1892,  Duncker  & Humblot. 
84  XII  und  324  S. 

Mehring,  Franz,  Herrn  Eugen  Richters  Bilder  aus  der 
Gegenwart.  Eine  Entgegnung.  Nürnberg,  1892,  Wör- 
__  lein  & Co.  kl.  84  IV  und  61  S. 

Rüdiger,  Dr.  v.,  Reg.-  und  Gewerbe-Rath,  Wegweiser  zur 
Aufstellung  von  Arbeitsordnungen  aut  Grund  des 
Arbeiterschutzgesetzes  vom  1.  Juni  1891.  Zum  Ge-  J 
brauche  für  Behörden,  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer.  Berlin, 
1892,  Heymann.  84  VIII  und  128  S. 


')  Nicht  eingerechnet  die  Küchen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 

Berlin,  den  8.  Februar  1892. 


Kür  den  Anzeigentheil  sind  die  Redaktion  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Anzeigen-Annahmestelle  nur  bei 
l)r.  Otto  Eysler,  Berlin  SW.,  Charlottenstrasse  11.  Preis  für  die  3 spaltige  Colonelzeile  40  Pf. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung  in  Berlin  SW.  48. 


ARCHIV 

für 

SOZIALE  GESETZGEBUNG  UND  STATISTIK. 

Vierteljahresschrift 

zur  Erforschung  der  gesellschaftlichen  Zustände  aller  Länder. 

In  Verbindung 

mit  einer  Reihe  namhafter  Fachmänner  des  In-  und  Auslandes 

herausgegeben 

von 

Dr.  Heinrich  Braun. 

Das  Archiv  erscheint  in  Bänden  von  ca.  40  Druckbogen. 

Lex.  8°.  in  4 Heften. 

Band  V im  Erscheinen. 

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Auslandes  sowie  die  Verlagshandlung  und  die  Postanstalten  entgegen. 
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*6n*hlllth  I>rssx’  CSurnpätfefitcr  ©efehtchfsltalcnbcr,  9teue  golge.  (Sed)fter 
3at)rgang.  1890.  7® er  ganzen  9ieil)e  XXXI.  Söatib.)  .fperaud* 

gegeben  uou  tgvof.  Di\  #andSelbni<f.  $reis  gelp  8 93i.  ©rfdjeint  a lljährt i d).  Satpgang 
1891  erfdjeint  itn  gebruar  1892 

MouU'lete  tS.pt.  bev  jnüjeren  'Antivuaucjc  bieied  Bolitifevu  u 11  e u t b e t)  v t i d)  e n b v r ii  l)  m t e n 3 afj  v fa  lt  d)  3 
lecvbni  neu  eintretenbci'  'Jlboiuicnteu  511  ermäfjigtem  tJSreife  geliefert. 

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Th*  ^i'Wvv  JnPaltfrtfütg-  mtb  BtfergpErfttfrernna&nrfEh  Vom 

x/l  . UX  AjUlUt  22.  Jkmi  1889.  Rioei  te  u o ü fi  ä n b i g u in  gearbeitete 
nvofjt).  feil.  Slegierumjärat:  Auflage  mit  einem  Stnljang,  bie  Sßollgugdbefauut» 

mad)ungeu  beö  äjnnbedrntg  entljaltenb.  S'avt.  1 Dt.  80  !pf. 

Brbetterfrinifuudrh  für  bad  bentfdje  ilteid)  ootn  l.  3unt  1891  (9tooelie 
p 'Sit.  Vll  ber  ©eiuerbeorbnuuq).  Xe,rtau£>qabe  mit  Einleitung,  erläuternbett  21mnerlmtgett 
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Hugo  Frankel, 

Antiquariat  fürRechts-u.Staatswissenschaft, 

Berlin  N.  24,  Elsasserstr.  36, 

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Rechts-  u.  Staats  Wissenschaften, 

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ber  ^oftgeitungstifte)  ....  D? f . 0,c0 
33ei  birefter  ^veujbanbfenbung: 

in  2)eutfd)lattb  uttb  Qefterreid) . „ 1,20 

im  äßeltpoftüerein  ....  „ 1,50 

3n  ^Berlin  bei  freier  ßnRnbung  . . „ ],— 

Wn  (Bxpghittiin 

M.  luT'hö,  Sfaijtfimfrxrjfr.  55. 


Verlag  tum  Jtnttcker  & i§umldnt  in  Heilig. 


(©eorp  Jriebridt  knapp,  Sie  Handarbeiter 
in  itned)tfd)aft  mtb  Freiheit  ®ier  SSorträge. 
1891.  )ßret<3  ca.  2 Di. 


Beinrirff  Iferfmer,  Sie  fociale  ^Reform  al§ 
’©elmt  be§  mirtljic^aftlidjen  fyortfdjrittei.  1891. 
ißreis  2 93t.  40  5pf. 

V dt  ritten  bes  Bereut»  für  Sorialpnlrfth. 

49.  Sand:  “Sie  JpanbeläpoUtif  ber  nichtigeren 
Äultnrftaaten  in  beit  testen  3 ,t)iqe()nteri.  1. 
Raub.  2t.  u.  b.  ■£.:  'Sie  Jpaubeldpotitit 
Dtorbamerifaö,  Shitieud,  OefterreidpJ,  iöeb 
giemS,  ber  9tiebertanbe,  Scinemarfd,  ©dpt>e= 
beite  mtb  9torntegend,  9tuÄnb§  unb  ber 
©dpueig,  foiuie  bie  beutfdje  dpan betöftatiftif 
tum  1880  bid  1890  Jßreid  13  D?. 

— Saffetbe.  50.  töanb:  Sie  .banbehSpolitif  ic. 
2.  33anb,  21  u.  b.  S : Sie  3been  ber  beut= 
fd)en  .öaubelöpoluif  oou  1860 — 1891  23out 
Sßruf.  Dr  MDafUjer  Xul?  in  93t  find)  eit.  Sßreiö 
4 Di.  60  5ßf. 

^rrntann  Xofrft,  Dattouale  ißrobuftion  mtb 
'nationale  iBenifSgliebermig.  1891.  tßreid 
6 Di. 

fH.  P.  h.  DJlrtt,  Sie  gadjöereine  mtb  bie 
fociale  23etoegung  itt  granfveid).  ©onberabbr. 
attö  ©djmollerd  3afü'bud)  1891.  fßr®  2 93t. 


31.  ©nftentag,  üJerlagebud  ^anblung  itt  Rerlm 

Erankxnhxrftii|xrmtft$xj|fet| 

(oom  15.  Sunt  1883) 

mtb  Pie  öajfel&r  rraänjrnitrn  rriifts- 
ixr feffl teilen  Beltimntmtgen. 

D it  Einleitung  mtb  ©rläuterungeu 

UOlt 

(£.  tum  HPoebffts, 

fi'iülcvl.  Well.  Obfv>9legier  Ä;|3ratt),  uoftvng.  im  :)!eid)3. 
amt  beS  gmievn. 

Tritte  neun  einte  x’lufUute. 

gr.  8°.  9 9Jt.,  gebmtbeu  10  93t. 


3.  CSuftentag,  BerlaflgbutfrlTanblunfl  in  Berlin. 

Blätter  für  (9eno)Tenfd)öftstr»efen. 

(Innung  bet  Buftwft  XXXIX.  ^aljrgang.) 

Organ  be§  Stllgemeinen  3Serbanbe§  bcutidjer  @rtt)er&§*  ititb  2öirtl)fd)flft§* 

©enoff  enf^aften. 

SBegrunbet  Don 

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Sßodjentlict)  eine  Kummer  in  ©teivfe  öon  1— 1V2  ©ruefbogen. 

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33on  Julius  JDeruer,  Pfarrer 
in  ^ol;entt)urm  b.  jpalle  (©.).  ißreiiS  9JJI.  1. 

3u  belieben  burefj  alle  93ncf)ljnnblungen  foioie 
nud)  unmittelbar  bom 

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Inhalt:  Theorie  des  Socialismus.  — Der  katholische  Socialismus.  — Die  Internationale.  — Deutsch- 
land. — Schulze.  — Lassale.  — Marx.  — Die  Gewerkvereine.  — Die  Socialconservativen.  — Die  Arbeiter- 
presse. — Stellung  der  Regierungen  zu  den  socialen  Parteien.  — 

Heimstätten-  und  andere  Wirthschafts-Oesetze'  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  Canada, 
Kussland.  China,  Indien,  Rumänien,  Serbien  und  England.  Hrsg,  mit  einleit,  und  erläuternden  Ab- 
handlungen von  Dl".  Rudolf  Meyer.  1883.  632  S.  gr.  S°.  16  Mark. 

A.  Sartorius  Frlir.  v.  Walters  hausen.  Die  nordamerikan.  Gewerkschaften  unter  d.  Einfluss  der 
fortschreitenden  Productionstechnik.  1886.  352  S.  gr.  8°.  7 Mark  60  Pf. 

Derselbe.  Der  moderne  Socialismus  in  den  Vereinigten  Staaten  v.  Amerika.  1890.  422  S.  gr.  8°.  8 Mark. 
Ursachen  der  amerikanischen  Concurrenz.  Ergebnisse  einer  Studienreise  der  Herren  Grafen  Geza 
Andrassy,  Geza  und  Imre  Szechenyi,  Ernst  Hnyos,  Baron  G.  Gudenus  und  Dr.  Rudolf  Meyer 
durch  die  Vereinigten  Staaten.  Mit  einer  Karte.  1883.  825  S.  gr.  8°.  13  Mark  50  Pf. 
Rodbertus-Jagetzow.  Zur  Erklärung  und  Abhilfe  der  heutigen  Creditnotli  des  Grundbesitzes. 
2 Thle.  1868.  544  S.  kl.  8°.  6 Mark. 

Zeller,  J.  Zur  Erkenntnis«  unserer  staatswirthschaftlichen  Zustände.  2.  Aufl.  mit  Anhg.  : Rodbertus- 
Jagetzow.  Die  soziale  Bedeutung  der  Staatswirthschaft.  Erster  sozialer  Brief  an  von  Kirchmann.  Der 
Normalarbeitstag.  1885.  305  S.  gr.  8°.  6 Mark. 

Knies,  C.  ii.  Ad.  Die  Statistik  als  selbstständige  Wissenschaft.  1850.  175  S.  kl.  8°.  2 Mark  25  Pf. 

(Parthieartikel.  Vorräthe  nur  noch  gering.) 


No.  255.  Geschichte  und  Literatur  der 
National-Oekonomie  bis  Adam 
Smith. 

No.  264.  Geschichte  und  Literatur  der 
National-Oekonomie  von  Adam 
Smith  bis  zur  Gegenwart. 

No.  278.  Socialwissenschaft.  Socialismus 
und  Kommunismus,  Grundeigen- 
thumsverhältnisse, Geschichte  d. 
Arbeit. 

Joseph  Baer  & Co. 

Buchhändler  u.  Antiquare. 

Frankfurt  a./Main. 


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5.  iHUgemeine  Tcutfdje  ÜScdnetorbnung  uon  Dr. 

©.  Bordjarbt.  ©edjfte  Sluflage  uon  G.  Ball,  unb 
tßJedifclftenipclfteucrgcfcfe  ttcbft  2Bed)felftcmpel= 
fteuertarif  uon  B.  ©aupp.  g-iinjte  Sluflage.  2 3)1  f. 
ö.  9{eid)b=Weluct'be=Crbtiung  mit  beu  für  ba-3  9tcid) 
erlaffenen  StuSfübrungSbeftimmmtgeu.  Sleuefte  gaffuug 
bcS  ©efctjeS.  Bon  &.  ißt).  Steiger,  3!egicvuug3ratl). 
Gifte  Sluflage.  1 Skt.  25  Bf- 

7.  Tie  Tcutidie  %'ofG  uub  2elcgrapben=©cfcb= 

gcbuitg.  S&011  Dr.  B-  ®.  gif d; er.  Tritte  Sluflage. 
2 Skf.  50  Bf- 

8.  Tic  ©efebe  über  ben  Unterftübuugöivobufib, 

über  Biiubeb-  uub  ©taat3anget)örigfeit  uub  Sfreijügigfeit. 
Bon  Dr.  3.  ffred).  3,l’eil e Sluflage.  2 Skf. 

9a.  Sammlung  ficinerer  pnuatrcdittidicc  91eid)C-= 
gefebe.  GvgänsmigSbaub  311  beu  im  3-  Muttcntaq’fdjcn 
Berlage  eridjicneuen  GmacbSluäqaben  bcutfctjcr  9ieirt)§= 
gefelje.  Bon  gr.  SSierljauä.  2 Skf.  25  Bf. 

91).  Sammlung  tleincrcr  91  eidjc- gef  ehe  ftrafrodit-- 
lidicti  Jnbaltö.  GrgänauugSbanb  311  ben  im  3-  ©litten* 
tägfdjcn  Berlage  evf djicneneu  Ginjct-SluSgabcu  bentfdjer 
Die  idjögefcljc.  «3  011  Sk.  SB  er  11  er.  1 SOtf.  80  Bf- 
10.  Tae  fkcidiöbeamtengcfcts  uom  31. 3)t  x/,  1873.  3'uciie 
Sluflage  uon  SB. Tu  vuaii,  Sieidjägeridjtävatt;.  2 9Jlt.  40  'Bi- 

ll. (fi u i I p v e; c fnu- b 11 1 1 u g mit  ©ericf)tSt>crfaffuua§» 
gefeb,  Ginfülnungc-gefcbeti,  Sicbengeicbcu  iiub 
©rgnujuugcu.  SSon  D(.  ©ybom.  g-ünfte  Sluflage. 
2 Serif.  50  'Bf. 

12.  ©trafprojefturbunng  nebft  Werid)tc-ucrfaffuuge= 
gefet?.  giinftc  Sluflage  uou  ijetllueg.  1 Skt.  bO'Bf. 

13.  .Uoufinburbnuug  mit  ©i n f ü I) r u 11  g c- g c f c b, 9lcbctt= 
geetjen  unb  ©rgäuäungcn.  S;ou  91.  ©ijbbi«. 
Siicrte  Stuflage.  80  $f. 

14.  Wcvidjtc-ucrfaffungbgcfcfe  fürbaeTcutfdjclh'cid). 

S'OU  91.  @1)  b 0 tu.  giinfte  Sluflage.  80  Bf- 


15.  W c r i di t f e f t c 1 1 g c f e (3  unb  ©cbührcnorbuung  für 
©eriddeboUjicbcr.  ©ebübrenorbnung  für  Rcu= 
gen  uub  ©adiucvftänbigc.  SOlit  M'oftcntabcUen. 

Bon  91.  ©Ijbolu.  SSierte  Suiftage.  80  Bf- 

16.  91  c d) 1 0 lunu a itc- 0 r b mm g für  bac-  Toutfdjc  Sicid). 
Sion  91.  ® l)  b 0 tu.  ä'bcäe  Sluflage.  60  Bf. 

17.  ©ebübrenorbnung  für  9?ed)t«anüiciitc.  Bon 
9t.  ©l)bo  lu.  Tritte  Sluflage.  60  Bf. 

18  Tab  Teutfdie  Üteidiegefeb  über  bic  Slcid)6= 
ftempelabgabcn  in  bei  gaffung  beä  ©efeijed  uom 

29.  SJlai  1885.  ®rfeufteuevgefetj.  Bon  S>.  ©au pp. 
3./4.  Sluflage  crgänjt  biS  1890.  2 Skt. 

19.  Tie  Seegefcfegcbnng  bco  Teutfcben  Sicidicc-. 
Sion  Dr.  jur.  SB.  G.  it’n  i t f d)  ft).  3 Skf. 

20.  ©efefee,  betreffenb  bte  .U raufen u c rfici) c r u 11  g ber 
Bti'bcitcr.  Bon  G'.  uon  SBocbtfe.  Tritte  Sluflage 

1 Skf.  20  Bf- 

21.  TieMonfuIavgcfctjgebung  beeTcntfdicnSfeidice'. 

Sion  Dr.  B()ilipp  3‘orn.  4 Skf. 

22.  'J'atcntgefeü.  ©efeb  über  fOhifter=  unb  5Wlobcü= 
id)itfe.  ©eictj  über  SJIarfenfd)  11  fs.  Stcbft  Slu«-- 
füfjrungSl'eftimiHungen.  Slou  T.  $0-  Berger.  Tritte 
Sluflage.  3n  Borbereitung. 

23.  U nfaKbcrficbeiiutgsgeieÜ  uom  6.  3llli  1984  unb 
©cf cb  über  bic  Stucbchuung  ber  Unfalt=  uub 
Mranfeuuerfidierung  uom  28.  Skai  1®5.  Sion 
G.  uon  SBocbtfe.  Stierte  Sluflage.  2 Skf. 

24.  'Kcidic-gcfcb»  betreffenb  bte  MomntanbitgcfcU-- 
fdmftcn  auf  Btfticu  unb  bie  'Mfticugcfcüfdtaftcn. 
Sion  §.  St  ep  finer  unb  Dr.  ®.  ©im  ön.  Tritte  Stuf- 
tage.  1 Skf. 

25.  Tab  Tcittfd)c  Sieidiogcfcts  megen  ©rbcbuttg  ber 
Üranftciter  uom  31.  Skai  1872.  Sion  G.  S3ertt)o. 
1 Skf.  60  Bf. 

26.  Tic  SHetdjbgcfcfegcbung  über  'Mlüup  unb  Söanl= 
tuefett,  Jktpiergeib.  '4>rämicmntpicrc  ttttb  9}cid)b= 
attlctbcn.  Sion  Dr.  91. Mod),  glueite  Sluflage.  2 Skf. 40 Bf- 

27.  Tie  ©cfcügcbit ug.  betr.  bac-  ©cfuubi-bcilc-iucfcit 
im  Tcutfdjcu  Meid).  SSou  Dr.  jur.  G.  ©oefd)  unb 
Dr.  med.  3.  Starften.  1 Skf.  60  Bf. 

28.  Wcfcß,  betreffenb  bie  Uufallucrftdicrung  ber  bei 
Stauten  befdiciftigteu  '4>eifotten.  Siout  .Sufi  1887. 
Sion  Sco  Skugban.  1 SJif.  25  Bf. 

29.  Wefcfe,  betreffenb  bie  ('riucrbb=  unb  SBirth= 
fcbaftbgcu offen fdiaf ten.  Siom  1.  Skat  1889.  S'oit 
B.  Bartfiub.  Bicvte  Sluflage.  1 Skf.  25  Bi- 

30.  ©efeb>  betreffenb  bie  Snualibitätb=  ttttb  2lltcrb= 
uerfidteruug.  Bom  22.  3U">  1989.  S-oti  G.  uon 
SBocbtfe.  Stierte  Sluflage.  ^ Skf. 

31.  Sieidic-geiet? , betreffenb  bie  © e l u c v b e g e ri d) t e . 
Siom  29.  3uli  1890.  Sion  Beo  SDfugbdit.  2.  SluSgabc. 
1 Skf.  25  Bf. 


ß 


H v ^ u ^ t T dj ^ 

Mt 

1.  Tic  Si c r f a f f 1 u 1 g 0 -- lt r f 1 u t b e für  ben  'kvcitfiifdjeit  i 

Staat.  Bon  Dr.  Slboif  Slrnbt.  3roe'le  sluflage.  1 

2 Skf.  ' 1 

0 

2.  Sleamten=©efet5gebung,  tprcufsifbbe.  Gutpalteub 

bie  luidjtigfteu  Bcamtengefefee  in  BrellBen.  Skit  furjeu  ' 
Slumcvtuugen.  einem  djronologifd)en  Bevjeid)nifi  ber  al)= 
gebvucftcu'  ©efefee  ec.  Bon  G.  Bfaffevott).  3llle’te 
neubearbeitete  Sluftage.  1 Skf.  50  Bf. 

3.  Tao  JHcuRtfdje  ©efefe,  betr.  bic  3mangbt)oU= 
ftreefung  in  baö  nnbitncglidie  SSerntögcn  uom 

13.  Sufi  1883  1111b  allen  Slcbengefcfccn.  Bon  Dr 
3.  Mvcd)  unb  Dr.  O.  gifd)er.  3,DC’k  Sluflage. 

1 Skf. 


Tie  '4>reupiid)eu  ©efefee,  betreffenb  bao  SJotariat 

in  beit  SanbeSttjeiien  beä  gemeinen  9leihtä  uub  be-5 
Banbredjtä.  31UE'le  uevänberte  Sluftage  gerauSgegeben 
uon  91.  © i) b 0 tu  unb  St.  §elltucg.  1 Skf.  60  'Bf. 

Tas  ©efeb  oout  24.  Btpril  1854  (betr.  bie  aufjer- 
cfje(id)e  ©djiuängerung)  unb  bie  baneben  geltenben  Be* 
ftimmungou  beS  3111g.  Baitbredjtä  nebft  ben  ba3ii  ergangenen 
Bräiubifatcu,  bet  Bitteratuv  ;c.  Boit  Dr.jur.§.  ©<butjc. 
75  Bf- 


6.  Tie  'Brcufjifdicti  Blusführmtgogefebe  unb  2Jer= 
orbunngen  tu  ben  S i c i d) c- i 1 1 f 113 g c f e ü e tt . Bon 

91.  ©tjbolu.  3lueitc  Sluftage.  2 Skf. 

7.  Bltlgcmeinc  ©erid)teorbnnng  für  bie  'kreufü- 
fd)cn  ©taaictt  uom  (».  Quli  1793  unb  t^renftifdie 
.Uottfuröorbnung  uout  8.  SJlai  1855.  Bon 

gr.  Bier^auS.  2"Skf.  50  Bf- 

8.  Tie  93ormuitbfd)aftfi=©rbuun  t uom  5.  3uli  1875, 

ttcbft  beit  baju  crlaffcncn  SlebcngcfeBen  unb  Stllge- 
meiucu  Berfiigüugeu.  Bon  9)1  ar  © d) nllje  nftci  11. 
1 Skf.  20  Bf-  ' 

9.  Tic  J'reufetfdte  ©ntnbbudigcfeügebuug.  Bon 

Brof.  Dr.  D.  gif  cf)  er.  1 Skf.  20  Bf. 


10.  ©infommenftcuergeicfe  für  bie  JU'cufstfdie  9)1 0= 
uard)ie.  Sion  ©el).  91a tl)  91.  SDlcitjen.  3'ueite  9lui  = 
läge.  1 Skf. 


11.  ©cmerbcftcnergcfett  für  bie  if>rcuj?ifd)c  9)1  a= 
uardiic.  S'on  gfegterungSvatl)  SC.  g-ernom.  80 'Bf- 


Verantwortlich  für  clen  Anzeigentheil : Dr.  Otto  Eysler  in  Berlin.  — Druck  von  II.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  15.  Februar  1892. 


Nummer  7. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber : Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  .SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Coloneizeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Zur  Heimstättenfrage.  Von 
Dr.  Carl  Grünberg. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik : 

I )ie  russische  Wirthschaftspolitik 
und  die  Hungersnoth. 

Zu  den  agrarischen  Zuständen  in 
Mexiko. 

Arbeiterzustände : 

Ruhezeiten  für  das  Betriebspersonal 
der  preussischen  Staatsbahnen. 

Der  Nothstand  in  der  ostschweize-, 
rischen  Stickerei. 

klagen  über  die  Lehrlingszüchterei.  : 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Zum  Programm  des  deutschen 
Gewerkschaftskongresses.  Von 
Martin  Segitz. 

< )rganisation  der  Eisenbahnarbeiter. 

Kongress  der  französischen  Arbeits- 
börsen. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Frankfurter  Ortsstatut  über  die 
Sonntagsruhe  im  Handelsge- 
werbe. 

Sonntagsruhe  im  Berliner  Handels- 
gewerbe. 

Arbeiterschutz  in  Drahtziehereien. 

Zum  deutschen  Koalitionsrecht. 

Rintragungen  in  Arbeitsbücher 
nach  deutschem  ( jewerberecht. 


Schutz  Vorschriften  für  Arbeiter  in 
Briquettefabriken 

Gewerbeinspektion : 

Gewerbeinspektion  in  Holland. 

Arbeiterversicherung: 

Die  Fürsorge  für  erkrankte  Dienst- 
boten. Von  J.  Silbermann. 

Zur  Reform  der  deutschen  Arbeiter- 
versicherungsgesetze. 

Der  Begriff  Unternehmergewinn  in 
der  Auffassung  des  Reichsver- 
sicherungsamtes. 

Die  Altersversicherung  in  England. 

Gewerbegerichte , Einigungs- 
ämter  u.  Arbeiterausseniisse: 

Arbeiterausschüsse  bei  den  preussi- 
schen Staatsbahnen.  Von  Dr. 
Max  Quarck. 

Die  Bediensteten  der  Pariser 
Omnibusgesellschaft  und  das 
Handelsgericht  als  Schiedsge- 
richt. 

Geschäftsthätigkeit  des  Stuttgarter 
Gewerbegerichts. 
Wohnungsfrage : 

Regelung  des  Kost-  und  Quartier- 
gängerwesens im  Regierungsbe- 
zirk Münster. 

Litteratur : 

Swjatlowsky,  W.,  Die  Fabrik- 
hygiene. (E.  Scholkow.) 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zur  Heimstättenfrage. 


Soll  der  Gläubiger  sein  Recht  gegen  den  Schuldner 
verfolgen  dürfen,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  durch  die 
Zwangsvollstreckung  der  wirthschaftliche  Ruin  des  Letzteren 
herbeigeführt,  sein  und  seiner  Familie  Existenz  zerstört 
wird?  Und  innerhalb  welcher  Grenzen  soll  dem  Gläubiger 
die  zwangsweise  Durchsetzung  seiner  F orderungsrechte  zu- 
gestanden werden? 

Sieht  man  von  dem  strengen  Schuldrecht  der  ältesten 
Zeiten  ab,  welches  auch  die  Person  des  zahlungsunfähigen 
Schuldners  selbst  dem  Gläubiger  auslieferte,  so  ist  die  erste 
Frage  in  einer  zivilisirten  Gemeinschaft  niemals  unbedingt 
bejaht  worden.  Die  Antwort  auf  die  zweite  Frage  ist  zu 
verschiedenen  Zeiten  und  bei  verschiedenen  Völkern  ver- 
schieden ausgefallen.1)  Schon  in  sehr  früher  Zeit  begegnen 

x)  Vgl.  die  sehr  instruktiven  Ausführungen  hierüber  von  R. 
Schneider:  „Das  sogenannte  Heimstättenrecht“  in  Schmollers 
Jahrbuch,  1892.  I.  S.  43  ff. 


wir  Exekutionsbeschränkungen  in  dem  Sinne,  dass  ein  ali- 
quoter Theil  des  Vermögens  überhaupt  oder  gewisse  Ver- 
mögensstücke für  unpfändbar  erklärt  und  dem  Zugriff  der 
Gläubiger  entzogen  werden.  Die  Tendenz  dieser  Exe- 
kutionsexemptionen  kann  zweifach  sein.  Es  soll  entweder 
durch  dieselben  dem  Schuldner  seine  Erhaltung,  die  Mög- 
lichkeit, sein  Dasein  weiter  zu  fristen,  innerhalb  gewisser 
enggezogener  Grenzen  gesichert  bleiben.  Oder  es  soll  seine 
Arbeitsthätigkeit  geschützt  und  ihm  durch  Belassung  der 
Arbeitsinstrumente  die  Möglichkeit  offen  bleiben,  sich  durch 
Arbeit  wieder  hinaufzubringen.  Also,  Erhaltung  des  Indi- 
viduums einerseits,  Wahrung  seiner  Produktivität  anderer- 
seits, das  sind  die  zwei  verschiedenen  Auffassungen,  die 
den  Beschränkungen  der  Zwangsvollstreckung  zu  Grunde 
liegen. 

Die  zweite  der  eben  angedeuteten  Auffassungen  tritt 
■in  den  älteren  Rechtssystemen  gar  nicht  oder  kaum  hervor. 
Erst  der  neueren  Zeit  kommt  es  immer  mehr  zum  Bewusst- 

1 

sein,  dass  die  Gesellschaft  das  Recht  und  die  Pflicht  habe, 
den  zahlungsunfähigen  Schuldner  davor  zu  schützen,  dass 
er  aller  Mittel  zur  weiteren  Arbeitsthätigkeit  beraubt  werde. 
Es  liegt  darin  auch  ein  Akt  präventiven  Schutzes  gegen 
ein  übermässiges  Anwachsen  der  öffentlichen  Armen- 
lasten. 

In  immer  bewussterer  Weise  macht  sich  diese  Tendenz 
in  den  modernen  Kodifikationen  seit  dem  Ende  des  vorigen 
Jahrhunderts  bemerkbar.  So  in  Preussen  schon  in  der  All- 
gemeinen Gerichtsordnung  und  in  der  Verordnung  vom 
13.  Oktober  1843.  So  in  Oesterreich  in  grundsätzlich  noch 
accentuirterer  Weise  in  der  allgemeinen  Gerichtsordnung 
von  1781.  Die  betreffenden  Bestimmungen  haben  im 
Deutschen  Reiche  eine  Weiterbildung  erfahren  in  der  Auf- 
hebung der  Schuldhaft,  im  Verbot  der  Beschlagnahme  des 
Arbeitslohnes,  in  § 715  der  Givilprozessordnung,  in  §20  des 
Postgesetzes  vom  28.  Oktober  1871  und  durch  das  Reichs- 
gesetz vom  3.  Mai  1886  (betreffend  die  Unpfändbarkeit  des 
Inventars  der  Posthaltereien  resp.  der  Fahrbetriebsmittel 
öffentlicher  Eisenbahnen).  In  der  gleichen  Richtung  be- 
wegen sich  in  Oesterreich  neben  einer  ganzen  Reihe  von 
Spezialgesetzen  insbesondere  das  Gesetz  vom  29.  April 
1873  (betreffend  die  Sicherstellung  und  Exekution  auf  die 
Bezüge  aus  dem  Arbeits-  und  Dienstverhältnisse),  das  Gesetz 
vom  21.  April  1882  (betreffend  die  Exekution  auf  Bezüge 
der  in  öffentlichen  Diensten  stehenden  Personen  und  ihrer 
Hinterbliebenen) , endlich  die  Exekutionsnovelle  vom 
10.  Juni  1887. 

Es  ist  klar,  dass  das  Prinzip,  welches  allen  diesen  Ge- 
setzen zu  Grunde  liegt,  in  seinem  Wesen  sich  dadurch  nicht 
verändert,  dass  es  eine  intensivere  Anwendung  und  der  Um- 


88 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


fang  der  Schutzbestimmungen  zu  Gunsten  des  zahlungsun- 
fähigen Schuldners  eine  Erweiterung  erfährt.  Man  wird 
deshalb  auch  da,  wo  dies  der  Fall  ist,  nicht  von  einem  neuen 
gesetzgeberischen  Gedanken  sprechen  dürfen. 

Die  von  den  kontinentalen  Gesetzgebungen  für 
exekutionsfrei  erklärten  Vermögensgegenstände  gehören, 
von  den  fideikommissgesetzlichen  Sonderbestimmungen 
wird  abgesehen  — der  fahrenden  Habe  an.  Das  unbewegliche 
Vermögen  ist  bisher  in  den  Kreis  der  Exekutionsexem- 
tionen nicht  einbezogen  worden.  Die  ackerbautreibende 
Bevölkerung  geniesst  demnach  keinen  nachhaltigeren  Schutz 
als  die  anderen  Bevölkerungsklassen.  Und  wenn  ihr  auch, 
im  Falle  der  Exekution,  ein  Theil  der  fahrenden  Habe  be- 
lassen wird,  so  wird  ihr  doch  Haus  und  Hof  genommen.  In 
der  Möglichkeit,  dass  dies  in  grösserem  Masse  geschehe, 
und  der  Bauernstand  auf  diese  Weise  ganz  oder  teilweise 
vernichtet  werde,  ist  eine  Gefahr  für  die  herrschende 
Gesellschafts-  und  Rechtsordnung  zu  erblicken,  zu  deren 
sichersten  und  verlässlichsten  Stützen  der  bisher  stets 
konservative  Bauernstand  gezählt  zu  werden  pflegt. 

Die  eben  angedeutete  Gefahr  aber,  wird  von  vielen 
Seiten  behauptet,  ist  nicht  mehr  eine  blosse  Möglichkeit.  Sie 
ist  bereits  wirklich  vorhanden,  und  es  ist  die  höchste  Zeit,  nicht 
mehr  nur  ihr  vorzubeugen,  sondern  ihr  entgegenzutreten  und 
sie  zu  beschwören.  Auf  Grund  der  aus  allen  Theilen  Deutsch- 
lands und  Oesterreichs  vorliegenden  Enqueteberichte  und 
statistischen  Ausweise  wird  ein  starker  und  stetiger  Rück- 
gang des  Mittel-  und  Kleinbesitzes  behauptet.  Derselbe 
zeige  sich  in  der  steigenden  Verschuldung,  in  der  Zunahme 
der  Zwangsversteigerungen,  in  der  fortschreitenden  Zer- 
splitterung von  Grund  und  Boden,  in  der  Aufsaugung  zahl- 
reicher Parzellen  des  mittleren  und  kleinen  durch  den 
Grossgrundbesitz.  Angesichts  dieser  — allerdings  vielfach 
unbewiesenen  — Thatsachen  wird  der  Ruf  nach  Schutz  für 
den  Bauernstand  und  Erhaltung  dieses  Dammes  der  be- 
stehenden Gesellschaftsordnung  gegen  die  Wogen  der 
Sozialdemokratie  immer  lauter. 

Dieser  Schutz  müsste,  — soll  er  die  erhoffte  Wirkung 
haben  — , nach  allen  den  Richtungen  gewährt  werden,  in 
denen  der  behauptete  Rückgang  des  Bauernstandes  seinen 
Ausdruck  findet:  gegen  die  Zwangsversteigerung,  gegen 
die  Bodenzersplitterung,  gegen  die  freie  Dispositionsbefugniss 
der  Besitzer  und  ihre  Verschuldungsfähigkeit.  Und  in  diesen 
Beziehungen  wird  auch  thatsächlich  Schutz  gefordert. 

An  diese  auf  Schaffung  eines  agrarischen  Sonder- 
rechtes gerichtete  Bewegung  knüpft  die  andere  an,  welche 
das  Problem  in  der  sogen.  Heimstättengesetzgebung  der 
Vereinigten  Staaten  von  Amerikas  bereits  gelöst  findet  und 
daher  deren  Reception  verlangt. 

Sieht  man  von  allen  Details  ab,  so  lässt  sich  das 
Wesen  der  nordamerikanischen  Heimstättengesetze  auf 
folgende  einfache  Sätze  zurückführen.  Das  Gut,  welches 
die  Heimstätte  bildet  Umfang  und  Art  derselben  be- 
stimmen sich  in  den  einzelnen  Staaten  und  Territorien  ver- 
schieden — ist  dem  Zugriff  zwar  nicht  aller,  aber  doch 
wenigstens  der  Nichthypothekargläubiger  entzogen.  Eine 
Verfügung  über  die  Heimstätte  — mag  dieselbe  mit  oder 
ohne  Zuthun  der  Ehefrau  entstanden  sein  — ist  nur  mit 
Zustimmung  der  letzteren  möglich.  Die  Unangreifbarkeit 
der  Heimstätte  tritt  nur  Hei  Rückenbesitz  ein.  Aber  auch 
dann  ist  sie  nicht  absolut,  sondern  in  manchen  Fällen  aus- 
geschlossen', deren  Eintreten  — wie  bei  hypotheka- 
rischer Belastung  — durch  den  Willen  des  Heim- 
stättners  (und  seiner  Ehefrau)  bedingt  oder  von  dem- 
selben unabhängig  ist,  bei  Steuerrückständen,  bei  Schulden 
zur  Einrichtung  und  Melioration  der  Heimstätte  u.  a.  Das 
Heimstättenrecht  ist  kein  agrarisches  Sonderrecht,  sondern 
erstreckt  sich  wie  auf  ländlichen  so  auch  auf  städtischen 


No.  7. 

Grundbesitz.  Neben  der  Heimstätte  ist  auch  ein  gewisser 
Theil  der  fahrenden  Habe  eximirt. 

Vergleicht  man  diese  prinzipiellen  Bestimmungen  mit 
dem,  was  oben  über  unsere  kontinentalen  Exekutions- 
exemptionen  gesagt  wurde,  so  zeigt  sich,  dass  ihre  Natur 
und  Tendenz  dieselben  sind.  Der  Grund  und  Boden  wird 
in  der  nordamerikanischen  Gesetzgebung  ebenfalls  im  Inter- 
esse der  Wahrung  der  Produktivität  des  Exekuten,  unter 
dem  Gesichtspunkt  als  Arbeitsinstrument,  der  Zwangsvoll- 
streckung entzogen.  Darin  liegt  also  nichts  Besonderes. 
Dazu  tritt  freilich  noch  das  Bestreben,  die  Familie  und  in 
erster  Linie  die  Ehefrau  vor  leichtsinniger  Vermögens- 
gebahrung  des  Familienoberhauptes  zu  schützen.  Und  das 
ist  allerdings  um  so  nothwendiger,  als  nach  dem  ehelichen 
Güterrecht  des  alten  englischen  common  law  die  Frau 
ausserordentlich  schlecht  gestellt  ist. 

Ueber  die  gedeihliche  Wirkung  des  nordamerikanischen 
Heimstättenrechts  wusste  Rudolf  Meyer  (Heimstätten  und 
andere  Wirthschaftsgesetze)  Wunderdinge  zu  erzählen.  Aber 
Sering’s  nüchterne  Darstellung  (in  seinem  Werk:  Die  land- 
wirthschaftliche  Konkurrenz  Nordamerika^  in  Gegenwart  und 
Zukunft)  hat  diese  Phantasiebilder  auf  ihren  wahren  Gehalt 
zurückgeführt:  Die  Heimstättengesetze  hindern  nicht  die 

Verschuldung  und  Bewucherung  der  Farmer.  Sie  hindern 
nicht  den  Landhandel.  Sie  schränken  den  Personalkredit 
ein  und  fördern  in  gleichem  Masse  den  Hypothekarkredit 
und  vernichten  so  selbst  die  beabsichtigte  Wirkung. 

Wie  es  aber  mit  Schlagworten  zu  gehen  pflegt,  deren 
thatsächlicher  Hintergrund  unbekannt  ist  oder  missverstanden  ' 
wird,  so  wurde  die  Heimstättengesetzgebung  sehr  überschätzt, 
und  natürlich  wurde  auch  sofort  der  Ruf  nach  ihrer  ' 
Rezeption  laut.  Ein  — erfolgloser  — Versuch  dazu  ist  m.  , 
W.  zuerst  im  Kanton  Luzern  gemacht  worden  (vgl.  hier-  • 
über  meinen  Aufsatz  im  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung 
und  Statistik,  1891,  S.  377  ff).  Auch  dem  ungarischen 
Reichstag  lag  ein  Heimstättengesetzentwurf  vor.  Und  im 
deutschen  Reichstage  hat  am  3.  Januar  d.  J.  die  erste  Lesung  j 
eines  solchen  .stattgefunden,  der  einem  Initiativanträge  der  ' 
Herren  Graf  von  Dönhoff-Friedrichstein  und  Genossen  ent-  ! 
Sprüngen  ist. 

Dieser  Entwurf  verfolgt  jedoch,  wie  schon  in  § 1 ’) 
zum  Ausdruck  kommt,  und  wie  namentlich  in  der  von  den  f 
Antragstellern  entfalteten  Agitation  zu  Gunsten  desselben 
häufig  betont  worden  ist,  nicht  blos  den  Zweck,  die  bereits 
ansässige  Landbevölkerung  in  Haus  und  Hof  sesshaft  zu 
erhalten.  Er  soll  auch  die  Sesshaftmachung  des  landlosen 
Proletariats,  namentlich  aber  von  Arbeitern  ermöglichen. 
Sein  Zweck  ist  nicht  nur  die  Defensive  gegen  die  Sozial- 
demokratie, dieser  soll  auch  durch  die  Schaffung  kleiner 
Grundbesitzer,  die  neben  der  Landwirthschaft  in  der 
Industrie  thätig  sind,  der  Boden  abgegraben  werden.  Da- 
neben würde  noch  die  Auswanderung,  der  masslose  Zuzug 
der  Landbevölkerung  in  die  Städte  und  die  Entvölkerung 
des  platten  Landes  von  — billigen  — Arbeitskräften  ver- 
hindert werden. 

Wie  dieses  zweite  Ziel:  die  Ansässigmachuno;  land- 
loser  Proletarier  erreicht  werden  soll,  ist  unter  den  gege- 
benen Verhältnissen  nicht  klar.  Denn  es  fehlt  zunächst  an 
verfügbaren  freien  Gründen,  wenn  man  nicht  an  einen 
Verkauf  der  Staatsdomänen,  wie  er  zur  Zeit  in  Rumänien 
stattfindet,  oder  richtiger  nach  dem  Gesetze  von  1889  statt- 
finden sollte,  oder  an  eine  Zwangsexpropriation  der  Gross- 
grundbesitzer denken  will.  Und  woher  sollte  denn  auch 
der  landlose  Proletarier  die  Mittel  hernehmen,  um  sich  eine 

')  „Jeder  AngehörigeTdes  Deutschen  Reiches  hat  nach  voll- 
endetem 24.  Lebensjahr  das  Recht  zur  Errichtung  einer  Heim- 
stätte.“ 


No.  7. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


89 


Heimstätte  zu  schaffen.  Das  jedem  24jährigen  Deutschen 
im  Entwurf  eingeräumte  Recht  auf  Erwerbung  einer  solchen 
hat  also  an  sich  keinen  realeren  Inhalt,  als  die  Rechtsfähig- 
keit überhaupt  und  bedeutet  daher  auch  nur:  Wer  das  Geld 
dazu  hat,  kann  sich  einen  Grund  kaufen,  sofern  ein  solcher 
verkäuflich  ist.  Und  wer  ein  Eigenthümer  eines  Grund- 
stückes ist,  kann  dieses  zur  Heimstätte  erklären.  (S.  auch 
die  Rede  des  Abgeordneten  Dr.  v.  Bar,  Sten.  Ber.  ü.  d.  Verhdl. 
d.  Reichstages  vom  3.  Februar,  S.  3973.) 

Es  kann  also  m.  E.  ernsthaft  nur  das  erste  Ziel  des 
Entwurfs  und  der  Heimstättenagitation  diskutirt  werden: 
die  Sesshafterhaltung  des  mittleren  und  kleineren  Grund- 
besitzes. Der  Weg  aber,  auf  dem  diesem  Ziele  vom  Ent- 
würfe zugestrebt  wird,  ist  ein  wesentlich  anderer  als  jener, 
den  die  nordamerikanischen  Gesetzgeber  gewandelt  sind. 
Es  handelt  sich  thatsächlich  um  Schaffung  bäuerlicher  Fidei- 
kommisse mit  Einschränkung  der  Verschuldungsfähigkeit 
ihrer  Besitzer  und  Anerbenrecht. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  alle  die  zahllosen  strittigen 
Fragen  und  ernsthaften  Bedenken , die  sich  hierbei  der 
Erwägung  aufdrängen,  zu  besprechen.  Ich  verweise  in 
dieser  Beziehung  auf  die  höchst  instruktiven  zusammen- 
fassenden Ausführungen  und  Literaturangaben  des  Land- 
richters R.  Schneider  (a.  a.  O.)  und  die  Debatten  im  deutschen 
Landwirthschaftsrath  vom  Februar  1891  und  im  deutschen 
Reichstag  vom  3.  Januar  d.  J.  Da  aber  das  zu  schaffende  Heim- 
stättengesetz ein  soziales  Kampfgesetz  sein  und  die  Mittel 
zur  Abwehr  des  Umsichgreifens  destruktiver  sozialistischer 
Grundsätze  gewähren  soll,  so  muss  nachdrücklich  auf  die 
soziale  Gefahr  der  Schaffung  einer  kleinen  und  mittleren 
Grundbesitzaristokratie,  „die  aus  Interesse  für  eine  Sache, 
die  Personen  um  ihr  gerechtes  Erbtheil  betrügt“,  hinge- 
wiesen werden.  So  können  vielleicht  spannfähige  Höfe  er- 
halten, aber  weder  die  Proletarisirung  der  grossen  Ma- 
jorität der  Landbevölkerung,  noch  ihr  Zuzug  in  die  Städte, 
noch  der  Mangel  billiger  Arbeitskräfte , an  denen  der 
agrarische  Grossbetrieb  doch  das  grösste  Interesse  hat,  auf 
dem  platten  Lande  verhindert  werden. 

Dazu  kommt  noch  der  blos  fakultative  Charakter  des 
ganzen  Entwurfes,  der  eine  nachhaltige  Wirkung  des  Ge- 
setzes von  vornherein  gradezu  ausschliesst,  oder,  nach  den 
Erfahrungen,  die  man  mit  dem  preussischen  Landgüter- 
rollengesetz gemacht  hat,  wenigstens  sehr  unwahrschein- 
lich macht. 

Sieht  man  aber  auch  von  einer  Prüfung  der  wirth- 
schaftlichen  Brauchbarkeit  agrarischer  Sondergesetze  über- 
haupt und  des  dem  deutschen  Reichstage  z.  Z.  vorliegenden 
Entwurfes  insbesondere  ab,  so  lässt  der  letztere  doch,  wie  ich 
schon  an  anderer  Stelle  näher  dargelegt  habe  (vgl.  Archiv 
für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik,  1891.  S.  369  ff.) 
und  wie  auch  vom  Landrichter  Schneider  nachdrücklich 
betont  wird,  alles  vermissen,  was  man  an  juristischer  Ge- 
nauigkeit und  Durchbildung  gesetzlicher  Bestimmungen 
verlangen  muss.  Die  einfachsten  Fragen  bleiben  un- 
beantwortet. Und  was  jedem  Rechtskundigen  als  erste 
nicht  zu  übersehende  Voraussetzung  erscheint,  wird  der 
Landesgesetzgebung  überwiesen.  So  fehlt  jede  Bestimmung, 
ob  für  die  Heimstättenqualität  Rückenbesitz  erforderlich 
sein  soll  und  jede  Andeutung  über  das  Verfahren  zur  Er- 
richtung einer  Heimstätte;  über  die  Art  und  Dauer  der 
„von  den  Heimstättenbehörden  zu  vollziehenden  Zwangs- 
verwaltung“; über  den  zeitlichen  Umfang  der  Heimstätten- 
qualität; über  die  Wirkung  der  behördlichen  Erklärung 
eines  Gutes  als  Heimstätte,  oder  des  Verkaufs  einer  solchen. 
Die  Präzisirung  der  den  „kleinsten  Heimstätten“  einge- 
räumten Steuerfreiheit,  die  Regelung  des  Niessbrauchs- 
rechts  der  Wittwe  an  der  Heimstätte,  die  Errichtung  von 
j Heimstättenbehörden  und  der  Heimstättenrentenbanken, 


ist  ebenso  wie  die  Ordnung  des  Heimstättenerbrechts  der 
Landesgesetzgebung  überlassen.  Der  Entwurf  ist  also  wie 
man  sieht,  so  recht  ein  Messer  ohne  Stiel,  an  dem  die 
Klinge  fehlt. 

Trotzdem  haben  die  Vertreter  aller  Parteien  — mit 
Ausnahme  der  Sozialdemokraten  — bei  der  am  3.  Februar  im 
Reichstage  stattgefundenen  ersten  Lesung  des  Entwurfs 
erklärt,  „dass  sie  dem  Gedanken  und  den  Absichten  (des- 
selben) sympathisch  gegenüberstehen,“  worauf  derselbe 
einer  Kommission  von  21  Mitgliedern  überwiesen  wurde. 

Wenn  der  Entwurf  Gesetz  werden  soll,  wird  er  jeden- 
falls nicht  blos  verbessert,  sondern  vollständig  umgear- 
beitet werden  müssen.  Dieses  Urtheil  steht  wohl  auf  allen 
Seiten  fest.  Auch  der  deutsche  Landwirthschaftsrath  hat 
bekanntlich  im  Februar  1891  zwar  die  Idee  der  Erlassung 
eines  fakultativen  Heimstättenrechtes  mit  Verschuldungs- 
beschränkung und  Schutz  gegen  Zwangsvollstreckung  als 
„einen  Akt  praktischer  Sozialpolitik“  begrüsst,  jedoch 
gleichzeitig  jede  Stellungnahme  zum  Entwürfe  des  Grafen 
von  Dönhoff- Friedrichstein  und  Genossen  für  „unthunlich“ 
erklärt. 

Weiter  sprach  sich  der  deutsche  Landwirthschaftsrath 
— in  Uebereinstimmung  mit  den  Anträgen  des  Landrichters 
K.  Schneider  — für  die  Aufnahme  des  sog.  Deckungssystems 
(im  Gegensätze  zum  Verkaufssysteme)  aus  und  in  Fortbildung 
§ 715  L.  P.  O.  für  Exemption  eines  Besitzminimums  „das 
neben  den  nöthigen  Wohn-  und  Wirthschaftsräumen  eine 
im  Verhältniss  zum  Gesammtbesitz  zu  bemessende  Fläche 
Land  zu  umfassen  hätte;“  endlich  für  Nachbildung  der  Be- 
stimmung der  österreichischen  Exekutionsnovelle  vom  10. 
Juni  1887  in  Betreff  der  Möglichkeit,  das  Zwangsverstei- 
gerungsverfahren bei  ländlichen  Grundstücken  zu  sistiren, 
wenn  ein  bestimmter  Theil  des  Schätzungswerthes  nicht 
erreicht  wird. 

Fassen  wir  die  bisherigen  Ausführungen  zusammen, 
so  gelangen  wir  zum  Schlüsse:  die  Gesetzgebung  der 
nächsten  Zeit  wird  die  in  unseren  kontinentalen  Rechts- 
systemen vorhandenen  Keime  der  Exekutionsexemptionen 
zum  Zwecke  der  Wahrung  der  Arbeit  und  Produktivität 
des  zahlungsunfähigen  Schuldners  weiter  zu  entwickeln 
und  unter  die  dem  Arbeiter  zu  erhaltenden  Arbeitsmittel 
auch  Grund  und  Boden  aufzunehmen  haben.  Wie  jedoch 
zu  diesem  Zwecke  eine  Rückkehr  zu  alten  abgestorbenen 
YY  irthschaftsformen  weder  wünschenswerth  noch  möglich 
ist,  so  bedarf  es  auch  andererseits  keiner  Rezeption  nord- 
amerikanischer Rechtsinstitute. 

Wien.  Carl  Grünberg. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  russische  Wirthschaftspolitik  und  die  Hungersnoth. 

Die  furchtbare  Hungersnoth  in  Russland,  welche  heute 
in  ganz  Europa  Interesse  geweckt  hat,  hat  Seitens  der  rus- 
sischen Regierung  eine  Reihe  Massregeln  hervorgerufen , 
die  in  den  letzten  Monaten  zu  einem  ganzen  System  heran- 
gewachsen sind. 

Die  vorjährige  Missernte  hat  sowohl  die  Winter-,  wie 
die  Frühlingssaat  getroffen,  sie  ist  aber  keineswegs  allge- 
mein, wenigstens  ist  sie  dem  Grad  nach  verschieden.  Der 
Rayon  der  eigentlichen  Missernte  umfasst  zwei  Kreise.  Der 
erste  fängt  im  Nordwesten  des  Kaspischen  Meeres  an  und 
umfasst  den  Süden  der  Provinzen  Samara  und  Saratow,  die 
ganze  Provinz  Astrachan  und  Orenburg  und  die  Südost- 
Ecke  der  Provinz  Perm.  In  Sibirien  reicht  er  bis  in 
einige  Gegenden  der  Provinz  Tobolsk.  Es  handelt  sich 
zum  Theil  um  ein  in  gewöhnlichen  Jahren  kornreiches 


90 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  7. 


Land.  Dasselbe  darf  noch  entschiedener  vom  zweiten 
Misserntebezirk  behauptet  werden.  Dieser  reicht  vom  Osten 
der  Provinzen  Kursk,  Orlow,  Tula  weiter  nach  Norden  und 
Westen,  indem  er  die  Provinzen  Woronez,  Kazan,  Tambow, 
Penza  und  Kasan  umfasst  und  in  einen  Theil  der  Provinzen 
Nizegorod,  Simbiosk  und  Wiatka  hineingreift.  In  vielen 
anderen  Provinzen  war  die  Ernte  unter  dem  Durchschnitt, 
ohne  eigentlich  Missernte  zu  sein,  und  nur  die  Provinzen 
Wolhynien,  Podolien,  Bessarabien  und  Kiew  im  Süden, 
Nowgorod,  Pskow,  St.  Petersburg  von  den  mittleren  und 
nördlichen,  und  besonders  der  Nordkaukasus  weisen  eine 
sehr  gute  Ernte  auf.  Letzteres  Land  bildet  in  diesem  Jahre 
die  Kornkammer  Russlands.  Die  ganze  Ernte  im  euro- 
päischen Russland  (also  ausgenommen  Kaukasien  und 
Sibirien)  wird  geschätzt  auf  236,7  Millionen  Tschetwert  (über 
1350  Bushel)  und  ist  um  15  Millionen  Tschetwert  niedriger 
als  im  kornarmen  fahre  1880. 

Angesichts  dieser  ungewöhnlichen  Noth  muss  die 
Sorge  der  Regierung,  von  einer  prinzipiellen  Abhülte  ab- 
gesehen, sich  in  drei  Richtungen  bethätigen.  Die  un- 
mittelbarste Hülfe  muss  der  hungernden  Bevölkerung  ge- 
bracht werden,  nicht  minder  nöthig  ist  die  Sorge  für  Saat- 
korn, damit  das  nächste  Jahr  kein  zweites  Massenunglück 
bringe,  und  zuletzt  hat  das  Budget  mit  einem  Defizit  zu 
rechnen,  welches  schwer  zu  beseitigen  sein  wird.  Der  vor 
einigen  Wochen  im  „Prawitelstwennyj  Wiestnik“  publizirte 
Staatsvoranschlag  lässt  gegenüber  dem  Jahre  1891  einen 
Fehlbetrag  von  53  Millionen,  und  im  Vergleich  mit  1890 
sogar  einen  solchen  von  89  voraussehen,  ln  erster  Linie 
erwartet  man  Steuerrückstände  Seitens  der  Bauern,  die  auf 
eine  Summe  von  24  Millionen  Rubel  geschätzt  werden, 
hierzu  kommt  eine  um  17  Millionen  geringere  Einnahme 
aus  der  Branntwein-  und  Biersteuer,  und  endlich  folgen 
eine  ganze  Reihe  Ausfälle  in  den  verschiedensten  Rubriken. 
Die  Theurung  und  die  herrschende  Noth  muss  selbstver- 
ständlich alle  Bewegungen  des  Staatsorganismus  lähmen 
oder  verlangsamen. 

Bis  zum  1.  Januar  betrug  die  Summe,  welche  Seitens 
der  Regierung  für  unmittelbare  Hülfe  und  für  Saaten  aus- 
gegeben  worden  war,  73  Millionen  Rubel;  davon  wurden 
beinahe  I I Millionen  für  die  Wintersaaten  verbraucht. 
Heute  sind  die  Hülfssummen  gewachsen  und  die  ganze 
Aktion  ist  in  ein  System  gebracht.  Die  sogenannte  Hunger- 
lotterie wurde  in  Bewegung  gesetzt,  ihre  erste  Ziehung  er- 
folgt in  einigen  Tagen.  Sie  stellt  eine  Art  Zwangsbelastung 
dar,  weil  die  Billete  sehr  wenig  von  Privaten  gekauft,  son- 
dern auf  höheren  Befehl  an  die  amtlichen  Bureaux  ver- 
sendet wurden,  um  dort  von  den  Beamten  gekauft  zu 
werden.  Bekanntlich  darf  der  Beamte  eine  freiwillige  Gabe 
dieser  Art  nicht  versagen.  Nach  der  Verloosung  der  ersten 
Lotterie,  bei  welcher  die  Gewinne  bis  auf  100  000  Rubel 
steigen,  ist  eine  zweite  zu  erwarten  mit  geringeren  und 
zahlreicheren  Gewinnen.  Bemerkenswert  ist,  dass  die 
Gaben  von  Privaten,  welche  in  Geld  und  Produkten  sehr 
zahlreich  in  die  Kirchen  flössen,  beinahe  aufgehört  haben, 
seitdem  die  Regierung  die  Hülfsaktion  in  ihre  Hände  nahm. 
In  jedem  Falle  ist  die  Staatsaktion  unentbehrlich  gewesen 
und  besteht  gegenwärtig  in  folgenden  Massnahmen) 

Die  Tarife  der  Eisenbahnen  mussten  verbilligt  werden. 
Diese  Verbilligung  galt  zuerst  für  die  Frachten,  welche 
von  den  Zemstwos  oder  aus  Häfen  in  die  nothleidenden 
Provinzen  versendet  wurden.  Heute  gilt  die  Preisermässi- 
gung  jeder  Waare,  die  dorthin  geht.  Daneben  war  den 
Eisenbahnverwaltungen  aufgetragen,  Getreide  vor  jeder 
andern  Waare  zu  verschicken,  trotzdem  ist  diese  Verord- 
nung nicht  eingehalten  worden,  grosse  Massen  Getreide 
wurden  aufgehäuft  und  die  Bevölkerung  litt  in  Folge  der 
verrotteten  Verkehrszustände  gesteigerte  Noth. 

Zur  Verwaltung  der  Hifssummen  ist  in  Petersburg  ein 
Zentralkomitee  errichtet  worden,  und  dieses  steht  mit  ähn- 
lichen Komitees  in  den  Provinzen  in  Verbindung,  welche 
die  Hilfsaktion  in  den  einzelnen  Dörfern,  Städten  und  Weilern 
zu  leiten  haben.  Die  oben  erwähnte  Lotterie  ist  eino-erichtet 
worden,  um  dieser  Verwaltung  unter  Anderem  auch  Geld- 
mittel für  ihre  eigene  Existenz  zu  liefern.  Da  die  emittirten 
Billete  6 Millionen  einbringen  sollen  und  die  Summe  der 
Gewinne  nur  1 200  000  beträgt,  so  werden  die  Komiteemit- 
glieder reichlich  versorgt  werden  können.  Die  Verwaltung 
der  Hilfsaktion  hat  auch  sonst  ihr  individuelles  Wohl  nicht 
vergessen.  Die  Geschichte  der  Mehleinkäufe  in  Petersburg 
haben  seiner  Zeit  die  Tagesblätter  gebracht,  die  Miss- 
bräuche der  einzelnen  Gubernatore  (Provinzverwalter)  ver- 
anlässten  die  Schaffung  der  Zentral-  und  Kreiskomitees. 


Erwähnenswerth  ist  hier  die  Einrichtung  von  öffent- 
lichen Arbeiten  zu  Gunsten  der  hungernden  Bevölkerung. 
Zu  diesem  Zwecke  wurden  15  Millionen  Rubel  in  Aussicht 
genommen  und  der  Bau  von  über  150  Kirchen  und  Schul- 
gebäuden geplant.  Der  russische  Winter  ist  jedoch  zu 
rauh,  um  dergleichen  Arbeiten  sogleich  anfangen  zu  kön- 
nen, im  Sommer  aber  kehrt  der  Bauer  zu  seinen  Feld- 
arbeiten zurück  und  wenn  er  es  nicht  thut,  entsteht  eine 
neue  Hungersnoth.  Man  darf  also  nicht  glauben,  dass  die 
öffentlichen  Arbeiten  deswegen  fehl  schlagen,  weil  die  Be- 
völkerung der  Arbeit  überhaupt  widerstrebt,  wie  dies  bos- 
hafter Weise  von  manchen  Zeitungen  verbreitet  wurde. 
Im  Gegentheil.  die  glaubwürdigsten  Berichte  lauten  dahin, 
dass  überall  die  Hülfe  in  Form  von  Arbeit  am  bereitwillig- 
sten entgegengenommen  wird,  dass  die  erwachsene  Bauern- 
bevölkerung; sich  sogar  an  manchen  Orten  sträubt,  an 
an  unengeltlichen  Mittagsmahlen  Theil  zu  nehmen.  Allein 
die  Staatsmaschine  ist  überhaupt  wenig  bewegungsfähig, 
und  deshalb  schlagen  auch  die  besten  Massregeln  meistens 
fehl  oder  bewirken  nur  einen  Theil  des  von  ihnen  erwar- 
teten Guten.  Die  heutige  Regierungspolitik  will  die  Hilfs- 
aktion ununterbrochen  bis  zum  1.  (13.)  Juli  d.  J.  fort- 
führen. Nach  den  Berechnungen  des  Departements  des 
Innern,  die  man  allerdings  als  minimale  zu  betrachten  hat, 
sind  jeden  Monat  10  Millionen  Pud  (8  Pud  40  Pfd.)  nöthig. 
Dabei  sind  noch  88  Millionen  für  die  Frühlingssaat  zu  ver- 
anschlagen. Da  27  Millionen  in  den  nothleidenden  17  Pro- 
vinzen als  Vorrath  vorhanden  sein  sollen,  unterwegs  15 
sind,  hat  die  Regierung  noch  für  die  übigen  58  Millionen 
zu  sorgen.  Dabei  darf  man  nicht  vergessen,  dass  die  Zahl 
der  Nothleidenden  von  Monat  zu  Monat  wächst,  da  die 
eigenen  Vorräthe  der  Bevölkerung  sich  allmählich  er- 
schöpfen. 


Zu  den  agrarischen  Zuständen  in  Mexiko. 

Heber  die  agrarischen  Zustände  in  Mexiko  (vergl.  , 
Soz.  Centralblatt  No.  3,  S.  36)  kann  ich,  gestützt  auf  per-  j , 
sönliche  Beobachtungen,  folgende  Mittheilungen  machen. 

Ein  Hauptübelstand  ist  das  Ueberwiegen  eines  ausser- 
gewÖhnlich  starken  Grossgrundbesitzes.  Von  den  zehn  • 
Millionen  Einwohnern  des  Landes  sind  kaum  20  000  Grund-  i 
besitzer!  Das  ganze  Gebiet  besteht  aus  ausgedehnten  < 
Landgütern  (haciendas^oder  ranchos),  von  denen  mehrere  j 
tausende  von  Quadratmeilen  umfassen.  Die  mexikanische  < 
Nationalbahn  durchschneidet  eine  solche  hacienda  in  einer  j 
Länge  von  mehr  als  100  englischen  Meilen;  diese  hat  eine  , 
Fläche  von  13  000  englischen  Quadratmeilen!  Sie  enthält 
Städte  und  Dörfer  mit  zahlreicher  Bevölkerung.  Der  Eigen- 
thümer  lebt  in  Paris.  Die  haciendas  und  ranchos  sind  zu- 
gleich auch  politische  Distrikte,  die  dem  Eigenthümer  eine 
förmliche  feudale  Macht  verleihen.  j 

So  lange  Grund  und  Boden  dem  \ olk  nicht  zugänglich 
gemacht  wird,  kann  von  einem  wirthschaftlichen  und 
sozialen  Fortschritt  nicht  die  Rede  sein.  Wie  dies  geschehen 
soll,  ist  freilich  noch  ein  ungelöstes  Problem.  Vielleicht 
kommen  die  Grundbesitzer  selbst  zur  Einsicht,  dass  sie 
durch  Theilung  ihrer  grossen  Ländereien  ihr  eigenes 
Interesse  so  gut  wie  dasjenige  Anderer  fördern  würden. 
Wenn  jede  hacienda  (in  Mexiko  in  zwei  Hälften  geteilt 
und  die  eine  Hälfte  in  kleineren  Parzellen  den  arbeits- 
tüchtigen Peonen  unentgeltlich  abgetreten  würde,  so 
würde  sich  der  Schenkende  selbst  bereichern.  Die  Hart- 
näckigkeit, mit  welcher  die  Besitzenden  an  jeden  Zoll  des 
den  Eingeborenen  mit  dem  Schwert  entrissenen  Landes 
sich  anklammern,  findet  ihr  Gegenstück  in  der  \ erblendung 
der  armen  geplagten  Peonen,  welche  nicht  selten  durch 
Zerstörung  der  landwirtschaftlichen  Maschinen  ihr  trauriges 
Loos  zu  verbessern  hoffen. 

Die  ungleiche  Verteilung  des  Bodens  rührt  von  den 
Spaniern  her,  welche  das  eroberte  Gebiet  wenig  skrupulös 
an  einzelne  bevorzugte  Günstlinge  verschenkten.  Dieses 
System  hat  die  heute  noch  schlechte  Bebauung  des  Landes 
veranlasst.  Indianer  und  Mischlinge,  welche  fast  9/,n  der 
Bevölkerung  bilden,  leben  ungemein  anspruchslos;  die  ge- 
ringen Löhne  sind  nicht  geeignet,  den  Konsum  zu  heben, 


No.  7. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBT  ATT. 


91 


die  Nachfrage  deckt  sich  bei  weitem  nicht  mit  der  Pro- 
duktion des  jungfräulichen,  fruchtbaren  Bodens  und  in  Folge 
dessen  werden  Feldbau  und  Viehzucht  sehr  nachlässig  be- 
trieben. Dazu  kommt  eine  enorme  Verschuldung  des 
Bodens.  Die  Peonen  ihrerseits  werden  dem  Herrn  bald 
tief  verschuldet  und  stehen  zu  demselben  in  lästigeren 
Verhältnissen , wie  Sklaven.  Die  zahlreichen  Aufseher 
(mayordomos)  behandeln  sie  äusserst  roh  und  brutal  und 
suchen  ihre  Arbeitskräfte  so  viel  als  möglich  auszubeuten. 
Zur  Zeit  der  spanischen  Herrschaft  bezeichnete  man  diese 
Aufseher  als  die  „vierte  Plage“,  und  mehrmals  wurde  gegen 
sie  vor  dem  königlichen  Hof  in  Madrid  Klage  geführt.  Die 
Schilderung,  welche  Motolinia  in  seiner  Geschichte  der 
Indianer  von  Neuspanien  von  ihnen  entwirft,  trifft  heute 
noch  zu.  Er  nennt  sie  Drohnen,  welche  den  von  den 
Bienen  gesammelten  Honig  essen. 

Aarau.  E.  Naef. 


Arbeiterzustände. 


Ruhezeiten  für  (las  Betriebspersonal  der  preussichen 
Staatsbahnen.  Eine  wunderlich  schablonenhafte  Nach- 
weisung über  die  dienstfreien  Zeiten  dieses  Personals  ist 
dem  preussischen  Abgeordnetenhaus  seitens  des  Eisenbahn- 
ministers in  Folge  einer  vorjährigen  Anregung  des  Abgeord- 
neten Richter  zugegangen.  Ein  Sozialstatistiker  ist  bei  der 
Abfassung  jedenfalls  nicht  zu  Rathe  gezogen  worden.  Die 
Nachweisung  bezieht  sich  auf  ein  Personal  von  88577  Köpfen. 
Davon  haben  im  ganzen  Monat 


keinen  halben  Ruhetag  . . . 

538 

Personen, 

einen  halben  ,,  ... 

855 

einen  ganzen  ,,  ... 

9 094 

ein  und  einen  halben  Ruhetag 

5 532 

zwei  Ruhetage 

26  430 

über  zwei  Ruhetage  .... 

46  028 

Nach  der  verschiedenen  Stellung  und  Beschäftigung  des 
Betriebspersonals  stellt  sich  jedoch  im  Einzelnen  die  Ruhe- 
zeit  ganz  verschieden.  So  gemessen 


von 

Bahn- 

wärtern 

von 

Weichen- 

stellern 

von 

Stations- 

beamten 

von 

Tele- 

graphisten 

keinen  halben  Ruhetag  . . . 

97 

45 

285 

84 

einen  halben  „ .... 

170 

158 

312 

67 

einen  ganzen  „ ... 

3 239 

2 325 

I 836 

397 

ein  und  einen  halben  Ruhetag 

1 833 

1 220 

873 

203 

zwei  Ruhetage 

10  624 

7 530 

3 292 

642 

über  zwei  Ruhetage 

4 348 

4 805 

2721 

1 062 

20  311 

16  083 

9 319 

2 455 

von 

Wagen  - 
meistern 

von 

Rangir- 

meistern 

vom 

Zugbe- 

gleitungs- 

personal 

von 

Loko- 

motiv- 

beamten 

keinen  halben  Ruhetag  . . . 

32 

41 

32 

i 

einen  halben  „ ... 

11 

41 

9 

87 

einen  ganzen  „ ... 

271 

247 

487 

292 

ein  und  einen  halben  Ruhetag 

106 

114 

873 

310 

zwei  Ruhetage 

461 

574 

2714 

595 

über  zwei  Ruhetage 

434 

795 

17  552 

14  347 

1 315 

1 812 

21  867 

15  532 

Diese  Statistik  giebt  über  die  thatsächliche  Vertheilung  der 
Puhezeit  aut  den  Monat  noch  immer  keinen  Anhalt;  denn 
die  ganzen  Ruhetage  werden  den  Beamten  sehr  oft  in  ge- 
trennten Portionen  von  halben  Ruhetagen  zugemessen. 
Unseres  Wissens  kommt  hier  eine  ähnliche  Berechnung 
der  Dienst-  und  freien  Stunden  in  Anrechnung  wie  bei  den 
Postbeamten.  Es  werden  nämlich  die  in  einer  Woche  zu 
leistenden  Stunden  zusammengezählt  und  mit  sieben  ge- 
theilt,  wobei  eine  bestimmte  Stundenzahl  herauskommen 
muss.  Was  der  Beamte  an  einem  Tage  weniger  leistet, 


muss  er  an  anderen  Tagen  wieder  einholen.  Bei  dieser 
Sachlage  kann  ein  zutreffendes  statistisches  Bild  der  arbeits- 
freien Zeit  nur  im  Zusammenhang  mit  einer  Statistik 
der  Arbeitszeit  der  Beamten  gegeben,  und  in  diesem 
Bilde  muss  die  Inanspruchnahme  für  jede  einzelne  Woche 
des  Monats  klargestellt  werden.  Ferner  muss  die  Statistik 
erschöpfender  sein.  Die  vorliegende  giebt  die  Minimal- 
grenze, bis  zu  welcher  die  Ruhezeit  einzelner  Beamten 
sinkt  (unter  sechs  Stunden),  und  die  Maximalgrenze,  bis  zu 
welcher  sie  steigt  (über  zwei  Tage)  nicht  genauer  an,  lässt 
also  an  Vollständigkeit  sehr  zu  wünschen  übrig.  Freilich 
lässt  sie  auch  in  der  vorliegenden,  unvollkommenen  Form 
einigermassen  ahnen,  welche  Ausnutzung  der  Betriebs- 
beamten bei  den  preussischen  Staatsbahnen  stattfindet. 
Ueber  500  Beamte  geniessen  im  ganzen  Monat  nicht  einmal 
6 Stunden  Ruhezeit  ausser  der  gewöhnlichen  Ruhezeit 
zwischen  zwei  Arbeitstagen!  Man  fragt  sich  vergeblich, 
wie  so  etwas  bei  einem  Staatsunternehmen  geduldet  werden 
kann.  Ausserdem  bringen  es  noch  ca.  1 6 000  Personen  nur 
zu  Ruhepausen  von  einem  halben  bis  zu  B/jTagen  im  Mo- 
nate! Und  selbst  die  grössere  Summe  von  26  430  Beamten, 
die  nun  folgt,  hat  nur  zwei  volle  Ruhetage  im  Monat,  also 
noch  immer  eine  sehr  magere  Erholung.  Bei  dem  Rest  von 
46  028  Beamten  mit  mehr  als  zwei  Ruhetagen  müsste  erst 
festgestellt  sein,  wie  sich  diese  „zwei  und  mehr“  Ruhe- 
tage auf  jede  Woche  vertheilen,  ehe  die  Beschäftigung 
auch  dieser  zahlreichsten  Beamtenklasse  als  eine  normale 
bezeichnet  werden  könnte.  Bekanntlich  soll  der  Monat 
eigentlich  vier  Ruhetage  haben.  Betrachtet  man,  alle  wei- 
teren Feststellungen  Vorbehalten,  noch  die  Vertheilung  der 
Ruhezeit  bei  den  einzelnen  Beamtenklassen  nach  unserer 
zweiten  Uebersicht,  so  bemerkt  man  eine  entfernt  befrie- 
digende Zutbeilung  von  dienstfreier  Zeit  eigentlich  nur 
bei  den  Lokomotivbeamten,  wo  auf  1 5 532  insgesammt 
wenigstens  ca.  15  000  zwei  volle  Ruhetage  und  darüber 
haben.  Annähernd  ebenso  sind  die  Zugbegleitungsbeamten 
und  Telegraphisten  mit  Ruhezeit  bedacht.  Desto  schlim- 
mer zeigen  sich  die  Dienstverhältnisse  der  Bahnmeister, 
Weichensteller,  Stationsbeamten,  Wagen-  und  Rangir- 
meister,  wo  die  Mehrheit  der  Personen  es  höchstens  zu 
zwei  Ruhetagen  im  Monat  bringt.  Am  auffälligsten  ist  der 
hohe  Prozentsatz  von  Stationsbeamten,  die  nicht  einmal 
6 dienstfreie  Stunden  im  Monat  (immer  die  gewöhnliche 
Ruhezeit  von  12  Stunden  zwischen  Beendigung  und  Wieder- 
beginn der  Dienstzeit  abgerechnet)  haben,  285  auf  9319. 
Selbstverständlich  fällt  beinahe  die  Hälfte  aller  Dienst- 
befreiungen nicht  auf  Sonntage.  Die  preussische  Staats- 
bahnverwaltung muss  wohl  selbst  eine  Scham  über  diese 
Zustände  empfunden  haben,  denn  sie  macht  folgende  Be- 
merkung: „Die  verschiedenartige  Bemessung  der  Zahl  der 
Ruhetage  ist  theils  durch  die  Verschiedenartigkeit  der 
dienstlichen  Inanspruchnahme  des  Personals  auf  den  ein- 
zelnen Strecken  und  Stationen,  theils  dadurch  zu  erklären, 
dass  die  für  die  Staatseisenbahnverwaltung  bestehenden 
allgemeinen  Grundsätze  auf  den  vom  Staate  erworbenen 
Privateisenbahnen  noch  nicht  vollständig  zur  Durchführung 
gelangt  sind.  Das  letztere  wird  wegen  der  damit  verbun- 
denen erheblichen  Kosten  erst  nach  und  nach  geschehen. 
Die  für  die  Staatseisenbahn  Verwaltung  erlassenen  Vor- 
schriften werden  übrigens  zur  Zeit  einer  Umarbeitung 
unterzogen.“  Diese  „Umarbeitung“  ist  allerdings  hoch  an 
der  Zeit.  Die  Unhaltbarkeit  dieser  Zustände  und  die  viel- 
sagende Mangelhaftigkeit  der  amtlichen  Nachweisung  über 
dieselben  müsste  im  Abgeordnetenhaus  einer  sehr  scharfen 
Kritik  unterzogen  werden. 

Der  Nothstaiul  in  der  ostschweizerischen  Stickerei.  Be- 
kanntlich sind  vor  Kurzem  die  Vorarlberger  Sticker  aus  dem 
segensreich  wirkenden  ostschweizerischen  Stickereiverbande 
ausgetreten  und  haben  einen  rücksichtslosen  Konkurrenzkampi 
gegen  die  ostschweizerische  Stickereiindustrie  begonnen.  Hier- 
mit war  das  Schicksal  der  Abmachungen  zwischen  Verlegern 
und  Hausindustriellen  auch  in  der  Ostschweiz  entschieden.  Man 
begann  nun  auch  auf  schweizerischem  Gebiete  alle  Anstrengungen 
zu  machen,  die  vorarlbergische  Industrie  zu  schädigen  und  zwar 
durch  Unterbietung  der  Preise,  Abschaffung  der  Produktionsein- 
schränkungen, Erhöhung  der  Arbeitszeit  und  Aufhebung  der 
Minimallöhne.  Wenige  Tage  erst  sind  seit  dem  Falle  des  Mini- 
mallohnes vorüber  und  schon  haben  wir  grauenhafte  Zustände, 
schreibt  man  der  „Ostschweiz“.  Es  ist  in  solchen  Verhältnissen 
gar  Niemand  mehr  existenzfähig,  es  müssen  Alle  zu  Grunde 
gehen.  Das  Elend  wächst  mit  jedem  Tag.  Die  Arbeiter  haben 
nun  in  einer  Delegirtenversammlung  der  ostschweizerischen  und 
Vorarlberger  Stickereiarbeiter  einen  Generalstrike  und  eine 
Petition  an  die  Behörden  um  Staatsunterstützung  beschlossen. 


92 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  7. 


Klagen  über  Lehrlingszüchterei  sind  in  keinem  Ge- 
werbe so  berechtigt  wie  im  Bäckergewerbe.  Durch  die  vom 
Vorsitzenden  des  Stuttgarter  Gewerbegerichts,  Herrn  Lauten- 
schlager. vorgenommenen  Erhebungen  wurde  festgestellt,  dass 
in  255  Stuttgarter  Bäckereien  610  Arbeiter  und  zwar  355  Ge- 
hilfen und  255  Lehrlinge  beschäftigt  sind,  die  biszu  18  Stunden 
des  Werktags  arbeiten.  Am  Sonntag  hatten  dieselben  bisher 
nur  8 — 14  Stunden  Ruhe. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Zum  Programm  des  deutschen  Gewerkschafts- 
kongresses. 

DieAufgabe,  welche  dem  im  folgenden  Monat  zusammen- 
tretenden Gewerkschaftskongress  gestellt  ist,  hat  eine  so 
grosse  und  die  deutsche  Arbeiterbewegung  in  ihren  wich- 
tigsten Interessen  berührende  Bedeutung,  dass  eine  wieder- 
holte und  von  verschiedenen  Gesichtspunkten  ausgehende 
Erörterung  der  zu  lösenden  Fragen  auch  im  Sozialpolitischen 
Centralblatt  wohl  am  Platze  sein  dürfte.  In  Nummer  5 dieser 
Zeitschrift  hat  Herr  Legien  das  Programm  des  Kongresses 
erörtert , allein  in  seinen  Ausführungen  einen  Vorschlag 
ausser  Betracht  gelassen,  der  eine  Besprechung  wohl 
verdient.  Es  ist  dies  der  von  den  Gewerkschaften  in 
Fürth  und  Nürnberg  ausgehende  Organisationsplan.  Der- 
selbe weicht  insofern  von  dem  der  Generalkommission  ab, 
als  an  Stelle  der  jetzt  bestehenden  Berufsorganisationen, 
welche  nach  dem  Entwurf  der  Generalkommission  auch 
für  die  Zukunft  die  Grundlage  der  Organisation  bilden 
würden,  Verbände  für  die  Arbeiter  ganzer  Industriezweige 
hergestellt  werden  sollen.  So  soll  z.  B.  für  die  gesammten 
Holzarbeiter,  Bauhandwerker,  Metallarbeiter,  für  die  Textil- 
industrie, Lederindustrie,  Bekleidungsindustrie,  Papierin- 
dustrie nur  je  eine  Organisation  in’s  Leben  gerufen  wer- 
den, bezw.,  die  verschiedenen  für  ein  und  dieselbe  In- 
dustrie bestehenden  Organisationen  zu  einem  Verbände 
vereinigt  werden.  Wo  das  Bedürfniss  vorhanden  ist,  sollen 
sich  die  Arbeiter  örtlich  nach  Berufen  organisiren,  so  dass 
Tischler,  Bildhauer,  Drechsler,  Polirer  je  für  sich  eine  ört- 
liche Verwaltungsstelle  bilden,  die  ihre  fachlichen  Angelegen- 
heiten selbstständig  ordnet,  im  Uebrigen  aber  der  für  alle 
Berufe  dieser  Industrie  bestehenden  Centralleitung  unter- 
stellt ist.  Die  Gewerkschaftspresse  soll  in  gleicher  Weise 
centralisirt  werden;  für  eine  ganze  Industriegruppe  wird  nur 
eine  Zeitung  gewünscht.  Dadurch  würden  sich  die  jetzt 
bestehenden  Gewerkschafts-Centralisationen  wie  auch  die 
Gewerkschaftszeitungen  etwa  um  Zweidrittel  vermindern 
und  jährlich  mindestens  150  000  Mk.  an  Verwaltungskosten 
und  Ausgaben  für  Zeitungen  ersparen  lassen.  Die  finanzielle 
Leistungsfähigkeit  der  Gewerkschaften  würde  bedeutend 
erhöht  und  vor  Allem  eine  einheitlichere  Leitung  als  jetzt 
ermöglicht  werden,  wo  die  Arbeiter  ein  und  derselben 
Fabrik,  oft  in  fünf  bis  sechs  Organisationen  zersprengt  sind 
Die  so  schwierigen  Fragen  der  Wanderunterstützung,  des 
Herbergswesens,  des  Arbeitsnachweises,  würden  bei  der 
angeregten  Zusammenfassung  der  Kräfte  ihrer  Lösung  ein 
gut  Stück  näher  gebracht  sein.  In  jeder  Beziehung,  würde 
die  Leistungsfähigkeit  der  Organisationen  vermehrt,  ihre 
Beweglichkeit  gefördert  werden.  Das  will  auch  die  Gene- 
ralkommission, durch  ihren  Organisationsentwurf  wird  sie 
es  aber  schwerlich  erreichen. 

Die  Union,  wie  sie  von  der  Generalkommission  em- 
pfohlen wird,  hebt  die  Kräftezersplitterung  und  kostspielige 
Verwaltung  nicht  auf,  es  können  nach  diesem  Plane  alle 
jetzt  bestehenden  Centralisationen  weiter  fungiren,  nicht 
einmal  gegen  neue  Abzweigungen,  d.  h.  Schwächungen  der 
bestehenden  Organisationen  schützt  die  Durchführung  des 
Entwurfs  der  Generalkommission.  Dazu  kommt  noch  die 
Schwerfälligkeit  des  von  der  Generalkommission  projek- 
tirten  Unions-Apparates  in  Betracht,  welche  Jeder  ei  kennen 
wird,  der  sich  in  die  projektirten  Unionen  hineindenkt.  In 


Bezug  aul  die  Presse  erscheint  mir  der  von  der  General- 
kommission aufgestellte  Plan  überhaupt  nicht  durchführbar. 
Eine  einzige  Zeitung  genügt  unter  keinen  Lhnständen  für 
eine  der  Unionen,  wie  dies  von  der  Generalkommission  pro- 
jektirt  ist.  Man  denke  sich  nur  eine  Zeitung  für  eine 
Union,  welche  vielleicht  aus  sechs  bis  acht  Organisationen 
besteht.  Jede  der  Centralleitungen  hat  ihre  in  der  Regel 
sehr  umfangreichen  Bekanntmachungen  zu  veröffentlichen, 
es  sind  die  Abrechnungen  jedes  einzelnen  Verbandes  abzu- 
drucken, jeder  der-  Verbandskassirer  quittirt  die  ein-  und 
ausgehenden  Geldbeträge,  dazu  noch  die  Bekanntmachun- 
gen der  Krankenkassen,  die  meist  so  viel  Raum  bean- 
spruchen als  die  der  Verbände.  Es  bedarf  keines  beson- 
deren Beweises,  dass  in  einem  solchen  Blatt,  wenn  nicht 
etwa  amerikanisches  oder  englisches  Format  ins  Auge  ge- 
fasst wird,  für  alle  übrigen  Aufgaben  der  Zeitungen  gar 
kein  Raum  mehr  bliebe.  Die  so  ausgestatteten  Gewerk- 
schaftsorgane würden  zu  Amtsblättern  herabsinken  und  ihren 
Zweck  vollkommen  verfehlen.  Ein  Vergleich  des  Organi- 
sationsentwurfes der  Generalkommission  mit  dem  von  den 
Fürth-Nürnberger  Gewerkschaften  vorgeschlagenen  Organi- 
sationsplan  muss  deshalb  zu  Gunsten  des  letzteren  ausfallen. 

Dass  Industrieverbände  in  dem  hier  erläuterten  Sinne 
möglich  sind,  giebt  auch  die  Generalkommission  zu,  aber 
sie  hält  die  Zeit  hierzu  noch  nicht  gekommen.  Das  grösste 
Hinderniss  für  solche  Verbände  scheint  in  der  Verschieden- 
heit der  Beiträge  der  einzelnen  Organisationen  zu  liegen. 
Mit  Recht  wird  gesagt,  dass  frei  einer  Verschmelzung  der 
Organisationen  z.  B.  die  Schuhmacher  nicht  veranlasst 
werden  können,  ihre  Gewerkschaftsbeiträge  derart  zu  er- 
höhen, dass  sie  denen  der  Sattler  oder  Handschuhmacher 
gleich  kommen.  Ebensowenig  kann  den  Sattlern  und  Hand- 
schuhmachern zugemuthet  werden,  ihre  Beiträge  zu  redu- 
ziren,  alle  ihre  Einrichtungen,  welche  sich  nach  der  Höhe 
der  Beiträge  richten,  über  Bord  zu  werfen. 

Dieser  Einwurf  verdient  sicherlich  Beachtung,  aber 
als  ein  unübersteigliches  Hinderniss  kann  er  nicht 
gelten.  Dasselbe  Verhältnis , welches  in  Betreff  der 
Beiträge  der  verschiedenen  Gewerkschaften  obwaltet,  be- 
steht in  jeder  einzelnen  Gewerkschaft,  in  Bezug  auf 
grosse  und  kleine  Orte.  Für  die  Arbeiter  in  kleinen 
Orten  kann  keine  Gewerkschaft  die  Beiträge  niedrig 
genug  ansetzen,  da  sind  die  Löhne  unzureichend;  die 
Arbeiter  kennen  den  Werth  der  Organisation  nicht,  und 
so  geschieht  es,  dass  selbst  die  minimalen  Beiträge,  welche 
jetzt  die  einzelnen  Organisationen  erheben,  zu  hoch 
befunden  werden.  In  den  grösseren  Städten  ist  das 
Gegentheil  der  Fall.  Wollen  die  Gewerkschaften  den 
Bedürfnissen  der  Arbeiter  in  den  grossen  Städten  Rechnung 
tragen  und  auf  die  Arbeiter  in  kleinen  Orten  mehr  Einfluss 
gewinnen,  so  müssen  sie  Beiträge  und  Leistungen  klassi- 
fiziren,  es  jedem  Mitgliede  freistellen,  ob  er  hohe  oder  nie- 
dere Beiträge  bezahlen  und  im  Bedarfsfälle  demensprechende 
Gegenleistungen  beziehen  will.  Eine  solche  Abstufung  ist 
auch  berechtigt,  in  Bezug  auf  die  Unterhaltungskosten  der 
Arbeiter,  denn  diese  sind  in  Berlin  oder  Hamburg  höher, 
als  in  einem  Orte  von  4000 — 5000  Einwohnern  Diese  Ein- 
richtung würde  nach  und  nach  allgemein  zu  einer  höheren 
Beitragsleistung  führen,  ohne  dass  dem  Einzelnen  ungebühr- 
liche Lasten  aufgezwungen  würden 

Die  verschiedenen  Beiträge  der  einzelnen  Organi- 
sationen bilden  demnach  kein  unüberwindliches  Hinderniss 
bei  der  Verschmelzung;  jedenfalls  verdient  der  Vorschlag 
gründlich  diskutirt  zu  werden,  denn  wenn  nicht  jetzt,  so 
wird  man  doch  in  absehbarer  Zeit  gezwungen  sein,  diesen 
Weg  einzuschlagen. 

CT»  O 

Nürnberg.  Martin  Segitz. 


Organisation  der  Eisenbahnarbeiter.  Vor  etwa  zwei 
fahren  bildete  sich  in  Bern  ein  Eisenbahnarbeiter -Verein.  Der- 
selbe hat  in  seinen  Statuten  folgendermassen  seine  Aufgaben 
präzisirt:  1.  LJnter  allen  Berufsgenossen,  sowie  dem  gesammten 
Arbeiterstande  das  Bewusstsein  der  Solidarität  zu  wecken  und 
zu  pflegen:  2.  dem  Arbeiter  sein  Recht  bestmöglichst  zu  wahren ; 


No.  7. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


93 


3.  die  Arbeiter  in  technischer  und  moralischer  Beziehung  zu  i 
heben;  4.  durch  alle  zu  Gebote  stehenden  rechtlichen  Mitteln 
und  gemeinsames  Wirken  die  geistige  und  materielle  Lage  so- 
wohl des  Einzelnen  als  der  Gesammtheit  zu  verbessern.  Mitglied 
des  Vereins  kann  jeder  Eisenbahnbeamte  werden  ohne  Rücksicht 
auf  dessen  Branche.  Zur  Oeffnung  der  Kasse  wird  ein  monat- 
licher Beitrag  von  30  Cts.  erhoben.  Die  Verwaltung  wurde  in 
der  Weise  zusammengesetzt,  dass  einer  jeden  Branche  die  Mög- 
lichkeit gewährt  wurde,  in  derselben  vertreten  zu  sein. 

Ferner  erstrebt  der  Verein  die  Verwirklichung  nachstehen- 
den Programms: 

1.  Anstellung  und  Entlassung:  Abschaffung  der  Taglohn- 
Anstellung;  feste  Anstellung  mit  Vertrag  nach  einmonatlicher 
Probezeit;  gegenseitige  einmonatliche  Kündigung.  Sofortige 
Entlassung  erfolgt  nur  bei  richterlich  konstatirter  Vernachlässi- 
gung der  Arbeit  (Dienstfehler) 

2.  Lohnverhältnisse:  Festsetzung  eines  Minimallohnes  von 
Fr.  100  pro  Monat  für  Neuangestellte.  Steigerung  des  Lohnes 
um  mindestens  5 Prozent  für  jedes  weitere  Dienstjahr  während 
6 fahren.  Aufbesserung  der  gegenwärtigen  Löhne  um  10  Prozent. 
Für  dienstfreie  Tage  darf  kein  Lohnabzug  erfolgen.  Extrastunden 
sind  nach  bestehendem  Reglement  zn  entschädigen.  Unentgelt- 
liche Lieferung  des  nothwendlgen  Bekleidungsmaterials,  be- 
stehend in  Mantel,  Blouse  und  Mütze,  an  sämmtliche  Arbeiter 
nach  erfolgter  vertragsmässiger  Anstellung. 

3.  Arbeitszeit:  Durchführung  der  lOstündigen  Arbeitszeit 
für  diejenigen  Branchen,  welche  nicht  vom  Fahrdienst  abhängig 
sind  (Schopf,  Depot,  Krampe’r'.  Gestattung  einer  Ruhepause 
nach  der  Hälfte  der  Arbeitszeit  von  P/2  Stunden.  Einführung 
von  Arbeitsschichten  für  auf  der  Linie  beschäftigte  Branchen 
behufs  besserer  Durchführung  der  nach  Gesetz  vorgeschriebenen 
Arbeitszeit  und  der  Freitage  (Gepäck,  Eilgut,  Manöver,  Wärter). 

Kongress  der  französischen  Arbeitsbörsen.  Auf  An- 
regung der  Arbeitsbörse  von  Saint-Etienne  fand  daselbst 
am  Sonntag,  den  7.  und  Montag,  den  8.  Februar  ein  Kon- 
gress der  französischen  Arbeitsbörsen  statt,  der  sich  ge- 
mäss seiner  Tagesordnung  1)  mit  der  Gründung  eines  Ver- 
bandes der  Arbeitsbörsen,  2)  mit  deren  Vertretung  im 
Arbeitssekretariat  beschäftigte.  Delegirte  hatten  entsendet: 
Paris,  Lyon,  Beziers,  Cholet,  Toulon,  Bordeaux,  Toulouse, 
Montpellier,  Marseille  und  Cette,  die  zusammen  mit 
St.-Etienne  550  Arbeitersyndikate  vertraten.  Der  Kongress 
sprach  vor  Allem  aus,  dass  die  Arbeitsbörsen,  wenn  sie  das 
leisten  sollen,  was  die  Arbeiterschaft  von  ihnen  erwartet, 
vollständig  unabhängig  sein  müssen  und  darum  jede  Ein- 
mischung der  Regierung  wie  der  Munizipalitäten  in  ihre 
inneren  Angelegenheiten  zurückzuweisen  haben.  Was  den 
Bund  der  Arbeitsbörsen  anbelangt,  wurde  die  Bildung  des- 
selben einstimmig  beschlossen  und  als  Ziel  desselben  hin- 
gestellt: 1.  Die  Forderungen  der  Arbeitersyndikate  (Gewerk- 
schaften) einheitlich  zu  gestalten  und  ihrem  Ziele  ent- 
gegenzuführen; 2.  die  Thätigkeit  der  Arbeitsbörsen  auf  alle 
industriellen  und  landwirthschaftlichen  Zentren  auszudehnen; 

3.  die  Delegirten  für  das  Arbeitssekretariat  zu  ernennen; 

4 alle  wünschenswerthen  statistischen  Daten  zu  sammeln 
und  den  zum  Bunde  gehörigen  Arbeitsbörsen  zu  über- 
mitteln; 5.  die  unentgeltliche  Arbeitsvermittlung  für  die 
Arbeiter  beider  Geschlechter  zu  verallgemeinern.  Behufs 
Durchführung  der  Beschlüsse  des  Arbeitsbörsen-Bundes  und 
Verständigung  mit  dem  Arbeitssekretariat  wird  alljährlich 
ein  aus  je  einem  Mitglied  sämmtlicher  Arbeitsbörsen  zu- 
sammengesetztes Bundeskomitee  ernannt  werden,  das  seinen 
Sitz  in  derselben  Stadt  zu  nehmen  hat,  in  der  sich  das 
Arbeitssekretariat  befindet.  Die  Kosten  dieses  Komitees 
I sind  von  den  verbündeten  Arbeitsbörsen  zu  tragen.  Zu 
ihrer  Vertretung  im  Sekretariat  wurden  vier  Mitglieder  der 
Pariser  Arbeitsbörse  ernannt.  Die  Arbeiten  des  Kongresses 
sind  mit  dem  Erlass  eines  an  die  Arbeiter  gerichteten 
I Manifestes  geschlossen  worden,  in  welchem  es  u.  A.  heisst: 
„Von  nun  an  bildet  das  sich  seiner  Aufgabe  bewusste  Pro- 
letariat, vergessend  der  unheilvollen  Spaltungen,  welche 
bisher  all  seine  Bemühungen  lähmten  und  die  Verwirk- 
lichung seiner  Hoffnungen  vereitelten,  ein  einheitliches 
Ganzes,  entschlossen  mehr  denn  je  auf  die  vollständige 
Emanzipation  der  Menschheit  hinzuarbeiten.“  Zum  Schlüsse 
sei  noch  erwähnt,  dass  der  Bürgermeister  von  Saint-Etienne, 
Herr  Girodet,  der  gleichzeitig  Mitglied  der  Kammer  ist,  die 
Delegirten  des  Kongresses  zu  einem  „Ehrenpunsch“  ein- 
geladen hatte. 


j 

I 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Frankfurter  Ortsstatut  über  die  Sonntagsruhe  im  Han- 
delsgewerbe. Das  erste  Ortsgesetz  über  die  Regelung  der 
kaufmännischen  Sonntagsarbeit  auf  Grund  der  neuen  Gewerbe- 
ordnung hat  im  deutschen  Reiche  der  Magistrat  von  Frank- 
furt a.M.  ausgearbeitet,  also  genau  dort,  wo  die  Bewegung 
für  die  Sonntagsruhe  seitens  der  Kaufleute  am  nachhaltigsten 
und  planvollsten  in  Angriff  genommen  worden  ist.  Der  be- 
| treffende  Entwurf  lautet : „§  1 . Im  Handelsgewerbe  dürfen  Ge- 
hülfen,  Lehrlinge  und  Arbeiter,  insoweit  nicht  seitens  der  zu- 
ständigen Behörden  Ausnahmen  zugelassen  werden,  am  ersten 
Weihnachts-,  Ostern-  und  Pfingsttage  überhaupt  nicht,  im 
Uebrigen  an  Sonn-  und  Festttagen  nur  beschäftigt  werden: 
1 . im  Gr  ossh  andel  und  Bankgeschäft  während  höchstens 
zweier  Stunden  innerhalb  der  Zeit  von  Vormittags 
11—1  Uhr:  2.  im  Kleinhandel  und  Ladengeschäft 
während  höchstens  dreier  Stunden,  innerhalb  derZeit  von 
Vormittags  9 — 10  und  11  — I Uhr.  § 2.  Soweit  nach  den 
Vorschriften  des  § I Gehülfen,  Lehrlinge  und  Arbeiter 
nicht  beschäftigt  werden  dürfen,  darf  in  Gemässheit  des 
§ 41a  des  Reichsgesetzes  vom  1.  Juni  1891  in  offenen  Ver- 
kaufsstellen ein  Gewerbebetrieb  nicht  stattfinden.  § 3.  Durch 
die  Vorschriften  dieses  Statuts  bleiben  die  sonst  geltenden 
gesetzlichen  Vorschriften,  insbesondere  die  Verordnung  vom 
21.  August  1817  über  die  Heilighaltung  der  Sonn-  und  Fest- 
tage unberührt.  § 4.  Zuwiderhandlungen  gegen  dieses  Orts- 
statut werden  mit  Geldstrafen  bis  zu  600  Mark,  im  Unver- 
mögensfalle mit  Haft  bestraft.“  In  ihrer  Sitzung  vom 
9.  d.  M.  hat  die  Frankfurter  Stadtverordnetenversammlung 
diese  Vorlage  an  eine  Neunerkommission  verwiesen,  nicht 
ohne  dass  der  Stadtverordnete  Sonnemann  der  Ansicht  Aus- 
druck gegeben  hatte,  man  werde  die  Sonntagsarbeit  in 
Engros-  und  Bankgeschäften  noch  mehr  beschränken  können. 
Die  in  § 3 des  Statutenentwurfes  erwähnte  Verordnung  von 
1817  schreibt  im  Wesentlichen  nur  eine  äusserliche  Schliess- 
ung der  Läden  vor,  enthält  aber  keine  Bestimmung  im 
Interesse  des  Personals. 

Sonntagsruhe  im  Berliner  Handelsgewerbe.  Der  Aus- 
schuss, der  behufs  Berathung  der  Sonntagsruhe  von  der 
Stadtverordnetenversammlung  eingesetzt  worden  ist,  hat 
den  Antrag  Singer’s  (Verbot  der  Sonntagsruhe  der  An- 
gestellten in  den  Engr os-Geschäften  und  Festsetzung  einer 
dreistündigen  Arbeitszeit  für  die  in  den  Detailgeschäften) 
abgelehnt  und  ist  dem  Magistratsantrage,  die  Beschäftigung 
im  Handelsgewerbe  über  die  gesetzlichen  Vorschriften  hin- 
aus im  Wege  ortsstatutarischer  Bestimmungen  nicht  einzu- 
schränken, beigetreten.  Es  bleibt  darnach  in  Berlin  bei 
der  fünfstündigen  Sonntagsarbeit  in  den  kaufmännischen 
Gewerben  und  die  Reichshauptstadt  wird  aller  W ahrscheinlich- 
keit  nach,  durch  die  Art,  wie  die  Frage  in  Frankfurt  a.  M. 
geregelt  wird  (vgl.  oben),  die  peinlichste  Beschämung 
erfahren. 

Arbeiterschntz  in  Drathziehereien.  Dem  deutschen 
Bundesrath  ist  ein  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Be- 
schäftigung von  Arbeiterinnen  und  jugendlichen  Arbeitern  in 
Drahtziehereien  mit  Wasserbetrieb  zugegangen.  Darnach  sollen 
in  solchen  Betrieben  Kinder  unter  14  Jahren  und  Arbeiterinnen 
nicht  beschäftigt  werden  noch  sich  in  den  bezüglichen  Arbeits- 
räumen aufhalten,  Knaben  zwischen  14  und  16  Jahren  dürfen 
innerhalb  einer  Woche  nicht  über  60  Stunden  beschäftigt  werden 
und  die  Nachtarbeit  darf  innerhalb  24  Stunden  die  Dauer  von 
10  Stunden  nicht  überschreiten.  Ferner  sind  zwischen  zwei 
Arbeitsschichten  Ruhepausen  innezuhalten.  Die  Beschäftigung 
mit  Nebenarbeiten  kommt  bei  der  wöchentlichen  Arbeitszeit  in 
Anrechnung.  Während  der  Pausen  für  Erwachsene  dürfen  auch 
jugendliche  Arbeiter  nicht  beschäftigt  werden.  An  Sonntagen 
darf  die  Beschäftigung  innerhalb  zweier  Wochen  nur  einmal 
von  6 Uhr  morgens  bis  6 Uhr  abends  fallen. 

Zum  deutschen  Coalitionsreclit.  Die  öffentliche  vor  einer 
Menschenmenge  geschehene  Aufforderung  an  die  strikenden 
Arbeiter  einer- einzelnen  Fabrik,  Zeche  u.  s.  w.,  den  unter  Ver- 
letzung der  Kündigungsfristen  begonnenen  Ausstand  fortzu- 
setzen, ist  nach  einem  Urtheil  des  Reichsgerichts,  IV.  Strafsenat, 
vom  27.  Oktober  1891  nicht  als  eine  Aufforderung  zum  Unge- 
horsam gegen  Gesetze  im  Sinne  d&s  § 110  des  Straf-Gesetz- 
buchs  zu  bestrafen,  selbst  wenn  dem  Auffordernden  bei  seiner 
Aufforderung  bekannt  war,  dass  die  Fortsetzung  des  Ausstandes 
eine  Verletzung  der  Kündigungsfristen  enthielt. 

Eintragungen  in  Arbeitsbücher  nach  deutschem  Gewerbe- 
recht.  Die  Eintragungen  in  den  Arbeitsbüchern  gewerblicher 
| Arbeiter  dürfen  nach  § 1 1 1 Absatz  2 der  Reichsgewerbeordnung 


94 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  7. 


nicht  mit  einem  Merkmale  versehen  sein,  welches  den  Inhaber 
des  Arbeitsbuches  günstig  oder  nachtheilig  zu  kennzeichnen  be- 
zweckt, und  die  Zuwiderhandlung  gegen  dieses  Verbot  ist  nach 
§ 146  Zeile  3 der  Gewerbeordnung  zu  bestrafen.  In  Bezug  anf 
diese  Bestimmung  hat  das  Reichsgericht,  IV.  Strafsenat,  durch 
Urtheil  vom  6.  November  1891  ausgesprochen,  dass  als  solche 
„Merkmale“  nur  Kennzeichen  zu  verstehen  sind,  deren  Be- 
deutung Uneingeweihten  nicht  ohne  weiteres  erkennbar  ist. 
Allgemein  verständliche  Vermerke  dagegen  im  Arbeitsbuche, 
welche  die  Kennzeichnung  des  Inhabers  des  Arbeitsbuches  be- 
zwecken, lallen  unter  die  Verbotsbestimmung  des  § 111  Absatz  3 
der  Gewerbeordnung,  deren  Uebertretung  gemäss  der  wesent- 
lich milderen  Strafbestimmung  des  § 150  Zeile  2 der  Gewerbe- 
ordnung zu  ahnden  ist.  — R.  hatte  in  das  Arbeitsbuch  seines 
17jährigen  Laufburschen  die  Worte:  „ohne  meinen  Willen  aus 
der  Arbeit  entlaufen“  eingeschrieben  R.  wurde  wegen  Ver- 
letzung der  §§111  Absatz  2 und  146  Zeile  3 der  Gewerbeordnung 
angeklagt.  Die  Strafkammer  sprach  ihn  aber  frei.  Auf  die 
Revision  des  Staatsanwalts  wurde  vom  Reichsgericht  das  erste 
LTrtheil  wegen  Nichtanwendung  des  § 150  Zeile  2 der  Gewerbe- 
ordnung aufgehoben. 

Schutzvorschriften  für  Arbeiter  in  Briquettefabriken 

linden  sich  in  einer  Bergpolizeiverordnung  des  Ober- 
bergamtes Breslau  vom  15.  Juli  1891,  die  von  „Glückauf“ 
(Essen)  in  seiner  No.  vom  30.  Januar  d.J.  abgedruckt  wird. 
Abschnitt  I dieser  Verordnung  enthält  bauliche  Vorschriften 
für  die  .Anlage  solcher  Fabriken  und  ihre  innere  Einrich- 
tung, über  bequeme  Kommunikation  zwischen  den  ver- 
schiedenen Räumen  und  gute  Ventilation,  ausreichende  ' 
Beleuchtung  und  Schutzvorrichtungen  an  allen  Maschinen. 
Abschnitt  II  behandelt  den  Betrieb  der  Briquettefabriken,  ; 
Vorkehrungen  gegen  Feuersgefahr  und  Vorschriften  über 
die  tägliche  Reinigung  der  Arbeitsräume  von  Staub.  In 
§ 25  beginnen  die  eigentlichen  Arbeiterschutz  Vorschriften. 
Beschäftigt  werden  dürfen  nur  „zuverlässige  Männer,  die 
das  21.  Jahr  überschritten  haben  und  mit  körperlichen  Ge- 
brechen nicht  behaftet  sind“.  Während  der  Arbeit  sind 
nur  enganschliessende  Kleider  zu  tragen  (§  26).  Ein  zwölf- 
stündiger  Normalarbeitstag  wird  für  die  bei  den  üarrvor- 
richtungen,  bei  der  Wartung  der  Maschinen  und  Kessel 
Beschäftigten  eingeführt  (§  27).  Ferner  müssen  heizbare 
Ankleideräume,  sowie  ein  Bad  für  die  Arbeiter  vorhanden 
sein.  Die  Betriebsführer  sind  den  Bergwerksbeamten  nam- 
haft zu  machen.  Diese  Verordnung  ist  mit  dem  1.  Oktober 
1891  in  Kraft  getreten.  Sie  lässt  darauf  schliessen,  dass 
triiher  unerträgliche  Verhältnisse  in  den  schlesischen  Bri- 
quettefabriken geherrscht  haben  müssen.  Der  Bundesrath 
hätte  wohl  in’s  Auge  zu  fassen,  ob  sich  nicht  die  Ausdeh- 
nung dieser  Vorschriften  mit  einer  weiteren  Abkürzung  des 
A rbeitstages  über  Oberschlesien  hinaus  empfiehlt.  Ueber- 
b aupt  macht  derselbe  von  seiner  Befugniss,  die  Arbeitsver- 
hältnisse in  einzelnen  Gewerben  gesondert  zu  regeln,  viel 
zu  wenig  Gebrauch. 


Gewerbeinspektion. 


Gewerbeinspektion  in  Holland.  Das  Arbeiterschutz- 
gesetz vom  5.  Mai  1889  hat  die  Institution  der  Gewerbe- 
inspektion für  Holland  eingeführt.  Der  erste  Jahresbericht 
der  Arbeitsinspektoren,  — so  heissen  diese  Beamten  — ist 
nun  erschienen.  Aus  demselben  geht  hervor,  dass  die 
Durchführung  des  Arbeiterschutzgesetzes  noch  manches  zu 
wünschen  übrig  lässt.  Im  Jahr  1890  betrug  die  Zahl  der  Ver- 
urtheilungen  wegen  Uebertretung  der  gesetzlichen  Be- 
stimmungen im  ersten  Inspektionsbezirk  90,  im  zweiten  115 
und  im  dritten  126.  Es  ist  dies  ein  Beweis,  dass  die 
Zahl  der  Aufsichtsbeamten  zu  gering  ist.  Der  Wirkungs- 
kreis des  Inspektors  für  den  ersten  Bezirk  erstreckte  sich 
auf  4709  Betriebe  mit  14  180  dem  Gesetz  unterliegenden 
Personen,  die  beiden  anderen  Beamten  hatten  je  5040  Be- 
triebe mit  17  944  geschützten  Personen  und  8804  Betriebe 
mit  21  025  geschützten  Personen  zu  beaufsichtigen. 


Arbeiterversicherung. 

Die  Fürsorge  für  erkrankte  Dienstboten. 

Wie  schon  früher  vielfach  im  Parlament  und  in  der 
Presse,  so  wurde  auch  bei  der  augenblicklich  noch  schwe- 
benden Revision  des  Krankenversicherungsgesetzes  von 
der  sozialdemokratischen  Partei  der  WTunsch  ausgesprochen, 
den  V er. sicherungszwang  auch  auf  das  Gesinde  auszu- 
dehnen. Allein  die  Sozialdemokraten  erhielten  von  keinem 
Redner  einer  anderen  Partei  einen  nennenswerthen  Bei- 
stand. Als  in  der  Kommissionsberathung  diese  Angelegen- 
heit zur  Sprache  kam,  erklärte  die  Regierung  nach  dem 
Kommissionsberichte,  dass  die  Regelung  dieser  Frage  auf 
grosse  Schwierigkeiten  stosse.  In  allen  deutschen  Bundes- 
staaten sei  in  irgend  einer  Weise  durch  Landesgesetz  die 
Krankenfürsorge  für  Dienstboten  geregelt,  und  es  sei  be- 
denklich, in  diese  Regelung,  die  in  den  verschiedenen 
Staaten  eine  sehr  verschiedene  sei,  durch  eine  allgemeine 
reichsgesetzliche  Bestimmung  einzugreifen;  die  Verhältnisse 
der  Dienstboten  seien  von  denen  der  industriellen  Arbeiter 
so  grundverschieden,  dass  eine  gleichmässige  Regelung  fast 
unmöglich  sei;  jedenfalls  würde  sie  den  Nachtheil  haben, 
dass  eine  Berücksichtigung  örtlicher  Verhältnisse,  wie  sie 
die  Landesgesetzgebung  möglich  mache,  ausgeschlossen  sei. 
Man  habe  über  die  Krankenfürsorge  für  Dienstboten  in 
den  einzelnen  Bundesstaaten  Ermittelungen  angestellt,  aus 
denen  diese  Schwierigkeiten  zu  ersehen  seien. 

Das  Ergebniss  dieser  Erörterungen  ist  dem  Kom- 
missionsbericht beigefügt.  Sehen  wir  uns  dieses  Ergebniss 
einmal  näher  an! 

In  Baden,  Sachsen,  Hessen,  Sachsen- Weimar,  Braun- 
schweig, Sachsen-Altenburg,  Schwarzburg-Sondershausen  ! 
und  -Rudolstadt  sind  die  in  der  Land-  und  Forstwirthschaft 
beschäftigten  Dienstboten  dem  Versicherungszwang  unter- 
worfen.  Das  Gleiche  gilt  für  die  Stadt  Detmold. 

Ausserdem  ist  von  der  Befugniss,  durch  Ortsstatut  die 
Gemeindekrankenversicherung  für  Dienstboten  einzuführen, 
Gebrauch  gemacht  worden:  in  einer  Anzahl  Gemeinden  in 
Bayern,  in  ganz  Württemberg,  in  24  ganzen  Amts-  ' 
bezirken  und  ausserdem  in  30  Einzelgemeinden  (von  den  ; 
übrigen  28  Amtsbezirken)  in  Baden. 

Im  Uebrigen  ist  für  die  erkrankten  Dienstboten  in  ( 
folgender  WTeise  gesorgt. 

In  Bayern  erhält  das  erkrankte  Gesinde  freie  ärzt-  ) 
liehe  Behandlung  nebst  Pflege-  und  Heilmitteln  für  die 
Dauer  von  90  Tagen  gegen  eine  eventuelle  an  die  Ge- 
meindekasse wöchentlich  zu  leistende  Zahlung  von  höch- 
stens 15  Pfennigen  seitens  der  Dienstboten.  Die  Dienst- 
herrschaft ist  von  jeder  Beitragsleistung  befreit. 

In  Sachsen  bestehen  in  einer  grösseren  Anzahl  von 
Gemeinden  Dienstbotenkrankenkassen  (natürlich  für  das 
nicht-landwirthschaftliche  Gesinde),  welche  gegen  Versiche- 
rungsbeiträge seitens  des  Gesindes  freie  Kur,  vereinzelt 
auch  Krankengeld  gewähren.  Die  Dienstherrschaft  ist 
von  jeder  Beitragsleistung  befreit.  Die  Herrschaft  hat, 
wenn  die  Krankheit  aus  natürlichen  Ursachen  entstanden 
oder  unmittelbare  Folge  einer  Dienstverrichtung  ist,  wäh- 
rend der  Dauer  der  Dienstzeit  für  die  Kur  und  Pflege 
des  Dienstboten  zu  sorgen  und  darf  sie  nur  die  hierfür  baar 
verwendeten  Kosten  auf  Lohn  und  Kostgeld  anrechnen. 
(Das  heisst  also  auch  nichts  anderes  als  Befreiung  der 
Herrschaft  von  Aufwendungen  für  erkrankte  Dienstboten.) 

In  gleicher  Weise  sind  die  Verhältnisse  in  Sachsen- 
Altenburg  und  Reuss  j.  L.  geregelt. 

Auch  in  Hessen  hat  die  Herrschaft  (abgesehen  von 
der  Fürsorge  für  das  landwirthschaftliche  Gesinde)  so  gut 
wie  keine  Aufwendung  für  die  erkrankten  Dienstboten.  In 
einigen  Städten  müssen,  in  anderen  können  die  letzteren 
gegen  bestimmte  Beitragsleistungen  sich  die  Aufnahme  in 
einem  Hospital  im  Krankheitsfalle  sichern.  Im  Uebrigen 
hat  die  Herrschaft  nur  für  die  erste  Hilfeleistung  zu  sorgen 
und  kann  die  sonstige  Unterbringung  und  Verpflegung  des 
Gesindes  der  Ortsbehörde  überlassen.  — Ebenso  ist  in 


No.  7. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAL, BLATT. 


95 


Sachsen-Weimar,  Lippe-Schaumburg,  Anhalt  die 
Herrschaft  nur  zur  einstweiligen  Verpflegung  der  erkrankten 
Dienstboten  bis  zur  Uebernahme  derselben  seitens  der  Ver- 
wandten oder  Behörden  verpflichtet.  Eine  ähnliche  Be- 
stimmung gilt  für  B raun  sch  weig. 

In  Hamburir  besteht  eine  obligatorische  Dienstboten- 
Krankenversicherung,  auf  Grund  deren  dem  kranken  Ge- 
sinde freie  ärztliche  Behandlung  beziehentlich  freie  Kur 
und  Verpflegung  in  einem  Hospital  gewährt  wird.  Der  Ver- 
sicherungsbeitrag beläuft  sich  auf  60  Pf.  monatlich  und  ist 
lediglich  vom  Dienstboten  zu  bezahlen.  Aehnlich  erfolgt 
die  Krankenversorgung  in  einem  Theile  Oldenburgs.  In 
einem  anderen  Theile  dieses  Bundesstaats  gelten  im  Wesent- 
lichen dieselben  Bestimmungen  wie  in  Sachsen- Weimar, 
wobei  noch  zu  bemerken  ist,  dass  in  den  beiden  letztge- 
nannten Staaten  sowie  in  dem  grösseren  Theil  Deutschlands 
überhaupt  die  Dienstherrschaft,  falls  die  Erkrankung  des 
Gesindes  durch  ihr  eigenes  grobes  Verschulden  erfolgt,  für 
die  vollständige  Wiederherstellung  des  Dienstboten  ohne 
Kürzung  des  Lohnes  Sorge  zu  tragen  hat.  Ferner  kann  sie 
in  Oldenburg  wie  auch  in  einigen  anderen  Gebieten  ge- 
wisse Kurkosten  vom  Lohn  abziehen  beziehentlich  den  Lohn 
für  die  Zeit  der  Dienstunfähigkeit  einbehalten. 

ln  Lippe-Detmold  hat  die  Herrschaft  für  Kur  und 
Verpflegung  nur  dann  zu  sorgen,  wenn  das  Gesinde  sich 
die  Krankheit  aus  Anlass  des  Dienstes  zugezogen  hat. 

Preussen  besitzt  eine  grössere  Anzahl  von  Gesinde- 
ordnungen. Bezüglich  der  Krankenfürsorge  für  Dienstboten 
gilt  im  Allgemeinen  der  Grundsatz,  dass  die  Herrschaft  für 
Kur  und  Verpflegung  eines  Dienstboten  zu  sorgen  hat, 
wenn  die  Krankeit  während  oder  aus  Anlass  des  Dienstes 
entstanden  ist,  jedoch  auch  dann  nur  bis  zum  Ablauf  der 
Dienstzeit,  in  der  Provinz  Hessen-Nassau  sogar  nur  bis 
6 Wochen,  in  der  Rheinprovinz  und  in  Schleswig-Holstein 
sogar  nur  bis  4 Wochen  und  in  Hohenzollern  nur  bis 
8 Tage.  In  Schleswig-Holstein  können  die  Kurkosten  vom 
Lohn  abgezogen  werden  Aehnliche  Bestimmungen  wie  für 
den  Geltungsbereich  des  Allgemeinen  Landrechts  in  Preussen 
sind  auch  für  Sachsen-Koburg-Gotha  in  Kraft. 

Die  Gesindeordnung  für  Mecklenburg-Schwerin 
lässt  die  Krankenfürsorge  für  Dienstboten  seitens  der  Herr- 
schaften sich  nur  auf  1 Woche  erstrecken;  ähnlich  ist  es  in 
einzelnen  Theilen  Badens. 

Verpflichtung  zur  Krankenfürsorge  mit  dem  Rechte, 
die  aufgewendeten  Kosten  vom  Lohn  abzuziehen,  besteht 
in  Bremen. 

Eine  der  Krankenversicherung  der  gewerblichen 
Arbeiter  ähnliche  Einrichtung  besteht  seit  2 fahren  in 
Lübeck,  nach  welcher  dem  erkrankten  Dienstboten  bis  zu 
13  Wochen  freie  ärztliche  Behandlung  bezw.  freie  Knr  und 
Verpflegung  in  einem  Krankenhause  gewährt  wird  gegen 
eine  jährliche  Beitragsleistung  von  4 Mk.  seitens  des  Ge- 
sindes und  2 Mk.  seitens  der  Dienstherrschaft. 

Durchaus  keine  Verpflichtung  der  Herrschaft  zur 
Krankenfürsorge  besteht  in  Mecklenburg  - Strelitz, 
Eisass- Lothringen,  im  Kreise  Lauenburg,  in  einem 
grossen  Theile  Mecklenburg-Schwerins,  in  dem  grösse- 
ren Theile  der  Provinz  Hessen-Nassau.  Auch  in  einem 
1 heile  der  Provinz  Hannover  hat  die  Herrschaft  so  gut 
wie  gar  keine  Verpflichtung  gegen  den  erkrankten  Dienst- 
; boten. 

Aus  dieser  Uebersicht  entnehmen  wir  also,  dass  die 
Behauptung  der  Regierung,  in  allen  Bundesstaaten  sei  in 
irgend  einer  Weise  für  die  erkrankten  Dienstboten  gesorgt, 
nicht  richtig  ist.  Sehen  wir  von  den  Gebieten,  wo  eine 
Krankenfürsorge  nicht  herrscht,  ab,  so  haben  wir  drei 
Kategorien  der  Krankenfürsorge  zu  unterscheiden.  In  ein- 
zelnen Gebieten,  die  noch  nicht  den  sechsten  Theil  Deutsch - 
i lands  umfassen,  ist  entweder  für  einen  Theil  des  Gesindes 
(für  das  in  der  Land-  und  Forstwirthschaft  beschäftigte) 
oder  in  einem  noch  bei  weitem  kleineren  Gebiete  für  das 
gesammte  Gesinde  die  Regelung  der  Krankenfürsorge 
der  Krankenversicherung  der  gewerblichen  Arbeiter 
entsprechend  erfolgt;  das  heisst  es  wird  freie  ärztliche 
| Behandlung  gegen  Beitragsleistung  der  Dienstherrschaft 


und  der  I Henstboten  gewährt.  In  einem  anderen  Gebiete, 
das  noch  nicht  den  dritten  Theil  des  deutschen  Reichs- 
gebietes umfasst,  besteht  eine  obligatorische  Kranken- 
versicherung, für  welche  lediglich  das  Gesinde  Beiträge  zu 
leisten  hat.  In  dem  grössten  Theile  des  deutschen  Reichs- 
gebiets endlich  hat  zwar  die  Dienstherrschaft  für  das  er- 
krankte Gesinde  zu  sorgen,  aber  nur  bis  zum  Ablauf  der 
Dienstzeit  und  nur  für  den  Fall,  dass  die  Krankheit  aus 
Anlass  oder  während  der  Dienstverrichtungen  entstanden 
ist.  Daraus  folgt,  dass  in  den  überwiegenden  Fällen  die 
Krankenfürsorge  für  Dienstboten  weit  unter  das  Mass  der 
Fürsorge  für  gewerbliche  Arbeiter  fällt.  Dieses  Mass  ist 
um  so  geringer,  je  mehr  insbesondere  in  den  grossen 
Städten  die  Tendenz  kurzer  Miethszeit  obwaltet.  So  kommt 
es,  dass  ein  grosser  Theil  erkrankter  Dienstboten  der 
Armenpflege  anheimfällt,  ein  Zustand  der  zur  Erbitterung 
dieser  Personen  über  ihre  Vernachlässigung  durch  die 
Gesetzgebung  führen  muss,  sobald  sie  sich  des  Odiums  be- 
wusst werden,  das  nun  einmal  auf  der  Inanspruchnahme 
von  Armenpflege  ruht.  Wenn  man  nun  auf  die  Schwierig- 
keit hinweist,  welcher  die  Regelung  dieser  Frage  wegen 
der  Verschiedenheit  der  Gesetzgebungen  in  den  Einzel- 
staaten begegnet,  so  kann  man  darauf  folgendes  erwidern: 
Wir  haben  ein  einheitliches  Strafgesetzbuch,  einheitliche 
Straf-  und  Zivilprozess-,  sowie  Konkursordnungen,  einheit- 
liche Gerichtsverfassung  und  sollen  ja  auch  ein  einheit- 
liches Zivilgesetzbuch  bekommen,  trotzdem  in  den  einzelnen 
Bundesstaaten  doch  auch  grosse  Verschiedenheiten  in  diesen 
Materien  hervortreten.  Was  in  diesen  Fällen  aber  möglich 
war,  dürfte  in  einer  verhältnissmässig  so  einfachen  Frage, 
wie  der  erörterten,  doch  wohl  auch  nicht  unmöglich  sein. 
Was  aber  auch  in  einzelnen  Gebieten  bezüglich  der  Ge- 
meindekrankenversicherung der  Dienstboten  durchgetührt 
werden  kann,  das  ist  auch  unschwer  in  anderen  Gebieten 
durchzuführen , zumal  die  Gesindeordnungen  trotz  ihrer 
formellen  Verschiedenheit  doch  auch  in  ganz  Deutschland 
einheitliches  Grundgepräge  tragen.  Die  Schwierigkeiten 
der  Regelung  beruhen,  wie  jeder  zugestehen  wird,  in  der 
Verschiedenheit  der  ländlichen  Verhältnisse.  Für  die  land- 
wirthschaftlichen  Arbeiter  aber  ist  doch  die  Versicherung 
durch  Ortsstatut  zugelassen.  Giebt  man  aber  die  Möglich- 
keit zu,  dass  eine  Versicherung  sich  als  nothwendig 
herausstellt,  und  erkennt  man  ferner  aus  den  geltenden  Be- 
stimmungen, dass  die  Krankenfürsorge  nach  den  Gesinde- 
ordnungen eine  ungenügende  ist,  was  die  Thatsachen  be- 
weisen, so  wäre  es  doch  erstens  angebracht,  für  alles 
landwirthschaftliche  Gesinde  den  Versicherungszwang'  ein- 
zuführen wie  man  die  Unfallversicherung  eingeführt 
hat  und  für  das  übrige  Gesinde  wenigstens  die  Ver- 
sicherung durch  Ortsstatut  zuzulassen.  Die  Verschiedenheit 
der  örtlichen  Verhältnisse  gilt  doch  nicht  bloss  iür  die 
Dienstboten,  sondern  auch  für  die  gewerblichen  Arbeiter, 
und  wenn  man  in  allen  Orten  ohne  Unterschied  auf  die 
letzteren  den  Versicherungszwang  sich  erstrecken  lässt,  so 
ist  kein  Grund  einzusehen,  warum  man  mit  dem  Gesinde 
eine  Ausnahme  macht.  Die  gewerblichen  Arbeiter  genossen 
allerdings  bis  zum  Jahre  1885  keine  Krankenfürsorge,  wäh- 
rend für  die  Dienstboten  wenigstens  zum  Theil  einige 
Fürsorge  vorgesehen  ist.  Aber  ist  das  logisch,  tür  die 
früher  gänzlich  Vernachlässigten  nunmehr  ein  höheres 
Mass  der  Unterstützung  einzuführen  als  für  diejenigen, 
welche  bisher  auf  eine  kleine  Unterstützung  Anspruch 
hatten?  Man  könnte  doch  nur  dann  von  einer  Regelung 
dieser  Frage  absehen,  wenn  den  Dienstboten  wenigstens 
in  dem  grösseren  Theile  Deutschlands  ein  gleiches  oder 
grösseres  Mass  der  Krankenfürsorge  gewährt  würde  als  den 
anderen  Arbeitern.  Das  ist  aber,  wie  wir  gesehen,  nicht 
der  Fall,  und  zwar  um  so  weniger,  als  nach  den  meisten 
der  hierfür  geltenden  Bestimmungen  die  Herrschaft  die 
Kosten  für  Kur  und  Verpflegung  nur  dann  zu  tragen  hat, 
wenn  die  Krankheit  aus  Anlass  oder  während  des  Dienstes 
entstanden  ist.  Wenn  eine  gewerbliche  Arbeiterin  beim 
Tanze  .sich  erkältet  und  eine  zeitlang  erwerbsunfähig  wird, 
so  erhält  sie  freie  ärztliche  Behandlung  und  Krankengeld, 
das  Dienstmädchen  steht  in  diesem  Falle  schutzlos  da. 


! 


06 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  7. 


Man  wird  vielleicht  einwenden:  ja,  dafür  hat  es  aber  auch 
keine  Versicherungsbeiträge  zu  leisten.  Diejenigen  aber, 
welche  immer  behaupten,  der  Dienstbote  stände  materiell 
besser  da,  als  der  sog.  Arbeiter,  werden  dann  doch  auch 
zugeben  müssen,  dass  er  die  Beiträge  leichter  zu  zahlen 
im  Stande  ist,  als  eben  dieser  Arbeiter. 

Leicht  Hesse  sich  auch  nachweisen,  dass  die  Ver- 
schiedenheit zwischen  Gesinde  und  industriellem  Arbeiter 
durchaus  nicht  so  gross  sei,  wie  von  der  Regierung  be- 
hauptet wird.  Dazu  ist  aber  die  besprochene  Frage  nicht 
die  geeignete  Gelegenheit.  Dass  jedoch  die  Krankenfürsorge 
für  die  Dienstboten  in  Deutschland  eine  ungenügende  und 
die  Nothwendigkeit , eine  einheitliche  höhere  Fürsorge 
eintreten  zu  lassen,  durch  die  Thatsachen  gegeben  ist, 
dürfte  nach  der  voraufgegangenen  Schilderung  dem  vor- 
urtheilsfreien  Beobachter  wohl  einleuchten. 

Berlin.  J.  Silbermann. 


Zur  Reform  der  deutschen  Arbeiterversicherungsgesetze. 

Am  6.,  8.  und  9.  d.  M.  verhandelte  der  deutsche 
Reichstag  sehr  ausführlich  über  die  Reformbedürftigkeit 
des  Unfallversicherungsgesetzes  vom  Jahre  1884,  so- 
wie des  Alters-  und  In  va  liditäts  Versicherungs- 
gesetzes vom  Jahre  1890,  und  zwar  unter  Anknüpfung  an 
einen  sozialdemokratischen  Antrag  Auer,  den  wir  in  No  4 
dieser  Zeitschrift  mittheilten  und  der  in  vier  genau  bezeich- 
neten  Punkten  eine  Abänderung  des  Unfallversicherung!*- 
gesetzes  verlangt.  Der  Antrag  Auer,  welcher  einzelne 
Reformforderungen  genau  formulirte,  wurde  von  der  Mehr- 
heit abgelehnt  und  durch  einen  Kompromissbeschluss  er- 
setzt, welcher  das  Verlangen  nach  Verbesserung  der  Un- 
fallversicherung nur  im  Allgemeinen  ausspricht. 

Aus  den  Debatten  sind  folgende  Beiträge  zur  Reform 
herauszuheben.  Aut  die  verfehlte  Grundlage  der  Unfall- 
versicherung, ihre  Basirung  auf  reinen  Unternehmer- 
verbänden, wird  kaum  eingegangen,  trotzdem  die  Rufe  nach 
territorialer  Organisation,  wie  in  Oesterreich,  eventuell  nach 
Anschluss  an  die  Krankenkassen  ausserhalb  des  Parlamentes 
immer  lauter  werden;  nur  Sozialdemokraten  und  der 
Centrumsabgeordnete  Hitze  streiften  die  Frage,  die  ersteren 
gegen,  der  letztere  durchaus  für  die  Berufsgenossenschaften 
Stellung  nehmend.  Desto  mehr  beschäftigte  man  sich  mit 
den  Folgezuständen  jener  Ueberau twortung  eines  ganzen 
grossen  Versicherungszweiges  an  die  Unternehmer  mit  dem 
durch  ein  vorsintfluthliches  Wahlsystem  behinderten  Recht 
der  Arbeiter,  Vertreter  zu  ernennen,  mit  der  Uebergehung 
dieser  Vertretung  bei  der  ersten  Entscheidung  über  Renten- 
ansprüche, mit  der  Lhngehung  der  Wahlvorschriften  in  einem 
ktirzlichen  Falle  u.  s.  w.  Aus  der  Diskussion  und  den  Aus- 
künften des  Staatssekretärs  des  Inneren  ging  deutlich  her- 
vor, dass  noch  immer  eine  gewisse  Spannung  zwischen 
diesem  und  dem  Reichsversicherungsamte  besteht,  welches 
nach  grösserer  Selbständigkeit  und  nach  seiner  Umwande- 
lung in  ein  eigenes  Reichsamt  strebt.  Ein  Spezialist  in 
Unfallversicherungssachen , der  Brauereidirektor  Rösicke, 
der  im  Verband  deutscher  Berufsgenossenschaften  eine 
leitende  Stellung  einnimmt , sowie  der  bekannte  Eisen- 
industrielle Freiherr  von  Stumm,  gestehen  die  Berechtigung 
der  Anträge  Auer  durchaus  zu  und  wollen  nur  die  Reform 
auf  noch  weitere  Punkte  ausgedehnt  haben,  ebenso,  wie  der 
Abgeordnete  Dr.  Max  Hirsch;  dadurch  wird  der  Sprecher 
der  rheinischen  Industriellen,  Möller,  welcher  sich  gegen 
die  Anträge  Auer  äussert,  aus  der  Mitte  der  berufsgenossen- 
schaftlichen Organisation  heraus  desavouirt.  Seine  Anträge 
würden  zum  Unterschied  von  den  sozialdemokratischen 
dahin  gehen,  die  Lasten  der  Unternehmer  aus  der  Ver- 
sicherung zu  erleichtern,  kleine  Renten  für  geringe  Be- 
schädigungen kapitalisiren  zu  dürfen,  das  Haftpflichtgesetz 
zu  beseitigen,  welches  jetzt  den  Arbeitern  noch  einige  über 
das  Unfallversicherungsgesetz  hinausgehende  Ansprüche 
gibt  und  Aehnliches.  Ueber  die  Nothwendigkeit  der  Aus- 
dehnung der  Versicherung  auf  Handwerk  und  Handelsge- 
werbe herrschte  Uebereinstimmung. 

Den  grösseren  Theil  der  Debatten  beanspruchte  das 
Alters-  und  Invaliditätsversicherungs-Gesetz. 
Staatssekretär  von  Boetticher  machte  folgende  positive 
Mittheilungen  aus  der  erstjährigen  Praxis  desselben.  Ueber 


Erwarten  günstig  sei  die  finanzielle  Gebahrung  der  Versiche- 
rungsanstalten. Es  sind  15,5  Millionen  Mark  an  Renten  ge- 
zahlt, deren  Kapitalwerth  sich  auf  54,4  Millionen  Mark  be- 
rechnet. Dazu  kommen  10  Millionen  Mark  Reservefonds 
und  11  Millionen  Mark  Verwaltungskosten.  Die  Belastung 
stellt  sich  also  auf  zusammen  76,4  Millionen  Mark,  welcher 
eine  Einnahme  von  88,8  Millionen  Mark  gegenübersteht. 
Dabei  sei  freilich  nicht  ausser  Acht  zu  lassen,  dass  im  ersten 
Jahre  nur  Altersrenten  gezahlt  wurden.  Für  1892/93  ist  der 
Reichszuschuss  zu  den  Alters-  und  Invalidenrenten  veran- 
schlagt auf  9 213  878  Mark,  mehr  gegen  das  Vorjahr  3 Mil- 
lionen Mark.  Der  Etat  des  Reichsversicherungsamts  ist  auf 
I 022  7 10  Mark  festgesetzt,  mehr  gegen  1891/92  206  485  Mark, 
wesentlich  in  Folge  Vermehrung  der  Beamten  aus  Anlass 
der  wachsenden  Geschäfte  durch  die  Unfallversicherung. 
Aus  der  Diskussion  muss  zunächst  als  besonders  auffällig 
die  Behauptung  des  sozialdemokratischen  Abgeordneten 
Grillenberger  bezeichnet  werden,  nach  welcher  aut  Grund 
des  Gesetzes  „beinahe  Niemand  invalide  erklärt 
wird.“  Soviel  wir  sehen  können,  kam  kein  Regierungs- 
Vertreter  auf  diese  Aeusserung  zurück.  Wenn  sie  nament- 
lich auch  für  die  Zukunft  richtig  wäre , müsste  ja  der 
Hauptzweck  des  Gesetzes  verfehlt  erscheinen  und  die 
eingehende  Berücksichtigung  der  Invalidität  dringend  ver- 
langt werden.  Zur  Erleichterung  der  individuellen 
„K  jebearbeit“  gab  der  Staatssekretär  des  Innern  fol- 
genden Wink:  „Das  Gesetz  selbst  giebt  im  § 112  das 

Mittel  an  die  Hand,  wie  man  um  das  Markenkleben  herum- 
kommt. Wenn  eine  Gemeinde  findet,  dass  ihre  Angehörigen 
durch  das  Kleben  zu  sehr  belastet  werden,  so  steht  nichts 
im  Wege,  dass  sie  beschliesst,  ihren  Bürgern  das  Kleben 
abzunehmen.  In  ganzen  Landestheilen,  ich  erinnere  an 
Baden,  ist  das  bereits  geschehen;  ich  empfehle,  dass  da,  wo 
das  Kleben  wirklich  zu  Unzuträglichkeiten  führt,  von  der 
Fakultät  des  § 1 12  Gebrauch  gemacht  wird.“  Bisher  hui-  , 
digte  man  freilich  gerade  in  Preussen  mehr  dem  individua- 
listischen Bestreben,  das  Markenkleben  durch  die  Betheilig-  , 
ten  besorgen  zu  lassen.  Aus  den  allgemeinen  Aeusserungen 
über  die  Unbeliebtheit  des  Gesetzes  klangen  mehr  die  Be- 
schwerden der  Unternehmer  über  ihre  „Belastung“  durch  die  ( 
Beiträge,  als  Klagen  der  Arbeiter,  die  eine  sympathisch- 
abwartende Stellung  einnehmen  und  sich  durch  den  Mund 
Grillenberger’s  mehr  über  Einzelheiten  der  Ausführung  be- 
schwerten. So  wurde  von  letzterem  Redner  die  neuerdings 
zugelassene  Entw'erthung  der  Versicherungsmarken  durch  ; 
Beschreiben  mit  dem  Datum  als  Mittel  zur  Kennzeichnung  , 
der  Arbeiter  bezeichnet,  ebenso  vom  Abgeordneten  Wurm. 

Die  Klagen  der  Unternehmer  trug  besonders  beweglich  vor  : 
der  freisinnige  Abgeordnete  Schräder,  der  das  auf  die  Ver-  ‘ 
Sicherung  angewendete  Wort  vom  „nationalen  Unglück“  ; 
zitirte  und  anführte,  dass  kleine  ländliche  Besitzer  Beiträge  | 
bis  zu  14  Mk.  jährlich  zahlen  müssten,  während  der  Frei- 
konservative von  Helldorf  das  Zahlenverhältniss  in  richtige- 
rer Beleuchtung  so  wiedergab,  dass  aut  dem  Lande  der 
Beitrag  des  Unternehmers  ca.  1 Prozent  vom  Arbeitslohn 
betrage,  woraus  auf  die  Geringfügigkeit  des  Unternehmer- 
beitrages in  den  städtischen  Industrieen  mit  höheren  Löhnen 
ein  guter  Schluss  gezogen  werden  kann.  Von  Helldorf  sprach 
auch  nicht  unzutreffend  von  einer  „Verschiebung  der  Armen- 
pflege“ durch  das  Gesetz.  Ein  Beschluss,  der  bestimmte 
Reformen  verlangt,  'wurde  nicht  gefasst.  Man  hatte  aut 
allen  Seiten  den  Wunsch,  die  weitere  Praxis  abzuwarten 
und  dann  bessernd  einzugreifen.  Die  Agitation  für  Auf- 
hebung wurde  selbst  von  den  Freisinnigen  nicht  ernst  ge- 
nommen. 

Inzwischen  wird  die  dritte  und  endgiltige  Beschluss- 
fassung über  den  Regierungsentwurf  einer  Novelle  zum 
Krankenversicherungsgesetz  im  Reichstage  vorbereitet. 
Eine  freie  Kommission,  bestehend  aus  Vertretern  aller  Par- 
teien, mit  Ausnahme  der  Sozialdemokraten,  hat  bereits  Kom- 
promissanträge zur  Erleichterung  der  formellen  Verhandlung 
eingebracht,  welche  die  geplante  Vorschrift  bestehen  lassen, 
nach  welcher  auch  die  freien  Hilfskassen  Arzt  und  Arznei 
in  natura  liefern  müssen,  statt  eine  höhere  Geldunterstützung 
an  ihre  Mitglieder  zu  zahlen.  Die  Krankenversicherungs- 
pflicht der  Handlungsgehilfen  ist  ebenfalls  beibehalten.  Die 
moralisirenden  Bestimmungen  der  Novelle,  nach  denen  die 
Kassen  geschlechtlich  Erkrankten  die  Unterstützung  ent- 
ziehen können,  sollen  ein  wenig  abgeschwächt,  nicht  be- 
seitigt werden,  obgleich  kürzlich  das  auch  in  dieser  Zeit- 
schrift No.  4,  S.  54,  mitgetheilte  Gutachten  eines  Fach- 
mannes im  Berliner  „Verein  für  Gesundheitspflege“ 


No.  7, 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


07 


dahin  ging , dass  jene  Bestimmungen  wesentlich  zur 
Verbreitung  der  Syphilis  beitrügen.  Die  Anträge  der 
freien  Kommission  befürworten  sodann  die  Erhöhung 
des  Maximalsatzes  für  Eintrittsgelder  auf  das  vierfache 
(in  Höhe  der  Beiträge  für  6 Monate  statt  6 Wochen)  und 
die  Zulassung  von  Extrasteuern  für  die  Unterstützung 
Familienangehöriger.  Eine  sehr  eigenthümliche  Unternehmer- 
praxis, welche  in  der  Einkassirung  der  Arbeiterbeiträge 
zur  Krankenversicherung  und  in  der  Nichtablieferung  dieser 
Beiträge  bestand,  soll  abgeschnitten  werden  durch  einige 
Zusatzparagraphen,  welche  in  folgende  Strafbestimmung 
auslaufen : „Arbeitgeber,  welche  den  von  ihnen  beschäftigten 
Personen  auf  Grund  des  § 53  Lohnbeträge  in  Abzug  brin- 
gen, diese  Beträge  aber  in  der  Absicht,  sich  oder  einem 
Dritten  einen  rechtswidrigen  Vermögensvortheil  zu  ver- 
schaffen, oder  die  berechtigte  Gemeinde-Krankenversiche- 
rung oder  Krankenkasse  zu  schädigen,  den  letzteren  vor- 
enthalten, werden  mit  Gefängniss  bestraft,  neben  welchem 
auf  Geldstrafe  bis  zu  dreitausend  Mark,  sowie  auf  Verlust 
der  bürgerlichen  Ehrenrechte  erkannt  werden  kann.  Sind 
mildernde  Umstände  vorhanden,  so  kann  ausschliesslich  auf 
Geldstrafe  erkannt  werden.“ 


Der  Begriff  „Unternehmergewinn“  in  der  Auffassung 
des  Reichs-Versicherungsamts.  Das  Reichs-Versicherungs- 
amt hat  sich  durch  seine  arbeiterfreundliche  Haltung  die 
Anerkennung  und  das  Vertrauen  der  arbeitenden  Bevöl- 
kerung in  hohem  Masse  erworben.  Indessen  hat  sich  doch 
neuerdings  mehrfach  gezeigt,  dass  die  sozialpolitische  Ein- 
sicht dieser  Behörde  dem  anerkennenswerthen  Wollen 
derselben  nicht  immer  entspricht. 

So  steht  das  Amt  mit  dem  Begriff  „Unternehmerge- 
winn“ auf  recht  gespanntem  Fusse,  wie  im  Folgenden  ge- 
zeigt werden  soll. 

Die  Rekursentscheidung  No.  857  (Amtl.  Nachrichten 
des  Reichs- Versicherungsamts  1890,  S.  494)  behandelt  die 
Frage,  ob  ein  kleiner  selbständiger  Landwirth,  der  gegen 
eine  Jahresentschädigung  tägliche  bestimmte  Fnhrleistungen 
mit  seinem  eigenen  Pferde  für  eine  Genossenschaftsmeierei 
übernommen  hat,  während  dieser  Thätigkeit  als  selbst- 
ständiger Unternehmer  oder  als  versicherter  Arbeiter  zu 
gelten  habe.  Die  Berufsgenossenschaft,  zu  welcher  die 
Meierei  gehörte,  behauptete  das  erstere  und  lehnte  daher 
einen  Antrag  des  Landwirths  auf  Entschädigung  für  einen 
bei  der  fraglichen  Thätigkeit  erlittenen  Unfall  ab.  Das 
Reichs-Versicherungsamt  erkennt  dem  gegenüber  den  An- 
spruch an  und  führt  zur  Begründung  u.  A.  aus,  dass  für 
die  Entscheidung  auch  „die  Frage  ins  Gewicht  fällt,  ob  der 
für  seine  Thätigkeit  in  dem  fremden  Betriebe  bezogene 
Entgelt  auch  den  Charakter  eines  Unternehmergewinns 
oder  lediglich  den  des  Arbeitslohnes  trägt.  Im  vorliegenden 
Falle  war  die  Entschädigung,  welche  der  Verletzte  von  der 
Genossenschaftsmeierei  für  seine  Thätigkeit  bezog,  eine  so 
geringfügige,  dass  sie  nur  gerade  als  Lohn  für  die  eigene 
Arbeit,  sowie  als  Ersatz  der  Unterhaltungskosten  für  das 
Pferd,  nicht  aber  auch  als  Unternehmergewinn  angesehen 
werden  kann.“ 

Bei  kritischer  Betrachtung  der  angeführten  unklaren 
Sätze  könnte  man  zunächst  meinen,  dass  es  sich  nur  um 
die  schiefe  Darstellung  eines  an  sich  richtigen  Gedankens 
handle,  dass  also  gemeint  sei,  der  bezogene  Entgelt  ent- 
halte keine  als  Unternehmergewinn  anzusprechende  Quote, 
sondern  nur  den  Lohn  für  die  eigene  Arbeit  und  die  Unter- 
haltungskosten für  das  Pferd.  Indess  dass  in  Wahrheit 
dem  nicht  so  ist,  vielmehr  thatsächlich  ausgesprochen 
werden  sollte,  der  Entgelt  für  die  Fuhrleistung  als  solcher 
in  seiner  Gesammtheit  sei  in  diesem  Falle  wegen  seiner 
Geringfügigkeit  nicht  als  Lfnternehmergewinn  zu  be- 
trachten, würde  aber  wohl  als  solcher  gelten  müssen,  wenn 
er  in  einem  andern  Falle  erheblich  grösser  wäre,  geht  aus 
folgender  Entscheidung  des  Reichs-Versicherungsamts  aus 
neuester  Zeit  hervor: 

Die  Revisionsentscheidung  zum  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherungsgesetz No.  77  (Amtl.  Nachrichten  des  Reichs- 
Versicherungsamts.  Invaliditäts-  und  Altersversicherung, 
1891,  S.  181 ) beschäftigt  sich  mit  der  Feststellung  des  Begriffs 
der  „Hausgewerbetreibenden“.  Dabei  wird  ausgeführt,  dass  : 
fast  alle  wirthschaftliche  Thätigkeit  in  einer  gewissen  wirth- 
schaftlichen  Abhängigkeit  von  anderen  Personen  vollzogen 
werde.  „Auch  trifft  es“,  heisst  es  dann  wörtlich,  „bei  zahl- 


reichen handwerksmässigen  Kleinbetrieben,  in  welchen  die 
persönliche  Arbeitskraft  der  wichtigste  Faktor  des  Unter- 
nehmens ist,  zu,  dass  der  Unternehmergewinn  sich  im 
Wesentlichen  auf  den  Entgelt  für  die  eigene  Arbeitsleistung 
des  Unternehmers  beschränkt  und  das  Risiko  des  Unter- 
nehmens völlig  in  den  Hintergrund  tritt.“ 

Die  höchste  sozialpolitische  Behörde  des  Deutschen 
Reichs  betrachtet  also  thatsächlich  das  ganze  Einkommen 
eines  Handwerkers  aus  seiner  gewerblichen  Thätigkeit  als 
Unternehmergewinn  und  den  Entgelt  für  die  eigene  Arbeit 
als  Theil  des  Unternehmergewinns!  Der  Arbeitsverdienst 
einer  Person  ist  also  nach  dem  Reichs-Versicherungsamt 
entweder  nur  Arbeitsverdienst  (Lohn)  oder  auch  Unter- 
nehmergewinn. Dass  bei  solchen  Anschauungen  der  Be- 
griff der  Hausindustrie  nicht  klar  und  sozialpolitisch  tief 
gefasst  werden  kann,  liegt  auf  der  Hand,  ebenso,  dass  eine 
derartige  Lhiklarheit  über  die  wirthschaftlichen  Grundbe- 
griffe sich  auch  im  Uebrigen  häufig  bei  der  grossen  Thätig- 
keit, die  das  Reichs- Versicherungsamt  zu  entwickeln  hat, 
hemmend  gelten  machen  muss. 

Die  Altersversicherung  in  England.  Im  letzten  Quar- 
talhett  des  Journals  der  englischen  Royal  Statistical  Society 
behandelt  Charles  Booth  in  einem  interessanten  Artikel  die 
verschiedenen  Vorschläge  für  eine  staatliche  Altersversorgung 
in  England.  Einzelne  dieser  Vorschläge  bezwecken  eine 
Ausdehnung  des  Armengesetzes  im  Sinne  der  Gewährung 
von  förmlichen  Pensionen  auf  breiter  Grundlage  Allein  bei 
diesem  System  würden  solche  Pensionäre  doch  nur  Arme 
bleiben  und  die  Pensionen  den  Makel  der  Armenunterstützung 
beibehalten.  Andere  verlangen,  dass  die  Regierung  durch 
Prämien  die  Sparsamkeit  fördern  solle;  dieses  Mittel  würde 
ungenügend  sein.  Eine  weitere  Gruppe  will  den  Versiche- 
rungszwang mit  Staatsbeitrag  entweder  nach  dem  deutschen 
System  oder  in  der  Weise  einführen,  dass  von  jeder  jugend- 
lichen Person  ein  Beitrag  verlangt  wird,  welcher  hinreicht,  um 
mit  Hilfe  von  Beiträgen  der  Arbeitgeber  oder  des  .Staates 
| im  Alter  eine  bescheidene  Pension  zu  gewähren.  Die  Ver- 
sicherung würde  sich  in  beiden  Fällen  nur  auf  die  arbeitende 
i Klasse  erstrecken.  Schliesslich  gibt  es  noch  Solche, 
welche  eine  allgemeine  Altersversicherung  vorschlagen. 
Nach  Booth  gibt  es  in  England  und  Wales  gegenwärtig 
1323  000  Personen  über  65  Jahre.  Bei  13  Lstr.  per  Jahr, 
wäre  jährlich  für  die  Pensionen  eine  Summe  von  17  Mill.  Lstr. 
nothwendig.  Um  diesen  Betrag  durch  direkte  Steuern  auf- 
zubringen, müsste  jeder  Versicherte  jährlich  1,7%  seines 
Einkommens  als  Prämie  zahlen.  Bei  diesem  System  würden 
die  ärmeren  Klassen  am  besten,  die  wohlhabenden  Klassen 
am  ungünstigsten  wegkommen,  während  die  Mittelklassen 
für  die  Prämie  in  der  Pension  eine  fast  gleichwerthige 
Gegenleistung  erhalten  würden.  In  Beziehung  auf  die  Alters- 
klassen würden  natürlich  die  jüngeren  und  die  im  mittleren 
Alter  stehenden  Personen  gegenüber  den  älteren  im  Nach- 
theil sein.  Es  sind  also  überall  die  Schwächsten,  welche 
den  meisten  Vorth  eil  haben.  Zwischen  Jung  und  Alt  würde 
die  Zeit  eine  Ausgleichung  treffen;  zwischen  Reich  und  Arm 
wäre  es  eine  Lotterie,  da  nur  Wenige  sicher  sind,  dass  sie 
im  Alter  nicht  bedürftig  werden. 

Bemerkenswerth  sind  die  von  Booth  erwähnten  Vor- 
schläge der  National  Providence  League.  Dieselben  gründen 
sich  auf  folgende  Sätze: 

I.  Dass  Diejenigen,  welche  auf  eine  Alterspension  An- 
spruch machen,  verhalten  werden,  von  ihrem  eigenen 
Einkommen  Beiträge  zu  leisten. 

II.  Dass  diese  Beiträge  nur  dann  zu  einem  Staatszuschuss 
berechtigen  sollen,  wenn  sie  durch  eine  finanziell  ge- 
sunde Organisation,  sei  es  durch  eine  Hilfsgesellschaft, 
sei  es  durch  einen  vom  Parlament  gegründeten  Pensions- 
fonds oder  durch  die  Post  gesammelt  werden. 

Speziell  werden  unter  Anderem  noch  folgende 
Bedingungen  aufgestellt : 

I . Dass  die  vom  Einzelnen  aus  seinem  E nkommen 
zu  erwerbende  Pension  nicht  weniger  ials  6 Lstr. 
10  sh  im  Jahr,  zahlbar  im  Alter  von  G5  Jahren, 
betrage. 

2 Dass  der  vom  Staat  garantirte  Pensions betrag  die 
gleiche  Summe  von  6 Lstr  10  sh.  erreiche,  sodass 
Jeder  im  65  Jahre  zu  einer  Pension  von  13  Lstr. 
im  Jahre  oder  5 sh.  pro  Woche  berechtigt  ist. 

3.  Dass  die  Post  für  die  Sammlung  der  Fonds,  wenn 
es  gewünscht  wird  und  sonst  in  allen  Fällen  für 
die  Auszahlung  der  Pensionen  dienstbar  gemacht 
werde. 


98 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  7. 


4.  Dass  der  Ausweis  der  Prämienzahlungen  zu  jeder 
Zeit  einen  Gesuchsteller  zum  Empfang  von  Armen- 
unterstützung, die  zu  irgend  einer  Zeit  nöthig 
werden  könnte,  berechtige. 

5.  Dass  im  Falle  der  Inhaber  eines  solchen  Aus- 
weises vor  dem  65.  Altersjahre  stirbt,  seinen 
Hinterlassenen  5 Lstr.  ausbezahlt  werden. 

6.  Dass  der  Pensionsberechtigte  das  Recht  erhalte, 
über  irgend  einen  Theil  seiner  Pension  von 
13  Ltsr.  jährlich  nach  Belieben  zu  verfügen. 

Nach  dem  Vorschlag  der  Poor  Law  Reform  Association 
sollte  jede  über  65  Jahre  alte  Person  zu  einer  Pension  be- 
rechtigt sein,  welche  10  Lstr.  pro  Jahr  nicht  überschreitet. 
Aus  öffentlichen  Fonds  wären  20%  der  Pension  zu  bezah- 
len; der  Rest  wäre  unter  Benutzung  der  Post  durch  Bei- 
träge der  Versicherten,  eventuell  mit  Beihilfe  der  Arbeit- 
geber, aufzubringen. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Arbeiterausschüsse  bei  den  preussischen  Staatsbahnen. 

Die  neue  Gewerbeordnung  schreibt  den  Industriellen 
bekanntlich  die  Errichtung  von  Arbeiterausschüssen  nicht 
gerade  vor,  sie  legt  ihnen  dieselbe  aber  dadurch  nahe, 
dass  sie  die  Vereinbarung  der  von  1.  April  d.  J.  ab  obli- 
gatorischen Arbeitsordnung  mit  einem  Arbeiterausschuss 
als  Dispensation  für  den  Nachweis  ansieht , dass  diese 
Arbeitsordnung  im  Einvernehmen  mit  der  ganzen  Arbeiter- 
schaft eines  Etablissements  erlassen  wurde.  Daraus  erhellt 
der  Werth,  den  man  neuerdings  in  Deutschland  an  offi- 
ziellen Stellen  auf  Arbeiterausschüsse  legt;  und  diese  \\  erth- 
schätzung  wird  auch  durch  praktische  Thaten  bewiesen. 
Zuerst  führten  vor  länger  als  Jahresfrist  die  fiskalischen 
Kohlengruben  des  Saarreviers  Arbeiterausschüsse  ein,  die 
freilich  an  den  Arbeiterzuständen  auf  diesen  Zechen  bei 
ihrer  beschränkten  Machtbefugniss  bis  jetzt  wenig  ändern 
konnten.  Und  jetzt  veröffentlicht  der  preussische  Eisen- 
bahnminister in  No.  35  des  „Reichsanzeigers“  vom  9.  Fe- 
bruar 1892  die  Vorschriften,  welche  er  an  die  ihm  unter- 
stellten Direktoren  über  die  Errichtung  und  Thätigkeit 
künftiger  Arbeiterausschüsse  im  Bereiche  der  preussischen 
Staatseisenbahn  Verwaltung  erlassen  hat.  Wohlverstanden 
handelt  es  sich  aber  dabei  nicht  etwa  um  Vertretungen  für 
das  an  anderer  Stelle  dieses  Blattes  erwähnte  Betriebs- 
personal von  ca.  90  000,  oder  die  Betriebsarbeiter  mit  ca. 
144  000  Köpfen,  sondern  lediglich  um  die  „in  Werkstätten, 
Gasanstalten  und  ähnlichen  Anstalten  der  Staatsbahnver- 
waltung“ beschäftigten  Arbeiter,  also  nach  der  in  No.  5, 
S.  64  dieses  Blattes  mitgetheilten  amtlichen  Uebersicht  um 
etwa  40  000  Personen. 

Danach  sollen  für  jede  Werkstätte  etc.  der  preussi- 
schen Staatsbahnen,  welche  in  der  Regel  mindestens 
20  Arbeiter  beschäftigt,  eventuell  für  mehrere  solche  An- 
stalten an  einem  Orte  oder  für  mehrere  kleinere  an  ver- 
schiedenen Orten  gemeinsam  ein  Arbeiterausschuss  von 
höchstens  15  und  mindestens  3 Mitgliedern  durch  direkte, 
geheime  Wahl  aller  volljährigen  Arbeiter  konstituirt  werden, 
die  mindestens  3 Jahre  im  Dienst  der  Staatsbahnverwaltung 
sind.  Wählbar  sind  nur  Arbeiter,  die  das  30.  Lebensjahr 
zurückgeleiegt  haben,  seit  mindestens  5 Jahren  im  Dienste 
der  Verwaltung,  sowie  „mindestens  1 Jahr  in  derselben  An- 
stalt beschäftigt  sind.“  Nach  ausdrücklicher  Verfügung  des 
Ministers  „ist  alles  zu  unterlassen,  was  den  Anschein  er- 
wecken könnte,  als  suche  die  Verwaltung  die  Freiheit  der 
Arbeiter  bei  der  Wahl  ihrer  Vertrauensmänner  und  die 
letzteren  in  der  Aeusserung  ihrer  Meinung  zu  beschränken. 
Dass  in  den  §§  3 und  4 das  Wahlrecht  und  die  Wählbarkeit 
an  eine  gewisse  Beschäftigungsdauer,  letztere  auch  an  ein 
höheres  Lebensalter  gebunden  ist,  entspricht  dem  Zweck, 
bei  der  Ausübung  des  Wahlrechts  den  bei  der  Verwaltung- 


ständig  beschäftigten  Arbeitern  den  ihnen  naturgemäss  ge- 
bührenden Einfluss  zu  sichern.  Aus  dem  oben  angeführten 
Grunde  wird  auch  von  der  in  § 8 enthaltenen  Ermächtigung, 
zu  den  Beratlnmgen  der  Ausschüsse  verwaltungsseitig  be- 
stimmte Arbeiter  zuzuziehen,  nur  ausnahmsweise  und  zwar 
nur  dann  Gebrauch  zu  machen  sein,  wenn  etwa  zu  be- 
fürchten ist,  dass  es  den  Ausschussmitgliedern  im  gegebenen 
Falle  an  genügender  Sachkenntniss  fehlt,  oder  dass  inner- 
halb des  Ausschusses  die  Anschauungen  der  älteren  und 
besonneren  Elemente  nicht  genügend  zum  Ausdruck  ge- 
langen werden.“  Nach  diesen  Ausführungen  ist  das  Be- 
streben der  Staatsbahn  Verwaltung,  Fühlung  mit  ihren 
Arbeitern  zu  gewinnen,  wirklich  ernst  gemeint,  jedoch 
durch  eine  ganz  unnöthige  Furcht  vor  dem  Einfluss 
„jüngerer  und  unbesonnener  Elemente“  beherrscht.  Diese 
letztere  Furcht  dürfte  den  Arbeitern  unangenehm  auf- 
fallen und  sie  ihrerseits  kopfscheu  machen.  Es  wird  ähn- 
lich, wie  mit  den  Knappschaftsältesten  bei  den  Bergwerken 
gehen:  das  Gros  der  Arbeiterschaft  erkennt  diese  konser- 
vativen, ausserhalb  der  Bewegung  stehenden  Elemente 
nicht  als  geeignete  Vertreter  an,  und  der  Arbeitgeber, 
hier  der  Staat,  lässt  sich  seinerseits  die  Gelegenheit  ent- 
gehen, gerade  auf  die  jüngeren  Elemente  durch  ihre 
Heranziehung  zur  Ausschussarbeit  erziehlich  zu  wirken. 
Die  unseres  Erachtens  ganz  unbegründete  Furcht 
vor  dieser  Heranziehung  — in  Schiedsgerichten  mit 
liberalen  Statuten,  z.  B.  in  Frankfurt  a.  Main,  hat 
sie  sich  trefflich  bewährt  kommt  auch  noch  in  fol- 
gender Stelle  der  Verfügung  zum  Ausdruck:  „Bei  den  Be- 
rathungen der  Ausschüsse  ist  es  die  Aufgabe  der  Vor-  , 
sitzenden,  auf  eine  rein  sachliche  Erörterung  hinzuwirken 
und  unberechtigten  Wünschen  ohne  Schärfe  mit  ruhiger  ; 
Belehrung  zu  begegnen.  Etwaigen  Ausschreitungen 
ist  mit  Nachdruck  entgegenzutreten,  wie  überhaupt  die  : 
Einrichtung  nicht  dazu  dienen  dart,  die  Disziplin  und  das 
Ansehen  der  Vorgesetzten  Behörden  zu  schädigen.“  Der  ( 
blosse  Gedanke  an  „Ausschreitungen“  ist  charakteristisch.  < 
Damit  hängt  es  offenbar  zusammen,  dass  sich  die  Staats- 
verwaltung sogar  die  Befugniss  der  „Auflösung“  vorbehält, 
wenn  sich  Ausschüsse  „nach  ihrem  Ermessen  (!)  zur 
Erfüllung  der  ihnen  gestellten  Aufgaben  als  ungeeignet  ! 
erwiesen  haben.“  Die  Verhandlungen  der  „geeigneten“  ; 
Ausschüsse  finden  in  der  Regel  nur  vierteljährlich  statt;  j 
aussergewöhnliche  Tagungen  können  jedoch  von  % der  , 
Mitglieder  beantragt  werden.  Jedenfalls  „setzt“  der  den  " 
Vorsitz  führende  Beamte  souverän  die  Tagesordnung  für  | 
jede  Verhandlung  „fest“;  Berathungsgegenstände  werden 
bei  ihm  blos  „angemeldet“. 

Soviel  über  die  Organisation,  die  ja  immerhin  noch 
relativ  liberal  ist  gegen  die  Jasagekomites,  welche  sich  Privat- 
unternehmer für  ihre  Fabriken  aus  den  Arbeitern  derselben 
zusammenzusetzen  pflegen  (vgl.  \ erkauf 's  Besprechung  von 
Sering's  Schrift  in  Band  IV,  Hett  3,  des  „Archivs  f.  soz. 
Gesetzgebung“).  Auch  die  sachliche  Kompetenz  der  Ar- 
beiterausschüsse bei  den  preussischen  Staatsbahnen  ist 
vorurteilsloser  geregelt,  als  in  manchen  Privatetablisse- 
ments. Nach  § 8 haben  die  Arbeiterausschüsse  die  Auf- 
gabe: „1.  Anträge,  Wünsche  und  etwaige  Beschwerden, 
welche  von  ihren  Mitgliedern  vorgebracht  werden  und  die 
Arbeiter  der  betreffenden  Anstalt  oder  einzelne  Gruppen 
im  ganzen  berühren,  bei  dem  Vorstande  der  Anstalt  vor- 
zubringen und  in  Zusammenkünften  mit  diesem  über  die- 
selben sich  gutachtlich  zu  äussern;  2.  über  sonstige  das 
Arbeitsverhältniss  betreffende  Fragen,  insbesondere  über 
die  zu  erlassende  Arbeitsordnung,  über  Einrichtungen 
zur  Verhütung  von  Unfällen  und  solche  Einrichtungen, 
welche  zum  Wohl  der  Arbeiter  und  ihrer  Angehörigen 
getroffen  sind  oder  künftig  getroffen  werden  sollen,  auf 
Anfordern  ihr  Gutachten  abzugeben ; 3.  soweit  j sie  von 
beiden  Theilen  angerufen  werden,  Streitigkeiten  der  Ar- 
beiter unter  einander  zu  schlichten.  In  den  zu  I und  2 
erwähnten  Fällen  können  von  dem  Vorstande  der  Anstalt 
auch  andere  derselben  Anstalt  angehörige  Arbeiter  zur 
Berathung  zugezogen  werden.  An  der  Abstimmung  (§  10) 
nehmen  dieselben  nicht  Theil.  Von  der  Erörterung  in  den 


No.  7. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


99 


Arbeiterausschüssen  ausgeschlossen  sind,  abgesehen  von 
den  zu  3 bezeichneten,  alle  Anträge,  Wünsche  und  Be- 
schwerden, welche  lediglich  die  Angelegenheiten  Einzelner 
betreffen.  Nur  bleibt  jedoch  dem  Vorstande  der  Anstalt 
nach  seinem  Befinden  Vorbehalten,  den  Ausschuss  vor  der 
Bewilligung  von  Unterstützungen  über  die  Bedürftigkeit 
und  Würdigkeit  der  zu  Unterstützenden  zu  hören  “ Und 
die  schon  genannte  Begleitverfügung  sagt  als  Kommentar 
hierzu:  „Wie  § 8 erkennen  lässt,  soll  den  Ausschussmit- 
gliedern gestattet  sein,  Anträge,  Wünsche  und  Beschwer- 
den allgemeiner  Natur,  welche  die  Arbeiter  berühren,  in 
den  Ausschusssitzungen  vorzubringen.  Es  werden  daher, 
wie  zur  Vermeidung  von  Zweifeln  bemerkt  wird,  auch 
Lohnfragen,  so  weit  sie  allgemeiner  Natur  sind,  von  der 
Erörterung  in  den  Ausschlusssitzungen  nicht  grundsätzlich 
auszuschliessen  sein.  Diese  Begrenzung  der  Kompetenz  ist 
von  der  Aengstlichkeit,  welche  die  Festsetzung  der  Orga- 
nisation diktirte,  relativ  frei  und  gestattet  den  Ausschüssen 
die  Besprechung  des  gesammten  Arbeitsverhältnisses.  Der 
Punkt  unter  3 dürfte  selten  praktisch  werden,  wogegen  ein 
Zusatz  unter  2,  nach  welchem  bestimmte  Anordnungen  der 
Direktion  dem  Arbeiterausschuss  vor  ihrem  Erlass  zur  Be- 
gutachtung vorgelegt  werden  müssten,  dieser  Gutachten- 
thätigkeit  erst  die  richtige  Stelle  anwiese.  Schade  nur,  dass 
auch  der  liberale  Kompetenzparagraph  nur  halb  zur  Wir- 
kung kommen  wird,  weil  die  Vertreter  der  Arbeiter  zum 
Ausschuss  allzu  sehr  gesiebt  werden  durch  die  Wahlbe- 
stimmungen. Die  Masse  der  Beschäftigten  traut  solchen 
.Weitesten“  nicht  zu,  dass  sie  ihre  Kompetenz  wirklich  im 
Interesse  der  Arbeiter  voll  ausnützen. 

Nicht,  als  ob  wir  uns  soziale  Wunder  von  Arbeiter- 
ausschüssen versprächen,  die  allen  billigen  Anforderungen 
äusserlich  genügen  Aber  die  Möglichkeit  für  die  Unter- 
nehmervertreter, seien  sie  privat  oder  staatlich,  von  einer 
wirklichen  Arbeitervertretung  über  die  Stimmung  und 
Anschauungsweise  der  Beschäftigten  viel  zu  lernen,  ist  nur 
bei  einer  volksthümlichen,  ohne  Aengstlichkeit  vor  „jün- 
geren Elementen“  entworfenen  Organisation  vorhanden. 
Und  die  Schaffung  dieser  Möglichkeit  ist  uns  für  den  so- 
zialen Fortschritt  immerhin  wichtig  genug,  um  wenigstens 
keine  unpraktische  Gleichgültigkeit  bezüglich  einer  Neu- 
schöpfung, wie  die  vorliegende,  zu  äussern.  Im  Interesse 
der  preussischen  Staatsbahnverwaltung  also  etwas  weniger 
bureaukratische  Furcht  vor  den  „jüngeren  Elementen“,  die 
nun  doch  einmal  die  Gegenwart  und  Zukunft  der  Arbeiter- 
bewegung sind,  dann  werden  die  neuen  Arbeiteraus- 
schüsse wenigstens  höheren  informatorischen  Werth  haben. 
Wie  dann  die  Informationen  praktisch  verwerthet  werden, 
das  sei  eine  Zeit  lang  ruhig  abgewartet. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Die  Bediensteten  der  Pariser  Omnibusgesellschaft  und 
das  Handelsgericht  als  Schiedsgericht.  Die  Pariser  Om- 
nibusbediensteten, die  erst  im  Mai  v.  j.  nach  einem  Strike 
von  nur  wenigen  Tagen  einen  glänzenden  Sieg  erfochten 
hatten,  haben  nun  neuerdings  einen  solchen  zu  verzeichnen, 
ohne  indess  auch  nur  einen  Moment  die  Arbeit  eingestellt 
zu  haben.  Allerdings  handelte  es  sich  diesmal  nicht  um 
neue  Forderungen.  Alles,  was  sie  wollten,  war  die  Auf- 
rechterhaltung des  errungenen  zwölfstündigen  Arbeitstages. 
Derselbe  wurde  ihnen  seiner  Zeit  schriftlich  zugesichert 
und  zwar  im  Beisein  des  Präsidiums  des  Munizipalrathes, 
der  beim  Strike  die  Vermittlerrolle  übernommen  hatte.  In 
dem  damals  aufgenommenen  und  von  den  Vertretern  der 
beiden  Parteien  Unterzeichneten  Protokoll  heisst  es  ausdrück- 
lich, dass  der  Arbeitstag  im  Prinzip  auf  12  Stunden  festge- 
setzt ist,  und  zwar  vom  Ausgang  aus  der  Remise  bis  zur 
Rückkehr  in  dieselbe.  Anfangs  wurde  dieser  Vertrag  auch 
strenge  eingehalten ; allmählich  aber  hatte  die  Direktion  der 
Onnnbuskompagnie  solche  Veränderungen  im  Betriebe  ein- 
geführt, dass  die  Bediensteten  bald  gezwungen  waren,  einen 
Tag  10  und  11  Stunden  und  den  andern  13  und  14  Stunden 


zu  arbeiten.  Die  Kompagnie  hatte  nämlich,  um  keinen 
Ausfall  zu  erleiden  — denn  an  den  Gehältern  und  Tantiemen 
der  Direktion  und  des  Verwaltungsrathes  sowie  an  den  Di- 
videnden der  Aktionäre  durfte  um  keinen  Preis  gerüttelt 
werden  — die  Fahrgeschwindigkeit  erhöht  und  die  Anhalte- 
zeit bei  den  einzelnen  Stationen  abgekürzt.  Dadurch  wurde 
es  auch  möglich,  in  der  nun  verhältnissmässig  viel  kürzeren 
Arbeitszeit  ebenso  viele  Kilometer  zurückzulegen  als  vor 
dem  Strike.  So  weit  war  die  Kompagnie,  wenngleich  die 
Bediensteten  hierdurch  in  einem  intensiveren  Maasse  ange- 
strengt wurden,  in  ihrem  formalen  Rechte.  Mit  der  höheren 
Fahrgeschwindigkeit  stellte  sich  aber  gleichzeitig  ein  Miss- 
verhältnis zwischen  den  Fahrten  auf  den  kurzen  und  denen 
auf  den  langen  heraus  welches  dieDirektion  dadurch  zu  heben 
suchte,  dass  sie  die  Leute,  die  den  einen  Tag  auf  den  kurzen 
Linien  beschäftigt  waren,  wo  die  vorgeschriebene  Zahl  von 
Touren  in  10  oder  10‘/2  Stunden  zurückgelegt  wurden, 
Tags  darauf  auf  den  langen  Linien  bis  14  Stunden  und 
selbst  darüber  beschäftigte.  Und  damit  verstiess  die  Kom- 
pagnie offenbar  gegen  clen  Vertrag.  Die  Direktion  erklärte 
zwar,  dass  sie  „im  Prinzipe“,  wie  es  im  Vertrage  heisst,  den 
zwölfstündigen  Arbeitstag  einhalte  — „im  Prinzipe“  hiess 
nämlich  für  sie  „durchschnittlich'4  — , aber  es  ist  doch  klar, 
dass  wenn  die  Bediensteten  diesen  beiden  Worten  denselben 
Sinn  hätten  unterlegen  wollen,  sie  nicht  eine  Festsetzung 
der  täglichen,  sondern  der  wöchentlichen  Arbeitsstunden 
verlangt  hätten.  Nach  der  Auslegung  der  Direktion  könnten 
ja  die  Kutscher  und  Kondukteure  dann  auch  einen  Tag- 
bloss  8 Stunden  und  den  anderen  16  Stunden  beschäftigt 
werden.  Da  nun  alle  Vorstellungen,  welche  das  Syndikat  der 
Omnibusbedienstetengegen  diese  Auslegung  machte,  zwecklos 
waren,  was  sollten  diese  nun  beginnen,  um  zu  ihrem  Rechte 
zu  gelangen?  Einen  neuen  Strike  anfangen?  Einen  Moment 
schien  es,  als  gäbe  es  keinen  anderen  Ausweg.  Auf  An- 
rathen einiger  ausserhalb  stehender  Freunde  haben  sie 
! indess  einen  neuen  Weg  und,  wie  sich  nun  zeigt,  mit 
Glück  betreten.  Sie  hatten  sich  nämlich  an  das  Han- 
delsgericht gewendet.  Vor  diesem  suchte  der  Rechtsver- 
treter der  Kompagnie  die  Worte  „im  Prinzip“  ebenso  zu 
deuten,  wie  seine  Auftraggeber,  aber  mit  welchem  Erfolge, 
das  zeigt  das  am  3.  d.  M.  verkündigte  Urtheil.  Diesem  zu- 
folge ist  die  Omnibusgesellschaft  verhalten,  spätestens  nach 
Verlauf  eines  Monats  ihre  Angestellten  vom  Ausgang  aus 
der  Remise  bis  zur  Rückkehr  in  dieselbe  gerechnet,  nicht 
länger  als  12  Stunden  pro  Tag  zu  beschäftigen  und  falls 
sie  binnen  der  angegebenen  Zeit  dem  Urtheil  nicht  nach- 
gekommen ist,  für  jeden  Tag  Verspätung  dem  Syndikat  der 
Omnibusbediensteten  eine  Entschädigung  von  100  Eres,  zu 
zahlen.  Ausserdem  wurde  die  Kompagnie  noch  verurtheilt, 
sämmtliche  Prozesskosten  zu  tragen.  Der  Kompagnie  bleibt 
nun  allerdings  noch  der  Appellweg  übrig.  Es  ist  jedoch 
kaum  anzunehmen,  dass  sie  ihn  betreten  werde,  da  sie  sich 
wird  sagen  müssen,  dass,  wenn  sie  vor  dem,  aus  der  Wahl 
des  grossen  Unternehmerthums  hervorgegangenen  Handels- 
gericht keine  Gnade  fand,  sie  dieselbe  noch  weniger  vor 
einem  anderen  Gericht  finden  werde  und  ihr  Appell  daher 
die  öffentliche  Meinung,  welche  ihr  wegen  der,  trotz  ihrer 
hohen  Reineinnahmen  an  den  Tag  gelegten  Engherzigkeit, 
ohnedies  nicht  sonderlich  hold  ist,  nur  ganz  unnützer  Weise 
: verbittern  würde. 

Geschäftstätigkeit  des  Stuttgarter  Gewerbegerichts. 
Beim  Gewerbegerieht  Stuttgart,  das  am  1.  Juli  1891  seine  Wirk- 
samkeit begonnen  hat,  sind  in  den  ersten  6 Monaten  des  Be- 
stehens 508  gewerbliche  Streitigkeiten  anhängig  gemacht  worden. 
In  38  Fällen  wurde  von  Unternehmern  gegen  Arbeiter  Klage 
erhoben,  darunter  in  18  Fällen  von  Buchdruckerprinzipalen 
während  des  Strikes.  Streitigkeiten  zwischen  Lehrmeister  und 
Lehrling  wurden  in  20  Fällen  anhängig,  in  5 Fällen  wurde  vom 
Lehrmeister,  in  15  Fällen  vom  Lehrling  Klage  erhoben.  Die 
übrigen  Fälle,  450  an  der  Zahl,  betreffen  Klagen,  welche  von 
Arbeitern  erhoben  wurden.  In  den  508  Streitsachen,  welche  zu- 
sammen anhängig  geworden  sind,  wurden  597  mündliche 
Verhandlungen  abgehalten,  darunter  228  vor  dem  Gewerbe- 
gericht unter  Zuziehung  von  Beisitzern,  369  vor  dem  Vorsitzenden 
allein.  Am  Schluss  des  Jahres  1891  waren  von  den  508  Streit- 
sachen vollständig  erledigt  475. 


100 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  7. 


W ohnungsfrage. 


Regelung  des  Kost-  und  Quartiergängerwesens  im 
Regierungsbezirk  Münster.  Der  Regierungspräsident  in 
Münster  hat  eine  Polizeiverordnung  für  seinen  Bezirk 
erlassen,  welche  das  Kost-  und  Quartiergängerwesen  regeln 
soll.  Danach  dürfen  sittlich  unbescholtene  Personen  ferner- 
hin Kost-  oder  Ouartier-Gänger  bei  sich  aufnehmen,  deren 
Anzahl  bei  der  Polizeibehörde  stets  der  Ivontrole  halber 
genau  angegeben  werden  muss;  ausserdem  ist  die  Auf- 
nahme nur  gestattet,  wenn  ausser  den  für  die  Angehörigen 
der  Haushaltung  erforderlichen  Räume  genügende  Schlaf- 
räume vorhanden  sind.  Diese  Schlafräume  dürfen  mit  den 
eigenen  Wohn-  und  Schlafräumen  des  Quartiergebers  und 
seiner  Familie  nicht  in  Verbindung  stehen,  müssen  gedielt, 
durch  eine  Thüre  verschliessbar  und  mit  einem  in  der 
Aussenwand  befindlichen,  zum  Oeffnen  eingerichteten 
Fenster  versehen  sein;  sie  dürfen  nicht  mit  Aborten  in 
offener  oder  verschliessbarer  Verbindung  stehen.  Der 
Schlafraum  muss  für  jede  denselben  benützende  Person 
mindestens  10  Kubikmeter  Luftraum  enthalten  und  bei 
Gebäuden  welche  seit  1884  errichtet  oder  umgebaut  sind, 
eine  lichte  Höhe  von  2,50  Mtr.  haben.  Die  zulässige  Zahl 
der  den  Schlafraum  gleichzeitig  benutzenden  Kost-  oder 
Quartier-Gänger  muss  auf  einem  an  der  Innenseite  der 
Thüre  des  Schlafraumes  angehefteten,  von  der  Polizeibe- 
hörde als  richtig  bescheinigten  Zettel  angegeben  sein;  für 
je  zwei  Kost-  und  Quartier-Gänger  muss  mindestens  ein 
Bett  mit  Strohsack  und  starker  wollener  Decke  sowie  ein 
Waschgeschirr  mit  Handtuch  vorhanden  sein  Die  Auf- 
nahme von  Kost-  und  Quartier-Gängern  verschiedenen  Ge- 
schlechts bedarf  der  polizeilichen  Genehmigung;  dieselben 
Räume  dürfen  an  Personen  verschiedenen  Geschlechts  als 
Schlafstellen  überhaupt  nicht  überlassen  werden,  aus- 
genommen an  Eheleute  und  deren  noch  nicht  zehn  Jahre 
alten  Kinder,  aber  auch  dann  nur,  wenn  diese  Räume  von 
den  Schlafstellen  anderer  Kost-  oder  Onartier-Gänger  voll- 
ständig getrennt  sind.  Das  Quartier  ist  täglich  zu  reinigen, 
mindestens  alle  sechs  Wochen  das  Bettstroh  und  die  Bett- 
wäsche zu  erneuern;  die  Bettdecken  müssen  jedes  Viertel- 
jahr gereinigt,  nicht  tapezierte  Räume  jährlich  mindestens 
ein  Mal  getüncht  werden.  Bei  ansteckender  Krankheit 
müssen  nach  Entfernung  des  Kranken  aus  dem  Quartier 
dieses  und  alle  von  dem  Kranken  benützten  Geräthschaften 
desinficirt  werden.  Die  Verfügung  ist  mit  dem  1.  Februar 
in  Kraft  getreten. 


Litteratur. 


Swjatlowsky,  W. , Fabrik  - Inspektor  des  Warschauer 
Distriktes.  Die  Fabrik-Hygiene  St.  Petersburg,  1891. 
720  S.  Mit  153  Holzschnitten. 

Unter  dem  obigen  Titel  erschien  vor  kurzem  die  erste 
systematische  Fabrik-Hygiene  in  russischer  Sprache.  Das 
Buch  zerfällt  in  8 Theile,  den  allgemeinen  inbegriffen.  Im 
I.  Abschnitte  wird  die  chemische  Industrie  behandelt, 
im  2.  die  Papier-  und  Tapetenindustrie,  im  3.  die  Bear- 
beitung der  Metalle,  im  4.  die  Bearbeitung  von  thierischen 
Abfallstoffen,  im  5.  die  Industrie  von  Nahrungs-  und  Genuss- 
mitteln, im  6.  die  Glas-  und  keramische  Industrie  und  im 
7.  die  Textilindustrie.  Da  der  Verfasser  eine  längere  Zeit 
Fabrikinspektor  des  Charkow’schen  Fabrikbezirkes  war  und 
gegenwärtig  dieselbe  Stelle  im  Warschauer  Distrikte  ver- 
sieht, so  hatte  er  die  Möglichkeit,  alle  beschriebenen  Pro- 
duktionszweige aus  eigener  Anschauung  gründlich  zu 
untersuchen  und  kennen  zu  lernen. 

Obzwar  das  Buch  den  Titel  „Fabrikhygiene“  trägt, 
haben  wir  es  doch  nicht  mit  einem  rein  hygienischen 
Handbuche  zu  thun.  Neben  der  hygienischen  Seite  ist 
auch  die  technologische  und  sozialstatistische  Seite  behan- 
delt. Ueber  diesen  Theil  des  Werkes  seien  einige  Bemer- 
kungen gestattet. 

Neben  den  Arbeiten  von  Erisman,  Dementjew, 
Pogoschew  und  ähnlichen,  welche  in  diesem  Buche  ver- 


werthet  sind>  linden  wir  auch  eine  ganze  Anzahl  bisher 
vollständig  unbekannter  Originaluntersuchungen  des  Ver- 
fassers über  die  russischen  und  speziell  über  die  russisch- 
polnischen Arbeiter.  So  enthält  der  allgemeine  Theil  eine 
Reihe  von  statistischen  Tabellen  über  die  Unfälle  im  Fabrik- 
betriebe in  Russisch-Polen.  Eine  Fülle  ganz  neuen  sozial- 
statistischen Materials  linden  wir  ferner  in  den  Abschnitten 
über  die  Zündhölzchenfabrikation,  die  Gerberei  und  Talg- 
lichtzieherei. Eingehend  behandelt  und  mit  einer  Menge 
von  statistischen  Daten  versehen  sind  auch  die  Abschnitte 
über  die  Zucker-,  Spiritus-  und  Textilindustrie  Was  das 
Kapitel  über  die  Tabakindustrie  anbelangt,  so  wurde  es 
von  der  Frau  Dr.  Walitzky  verfasst  und  bietet  ein  ausser- 
ordentlich reiches  Material  vom  industriellen,  hygienischen 
und  sozialstatistischen  Standpunkte. 

E.  Scholkow. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Damm,  Dr.  med.  Alfred,  Die  Wiedergeburt  der  Völker. 
Monatshefte.  1.  Jahrgang,  1.  Heft.  Wiesbaden,  1892,  Damm’s 
Selbstverlag.  84  32  S 

Geyer,  Florian,  Der  27.  Januar  1959.  Ein  Traumgesicht.  Leipzig, 
1892,  Jakobsen  kl  8".  30  S 

Hipler,  Wendel,  Ehe  denn  die  Schlacht  beginnt.  Ein 
Mahnruf  an  die  deutsche  Jugend  in  ihren  Kaiser.  Leipzig, 
1892,  Jakobsen.  84  79  S. 

Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  im  deutschen  Drechslergewerbe. 

Eine  Zusammenstellung  statistischer  Aufnahmen  vom  April  . 
1890  bis  April  1891.  Herausgegeben  von  der  zentralen 
statistischen  Kommission  der  Vereinigung  der  Drechsler  und  ■ 
Berufsgenossen  zu  Halle  a.  S.  Hamburg,  1892  Th.  Leipart, 

_ Fachzeitung  für  Drechsler.,  kl.  8".  VIII  und  88  S. 

3Ieinecke,  Gustav,  Koloniales  Jahrbuch.  IV.  Jahrgang,  1891. 

Berlin,  1892,  Hevmann.  gr.  8".  335  S. 

Post,  Prof.  Dr.  J.,  Musterstätten  persönlicher  Fürsorge  ! 
von  Arbeitgebern  für  ihre  Geschäftsangehörigen.  Bd.  1.  Die  1 
Kinder  und  jugendlichen  Arbeiter.  Berlin,  1889,  Oppenheim. 

8°.  IX  und  380  S. 

Prochowiiik,  Dr.  Berthokl,  Das  angebliche  Recht  auf  Ar- 
beit. Eine  historisch-kritische  Untersuchung.  Berlin,  1892, 
Puttkamer  u.  Mühlbrecht,  kl.  8°.  VI  und  123  S. 

Rägoczy.  Die  Wirkungen  des  Krankenkassengesetzes  ( 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Krankenkassen  der 
Stadt  Minden.  Minden,  1889,  Bruns.  8°.  35  S. 

Revue  Sociale  et  Politique.  Publiee  par  la  Societe  d’Etudes  \ 
Sociales  et  Politiques.  Bruxelles,  1892.  II,  1. 

Schaefer.  Die  Unvereinbarkeit  des  sozialistischen  Zu- 
kunftsstaates mit  der  menschlichen  Natur.  Unge-  I 
haltene  Rede  der  deutschen  Sozialdemokratie  gewidmet. 

6.  Autf.  Berlin,  1891.  8°.  80  S. 

Somogyi,  Dr.  Emanuel,  Die  Lage  der  Arbeiter  in  Ungarn 
vom  hygienischen  Standpunkt.  S.-A.  der  Budapester  hygie- 
nischen Zeitung.  Budapest,  1891.  kl.  8°.  36  S. 

Sturm,  Dr.  jur.  August,  Die  Haftpflicht  der  Gastwirthe 
nach  Römischem  Recht,  nach  dem  Entwurf  für  das 
bürgerliche  Gesetzbuch  und  nach  dem  Allgemeinen  Preussi- 
schen  Landrecht.  Naumburg  a.  S.,  1892,  Schirmer,  kl.  8°. 

45  S. 

Taschenbuch  für  Reichstagsabgeordnete  und  Journalisten. 

Materialien-Sammlung  zu  den  wirthschafts-  und  sozial- 
politischen Gesetzes  - Vorlagen  des  deutschen  Reichstages. 
Herausgegeben  von  mehreren  Volkswirthen  und  Juristen. 
Für  1891/92.  Halberstadt,  1891,  Meyers  Buchdruckerei.  84 
IV  und  373  S. 

The  Economie  Review.  Published  quarterly.  For  the  Oxford 
university  branch  of  the  Christian  social  Union.  London, 
1892.  Vol.  II,  No.  1. 

Tolle,  Karl  August,  D i e L age  der  Berg-  und  Hüttenarbeiter 
im  Ob  er  harze  unter  Berücksichtigung  der  geschichtlichen 
Entwicklung  der  gesammten  Bergarbeiterverhältnisse  und 
des  Knappschaftswesens  in  Deutschland.  Berlin,  1892,  Putt- 
kamer u.  Mühlbrecht.  8°.  IV  u.  152  S. 

Webb,  Sidney,  The  Fabian  Society,  its  objects  and 
methods.  An  address,  kl.  8°.  9 S. 

Wehbeig,  Dr.  H.,  Der  humanistische  Sozialismus  im 
Licht  des  Freihandels.  Zugleich  eine  Kritik  zur  nöthi- 
gen  Klärung  der  Bodenreform.  Berlin,  1891,  Klein,  kl.  8". 

71  S. 

W erner,  Pfarrer  Julius,  Sozialrevolution  oder  Sozialreform. 

Halle  a.  S.,  1891,  Schwetschke.  8°.  64  S. 

Zürn,  Erich,  Die  angebliche  soziale  Not  der  landwirth- 
schafllchen  Arbeiter.  Leipzig,  1892,  Rossberg.  8°.  39  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 

Berlin,  den  15.  Februar  1892. 


Für  den  Anzeigentheil  sind  die  Redaktion  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Anzeigcn-Annahmestelle  nur  bei 
Dr.  Otto  Eysler,  Berlin  SW.,  Charlottenstrasse  11.  Preis  für  die  3 spaltige  Colonelzeile  40  Pf. 


Verlag  von  Leonhard  Simion,  Berlin  SW.,  Wilhelmstrasse  121 

Volkswlrthscliaftliclie  Zeitfragen, 

Vorträge  und  Abhandlungen 

o o 

herausgegeben  von 

der  Volkswirtschaftlichen  Gesellschaft  in  Berlin 

und 

der  ständigen  Deputation  des  Kongresses  Deutscher  Volkswirte 


Jährlich  erscheinen  8 Hefte  zum  Abonnementspreise  von  6 Mark. 
Einzelpreis  für  jedes  Heft  i Mark. 


Der  Staat  lind  die  Volks w i r t lisch a ft . Von 
Dr.  Karl  Braun,  Reichstags- Abg. 

Der  Schutz  in  der  Weltwirtschaft.  Von 
Prof.  Dr.  F.  X.  v.  Neumann- Spallart. 

Zur  Entwickelungsgeschichte  der  heuti- 
gen reactionären  Wirtlischaftspolitik. 
Von  Dr.  Th.  Barth,  Syndikus  in 
Bremen. 

Die  Bettelplage.  Von  A.  Lamm  er  s. 

Der  Volkswirtschaftliche  Senat.  Von 
Dr.  Max  Weigert. 

lieber  Colonisation  Von  F.  C.  Philipp- 
son. 

Die  wirthschaftlichen  Verhältnisse  der 
Vereinigten  Staaten  von  Amerika  in 
ihrer  Rückwirkung  auf  diejenigen 
Europa’s.  Von  A.  v.  Totis. 

Deutschlands  Getreideproduktion,  Brod- 
bedarf  und  Brodbeschaffung.  Von 
Ch.  Lorenz. 

Sparen  und  Versichern.  Von  A.  La  m m e r s. 

Ziele  und  Bahnen  der  Deutschen  Armen- 
pflege. Von  A.  Lammers. 

Die  Buchdruckerkunst  und  der  Kultur- 
fortschritt der  Menschheit.  V on  Dr.  K a r 1 
von  Scherz  er. 

Die  praktischen  Versuche  zur  Lösung  der 
socialen  Probleme.  Von  Dr.  jur.  Victor 
Böhmer  t. 

Die  Va  gabundenfrage.  Von  Karl  Braun. 

Armen-Beschäftigung.  Von  A.  Lammers. 

(fegen  den  Staatssocialismus.  Drei  Ab- 
handlungen von  Ludwig  Bamberger, 
Theodor  Barth,  Max  Broemel. 

Die  bäuerlichen  Zustände  in  Deutschland. 
Von  N.  M.  W itt. 

lieber  Lebensmittelversorgung  von  Gross- 
städten. Von  E.  Eberti. 


Oetfentliche  Kinder  - Fürsorge.  Von 
A.  Lammers 

Der  Normal  - Arbeitstag.  Von  Karl 
B a u in  b a c h. 

Das  Branntwein  - Monopol.  Von  Dr. 

Wolfg.  Eras 

Die  socialistische  Gefahr.  Von  L.  Bam- 
berger. 

Armenrecht  u.  Armenwesen.  Von  Adolf 
Lasson. 

Handarbeit.  Von  Dr  J.  Lessing. 
Amerikanisches  Wirthscliaftsleben.  Von 
Dr.  Th.  Barth. 

Volkswirtschaft  und  Unterricht.  Von 
Dr.  Emanual  Herrmann. 

Scheinbare  und  wirkliche  Socialreform. 
Von  Dr.  Th  Barth. 

lieber  Altersversicherung  der  Arbeiter. 

Von  Dr.  Alexander  Meyer. 
Frauenarbeit  und  Frauenschutz.  Von 
K.  Baumbach. 

Zur  Beurteilung  des  Verbrauchs  und 
der  indirekten  Abgaben  bei  verschiede- 
nem Einkommen.  Von  Dr.  Karl. 

Die  Kosten  des  Haushalts  in  alter  Zeit. 

Von  Prof.  Dr.  Heinrich  Brugsch. 

Die  Wohnungsfrage  und  die  Bestrebun- 
gen der  Berliner  Baugenossenschaft. 
Von  Dr.  Paul  Nathan. 

Die  socialdemokratische  Gedankenwelt. 
Von  Dr.  Th.  Barth,  Mitglied  des 
Reichstags. 

Das  Völkerrecht  im  Dienste  des  Wirt- 
schaftslebens. Von  Dr.  Hugo  Preuss. 
Von  der  Freiheit  zur  Gebundenheit.  Von 

Herbert  Spencer. 

Die  Selb  stein  Schätzung  und  die  geistige 
Arbeit.  Von  Dr.  J.  J astrow. 


Sin  Verlage  non  ©corfl  9ieinter  in  Söcrlüt  erfcfjetnen: 


fldljrLuiLlici. 

Jperaulgegeben 

Don 

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(BSonafafdjriff  für  Politik,  (Si'ldüdjli;,  KunJI  mtb  litaafur.) 


' PBU  Üflonatlid)  ein  £>ef t.  "ÄS. 

Tian  abonnirt  fjalbjciljrlid]  für  9 Tiarf  bei  allen  23ud)f)anbluugen  uub  Sßoftämtern. 


33erlag  oon  UMuutar  & ffumblof  in  Seidig. 

OkTU’it  Tvirblidl  ltnapp,  Die  Öanbarbeiter 
in  Sneclitidpft  nnb  gredjeit.  SSier  Vorträge. 
1891.  ißreil  ca.  2 Ti. 


Ifrinvidf  Jfrvhuer,  Die  fociale  Sieform  all 
"®ebot  bei  ioirtl)td)aftiid;en  jyortfdjrittl.  1891. 
fjJreil  2 Ti . 40  0f. 

Dd),vittcn  brs  Derciita  für  ‘inu'talpolittk. 

49.  0anb:  Die  Jpanbellpolitil  ber  loidpigeren 
Änlturftaaten  in  beit  (e^ten  3 , fjr^eljntert.  1. 
0anb.  2t.  u.  b.  Die  ^anbellpolitif 
Torbarnerifal,  Stalienl,  £>efterretd)l,  0eP 
gienl,  ber  Tieberlanbe,  Dänemarfl,  (Sdpoe» 
beul  nnb  Tonoegenl,  fJiufflanbl  nnb  ber 
©cfnueig,  foiute  bie  beittfdje  .fpanbeliftatiftif 
oon  1880  btl  1890.  0reil  13  Ti. 

— Daffelbe.  50.  0anb:  Die  cbanbellpolitif  rc. 
2.  0anb,  21  n.  b.  D. : Die  ber  beut= 

fdjen  £anbeI!f>oütif  oon  1860—1891  23oin 
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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  l)r.  ( )tto  Eysler  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  22.  Februar  1892 


Nummer  8. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBL 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Per  parlamentarische  Kampf 
gegen  die  Korse. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik : 

Ueberseeische  Auswanderung  aus 
dem  deutschen  Reiche. 

1 >ie  russische  Regierung  und  die 
Hungersnoth. 

Ermittelungen  über  die  landwirt- 
schaftliche Bodenverschuldung  in 
der  Schweiz. 

Sparkassen  im  Dienst  des  Arbeiter- 
wohls. 

Arbeiterzustände : 

Eine  Aufnahme  der  ländlichen 
Arbeiterverhältnisse.  Von  Prof. 
Dr.  Gustav  Schmolle r. 

Erwiderung.  Von  Dr.  Max 
Quarck. 

Die  Nothlage  in  der  schweize- 
rischen Stickereiindustrie. 

Zur  Lage  der  Arbeiter  in  Italien. 

Arbeitszeitreduktion  in  der  schweize- 
rischen Spinnerei  und  Weberei. 

Lohn  Verhältnisse  der  Basler  Posa- 
menter. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Die  französischen  Arbeitsbörsen. 
Von  Leo  Frankel. 


Strikes  und  Lockouts  in  Eng- 
land. 

Der  Strike  der  Pariser  Droschken- 
kutscher. 

Ein  Tramway-Strike  in  Lille. 

Unternehmerverbände : 

Gegen  die  Kohlenringe. 

Amerikanischer  Whiskey trust. 

Handwerker  fragen : 

Der  deutsche  Handwerkertag. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Beschäftigung  der  Arbeiterinnen 
und  jugendlichen  Arbeitern  in 
Walz-  und  Hammerwerken. 

Beschäftigung  von  Arbeiterinnen 
und  jugendlichen  Arbeitern  in 
Cichorienfabriken  und  Glas- 
hütten. 

Entwurf  eines  Achtstundengesetzes 
für  England. 

Schutzvorschriften  für  englische 
Seeleute. 

Soziale  Hygiene: 

Gewerbe-hygienisches  Museum  in 
Wien. 

W ohlfahrtseinrichtungen : 

Natural  Verpflegung  bedürftiger 

Durchreisender. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 

Der  parlamentarische  Kampf  gegen  die  Börse. 

Im  deutschen  Reichstage  haben  die  Abgeordneten 
Graf  von  Ballestrem,  von  Behr-Behrenhoff,  Freiherr  von 
Manteuffel  und  Genossen  am  19.  November  v.  J.  folgenden 
Antrag  gestellt: 

Der  Reichstag  wolle  beschliessen : 
die  verbündeten  Regierungen  zu  ersuchen: 

1.  dem  Reichstage  noch  im  Laufe  der  gegenwärtigen  Session 
eine  Gesetzesvorlage  zu  machen,  in  welcher  dem  Miss- 
brauch des  Zeitgeschäftes  als  Spielgeschäft  sowohl  an  der 
Börse,  wie  anderwärts,  namentlich  in  den  für  die  Volks- 
ernährung wichtigen  Artikeln  durch  eingreifende  Bestim- 
mungen auf  dem  Gebiete  des  Strafrechts  und  des  bürger- 
lichen Rechts  entgegengetreten  wird ; 

2.  dahin  zu  wirken,  dass  die  Börsen  und  der  Geschäftsverkehr 
an  denselben  einer  wirksamen  staatlichen  Aufsicht  unter- 
stellt und  dadurch  ihren  wahren  Aufgaben  für  Handel  und 
Verkehr  erhalten  werden. 

Sodann  haben  am  20.  November  v.  J.  die  Abgeord- 
neten Dr.  v.  Cuny  und  Genossen  beantragt: 

Der  Reichstag  wolle  beschliessen: 
die  verbündeten  Regierungen  zu  ersuchen: 


1.  dem  Reichstage  noch  im  Laufe  der  gegenwärtigen  Session 
Gesetzesvorlagen  zu  machen,  durch  welche  den  Verun- 
treuungen anvertrauter  Depots  und  dem  Börsenspiele 
sowohl  an  der  Produkten-,  als  auch  an  der  Effektenbörse 
entgegengetreten  und  insbesondere  festgestellt  wird: 

a)  derjenige,  welchem  in  seinem  Geschäftsbetriebe  Inhaber- 
papiere anvertraut  sind,  darf  sie  nur  dann  veräussern, 
wenn  der  Deponent  ihm  die  Veräussern ng  speziell  und 
ausdrücklich  gestattet  hat.  Die  LTnterschlagung  von 
Depots  wird  mit  Zuchthaus  bestraft; 

b)  reine  Differenzgeschäfte  sind  nichtig  und  begründen 
kein  Klagerecht. 

2.  die  Frage  der  Verschärfung  der  gesetzlichen  Bestimmungen 
über  den  Konkurs  einer  eingehenden  Prüfung  zu  unter- 
ziehen. 

Beide  Anträge  sind  das  Ergebniss  von  Wahrnehmungen, 
welche  zwar  Jedermann  jahraus  jahrein  zu  machen  Gelegen- 
heit hat,  die  aber  anlässlich  einiger  vorgekommener  Fälle 
wieder  ganz  besonders  die  öffentliche  Meinung  aufgeregt 
haben. 

Die  Börsen  haben  stets  eine  eigenthümliche  Stellung 
eingenommen.  Auf  der  Börse  vollzieht  sich  der  Kampf  der 
grösseren  Kapitalien  untereinander,  die  Niederlagen  eines 
1 heils  treffen  in  normalen  Zeiten  zumeist  den  Siegern  gleich- 
werthige  Elemente.  Nur  in  Zeiten  hochgehender  Speku- 
lation, wie  in  den  letzten  Jahren,  werden  die  Kreise  der 
Börse  durch  Elemente  verstärkt,  welche  sonst  nur  auf 
ständige  Anlagen  ihres  Kapitals  bedacht  sind  und  nur  im 
T aumel  allgemeiner  Gewinnsucht  ihre  traditionelle  Rolle  in 
der  Kapitalistenwelt  aufgeben:  Aristokraten,  Beamte,  Offi- 
ziere, Aerzte,  Anwälte,  Rentiers  u.  s.  f.  Diese  Betheiligung 
von  sonst  fernstehenden  Kreisen  an  dem  Getriebe  der  Börse 
hat  — abgesehen  von  der  durch  den  leichten  Erwerb  pro- 
vozirten  Erhöhung  der  eigenen  Konsumtion  dieser  Personen 
— unzweifelhaft  den  Effekt,  Objekte  zu  liefern,  aus  deren 
Vermögensbestande  und  Einkommen  schliesslich  nach  vielen 
Irrfahrten  die  Kosten  jener  übermässigen  Luxuskonsumtion 
gedeckt  werden,  welche  die  — zumeist  über  die  Situation 
selbst  im  Unklaren  befindlichen  — professionellen  Börsen- 
leute treiben. 

Allen  aus  der  privatkapitalistischen  Oekonomie  her- 
geleiteten Anschauungen  zum  Trotz  wird  nämlich  in  der 
1 hat  auf  der  Börse  nichts  geschaffen,  keine  „Werthe“,  na- 
türlich auch  keine  „Güter“.  Alle  Börsengewinne  sind 
bestenfalls  \ orschüsse  auf  erhoffte  zukünftige  Profite,  in 
Spekulationszeiten  aber  zumeist  Entnahmen  aus  dem  Ge- 
sammtkapital  aller  an  der  Sache  betheiligten  Kapitalisten. 
YV  ird  nun  toll  konsumirt,  so  wird  einfach  Kapital  ver- 
braucht, und  es  liegt  in  der  Natur  solcher  Epochen,  dass 
in  erster  Reihe  das  Kapital  der  ungeübten  Fcrnerstehenden 
verloren  geht.  Es  wäre  ein  sehr  grosser  Irrthum,  zu  mei- 


102 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  8. 


neu,  dass  die  Börsenleute  in  der  Hauptsache  nur  das 
fremde  Kapital  verbrauchen,  ganz  sicher  wird  von  der 
Mehrzahl  derselben  ebenso  das  eigene  mit  verzehrt;  aber 
dieses  ist  überwiegend  nur  ein  fiktives  Kapital  gewesen 
und  keinesfalls  würde  es  ausreichen,  um  die  jahrelange 
Ueberkonsumtion  der  Börsenleute  und  ihres  Annexes  — 
vom  wirklichen  Geheimrath-Aufsichtsrathsvorsitzenden  bis 
hinab  zum  spielenden  Bankkommis  und  zum  „betheiligten“ 
Hauslehrer  — zu  decken.  Dazu  muss  dann  die  grosse 
Menge  der  „ruhigen  Kapitalisten“  beitragen.  Und  da  tritt 
dann  die  Ausbeutung  des  Besitzenden  durch  den 
Besitzenden  in  die  Erscheinung.  Daher  ist  der  Lärm  er- 
klärlich, der  sich  stets  erhebt,  wenn  irgend  welche  Um- 
stände wieder  die  Aufmerksamkeit  auf  unliebsame  Vor- 
kommnisse in  der  aus  verschiedenwerthigen  Elementen  zu- 
sammengesetzten Bank-  und  Börsenwelt  lenken.  Durch  die 
Paniken  und  ihre  Folgen  werden  zumeist  Mitglieder  der- 
jenigen Klassen  geschädigt,  welche  am  einflussreichsten 
im  Staate  sind,  und  diese  Klassen  wissen  sich  ihrer  Haut 
zu  wehren!  Schon  Schaeffle  hat  in  seinem  „Kapitalismus 
und  Sozialismus“  treffend  gesagt:  „Eine  Hekatombe  dieser 
gefrässigen  Geschöpfe  (Börsenwölfe)  würde  am  Ende  jeder 
. ehrenwerthe  Bourgeois  dem  tobenden  See,  der  ein  Opfer 
haben  will,  sehr  gern  überlassen“.  Es  ist  eben  die  Börsen- 
frage keine  soziale  Klassenfrage,  sondern  eine  Ange- 
legenheit, welche  Berufe  und  Stände  trifft,  die  innerhalb 
derselben  Klasse  nebeneinander  geschichtet  sind. 

Bei  solchen  Anlässen  entstehen  dann  sofort  Anträge 
und  Entwürfe,  welche  dem  Treiben  an  der  Börse  abhelfen 
sollen,  ohne  dass  es  bisher  irgendwo  gelungen  wäre,  in 
dieser  Hinsicht  wirklich  Brauchbares  zu  Tage  zu  fordern. 
Ein  sehr  wichtiger  Grund  hierfür  liegt  wohl  in  der  Schwie- 
rigkeit, welche  die  technischen  Verhältnisse  des  Börsen- 
geschäfts dem  Gesetzgeber  bieten. 

In  den  weiteren  Ausführungen  beschränken  wir  uns 
heute  auf  die  Effektenbörsen.  Das  von  diesen  Gesagte 
gilt,  sinngemäss  angewandt,  auch  von  den  Waarenbörsen. 
Der  Terminhandel  auf  letzteren  dient  allerdings  häufig  dazu, 
einen  Schutz  gegen  die  Schwankungen  der  Konjunktur  zu 
bieten  und  das  Spielmoment  zu  eliminiren.  Dieser  Um- 
stand verdunkelt  häufig  das  Bild,  welches  wir  auf  den 
Effektenbörsen  klar  vor  uns  sehen. 

Wir  heben  hervor  : Es  giebt  (mit  wenigen  belang- 

losen Ausnahmen,  Prämiengeschäften  u.  dgl.),  keine  förm- 
lichen Differenzgeschäfte.  Bei  fast  keinem  einzigen 
Geschäfte  besteht  die  Absicht  der  Kontrahenten  darin, 
nach  einem  bestimmten  Zeiträume  Gewinn  und  Verlust 
untereinander  auszugleichen.  Die  Durchführung  der  Ge- 
schäfte in  der  Form  des  Dilferenzspiels  würde  auf  der 
unwahrscheinlichen  Voraussetzung  basiren,  dass  zwei  Per- 
sonen, welche  gleichzeitig  entgegengesetzte  Spekulationen 
entriren,  bestimmt  annehmen,  dass  sie  dieselben  späterhin 
wieder  gleichzeitig  abwickeln  werden.  Das  Differenzspiel 
vollzieht  sich  an  der  Börse  meistens  durch  Kombination 
mehrerer  Kaufs-,  Verkaufs-  und  Belehnungsgeschäfte. 
Fast  immer  werden  die  Geschäfte  so  gemacht,  dass 
der  Verkäufer  sich  zu  wirklicher  Lieferung,  der  Käufer 
zu  wirklicher  Uebernahme  der  Effekten  verpflichtet. 
Ganz  abgesondert  hiervon  wird  der  Verkäufer  von 
Stücken,  die  er  nicht  besitzt,  Denjenigen  suchen,  der 
ihm  die  Stücke  leiht,  und  der  Käufer  von  Stücken,  für 
deren  Uebernahme  er  keine  Kapitalien  besitzt,  wird 
sich  einen  Kapitalisten  suchen,  der  die  gekauften  Stücke 
belehnt.  Bei  jedem  Geschäftsabschlüsse  kann  es  Vor- 
kommen, dass  einer  der  Kontrahenten  eine  Spekulation 
eingeht,  während  der  andere  Theil  vollkommen  frei  von 
spekulativen  Absichten  ist.  Man  denke  an  den  Fall,  dass 
eine  Sparkasse,  etwa,  weil  sie  ein  Hypothekardarlehen  ge- 


währt hat,  aus  ihrem  Besitze  preussische  Konsols  verkauft 
welche  ein  Spekulant  kauft.  Nach  einigen  Wochen  ver- 
kauft Letzterer  die  Konsols,  und  eine  andere  Sparkasse  kauft 
dieselben  behufs  Fruktifizirung  ihrer  Einlagen.  Hier  liegt 
auf  der  einen  Seite  ein  gewöhnliches,  auf  Gewinnung  einer 
Differenz  gerichtetes  Spekulationsgeschäft  vor,  auf  der 
andern  Seite  ein  durchaus  solider  Vorgang,  den  ja  jeder 
Kajjitalist  bei  Anlage  seines  Vermögens  beobachten  muss. 
Also  die  Absicht,  Differenzen  zu  gewinnen,  hat  mit  der 
Form  der  Differenzgeschäfte  nichts  gemein,  und  es  scheint, 
festzustehen,  dass  selbst  bei  einer  wesentlichen  Aenderung 
in  den  Börsengeschäftsformen  und  bei  vexatorischem  Ein- 
greifen in  die  Geschäftsverhältnisse  eine  Klarstellung  der 
wahren  Natur  des  Geschäftsabschlusses  kaum  erreicht 
werden  könnte. 

Alle  auf  die  Beseitigung  des  „Differenzgeschäftes“ 
gerichteten  Bestrebungen,  und  demnach  auch  die  hierauf 
abzielenden  Punkte  der  beiden  Anträge. sind  demnach  erfolglos, 
weil  sie  eben  nur  gegen  das  fast  garnicht  vorkommende 
formelle  Differenzgeschäft  ankämpfen.  Werden  aber  die 
Massregeln  gegen  das  Differenzgeschäft  auch  auf  die  in- 
haltlich ein  Differenzspiel  bildenden  Börsengeschäfte  aus- 
gedehnt, wird  insbesondere  die  Nichtklagbarkeit  von  Diffe- 
renzen, richtiger  gesagt,  von  Forderungen  aus  derartigen 
Geschäften,  ausgesprochen,  dann  pflegt  die  Sühne,  welche 
die  Moral  von  der  unsittlichen  Börsenwelt  fordert,  gewöhn- 
lich zu  der  erweiterten  und  verstärkten  Immoralität  zu 
führen,  dass  die  ausserhalb  der  Börse  stehenden  Spielkreise 
sich  ihren  Verpflichtungen  entziehen,  die  vorher  von  der 
Börse  gezogenen  Gewinne  für  sich  behalten  und  die  Ver- 
luste auf  diejenigen  wälzen;  welche,  ohne  die  Absicht 
zu  spielen,  nur  als  Vermittler  (Bankier,  Kommissionär) 
behufs  Erlangung  einer  Provision,  Maklergebühr  oder  dgl. 
ihre  Gegenkontrahenten  geworden  sind.  Denn  nicht  der 
Gegenspieler,  — der  nur  dasjenige  an  Gewinn  einbüssen 
würde,  was  der  durch  das  Gesetz  von  der  Zahlungspflicht 
befreite  Spieler  an  Verlust  nicht  trägt,  — wird  von  der 
Nichtklagbarkeit  betroffen,  er  kennt  den  Widerpart  zu- 
meist gar  nicht,  es  besteht  zwischen  Beiden  kein  Zusammen- 
hang, (siehe  obigen  Fall  beim  Handel  mit  Konsols).  Ge- 
schädigt  werden  nur  die  nichtspielenden  Bankiers  etc. 
durch  deren  Vermittlung  die  Geschäfte  zu  Stande  kamen 
und  welche  nach  herrschendem  Gebrauche  als  Selbst- 
Kontrahenten  eintreten  müssen.  Diese  sind  vermöge  ihrer 
geschäftlichen  Position  nicht  in  der  Lage,  den  Einwand  des 
Spiels  ihrem  Vormanne  gegenüber  geltend  zu  machen  und 
sich  damit  vor  Schaden  zu  bewahren.  Am  sichersten  hier- 
von betroffen  ist  aber  gerade  der  solideste  Bankier,  der 
die  für  Rechnung  seines  Kommittenten  gekauften  Papiere 
aus  Eigenem  bar  ausgezahlt  hat,  also  gar  keinen  Vormann 
mehr  hat,  an  den  er  sich  seinerseits  halten  kann. 

Und  hier  kommen  wir  auch  zu  der  Frage  der  „Depöt- 
unterschlagung“.  Sicherlich  sind  zahlreiche  Fälle  vor- 
gekommen, in  denen  Bankiers  sich  an  dem  Eigenthume 
ihrer  Klienten  vergriffen  haben,  aber  so  einfach,  wie  allge- 
mein angenommen  wird,  liegt  die  Sache  doch  nicht  immer. 
Wer  bei  „Börsenkomptoirs“  „Depots  hinterlegt“,  pflegt  dies 
nicht  um  deren  Aufbewahrung  willen  zu  thun.  Jedermann, 
insbesondere  in  den  Grosstädten,  weiss,  dass  die  grossen 
Bankinstitute,  vor  allem  die  Reichsbank,  als  Aufbewahrungs- 
stellen vorzuziehen  sind  und  dass  die  geringen  Gebühren 
keine  unnütze  Ausgabe  sind.  Man  „deponirt“  Werthpapiere 
bei  solchen  untergeordneten  Firmen  gewöhnlich  nur  als 
Deckung  für  grössere  Börsenoperationen.  Treten  nun  Kurs- 
rückgänge bei  den  von  den  Kommittenten  gekauften  Effecten 
ein,  so  muss  es  durchaus  zulässig  sein,  dass  der  Kom- 
missionär, um  die  für  seine  Kunden  eingegangenen  Ver- 
pflichtungen zu  erfüllen,  diese  „Depots“  weiterbelehnen  lässt. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


103 


Die  unklare  Stylisirung  des  nationalliberalen  Antrags 
führt  dahin,  dass  die  Bestimmungen  desselben,  in  denen 
von  „anvertrauten“  Inhaberpapieren  gesprochen  wird,  ent- 
weder auf  den  soeben  erwähnten  häufigsten  Fall  keine  An- 
wendung finden,  — unter  welcher  Voraussetzung  sie  über- 
flüssig sind  — oder  aber,  dass  dieselben  etwas  fordern,  was 
gegen  die  Absicht  der  an  diesen  Geschäften  Betheiligten 
verstossen  muss. 

Würden  diese  Bestimmungen  dennoch  mit  präziserer 
Formulirung  in  letzterem  Sinne  Gesetz  werden,  so  dass  die 
Bankiers  die  Zuschüsse  für  ihre  Kunden  nicht  aus  deren 
„Depots“,  sondern  aus  Eigenem  zu  leisten  hätten,  so  würde 
dies  die  Entwicklung  zum  Bankgrossbetrieb  fördern,  indem 
die  kleinen  selbständigen  Bankiers  nicht  genügend  kräftig 
wären,  innerhalb  des  Rahmens  derartiger  gesetzlicher  Vor- 
schriften lohnende  Geschäfte  zu  betreiben.  Insofern  würde 
der  Gesetzgeber  also  durch  die  Normirung  des  „Veräusse- 
rungsverbots“  (einschliesslich  des  Verbots,  solche  Depots 
weiterbelehnen  zu  lassen)  eine  erhebliche  Wirkung  erzielen 
und  es  könnte  eine  Einschränkung  und  Konsolidirung  des 
Börsengeschäfts  erreicht  werden,  nämlich  in  lokaler  Hin- 
sicht,  dort  wo  (etwa  an  kleinen  Orten)  an  Stelle  der  kleinen 
Bankiers  grosse  Aktienbanken  nicht  entstehen  können, 
jedenfalls  aber  in  der  Art  dass  die  bei  der  Geschäftsführung 
der  grossen  Institute  und  Bankiers  in  Anwendung  kom- 
menden strengeren  Normen  eindämmend  wirken  würden. 

Was  die  weiteren  Vorschläge  des  konservativ-kleri- 
kalen Antrags  betrifft:  es  solle  „dem  Missbrauch  des  Zeit- 
geschäfts als  Spielgeschäft  (eine  präzisere  Ausdrucksweise 
und  richtigere  Auffassung,  als  diejenige  des  liberalen  An- 
trags: „dem  Börsenspiele  sowohl  an  der  Produkten-  als 
auch  an  der  Effektenbörse“)  entgegengetreten  werden,  der 
Börsen-  und  Geschäftsverkehr  solle  ihren  wahren  Auf- 
gaben erhalten  werden  — so  sind  dies  allgemeine  Sätze, 
welche  bei  dem  Mangel  konkreter  Angaben  nicht  weiter 
verfolgt  werden  können. 

Die  gewünschte  Verschärfung  der  Konkursordnung 
kann  sich  als  räthlich  erweisen,  insbesondere  in  der  Rich- 
tung, dass  der  Wiederbeginn  geschäftlicher  Unternehmungen 
durch  Fallite  von  gewissen  Kautelen  abhängig  gemacht 
und  dass  die  Vorschiebung  nomineller  Firmaträger  dauernd 
unmöglich  gemacht  wird  u.  s.  f. 

Die  Unterstellung  der  Börsen  unter  staatliche  Aufsicht 
ist  hingegen  kaum  anzustreben.  Die  Erfahrung  in  anderen 
Ländern,  vor  Allem  in  Oesterreich,  zeigt,  dass  dieselbe  voll- 
kommen wirkungslos  ist,  und  nur  dazu  führt,  den  Fern- 
stehenden, welcher  meint,  dass  die  Staatsverwaltung  wirk- 
lich eine  sachliche  Prüfung  der  geschäftlichen  Vorgänge 
vornehme  und  vornehmen  könne,  zu  täuschen. 

Insolange  die  grundsätzliche  Auffassung,  nicht  nur 
des  Börsenverkehrs,  sondern  des  gesammten  Geschäfts- 
lebens keine  radikale  Aenderung  erfährt,  insolange  die  Er- 
zielung eines  Gewinns  ohne  Rücksicht  auf  die  Quelle  ■ — 
wenn  nur  das  Strafgesetz  respektirt  wird  — zulässig  ist, 
die  Ausnützung  von  Nachrichten,  welche  man  schneller 
und  sicherer  erlangt  hat  als  Andere,  eine  nicht  nur  gedul- 
dete, sondern  selbstverständliche  Grundlage  für  Börsen- 
operationen abgiebt,  ist  von  einer  „Staatsaufsicht“  kein 
Nutzen  zu  erwarten.  Eine  wirkliche  Staatsaufsicht  würde 
tief  in  den  gesammten  Verkehr  eingreifen,  das  ängstlich 
gehütete  Geschäftsgeheimniss  vollkommen  zerstören  müssen 
und  doch  ziemlich  erfolglos  bleiben. 

Die  Börse  ist  eben,  wie  jüngst  anlässlich  der  Debatte 
über  die  Börsensteuer  im  österreichischen  Abgeordneten- 
hause der  Finanzminister  Steinbach  und  der  czechische 
Abgeordnete  Kramai'  hervorgehoben  haben,  mit  unserem 
gegenwärtigen  Wirthschaftssystem  untrennbar  verknüpft. 
Man  muss  sie  als  eine  Individualität  in  unserer  Wirth- 


schaftsentwicklung  hinnehmen  mit  ihren  Fehlern  und  Vor- 
theilen. Die  Börse  verdammen,  während  unsere  gesummte 
Produktion  immer  tiefer  in  die  Schwankungen  der  Kon- 
junktur getrieben  wird,  so  dass  unsere  Industriellen  in  den 
grossen  Massenproduktionen  an  die  starken  und  plötzlichen 
Preis-Schwankungen  der  Rohstoffe  und  Fabrikate  fast  mehr 
denken  müssen,  als  an  den  Unternehmergewinn  bei  der 
eigentlichen  Produktion  — das  ist  ein  Widerspruch,  der 
unlösbar  ist.  Man  frage  jeden  Spinnereibesitzer,  ob  er  den 
Kurs  von  Baumwolle  und  Garn  nicht  ängstlicher  studirt, 
studiren  muss,  als  irgend  ein  Jobber  denjenigen  von  Kom- 
manditantheilen  der  Diskontogesellschaft. 

Die  Zukunft  wird  uns  nicht  eine  Einschränkung  der 
Börsen  bringen,  sondern  eine  Erweiterung  auf  Alles,  was 
nicht  grösste  Spezialisirung  fordert.  Dies  liegt  so  sehr  in 
der  Tendenz  unserer  Wirthschaftsentwicklung,  dass  wir  den 
Ruf  nach  Abstellung  der  angeblich  nur  durch  unsaubere 
Manipulationen  Einzelner  hervorgerufenen  Preis-Schwan- 
kungen sehr  bald  auf  Gebieten  vernehmen  werden,  die 
heute  davon  noch  ganz  verschont  sind.  Es  ist  ein  Gemein- 
platz, die  ausgedehnte  Tagesberichterstattung,  Telegraph, 
Telephon  u.  dgl.  als  Ursache  für  diese  Entwicklung  hin- 
zustellen. In  Wahrheit  ist  es  vielmehr  die  durch  die  stete 
Ueberproduktion  hervorgerufene  heftige  Konkurrenz  der 
Unternehmer,  die  zu  solchen  Ergebnissen  drängt.  Sowie  der 
Kleinmeister  oft  nur  mehr  dadurch  mit  der  Grossindustrie  zu 
konkurriren  vermag,  dass  er  übermässig  Arbeitskraft  ein- 
setzt, und  somit  sein  Arbeitserzeugniss  thatsächlich  unter 
seinen  Produktionskosten  verkauft,  so  wird  auch  der  Gross- 
unternehmer vielfach  in  der  Zukunft  nur  bestehen  können, 
wenn  er  beim  Ein-  und  Verkauf  glücklich  spekulirt  und 
hierdurch  den  Gewinnentgang  beim  Arbeitsprozesse  deckt. 
Die  Effekten-  und  die  Getreidebörse  werden  zu  Musterbildern 
für  ein  allgemeines  Börsenthum  werden.  Das  ist  eine  an 
und  für  sich  sehr  beklagenswerthe,  aber  aus  unserer  Pro- 
duktionsweise unvermeidlich  sich  ergebende  Perspektive. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Ueberseeische  Auswanderung  aus  dem  deutschen 
Reiche.  Ueber  deutsche  Häfen,  Antwerpen,  Rotterdam 
und  Amsterdam  gingen  im  Jahre  1891  115  392  reichsdeutsche 
Auswanderer,  dies  sind  20  289  mehr  als  im  Durchschnitte 
der  4 Jahre  1887—1890,  23  467  mehr  als  im  Jahre  1890 
(91  925),  25  133  mehr  als  im  Jahre  1889  (90  259),  16  877  mehr 
als  im  Jahre  1888  (98  515)  und  15  680  mehr  als  im  Jahre 
1887  (99  712).  Dass  die  wirthschaftliche  Nothlage  wesent- 
lichen Antheil  an  der  hohen  Auswanderungsziffer  hat,  kann 
wohl  behauptet  werden,  obgleich  uns  leider  eine  Berufs- 
statistik der  Auswanderer  fehlt.  Diese  wäre  von  höchster 
sozialpolitischer  Bedeutung,  sie  müsste  sich  aber  nicht  nur 
auf  den  Beruf,  sondern  auch  auf  die  Stellung  im  Beruf 
erstrecken.  Einen  ganz  ungenügenden  Ersatz  bietet  die 
in  dem  Dezemberhefte  der  „Monatshefte  der  Statistik  des 
deutschen  Reiches“  nachgewiesene  Vertheilung  der  Aus- 
wanderer nach  Gebietsteilen  des  deutschen  Reiches.  Ver- 
gleichen wir  auf  Grund  derselben  die  Auswanderung  aus 
den  östlichen  Provinzen  Preussens  (Ost-  und  Westpreussen, 
Pommern  Posen  und  Schlesien),  so  ergiebt  sich,  dass  im  Jahre 
1891  aus  diesen  Provinzen  49  020  d.  i.  14  219  Personen  mehr 
als  im  Durchschnitte  der  Jahre  1887 — 1890  auswanderten 
und  zwar  14  094  mehr  als  im  Jahre  1890  (34  906),  16  720 
mehr  als  im  Jahre  1889  (32  300),  12  248  mehr  als  im  Jahre 
1888,  13  793  mehr  als  im  Jahre  1887  (35  227). 

Bedeutend  geringer  sind  auffallenderweise  die  Unter- 
schiede in  der  Zahl  der  Auswanderer  aus  den  grossin- 
dustriellen Provinzen  Preussens  (Sachsen,  Hannover,  West- 
phalen,  Hessen-Nassau,  Rheinland).  Aus  denselben  wan- 


104 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLA'IT. 


Xo.  8. 


derten  im  Jahre  1891  18  977,  d.  s.  1584  Personen  mehr  als 
im  Durchschnitte  der  Jahre  1887—1890  aus,  und  zwar  2 409 
mehr  als  im  Jahre  1890  (16  568),  2 093  mehr  als  im  Jahre 
1889  (16  884),  I 800  mehr  als  im  Jahre  1888  (17  177)  und  36 
mehr  als  im  Jahre  1887  (18  941).  Demnach  lässt  sich  aus 
den  Auswanderungsziffern  auf  einen  weit  grösseren  Noth- 
stand  der  ärmeren  landwirthschaftlichen  als  der  grossin- 
dustriellen Bevölkerung  für  das  Jahr  1891  schliessen. 

\\  ir  wollen  endlich  noch  die  Auswanderung  einer 
Reihe  Bundesstaaten  mit  stark  entwickelter  Hausindustrie 
hier  zusammenstellen.  Wir  wählen  hierzu  das  Königreich 
Sachsen,  Sachsen- Weimar,  Sachsen-Meiningen,  Sachsen- 
Coburg-Gotha  und  die  beiden  Reuss.  Aus  diesen  Bundes- 
staaten wanderten  im  Jahre  1891  5 504  Individuen,  d.  s. 
2 134  mehr  als  im  Durchnitte  der  Jahre  1887—1890,'  1 926 
mehr  als  im  Jahre  1890  (3  578),  2 308  mehr  im  Jahre  1889 
(3  196),  2 238  mehr  als  fahre  1888  (3  266)  und  endlich  2 065 
mehr  als  im  Jahre  188/  (3  439)  aus.  Es  lässt  sich  darnach 
wohl  der  Schluss  ziehen,  dass  die  Lage  der  Hausindustriellen 
im  Jahre  1891  bedeutend  schlechter  war  als  in  den  voraus- 
gegangenen vier  Jahren. 

Zur  Statistik  selbst  wäre  noch  zu  bemerken,  dass  die 
amtlich  publizirten  Zahlen  kein  genaues  Bild  der  deutschen 
Auswanderung  geben  können,  da  die  zahlreichen  über 
Havre  und  englische  Häfen  auswandernden  Reichsbürger 
nicht  ermittelt  sind. 

Die  russische  Regierung  und  die  Huugersnoth.  Die 

russische  Regierung  versuchte  zuerst  durch  Massreo-eln 
zur  Regelung  des  Getreidehandeis  und  durch  Staatsunter- 
stützungen  in  Geld  und  Korn  an  die  Bauern  der 
Hungersnoth  abzuhelfen.  Die  ersteren,  so  namentlich  das 
Getreideausfuhrverbot,  hatten  nicht  den  erhofften  ErfoG, 
woran  der  schlechte  Zustand  der  Eisenbahnen  und  die  Un- 
entschlossenheit der  Regierung  Schuld  trugen.  Auch  durch 
die  staatlichen  Unterstützungen,  welche  durchaus  unzu- 
reichend waren,  konnte  die  Lage  der  nothleidenden  Bauern 
nicht  wesentlich  verbessert  werden,  sie  blieben  schon  wegen 
des  mangelnden  Einverständnisses  zwischen  der  Central- 
i egierung  und  ihren  lokalen  Organen,  so  wie  auch  wegen 
der  zahlreichen  Unterschlagungen  oft  erfolglos. 

Diese  Massnahmen  erwiesen  sich  als  unzureichend; 
die  Noth  wuchs,  während  die  für  Bekämpfung  derselben 
vorhandenen  Mittel  sich  erschöpften. 

Durch  einen  Ukas  des  Zaren  wurde  hierauf  ein  Notli- 
standskomitee  ins  Leben  gerufen,  das  der  administrativen 
Knse  ein  Ende  machen  sollte.  Das  Nothstandskomitee 
sollte  die  Wohlthätigkeit  organisiren  und  konzentriren.  Die 
Einberufung  des  fviothstanclskomitees  als  sozialpolitische 
Aktion  betrachtet,  war  ebenso  irrationell  wie  bezeichnend 
für  die  russischen  Zustände. 

Irrationell  war  die  Ernennung  dieses  Komitees  des- 
halb, weil  die  Privatwohlthätigkeit  weder  Konzentrierung, 
noch  Organisirung  bedurfte  und  weil  die  grossartige 
Entwickelung,  welche  che  Wohlthätigkeit  in  Russland  er- 
langt hatte, , in  hohem  Masse  eben  durch  ihre  Freiheit  von 
offiziellem  Zwang  bedingt  war. 

Die  Wohlthätigkeit  hatte  ihre  natürlichen  Konzentra- 
tionspunkte in  den  Redaktionen  grosser  Zeitungen  und  in 
hervorragenden  Persönlichkeiten  gefunden.  Iure  Organi- 
sation  war  einfach  und  zugleich  zweckmässig.  Und  die 
Opferwilligkeit  wuchs  fast  m gleichem  Masse,  wie  die 
.Staatsmassnahmen  ihr  Ziel  verfehlten  und  die  Er- 
bffterung  gegen  die  Regierung  zunahm.  Durch  die 
Schöpfung  des  Nothstandskomitees  wurde  ihr  nun  ein  Ende 
bereitet. 

Das  Nothstandskomitee  besteht  aus  verschiedenen 
hochgestellten  Personen,  die  weder  genaue  Kenntniss  der 
Sache,  die  ihnen  anvertraut  ist,  besitzen,  noch  in  irgend 
einer  Beziehung  zu  ihr  stehen,  und  die  ausserdem  unver- 
antwortlich sind. 

Daher  konnte  das  Komitee  von  Anfang  an  auf  das 
\ ei  trauen  der  Gesellschaft  nicht  hoffen.  Trotzdem  trat  es 
der  Privatwohlthätigkeit  in  den  Weg  und  hat  sogar  das 
Emsammeln  von  Geld  zum  Besten  cler  Nothleidencien  den 
von  ihm  dazu  nicht  ausdrücklich  befugten  Personen  ver- 
boten. 

Zu  seinen  Vollziehungsagenten  aber  hat  das  Komitee 
den  Eparchialressort,  die  Gouverneure  und  die  lokalen 
Sektionen  der  Gesellschaft  des  Rothen  Kreuzes  erwählt, 
von  denen  der  erste  wegen  der  Desorganisation  und  der 
Bestechlichkeit  der  Beamten  in  ziemlich  schlechten  Ruf 


steht,  die  zweiten  gar  keine  Berührung  mit  dem  Volke 
haben,  und  die  dritten  sich  nur  durch  schlechte  Verwaltung 
und  Unthätigkeit  auszeichnen. 

Bisher  hat  das  Nothstandscomitee  die  unbedeutende 
Summe  von  789  737  Rubel  eingesammelt.  Seine  Bedeutung 
aber  ist  in  den  negativen  E'olgen  seiner  Kreirung  zu 
suchen,  die  uns  hier  nicht  weiter  interessieren,  obwohl 
gerade  sie  vielleicht  seine  raison  d’etre  bilden. 

Ermittelungen  über  die  landwirtschaftliche  Boden- 
verschulduug  in  der  Schweiz.  Am  16.  Juni  1891  beauf- 
tragte der  Nationalrath  den  Bundesrath,  eine  Zusammen- 
stellung der  Thatsachen  zu  veranlassen,  welche  über  die 
landwirtschaftliche  Bodenverschuldung  und  ihre  Folgen 
in  Erfahrung  gebracht  werden  können.  In  Ausführung 
dieses  Beschlusses  richtete  das  schweizerische  Landwirth- 
schattsdepartement  an  sämmtliche  Kantonregierungen  unter 
dem  5.  Februar  d.  J.  ein  Kreisschreiben,  dem  wir  entnehmen, 
dass  der  Bundesrath  weniger  Werth  auf  eine  genaue  Stati- 
stik der  Bodenverschuldung,  als  vielmehr  auf  eine  Darstel- 
lung des  Ganges  dieser  Verschuldung  im  Allgemeinen,  der 
Ursachen  und  der  Folgen  derselben  legt. 

Sparkassen  im  Dienst  des  Arbeiterwohls.  In  einer 
Zeit,  wo  so  häufig  geklagt  wird,  dass  die  Sparkassen  ihrem 
ursprünglich  gemeinnützigen  Zweck  vielfach  untreu  ge- 
worden und  m reine  Erwerbs-  und  Spekulationsgeschälte 
umgewandelt  würden,  ist  es  doppelt  erfreulich  zu  sehen, 
wie  einzelne  Verwaltungen  solcher  Kassen  thatkräftig  der 
praktischen  Sozialrelorm  Vorschub  leisten,  ja  sogar  selbst 
auf  diesem  Gebiete  vorangehen.  Es  ist  bekannt,  welchen 
strengen  \ orschriften  die  iranzösischen  Sparkassen  hinsicht- 
lich der  Anlage  der  Sparkassengelder  unterworfen  sind,  wie 
wenig  Aktionsfreiheit  sie  besitzen,  und  doch  gibt  es  gerade 
unter  diesen  solche,  welche  in  ihren  Bestrebungen  für 
Hebung  des  Arbeiterwohls  den  Sparkassen  anderer  Länder 
ein  nachahmungswerthes  Beispiel  geben. 

Besondere  Erwähnung  verdient  in  dieser  Hinsicht  die 
Caisse  d'Epargne  et  de  Prevoyance  des  Bouches-du-Rhone 
in  Marseille.  Liese  Kasse  hat  ein  Einlagekapital  von  nahe- 
zu 60  Millionen  Francs  und  zählt  27  Hüffsbureaus  und 
E ilialen.  Wie  wir  dem  von  ihrem  Präsidenten,  Eugene 
Rostand  für  1890  erstatteten  Bericht  entnehmen,  hat  die 
Kasse  mit  einem  Betrag  von  ca.  150  000  Francs  ein  Ar- 
beiterquartier erstellen  fassen  und  sich  gleichzeitig  mit 
40  Aktien  im  Betrage  von  20  000  Francs  an  einem  Unter- 
nehmen für  den  Bau  gesunder  Wohnungen  betheiligt. 
Ausserdem  verwendet  sie  jährlich  l/io  des  Reingewinns  für 
soziale  Zwecke.  Für  das  Jahr  1890  belief  sich  die  bezüg- 
liche Summe  auf  1 1 000  Franks.  Das  Zehntel  wird  ver- 
wendet für  Prämien  auf  Spareinlagen  für  Miethe  und  auf 
Spareinlagen  für  Abzahlungen  auf  Vorschüsse,  welche  Ar- 
beitern ohne  andere  Deckung  als  auf  das  ehrliche  Ver- 
sprechen der  Rückzahlung  gewährt  werden,  ferner  für  Ein- 
richtungen von  Werkstätten  und  überhaupt  zu  Zwecken 
der  Arbeitsbeschaffung. 

Durch  den  Bau  von  Arbeiterhäusern  will  die  Spar- 
kasse die  Erwerbung  eines  eigenen  Heims  ähnlich  den 
englischen  Buildings  associations  fördern.  In  gleicher 
Weise  hat  die  Sparkasse  in  Mailand  für  80  000  Francs 
Aktien  in  der  Societä  edificatrice  di  case  operaie  über- 
nommen. Auch  in  den  Vereinigten  Staaten  gibt  es  Spar- 
institute, welche  ihren  Mitgliedern  Häuser  abtreten,  weiche 
nach  und  nach  durch  Spareinlagen  als  Eigenthum  erworben 
werden  können. 

Die  Darlehen  gegen  blosses  Rückzahlungsversprechen, 
welche  von  den  italienischen  Sparkassen  und  Volksbanken 
schon  längst  gewährt  werden,  haben  sich  für  die  Arbeiter 
als  grosse  VY  olilthat  erwiesen  und  durchaus  nicht  die  nach- 
theiligen  Folgen  gehabt,  wie  man  befürchtete.  Das  WTort 
des  ehrlichen  Aroeiters  hat  sich  als  ebenso  gutes  Pfand 
wie  jedes  andere  erwiesen.  Selbstverständlich  handelt  es 
sich  hier  nicht  um  grosse  Vorschüsse;  der  Zweck  ist,  mo= 
mentan  bedrängten  ehrlichen  Arbeitern  auf  diskrete  Weise 
aus  der  Verlegenheit  zu  helfen.  Bei  der  kooperativen  Ar- 
beiterbank in  Mailand,  welche  seit  1884  besteht,  beläuft 
sich  der  Verlust  an  den  sehr  zahlreichen  Vorschüssen  dieser 
Art  kaum  auf  1 %• 


No.  8. 


SOZIALPOLITISCHES  CKNTRALBLATT. 


105 


Arbeiterzustände. 


Eine  Aufnahme  der  ländlichen  Arbeiterverhältnisse. 

Unter  diesem  Titel  bringt  No.  6 des  Sozialpolitischen 
Centralblattes  eine  abfällige  Kritik  der  jetzt  im  Gang  be- 
findlichen Enquete  des  Vereins  für  Sozialpolitik  oder  viel- 
mehr des  zu  diesem  Zwecke  vertheilten  Fragebogens  von 
Herrn  Dr.  Max  Quarck. 

Obwohl  es  nicht  schwer  fallen  dürfte,  nachzuweisen, 
dass  dieselbe  in  ihren  wesentlichen  Punkten  unbegründet 
ist,  will  ich  doch  hier  zur  Zeit  auf  alle  Einzelheiten  nicht 
eingehen,  um  so  weniger  als  gar  nicht  alle  Schritte  und 
Massnahmen  schon  heute  feststehen.  Die  Einleitung  des 
betreffenden,  hoffentlich  im  Spätsommer  erscheinenden 
Bandes  wird  seiner  Zeit  genau  darüber  berichten , was 
der  Verein  für  Sozialpolitik  'wollte,  that  und  nach  seinen 
Mitteln  konnte.  Der  unparteiische  Leser  wird  dann  selbst 
urtheilen  können,  ob  demgemäss  das  Verfahren  zu  tadeln, 
und  ob  es  recht  und  billig  sei,  so  im  Voraus  gegen  künftig 
erscheinende  wissenschaftliche  Arbeiten  Stimmung  zu 
machen. 

Ich  will  heute  nur  drei  Punkte  konstatiren. 

1.  hat  Herr  Dr.  Quarck  nur  den  Fragebogen  gekannt, 
welcher  in  einigen  tausend  Exemplaren  an  die  einzelnen 
landwirthschaftlichen  Arbeitgeber  versandt  wurde;  derselbe 
beschränkt  sich  in  wohlerwogener  Absicht  auf  die  Eruirung 
solcher  Thatsachen,  hinsichtlich  deren  eine  zuversichtliche 
Feststellung  von  jedem  Landwirth  erwartet  und  in  Form 
von  kurzen  wo  möglichen  zahlenmässigen  Antworten  ge- 
geben werden  könnte.  Was  Herr  Dr.  Quarck  in  diesem 
Fragebogen  vermisst,  sind  lauter  Fragen  (über  Sonn-  und 
Festtagsarbeit,  Ueberanstrengung  durch  zu  lange  und  un- 
geeignete Arbeit,  namentlich  der  Frauen  und  Kinder,  Be- 
schaffenheit der  Wohnung  und  Kost,  Bildungsverhältnisse, 
Mängel  der  Gesindeordnungen),  über  die  nach  unserer  An- 
sicht nicht  jeder  Interessent  zu  fragen  war,  über  die  man 
nicht  im  Rahmen  eines  auszufüllenden  Formulars  Antworten 
einfordern  konnte.  In  Bezug  auf  diese  Dinge  ist  erst  in 
jüngster  Zeit  ein  besonderer  Schriftsatz  an  geeignete  aus- 
gewählte Persönlichkeiten  gegangen,  mit  dem  Ersuchen, 
uns  darüber  ihre  örtlichen  Erfahrungen  und  ihre  Urtheile 
in  eingehender  Darstellung  zukommen  zu  lassen. 

2.  die  Kommission,  welche  der  Ausschuss  des  Vereins  für 
Sozialpolitik  für  die  Leitung  der  Enquete  gewählt  hat,  be- 
steht aus  den  Herren  Dr.  Thiel,  Conrad  und  Sering,  d.  h. 
denjenigen  Sachverständigen  aus  seiner  Mitte,  die  er  für  die 
besten,  mit  den  Verhältnissen  des  deutschen  Ostens  ver- 
trautesten hielt  und  für  die  zugleich  allein  die  Möglichkeit 
vorlag,  sich  öfter  in  Berlin  zu  sehen  und  zu  sprechen. 
Wenn  Herr  Dr.  Quarck  tadelt,  dass  man  nicht  die  Herren 
Dr.  Knapp,  Bücher  und  Schnapper-Arndt  zugezogen  habe, 
so  übersieht  er,  dass  schon  ihr  Wohnort  sie  von  der  aktiven 
Theilnahme  ausschloss  und  dass  die  beiden  letzteren  über 
ländliche  Arbeiterverhältnisse  des  deutschen  Ostens  nie  ge- 
arbeitet, sie  wahrscheinlich  nie  gesehen  haben. 

3.  was  die  Befragung  der  Arbeiter  selbst  betrifft,  so 
hätte  die  Kommission  nichts  mehr  gewünscht,  als  dies  thun 
zu  können.  Aber  „ein  Schelm  gibt  mehr,  als  er  hat“.  Man 
war  sich  klar,  dass  eine  Befragung  derselben,  — da  wir  über 
„Staatsbehörden“  nicht  verfügen,  wie  Herr  Dr.  Quarck 
zu  glauben  scheint,  auch  als  Verein  gar  nicht  wünschen, 
uns  solcher  ausschliesslich  zu  bedienen  — nur  möglich 
wäre,  wenn  wir  die  persönlichen  und  die  sehr  grossen 
Geldmittel  hätten,  sie  durch  monatelang  herumreisende 
Sachverständige  ausführen  zu  lassen.  Dazu  fehlte  uns 
jedenfalls  das  Geld,  auch  wenn  wir  vielleicht  die  Personen 
gefunden  hätten.  Die  Einnahmen  des  Vereins  sind  sehr 
bescheiden.  Er  lieferte  in  den  letzten  Jahren  jedem  Mit- 
glied für  10  Mk.  Jahresbeitrag  Schriften  für  etwa  30  Mk. 
er  wird  deshalb  auch  seinen  Beitrag,  so  ungern  er  es  thut, 
auf  15JMk.  erhöhen  müssen.  Nur  durch  persönliche  Opfer, 
durch  zeitweilige  Deckung  des  Defizits  seitens  einzelner 
Ausschussmitglieder,  durch  Honorarverzicht  einzelner  Mit- 


arbeiter etc.  kann  der  Verein  finanziell  bestehen  und  seine 
umfangreichen  wissenschaftlichen  Arbeiten  ausführen.  Dem- 
gegenüber ist  es  unendlich  billig  zu  sagen,  ihr  müsst  Er- 
hebungen machen,  wie  sie  nur  von  parlamentarischen  oder 
staatlichen  Kommissionen,  die  über  unbeschränkte  Mittel 
verfügen,  ausgeführt  werden  können. 

Auch  die  Vorwürfe,  die  seiner  Zeit  dem  Band  35  der 
Schriften  des  Vereins  über  den  Wucher  auf  dem  Lande 
gewiss  in  bester  Absicht  gemacht  wurden  und  auf  die  Herr 
Dr.  Quarck  zurückkommt,  beruhten  auf  einer  ähnlichen  Ver- 
kennung der  Mittel  und  Möglichkeiten  eines  solchen  Vereins. 
Sie  forderten  Unmögliches  und  erörterten  das  Entscheidende 
gar  nicht,  nämlich  ob  Männer  wie  Ministerialrath  Metz, 
Ministerialrath  Buchenberger,  Regierungsrath  Drolshagen, 
Freiherr  von  Cetto,  Landrath  Knebel,  Dr.  Franz-Weimar 
und  alle  die  anderen  Mitarbeiter  nicht  eine  seit  Jahrzehnten 
angesammelte  grosse  Erfahrung  und  Sachkenntniss  besitzen 
und  also  von  dem  Wucher  auf  dem  Lande  das  wahrste  Bild 
entwerfen  können.  Die  kleinlich  nörgelnden  Kritiken 
haben  in  ihrer  Wirkung  nur  dazu  gedient,  die  immerhin 
trotz  ihrer  Unvollkommenheit  beste  und  objektivste  Auf- 
deckung der  schnöden  Kreditausbeutung  und  Bewucherung 
der  kleinen  Leute  auf  dem  Lande,  die  wir  in  Deutschland 
besitzen,  zu  verdächtigen;  d.  h.,  sie  haben  die  Geschäfte 
der  Wucherer  besorgt  und  die  Wahrheit  verschleiert,  statt 
sie  aufzuhellen. 

Berlin.  Gustav  Schmoller, 

Vorsitzender  des  Ausschusses  des  Vereins  für  Sozialpolitik. 


Erwiderung. 

Die  Entgegnung,  die  Herr  Professor  Schmoller,  ein  so 
verdienstvoller  Forscher  auf  sozialgeschichtlichem  Gebiete, 
zu  diesem  mehr  praktischen  Gegenstände  an  den  Heraus- 
geber des  Sozialpolitischen  Centralblattes  gesandt  hat,  lässt 
deutlich  erkennen,  dass  ihm  meine  Haupteinwendungen  gegen 
die  neue  „Aufnahme“  des  Vereins  für  Sozialpolitik  nicht  ganz 
verständlich  geworden  sind.  Ich  freue  mich  deshalb,  dem 
Vorsitzenden  des  Vereinsausschusses  an  der  Hand  des  neuen 
und  sehr  dankbaren  Materials,  das  er  uns  liefert,  meine 
Aussetzungen  jetzt  dadurch  näher  bringen  zu  können,  dass 
ich  seiner  Entgegnung  Punkt  für  Punkt  folge. 

1.  Herr  Professor  Schmoller  glaubt  zunächst,  ich  hätte 
„im  Voraus  gegen  künftig  erscheinende  wissenschaftliche 
Arbeiten  Stimmung  machen“  wollen,  und  dieser  Verdacht 
hat  ihn  sicher  von  vornherein  daran  gehindert,  meinen 
Ausführungen  unbefangen  zu  folgen.  Ich  bin  in  der  glück- 
lichen Lage,  ihm  hier  eine  kleine  Verwechslung  nachweisen 
und  mich  gründlich  von  dem  schnöden  Verdacht  reinigen 
zu  können.  Es  handelt  sich  in  unserem  Falle  um  die 
Vorbesprechung  einer  sozialstatistischen  „Aufnahme“.  Bei 
einer  „Aufnahme“  kann  hauptsächlich  Zweierlei  wissen- 
schaftlich nachgeprüft  werden:  ihre  Methode  und  ihre 

Ergebnisse.  Die  Nachprüfung  der  Methode  darf  bereits 
vorgenommen  werden,  ehe  die  Erhebungsresultate  vor- 
liegen, wenn  sie  als  feststehend  offengelegt  ist.  In  dem 
Dezember-Rundschreiben  des  Ausschusses  des  Vereins  für 
Sozialpolitik,  welches  ich  nebst  Fragebogen  auf  Wunsch  des 
Herausgebers  dieser  Zeitschrift  in  No.  6 besprach,  wurde 
die  Methode  der  beabsichtigten  „Aufnahme“  ländlicher  Ar- 
beiterverhältnisse von  der  Sammlung  des  Urmaterials  an 
bis  zur  Drucklegung  der  Ergebnisse  offen-  und  klargelegt. 
Dass  diese  Offen-  und  Klarlegung  eine  ziemlich  vollständige 
war,  ist  Herrn  Professor  Schmoller  offenbar  entgangen:  er 
würde  sonst  seine  Mittheilung  in  Absatz  1,  dass  „erst  in 
jüngster  Zeit  ein  besonderer  Schriftsatz  an  geeignete  aus- 
gewählte Persönlichkeiten  gegangen“  sei  „mit  dem  Ersuchen, 
uns  darüber  ihre  örtlichen  Erfahrungen  und  ihre  Urtheile 
in  eingehender  Darstellung  zukommen  zu  lassen“  — er  würde 
diese  Thatsache  sonst  nicht  als  etwas  Neues  hinstellen,  das 
ich  nicht  gewusst  hätte  und  in  dessen  Unkenntniss  ich  „im 
Voraus“  geurtheilt  hätte.  Das  Dezember-Rundschreiben  des 


106 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  8. 


Ausschusses  erwähnt  auch  bereits  dieGeneralberichterstatter, 
von  denen  Herr  Professor  Schmoller  jetzt  ausführlicher 
spricht.  Was  mir  Herr  Professor  Schmoller  jetzt  be- 
weist, ist  nur  Etwas,  was  ich  ohne  Schande  zugestehen 
kann.  Ich  war  in  meiner  Kritik  so  optimistisch  gewesen, 
zu  glauben,  dass  jenen  Generalberichterstattern  die  bei  der 
Sammlung  des  Urmaterials  versäumte  direkte  Befragung  der 
Arbeiter  in  Gestalt  von  Stichproben  nahegelegt  werden 
könnte.  Herr  Professor  Schmoller  belehrt  mich,  dass  ich 
diese  Hoffnung  auf  eine  nachträgliche  Vervollkommnung 
der  „Aufnahme“  von  vornherein  hätte  fahren  lassen  sollen. 
„Lasciate  ogni  speranza“  — dies  Motto  gilt  offenbar  auch 
für  verfehlt  angefangene  „Aufnahmen“  des  Vereins  für 
Sozialpolitik,  und  es  ist  ein  recht  magerer  Trost  für  den 
Hoffnungslosen,  dass  die  „geeigneten,  ausgewählten  Persön- 
lichkeiten“ vielfach  identisch  mit  den  Ministerialräthen, 
Landräthen  und  Freiherren  sein  dürften,  die  Herr  Professor 
Schmoller  von  der  Wucherenquete  her  erwähnt.  Die  „ört- 
lichen Erfahrungen  und  Urtheile“  dieser  Herren  können  nun 
einmal  vor  keinem  wissenschaftlichen  Forum  als  Ersatz  für 
die  Befragung  der  Hauptbetheiligten,  der  Arbeiter,  gelten, 
zumal,  wenn  lediglich  eine  ganz  einseitige  Befragung  der 
Unternehmer  vorangegangen  ist,  bezüglich  deren  Herr  Pro- 
fessor Schmoller  jetzt  selbst  zugesteht,  dass  sie  über  die 
wichtigsten  Fragen  keine  hinreichende  Auskunft  geben 
können.  Ich  vermag  mir  also  eine  gründlichere  Bestätigung 
der  Verfehltheit  des  Erhebungsprogramms,  wie  es  bereits 
durch  das  Dezember-Rundschreiben  des  Ausschusses  zu 
meiner  Men  nt  n iss  kam,  seitens  des  Herrn  Professor  Schmoller 
nicht  vorzustellen.  Meine  sachliche  Kritik  der  verfehlten 
Methode  hoffte  eben  noch  eine  Verbesserung  der  „Aufnahme“ 
zu  erzielen,  und  sie  konnte  dies  nur  dann,  wenn  sie  so  bald 
als  möglich,  jedenfalls  vor  Abschluss  der  Enquete,  veröffent- 
licht wurde.  Wollte  Herr  Schmoller  eine  sachliche  Ent- 
gegnung meiner  Kritik  schreiben,  so  musste  er  auf  meine 
methodologischen  Aussetzungen  eingehen.  Leider  vermeidet 
er  dies  gerade. 

2.  Schweres  Geschütz,  dem  ich  den  Respekt  unmög- 
lich versagen  kann,  fährt  Herr  Professor  Schmoller  gegen 
mich  auf,  indem  er  die  „persönlichen  Opfer,  die  zeitweilige 
Deckung  des  Defizits  seitens  einzelner  Ausschussmitglieder, 
den  Honorarverzicht  einzelner  Mitarbeiter“  als  die  einzig- 
artigen Vorbedingungen  erwähnt,  unter  denen  der  Verein 
für  Sozialpolitik  bis  jetzt  seine  Arbeiten  leisten  konnte  und 
ich  gerathe  beinahe  in  das  Odium,  nicht  ganz  ohne  Schuld 
an  der  geplanten  Beitragserhöhung  zu  sein,  da  ich  so 
exorbitante  Forderungen  an  einen  Verein  stelle,  der  jetzt 
schon  jene  grossen  Opfer  erheischte.  Mir  will  es  jedoch 
scheinen,  als  ob  Herrn  Professor  Schmoller  auch  hier 
wider  W illen  eine  kleine  Verwechslung  zwischen  Ursache 
und  W irkung  unterliefe.  Der  Verein  für  Sozialpolitik 
wird  nicht  durch  seine  schwachen  Mittel  in  der  gründ- 
lichen Verfolgung  wissenschaftlicher  Ziele  gehemmt, 
sondern  er  kommt  nur  dann  in  Gefahr,  jene  Gründ- 
lichkeit aus  dem  Auge  zu  verlieren,  wenn  er  seine  Lhiter- 
nehmungen  seinen  Mitteln  nicht  anpasst.  Ein  Verein  für 
Sozialpolitik  sollte  eben  nur  Dinge  anfassen,  die  er  wissen- 
schaftlich erschöpfen  kann  — im  andern  Falle  riskirt  er, 
Halbheiten  zu  begünstigen,  die  schliesslich  doch  unter 
seinem  Namen  mit  dem  Anspruch  wissenschaftlicher  Voll- 
ständigkeit und  Gründlichkeit  auftreten.  Es  giebt  wich- 
tige Aufgaben  genug,  die  er  auch  mit  seinen  schwachen 
Mitteln  bewältigen  kann,  und  wenn  er  deshalb  einmal  auch 
gegen  10  Mark  Jahresbeitrag  nicht  „für  etwa  30  Mark  ; 
Schriften“  im  Jahre  durch  Zuziehung  eines  Buchhändler- 
mitgliedes vertheilt,  so  wird  dies  seiner  wissenschaftlichen  : 
Bedeutung  weit  weniger  schaden,  als  mangelhaft  durch- 
gei ährte  Enqueten.  Wenn  nun  im  vorliegenden  Falle  nach 
der  Ansicht  des  Vereinsausschusses  eine  „Aufnahme“  länd- 
licher Arbeiterverhältnisse  durch  den  Verein  vorgenommen 
werden  sollte,  so  musste  die  Methode  der  Erhebung  auch 
der  Ankündigung  des  Ausschusses  entsprechen,  dass  eine 
„klare  und  zuverlässige  Darlegung  der  thatsäschlichen  Ver- 
hältnisse“ erzielt  werden  solle,  „um  vorhandene  Schäden  im 
ganzen  Arbeitsverhältniss  verbessern,  mangelhaften  Zustän- 


den abhelfen,  unberechtigten  Anforderangen  mit  Erfolg 
entgegentreten  und  die  öffentliche  Meinung  und  damit  auch 
den  Gang  der  Gesetzgebung  rechtzeitig  beeinflussen  zu 
können“.  Hier  setzte  meine  Kritik  ein:  ich  suchte  nach- 
zuweisen, dass  diese  hochgesteckten  Ziele  mit  den  vom 
Ausschuss  gewählten  und  dem  Verein  zu  Gebote  stehenden 
Mitteln  nicht  zu  erreichen  seien  und  dass  man  deshalb 
die  Aufgabe  enger  begrenzen  müsse  („Stichproben“).  Herr 
Professor  Schmoller  ist  mir  auf  diese  Einwendung  ebenfalls 
die  Antwort  schuldig  geblieben,  die  ich  aus  so  autoritativem 
Munde  mit  hohem  Interesse  entgegengenommen  hätte.  Viel- 
leicht hinderte  ihn  auch  hier  ein  fatales  Missverständniss. 
Er  sagt,  ich  muthete  dem  Verein  Erhebungen  zu,  wie  sie 
nur  von  staatlichen  oder  parlamentarischen  Kommissionen 
ausgeführt  werden  könnten  und  ich  „scheine  zu  glauben“, 
dass  der  Verein  für  Sozialpolitik  über  Staatsbehörden  ver- 
füge; in  Wirklichkeit  schrieb  ich:  „dieser  Weg“  (die  Be- 
nutzung der  Staatsbehörden)  wäre  freilich  kaum  gangbar 
gewesen.“ 

3.  Sicher  nähert  sich  Herr  Prof.  Schmoller  auch  meiner 
Auffassung  von  der  Art  und  Weise,  wie  die  Kommission  zur 
Abfassung  des  Fragebogens  hätte  zusammengesetzt  werden 
müssen,  wenn  ich  ihm  dieselbe  an  der  Hand  der  Einzelheiten 
verdeutliche,  welche  er  in  seiner  „Entgegnung“  mittheilt, 
Ich  tadelte  die  unterlassene  Heranziehung  solcher  Vereinsmit- 
glieder, welche  sich  bereits  als  Kenner  der  methodologischen 
Vorfragen  für  Enqueten  wissenschaftlich  und  praktisch  be- 
währt haben  und  nannte  beispielsweise  Knapp  wegen  seiner 
Arbeiten  über  bäuerliche  Verhältnisse,  Bücher  wegen  der 
von  ihm  trefflich  geleiteten  Baseler  Wohnungsenquete, 
Schnapper-Arndt  wegen  seiner  Erhebungen  über  die  länd- 
lichen Hausindustriellen  im  Taunus  und  seiner  Schrift  über 
die  Methodologie  sozialer  Enqueten.  Herr  Prof.  Schmoller 
antwortet  mir,  dass  zwei  dieser  Herren  „nie  über  ländliche 
Arbeiterverhältnisse  des  Ostens“  (woher  auf  einmal  nur  des 
„Ostens?“)  „gearbeitet  hätten“  und  weniger  leicht  zu  Kon- 
ferenzen hätten  zusammen  kommen  können.  Das  sind  doch 
aber  Dinge,  welche  für  die  in  erster  Linie  in  Betracht 
kommende  methodologische  Qualifikation  und  die  Berück- 
sichtigung derselben  bei  der  Auswahl  der  Verfasser  des 
Fragebogens  nicht  ausschlaggebend  sind.  Herr  Professor 
Schmoller  ist  in  der  wissenschaftlichen  Systematik  viel  zu 
sehr  geschult,  als  dass  er  mir  dies  nunmehr  nicht  zuge- 
stehen könnte. 

4.  Bisher  bin  ich  Herrn  Prof.  Schmoller  überall  gern 
in  seinen  Ausführungen  gefolgt.  Er  verzeiht  mir  es  deshalb 
gewiss,  wenn  ich  mich  weigere,  ihm  auf  das  Gebiet  zu 
folgen,  das  er  mit  dem  Satze  betritt:  Diejenigen,  welche 
Schnapper- Arndt’s  Ansichten  über  die  verfehlte  Wucher- 
enquete des  Vereins  für  Sozialpolitik  theilten,  besorgten 
in  ihrer  Wirkung  „die  Geschäfte  der  Wucherer“.  Wollte 
ich  hier  folgen,  so  könnte  ich  nach  derselben  Schablone 
aus  einer  sehr  fragwürdigen  Fabrik  antworten:  „die  Auf- 
nahme über  ländliche  Arbeiterverhältnisse  in  ihrer  vor- 
liegenden Gestalt  besorgt  in  der  Endwirkung  die  Geschäfte 
der  ländlichen  Unternehmer“.  Ich  nehme  aber  gern  den 
Tadel  auf  mich,  hier  hinter  Herrn  Prof.  Schmoller  zurück- 
geblieben zu  sein  und  das  Gebiet  vermieden  zu  haben,  zu 
dessen  Betretung  er  mich  einlud,  zumal  ich  mir  sachlich  und 
formell  nichts  damit  vergebe.  Schnapper-Arndt’s  Schrift 
bezweckt  ja  gerade,  wie  mir  jeder  Leser  derselben  bestä- 
tigen wird,  eine  Verbesserung  künftiger  Wucherenqueten, 
damit  dieselben  gründlicheres  Material  zur  Bekämpfung 
der  ländlichen  Kreditausbeutung  liefern,  als  Band  35  der 
Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik.  Auch  der  Umstand, 
dass  ich  mich  bei  Besprechung  einer  Arbeiterenquete,  die 
mit  der  Frage  des  Wuchers  gar  nichts  zu  thun  hat,  auf 
die  Ausführungen  Schnapper’s  berufen  konnte,  beweist, 
dass  der  letztere  in  jener  Schrift  zu  wissenschaftlichen  Er- 
gebnissen gelangt  ist,  deren  Bedeutung  weit  über  den 
damals  in  Frage  stehenden  Gegenstand  hinausreichen.  Ich 
bescheide  mich  deshalb  mit  diesem  Hinweis  und  hoffe, 
der  wissenschaftlichen  Behandlung  der  Sache  damit  einen 
Dienst  erwiesen  zu  haben. 

Frankfurt  a.  M. 


Max  Quarck. 


No.  8. 


SOZI  ALPOL1TISCHES  CENTRALBLATT. 


107 


Die  Nothlage  in  der  schweizerischen  Stickereiindnstrie. 

Eine  Reihe  von  Stickereiarbeitern  veröffentlichen  in  der  „Ost- 
schweiz“ folgende  Zahlen,  die  ein  grelles  Licht  auf  die  elenden 
Verhältnisse  in  den  Stikereikreisen  werfen:  Ein  Sticker,  der 
im  Tage  2000  Stiche  macht  - was  nach  den  Gewährsleuten  der 
„Ostschweiz“  nur  bei  guter  Waare  möglich  ist  — , nimmt  im 
Jahr  900  Franken  ein.  Davon  geht  der  Fädlerlohn  ab,  mindestens 
8 Franken  in  der  Woche,  und  für  den  Nachsticklohn  120  Franken, 
also  sind  abzuziehen  im  Ganzen  536  Franken.  Somit  bleiben 
dem  Sticker  364  Franken  zum  Lebensunterhalt  für  sich  und 
seine  Familie.  Ein  lediger  Sticker  hat  für  die  Woche  mindestens 
10  Franken  an  Kost  und  Wohnung  zu  bezahlen;  das  macht  im 
Jahr  520  Franken;  er  hat  somit  für  16  Wochen  Nichts  im  Sack, 
und  dürfte  eigentlich  nur  36'/2  Wochen  im  Jahre  leben.  Die 
billigste  Familienwohnung  um  St  Gallen  herum  kostet 
240  Franken.  Somit  bleiben  dem  Sticker  für  Lebensmittel, 
Kleider,  Schuhe  u.  s.  w.  124  Franken  für  sich  und  seine  Familie. 
Zu  wenig  zum  Leben,  zu  wenig  selbst  zum  Sterben.  Eine 
Menge  dieser  armen  Leute  hat  Arbeit  gesucht  und  gefunden  bei 
den  Dammbauten  am  Rheine;  aber  auch  da  verdienen  nur  die 
Wenigsten  den  höchsten  Lohn  von  2 Fr.  50  Rp  ; die  Mehrzahl 
bleibt  aut  dem  Minimallohn  von  1 Fr.  70  Rp.;  denn  die  Stickerei 
macht  den  Körper  nicht  geeignet  zum  Sandschaufeln  und  Karren- 
stossen.  Oft  wenn  das  Wetter  gar  zu  schlecht  ist,  muss  zudem 
die  Arbeit  am  Damm  eingestellt  werden,  und  dann  verdienen 
die  Armen  gar  nichts. 

An  einer  anderen  Stelle  schreibt  das  gleiche  Blatt: 

„Wir  malen  durchaus  nicht  zu  schwarz,  wenn  wir  sagen, 
dass  in  unsern  Arbeiterkreisen  jene  Gährung  Platz  zu  greifen 
beginnt,  welche  zur  Raserei  der  Verzweiflung  werden  kann; 
man  hört  heute  Leute  vom  „Ueber  den  Haufen  scbiessen“  in 
einem  Tone  reden,  als  ob  das  selbstverständlich  wäre,  und  zwar 
Leute,  die  in  einer  halbwegs  normalen  Zeit  jede  Gewaltthat  tief 
verabscheut  hätten.  . . Wir  möchten  befürworten,  dass  die  Mit- 
glieder der  Bundesversammlung  aus  den  Kantonen  Thurgau, 
St.  Gallen  und  Appenzell  in  der  ausserordentlichen  März-Session 
einen  Antrag  auf  sofortige  Bewilligung  eines  Nothstandkredites 
von  mindestens  fünf  Millionen  Franken  durch  den  Bund  ein- 
brächten. In  ähnlichen  Fällen  ist  man  in  Frankreich,  England 
und  andern  Staaten  auch  so  vorgegangen.  Ein  solcher  Kredit 
wäre  dann  auf  die  verschiedenen  Nothstandsgebiete  der  Schweiz 
zu  vertheilen;  solche  sind  ja  nicht  mehr  blos  die  Sitze  der 
Uhren-  und  Stickerei-Industrie,  sondern  auch  gewisser  Branchen 
der  Seiden-  und  Baumwollindustrie  “ 

Mittlerweile  hat  der  St.  Gallische  Regierungsrath  in  Sachen 
des  Nothstandes  auf  den  16.  d.  eine  Konferenz  von  Delegirten 
der  Kantonsregierungen  von  Thurgau,  Zürich,  beiden  Appenzell 
und  St.  Gallen,  sowie  des  Stickereiverbandes  einberufen,  an 
welcher  insbesondere  in  zwei  Richtungen  Berathungen  gepflogen 
werden  sollen: 

1.  Gewährung  eines  Rechtsstillstandes  für  die  vom  Noth- 
stand  betroffenen  Kreise  der  Stickerei-Industrie  (Art. 
62  des  eidg.  Betreibungsgesetzes); 

2.  Erhebungen  über  den  Nothstand  und  Mittel  und  Wege, 
um  demselben  zu  begegnen  und  die  Nothleidenden  zu 
unterstützen. 

Aus  der  Eingabe  heben  wir  folgende  Stellen  hervor: 

„Zweifellos  ist  ein  ganz  ausserordentlicher  Nothstand  vor- 
handen; eine  Masse  von  Stickereifamilien  stehen  erwerb-  und 
brodlos  auf  der  Strasse.  Viele,  sehr  viele  haben  fast  nichts  zu 
essen  und  sind  gezwungen,  um  Unterstützung  bei  mildthätigen 
Mitmenschen  nachzusuchen.  Wir  brauchen  uns  nicht  in  Schilde- 
rungen des  Elends  zu  ergehen,  das  uns  täglich  vor  Augen  tritt. 
Sie  kennen  dasselbe  zweifellos  aus  eigener  Anschauung  oder 
aus  der  Presse.  Die  Thatsachen  sind  notorisch.“ 

„Nach  allgemeiner  Auffassung  kann  es  nicht  zweifelhaft 
sein,  dass  die  gegenwärtige  Krisis  unserer  Hauptindustrie  als 
ein  Landesunglück  zu  taxiren  ist.  Der  Sinn  des  Gesetzes  kann 
wohl  nur  Landesunglück  betreffen,  das  vorübergehender  Natur 
ist;  ein  Moratorium  kann  nur  auf  beschränkte  Zeit  bewilligt 
werden.  Das  trifft  bei  industriellen  Krisen  zu.  Wenn  nun  die 
gegenwärtigen  Verhältnisse  der  Stickerei-Industrie  so  sind,  dass 
einzelne  Faktoren,  die  sie  niederdrücken,  dauernder  Art  sein 
dürften,  so  sind  doch  auch  mehrere  rasch  veränderliche  Momente 
vorhanden,  die  mit  Sicherheit  darauf  schliessen  lassen,  dass  eine 
verhältnissmässige  Besserung  nach  kürzerer  Zeit  eintreten  dürfte. 
Für  diese  Periode  ist  eine  Einstellung  des  Schuldentriebes  wohl 
berechtigt  und  begründet.“ 

Eine  grosse  Kreisversammlung  von  Stickerei-Interessenten 
in  Speicher  (Appenzell)  fasste  am  15.  d.  folgende  Resolution: 
„In  Erwägung,  dass  die  derzeitigen  Lohnverhältnisse  es  dem 
Arbeiter  unmöglich  machen,  zu  existiren,  ohne  die  Wohlthätigkeit 
der  Behörden  zu  beanspruchen,  dass  Ueberproduktion  die  Ur- 
i sache  der  drückenden  Geschäftslage  und  Verdienstlosigkeit  ist, 
erhebt  die  Versammlung  Protest  gegen  die  Aufhebung  des 
Minimallohnes,  verlangt  dagegen  Reduktion  der  Arbeitszeit,  bis 
Produktion  und  Konsumtion  wieder  in  Einklang  stehen. 

Eine  zweite  grosse  Versammlung  von  Einzelstickern  in 
' Herisau  (Appenzell)  fasste  am  14.  d.  folgende  Beschlüsse: 

1.  Am  Stickereiverband  ist  festzuhalten,  sofern  in  abseh- 
barer Zeit  bessere  Zustände  geschaffen  werden; 


2.  es  ist  die  Wiedereinführung  des  Minimallohnes  durch 
die  zuständigen  Organe  anzustreben; 

3.  ebenso  ist  ein  inniger  Zusammenschluss  aller  5000 
Einzelsticker  nothwendig. 

Zur  Lage  (1er  Arbeiter  in  Italien.  Der  englische  General- 
konsul in  Florenz  hat  im  vorigen  Jahre  einen  Aufsatz  im  Foreign 
Office  über  die  Lage  der  Arbeiter  in  Italien  während  der 
Jahre  1862  bis  1889  veröffentlicht.  Eigentümlich  ist  darin  die 
Berechnung  der  Anzahl  von  Arbeitsstunden,  welche  nothwendig 
sind,  um  100  kg  Weizen  kaufen  zu  können;  nämlich  1862:  195 
Arbeitsstunden,  1867:  203,  1871:  183,  1881:  122,  1889:  95.  Danach 
hätte  sich  auf  den  ersten  Anschein  die  Lage  der  italienischen 
Arbeiter  nicht  unwesentlich  gebessert,  wenn  nicht  der  Weizen 
bedeutend  billiger  geworden  wäre,  100  kg  kosteten  nämlich  nach 
dem  annuario  statistico  1889  im  Jahre  1871:  31,37  L.,  1881:  27,19  L. 
und  1889  nur  23,60  L.  Andererseits  ist  aber  das  Kilogr.  Rindfleisch 
in  Florenz,  dem  Sitze  des  Konsuls,  nach  derselben  Quelle  ge- 
stiegen von  1,20  in  1871  auf  2,09  L.  in  1889.  Endlich  sind  auch  die 
Wohnungen  theurer  geworden,  so  dass  in  Wirklichkeit  eine 
Aufstellung  wie  die  des  Generalkonsuls  nichts  weniger  als  ge- 
eignet ist,  ein  richtiges  Bild  der  Lage  der  italienischen  Arbeiter 
zu  geben,  ganz  abgesehen  auch  noch  davon,  dass  ein  Arbeiter 
das  Korn  nicht  nach  Doppelzentnern  einzukaufen  pflegt. 

Arbeitszeitreduktion  in  der  schweizerischen  Spinnerei 
und  Weberei.  Der  schweizerische  Spinner-  und  Weberverein 
war  vor  Kurzem  in  Zürich,  etwa  85  Mitglieder  stark,  versammelt, 
eine  Zahl,  welche  noch  bei  keiner  Versammlung  bisher  erreicht 
wurde. 

Verhandelt  wurde  die  angeregte  Reduktion  der  Arbeits- 
zeit. Deren  absolute  Nothwendigkeit  wurde  emmüthig  anerkannt, 
um  den  Produktenmarkt  soweit  zu  regeln,  dass  er  vor  der  Ueber- 
produktion einigermassen  geschützt  wird.  Wenn  auch  die  Lage 
der  Spinnerei  zur  Zeit  noch  etwas  besser  ist  als  diejenige  der 
Weberei,  welch  letztere  vorzugsweise  aufs  Inland  angewiesen 
ist,  so  will  die  Spinnerei  dennoch  Hand  zu  einer  Verständigung 
bieten. 

Einstimmig  wurde  beschlossen,  es  sei  vom  1.  April  an 
die  wöchentliche  Arbeitszeit  auf  5 Tage  zu  beschränken.  Ein 
Antrag,  die  Reduktion  sofort  eintreten  zu  lassen,  wurde  mit 
Rücksicht  auf  die  Arbeiter  nicht  angenommen,  welchen  Zeit 
gelassen  werden  soll,  sich  auf  die  Eventualität  vorzubereiten. 
Der  Beschluss  tritt  in  Kraft,  sobald  drei  Viertheile  aller  Mit- 
glieder schriftlich  ihre  Zusage  ertheilt  haben  werden.  Am  Zu- 
standekommen der  Vereinbarung  ist  nicht  zu  zweifeln,  da  % 
sämmtlicher  Spinner  und  Weber  in  der  Versammlung  vertreten 
waren. 

Lohnverhältnisse  der  Basler  Posamenter.  Bei  der  Be- 
gründung seines  Antrages,  statistische  Erhebungen  über  die 
ökonomischen  Verhältnisse  der  Textilarbeiter  in  Basel  - Stadt 
vorzunehmen,  führte  der  Grossrath  Bärwart  folgendes  über  die 
Lage  im  Posamentirergewerbe  der  gesetzgebenden  Behörde,  dem 
Grossen  Rathe  des  Kantons  Basel-Stadt,  vor : 

Ich  habe  mir  die  Mühe  genommen,  Lohnzettel  und  Auf- 
zeichnungen von  Löhnen  von  Posamentern  und  Zettlerinnen  zu 
sammeln  und  die  Zahlen  zusammenzustellen,  die  folgendes 
Resultat  ergaben : 

Ein  junger  Posamenter" verdiente  vom  November  1889  bis 
November  1891,  also  in  zwei  Jahren,  Fr.  1063,15,  per  Jahr 
Fr.  531,57  oder  per  Tag  Fr.  1,77. 

Ein  anderer  ca.  40  Jahre  alter  Posamenter,  der  als  Durch- 
schnittsarbeiter gilt,  verdiente  vom  Juli  1886  bis  Mai  1888,  also 
in  ca.  zwei  Jahren,  Fr.  1610,05,  per  Jahr  Fr.  805,02  oder  per  Tag 
Fr.  2,68 

Eine  Posamenterin,  ebenfalls  Durchschnittsarbeiterin,  ver- 
diente vom  August  1886  bis  August  1890,  also  in  vier  Jahren, 
Fr.  2542,60;  per  Jahr  Fr.  635,65  oder  per  Tag  Fr.  2,12. 

Ein  weiterer  Posamenter,  der  als  sehr  guter  Arbeiter  gilt, 
verdiente  vom  Januar  1885  bis  Ende  Dezember  1885  Fr.  908,25 
oder  per  Tag  Fr.  3,03. 

Von  zwei  weiteren  Posamentiererinnen,  von  denen  die  eine 
als  eine  sehr  gute,  die  andere  als  eine  Durchschnittsarbeiterin 

filt,  verdiente  die  erstere  vom  Januar  1885  bis  Dezember  1885 
r.  890,55,  also  per  Tag  Fr.  2,96,  die  andere  vom  Januar  1891  bis 
Dezember  1891  Fr.  750,  d.  i.  per  Tag  Fr.  2,50. 

Noch  geringer  als  die  Löhne  der  Posamenter  sind  die  der 
Zettlerinnen  und  Winderinnen.  Eine  Zettlerin  verdiente  im 
Jahre  1891  nach  genauen  Aufzeichnungen  Fr.  592,27  oder  per 
Arbeitstag  Fr.  1,97;  eine  andere  im  gleichen  Jahr  Fr.  430,88  oder 
per  Tag  Fr.  1,43.  Eine  Winderin  stellt  sich  höchstens  aut 
Fr.  1,20  täglich. 


108 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  8. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

; — 

Die  französischen  Arbeitsbörsen. 

Eine  seitens  der  Sozialpolitiker  bisher  nur  wenig  ge-  , 
w ürdigte  Institution  ist  die  der  Arbeitsbörsen.  Und  doch 
dürfte  sie,  wofern  nicht  alle  Anzeichen  trügen,  mehr  wie 
jede  andere  berufen  sein,  innerhalb  der  französischen 
Arbeiterbewegung  und  mit  ihr  in  der  sozialpolitischen 
Bewegung  Frankreichs  eine  führende  Rolle  zu  spielen.  In 
jedem  Falle  aber  — das  kann  heute  schon  mit  Sicherheit 
gesagt  werden  — werden  sie  sich  in  ihrer  Fortentwicklung  zu 
einem  Faktor  gestalten,  mit  dem  Staat  und  Gemeinde  immer 
mehr  zu  rechnen  haben  werden.  In  ihnen  konzentrirt  sich 
nicht  nur  die  organisirte  Arbeiterschaft,  sie  bilden  nicht 
nur  den  Sammelpunkt  der  Gewerk-  und  Fachvereine,  son- 
dern sie  üben  auch  eine  bedeutende  Adhäsionskraft  auf  die 
unorganisirten  isolirten  Arbeiter  aus,  die  sich  denn  in  der 
Folge  auch  immer  mehr  zu  Körperschaften  vereinigen. 
Recht  deutlich  tritt  dies  schon  dadurch  hervor,  dass  unter 
den  sieben  Städten,  welche  das  jüngste  vom  Handelsmini- 
sterium herausgegebene  Jahrbuch  der  Gewerbesyndikate 
als  diejenigen  anführt,  die  im  abgelaufenen  Berichtsjahr 
(1.  Juli  1890  bis  1.  Juli  1891)  den  grössten  Zuwachs  an 
Arbeitersyndikaten  erhielten,  vier  mit  Arbeitsbörsen  aus- 
gestattete an  der  Spitze  stehen,  und  zwar  Paris  mit  23, 
Lyon  mit  18,  Saint-Etienne  mit  13  und  Bordeaux  mit  II 
neuen  Syndikaten.  Dabei  ist  deren  Mitgliederzahl  in  Paris 
allein  von  37  168  auf  58  514,  d.  i.  um  21  346  gestiegen.  Dieser 
immense  Zuwachs,  in  einem  so  kurzen  Zeitraum,  lässt  sich 
nur  durch  die  Errichtung  der  Central-Arbeitsbörse  erklären, 
deren  Eröffnung  schon  im  vorigen  Jahre  erwartet  wurde, 
aber  wahrscheinlich  erst  am  14.  Juli  d.  J.,  dem  National- 
testtag zur  Erinnerung  an  den  Bastillensturm,  stattfinden 
dürfte. 

Diese  Arbeitsbörse,  die  wohl  verdient,  geschildert  zu 
werden,  ist  ein  auf  Kosten  der  Stadt  in  der  Rue  du  Chateau 
d’Eau,  in  unmittelbarer  Nähe  der  Place  de  la  Republique, 
errichtetes  Monumental-Gebäude,  einzig  und  allein  bestimmt, 
der  Sache  der  Arbeit  zu  dienen.  Es  zählt  fünf  Stockwerke, 
von  welchen  das  erste  einen  Bibliotheks-  und  Lesesaal  im 
Ausmaasse  von  72  Metern,  sowie  mehrere  für  die  Exekutiv- 
kommission bestimmte  Räume  enthält,  während  die  vier 
übrigen  Stockwerke  je  einen  Konferenzsaal  und  33  für  die 
einzelnen  Gewerkschaften  bestimmte  Bureaux,  also  im 
Ganzen  4 Konferenzsäle  und  132  Bureaux  enthalten.  Inder 
Mitte  des  Gebäudes  befindet  sich  ein  mit  Glas  gedeckter 
Versammlungssaal,  der  ausschliesslich  für  Gewerkschafts- 
versammlungen und  -Kongresse  bestimmt  ist.  Er  hat  einen 
Flächenraum  von  450  Quadratmetern  und  bietet  in  schwach 
aufsteigender  Richtung  Sitzplätze  für  1500  Personen.  DerFuss- 
boden,  aus  dicken  Glastafeln  bestehend,  bildet  gleichzeitig  die 
Decke  eines  unterhalb  befindlichen  Saales,  der  einen  Flächen- 
raum von  425  Quadratmetern  hat  und  zur  Aufnahme  von 
Taglöhnern  und  sonstigen  Arbeitsleuten  bestimmt  ist,  die 
sonst  gewöhnlich  gezwungen  sind,  unter  freiem  Himmel  auf 
Arbeit  zu  warten.  Ausserdem  wird  die  Centralbörse  noch 
ein  eigenes  Post-  und  Telegraphenbureau,  sowie  Telephon 
besitzen  und  neben  Gas-  auch  elektrische  Beleuchtung 
haben. 

Die  gegenwärtige  Arbeitsbörse,  die  nach  Eröffnung 
der  Centralbörse  eine  Filiale  derselben  bilden  wird,  liegt 
in  der  Rue  Jean  Jacques  Rousseau  und  besitzt  einen  grossen 
mit  einer  Gallerie  versehenen  Versammlungssaal,  einen 
Konferenzsaal  und  21  Bureaux,  wovon  eines  das  General- 
sekretariat inne  hat,  während  die  übrigen  zwanzig  den 
verschiedenen  Syndikaten  hauptsächlich  zur  Arbeitsvermitt- 
lung dienen.  Ihre  Organisation  ist  gegenwärtig  folgende: 
Sämmtliche  zur  Arbeitsbörse  gehörenden  Arbeitersyndikate  — 
ihre  Zahl  beträgt  gegenwärtig  195,  darunter  einige 
Frauensyndikate  — wählen  je  einen  Delegirten,  welche  zu- 
sammen das  Generalkomitee  bilden,  das  über  alle  die 
Arbeitsbörse  betreffenden  Angelegenheiten  endgiltig  zu 
entscheiden  hat.  Behufs  Vorstudiums  einzelner  die  Arbeiter- 


schaft berührender  Fragen  theilt  es  sich  in  mehrere  Kom- 
missionen, die  das  Ergebniss  ihrer  Berathungen  der  General- 
konferenz, die  mindestens  einmal  im  Monat  Zusammentritt, 
zur  Beschlussfassung  zu  unterbreiten  haben.  Die  Durch- 
führung sämmtlicher  Beschlüsse  obliegt  der  Exekutiv- 
kommission, die  aus  21  Mitgliedern  besteht  und  alljährlich 
von  dem  Generalkomitee  aus  seiner  Mitte  gewählt  wird. 
Diese  Kommission  theilt  sich  ihrerseits  in  eine  Verwaltungs-, 
eine  Finanz-,  eine  Propaganda-  und  eine  statistische  Kom- 
mission und  wählt  aus  ihrer  Mitte  zwei  Sekretäre,  einen 
Kassierer,  sowie  einen  Archivar  bezwc  Bibliothekar.  Sie 
hat  auch  für  die  Redaktion  des  offiziellen  Blattes,  sowfie  des 
Jahrbuches  der  Arbeitsbörse,  Sorge  zu  tragen.  Das  Blatt 
erscheint  einmal  wöchentlich  und  führt  den  Titel:  „La 
Bourse  du  Travail,  Bulletin  officiell  des  chambres  syn- 
dicales  et  groupes  corporatifs  ouvriers  de  la  ville  de  Paris“. 
Es  bringt  die  Verhandlungen  und  Beschlüsse  des  General- 
komitees, sowie  der  verschiedenen  Kommissionen.  Berichte 
über  die  wichtigsten  Vorgänge  innerhalb  der  französischen 
und  ausländischen  Arbeiterbewegung,  statistische  Mitthei- 
lungen über  die  Arbeitsvermittlung  u.  s.  w.  Von  den 
Jahrbüchern,  über  die  besonders  zu  berichten  sein  wird, 
sind  bisher  zwei  erschienen;  das  dritte,  für  welches  der 
Munizipalrath  eine  besondere  Subvention  (5000  Fr.)  votirt 
hat,  erscheint  demnächst.  Zur  Bestreitung  sämmtlicher 
Kosten  erhält  die  Arbeitsbörse,  abgesehen  von  der  freien 
Lokalität,  eine  jährliche  Subvention  von  20  000  Frcs.,  wofür 
sich  der  Munizipalrath  nur  das  Recht  der  Kontrolle  Vor- 
behalten hat. 

Ausser  dieser  Arbeitsbörse,  die  am  3.  Februar  1887 
eröffnet  wurde,  zählt  Frankreich  gegenwärtig  noch  zwölf. 
Eine  geringere  Zahl  von  Gewerkschaften  umfassend  und 
von  ärmeren,  zum  Theil  'auch  weniger  vorgeschrittenen 
Gemeinden  errichtet,  treten  sie  natürlich  auch  minder  her-  : 
vor,  als  die  Pariser  Arbeitsbörse,  deren  Organisation  sie 
übrigens  soweit  als  thunlich  nachgebildet  haben.  Hier  die  < 
vorliegenden  wichtigsten  Mittheilungen  über  dieselben : 
Die  Arbeitsbörse  von  Nimes,  errichtet  am  1.  März  1887, 
zählt  9 Gewerkschaften.  Ihr  von  der  Stadt  für  500  Frcs. 
jährlich  gemiethetes  Lokal  zählt  nebst  der  Aufseherwohnung 
nur  noch  zwei  Räume;  doch  wird  sie  in  Bälde  ein  bedeutend 
geräumigeres  Lokal  haben,  da  der  Munizipalrath  in  seiner 
Sitzung  vom  2.  Juli  v.  J.  für  den  Bau  einer  Arbeits- 
börse 50  000  Frcs.  votirt  hat.  Vorläufig  erhält  sie  nur  eine  ■ 
Subvention  von  1660  Frcs.,  weshalb  denn  auch  ihr  offizielles 
Blatt  nur  einmal  vierteljährlich  erscheint.  Die  Arbeitsbörse  ! 
von  Marseille,  gegründet  am  22.  Oktober  1888,  umfasst 
64  Gewerkschaften.  Sie  ist  in  einem  städtischen  Gebäude 
untergebracht,  dessen  Umgestaltung  allein  28  000  Frcs.  ge- 
kostet hat.  Ihre  Subvention  beträgt  10  000  Frcs.,  wovon 
7000  vom  Munizipalrath  und  3000  vom  Generalrath.  Sie 
giebt  ein  Monatsblatt  heraus,  das  den  Titel  „L’Ouvrier 
syndique“  führt.  Die  Arbeitsbörse  von  Saint  Etienne, 
errichtet  am  21.  Februar  1889,  zählt  32  Gewerkschaften. 
Für  die  Räumlichkeiten,  die  sie  inne  hat,  zahlt  die 
Stadt  eine  jährliche  Miethe  von  2500  Frcs.  Ihr  Jahres- 
budget, für  das  ebenfalls  die  Stadt  aufkommt,  beträgt 
12  000  Frcs.  Das  Organ  der  Arbeitsbörse  erscheint  halb- 
monatlich. Nebenbei  sei  hier  noch  bemerkt,  dass  der 
Gemeinderath  von  Saint  Etienne  einer  der  vorgeschrittensten 
ist,  der  dies  neulich  erst  dadurch  bekundet  hat,  dass 
er  für  den  jüngst  daselbst  stattgehabten  Kongress  der 
Arbeitsbörsen  200  Frcs.  votirt  hat.  Die  Arbeitsbörse  von 
Toulon  wurde  am  15.  Oktober  1889  errichtet.  Ende 
Juni  v.  J.  zählte  sie  acht  Gewerkschaften.  Betreffs  ihres 
Lokals  wie  Budgets  liegen  keine  Mittheilungen  vor. 
Bordeaux  zählt  zw-ei  Arbeitsbörsen,  eine  munizipale  und 
eine  unabhängige.  Die  erstere  wurde  am  1 . März  1890  eröffnet. 
Sie  nimmt  nur  solche  Gewerkschaften  auf,  die  dem  Syndi- 
katsgesetze vom  21.  März  1884  nachgekommen  sind.  Die 
Zahl  derselben  beträgt  zehn.  Das  Lokal  dieser  Arbeits- 
börse, ein  ehemaliges  Theater,  ist  ein  sehr  geräumiges.  Es 
zählt  20  Bureaux  für  Ausschussversammlungen,  ein  Amphi- 
theater für  Generalversammlungen  und  Konferenzen,  eine 
Halle  für  den  Aufenthalt  Arbeitsuchender,  ein  Stellen- 


Nu.  8. 


SOZIALPOI JTISCHES  CENTRALB1  .ATT. 


vermittlungsbureaux  und  mehrere  Säle  für  gewerbliche  Un- 
terrichtskurse. Die  Verwaltung  liegt  fast  ausschliesslich  in 
den  Händen  der  Stadt.  Dies  veranlasste  denn  auch  mehrere 
der  „Union  des  chambres  syndicales  ouvrieres  de  Bor- 
deaux et  de  la  region“  angehörigen  Gewerkschaften 
am  29.  Juni  1890  eine  unabhängige  Arbeits  - Börse 
zu  gründen.  Dieselbe  zählt  30  Gewerkschaften,  d.  i.  gerade 
dreimal  so  viel  als  die  municipale  und  gibt  ein  Monatsblatt 
„Bulletin  officiel  de  la  Bourse  du  Travail  independante,“ 
heraus.  Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  mit  der 
Zeit,  vielleicht  schon  nach  den  nächsten  Gemeinderaths- 
wahlen, ihre  Forderung  nach  Selbstverwaltung,  wie  dies 
auch  auf  dem  Kongress  zu  St.  Etienne  einstimmig  ausge- 
sprochen wurde,  durchdringt  und  so  aus  beiden  Arbeits- 
börsen eine  gebildet  wird,  die,  wenngleich  vom  Gemeinde- 
rath subventionirt,  von  ihm  unabhängig  bleibt.  Die  Arbeits- 
börse von  Toulouse  wurde  am  20.  September  1890  errichtet. 
Sie  zählt  27  Gewerkschaften  und  gibt  ein  „Bulletin  officiel“ 
heraus,  das  monatlich  einmal  erscheint.  Ihr  Lokal,  das  sie 
übrigens  nur  provisorisch  besetzt  hält,  ist  ein  für  ihren  Wir- 
kungkreis zu  beschränktes;  doch  wird  sie  in  Bälde  ein 
eigenes  Gebäude  haben,  das  die  Stadt  für  sie  herrichten 
lässt.  Wie  das  Lokal,  ist  auch  ihr  Budget  vorläufig  ein 
bescheidenes;  es  beträgt  150—200  Frcs.  monatlich.  Die 
Lyoner  Arbeitsbörse,  errichtet  am  11.  Januar  1891,  zählt 
45  Gewerkschaften  und  ist  im  ehemaligen  Varietes-Theater 
untergebracht,  wofür  die  Gemeinde  eine  jährliche  Miethe 
von  13  000  Frcs.  zahlt.  Ihr  Budget  für  das  eben  abgelaufene 
erste  Jahr  betrug  10  000  Frcs.  Ihr  offizielles  Organ  „Le 
Travail“  erscheint  monatlich.  Gegenwärtig  befindet  sich  die 
Arbeitsbörse  in  einer  Krise,  die  wohl  nur  eine  vorüber- 
gehende ist.  Die  Stadt  hat  nämlich  an  ihre  diesjährige  Sub- 
vention Bedingungen  geknüpft,  welche  die  Unabhängigkeit 
der  Verwaltung  illusorisch  machen  würden,  was  zur  Folge 
hatte,  dass  sämmtliche  Gewerkschaften  die  Arbeitsbörse 
räumten.  Die  Arbeitsbörse  von  Beziers,  eröffnet  am 
5.  April  1891,  zählt  12  Gewerkschaften  und  gibt  ein  Monats- 
blatt, „Le  Travailleur“,  heraus.  Das  Gebäude,  dessen  Er- 
richtung 29  000  Frcs.  gekostet  hat,  ist  zweistöckig  und  zählt 
acht  geräumige  Bureaux,  einen  grossen  Konferenzsaal, 
einen  Bibliotheks-  und  Lesesaal,  sowie  zwei  grosse  Säle  mit 
Feldbetten,  speziell  als  Nachtquartier  für  durchreisende 
Arbeiter  bestimmt.  Ihr  Budget,  bez.  Subvention  beträgt 
6500  Frcs.  Von  den  übrigen,  in  Montpellier,  Cholet 
und  Roanne  erst  jüngst  begründeten  Arbeitsbörsen  lässt 
sich,  — die  älteste,  die  von  Montpellier,  wurde  erst  am 
28.  Juni  v.  J.  eröffnet  — noch  wenig  und  kaum  Mittheilens- 
werthes  berichten. 

Zu  den  hier  aufgezählten  Arbeitsbörsen  werden  sich 
in  Bälde  mehrere  neue  gesellen,  und  zwar  in  Cette, 
Nantes,  St.  Quentin  und  Troyes,  wo  dieselben  bereits 
in  Bildung  begrilfen  sind.  Ausserdem  tragen  sich  neueren 
Mittheilungen  zufolge,  auch  Nizza  und  St.  Nazaire  mit 
der  Errichtung  von  Arbeitsbörsen,  und  fallen  die  am  1 . Mai 
in  ganz  Frankreich  — mit  Ausnahme  von  Paris  — statt- 
findenden Gemeinderathswahlen  nach  dem  Wunsche  der 
organisirten  Arbeiterschaft  aus,  dann  kann  es  an  der  baldigen 
Errichtung  noch  vieler  anderer  Arbeitsbörsen  nicht  fehlen. 

Mit  der  Vermehrung  und  Entwickelung  der  Arbeits- 
börsen, den  Centren  der  Gewerkschaftsbewegung,  innerhalb 
deren  es  Syndikate  gelernter  wie  ungelernter,  Hand-  wie 
Kopfarbeiter  giebt,  gewinnt  die  Arbeiterschaft  allmählich  eine 
Macht,  die,  je  freier  sie  sich  entfalten  kann,  eine  desto 
friedlichere  Umgestaltung  der  sozialen  Verhältnisse  ge- 
stattet. Merkwürdigerweise  sind  es  gerade  diejenigen,  die 
sonst  immer  Gournay’s  berühmt  gewordenes  „Laissez  faire, 
laissez  passer“  im  Munde  führen,  welche  die  Staatsgewalt 
gegen  die  „Tyrannei  der  Arbeitersyndikate“  aufrufen.  Sie 
verlangen  volle  Vertragsfreiheit  zwischen  Kapital  und  Ar- 
beit, wollen  aber  gleichzeitig,  dass  der  eine  der  beiden 
Kontrahenten  verhindert  werde,  aus  jener  Lage  herauszu- 
treten, in  der  er  sich  allen  Bedingungen  willenlos  fügen 
muss.  Was  sie  unter  Freiheit  verstehen,  wird  so  zur  Ge- 
bundenheit der  Arbeit.  Um  diese  zu  lösen,  wurden  eben 
die  Arbeitsbörsen  geschaffen.  Wie  die  Effekten-  und 


109 


! Waarenbörsen  Wahrzeichen  des  Kapitalismus,  so  sind  jene 
Wahrzeichen  der  aufstrebenden  Arbeit.  Damit  hört  aber 
auch  trotz  der  gleichlautenden  Bezeichnung,  jedes  Gleich- 
niss  auf.  Anfangs  wähnte  freilich  so  Mancher,  dass  man 
auf  den  Arbeitsbörsen  — und  daher  ihr  Name  — die  Markt- 
preise der  Arbeitskraft,  die  Lohnhöhe,  wird  bestimmen 
können,  wie  man  auf  den  sonstigen  Börsen  den  Marktpreis 
von  Werthpapieren,  Getreide  etc.  bestimmt.  So  hatte  der 
Pariser  Munizipalrath  noch  im  Jahre  1884  projektirt,  dass 
nach  Kreirung  der  Arbeitsbörse  sich  dieselbe  mit  den 
Handelskammern  und  Gemeindeverwaltungen  Frankreichs 
und  des  Auslandes  telegraphisch  in  Verbindung  setzen  solle, 
um  von  den  „hauptsächlichsten  Arbeitspreisen“  unter- 
richtet zu  sein.  Dabei  vergass  man,  dass  der  Preis  der 
Arbeitskraft,  die  sich  nicht  gleich  anderen  Waaren  vom 
Besitzer  trennen  lässt,  auch  noch  von  anderen  Verhältnissen 
als  von  Angebot  und  Nachfrage  abhängig  ist,  und  dass 
wenngleich  der  böhmische  oder  schlesische  Kohlenarbeiter 
einen  so  niedern  Lohn  empfängt,  dass  er  sich  von  Kar- 
toffeln und  Heringsuppe  nähren  muss,  ihr  französischer 
Kollege  darum  keinen  Sou  weniger  nehmen,  ebensowenig 
wie  ihm  der  Minendirektor  freiwillig  auch  nur  einen 
Centime  zulegen  wird,  wenngleich  er  erfährt,  dass  die  eng- 
lischen Grubenarbeiter  einen  viel  höhern  Lohn  erhalten. 
Man  war  denn  auch  bald  von  dieser  Idee  abgegangen  und 
ehe  die  Arbeitsbörse  eröffnet  wurde,  war  der  Munizipal- 
rath sich  klar,  dass  sie  bei  all’  ihrem  Wirken  für  die 
momentanen  Interessen  der  Arbeiter  gleichzeitig  der  viel 
höheren  Aufgabe,  der  Emanzipation  der  Abeiter  zu  dienen 
habe.  In  der  That  sagte  der  Präsident  des  Munizipalrathes, 
G.  Mesureur,  gegenwärtig  Abgeordneter  von  Paris,  bei 
Eröffnung  der  Arbeitsbörse,  angesichts  der  Vertreter 
sämmtlicher  Gewerkschaften:  „Im  Namen  der  Munizipalität 
von  Paris  weihe  ich  eine  Institution  ein,  welche  ganz 
der  Arbeit,  ihrer  Organisation  und  Befreiung  dienen 
wird.  . . . Rufen  sie  sich  in  Erinnerung,  dass  das  Proleta- 
riat Jahrhunderte  gebraucht  hat,  ehe  es  die  politische  Frei- 
heit und  Gleichheit  erlangt  hat;  Sie  werden  in  Bälde  das 
Werkzeug  besitzen,  das  Ihnen  gestatten  wird,  diese  Frei- 
heit, der  man  sich  zu  bedienen  wissen  muss,  zu  einer  wirk- 
lichen zu  gestalten,  und  an  jener  sozialen  Gleichheit  zu 
arbeiten,  die,  wenn  wir  nach  dem  gegenwärtigen  Zustande 
urtheilen,  in  welchem  die  allzu  jungen,  zu  schwachen  und 
alten  Wesen  so  schwer  ihren  Platz  am  Bankett  des  Lebens, 
wie  man  es  genannt  hat,  finden,  noch  in  weiter  Ferne 
liegt.“  Und  dass  die  Arbeitsbörsen  dieser  Aufgaben  sich 
vollkommen  bewusst  sind,  das  hat  eben  ihr  erster  Kongress 
zu  St.  Etienne  bewiesen. 

Paris.  Leo  Frankel. 


Strikes  und  Lockouts  in  England.  Aus  dem  soeben 
erschienenen  Bericht  Mr.  Burnetts  über  die  Strikes  und 
Lockouts,  welche  im  Jahre  1890  in  England  .stattgefunden 
haben,  ist  zu  ersehen,  dass  in  diesem  Jahre  des  gewerblichen 
Aufschwungs  auch  die  Zahl  der  Strikes  eine  gewaltig  grosse 
gewesen  ist.  Wenn  trotzdem  der  Verlaut  der  Arbeiterbewegung 
in  England  in  dem  genannten  Jahre  das  Interesse  weiterer 
Kreise  scheinbar  weniger  als  früher  erregt  hat,  so  dürfte  dies 
darauf  zurückzuführen  sein,  dass  der  Arbeiterbewegung  des 
Jahres  1890  das  Charakteristikum  fehlte,  welches  das  vorher- 
gehende Jahr  so  scharf  hervortreten  liess,  nämlich  das  erst- 
malige gemeinsame  Auftreten  der  ungelernten  Arbeiter,  vor 
Allem  der  Dockarbeiter. 

Der  erwähnte,  dem  englischen  Board  of  Trade  er- 
stattete Bericht  gibt  Nachweisungen  über  1028  Strikes,  von 
denen  eine  grosse  Anzahl  allgemeine  Strikes  waren.  Die 
Zahl  der  gewerblichen  Unternenmungen,  deren  Arbeiter  an 
diesen  Strikes  betheiligt  waren,  betrug  nicht  weniger  als  4382. 
Hauptsächlich  betroffen  wurden  die  Baumwoll- Industrie,  das 
Baugewerbe,  die  Transport- Anstalten,  der  Bergbau,  die  Beklei- 
dungs-Industrie, der  Schiffsbau,  der  Maschinenbau  und  das 
Wollengewerbe.  Die  genannten  Gewerbe  sind  geordnet  nach 
der  Zahl  der  Strikes,  welche  in  dem  betreffenden  Industriezweige 
stattgefunden  haben.  Die  Zahl  der  Strikes,  welche  im  Jahre 
1890  auf  Irland  und  Wales  entfallen,  hat  sich,  im  Vergleich  mit 
1889  und  mit  der  Zahl  der  in  England  und  Schottland  zum 
Austrag  gelangten  Strikes,  relativ  erhöht. 


SOZ I ALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  8. 


I 10 


Im  Vordergründe  steht  auch  im  Jahre  1890  die  Lohnfrage, 
Nicht  weniger  als  639  oder  62  % der  Gesammtzahl  der 
Strikes  wurden  verursacht  durch  Forderungen  nach  Lohn- 
erhöhungen bezw.  durch  den  Widerstand  gegen  Lohnherab- 
setzungen. Von  den  erstgenannten  waren  ganz  oder  theilweise 
erfolgreich  68,7 u o,  mit  einer  Niederlage  der  Arbeiter  endeten 
21,1  '/0;  gegen  Lohnherabsetzung  wurde  mit  ganzem  oder  theil- 
weisem  Erfolg  Widerstand  geleistet  bei  57,8"/,,,  während  bei 
33,7l.'/u  der  Widerstand  der  Arbeiter  sich  als  nutzlos  erwies. 
Um  Verkürzung  der  Arbeitszeit  handelte  es  sich  bei  23  Strikes, 
von  denen  69%  erfolgreich  verliefen.  59  Strikes  gelangten 
zum  Ausbruch,  weil  Mitglieder  von  Trades-Unions  sich  weigerten, 
mit  nicht  unirten  Leuten  zu  arbeiten,  doch  unterlagen  die  Ar- 
beiter in  etwa  35  Fällen.  Die  Zahl  der  Strikes  aus  Sympathie 
zeigt  eine  Abnahme:  63,1  % dieser  Strikes  gingen  erfolglos  aus. 
Von  der  Gesammtzahl  der  1028  Strikes  waren  ganz  oder 
theilweise  von  Erfolg  begleitet  59,7%.  Für  die  Arbeiter  un- 
glücklich verliefen  31,3%,  in  den  übrigen  Fällen  ist  das  Ergeb- 
niss  nicht  bekannt  geworden.  An  275  erfolgreichen  Strikes 
waren  betheiligt  213  807  Arbeiter;  an  888  theilweise  erfolgreichen 
Strikes  nahmen  Theil  66  029  Arbeiter.  254  Strikes,  welche  für 
die  Arbeiter  unglücklich  verliefen,  umfassen  rund  102  000  Ar- 
beiter. Die  durchschnittliche  Dauer  eines  Strikes  war  17,3  Tage 
im  Jahre  1890,  18,6  Tage  im  Jahre  1889,  19  Tage  im  Jahre  1888. 
56  % der  Strikes  des  Jahres  1890  wurden  durch  Einigung 
(Conciliation),  15%  durch  Vermittelung  Dritter  (Mediation;, 
27%  durch  Schiedsspruch  ( Arbitrationj  beigelegt. 

Auf  eine  von  lvlr.  Burnett  an  die  Trades-Unions  gerichtete 
Anfrage,  welches  Mittel  am  besten  zu  empfehlen  sei,  um  gewerb- 
lichen Streitigkeiten  vorzubeugen  oder  dieselben  beizulegen, 
antworteten  200  Trades-Unions.  Von  diesen  erklärten  sich  92 
lür  Einigungsämter  (eine  davon  für  ein  staatliches  Einigungs- 
amt;; 59  waren  für  Schiedsspruch  (von  diesen  wollten  2 das 
Schiedsamt  obligatorisch  machen,  5 wollten  staatliche  Schieds- 
ämter  haben;;  25  Trades-Unions  hielten  die  Verallgemeinerung 
trade-unionistischer  Anschauungen  und  Prinzipien  für  das  beste 
Heilmittel;  4 sprachen  sich  lür  staatliche  Regulirung  der  Fabriken 
und  der  Arbeitszeit,  für  den  allgemeinen  Achtstundentag,  für 
bessere  Vertretung  der  Arbeiter  und  grösseres  gegenseitiges 
Vertrauen  zwischen  Kapital  und  Arbeit  aus;  eine  irade-Union 
forderte  Nationalisirung  des  Grund  und  Bodens,  eine  Abschaf- 
fung des  kapitalistischen  Systems.  Auch  eine  Anzahl  von 
Arbeitgebern  hat  sich  zu  der  erwähnten  Frage  geäussert, 
und  zwar  die  Mehrzahl  derselben  für  Conciliation  und  Arbitra- 
tion;  andere  dagegen  sprachen  sich  gegen  Trades-Unions  aus 
und  verurtheilen  deren  Treiben  scharf.  Energisch  gefordert 
wird  auch  die  Abschaffung  des  Picketing,  die  Nichteinmischung 
des  Staates,  der  Presse,  überhaupt  Unbetheiligter  in  gewerb- 
liche Streitigkeiten.  Einige  Wenige  empfehlen  Gewinnbetheili- 
gung, während  andere  in  sarkastischer  Weise  vorschlagen,  den 
Arbeitern  alles  zu  gewähren,  was  sie  nur  irgend  verlangen. 

Vielfach  sind  von  den  betheiligten  Firmen  auch  die  Ver- 
luste angegeben,  mit  welchen  die  Strikes  für  sie  verknüpft 
waren.  So  betrug  in  680  Etablissements  der  Werth  des  durch 
Strikes  stillgelegten  Kapitals  mehr  als  32  Millionen  Pfund  Ster- 
ling. 1427  binnen  zahlten  vor  Beginn  des  Strikes,  durchweiche 
sie  zur  Unthätigkeit  gezwungen  wurden,  zusammen  wöchentlich 
261  295  Pfund  Sterling  an  Löhnen.  541  Firmen  haben  angegeben, 
dass  sie  durch  den  Stillstand  ihrer  Werke  und  durch  die 
Wiederaufnahme  der  Thätigkeit  direkt  151  343  Pfund  Sterling 
verloren  haben. 

Der  Strike  der  Pariser  Droschkenkutscher  währt 
nun  schon  seit  dem  3.  Januar  und  es  ist  noch  immer  nicht 
abzusehen,  wann  er  endigen  wird,  da  sich  auf  keiner  Seite 
auch  nur  die  mindeste  Geneigtheit  zum  Nachgeben  zeigt. 
Es  ist  das  erste  Mal,  dass  ein  Kutscherstrike  so  lange  an- 
hält. Gewöhnlich  war  er  schon  nach  wenigen  'Tagen, 
mangels  einer  festen  Organisation  und  Geldmittel,  im  Sande 
verlaufen.  Dasselbe  hoffte  die  Droschkengesellschaft  — sie 
führt  den  Namen  „IT  Urbaine“  — diesmal  auch,  doch  wie 
sich  zeigte,  vergeblich.  Die  Strikenden  gehören  einer  gut 
organisirten  Gewerkschaft  an  und  werden  von  den  Kutschern 
der  übrigen  Kompagnien  sowie  auch  von  anderen  Gewerk- 
schaften kräftigst  unterstützt.  So  erhielten  sie  nach  ihrem 
letzten  Ausweis  in  der  Woche  vom  31.  Januar  bis 
inclusive  6.  Februar  25  257,65  Frcs.,  was  einer  täglichen 
Einnahme  von  rund  3608  Frcs.  gleichkommt.  Und  in  dem- 
selben Masse  sind  ihnen  die  Unterstützungen  seit  Beginn 
des  Strikes  zugeflossen;  es  verging  kein  Tag,  an  welchem 
sie  nicht  3 — 4000  Frcs.  erhalten  hätten.  Die  Ursache  des 
Strike  war,  dass  die  „Urbaine“  täglich,  je  nach  der  Saison 
und  sonstigen  Umständen,  16 — 22  Frcs.  für  jeden  Wagen 
fordert,  wahrend  die  Kutscher  nur  15  Frcs.  zahlen  wollen. 
Diese  geben  an,  dass  sie  sonst  nicht  ihr  Auskommen  fänden, 
die  Gesellschaft  aber  noch  immer  einen  recht  hübschen 
Profit  dabei  erzielen  würde,  während  der  Direktor  der 
„Urbaine“  wieder  behauptet,  dass  jeder  Wagen  täglich  auf 
15 — 25  Frcs.  zu  stehen  kommt.  W er  mag  da  entscheiden? 
Der  Munizipalrath  hat  seine  Intervention  angeboten,  doch 


wurde  diese  seitens  der  „Urbaine“  zurückgewiesen,  da  man 
nicht,  wie  sie  es  verlangte,  auch  gleichzeitig  die  übrigen 
Droschkengesellschaften  zur  Konferenz  laden  wollte.  Dieses 
Vorgehen  deutet  augenscheinlich  darauf  hin,  dass  die  „Ur- 
baine“ in  ihrem  Widerstand  von  den  übrigen  Kompagnien 
unterstützt  wird.  So  lässt  sich  denn  vorläufig  auch  gar 
nicht  absehen,  wann  und  wie  dieser  Strike  enden  wird. 

Ein  Tramway-Strike  in  Lille.  Die  Bediensteten  der 
Liller  Tramway-Gesellschaft,  deren  Wagen  sowohl  in  Lille, 
als  zwischen  dieser  Stadt  und  Roubaix,  sowie  Tourcoing 
verkehren,  hatten  vorige  Woche,  nachdem  sie  mit  ihren  an 
die  Direktion  gestellten  Forderungen  abgewiesen  wurden, 
die  Arbeit  eingestellt.  Der  Strike  war  ein  heftiger  — ein- 
zelne Striker  hatten  die  Schienen  aufgerissen  — aber  nur 
kurzer,  denn  schon  nach  zwei  Tagen  war  er  in  Folge 
Intervention  des  Bürgermeisters  entschieden,  und  zwar  zu 
Gunsten  der  Strikenden,  wenngleich  sie  auch  nicht  mit 
sämmtlichen  Forderungen  durchdrangen.  Ihrer  Forderung 
der  Entlassung  eines  Kontrolleurs,  über  den  sie  sich  beson- 
ders zu  beklagen  hatten,  sowie  der,  alle  Strafgelder  an 
ihre  Gewerkschaftskasse  zu  zahlen,  wurde  nämlich  nicht 
willfahrt , hingegen  aber  alle  übrigen  bewilligt.  Unter 
diesen  sind  hervorzuheben:  1.  Festsetzung  des  täglichen 
Lohnes  auf  Fr.  3,75  für  das  erste  Jahr,  auf  Fr.  4 nach  Ab- 
laut eines  Jahres,  auf  Fr.  4,25  nach  Ablauf  zweier  Jahre  und 
auf  Fr.  4,50  nach  Ablauf  von  fünf  Jahren;  2.  Zulage  von 
25  Ctms.  täglich  für  die  Zugführer  der  Tramway -Linie 
Lille-Roubaix  — es  verkehren  da  ausschliesslich  Dampf- 
Tramways  — , sowie  Vermehrung  des  Dienstpersonals 
auf  dieser  Linie;  3.  freie  Fahrt  auf  allen  Tramways  für  die 
Aerzte  ihrer  Gewerkschaft. 


Unternehmerverbände. 


Gegen  die  Kohlenringe  richtet  sich  eine  Bewegung  in 
den  Kreisen  schlesischer  Grossindustrieller,  über  welche  der 
„Ob.  Anz.“  Näheres  berichtet: 

Veranlasst  durch  die  trotz  des  schlechten  Geschäfts- 
ganges unmässige  Höhe  der  Kohlenpreise  beabsichtigt  eine  . 
grössere  Anzahl  von  Grossindustriellen,  sich  gegenseitig 
rechtlich  zu  verpflichten,  je  nach  der  Skala  der  oberschle-  • 
sischen  Kohlenpreise  einen  bestimmten  Theil  des  jeweiligen  ; 
Kohlenbedarfs  durch  österreichische  Kohle  zu  decken,  wenn 
auch  in  Folge  der  Frachtverhältnisse  sich  der  Bezug  noch  \ 
theurer  stellt,  wie  der  der  oberschlesischen  Kohle.  Für 
die  Betriebe,  welche  fortdauernd  thätig  sind,  soll  der  aus 
Oesterreich  zu  beziehende  prozentuale  Theil  des  Kohlen- 
konsums von  drei  zu  drei  Monaten  einer  Revision  unterzogen 
werden,  während  die  Saisonbetriebe  den  voraussichtlichen 
Bedarf  anzugeben  und  den  entsprechenden  Antheil  durch 
österreichische  Kohle  zu  decken  haben.  Falls  bei  Eröffnung 
des  Saisonbetriebes  inzwischen  in  Folge  Rückganges  der 
oberschlesischen  Kohlenpreise  der  Antheil  des  österreichi- 
schen Kohlenbezuges  herabgesetzt  worden  ist,  trägt  der 
Schutzverein  für  diesen  Theil  den  Preisunterschied. 

Amerikanischer  Whiskeytrust.  Der  unter  dem  Namen 
„Cattle  Feeding  and  Destilling  Co.“  sich  verbergende 
Whiskeytrust  trägt  sich,  Nachrichten  des  „Handelsmuseums“ 
aus  Chicago  zufolge,  mit  der  Absicht  einer  „Reorganisation“, 
welche  im  Wesentlichen  darin  bestehen  soll,  die  noch  nicht 
zum  Trust  gehörigen  Branntweinbrennereien  zu  absorbiren. 
Dieselben  sollen  zunächst  mit  einer  Kapitalisirung  von  35 
Millionen  Dollars  unter  sich  vereinigt  und  dann  als  Ganzes 
mit  dem  jetzigen  Trust  kombinirt  werden;  letzterer  würde 
dann  als  englisch-amerikanische  Aktiengesellschaft  das  ganze 
Spirituosengeschäft  des  Landes  mit  einer  Kapitalisation  von 
75 — 100  Millionen  Dollars  monopolisiren.  Es  soll  demnächst 
eine  Besprechung  sämmtlicher  Interessenten,  beziehungs- 
weise deren  Vertreter  stattfinden  und  Beschluss  über  dieses 
Projekt  gefasst  werden. 


SOZI  AI  POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


111 


Handwerkerfragen. 


Der  deutsche  Handwerkertag.  Der  Centralaussch uss 
der  vereinigten  Innungsverbände  Deutschlands,  der  seinen 
Sitz  in  Berlin  hat,  und  der  engere  Vorstand  des  Allgemei- 
nen deutschen  Handwerkerbundes,  dessen  Vorsitzender  der 
Reichstagsabgeordnete  Biehl  ist,  haben  aus  Anlass  der  Reichs- 
tagsdebatte vom  24.  November  1891  den  Innungs-  bezw. 
Handwerkertag  berufen.  Derselbe  hat  sich  daher  auch  in 
hervorragender  Weise  mit  dem  Befähigungsnachweis  be- 
schäftigt, bezüglich  dessen  bekanntlich  Staatsminister  von 
Bötticher  sich  in  der  erwähnten  Reichstagssitzung  in  ab- 
lehnendem Sinne  geäussert  hat. 

2000  Handwerksmeister  hatten  sich  zur  Erledigung  der 
langen,  22  Punkte  umfassenden  Tagesordnung  eingefunden. 
Es  wurden  Resolutionen  für  den  Befähigungsnachweis  und 
gegen  die  projektirten  Gewerbekammern  gefasst.  Hinsicht- 
lich der  Konsumvereine,  der  Gefängnissarbeit,  der  Abzah- 
lungsgeschäfte und  des  Hausierhandels  hielt  der  Handwerker- 
tag che  seitens  der  Handwerkervertreter  in  der  im  Juni 
1891  zu  Berlin  stattgefundenen  Konferenz  der  verbündeten 
Regierungen  gemachten  Vorschläge  mit  Entschiedenheit 
aufrecht  Bezüglich  der  Regelung  des  Submissionswesens 
blieb  der  Handwerkertag  auf  seinen  auf  dem  2.  deutschen 
Handwerkertag  gefassten  Beschlüssen  stehen  und  sprach 
der  Reichsregierung  gegenüber  das  Vertrauen  aus,  dass  sie 
die  in  der  Reichstagssitzung  vom  24.  November  1891  gege- 
benen Versprechungen  in  thunlichster  Bälde  in  Thaten  Um- 
setzen werde.  Der  Handwerkertag  dankte  den  verbündeten 
Regierungen,  dass  sie  den  Wünschen  des  deutschen  Hand- 
werks nach  schärferen  Bestimmungen  gegen  den  Kontrakt- 
bruch der  Arbeiter  Rechnung  tragen  wollten,  sprach  sein 
lebhaftes  Bedauern  aus,  dass  vom  Reichstage  diesem  Ge- 
setzesvorschlage  keine  Folge  gegeben  wurde  und  hielt 
deshalb  nach  wie  vor  an  seinen  auf  dem  zweiten  Hand- 
werkertage gefassten  Beschlüssen  fej>t,  in  der  Erwartung, 
dass  .die  verbündeten  Regierungen  eine  derartige  Vorlage 
erneut  dem  Reichstage  unterbreiten  werden. 

Es  wurde  ferner  der  Wunsch  ausgesprochen,  die  Un- 
fallversicherung auf  das  ganze  Handwerk  auszudehnen  mit 
Ausnahme  derjenigen  Berufszweige,  in  welchen  eine  geringe 
Unfallsgefahr  festgestellt  werden  kann. 

Endlich  erklärte  man  sich  gegen  die  Ausbildung  des 
Genossenschaftswesens  im  deutschen  Handwerkerstande 
nach  den  Plänen  des  Freiherrn  v.  Broich  und  bezeichnete 
die  Gründung  einer  grossen  Handwerkerpartei  als  unzeit- 
gemäss.  Eine  Reihe  von  Punkten  wurde,  nachdem  die 
Verhandlungen  drei  Tage  gewährt  hatten,  von  der  Tages- 

! Ordnung  ausgesetzt. 

Wir  kommen  auf  die  Verhandlungen  des  allgemeinen 
Handwerker-  und  Innungstages  noch  ausführlich  zurück. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und  jugendlichen 
Arbeitern  in  Walz-  und  Hammerwerken.  Dem  Bundes- 
rath ist  ein  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäfti- 
gung von  Arbeiterinnen  und  jugendlichen  Arbeitern  in 
Walz-  und  Hammerwerken  zugegangen.  Danach  dürfen 
Arbeiterinnen  bei  dem  unmittelbaren  Betrieb  der  Werke 
gar  nicht  und  Kinder  unter  15  Jahren  in  den  Werken  über- 
haupt nicht  beschäftigt  werden.  Bedingung  für  die  Beschäf- 
tigung junger  Leute  männlichen  Geschlechts  ist  das  vorher 
auszustellende  Zeugniss  eines  dazu  berechtigten  Arztes,  wo- 
nach die  körperliche  Entwickelung  des  Arbeiters  eine  solche 
Beschäftigung  ohne  Gefahr  für  die  Gesundheit  zulässt.  Die 
Arbeitsschicht  darf  mit  Pausen  nicht  länger  als  12  Stunden, 
ohne  Pausen  nicht  länger  als  10  Stunden  dauern.  Die  Ge- 
sammtdauer  der  Beschäftigung  innerhalb  einer  Woche,  aus- 
schliesslich der  Pausen,  darf  60  Stunden  nicht  überschreiten. 
Ein  Schichtwechsel  mit  Tag-  und  Nachtbetrieb  ist  speziell 
geordnet.  Bei  Betrieben  mit  täglich  zwei  Schichten  darf  für 
junge  Leute  die  Zahl  der  Nachtschichten  wöchentlich  nicht 
über  6 betragen.  Zwischen  zwei  Arbeitsschichten  muss 
eine  Ruhezeit  von  mindestens  12  Stunden  liegen.  Innerhalb 
dieser  Arbeitszeit  ist  keine  Beschäftigung  mit  Nebenarbeiten 


gestattet.  An  Sonn-  und  Festtagen  darf  die  Beschäftigung 
nicht  in  die  Zeit  von  6 Uhr  Morgens  bis  6 Uhr  Abends 
fallen;  auch  dürfen  junge  Leute  während  der  Pausen  für 
die  Erwachsenen  nicht  beschäftigt  werden.  Die  in  den 
Fabrikräumen  beschäftigten  jugendlichen  Arbeiter  werden 
in  einem  in  den  Fabrikräumen  aufzuhängenden  Verzeichnisse 
namhaft  gemacht.  Die  Tabelle  muss  bei  zweischichtigem 
Betriebe  mindestens  über  die  letzten  20  Arbeitsschichten 
Auskunft  geben.  Auch  muss  der  Name  desjenigen,  welcher 
die  Eintragungen  bewirkt,  daraus  zu  ersehen  sein.  Die  Be- 
stimmungen, welche  am  I.  April  d.  J.  in  Kraft  treten  sollen, 
haben  auf  10  Jahre  Gültigkeit. 

Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und  jugendlichen 
Arbeitern  in  Cichorienfabriken  und  Glashütten.  Dem  Ver- 
nehmen nach  sind  dem  Bundesrathe  zwei  weitere  durch 
die  neue  vom  1 . April  d.  J.  ab  zur  Geltung  kommende 
Fassung  des  Titels  VII  der  Gewerbeordnung  nothwendig 
gewordene  Entwürfe  von  Bestimmungen  über  die  _ Be- 
schäftigung von  Arbeiterinnen  und  jugendlichen  Arbeitern 
zugegangen.  Der  eine  bezieht  sich  auf  Cichorienfabriken, 
für  welche  derartige  Bestimmungen  bisher  noch  nicht  er- 
lassen waren.  Darnach  sollen  künftig  in  Cichorienfabriken 
den  bezeichneten  Arbeiterkategorien  in  Räumen,  in  welchen 
Darren  im  Betrieb  sind,  während  der  Dauer  des  Betriebes 
eine  Beschäftigung  nicht  gewährt  und  der  Aulenthalt  nicht 
gestattet  werden.  Das  Verbot  ist  mit  Rücksicht  auf  die  in 
den  Darrräumen  herrschende  hohe  Temperatur  (30°  R.) 
sowie  auf  die  daselbst  entwickelten  dem  weiblichen  Orga- 
nismus schädlichen  Gase  ausgesprochen  worden.  Der  zweite 
Entwurf  betrifft  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und 
jugendlichen  Arbeitern  in  Glashütten.  Für  diese  besteht 
schon  eine  Bekanntmachung  des  Bundesraths  vom  23.  April 
1879.  Der  neue  Entwurf  trifft  verschiedene  Aenderungen 
an  der  letzteren.  Während  bisher  der  Aufenthalt  in  den 
Häfenkammern  nur  den  jugendlichen  Arbeiterinnen  ver- 
boten war,  soll  das  Verbot  nunmehr  auf  alle  Arbeiterinnen 
erstreckt  werden.  Ausserdem  wird  verlangt,  dass  wenn 
jugendliche  Arbeiter  beiderlei  Geschlechts  in  den  zulässigen 
Grenzen  in  den  Glashütten  beschäftigt  werden  sollen,  durch 
das  Zeugniss  eines  von  der  höheren  Verwaltungsbehörde 
zur  Ausstellung  solcher  Zeugnisse  ermächtigten  Arztes  daf- 
gethan  sein  muss,  dass  die  körperliche  Entwickelung  des 
Arbeiters  eine  Beschäftigung  in  der  Hütte  ohne  Gefahr  für 
die  Gesundheit  zulässt.  Des  Weiteren  ist  der  bisher  ge- 
machte Llnterschied  zwischen  Glashütten  mit  ununter- 
brochenem Nacht-  und  Tagbetrieb  und  mit  zeitweiligen 
Betriebsunterbrechungen  aufgehoben  und  statt  dessen  zwi- 
schen Glashütten,  in  denen  die  Glasmasse  gleichzeitig  ge- 
schmolzen und  verarbeitet  wird,  und  solchen,  in  denen  die 
Schmelzschicht  und  die  Verarbeitungsschicht  mit  einander 
wechseln,  unterschieden.  Bezüglich  beider  beschränkt  sich 
der  Entwurf  auf  diejenigen  Aenderungen,  welche  die  dem 
§ 139  a der  neuesten  Gewerbeordnungsnovelle  gegebene 
Fassung  erfordert.  So  ist  die  Vorschrift  aufgenommen, 
dass  die  Nachtarbeit,  welche  in  24  Stunden  die  Dauer  von 
10  Stunden  nicht  überschreiten  darf  und  jede  Schicht  durch 
eine  oder  mehrere  Pausen  in  der  Gesammtdauer  von  min- 
destens einer  Stunde  unterbrochen  sein  muss.  Ferner  ist 
für  die  Glashütten  der  ersteren  Art  regelmässiger  wöchent- 
licher Schichtenwechsel  angeordnet,  während  betreffs  der 
anderen  Hütten,  auf  welche  diese  Bestimmung  nicht  an- 
wendbar ist,  die  bisher  nur  für  Knaben  bestehende  Vor- 
schrift, dass  innerhalb  zweier  Wochen  von  der  Gesammt- 
dauer der  Beschäftigung  auf  die  Zeit  von  6 Uhr  Abends 
bis  6 Uhr  Morgens  nicht  mehr  als  die  Hälfte  fallen  dürfe, 

I auf  junge  Leute  ausgedehnt  worden  ist.  Endlich  ist  die 
bisherige  Bestimmung  für  die  zweite  Kategorie  der  Glas- 
hütten, dass  die  Gesammtdauer  der  Beschäftigung  der 
Knaben  innerhalb  zweier  Wochen  nicht  mehr  als  72  Stun- 
den betragen  dürfe,  durch  die  V orschrift  ersetzt,  dass  die 
Dauer  der  wöchentlichen  Arbeitszeit  der  Knaben  36  Stun- 
den nicht  überschreiten  darf.  Für  beide  Entwürfe  ist 
eine  Dauer  von  10  Jahren  vorgesehen. 

Entwurf  eines  Achtstundengesetzes  für  England. 

Folgender  Gesetzentwurf  soll,  wie  die  „Labour  Tribüne“ 
mittheilt,  von  den  Abgeordneten  Cunninghame  Graham, 
Randeil,  W.  Abraham,  Conybeare  und  Dr.  Clark  in  der 
bevorstehenden  Session  des  englischen  Parlaments  einge- 
bracht werden: 

Eine  Bill,  um  die  Arbeitsstunden  in  allen  Gewerben 
und  Industrien  auf  acht  pro  Tag  zu  beschränken.  In  Anbe- 


112 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  8. 


tracht,  dass  es  wünschenswerth  und  rathsam  ist,  die  Werk- 
tätigen Klassen  gegen  die  Uebel  einer  zu  ausgedehnten 
Arbeitszeit  zu  schützen,  möge  durch  Ihre  Majestät  die 
Königin  unter  Zustimmung  der  geistlichen  und  weltlichen 
Lords,  wie  der  Gemeinen  das  Folgende  verfügt  werden: 

Vom  1.  Januar  1893  soll  keine  Person  arbeiten  oder 
die  Arbeit  einer  anderen  Person  gestatten  oder  veranlassen, 
aut  dem  Wasser,  wie  auf  dem  Lande,  in  irgend  einer 
Eigenschaft,  unter  irgend  einem  Kontrakt  oder  Ueberein- 
kunft  oder  Artikeln  für  Arbeitsmiethe  oder  für  persönliche 
Dienstleistungen  zu  Wasser  und  zu  Lande  (ausser  bei  Un- 
glücksfällen) länger  als  8 Stunden  an  einem  Tage  von 
24  Stunden  oder  mehr  als  48  Stunden  in  einer  Woche.  — 
Jeder  Unternehmer,  Betriebsleiter  oder  andere  Person,  der 
wissentlich  eine  Person,  die  seinem  oder  seinen  Befehlen 
untersteht,  veranlasst  oder  ihr  gestattet,  in  seiner  oder 
seinen  Beschäftigungen  zu  Wasser  oder  zu  Lande  in  irgend 
einer  Eigenschaft,  unter  irgend  einem  Kontrakt  oder  Ueber- 
einkunft  oder  Artikeln  für  Arbeitsmiethe  oder  für  persön- 
liche Dienstleistungen  (ausser  bei  Unglücksfällen),  mehr  als 
8 Stunden  an  einem  Tage  von  24  Stunden  oder  mehr  als 
48  Stunden  in  einer  Woche  zu  arbeiten,  soll,  falls  er  über- 
führt wird,  mit  10 — 100  Lstr.  tür  jeden  Fall  betraft  werden. 
— Alle  Uebertretungen  des  Gesetzes  und  alle  auf  Grund 
desselben  festgesetzten  Geldstrafen  sollen  verfolgt  und  ein- 
getrieben werden  gemäss  dem  „Summary  Jurisdiction  act“ 
durch  einen  Hof  der  summarischen  Jurisdiktion.  — Dieses 
Gesetz  soll  für  alle  Zwecke  als  „Achtstundengesetz  1892“ 
angeführt  werden. 

Schutzvorschriften  für  englische  Seeleute.  Von  der 

englischen  Arbeits  - Kommission  für  Schiffahrt  wurde  un- 
längst der  Präsident  des  Seemanns-  und  Heizervereins,  der 
bekannte  Matrosenfreund  Samuel  Plimsoll  verhört.  Der 
Verlust  an  Menschenleben  sei  auf  der  britischen  Kauffahrtei- 
flotte viermal  so  gross,  als  auf  der  anderer  Länder.  In 
Deutschland,  den  Niederlanden,  Norwegen  und  Italien  ver- 
löre ein  Seemann  von  271  jährlich  sein  Leben,  in  Gross- 
britannien einer  von  66.  Die  meisten  Unglücksfälle  Hessen 
sich  vermeiden,  ohne  dass  die  Rheder  sich  deshalb  graue 
Haare  wachsen  zu  lassen  brauchten.  Alle  bisherigen  Schiff- 
fahrtsgesetze hätten  zur  Verminderung  des  Verlustes  von 
Menschenleben  beigetragen.  Deckladungen  müssten  ver- 
boten sein.  Eiserne  Schiffe  sollten  gesetzlich  wasserdichte 
Abtheilungswände  haben.  Der  Proviant,  welchen  ein  Schiff 
an  Bord  nähme,  ehe  es  in  See  steche,  müsse  besichtigt 
werden.  Auf  vielen  britischen  Schiffen  seien  die  Schlaf- 
räume der  Seeleute  geradezu  menschenunwürdig.  Den 
Sanitätsbehörden  müssten  zur  Abstellung  dieses  Uebelstandes 
grössere  Vollmachten  eingeräumt  werden. 


Soziale  Hygiene. 


Gewerbe-hygienisches  Museum  in  Wien.  Der  „Verein 
zur  Pflege  des  Gewerbe-hygienischen  Museums“  in  Wien  zählt 
gegenwärtig  459  Mitglieder  (80  mehr  als  im  Vorjahre),  und  zwar 
19  Stifter,  170  Gründer,  270  mit  Jahresbeiträgen.  Den  Einnahmen 
von  9298  fl.  stehen  Ausgaben  von  5492  fl.  gegenüber.  Die  Ge- 
sammtzahl  der  Modelle  beträgt  278  (58  mehr  als  im  Vorjahre), 
der  Duplikate  57.  Ausserdem  sind  227  Zeichnungen,  Bilder  und 
Photographien  von  Sicherheits-  und  Wohlfahrtseinrichtungen 
vorhanden.  Im  Berichtsjahre  war  das  Museum  an  261  Tagen 
von  4788  Personen  besucht.  Von  den  „Mittheilungen  des  Ge- 
werbe-hygienischen Museums“  sind  im  Berichtsjahre  9 Num- 
mern, darunter  einige  Doppelnummern  erschienen.  Maschinen- 
fabriken des  In-  und  Auslandes  erachten  es  als  in  ihrem  ge- 
schättlichen  Interesse  gelegen,  mit  dem  Museum  in  Verbindung 
zu  treten  und  sich  um  die  Aufnahme  ihrer  von  Prospekten  be- 
gleiteten Schutzvorkehrungen  u.  dergl.  in  die  Sammlung  zu  be- 
werben. In  Belgien  und  Holland  plant  man  die  Errichtung  von 
dem  Museum  ähnlichen  Instituten. 


W ohlfahrtseinrichtungen. 


N aturalv erpflegung  bedürftiger  Durchreisender.  In  der 

Schweiz  ist  die  Naturalverpflegung  bisnun  staatlich  organisirt 
in  den  Kantonen  Schaffhausen  und  St.  Gallen,  in  Vorbereitung 
ist  die  staatliche  Organisation  in  den  Kantonen  Aargau  und 
Luzern.  Freiwillige  Organisationen  für  den  ganzen  Kanton  be- 
sitzen Zürich,  Baselstadt  und  Baselland,  Thurgau  und  Glarus, 
für  Kantonstheile  elf  Kantone.  Aus  dem  aargauischen  Gesetz- 
entwürfe betreffend  verpflegungsbedürftiger  Durchreisender  ent- 
nehmen wir  folgendes.  § 2 bestimmt,  dass  die  Naturalverpflegung 
durch  Gewährung  von  Herberge  und  einfacher  Verköstigung 
unter  strengem  Ausschluss  von  Geldgaben  zu  erfolgen  habe  und 
zwar  (§  3)  in  den  staatlicherseits  bezeichneten  in  angemessenen 
Entfernungen  von  einander  liegenden  Stationen.  § 4 lautet: 

An  jeder  Station  sollen,  wo  immer  thunlich,  Veranstaltungen 
getroffen  werden,  dass  jeder  vorsprechende  Durchreisende  als 
Entgeld  für  seine  Verpflegung  irgend  eine  angemessene  Arbeit 
verrichten  muss,  wobei  indessen  darauf  zu  sehen  ist,  dass  orts- 
eingesessenen Arbeitern  ihr  regelmässiger  Arbeitsverdienst  nicht 
verkürzt  wird. 

Ausserdem  haben  die  Stationen  die  Anmeldung  von  Ar- 
beitsbedarf jeglicher  Art,  insbesondere  von  Gewerbegehilfen 
und  Dienstboten,  für  die  Bewohner  im  Orte,  sowie  der  nächsten 
Umgebung  entgegenzunehmen  und  den  vorsprechenden  Durch- 
reisenden nachzuweisen  und  zu  vermitteln. 

§ 5 bestimmt,  dass  die  Naturalverpflegung  solchen  Durch- 
reisenden versagt  wird,  welche  a)  keine  gesetzlich  anerkannten 
Ausweisschriften  besitzen;  b)  Arbeitsnachweisung  nicht  benützen 
oder  die  angewiesene  Arbeit  verweigern;  c)  drei  Monate  von 
Beendigung  der  letzten  Arbeit  an  sich  auf  Wanderschaft  befin- 
den. Ausnahmen  sind  gestattet  bei  strenger  Winterszeit,  noto- 
rischer Arbeitsstockung  im  Gewerbe  oder  Krankheit  von  längerer 
Dauer.  b 

Die  Kosten  der  Naturalverpflegung  und  der  Arbeitsver- 
mittelung werden  nach  § 6 bestritten: 

a)  durch  allfällige  freiwillige  Beiträge; 

b)  durch  die  Beiträge  der  Gemeinden; 

c)  durch  einen  jährlichen  Staatsbeitrag  von  20%  an  die 
Gemeinden  zur  Deckung  der  denselben  erwachsenen  Kosten. 

Die  Bedeutung  der  Naturalverpflegstationen  in  der  Schweiz 
ersieht  man  aus  der  Thatsache,  dass  von  Wanderern  im  Jahre 
1890  200  000  mal  in  den  Stationen  vorgesprochen  wurde  Die 
Ausgabe  der  Verpflegstationen  betrug  in  diesem  Jahre  circa 
200  000  Francs,  so  dass  die  Einkehr  jedes  Wanderers  in  eine 
Station  einen  Kostenaufwand  von  ca.  I Frcs.  ausmachte. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Andresen,  Dr.  Die  Rentengüter-Gesetze  in  Preussen 
vom  27.  Juni  1890  und  7 Juli  1891.  Textausgabe  mit  An- 
merkungen (Taschen-Gesetzsammlung  No.  3).  Berlin,  Carl 
Heymann’s  Verlag,  1892.  16°.  51  S.  kart. 

Asclirott,  Dr.  P.  F.  Die  Behandl  ung  der  verwahrlosten 
und  verbrecherischen  Jugend  und  Vorschläge  zur 
Reform.  Berlin,  Otto  Liebmann,  1892.  8°.  64  S. 

Basch,  Julius.  Wir thschaftl iche  Weltlage.  Börse  und 
Geldmarkt.  3.  Auflage.  Berlin,  R.  L.  Prager,  1892.  8°. 

67  S. 

Berg,  Richard.  Der  wirtschaftliche  No th stand  und  ein 
Weg  zum  Bessern.  Berlin  und  Leipzig,  Alfred  H.  Fried 
u.  Cie.,  1 89 1 8n.  99  S.  und  eine  Tabelle. 

Biirkli,  Karl.  Ursprung  der  Eidgenossenschaft  aus 

der  Markgenossenschaft  und  die  Schlacht  am  Mor- 
garten. Zur  600jährigen  Feier  des  Bundes  am  1.  August  1291. 
Zürich,  Buchhandlung  des  schweizerischen  Grütlivereins, 
1891.  8°.  71  S 

— - Meine  Proporz-Perle  vor  dem  Zürcher  Kantons- 
rath (15.  September  1891).  Eine  Rede  über  die  Proportio- 
nal-\  ertretung  wie  die  Sozialdemokraten  sie  wollen.  Zürich, 
Buchhandlung  des  schweizerischen  Grütlivereins,  1891.  8°. 
73  S. 

Considerant,  Victor.  De  la  sincerite  du  gouvernement 
representatif  ou  Exposition  de  l’election  veridique. 
Lettre  adressee  a Messieurs  les  membres  du  grand  conseil 
constituant  de  l’etat  de  Geneve  (26.  octobre^  1846).  Neu 
herausgegeben  von  Karl  Biirkli.  Zürich,  Buchhandlung  des 
schweizerischen  Grütlivereins,  1892.  8°.  16  S. 

Crepaz,  Adele.  Die  Gefahren  der  Frauen-Emanzipation. 
Ein  Beitrag  zur  Frauenfrage.  Leipzig,  Carl  Reissner,  1892. 
80.  55  S. 

Gumplowicz,  Ludwig.  Soziologie  und  Politik.  Leipzig, 
Duncker  & Humblot,  1892.  162  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin 


Druck  von  II.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 

Berlin,  den  22.  Februar  1892. 


E'iir  den  Anzeigcnthcil  sind  die  Redaktion  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Anzeigen-AnnahmestcIIc  nui  bei 
Dr.  Otto  Eysler,  Berlin  SW.,  Charlottenstrasse  11.  Breis  für  die  3 spaltige  Colonelzeile  40  Pf. 


(E,  jf.  Beri^fiije  Iftcrlaggburfjfjattblung  (Iftgkar  Brrfi)  in  TJKhnfjm, 
3«  uufereut  fßertage  iit  erfdjieuen: 


l+l» ,x,- 3 (guropHifttjcr  Qör  feilt  dttehalmbcr.  91eue  golge.  © e cf) ft e r 

3at)igaug.  1890.  (S)er  gan.jeu  iReTlje  XXXI.  23anb.)  beraub* 

gegeben  ocm  $röf"Dr.  $anb  CTclbrncf.  fßreib  gel).  8' Hl . Er f <f) ei tt  t a 1 1 j ä t) r l i d).  3#rgang 

1891  erfdjeint  int  Februar  1892 


.Üomplctc  (Opi.  bei  fviitjcren  hvpiaiine  bieiev  E o l i t ite  v n n ii  e ii  t h e l)  x*  t i it)  e n b e v ii  1)  m t e u T a b v b u d)  v 
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ferner: 


l)r.  1B.  geller, 


dnPaübitäte- 
22.  Juni  1880. 


grofifj.  Cj c ff.  iRcgienntflävat:  UlU finge  mit 

mndjungen  beb  23  u n b e b r a t b euttjaltenb 


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" 3meite  u o 1 ( ft ä n b i g vTnt  gearbeitete 
"einem  Sluljaug,  bie  iiolljngbbefannD 
$art.  1 Hi.  80  $1- 


^F>ae  Hrürifrridiuü.iU'fi'ü  für  bab  beutfdje  8i e i c£)  boin  1.  Snni  1891  (fRooelle 
511  Sit.  Vll  her  ©eioerbeorbnung).  Sejitaubgabe  mit  Einleitung,  erlnutetnbcn  2lumerfnugen 
uub  IRegifter.  8V2  23og.  .Ü'art.  l 'Hi.  20  s4>f- 


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R.  L.  Prager  in  Berlin,  NW.  7. 


Verlag  non  3nnrktV  & Ifumblof  in  Seippg. 

©mrp  Jmbvidl  Knapp,  ®ie  Canbarbeiter 
in  <ü'ned)tfd)aft  uub  greipeit.  23ier  fßortröge. 
1891.  fßretb  ca.  2 Hi. 


3.  Oiuttrutap,  Brrlagslntriiliantilnng  in  Berlin  sw.  48,  Üfiltirimllraße  119/120- 


Ins  }Imifii|‘d)r  linbimimifteurrgcfc^. 

Bum  24.  Juni  1891. 

Äontmeiitav  311111  pra!tifd)en  ©ebraud) 

bearbeitet  uoit 

M.  Dnffen, 

©eteimev  3}egicmiig*vat:  SOlitglieb  bei  S'öuigl.  Tirctti  it  für  bi  'Hevlualtu  g 
ber  biretten  ©totem  in  S3evui. 

Slbteiluitg  I. 

(3 tt l) a 1 1 : ©efei3  mit  Kommentar  nebft  2Uibfüf)ningbanroeifnngen  I.— III. 

8cg.  8°  HJreie  8.50  J/. 

®ie  ,5  tu  eite  Abteilung,  enttinttenb  Slbfdmitt  5 a— 10,  fRebengefefce,  Stegiftev,  Sitcl,  SntjattSbeÄclmiS, 
befinbet  lief)  im  SDrud  uub  folgt  innerhalb  einiger  tueniger  SBodjeit  nad). 

®ie  Slbnaljme  ber  Stbteihing  1.  oerpftidfiet  jur  Ibnalpne  beb  ootlftänbigen  ©erfeb. 


3m  Sertage  oon  ©corg  SJteiuter  in  ^Berlin  erfdjeinen: 

f>ccu^fit|E  Jlaörliüdjcr. 

Jperaubgegeben 


oon 


|ans  ^eUmitft. 

(liBmialsl'dirtfl  für  Politik,  ©rfrfptfite,  luit(l  tmb  lifrraiur.) 


SDlonatlid)  eir  ft. 


9)i an  abonnirt  fjaibfälirtid)  für  9 Hiarf  bei  auett  23ud)banblnngen  unb  fßoftämtern. 


J,  ©uftmtag,  DErlagsburiiijattblung  in  Berlin. 


Brtttrtdl  I§Erfmct,  2)ie  fociate  ^Reform  als 
©ebot  beb  mirtt)fd)aftlid)eu  Aortfdpittö.  1891. 
S)3reib  2 Hi.  40  fßf. 

i&rfjrtffrn  bre  ferntts  für  Bncialpnlitilt. 
49.  23anb:  ®ie  Jpanbelbpolitif  ber  midpigeren 
Äultnrftaaten  in  ben  lebten  S.i^r^efjnten.  1. 
23anb.  2t.  n.  b.  Sie  epanbelbpolitif 

Horbanterif'ab,  3tdlienb,  Defterreidfb,  23el= 
gienb,  ber  Oiiebertanbe,  fSänemarfb,  (Sd)iue= 
benb  unb  Oiormegenb,  fRufflaubb  unb  ber 
©d)met3,  foiuie  bie  beutfdje  epanbelbftatiftif 
Dan  1880  bib  1890.  fßretb  13  Hi. 

— fSaffetbe.  50.  23anb:  5)ie  cpanbelbpolitif  rc. 
2.  23attb,  2t  u.  b.  ®ie  ber  beut- 

fd)en  Jpanbelbpolitif  oon  1860—1891  23om 
Sßrof.  Dr  IPaltlfOr  Xotf  in  Hlündjen.  f^reib 
4 Hi.  60  23f. 

I|cnnann  Xofrlf,  ^Rationale  fßrobuftiou  unb 
nationale  SSerufbglteberung.  1891.  fßreib 
6 Hi. 

Bf.  Ü.  b.  33lfm,  S)ie  gac^oereine  unb  bie 
foctate  23etoegung  in  granfreict).  ©onberabbr. 
aub  @d)tuotterb  3af)l'bud)  1891.  fßreib  2 Hl. 

3n  ^weiter  SCuffogc  erfdjien: 

^o^irtiyenolutioii 

ober 

Jr,  o ft  i a 1 1 e f o t m V 

23on  Julius  IBrvncr,  Pfarrer 
in  Jpot)entl)urm  b.  ^talle  (©.)•  23reib  Hlf.  1. 

3n  beäiebett  bttrdj  alle  Hudjfjartbluitgeu  foiuie 

and)  unmittelbar  Born 

©.  §d)utetrcl)lu>’ftljen  ®t'rhi>l  in  (§aale). 


®Eid|ö  - Oknr  t vü  c - »Jrii  mt  n ii 

nebft  2tugfü^ruit(t§l>eftimmungeii. 

Bmejfe  JafTmut  bes  Qkfcfjca. 

$ejt=tu§gabe  mit  Inmetfungeii  unb  @ a d)  r e g i ft  e x 

non 

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II.  Die  sociale  Frage  im  Licht  der  Offenbarung,  in  der  Geschichte 
der  Völker  und  im  Irrlicht  der  Zeit. 


Socialpolitische  Rundschau:  Dem  Herrn  Verfasser  kann  das  grosse  Verdienst 
nicht  abgesprochen  werden,  dass  er  eine  Seite  der  socialen  Probleme  aufzog,  die  bisher 
noch  wenig  berührt  wurde.  Er  hat  einer  socialpolitischen  Anschauung  Bahn  gebrochen, 
die  vielleicht  noch  weitere  Kreise  zieht. 

Märkische  Zeitung:  Er  zieht  die  Geschichte  wie  die  Bibel  in  ihrem  ganzen  Um- 
fange zu  Rat,  indem  er  die  Beziehung  zur  Gegenwart  stets  in  lebendigem  Fluss  hält. 
Aut  diese  Weise  ist  es  ihm  gelungen,  eine  ebenso  belehrende  wie  Vertrauen  er- 
weckende Wirtschaftsgeschichte  zu  schreiben  und  sich  ein  kritisches  zu  Urteil 
bilden. 

Westfälisches  Sonntagsblatt:  Die  theologische  christlich-sociale  Litteratur  hat 
in  der  Gegenwart  kein  Werk,  welches  an  Tiefe  der  Auffassung  des  socialen  Inhalts 
der  heiligen  Schrift  und  an  umfassender  Kenntnis  der  socialen  Verhältnisse  der  in 
der  Geschichte  bekannten  Völker  diesem  Werke  gfeichkommt. 


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äerfatteit,  non  bene»  ber  erfte  „bie  reidjdredjt* 
lictjen  ©nmbtagen  ber  2lrbetteiDerfid)erung" 
bet) anbetu,  bev  jtoeite  aber  iit  bvei  Steilen  bie 
äranfem,  Unfall»,  fomie  bie  Snoalibitätd»  mtb 
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übernimmt.  Cautionsbestellung  verschied.  Art  für  vertrauenswürdige  Personen  jeden  Berufes. 
Keine  andere  Ciegeiileistiing  gefordert  als  eine  j'alirl  mässige  Prämienzahlung.  In  189t 
gingen  ein  Anträge  über  31.  3,030,145.  Bewilligt  wurden  31.  1158.100  Cautionen.  Discretion 

zugesichert.  Näh.  auf  Anfrage. 


jftet  Han h 

P0ö)En[djiift  nie  lörDerung  einer  frieDlidjen 
Sü|tatof0rm, 

©rgan  öes  DeutldjEU  Bmtbts  für  Bobcn- 
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grfdjeint  jeben  ätfontag. 

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Ski  allen  Ißoftanftalteu  (9h'.  2272 

ber  SßofeeitungSlifte)  ....  9Jlf.  OkO 
93ei  birefter  itreu^b'anbienbung: 

in  S>eutid)Ianb  unb  Oefterreid) . „ 1,20 

im  äßeltpoftberein  ....  „ 1,50 

3n  Serlin  bei  freier  3uienl)un9  • „ ff— 

Bit  CSjepEbttion 

H.  üvt'hs,  LTfallfriiU'tltcrliv.  55. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  Dr.  Otto  Eysler  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  29.  Februar  1892. 


Nummer  9. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


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Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltenc 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 

Die  R e ich s - K o m m i s s i o n für  Arbeiterschutzgesetzgebung : 
Arbeiterstatistik.  Von  Dr.  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen 
Heinrich  Braun.  in  Steinkohlenbergwerken. 

Gesetzgeberische  M assnah-  Kinderschutz  innerhalb  derFabriken. 
men  gegen  Pro  s ti  tu  ti  on  und  Arbeiterversicherung: 
Zuhälterthum.  Von  Rechtsan-  Haftpflicht  und  Unfallversicherung 
waltDr.  Theodor  Löwenfeld.  der  Arbeiter  in  Russland 

»Soziale  Wirthschaftspolitik:  Wohnungszustände  und  Woh- 

Ein  deutsches  Ausvvanderungs-  nungsgesetzgebung: 

gesetz.  Von  Dr.Max  Quarck.  Amtliche  Untersuchungen  von 

Agrarzustände  auf  Haiti.  Arbeiterwohnungen. 

Arbeiterzustände:  Wogn Verhältnisse  der  Bergarbeiter. 

Betriebsunfälle  in  der  Industrie  Gewerbegerichte , Einigungs- 
Nürnbergs.  VonMartin  Segitz.  ämter  u.  Arbeiterausschüsse: 
l'eber  die  Abnahme  der  Arbeits-  Schiedsgerichte  im  sächsischen 

kraft.  Bergbau. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter-  Arbeiter-Prud’hommes  und  Impe- 
j)0-^y0priin. ff  * rativ-Mandate. 

Hirsch - Duncker’sche  Gewerkver-  Städtisches  Versöhnungsamt  für 
eine.  Arbeiter. 

Die  Chausseearbeiter  der  Stadt  Handwerkerfragen: 

Paris.  Die  Forderungen  der  Handwerker- 

Unternehmerverbände:  „ Partf  wn  I)r- A?01  f !?rau n- 

Verband  zur  Besserung  der  länd-  Gewerberäthe  in  ( estei  reich. 

liehen  Arbeiterverhältnisse.  Vermischtes: 

Ein  Syndikat  französischer  Spin-  Klassische  Konzerte  für  Arbeiter, 
nereibesitzer.  Eingesendete  Schriften. 

Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik. 


Nicht  leicht  dürfte  in  unserer  von  sozialen  Strömun- 
gen auf  das  Tiefste  bewegten  Zeit  eine  Frage  zu  finden 

Isein,  in  betreff  deren  bei  den  Vertretern  entgegengesetzter 
Anschauungen  so  vollkommene  Uebereinstimmung  herrscht 
als  in  Bezug  auf  das  Bedürfniss  nach  einer  zuverlässigen 
und  gründlichen  statistischen  Kenntniss  unserer  gesellschaft- 
lichen Zustände.  So  erklärt  es  sich  auch,  dass  das  Ver- 
sprechen der  Regierung,  eine  Kommission  für  Arbeiter- 
statistik ins  Leben  zu  rufen,  auf  allen  Seiten  sympathisch 
begrüsst  wurde.  Mit  lebhafter  Spannung  wartete  man  auf 
genauer  orientirende  Mittheilungen,  und  vielfach  äusserte 
sich  freudige  Hoffnung,  dass  nun  einmal  dem  beschämenden 
Mangel  einer  sozialen  Statistik  abgeholfen  würde. 

Inzwischen  sind  die  vorbereitenden  Arbeiten  für  die 
Schaffung  jener  Reichskommission  gefördert  worden,  und 
vor  wenigen  Tagen  fand  sich  die  Regierung  veranlasst, 
eine  Skizze  der  geplanten  Organisation  veröffentlichen  zu 
lassen.  Da  dies  zu  keinem  anderen  Zweck  geschehen  sein 
kann,  als  um  den  Plan  allgemein  bekannt  zu  machen,  und 


durch  sachliche  Diskussion  desselben  die  Verwirklichung 
des  vorgesteckten  Zieles  zu  fördern,  halten  wir  es  für 
unsere  Pflicht,  die  publizirten  Grundzüge  der  Reichskom- 
mission für  Arbeiterstatistik  einer  kritischen  Betrachtung 
zu  unterziehen. 

Der  „Reichsanzeiger“  vom  20.  Februar,  dessen  Mit- 
theilungen durch  weitere  offieiöse  Nachrichten  ergänzt 
wurden,  welche  nun  einen  ziemlich  vollständigen  Ueberblick 
über  die  geplante  Organisation  ermöglichen,  charakterisirt 
den  Inhalt  der  dem  Bundesrath  zugegangenen  Vorlage  mit 
den  folgenden  Worten:  „Die  Kommission  soll  dem  Statistischen 
Amt  zur  »Seite  stehen.  Sie  ist  als  dauernde  Einrichtung 
gedacht  und  soll  aus  einem  Vorsitzenden  und  zwölf  Mit- 
gliedern bestehen,  von  denen  fünf  der  Bundesrath  und 
sechs  der  Reichstag  zu  wählen  haben  wird.  Aufgabe  der 
Kommission  soll  es  sein,  die  Vornahme  statistischer  Er- 
hebungen über  die  Verhältnisse  der  gewerblichen  Arbeiter, 
ihre  Durchführung  und  Verarbeitung  sowie  ihre  Ergebnisse 
zu  begutachten  und  dem  Reichskanzler  Vorschläge  tiir  die 
Vornahme  oder  Durchführung  solcher  Erhebungen  zu 
unterbreiten;  sie  soll  befugt  — in  bestimmten  Fällen  ver- 
pflichtet - sein,  Arbeitgeber  und  Arbeiter  in  gleicher  Zahl 
zu  ihren  Sitzungen  mit  berathender  Stimme  zuzuziehen  und 
in  gewissen  Fällen  Auskunftspersonen  zu  vernehmen.  Den 
Mitgliedern,  sowie  den  zugezogenen  Arbeitgebern  und 
Arbeitern,  sowie  den  Auskunftspersonen  soll  Ersatz  ihrer 
haaren  Auslagen,  den  Arbeitern  ausserdem  Entschädigung 
für  entgangenen  Arbeitsverdienst  gewährt  werden.“ 

Als  in  der  Reichstagssitzung  vom  13.  Januar  durch  den 
Staatssekretär  v.  Bötticher  die  Kommission  für  Arbeiter- 
statistik zum  erstenmal  angekündigt  und  hervorgehoben 
wurde,  dass  im  Gegensatz  zu  der  von  einzelnen  Gewerk- 
schaften unternommenen  Lohnstatistik  ein  erschöpfendes 
Bild  der  Lohnverhältnisse  erst  erlangt  werden  würde,  wenn 
die  zu  schaffende  Organisation  zur  Verwirklichung  gelangt 
sein  wird,1)  konnte  man  wohl  daran  denken,  dass  es  sich 
um  die  Nachbildung  irgend  einer  der  bewährten  Einrich- 
tungen handeln  werde,  wie  sie  in  anderen  Ländern  für  die 
Zwecke  sozialstatistischer  Erhebungen  bestehen.  Die  über 
die  Kommission  für  Arbeiterstatistik  veröffentlichten  Mit- 
theilungen lassen  nunmehr  erkennen,  dass  die  projektirte 
Institution  davon  weit  entfernt  ist,  dagegen  auffallende 
Aehnlichkeit  besitzt  mit  «1er  preussischen  statistischen 
Centralkommission. 

Diese  Kommission  besteht  seit  dem  Jahre  1861.  Wie 
es  in  dem  Erlass  des  Ministers  des  Innern  von  21.  Februar 
1870,  mittelst  dessen  sie  reorganisirt  wurde,  heisst,  ist  es 

x)  Vgl.  Stenogr.  Bei',  über  die  Verhandlungen  des  Reichs- 
tags, 146.  Sitzung  vom  13.  Januar  1892,  S.  3597. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  9. 


I 14 

ihre  Aufgabe,  über  alle  statistischen  Einrichtungen,  Erhe- 
bungen, Aufstellungen  u.  s.  \v.  ihr  Gutachten  abzugeben. 
Der  bei  ihrer  Begründung  vorschwebende  Zweck  war,  ein 
einheitliches  Zusammenwirken  aller  betheiligten  Verwal- 
tungen herbeizuführen,  damit  bei  den  statistischen  Erhe- 
bungen in  Preussen  nach  gleichmässigen  Grundsätzen  me- 
thodisch und  planmässig  verfahren  werde1).  Als  Mitglieder 
der  Kommission  fungiren  a)  der  vom  Minister  des  Innern 
berufene  Vorsitzende,  b)  Kommissarien  der  einzelnen  Mini- 
sterien und  des  Reichsamtes  des  Innern,  c)  der  Direktor 
und  ein  weiteres  Mitglied  des  k.  statistischen  Büreaus, 
d)  sechs  Mitglieder  des  Landtages,  von  denen  jedes  der 
beiden  Häuser  drei  zu  wählen  hat,  und  e)  solche  .Sachver- 
ständige, welche  auf  Vorschlag  der  Kommission  durch  den 
Minister  des  Innern  zur  Theilnahme  an  deren  Arbeiten 
eingeladen  werden-).  Die  preussische  statistische  Central- 
kommission, welche  von  dem  Ministerium  des  Innern  ressor- 
tirt,  hat  immer  nur  ein  schattenhaftes  Dasein  geführt.  Im 
Unterschied  von  der  statistischen  Centralkommission  Bel- 
giens, welche  einen  entscheidenden  Einfluss  auf  die  Gestalt 
der  dortigen  Statistik  üben  konnte,  weil  sie  eine  aus- 
führende Behörde  bildete,  war  der  preussischen  Kommission, 
wie  erwähnt,  lediglich  eine  begutachtende  Aufgabe  zuge- 
wiesen. „Eine  besondere  Thätigkeit  hat  diese  Kommission 
in  dem  Jahrzehnt  von  1860-  1869  nicht  entfaltet“,  sagt 
Puslowski 3),  und  BlenckO  registrirt  für  die  Zeit  von  1870 
bis  1884  21  Tage,  an  denen  sie  gutachtliche  Aeusserungen 
abgegeben.  Seit  einer  Reihe  von  Jahren  ist  die  Kommission 
gar  nicht  mehr  zusammen  getreten.  Die  Summe  ihrer 
Arbeiten,  welche  diese  beiden  Geschichtsschreiber  der 
preussischen  Statistik  für  eine  mehr  als  30jährige  Periode 
feststellen,  kann  an  Bedeutungslosigkeit  kaum  übertroffen 
werden.  Die  Kommission  war  eben  von  vornherein  ledig- 
lich auf  Rathschläge  beschränkt,  deren  Berücksichtigung 
von  der  Willkür  der  Regierung  abhing,  und  auch  zu  dieser 
berathenden  Thätigkeit  wurde  sie  trotz  entgegenstehender 
Bestimmungen  des  citirten  Ministerialerlasses  ganz  nach 
Belieben  herangezogen  oder  sie  wurde,  wie  seit  Jahren, 
vollkommen  bei  Seite  gestellt.  So  ist  es  erklärlich,  dass  diese 
Kommission  nie  zu  einer  ihrem  Zweck  entsprechenden 
Geltung  gelangte. 

Um  so  schwerer  ist  es  zu  begreifen,  dass  die  Regie- 
rung diese  dem  Anschein  nach  von  ihr  selbst  für  unbrauch- 
bar gehaltene  Institution  zum  Muster  für  die  neu  zu 
schaffende  arbeitsstatistische  Kommission  gewählt  hat.  Wenn 
man  von  der  Zusammensetzung  der  Mitglieder  absieht, 
kehren  nach  den  bisher  durch  den  Reichsanzeiger  und 
andere  Regierungsorgane  gemachten  Mittheilungen  in  dem 
neuen  Regulativ  die  hauptsächlichsten  für  die  preussische 
statistische  Centralkommission  geltenden  organisatorischen 
Bestimmungen  -wieder;  zum  Theil  sind  die  Befugnisse  noch 
eingeschränkter.  Während  in  dem  die  preussische  statistische 
Centralkommission  reorganisirenden  Ministerialerlass  der- 
selben ausdrücklich  das  Recht  zugestanden  ist,  auch  aus 
„eigener  Initiative“  „über  alle  statistischen  Einrichtungen,  Er- 
hebungen, Aufstellungen  u.  s.  w.  nach  Inhalt,  Art  und  Form 
zu  berathen  und  besehliessen“,  scheint  nach  offiziösen 
Nachrichten  die  Reichskommission  lediglich  erst  dann  in  ihre 
begutachtende  Thätigkeit  eintreten  zu  dürfen,  wenn  eine 
Anordnung  des  Bundesrathes  oder  des  Reichskanzlers  an 
sie  ergeht.  Die  arbeitsstatistische  Reichskommission  ist  dar- 

')  Ver<fl.  Ministerialblatt  für  die  gesammte  innere  Verwal- 
tung, 1870,  No.  4,  S.  89  ff. 

-)  Blenck,  Das  k.  statistische  Büreau  in  Berlin  etc.  Berlin, 
1885,  S.  141. 

:1)  Das  k.  preuss.  statistische  Büreau  etc.  Berlin,  1872, 
S.  87  ft. 

4)  Blenck  a.  a.  O.  S.  142  ff. 


nach  fast  ohne  jedes  Recht  der  Exekutive,  — zur  Ausführung 
arbeitsstatistischer  Erhebungen,  ist  das  Kaiserliche  statistische 
Amt  bestimmt,  dem  die  Kommission  „an  die  Seite  treten 
soll“ — aber  selbst  die  Befugniss  zu  Gutachten  erscheint  als  eine 
sehr  bedingte,  vollkommen  von  dem  Willen  oberer  Instanzen 
abhängige.  Darnach  bildet  die  Kommission  für  Arbeiter- 
statistik ein  Instrument  in  der  Hand  des  Bundesraths  resp. 
des  Reichskanzlers,  dessen  er  sich  nach  Belieben  be- 
dienen kann.  Auch  an  der  letzten  Gewähr  für  Unab- 
hängigkeit und  Selbständigkeit,  welche  in  der  Zusammmen- 
setzung  der  Mitglieder  der  Kommission  gefunden  werden 
könnte,  fehlt  es  völlig.  Von  vornherein  ist  die  Majorität 
aus  den  vom  Bundesrath  und  dem  Reichskanzler  zu 
ernennenden  Mitgliedern  gebildet.  Neben  den  fünf  vom 
Bundesrath  zu  wählenden  Mitgliedern  ernennt  der  Reichs- 
kanzler den  Vorsitzenden  und  delegirt  einen  Beamten  des 
Kaiserlichen  statistischen  Amts  in  die  Kommission.  So  steht 
die  kompakte  Majorität  von  sieben  dep  sechs  vom  Reichs- 
tag zu  wählenden  Mitgliedern  gegenüber,  davon  zu  ge- 
schweigen,  dass  nach  dem  Parteienverhältniss  im  Reichs- 
tag die  Regierung  darauf  rechnen  kann,  dass  zu  den  sieben 
noch  einige  ihr  unbedingt  ergebene  Mitglieder  hinzutreten 
werden.  Die  mit  berathender  Stimme  zu  kooptirenden 
ausserordentlichen  Mitglieder  aus  der  Klasse  der  Unter- 
nehmer und  der  Arbeiter  ändern  an  diesem  Verhältniss 
nichts,  weil  sie  einander  in  gleicher  Zahl  gegenüber- 
stehen,  und,  was  noch  mehr  in  das  Gewicht  fällt,  nicht 
etwa  aus  freien  Wahlen  hervorgehen,  sondern  von  der 
Kommission  ausgesucht  werden.  Nach  halbamtlichen  Nach- 
richten kann  auch  diese  Heranziehung  von  Arbeitern  und 
Unternehmern  nur  erfolgen,  falls  dies  vom  Bundesrath  oder ' 
vom  Reichskanzler  angeordnet  wird. 

Wenn  die  Regierung  es  für  nötig  hält,  in  der  Reichs- 1 
kommission  über  eine  unbedingte  Majorität  zu  verfügen 
und  die  Thätigkeit  derselben  lediglich  von  ihren  Aufträgen 
abhängig  zu  machen,  so  drängt  sich  der  Schluss  auf,  dass  es 
der  Regierung  mehr  um  eine  formelle  Befriedigung  des 
so  oft  und  von  den  Vertretern  der  verschiedensten  Rich- 
tungen geäusserten  Wunsches  nach  einer  gründlichen  und; 
rückhaitosen  Klarstellung  unserer  sozialen  Zustände  als  um 
diese  letztere  selbst  zu  thun  war  Auch  ohne  den  Apparat 
der  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik  besass  die  ' 
Regierung  bisher  ja  schon  die  Möglichkeit,  das  Kaiserliche 
statistische  Amt  durch  ad  hoc  eingesetzte  Kommissionen 
berathen  zu  lassen 

Bezeichnend  für  den  engen  Gesichtskreis,  in  welchem 
die  Reichsregierung  sich  sozialpolitische  Aufgaben  stellt, 
ist  die  Thatsache,  dass  der  Thätigkeitsbereich  der  Kommission 
auf  die  Verhältnisse  der  in  Titel  VII  der  Gewerbeordnung 
behandelten  Arbeiter  beschränkt  bleiben  soll.  Die  Lage  der 
landwirthschaftlichen  Arbeiter  soll  also  prinzipiell  nicht  nur 
vor  jedem  gesetzlichen  Eingriff  zum  Schutz  derselben, 
sondern  selbst  von  jedem  Versuch  einer  Klarstellung  ihrer 
Verhältnisse  gesichert  bleiben.  . . . 

Das  ist  das  Bild,  welches  die  projektirte  Organisation 
der  Arbeitsstatistik  des  deutschen  Reiches  darstellt!  So  wie 
die  Arbeiterschutzgesetzgebung  Oesterreichs  und  der 
Schweiz  die  des  Deutschen  Reiches  noch  immer  in  den 
Schatten  stellt,  so  wird  auch,  wenn  nicht  eine  grund- 
sätzliche Aenderung  der  besprochenen  Vorlage  herbei- 
geführt werden  sollte,  die  deutsche  Arbeiterstatistik  hinter 
dem  Ernst  und  fruchtbaren  Gehalt  der  sozialstatistischen 
Leistungen  anderer  Länder  weit  Zurückbleiben. 

Berlin.  Heinrich  Braun. 


No.  9. 


SOZIALPOLITISCHES  CKNTRALBLATT. 


1 15 


Gesetzgeberische  Massnahmen  gegen 
Prostitution  und  Zuhälterthum. 

Die  Bestimmungen  des  — nach  Zeitungsnachrichten 
— bereits  dem  Bundesrathe  vorliegenden  Entwurfes  eines 
Reichsgesetzes,  betreffend  die  Prostitution  und  das  Zuhälter- 
wesen, zu  welchem  der  Mordprozess  Heinze  den  Anstoss 
gegeben  hat,  beseitigen  die  Widersprüche  des  bisherigen 
reichsgesetzlichen  Systems  in  Bezug  auf  die  gewerbsmässige 
Unzucht  in  keiner  Weise.  Die  Prostitution  ist  bekanntlich 
gemäss  § 361 6 des  Reichs-Strafgesetzbuches  straflos,  wenn 
sie  von  einem  unter  sittenpolizeilicher  Aufsicht  stehenden 
Weibe,  ohne  Verfehlung  gegen  die  Aufsichtsnormen,  geübt 
wird ; sie  ist  strafbar,  wenn  geübt  ohne  polizeiliche  Aufsicht 
oder  den  Anordnungen  der  Polizeibehörde  zuwider.  Hier- 
mit ist  ein  Recht  der  Polizeibehörde  zur  Beaufsichtigung 
der  gewerbsmässigen  Unzucht  reichsgesetzlich  anerkannt; 
es  ist  ferner  die  kontrollirte  Prostitution  gesetzlich  durch 
Straflosigkeit  vor  der  unkontrollirten  privilegirt.  Die  Kon- 
trolle hat  vor  Allem  den  Ort  der  gewerbsmässigen  Unzucht 
zum  Gegenstand;  er  darf  niemals  ein  öffentlicher  Ort,  er 
soll  immer  ein  geschlossener  Raum  sein.  Die  Disposition 
über  einen  solchen  können  Prostituirte,  welche  Hausbe- 
sitzerinnen nicht  zu  sein  pflegen,  regelmässig  nur  durch 
Vertrag  mit  einem  Haus-  oder  Wohnungsbesitzer  erlangen. 
Man  sollte  nun  glauben,  dass  ein  Gesetz,  welches  die  kon- 
trollirte Prostitution  straflos  erklärt  und  die  behördliche 
Kontrolle  „zur  Sicherung  der  Gesundheit,  der  öffentlichen 
Ordnung  und  des  öffentlichen  Anstandes“  (§  361 6 R.St.G.B.) 
gestattet  und  begünstigt,  — dass  ein  solches  Gesetz  den 
Prostituirten  auch  das  Miethen  einer  Wohnung  erlaubt, 
ohne  welche  die  Anordnungen  der  Sittenpolizei  garnicht 
befolgt  werden  können.  Das  Gesetz  gestattet  ihr  auch  das 
Miethen;  aber  einen  Miether  gibt  es  nicht  ohne  einen  Ver- 
miether;  und  das  deutsche  Strafgesetzbuch  verbietet  das 
Vermiethen  an  Prostituirte  als  solche,  indem  es  denjenigen 
als  Kuppler  mit  Gefängniss  bis  zu  5 Jahren,  Aberkennung 
der  bürgerlichen  Ehrenrechte  und  Stellung  unter  Polizei- 
aufsicht bedroht,  welcher  „gewohnheitsmässig  oder  aus 
Eigennutz  durch  seine  Vermittelung  oder  durch  Gewährung 
oder  Verschaffung  von  Gelegenheit  der  Unzucht  Vorschub 
leistet“  (§180  R.St.G.B.).  Die  Voraussetzungen  dieser  Straf- 
bestimmung treffen  regelmässig  bei  Demjenigen  zu,  welcher 
an  kontrollirte  Lohndirnen  Wolmräume  vermiethet,  da  man 
bei  ihm  regelmässig  schon  mit  Rücksicht  auf  die  Formen 
der  Polizeiaufsicht  die  Kenntniss  der  Bestimmung  der  von 
der  Prostituirten  gemietheten  Räume  voraussetzen  muss; 
ausnahmslos  aber  bedroht  die  Schärfe  der  Kuppeleipara- 
graphen den  Inhaber  des  kontrollirten  und  nach  den  Vor- 
schriften der  Sittenpolizei  geführten  Bordells.  Der  deutsche 
Strafgesetzgeber  verweist  sonach  in  § 361  die  Prostituirte 
mittelst  der  Polizeibehörde  in  das  geschlossene  Haus ; nach 
§ 180  darf  aber  der  Hausbesitzer  sie  nicht  aufnehmen. 
Die  Geschichte  und  die  Folgen  dieser  gesetzgeberischen 
Absurdität  sind  so  bekannt,  dass  man  hätte  annehmen 
sollen,  dass  der  Verfasser  der  neuen  Strafgesetz-Novelle 
nicht  aul  solcher  Basis  einfach  fortbauen  könne.  Ursprüng- 
lich standen  die  jetzigen  §§180,  361 R des  Reichs-Strafgesetz- 
buches als  §§  146,  147  des  preussischen  Strafgesetzbuches 
von  1851  beisammen;  diesem  nachbarlichen  Verhältnisse 
sollte  nach  der  Meinung  der  gesetzgebenden  Faktoren  auch 
die  Verträglichkeit  des  Inhaltes  der  fraglichen  Paragraphen 
entsprechen.  Man  meinte  damals,  bei  Berathung  des 
preussischen  Gesetzes,  in  den  beiden  preussischen  Kammern 
ohne  Widerspruch  seitens  der  Staatsregierung,  dass  mit  der 
Straflosigkeit  der  kontrollirten  Unzucht  auch  die  Straflosig- 
keit der  kontrollirten  Unzuchtsorte,  der  Bordelle,  gegeben 
sei.  Man  „meinte“  dies,  man  sagte  es  nicht  im  Gesetz, 
das  vielmehr  die  Kuppelei  allgemein  bedrohte;  die  „Gesetz- 
geber“ wollten  durch  eine  klare  Erklärung  keinen  Anstoss 
geben  und  gaben  sich  der  Hoffnung  hin,  dass  die  Gerichte 
nach  dem  verhehlten  und  gegen  den  erklärten  Willen  des 
Gesetzes  Recht  sprechen  würden.  Die  vieljährige  ständige 


Praxis  des  preussischen  Obertribunals  erwies  diese  Hoffnung 
als  trügerisch;  die  Polizei  hielt  sich  nach  Bedarf  bald  an 
die  „Meinung“  der  Gesetzgeber,  bald  an  das  Wort  des  Ge- 
setzes, so  dass  die  Bordelle  ein  sehr  wechselvolles  Schick- 
sal hatten.  Trotzdem  avancirten  die  §§  146,  147  des 
preussischen  Strafgesetzbuches  im  Jahre  1870  un geändert — 
unter  dem  Schweigen  der  Gesetzesmotive,  des  Bundes- 
rathes,  des  Reichstages  — zu  deutschen  Reichsgesetz- 
paragraphen und  — clas  oberste  Gericht  des  Reiches  über- 
nahm die  Praxis  des  preussischen  Obertribunals,  welche  es 
auch  bis  auf  den  heutigen  Tag  getreulich  und  unentwegt 
festhält.  W eniger  unentwegt  gestaltete  sich  die  Praxis  der 
deutschen  Sittenpolizeibehörde.  Zwei  Seelen  wohnen  in 
ihrer  Brust.  Als  Verwaltungsbehörde  lebt  sie  nach 
§ 361 15  des  St.  G.  B.:  sie  reglementirt  und  beaufsichtigt  die 
Prostitution,  soweit  sich  letztere  nicht  der  polizeilichen 
Kontrolle  entzieht;  nach  wie  vor  gibt  die  Polizei  den 
Prostituirten  gedruckte  Verhaltungsmassregeln  in  die  Hand, 
welche  die  Lohndirnen  soviel  als  möglich  von  der  öffent- 
lichen Strasse  und  von  öffentlichen  Orten  fernhalten  und 
die  Verhältnisse  der  Wohnung  sowie  das  Verhalten  in  der 
Wohnung  regeln,  insbesondere  in  Bezug  auf  Anstand,  Rein- 
lichkeit und  Gesundheitspflege.  Nach  wie  vor  sorgt  die 
Polizei  für  ärztliche,  wenn  auch  nicht  genügende  Unter- 
suchung und  Behandlung  der  Prostituirten  zur  Verhütung- 
voll  Ansteckungsgefahren  etc.  Dagegen  als  Hilfsbeamtin 
der  Staatsanwaltschaft  lebt  sie  wenigstens  einiger- 
massen  gemäss  § 180  des  St.  G.  B.  Sie  nimmt  die  ihr  ein- 
laufenden „Anzeigen“  entgegen,  dass  in  diesem  oder  jenem 
(ihr  genau  bekannten)  Hause  bei  diesem  oder  jenem  (in  den 
polizeilichen  Registern  längst  eingeschriebenen)  Vermiether 
diese  oder  jene  (von  der  Polizei  zweimal  wöchentlich  kon- 
trollirte) Prostituirte  ihr  Gewerbe  ausübe,  dass  also  in  jenem 
Hause  Kuppelei  begangen  werde  — sie  nimmt  solche  An- 
zeigen pflichtschuldigst  trotz  mangelnder  Neuheit  entgegen, 
übermittelt  sie  der  Staatsanwaltschaft,  die  dann  Anklage 
erhebt  und  Strafurtheil  erwirkt.  Im  Uebrigen  bleibt,  wenn 
nicht  gegen  die  sittenpolizeilichen  Anordnungen  der  Polizei 
gefehlt  wurde,  fast  regelmässig  wohl  Alles  beim  Alten;  die 
alten  oder  die  neuen  Adressen  der  Prostituirten  — welche 
diese  selbstverständlich  anzuzeigen  haben  — schlummern 
weiter  friedlich  in  den  Akten  der  Polizei,  bis  sie  auf  neue 
Denunziation,  etwa  eines  konkurrirenden  Kupplers  oder 
eines  Nachbars,  wieder  in  Bewegung  gerathen,  zu  Staats- 
anwaltschaft und  Kriminalgericht  wandern  u.  s.  f.  Die 
eigentlichen  Bordelle  sind,  wenn  auch  nicht  ausnahmslos, 
so  doch  zumeist  aufgehoben;  die  Quadratur  des  Zirkels 
aber  — kontrollirte  Prostitution  ohne  der  Kuppelei  schul- 
dige Wohnungsvermiether  — hat  man  bis  zur  Stunde  nicht 
gefunden.  Weil  und  sofern  man  die  Sittenkontrolle  nicht 
aufgeben  will,  muss  man  die  Kuppelei  leben  lassen:  Soweit 
man  die  Kontrolle  nicht  aufgeben  will  oder  — muss;  denn 
in  dem  Kampf  zwischen  § 180  und  § 361  fi  sind  beide  nicht 
unversehrt  geblieben.  Indem  man  die  Bordelle  schloss,  die 
kontrollirten  Kuppler  bestrafte,  zwang  man  den  Proteus 
Prostitution  zu  den  sonderbarsten,  mannigfaltigsten,  aber 
doch  nur  das  offizielle  Auge  der  Polizei  täuschenden  Ver- 
hüllungen — .schon  1847  theilte  man  während  der  Zeit  der 
Bordelllosigkeit  die  Berliner  Prostituirten  in  Tanz-,  Schank-, 
Bier-,  Bade-  etc.  Dirnen  und  trieb  die  Prostitution  gerade 
dahin,  wo  sie  die  Sittenpolizei  unter  keinen  Umständen 
dulden  kann,  in  die  öffentlichen  Lokale  und  auf  die  Strasse. 
LTnd  hier  heftet  sich  ein  böser  und  gefürchteter  Begleiter 
an  ihre  Fersen:  der  „Zuhälter“.  Die  angekündigte  Straf- 
gesetznovelle definirt  und  bedroht  diese  auch  für  die  Sicher- 
heit der  Sicherheitspolizei  gefährliche  Erscheinung  folgender- 
massen : 

„Eine  männliche  Person,  welche,  ohne  im  gegebenen 
Falle  einen  gesetzlichen  Anspruch  auf  Alimentation  zu 
haben,  von  einer  Weibsperson,  die  gewerbsmässig  Unzucht 
treibt,  ganz  oder  theilweise  den  Lebensunterhalt  bezieht, 
oder  welche  ihr  gewohnheitsmässig  oder  aus  Eigennutz  in 
Bezug  auf  die  Ausübung  des  unzüchtigen  Gewerbes  Schutz 
gewährt  oder  sonst  förderlich  ist,  wird  wegen  Zuhälterei 
mit  Gefängniss  nicht  unter  einem  Monat  bestraft.  Ist  der 


1 16 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  9. 


Zuhälter  der  Ehemann  der  Weibsperson,  oder  hat  er  sie 
unter  Anwendung  von  Gewalt  oder  Drohungen  zur  Aus- 
übung des  unzüchtigen  Gewerbes  angehalten,  so  tritt  Ge- 
fängniss  nicht  unter  einem  Jahre  ein.  Neben  Gefängnis- 
strafen kann  auf  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte,  auf 
Zulässigkeit  der  Polizeiaufsicht,  sowie  auf  Ueberweisung 
an  die  Landespolizeibehörde  mit  den  in  § 362  Absatz  2 und  3 
vorgesehenen  Folgen  erkannt  werden.“ 

Mit  dieser  Bekämpfung  des  Zuhälterthums,  deren  Vor- 
bild theilweise  im  französischen  Strafrecht  gegeben  ist,  lässt 
es  sich  schwer  vereinigen,  wenn  der  Entwurf  in  einem 
neuen  § 180  die  Fassung  des  alten  § 180  bezüglich  des 
Thatbestandes  der  Kuppelei  beibehält,  also  die  kontrollirte 
Kuppelei  nach  wie  vor  bedroht  und  nur  bezüglich  der 
Straffolgen  eine  Verschärfung  eintreten  lässt,  indem  nun 
das  Strafminimum  auf  einen  Monat  Gefängniss  erhöht  und 
neben  der  Freiheitsstrafe  auch  Geldstrafe  von  150  Mk.  bis 
6000  Mk.  angedroht  wird.  Durch  diese  Bestimmungen  der  No- 
velle werden  die  Widersprüche  der  bisherigen  Gesetzgebung 
vermehrt  und  der  Zwiespalt  zwischen  dem  Ivontrollprinzip 
einerseits  und  der  Bestrafung  der  kontrollirten  Kuppelei 
andererseits  erweitert.  Wenn  der  neue  Kuppeleiparagraph 
nicht  in  der  Hauptsache  bezüglich  der  kontrollirten  Ver- 
miether  ebenso  auf  dem  Papier  bleibt,  wie  dies  beim  bis- 
herigen Kuppeleiparagraphen  feststellbar  ist,  wenn  wirk- 
lich alle  Kuppelei  verfolgt,  unter  Strafe  gestellt  und  ihnen 
das  weitere  Vermiethen  — die  Fortsetzung  des  Deliktes  - 
unmöglich  gemacht  würde,  so  würde  gewiss  nicht  die 
Prostitution  verschwinden,  wohl  aber  die  kontrollirte  Prosti- 
tution, und  die  Bevölkerung  der  Strasse  und  öffentlichen 
Lokale  mit  Zuhältern  und  deren  Schützlingen  würde  eine 
sogar  für  die  Berliner  unerhörte  Höhe  erreichen. 

Der  Widersinn  des  geltenden  wie  des  oben  skizzirten 
projektirten  Strafrechts  tritt  nicht  blos  darin  hervor,  dass 
es  einen  Kampt  gegen  die  Symptome  einer  Volkskrankheit 
führt,  ohne  dem  Grund  des  Uebels  irgend  wie  näher  zu 
kommen.  Darüber,  dass  man  die  Prostitution  als  soziale 
Erscheinung  nur  durch  Aenderung  der  Grundverhältnisse, 
welche  sie  in  stets  wachsendem  Mass  hervorbringen,  mit 
dauerndem  Erfolg  bekämpfen  könnte,  besteht  heute  kein 
Zweifel  mehr.  Es  ist  aber  auch  zweifellos,  dass  man  noch 
lange  Zeit  die  Erwartung  nicht  hegen  darf,  der  deutsche 
Gesetzgeber  werde  an  diese  Grundsäulen  der  Prostitution 
die  Axt  legen.  Wir  sehen  ihn  im  Gegentheile  in  verschie- 
denen Werken  emsig  an  der  Arbeit,  der  Prostitution  neue 
Entstehungsquellen  zu  verschaffen  und  ihre  Folgen  für  das 
Wohl  und  die  Gesundheit  des  Volkes  zu  verschärfen.  Es 
sei  hier  nur  auf  die  Zollgesetzgebung,  die  Gewerbeordnung, 
das  Krankenkassengesetz  hingewiesen.  Wenn  z.  B.  nach 
§ 26,  Absatz  3,  Ziffer  2 des  letzteren  Gesetzes  (auch  des 
neuen  Entwurfes  desselben)  syphilitische  Erkrankung  durch 
Entzug  der  Krankenunterstützung  gestraft  werden  kann,  so 
trägt  diese  Bestimmung  gewiss  häutig  genug  zur  Ver- 
grösserung  der  Ansteckungs-  und  Vererbungsgefahr  für 
dritte  ganz  schuldlose  Personen  erheblich  bei. 

Aber  der  Mangel  aller  klaren  leitenden  Grundsätze 
tritt  insbesondere  auch  darin  hervor,  wie  man  bisher  auch 
nur  die  Symptome  der  grossen  sozialen  Krankheit  behan- 
delt hat,  deren  Ursachen  der  Gesetzgeber  bestehen  lässt 
und  vermehrt.  Wenn  man  einmal  die  Prostitution  „zur 
Sicherung  der  Gesundheit,  der  öffentlichen  Ordnung  und 
des  öffentlichen  Anstandes“  (§  361  6)  unter  Aufsicht  stellt, 
dann  muss  diese  gesetzlich  gestattete  Aufsicht  bestellt  und 
durchgeführt  werden  können  auf  dem  Wege  gesetzlich  er- 
laubter Handlung.  Der  Gesetzgeber  darf  nicht  für  die  von 
ihm  zu  fördernden  Zwecke  strafbarer  Handlungen  benöthigen, 
und  er  darf  nicht  Handlungen  als  strafbar  erklären,  welche 
ihm  für  seine  Zwecke  unentbehrlich  sind.  Das  geschieht 
aber  im  bisherigen  § 180  St.-G.-B.  und  verschärft  im  § 180 
der  Novelle.  Dieser  Paragraph  enthält  einfach  das  Prinzip 
des  sogen.  Abolitionismus,  der  Abschaffung  der  Kon- 
trolle, und  damit  der  „Freiheit“  der  Prostitution,  welche 
§ 361 6 einschränken  will.  Des  Weiteren  müsste  die 
„Aufsicht“,  wenn  man  sie  festhalten  will,  so  eingerichtet 
werden,  dass  das  vom  Gesetzgeber  erstrebte  Ziel  der  För- 


derung der  „Gesundheit,  der  Ordnung  und  des  Anstandes“ 
wenigstens  einigermassen  erreicht  wird.  Das  geschieht 
durch  die  bisherige  Ordnung  der  Sittenpolizei  im  Deut- 
schen Reiche  keineswegs.  Die  Vorwürfe , welche  dem 
Reglementirungssystem  von  Seite  der  Anhänger  des  Abo- 
litionismus gemacht  werden  und  durch  welche  die  Forde- 
rung der  Abschaffung  der  Kontrolle  und  das  Verlangen  der 
staatlichen  Ignorirung  der  Prostitution  begründet  wird,  sind 
zum  grossen  Theil  nicht  unbegründet.  Es  ist  eine  Gefähr- 
dung der  öffentlichen  Sicherheit,  wenn  es,  wie  bisher,  dem 
Ermessen  der  Polizeibehörde  überlassen  bleibt,  die  Stellung 
unter  sittenpolizeiliche  Kontrolle  gegen  nicht  freiwillig 
sich  hierzu  Meldende  zu  verfügen.  Die  bisherige  Organi- 
sation des  ärztlichen  Kontrollverfahrens  ist  geeignet,  Sitte 
und  Schamgefühl  weit  über  die  Kreise  der  Prostitution 
hinaus  zu  verletzen,  und  dies  ohne  Notli.  Diese  Kontrolle 
ist  ferner  ungenügend,  nicht  blos  weil  sie  nur  die  Prosti- 
tuirte  und  nicht  auch  den  männlichen  Urheber  ihrer  Krank- 
heit trifft  und  ferner  ( — wegen  § 180!)  den  weitaus  grösseren 
Theil  der  Prostituirten  nicht  erreicht.  Sie  ist  ungenügend,  j 
weil  sich  an  sie  nicht  diejenigen  ärztlichen  und  administra- 
tiven Massnahmen  anschliessen,  welche  geeignet  wären,  die 
Verschlimmerung,  Verbreitung  und  Vererbung  der  erkannten 
ansteckenden  Krankheiten  zu  verhindern.  Die  üblichen  Ver- 
waltungsmassregeln  der  Sittenpolizeibehörden  befördern 
sogar  theilweise  direkt  die  Verbreitung  der  ansteckenden 
Geschlechtskrankeiten,  welche  die  Kontrolle  verhüten  soll. 
Die  Ausweisung  syphilitischer  Prostituirter  oder  deren  Ver- 
schubung  in  die  Heimat  ist  z.  B.  durchaus  ungeeignet, 
die  Gesundheitsverhältnisse  dieser  Heimathgemeinde  zu 
fördern,  So  führen  die  Sitten-  und  Gesundheitspolizei- 
behörden gelegentlich  einen  Kampf  nicht  blos  gegen  die 
Prostitution,  sondern  auch  gegen  einander  selbst  und  es  , 
bietet  die  Ausführung  des  Gesetzes  dasselbe  Bild,  wie 
das  Gesetz  selbst  — das  alte  und  das  neue:  die  gefähr- 
lichste Verwirrung  der  Begriffe,  Grundsätze  und  Mass- ' i 
nahmen  auf  einem  der  wichtigsten  sozialpolitischen  Gebiete! 

München.  Theodor  Löwen  fei  d. 

■ , 16  ■»'*!,  . I 

I 

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i 

Soziale  Wirtschaftspolitik. 


Ein  deutsches  Auswanderungsgesetz. 

Der  deutsche  Gesetzgebungsapparat  arbeitet  gegen- 
wärtig namentlich  in  den  vorbereitenden  Abtheilungen 
äusserst  lebhaft  und  prompt.  Als  Zeichen  dafür  darf  nach 
der  Reihe  sonstiger  Massnahmen  die  neueste  Nachricht 
aus  dem  Bundesrathe  gelten:  dieser  Körperschaft  ist  der 
Regierungsentwurf  eines  allgemeinen  deutschen  Auswan- 
derungsgesetzes zugegangen.  Die  Tagesblätter  enthalten 
bereits  Auszüge  aus  den  hauptsächlichsten  Bestimmungen 
des  Entwurfes  und  verweisen  darauf,  dass  die  Einbringung  j 
desselben  einem  seit  sehr  langer  Zeit  betonten  Bedürfnisse 
entspreche 

In  der  That  lassen  sich  die  Anläufe  zu  einer  gesetz- 
lichen Regelung  des  Auswanderungswesens  für  ganz  Deutsch- 
land bis  vor  das  Jahr  1848  zurückverfolgen,  wo  Preussen 
durch  seine  Konsuln  vorbereitende  Erhebungen  in  Nord-  j 
amerika  machen  Hess.  Dann  entwarf  der  volkswirtschaft- 
liche Ausschuss  der  Frankfurter  Nationalversammlung  ein 
Gesetz  „zum  Schutze  der  Auswanderung“,  welches  aus 
bekannten  politischen  Gründen  Entwurf  blieb.  1850  bean- 
tragte Preussen  beim  Fürstenkollegium  die  Schaffung  eines 
deutschen  „Auswanderungs-  und  Kolonisationsamtes“,  und 

1 858  erstattete  der  Ausschuss  der  Bundesversammlung  einen  ■ 
ausführlichen  und  zustimmenden  Bericht  darüber,  ohne  dass  : 
jedoch  Ernst  mit  der  Ausführung  gemacht  worden  wäre. 

1859  schlug  die  Auffassung  an  massgebender  Stelle  in  das 
Gegenteil  um;  statt  zu  organisiren,  verbot  das  bekannte 


No.  9. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


117 


von  der  Heydt’sche  Reskript  vom  3.  November  1859  jede 
Vermittelung  der  Auswanderung  von  Preussen,  Baden  und 
Württemberg  nach  Brasilien.  Die  Gründung  des  nord- 
deutschen Bundes  brachte  die  Frage  wieder  in  Fluss  und 
der  Bundeskanzler  berief  1868  eine  Spezialkommission ; von 
ihren  Vorschlägen  wurde  aber  nur  die  Einsetzung  eines 
Reichskommissars  für  das  Auswanderungswesen  verwirklicht, 
welcher  seitdem  vom  Reichskanzler  ernannt  wird  und  in  Ham- 
burg seinen  Sitz  hat.  Er  soll  die  Aufsicht  besonders  über 
die  Auswandererschiffe  führen  und  die  Beobachtung  der 
von  den  Einzelstaaten  erlassenen  Gesetze  und  Verordnungen 
kontrolliren.  Aber  es  fehlt  ihm  die  Exekutive;  er  muss  seine 
Anordnungen  immer  erst  durch  die  betreffenden  Landes- 
behörden ausführen  lassen.  Und  wie  mannigfaltig  sind  die 
einzelstaatlichen  Vorschriften  über  das  Auswanderungswesen. 
Für  Preussen  allein  kommen  hier  mehr  als  ein  halbes 
Dutzend  verschiedener  Rechtsgebiete  mit  verschiedenen 
Vorschriften  in  Betracht.  Dieselben  regeln,  was  die  binnen- 
ländischen Staaten  betrifft,  hauptsächlich  das  Agentenwesen 
vom  Standpunkte  der  behördlichen  Konzession,  hier  mehr, 
dort  weniger  streng  (vergl.  die  Kritik  der  verschiedenen 
Bundesgesetze  vom  Standpunkte  des  Agenten  in  No.  57 
der  „Hamburger  Börsenhalle“  vom  9.  März  1891),  wobei 
namentlich  Beschwerden  gegen  die  preussischen  Vor- 
schriften erhoben  werden;  die  Seestädte  besitzen  ausser- 
dem ausführliche  Vorschriften  über  den  Auswanderertrans- 
port. Zuletzt  hat  Bremen  seine  diesbezüglichen  Anord- 
nungen durch  ein  Gesetz  vom  Jahre  1891  erschöpfend 
ergänzt.  Den  Beschwerden  der  Auswanderungsagenten 
über  das  Vexatorische  mancher  veralteter  landesgesetz- 
licher Bestimmungen  standen  nun  auf  der  andern  Seite 
mehrfache  Wünsche  namentlich  ländlicher  Arbeitgeber 
gegenüber,  die  von  der  Ansicht  ausgingen,  dass  noch  immer 
vielfach  eine  unerlaubte  Verlockung  der  ländlichen  Bevöl- 
kerung zur  Auswanderung  durch  Agenten  stattfinde,  und 
in  Folge  davon  ländliche  Dienstverhältnisse  oft  unter 
Kontraktbruch  und  Aehnlichem  widerrechtlich  gelöst  wür- 
den. Ein  Ausdruck  dieser  Wünsche  ist  der  bereits  vor 
Jahren  vom  „Centralverein  westpreussischer  Landwirthe“ 
gemachte  Vorschlag,  für  die  Auswanderung  eine  Art  von 
Aufgebotsverfahren  einzuführen,  durch  welches  kontrollirt 
werden  könne,  ob  der  Auswanderungslustige  allen  seinen 
Verpflichtungen  nachgekommen  sei.  Und  eine  dritte  Gruppe 
von  Reformvorschlägen  weniger  direkt  Betheiligter  verlangt 
vom  Reich  die  gründliche  Organisation  der  Auswanderung 
mittels  eigener  Staatsbehörden,  da  die  Thätigkeit  des  Reichs- 
kommissars bei  Weitem  nicht  ausreiche.  Entweder  wird 
dabei  aut  das  Beispiel  der  Schweiz  verwiesen,  die  seit  1888 
ein  besonderes  Amt  beim  Bundesrath  schuf,  welches  sich 
nach  dem  Gesetz  vom  22.  März  jenes  Jahres  „mit  den  be- 
treffenden Stellen  in  anderen  Staaten  in  Verbindung  setzen 
und  auf  gestelltes  Verlangen  Personen,  welche  auswandern 
wollen,  mit  den  nöthigen  Auskünften,  Rathschlägen  und 
Empfehlungen  versehen  wird.“  Ausserdem  können  für 
solche  Zwecke  „Spezialmissionen“  vom  Bundesrath  der 
Eidgenossenschaft  abgeordnet  werden,  oder  wo  man  nicht 
soweit  ging,  förmliche  behördliche  Organisationen  zur 
Ueberwachung  und  Leitung  der  Auswanderung  zu  ver- 
langen, äusserte  man  wenigstens  ähnliche  Wünsche, 
die  meist  ihre  Spitze  gegen  das  private  Agentenwesen 
richten;  so  stellte  z.  B.  der  „Verein  für  Handelsgeographie“ 
in  Berlin  seiner  Zeit  folgende  Forderungen  auf:  „Es  ist 
erwünscht,  dass  die  Auswanderungsagenturen  entweder 
ganz  aufgehoben  und  die  bisherigen  Obliegenheiten  der- 
selben den  für  die  Auswanderungsbeförderung  konzessio- 
tiirten  deutschen  Dampfschiffahrtsgesellschaften  übertragen 
werden,  oder  dass  wenigstens  die  Thätigkeit  der  Auswan- 
derungsagenturen gesetzlich  so  geregelt  wird,  dass  die 
i deutschen  Auswanderer  nicht  mehr  wie  bisher  durch  die 
Privatspekulation  derselben  ausgebeutet  werden  können. 
Es  liegt  in  nationalem  Interesse,  die  deutschen  Auswanderer 
entweder  durch  staatlich  anerkannte  Auskunftskanzleien 
1 oder][durch  Vereine  und  Privatpersonen  über  die  Koloni- 
; sationsverhältnisse  in  den  transatlantischen  Ländern  und 
' sonstigen  Auswanderungsgebieten  zu  unterrichten,  jedoch 


mit  der  Einschränkung,  dass  jede  Anreizung  zur  Aus- 
wanderung und  jede  Auskunftsertheilung  zum  Zwecke  der 
Erzielung  geschäftsmässigen  Gewinnes  einer  strafrecht- 
lichen Verfolgung  unterliegt“.  Was  die  strafrechtlichen 
Vorschriften  betrifft,  so  bedroht  jetzt  schon  § 144  des 
St -G.-B.  die  Verleitung  zur  Auswanderung  mit  Gefängniss 
von  einem  Monat  bis  zu  zwei  Jahren. 

Welchen  dieser  sich  theil  weise  durchkreuzenden 
Wünschen  will  nun  der  jetzt  dem  deutschen  Bundesrathe 
vorliegende  Gesetzentwurf  Rechnung  tragen,  und  inwie- 
weit? Nach  den  bisher  vorliegenden  Inhaltsangaben  nimmt 
er  gar  keine  Rücksicht  auf  die  prinzipielle  Forderung, 
dass  der  Staat  die  Leitung  der  Auswanderung  dem  mehr 
oder  weniger  spekulativen  Privatgeschäft  aus  der  Hand 
nehmen  und  durch  Spezialbehörden  selbst  besorgen 
müsse.  Das  Deutsche  Reich  verzichtet  also  im  Gegensatz 
zur  Schweiz  vorläufig  auf  die  Beachtung  grosser  Gesichts- 
punkte bei  der  Regelung  des  Auswanderungswesens  und 
auf  die  Lösung  einer  zweifellos  ausserordentlich  dankbaren 
organisatorischen  Aufgabe,  die  sicher  mehr  im  Bereiche 
des  staatlichen  Thätigkeitsgebietes  liegt,  als  manche  andere 
heute  vom  Reich  ausgeübte  Funktion.  Man  weiss  freilich 
kaum,  ob  man  diesen  Verzicht  bedauern  soll,  wenn  man 
sieht,  dass  sich  der  Entwurf  nach  dem  Muster  des  vom 
Abgeordneten  Dr.  Kapp  in  der  Reichstagssession  des 
Jahres  1878  eingebrachten  Gesetzes  (Sten.  Berichte,  Bd.  I, 
S.  500,  Bd.  III,  S.  522,  Bd.  IV,  S.  1602),  auf  die  reichsgesetz- 
liche Unifizirung  der  Polizeivorschriften  über  Agenturen 
und  Auswanderung  beschränkt  und  innerhalb  dieses  Rah- 
mens ganz  einseitig  den  agrarischen  Wünschen,  die  wir 
oben  erwähnten,  gerecht  wird.  Eigene  Staatsbehörden  zur 
strammen  Durchführung  dieser  Agrarierforderungen  können 
am  wenigsten  erwünscht  sein;  so  kommt  man  nothge- 
drungen  dazu,  den  Verzicht  des  Reichs  auf  eine  höhere 
Auffassung  seiner  Aufgabe  vorläufig  sogar  gutzuheissen. 
Denn  bei  der  jetzigen  gesetzgeberischen  Konstellation  ist 
es  ziemlich  sicher,  dass  die  neuen  Polizeivorschriften  durch- 
gesetzt werden.  Dieselben  gehen  nach  allen  Angaben 
dahin , dass  jeder  Auswanderungslustige  im  Deutschen 
Reiche  seine  Absicht  nicht  später  als  vier  Wochen  vor 
ihrer  Ausführung  der  Ortspolizeibehörde  seines  Wohn- 
sitzes oder  in  Ermangelung  eines  solchen  der  Behörde  seines 
gewöhnlichen  Aufenthaltsortes  anzuzeigen  verpflichtet  wird. 
Die  Behörde  hat  sodann  die  bevorstehende  Auswanderung 
durch  Bekanntmachung  zur  öffentlichen  Kenntniss  zu 
bringen  und  nach  Ablauf  von  vier  Wochen  über  die  er- 
folgte Bekanntmachung  von  Amtswegen  eine  Bescheinigung 
zu  ertheilen.  Die  Auswanderung  ist  erst  nach  Ertheilung 
dieser  Bescheinigung  zulässig.  Als  auffallend  wird  aus  dem 
Entwurf,  der  übrigens  lieber  vollständig,  als  in  Auszügen 
veröffentlicht  werden  sollte,  noch  die  Höhe  der  vorgesehenen 
Strafen  gemeldet,  die  bis  zu  6000  M.  oder  6 Monaten  Ge- 
fängniss namentlich  für  Agenten  gehen  sollen.  Man  steht 
auch  hier  wieder  dem  Versuch  gegenüber,  sozialen  Massen- 
erscheinungen, deren  Ursachen  auf  ganz  anderen  Gebieten 
als  dem  moralischen  liegen,  durch  kleine  Polizeimittel  ent- 
gegenzutreten,  welche  von  einem  verhältnissmässig  engem 
Kreis  spezieller  Interessenten  aus  dem  Unternehmerstande 
gewünscht  werden.  Die  Zusammenfassung  der  bisherigen 
Landesgesetze  in  ein  einziges  Reichsgesetz  wird  der  einzige 
Fortschritt  sein,  den  wir  machen.  Tiefere  Einsicht  in  die 
Gründe  der  modernen  Völkerwanderung  von  Osten  nach 
Westen,  praktische  Erfahrungen  aus  der  Entstehung  und 
dem  Fortgang  der  deutschen  Auswanderung  insbesondere, 
dürfte  man  in  den  Motiven  des  neuen  Gesetzes  vergeblich 
suchen.  Dazu  fehlen  ja  bisher  auch  alle  eingehenderen 
Vorerhebungen,  und  der  Reichskommissar  in  Hamburg  kann 
bei  der  jetzigen  Organisation  alljährlich  über  nicht  viel 
mehr  als  Aeusserlichkeiten  berichten.  Die  Hoffnung  auf 
eine  Vervollkommnung  des  Entwurfes  nach  den  Wünschen 
der  Freunde  einer  gründlichen,  zeitgemässen  Reform  bleibt 
deshalb,  wie  die  Dinge  liegen,  wenig  aussichtsreich. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAL  BLATT. 


No.  9. 


1 18 


Agrarzustände  auf  Haiti.  Dem  kürzlich  erschienenen 
Buche  von  Roche-Grellier  (Haiti,  Etudes  economiques,  Paris, 
Arthur  Rousseau,  1891)  entnehmen  wir  folgende  Schilderung: 
Wer  Haiti,  dessen  erster  Anblick  so  glänzend  ist,  näher  be- 
trachtet, wird  in  trauriger  Weise  überrascht  werden.  Dieser 
Boden,  welcher  seinen  glücklichen  Besitzern  fast  unerschöpfliche  1 
Schätze  darzubieten  scheint,  ist  nur  zu  oft  sich  selbst  überlassen 
und  bringt  blos  eine  zwar  prächtige,  aber  dem  Lande  und  für 
das  allgemeine  Wohl  unnütze  Vegetation  hervor.  Befragt  man, 
um  die  Ursachen  dieser  Erscheinung  näher  zu  erforschen,  den 
Bauer,  so  wird  man  vor  dem  Schmutz  und  dem  äussersten  Elend, 
das  ihn  umgibt,  zurückschrecken.  Ueberall  begegnet  man  in 
Lumpen  gehüllten  Wesen,  die  ihr  Leben  muthlos  dahinschleppen 
und  kaum  über  die  zu  ihrer  Erhaltung  nothwendigen  Lebensmittel 
verfügen.  Ueberall  herrscht  Nachlässigkeit,  Unordnung  und  ab- 
stossende  Unreinlichkeit.  Der  Landbewohner  ist  fast  nie  Eigen- 
thümer  des  Bodens,  den  er  in  seinem  Schweisse  bebaut.  Sein 
Arbeitslohn  ist  so  gering,  dass  er  ohne  Muth,  ohne  Hoffnung 
und  mit  jener  Sorglosigkeit,  welche  allein  dem  Menschen  eigen, 
der  nichts  mehr  vom  Geschicke  erwartet,  seine  Arbeit  verrichtet. 
Genauere  Untersuchungen  zeigen,  dass  die  grosse  Mehrheit 
aller,  und  namentlich  der  schwarzen  Landarbeiter,  dieses  elende 
Leben  führen.  Nur  die  Weissen  und  ein  sehr  geringer  Theil 
der  schwarzen  Bevölkerung  leben  in  einigermassen  civilisirten 
Verhältnissen.  Berücksichtigt  man  jedoch  die  Tüchtigkeit  und 
die  bedeutenderen  Anlagen  der  Bevölkerung,  so  muss  die  Schuld 
an  den  geschilderten  Zuständen  der  gesellschaftlichen  Organi- 
sation und  den  Fehlern  der  Verwaltung  zugeschrieben  werden. 


Arbeiterzustände. 


Betriebsunfälle  in  der  Industrie  Nürnbergs. 

Der  Nürnberger  „Verein  für  öffentliche  Gesundheits- 
pflege“ veröffentlichte  vor  einigen  Wochen  seinen  Sanitäts- 
bericht  für  das  Jahr  1890,  der  auch  fragmentarische 
Uebersichten  über  die  im  Berichtsjahre  vorgekommenen 
Berufsunfälle  enthält.  Sind  diese  Berichte  auch  unvoll- 
kommen — es  ist  z.  B.  gar  nicht  ersichtlich,  wie  viel 
Arbeiter  in  der  Zeit,  für  welche  berichtet  wird,  beschäftigt 
waren  — so  enthalten  sie  doch  beachtenswerthes  Material, 
wovon  wir  das  Wissenswertheste  herausgreifen.  In  2576 
auf  Grund  des  Unfallversicherungs-Gesetzes  versicherungs- 
pfhehtigen  Betrieben  ereigneten  sich  im  Jahre  1890  1248 
LTnfälle,  wovon  833  eine  Erwerbsunfähigkeit  von  weniger 
als  13  Wochen,  403  eine  Erwerbsbeschränkung  von  mehr 
als  13  Wochen,  bezw.  dauernde  Erwerbsunfähigkeit  zur 
Folge  hatten  und  12  Unfälle  einen  tödlichen  Verlauf  nahmen. 
Auf  die  verschiedenen  Berufe  vertheilen  sich  die  Unfälle 


folgendermassen : 


Metallindustrie  . . . . 

282  leichte, 

141 

schwere,  2 tödtl.  Lbifälle 

Baugewerbe 

245  ., 

105 

» 6 

Holzindustrie  .... 

82  „ 

33 

„ 1 

Speditionsbetrieb  | 
Speichereibetrieb  j . . 

46  „ 

29 

„ 1 

Kellereibetrieb  I 

Brauerei  und  Mälzerei  . 

42  „ 

17 

2 

55  u 55 

Chemische  Industrie . . 

19  „ 

14 

55  " 55 

Nahrungsmittelindustrie 

13  „ 

12 

55  55 

Fuhrwerksberufe  . . . 

12  „ 

13 

55  D 

Von  den  Unfällen  mit  tödtlichem  Ausgang  entfallen 
auf  das  Baugewerbe  allein  die  Hälfte.  Bezüglich  der 
Gefährlichkeit  der  übrigen  Verletzungen  steht  der  Fuhr- 
werksberuf obenan,  bei  welchem  die  Zahl  der  schweren 
Unfälle  die  der  leichten  überstiegen  hat.  Dann  folgen:  die 
Nahrungsmittelindustrie,  die  chemische  Industrie,  die  Spedi- 
tions-,  .Speicherei-  und  Kellereibetriebe,  die  Metallindustrie, 
das  Baugewerbe,  die  Holzindustrie.  Als  schwere  Ver- 
letzungen sind  hier  jene  Unfälle  bezeichnet,  welche  eine 
Erwerbsunfähigkeit  von  mehr  als  13  Wochen,  bezw.  dau- 
ernde Erwerbsbeschränkung  oder  Erwerbsunfähigkeit  zur 
Folge  hatten,  als  leichte  solche,  welche  innerhalb  13  Wochen 
zur  Heilung  führten.  In  dem  Berichte  ist  die  Zahl  der  in 
den  betr.  Industrien  beschäftigten  Arbeiter  nicht  angegeben, 
ebensowenig  sind  die  Unfälle  nach  Alter  und  Geschlecht  aus- 
geschieden worden;  bezüglich  der  Zeit  aber,  in  welcher  sich 
die  Unfälle  ereigneten,  gibt  eine  beigefügte  Tabelle  alle 


wünschenswerthen  Aufschlüsse.  Es  gelangten  zur  Anzeige: 
Im  I.  Quartal  259,  im  II.  Quartal  349,  im  III.  Quartal  325, 
im  IV.  Quartal  315  Unfälle.  Auf  die  einzelnen  Kalender- 
monate vertheilen  sich  die  Unfälle  wie  folgt:  Januar  76, 
Februar  94,  März  89,  April  108,  Mai  112,  Juni  129,  Juli  121, 
August  123,  September  81,  Oktober  110,  November  104, 
Dezember  101.  Im  Januar  haben  wir  die  geringste  Zahl  der 
Unfälle,  im  ersten  Jahresmonat  gehen  in  der  Regel  die  Ge- 
schäfte am  flauesten,  in  den  ersten  Wochen  ruht  die  Arbeit 
wegen  Inventur  in  vielen  Betrieben  ganz.  Ende  Juni  er- 
reicht die  Mitgliederzahl  der  Gemeindekrankenkasse  und 
wohl  auch  die  Zahl  der  überhaupt  beschäftigten  Arbeiter 
den  höchsten  Stand,  und  im  Monat  Juni  ereignen  sich  auch 
die  meisten  Unfälle.  Auffallend  ist  der  Rückgang  der  Unfälle 
von  August  bis  zum  Monat  September  von  123  auf  81.  Die 
Arbeiterzahl  ist  in  diesem  Zeitraum  nicht  zurückgegangen. 
Es  scheint  das  eine  örtliche  Erscheinung  zu  sein,  die  viel- 
leicht darauf  zurückzuführen  ist,  dass  in  Folge  des  im 
Monat  September  stattfindenden  Volksfestes  und  der  sich 
daran  schliessenden  Herbstmesse  in  vielen  Betrieben  meh- 
rere Tage  die  Arbeit  ruht,  auch  sonst  vielfach  die  Arbeit 
gemieden  wird,  vor  Allem  aber  in  dieser  Woche  keine 
Ueberstunden  gemacht  werden.  Auf  die  einzelne  Kalender- 
woche entfallen  im  Durchschnitt  24,  auf  den  Tag  — das 
Jahr  zu  300  Arbeitstagen  gerechnet  — 4 (genau  4,16)  Un- 
fälle.  Nach  Wochentagen  geordnet  vertheilen  sich  die  Un- 
fälle wie  folgt:  auf  Montag  216,  Dienstag  196,  Mittwoch  195, 
Donnerstag  185,  Freitag  203,  Samstag  204,  Sonntag  29.  Bei 
20  Fällen  konnte  nicht  ermittelt  werden,  an  welchem  Tage 
sie  sich  ereigneten.  Für  die  hohe  Zahl  der  Unfälle  an  den 
letzten  Wochentagen  sind  uns  die  Ursachen  bekannt.  Dass, 
an  Sonntagen  sich  so  viele  Unfälle  ereigneten,  ist  ein  Be- 
weis, dass  die  Sonntagsarbeit  noch  ziemlich  häufig  ist.  Die. 
meisten  Unfälle  sind  am  Montag  vorgekommen.  Daraus 
haben  verschiedene  Zeitungen  den  Schluss  gezogen,  dass 
die  Arbeiter  am  Montag  nicht  immer  nüchtern  und  deshalb’ 
leichtsinnig  bei  der  Arbeit  sind.  Mag  sein,  dass  in  einzelnen 
Fällen  dieser  Vorwurf  berechtigt  ist,  im  Allgemeinen  gewiss 
nicht.  Die  vermehrte  Zahl  der  Unfälle  an  Montagen  dürfte 
in  der  Hauptsache  auf  den  Arbeitswechsel  zurückzuführen; 
sein.  Die.  meisten  Arbeiter  werden  mit  Beginn  der  Woche 
eingestellt,  sie  sind  vielfach  mit  den  Maschinen,  die  sie  zu, 
bedienen  haben,  nicht  vertraut  und  verunglücken  oft  schon 
in  den  ersten  Stunden  der  Beschäftigung. 

Nürnberg.  Martin  Segitz.  | 


lieber  die  Abnahme  der  Arbeitskraft.  Zur  Kontro- 
verse über  den  Einfluss  der  Fabrikarbeit  auf  die  Abnutzung 
der  Arbeitskraft  dürften  einige  Daten  von  Bedeutung  sein 
welche  sich  im  statistischen  Anhang  des  Jahresberichten 
des  Vereins  für  Schafwollindustrielle  in  Brünn  für  1881 
finden.  _ . . 

Die  Anzahl  der  männlichen  Arbeiter  betrug  in  den 
Altersstufen: 


14—20  Jahre  . 

. . . . 1101  Personen 

21—30  „ 

. . . . 1291 

31—40  „ 

. . . . 1372 

41-50  ., 

. . . . 1013  „ 

51—60  „ 

. ...  382 

61—70  „ 

. ...  150 

Dass  die  Altersstufe 

31 — 40  Jahre  am  stärksten 

ist,  hat  jedenfalls  seinen  Grund  darin,  dass  die  Militärpfiich 
die  Besetzung  der  vorangehenden  Altersstufe  beträchthcl 
mindert.  Zu  der  namhaften  Abnahme  in  der  vierten  Alters  I 
stufe  tritt  als  Beweis  der  bedeutenden  Abnahme  der  Ar 
beitsfähigkeit  mit  der  Grenze  des  Mannesalters  der  überau: 
beträchtliche  Sprung  in  der  fünften  Alterklasse  hinzu. 

Die  Anzahl  der  weiblichen  Arbeiter  betrug  in  dei 
Altersstufen: 

14-20  Jahre 1693  Personen 

21—30  „ 2434  „ 

31—40  „ 1062 

41-50 615 

51-60  ,,  240  „ 

61 — 70  „ 64  „ 


No.  9. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


119 


Der  bedeutende  Abstand  zwischen  der  zweiten  und 
dritten  Altersstufe  erklärt  sich  jedenfalls  zumeist  dadurch, 
dass  die  Arbeiterinnen,  die  zum  weitaus  grössten  Theile 
aus  der  Landbevölkerung  der  Umgebung  herrühren  und 
aus  ihrem  Arbeitslohn  bei  der  Bedürfnisslosigkeit  ihrer 
Lebensweise  und  der  Unterstützung  aus  ihrem  ländlichen 
Familienkreise  verhältnissmässig  beträchtliche  Ersparnisse 
machen,  in  dieser  Altersstufe  sich  verehelichen  und  nicht 
mehr  in  die  Fabrik  gehen.  Auf  die  durch  Fabrikarbeit 
herbeigeführte  Abnahme  der  Arbeitskraft  führen  aber  die 
Unterschiede  in  den  späteren  Altersklassen  zurück. 

Das  durchschnittliche  Lebensalter 
des  männlichen  Arbeiters  beträgt  33  Jahr  4 Monat  21  Tage 
das  durchschnittliche  Lebensalter 
des  weiblichen  Arbeiters  beträgt  28  ,,  8 „ 16  „ 

das  Durchschnittslebensalter  beider 
beträgt 30  „ 11  „ 26  „ 

Die  entsprechenden  Daten  über  die  Gesammtbevölke- 
rung  stehen  leider  nicht  zur  Verfügung. 

Die  durchschnittliche  Dauer  der  Pensionsbezüge  bei 
den  Pensionären  der  genannten  Arbeiterpensionskasse  belief 
sich  nach  einer  Berechnung 

im  Jahre  1885  auf  ...  I Jahr  5 Monat 

bei  Männern 1 „ 7 „ 

bei  Weibern 1 „3  „ 

Diese  Ziffern  sind  wohl  der  deutlichste  Beleg  dafür, 
dass  die  Fabrikarbeit  ihre  Invaliden  in  einem  Zustande  der 
Versorgung  überliefert,  welcher  den  körperlichen  Ruhe- 
genuss nicht  sehr  lange  andauern  lässt. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Hirsch-Duncker’sclie  Gewerkvereine.  Bei  dem  Ver- 
band der  deutschen  Gewerkvereine  betrug  der  Bestand  der 
Verbandskasse  am  Schluss  des  vorigen  Jahres  43  964,65  M. ; 
in  der  Organkasse  stellte  sich  der  Bestand  auf  21  343,30  M. 
und  in  der  Drucksachenkasse  auf  1076,09  M.  Der  Verband 
zählte  Ende  v.  J.  61  653  Mitglieder,  die  sich  auf  die  einzel- 
nen Gewerkvereine  wie  folgt  vertheilen:  Masehinenbau- 
und  Metallarbeiter  21  309,  Fabrik-  und  Handarbeiter  10  120, 
Tischler  und  verwandten  Berufe  4980,  Schuhmacher  und 
Lederarbeiter  4012,  Porzellanarbeiter  3935,  Stuhlarbeiter 
(Tuchmacher)  3513,  Klempner  und  Metallarbeiter  2608, 
Schneider  2374,  Bauhandwerker  1809,  Kaufleute  1468,  Maler 
und  graphische  Berufe  1436,  Cigarren-  und  Tabaksarbeiter 
1162,  Berg-  und  Grubenarbeiter  956,  Töpfer  880,  Kondi- 
toren, Pfefferküchler  etc.  433,  Bildhauer  413,  Schiffszim- 
merer 183,  Vergolder  Berlin  (selbständiger  Ortsverein)  20, 
Reifschläger  Danzig  (desgl.)  42.  Durch  den  mit  dem  2t . De- 
zember v.  J.  erfolgten  Austritt  des  Gewerk  Vereins 
der  Porzellanarbeiter  (jetzt  Verband  der  [’orzellan- 
arbeiter,  Vorort  Charlottenburg)  ist  die  Mitgliederzahl  auf 
57  718  herabgegangen.  Die  Invalidenkasse  des  Verbandes 
ist  bekanntlich  in  Folge  behördlichen  Einschreitens  in  Li- 
quidation. Ebenso  wird  der  Gewerkverein  der  Maschinen- 
bau- und  Metallarbeiter  demnächst  seine  Invalidenkasse 
auflösen. 

Die  Chausseearbeiter  der  Stadt  Paris  haben  vor 
wenigen  Monaten,  auf  Grund  des  Syndikatsgesetzes  vom 
21.  März  1884,  einen  Gewerkverein  gebildet,  um  ihre  Inter- 
essen gleich  den  sonstigen  organisirten  Arbeitern  wirksam 
vertreten  zu  können.  Als  Ergebniss  mehrerer  Besprechungen 
hatten  sie  denn  auch  vor  Kurzem  an  die  städtische  Verwaltung 
ein  Schreiben  gerichtet,  in  welchem  sie  ihre  Wünsche  auf 
Verbesserung  ihrer  Lage  formulirten.  Die  Verwaltung 
sendete  dieses  Schriftstück  an  das  Ministerium  des  Innern, 
und  die  Folge  war,  dass  die  Staatsanwaltschaft  dem  Syn- 
dikat die  Ordre  ertheilte,  sich  aufzulösen.  Die  Mitglieder 
weigern  sich  jedoch  dessen,  und  sind  fest  entschlossen,  es 
auf  einen  Prozess  ankommen  zu  lassen.  Sie  sehen  in  der 
1 Aufforderung  der  Staatsanwaltschaft  eine  Beschränkung  des 
Gesetzes,  welches  allen  Arbeitern  das  Recht  gibt,  behufs 
1 Verbesserung  ihrer  Lage  Syndikate  zu  bilden.  Man  will  den 


städtischen  Arbeitern  dieses  Recht  unter  dem  Vorwände 
verweigern,  dass  sie  Funktionäre  seien,  für  die  das  ange- 
zogene Gesetz  eben  so  wenig,  wie  für  Beamte  Geltung 
habe.  Was  hat  es  nun  damit  für  Bewandtniss?  Die 
städtischen  Arbeiter  sind  in  zwei  Kategorieen  get heilt,  in 
regelmässig  angestellte  und  in  Hillsarbeiter.  Ihre  Beschäf- 
tigung besteht  in  Pflasterung,  Sandaufschüttung,  Strassen- 
reinigung,  Pflanzungen,  Anlage  und  Pflege  öffentlicher  Gär- 
ten, Instandhaltung  städtischer  Gebäude,  Brunnen  etc.  Sie 
bilden  mehrere  Klassen,  deren  Monatslöhne,  basirt  auf  26  Ar- 
beitstage von  je  10  Stunden,  sich  für  diege  wohnlichen  Arbeiter 
auf  105—130  Frcs.  und  für  die  Aufseher  auf  120—160  Frcs. 
stellen.  Ueberstunden  werden  extra  bezahlt.  Ausserdem 
erhalten  sie,  nach  einer  Verfügung,  die  erst  im  vorigen 
Jahre  in  Folge  eines  dahingehenden  Beschlusses  des  Müni- 
zipalrathes  getroffen  wurde,  eine  jährliche  Pension  von 
500  Frcs.,  und  zwar  schon  nach  zwanzig  Dienstjahren.  Dies 
Alles  gilt  jedoch  nur  für  die  regelmässig  angestellten  Ar- 
beiter. Die  Hilfsarbeiter  werden  pro  Stunde  bezahlt,  haben 
sich  ihre  Werkzeuge,  wie  Schiebkarren  etc.,  selbst  zu  be- 
schaffen und  erhalten  keine  Pension.  Bei  vollem  Arbeitstag 
stellt  sich  der  Lohn  der  bestbezahlten  Arbeiter  einzelner 
Dienstzweige  auf  nicht  mehr  als  Frcs.  3,80,  während  ein 
grosser  Theil  weiblicher  Hilfsarbeiter  — noch  viel  weniger, 
nämlich  Frcs.  2,10—2,25  verdient.  Dabei  ist  noch  ins  Auge 
zu  fassen,  dass  die  Zahl  der  Hilfsarbeiter  grösser  ist  als  die 
der  ordentlich  angestellten.  So  beträgt  das  Hilfspersonal 
gegenwärtig  4 250,  während  das  regelmässige  Personal  nur 
3 350  Leute  zählt.  Und  aus  diesen  Hilfsarbeitern  heraus 
hat  sich  eben  das  beanstandete  Syndikat  gebildet.  Den 
Verhältnissen  entsprechend  sind  auch  die  Forderungen, 
welche  es  an  die  städtische  Verwaltung  gerichtet.  Es 
verlangt:  Erhöhung  der  Löhne,  und  zwar  derart,  dass  keine 
städtischen  Arbeiter  weniger  als  4 Frcs.  täglich  verdienen; 
halben  Lohn  für  die  Ruhetage,  Beistellung  der  nöthigen 
Arbeitswerkzeuge  und  endlich  Altersversorgung  der  Hilfs- 
arbeiter. ... 

Was  an  der  Auflösungsordre  besonders  auftällt,  ist, 
dass  es  sich  gerade  gegen  dieses  Syndikat  richtet.  Es  be- 
stehen nämlich  noch  mehrere  andere  von  städtischen  Ar- 
beitern gebildete  Syndikate,  so  das  Syndikat  der  Kanal- 
räumer, der  Pflasterer  wie  der  Strassenkehrer.  Behält 
die  Staatsanwaltschaft  Recht,  dann  müssten  diese  Syndikate, 
von  welchen  ersteres  schon  seit  fünf  Jahren  besteht,  ohne 
beanstandet  worden  zu  sein,  ebenfalls  aufgelöst  werden. 
Ja  noch  mehr:  Werden  städtische  Arbeiter  als  Funktionäre 
betrachtet,  die  nicht  berechtigt  seien,  Syndikate  zu  bilden, 
dann  muss  dies  noch  mehr  von  Arbeitern  gelten,  die  vom 
Staate  beschäftigt  werden,  wie  dies  bei  den  1 abakarbeitern 
der  Fall  ist.  Nun  bilden  diese  in  den  verschiedenen  Städten, 
in  welchen  Tabakfabriken  bestehen,  nicht  nur  besondere 
Syndikate,  sondern  auch  gleichzeitig  einen  Nationalbund 
(Federation  des  ouvriers  et  ouvrieres  des  manufactures  de 
tabacs  de  France),  der  erst  zu  Weihnachten  vorigen  Jahres 
einen  Kongress  abgehalten  hat.  Wird  also  ein  von  städti- 
schen Arbeitern  gebildetes  Syndikat  aus  dem  von  der 
Staatsanwaltschaft  angegebenen  Grund  aufgelöst,  dann 
müssten  logischer  Weise  auch  die  Tabakarbeitersyndikate 
aufgelöst  werden.  Es  ist  darum  noch  fraglich,  ob  es  zu 
einem  Prozess  kommen  wird;  ja,  will  die  Regierung  nicht 
der  Reaktion  in  die  Hände  arbeiten,  darf  sie  es  zu  einem 
solchen  nicht  kommen  lassen,  wie  dies  ein  an  den  Präsidenten 
des  Syndikats  gerichtetes  Schreiben  eines  reaktionären 
Munizipalrathes  deutlich  genug  zeigt.  In  demselben  erklärt 
sich  der  Absender  bereit;  alle  Kosten  des  etwaigen  Pro- 
zesses tragen  zu  wollen,  was  aber  keineswegs,  wie  man 
annehmen  könnte , aus  Arbeiterfreundlichkeit  geschieht, 
denn  er  schreibt:  „Die  Regierung  und  die  von  ihr  aus- 
gehenden Behörden  gewähren  den  Arbeiterverbindungen 
der  Privatindustrie  ihren  offiziellen  Schutz,  _ um  sich  eine 
leichte  Popularität  zu  schaffen.  ...  Es  ist  Zeit,  es  ist  recht, 
dass  man  auf  kommunalen  und  städtischen  Bauhöfen,  sowie 
in  Werkstätten  die  sozialökonomischen  Theorieen  anwende, 
welche  die  Minister  und  ihre  Beamten  bei  Anderen  er- 
muthigen  und  unterstützen,  ohne  dass  es  ihnen  einen  Sou 
kostet?4  Es  ist  dies  recht  malitiös,  hoffentlich  weiss  die 
Regierung  die  richtige  Lehre  daraus  zu  ziehen. 


120 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  9. 


Unternehmerverbände. 


Verband  zur  Besserung  der  ländlichen  Arbeitsver- 
hältnisse. Wie  das  „C'hemn.  Tagbl.“  mittheilt,  wird  sich 
in  diesen  Tagen  in  Leipzig  die  Gründung  eines  Verbandes 
zur  Besserung  der  ländlichen  Arbeitsverhältnisse  für  das 
Kgr.  Sachsen  vollziehen.  Die  Ziele  des  Verbandes,  der 
nach  dem  Muster  eines  in  der  Provinz  Sachsen  bestehenden 
gegründet  ist,  sind:  1.  Bekämpfung  des  dolosen  Kontrakt- 
bruches. 2.  Vermittelung  von  guten  Arbeitern  und  Kontrolle 
der  Agenten.  3.  Kontrolle  der  sozialdemokratischen  Presse, 
besonders  im  Hinblick  auf  die  immer  zahlreicher  auftre- 
tenden Hetzartikel  gegen  einzelne  Landwirthe.  4 Fest- 
setzung gemeinsamer  Massregeln  gegen  die  sozialdemo- 
kratische Propaganda  auf  dem  Lande.  5.  Herbeiführung 
von  Einrichtungen  zum  Vortheile  braver  ständiger  Arbeiter. 

Es  handelt  sich  hier  lediglich  um  Unternehmer- 
interessen und  um  Bekämpfung  der  selbständigen  Regungen 
der  Arbeiter.  Es  wäre  falsch  anzunehmen,  dass  der  zu 
ründende  Verband  sich  lediglich  gegen  die  Sozialdemo- 
ratie  richte.  Es  muss  im  Gegcntheile  angenommen  werden, 
dass  jedes  dem  ländlichen  Unternehmerthume  unbequeme 
Vorgehen  der  Landarbeiter  als  sozialdemokratisch  stigma- 
tisirt  werden  und  damit  die  Selbständigkeit  derselben  noch 
mehr  eingeschränkt  werden  dürfte. 

Ein  Syndikat  französischer  Spinnereibesitzer.  Das 

französische  Sprichwort,  wonach  der  Hunger  während  des 
Essens  kommt  (L’appetit  vient  en  nrangeant)  scheint  auch 
auf  die  französischen  Spinnereibesitzer  Anwendung  zu 
finden.  Kaum  hat  das  Parlament  einen  Zolltarif  votirt,  der  zu 
ihren  Gunsten,  je  nach  der  Feinheit  des  Garns,  für  ein- 
faches Rohgarn  einen  Zoll  von  19,50  frcs.  bis  403  frcs.  mit 
einem  Zuschlag  von  20  % für  gebleichtes  und  von  36  °/0 
für  gezwirntes  Garn  festsetzt,  welches,  wenn  gebleicht, 
noch  überdies  20  ”/0  zu  zahlen  hat,  so  finden  sie,  dass  die  der- 
zeitigen Garnpreise  nicht  profitabel  genug  sind  und  be- 
ginnen nun,  behufs  Erhöhung  der  Preise,  sich  zu  Syndi- 
katen zu  vereinen.  So  hat  sich  in  Fourmies  ein  Syndikat 
von  Spinnereibesitzern  gebildet,  die  über  700  000  Spindeln 
verfügen  und  gegenwärtig  über  eine  Einschränkung  der 
Produktion  Berathungen  pflegen.  Wie  verlautet  wollen  sie 
den  Arbeitstag  auf  6 Stunden,  d.  i.  um  die  Hälfte  reduziren 
und  damit  natürlich  auch  die  Arbeitslöhne.  Dabei  hatten 
die  Textilfabrikanten  die  Erhöhung  der  Zölle  als  im  Inter- 
esse der  von  ihnen  beschäftigten  Arbeiter  hingestellt  Wie 
nun,  wenn  die  Arbeiter  bei  ihren  ohnedies  niedrigen  Löhnen 
sich  dem  nicht  fügen  wollen?  Man  vergesse  nicht,  dass 
das  Syndikat  seinen  Sitz  in  Fourmies  hat,  wo  die  Gemüther 
noch  vom  1.  Mai  her  aufgeregt  sind  und  sein  Vorgehen 
leicht  als  eine  Provokation  aufgefasst  werden  kann. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  in  Steinkohlen- 
bergwerken. Dem  deutschen  Bundesrathe  sind  Bestimmun- 
gen über  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  auf  Stein- 
kohlenbergwerken , Zink-  und  Bleibergwerken  und  auf 
den  Kokereien  im  Regierungsbezirk  Oppeln  zur  Be- 
schlussfassung zugegangen.  Danach  dürfen  Iris  zum 
I.  April  1897  Arbeiterinnen  im  Regierungsbezirk  Oppeln 
auf  Steinkohlenbergwerken:  beim  Hin-  und  Zurückfahren 
der  Förderwagen  zwischen  Ausstürzvorrichtungen  und 
Wäschen,  beim  Verladen  der  Steinkohle,  auf  Zink-  und 
Bleibergwerken,  bei  Bedienung  der  Aufbereitungsanstalten, 
beim  Transport  der  Erze  zum  Zweck  der  Um-  und  Ver- 
ladung auf  Kokereien,  beim  Anfahren  der  Kohlen  zu  den 
Oefen,  beim  Einstampfen  der  Kohlen,  bei  Bedienung  der 
Separationsvorrichtungen,  beim  Füllen,  Verladen  und  Um- 
lauen, sowie  Transport  der  Kokes,  beim  Stellen  der  Meiler 
auch  fernerhin  zur  Nachtzeit  unter  bestimmten  festgesetzten 
Bedingungen  beschäftigt  werden.  Auf  Steinkohlenberg- 
werken und  Zink-  und  Bleierzwerken,  deren  Betrieb  auf 
eine  doppelte  tägliche  Arbeitsschicht  eingerichtet  ist,  sollen 
die  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  über  Verbot  der 

o o 


Nachtarbeit,  Maximalarbeitstag  und  Mittagspause  für  alle 
über  16  Jahre  alte  Arbeiterinnen,  welche  mit  den  vorher 
aufgeführten  Arbeiten  beschäftigt  werden,  unter  gewissen 
Massgaben  bis  zum  1.  April  1902  ausser  Anwendung  treten. 
Es  handelt  sich  hier  um  ein  Heer  von  rund  15,000  Arbeits- 
mädchen  und  Frauen,  deren  Ausnutzung  durch  die  mächtigen 
Grossbetriebe  für  sehr  geringe  Löhne  (80  Pfennig  bis  1 Mark 
täglich)  infolge  einer  im  Herbst  vorigen  Jahres  bekannt  ge- 
wordenen Eingabe  der  Lhiternehmer  theilweise  bis  in  das 
nächste  Jahrhundert  verlängert  wird.  Es  ist  nicht  abzusehen, 
warum  eine  über  alles  Maass  ausgedehnte  Uebergangsfrist 
gewählt  wurde.  In  Oesterreich  hat  man  mit  kürzeren 
Fristen  sehr  gute  Erfahrungen  gemacht.  Hält  man  aber 
einen  so  langen  Termin  für  nöthig,  so  sollte  man  Sorge 
tragen,  dass  er  wirklich  zu  einer  Uebergangsfrist  werde,  indem 
man  geeignete  Bestimmungen  für  eine  von  Jahr  zu  Jahr 
sich  steigernde,  wirklich  schrittweise  und  nicht  vollständig 
dem  Zutalle  überlassene  Einschränkung  der  weiblichen 
Nachtarbeit  trifft. 

Kinderschutz  ausserhalb  der  Fabriken.  Erhebungen 
über  die  Benutzung  von  Schulknaben  zum  Kegelaufsetzen 
in  Gastwirthschaften  werden  dem  Vernehmen  nach  gegen- 
wärtig von  den  Behörden  in  Preussen  veranstaltet.  Sollte 
hiermit  ein  Anfang  zur  Ausdehnung  des  gesetzlichen  Kinder- 
schutzes über  die  Fabrik  hinaus  auf  die  sogenannte  „freie 
Erwerbsthätigkeit“  gemacht  werden,  so  wäre  dieser  Schritt 
lebhaft  zu  begrtissen.  Die  Ausnutzung  der  schulpflichtigen 
Kinder  für  Austragezwecke,  beim  Hausiren  und  bei  ähn- 
lichen Geschäften  hat  Dimensionen  angenommen,  welche 
mit  der  einfachsten  Menschlichkeit  nicht  mehr  zu  verein- 
baren sind.  Eine  systematische  Bekämpfung  dieses  Unfugs 
wurde  aber  noch  nirgends  versucht;  höchstens,  dass  Polizei- 
behörden hier  und  dort  und  für  den  Bereich  einer  einzelnen 
Stadt  das  Hausiren  der  Kinder  verboten  oder  beschränkt 
haben.  Die  jetzt  im  Gange  befindlichen  preussischen  Er- 
hebungen werden  also  hoffentlich  möglichst  umfassend  vor- 
genommen und  müssen  als  praktisches  Ergebniss  allgemeine 
Vorschriften  gegen  die  Ausnutzung  der  Kinderarbeit  ausser- 
halb der  Fabriken  und  Werkstätten  herbeiführen.  Dass  die 
Landwirtschaft  die  Kräfte  schulpflichtiger  Kinder  eben- 
falls in  sehr  weitgehendem  Maasse  ausnutzt,  bedarf  kaum 
der  Erwähnung,  Wie  tief  hier  der  Missstand  bereits  ein- 
gewurzelt ist,  zeigt  eine  Bewegung,  die  sich  gegenwärtig 
m rheinischen  landwirtschaftlichen  Vereinen  bemerklich 
macht,  und  die  darauf  hinausgeht,  im  neuen  preussischen 
Volksschulgesetz  die  Beendigung  der  Schulzeit  fakultativ 
auf  das  13.  Jahr,  statt  auf  das  14.  des  Regierungsentwurfes, 
festzusetzen,  sowie  allgemein  für  ländliche  .Schulen  die  be- 
rüchtigte Sommerhalbtagsschule  einzuführen. 


Arbeiterversicherung. 


Haftpflicht  und  Unfallversicherung  der  Arbeiter  in 
Russland.  Die  russische  Fabrikgesetzgebung  hat  bis  jetzt 
die  Entschädigung  der  Arbeiter  für  die  von  ihnen  erlittenen 
Unfälle  im  Betrieb  vollständig  ausser  Acht  gelassen.  Es 
wird  jedoch  demnächst  ein  Gesetz  erwartet,  welches  diese 
Frage  für  das  ganze  Reich  in  einheitlicher  Weise  regeln  soll. 

In  Vorbereitung  ist  das  Projekt  einer  staatlichen  Un- 
fallversicherung der  Arbeiter  in  Russland  schon  seit  dem 
Jahre  1881.  Damals  hatte  die  Industrie-  und  Handelsgesell- 
schaft den  Auftrag  erhalten,  ein  bez.  Gesetz  auszuarbeiten. 
Zwei  Ausschüsse  unter  der  Leitung  der  Grafen  jgnatiew 
und  Walujew  waren  mit  der  Frage  beschäftigt.  Ihre  Vor- 
schläge unterscheiden  sich  in  den  Details,  aber  sie  stimmen 
darin  überein,  dass  die  Kosten  der  Entschädigung  im  Falle 
eines  Unfalles  sowohl  von  Fabrikbesitzern  und  Unternehmern 
aller  Art,  wie  auch  von  juristischen  Personen,  Aktiengesell- 
schaften, Kommanditvereinen  u.  dergl.  getragen  werden 
sollen.  Die  Entschädigung  soll  gewährt  werden,  wenn  der 
Unfall  verursacht  wurde:  I.  durch  eine  mangelhafte  Kon- 

struktion der  Maschinen;  2.  in  Folge  der  Nachlässigkeit  des 
Aufsichtspersonals  und  durch  den  Mangel  an  Schutzvor- 
richtungen; 3.  in  jedem  Falle  in  denjenigen  Produktions- 
zweigen, welche  für  die  Gesundheit  besonders  schädlich 


No.  9. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


121 


sind.  Dieser  Gesetzentwurf  trägt  mehr  den  Charakter  eines  ) 
Haftpflichtgesetzes. 

Die  Vorlage  des  Ministers  Wyschnegradskij,  welche 
mehr  dem  Prinzipe  der  Unfallversicherung  entspricht,  beab- 
sichtigt die  Versicherung  vermittelst  eines  für  alle  Fabriken 
und  Industriebetriebe  zu  bildenden  Fonds  durchzuführen. 
Die  Beiträge  sollen  entsprechend  der  Arbeiterzahl  jedes 
Unternehmers  aufgebracht  werden.  Für  die  Arbeitsun- 
fähigen sind  Altersrenten  in  Aussicht  gestellt;  bei  den  Un- 
fällen, welche  den  Tod  nach  sich  ziehen,  soll  den  Familien 
eine  Rente  gewährt  werden. 

Als  eine  weittragende  und  durchaus  zu  billigende 
Vorschrift  kann  die  Bestimmung  des  Gesetzentwurfs  gelten, 
wonach  der  Unternehmer  prinzipiell  in  jedem  Fall  als  ent- 
schädigungspflichtig anzusehen  ist  und  ihm  der  gerichtliche 
Nachweis  des  Gegentheils  obliegt,  wenn  er  die  Entschädi- 
gung zu  zahlen  verweigert.  Diese  Bestimmung  verliert 
aber  selbstverständlich  ihre  praktische  Bedeutung,  wenn 
die  Arbeiter  auf  Grund  eines  Unfallversicherungsgesetzes 
nach  dem  Projekte  Wyschnegradskij’s  entschädigt  werden. 

Bisher  ist  die  Sorge  um  die  Verhütung  von  Unfällen 
den  Behörden  für  Fabrikangelegenheiten  überlassen,  dort 
wo  solche  bestehen.  Als  ein  der  Unfallgefahr  vorbeugen- 
des Mittel  wird  verordnet,  jeden  neu  in  die  Arbeit  tretenden 
Arbeiter  auf  die  Gefahren  bei  seiner  Beschäftigung  genau 
aufmerksam  zu  machen.  Die  Anwendung  aller  bekannten 
Schutzvorrichtungen  wird  gleichfalls  vorgeschrieben.  Wie 
das  von  vornherein  wahrscheinlich,  werden  beide  Mittel  in 
den  meisten  Fabriken  vernachlässigt. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 


Amtliche  Untersuchung  von  Arbeiterwohnungen.  In 
Altona  war,  wie  dem  „Hann.  Cour.“  geschrieben  wird,  dieser 
Tage  der  Regierungs-Präsident  Zimmermann  aus  Schleswig  an- 
wesend, um  eine  Untersuchung  der  Arbeiterwohnungen  vor 
zunehmen  Eine  gleiche  Besichtigung  von  Arbeiterwohnungen 
fand  in  letzter  Woche  auch  durch  den  Regierungs-Präsidenten 
von  Massow  auf  der  Insel  Wilhelmsburg  statt,  wo  sicli  die  grosse 
Wollkämmerei  befindet. 


i 


Wohn  Verhältnisse  der  Bergarbeiter.  Im  ersten  Heft 
der  „Zeitschrift  für  das  Berg-,  Hütten-  und  Salinenwesen 
im  preussischen  Staat“,  Jahrgang  1892,  ist  eine  Abhandlung 
von  dem  königlichen  Oberbergrath  in  Halle,  z.  Z.  Hilfs- 
arbeiter im  Ministerium  für  Handel  und  Gewerbe,  Täglichs- 
beck,  über  die  Wohnungsverhältnisse  der  Berg-  und  Salinen- 
arbeiter im  Ober-Bergamtsbezirk  Halle  veröffentlicht.  Der 
Arbeit  liegen  amtliche  Quellen  zu  Grunde.  Es  sind  die 
Wohnungsverhältnisse  von  nahezu  45  000  Personen  — deren 
Angehörige  ungerechnet  — ermittelt  worden.  Der  Verfasser 
glaubt  nachweisen  zu  können,  dass  die  grosse  Mehrheit  der 
Arbeiter  weniger  als  167;,%  des  Jahr  es  Verdienstes  (730  bis 
1 030  M.  nach  der  mitgetheilten  Lohnstatistik)  auf  die 
Wohnung  verwenden.  Ferner  stehe  der  Hallesche  Bezirk 
in  Bezug  auf  die  Zahl  der  benutzten  Wohnräume  (3  ein- 
schliesslich der  Küche)  mit  in  erster  Linie;  hinsichtlich  der 
Zahl  von  Hauseigenthümern  unter  seinen  Arbeitern  zeige  er 
mittlere  Verhältnisse;  grössere  Zahlen  weisen  Saarbrücken  und 
Klausthal,  kleinere  Oberschlesien  und  Westfalen  auf.  Jedoch 
übertreffen  diese  beiden  Bezirke  den  Halleschen  in  Ansehung 
der  von  Werksbesitzern  zur  Nutzung  bereit  gestellten 
Wohnungen.  Der  Verfasser  resumirt  dahin,  dass  die  Er- 
bauung eigener  Häuser  durch  die  Arbeiter  auf  einen  ge- 
ringen Umfang  voraussichtlich  beschränkt  bleiben  wird, 
und  dass,  auch  im  Interesse  solider  Bauausführung,  das 
Bestreben  der  Werksbesitzer  zur  Bereitstellung  von  Mieths- 
wohnungen  von  grösserer  Bedeutung  zu  werden  verspricht. 
Günstig  für  den  Halleschen  Bezirk  sei  es  insbesondere,  dass 
auch  die  Braunkohlenindustrie  in  der  Wohnungsfrage  sich 
eifrig  zu  bethätigen  beginnt.  Eine  weitere  Förderung  für 
die  bergmännische  Ansiedelung  wird  nicht  nur  im  Öber- 
Bergamtsbezirk  Halle,  sondern  namentlich  auch  im  nieder- 
rheinisch-westfälischen Bergbaudistrikt  von  einer  Revision 
des  Ansiedelungsgesetzes  vom  25.  August  1876  erwartet; 
auch  wird  der  Verkauf  geeigneter  Domänengrundstücke  zu 


Bauplätzen  angeregt  werden.  Zum  Schluss  prüft  der  Ver- 
fasser die  Verhältnisse  der  Kost-  und  Quartiergänger  und 
gelangt  zu  dem  Ergebniss,  dass  im  Halleschen  Bezirk  ein- 
mal die  Zahl  derselben  keine  auffallend  hohe  ist,  und  dass, 
im  Gegensätze  zu  anderen  Industriebezirken,  besonders 
hervorstechende  Uebelstände  auf  diesem  Gebiete  nur  ver- 
einzelt aufgetreten  sind,  immerhin  aber  eine  Abänderung 
und  Vervollständigung  der  Polizeiverordnungen  über  das 
Kost-  und  Quartiergängerwesen  im  Sinne  der  für  den  Re- 
gierungsbezirk Düsseldorf  über  das  Halten  von  Kost-  und 
Quartiergängern  unter  dem  11.  Juli  1887  erlassenen  Polizei- 
verordnung zu  wünschen  ist. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 


Schiedsgerichte  im  sächsischen  Bergbau.  Nach  dem 
Vorgänge  der  fiskalischen  Bergwerks  - Verwaltung  in 
Preussen  führt  jetzt  auch  das  Königreich  Sachsen  soge- 
nannte Bergschiedsgerichte  ein,  deren  Organisation  sich 
an  die  Vorschriften  anlehnt,  welche  das  Reichsgesetz  vom 
29.  Juli  1890  für  Gewerbegerichte  gibt.  In  einer  der  letzten 
Sitzungen  des  sächsischen  Landtages,  zweite  Kammer,  ge- 
langte der  entsprechende  Regierungsentwurf  zur  Annahme, 
una  eine  längere  Diskussion  entspann  sich  nur  über  die 
Frage,  ob  die  Berufung  an  die  ordentlichen  Gerichte  gegen 
die  Urtheile  der  Bergschiedsgerichte  zulässig  sein  solle. 
Der  Regierungsentwuri  hatte  die  Berufung  ausgeschlossen, 
will  also  den  Spruch  des  Bergschiedsgerichts  als  endgiltig 
bestehen  lassen,  während  von  sozialdemokratischer  und 
fortschrittlicher  Seite  die  Nothwendigkeit  der  Zulassung 
einer  Berufung  lebhaft  betont  wurde.  Dieser  Standpunkt 
weicht  von  demjenigen  ab,  welchen  die  volksthümliche 
Sozialpolitik  sonst  zu  Ungunsten  der  Beratung,  welche  die 
Entscheidung  verschleppt,  eingenommen  hat.  Vielleicht 
kommen  im  sächsischen  Bergbau  besondere  Verhältnisse  in 
Betracht,  so  dass  die  Arbeiter  vorwiegend  ungünstige  Ent- 
scheidungen durch  den  Vorsitzenden  mit  Hilfe  der  Unter- 
nehmerbeisitzer fürchten.  Die  zweite  Kammer  beschloss 
unter  Annahme  des  Regierungsentwurfes,  die  Regierung  zu 
ersuchen,  in  Erwägung  zu  ziehen,  ob  es  nicht  angezeigt 
scheine,  die  Berufung  bei  den  Bergschiedsgerichten  einzu- 
führen und  das  Ergebniss  der  Erwägungen  dem  nächsten 
Landtage  vorzulegen. 

Arbeiter-Prud’hommes  und  Imperativ-Mandate.  Bei 

Wahlen  zu  den  Conseils  de  Prud’hommes,  den  französischen 
Gewerbe-Schiedsgerichten,  stellt  die  Arbeiterschaft,  nament- 
lich im  Seine-Departement,  zumeist  nur  solche  Arbeiter  als 
Kandidaten  auf,  die  ein  imperatives  Mandat  annehmen, 
d.  i.  sich  verpflichten,  stets  die  Interessen  der  Arbeiter  zu 
wahren  und  als  Bürgschaft  hierfür  ihre  Demission  in  blanco 
beim  Wahlkommitee  hinterlegen,  das,  falls  der  Gewählte 
seinen  Pflichten  nicht  nachkommen  sollte,  die  Demission 
mit  dem  jeweiligen  Datum  zu  versehen  und  an  die  kom- 
petente Stelle  abzusenden  hat.  Man  will  damit  verhüten, 
dass  die  Arbeiter-Beiräthe  bei  Entscheidung  der  strittigen 
Angelegenheiten  sich  von  den  Unternehmer-Beiräthen  be- 
einflussen  lassen,  bezw.  das  Wohlwollen  der  Unternehmer 
auf  Kosten  der  Arbeiter  zu  gewinnen  suchen.  Nun  haben 
aber  mehrere  Unternehmer  dagegen  remonstrirt  und  den 
Staatsrath  veranlasst,  die  letzterfolgte  Wahl  von  vier 
Arbeiter-Beiräthen  des  baugewerblichen  Schiedsgerichtes 
zu  annulliren.  Daraufhin  haben  deren  sämmtliche  Kollegen, 
die  ebenfalls  ein  imperatives  Mandat  angenommen  hatten, 
in  einem  an  den  Seinepräfekten  gerichteten  Kollektiv- 
schreiben, als  Protest  gegen  diese  Annullirung,  ihre  De- 
mission gegeben  und  gleichzeitig  erklärt,  es  ihren  Wählern 
überlassen  zu  wollen,  die  Antwort  auf  die  vom  Staatsrathe 
gefällte  Entscheidung  zu  geben.  Ihrem  Beispiele  sind  be- 
reits 43  Arbeiter-Beiräthe  anderer  als  baugewerblicher 
Schiedsgerichte  gefolgt,  und  nach  der  unter  den  Gewerk- 
schaften herrschenden  Stimmung  zu  urtheilen,  dürften  bald 
alle  übrigen  Arbeiter-Prud’hommes  nachfolgen.  Ihre 
Wiederwahl  wird  als  unzweifelhaft  betrachtet. 


122 


S<  )ZIALlJOLIT1SCHES  CENTRALBLATT. 


Xo.  9. 


Städtisches  Versöhnungsamt  für  Arbeiter.  In  Birmingham 
geht  man,  wie  die  Londoner  „Allg.  Korr.“  mittheilt,  mit  der 
Absicht  um,  ein  städtisches  Versöhnungsamt  für  Arbeiterstreitig- 
keiten zu  gründen.  Der  Gewerkrath  hat  die  Initiative  ergritfen. 
Gelingt  der  Plan,  so  werden  70  000  Arbeiter  sich  der  Entschei- 
dung des  Versöhnungsamts  zu  fügen  haben. 


Handwerkerfragen. 

Die  Forderungen  der  Handwerkerpartei. 

Je  mehr  die  Handwerker  unter  den  Folgen  der  modernen 
Produktionsweise  leiden,  und  die  handwerksmässige  Be- 
triebsform zwischen  den  Mahlsteinen  der  grossindustriellen 
Konkurrenz  und  der  organisirten  Arbeiterbewegung  zer- 
rieben wird,  desto  mehr  suchen  die  Handwerker  durch 
Forderung  einer  Zwangsorganisation  und  das  Streben  nach 
einem  wirthschaftlichen  Ideal,  welches  vor  einem  halben 
Jahrtausend  einmal  erfüllt  war,  dem  drohendem  Untergange 
ihrer  gewerblichen  Betriebsform  zu  entgehen.  Dass  die 
Handwerker  in  dem  Kampf  ums  Dasein,  in  welchen  sie  die 
Entwicklung  der  Fabrikindustrie  und  der  Verkehrsmittel 
gedrängt  hat,  die  Hände  nicht  ruhig  in  den  Schooss  legen, 
und  nicht  geduldig  warten,  bis  ihre  Betriebe  gänzlich 
konkurrenzunfähig  geworden  sind  und  sie  gezwungen  sein 
werden,  ihre  selbständige  wirthschaftliche  Stellung  mit  der 
des  Fabrikarbeiters  zu  vertauschen,  wird  ihnen  niemand 
verübeln.  Bedauern  muss  man  es  aber,  dass  sie  ein  wirth- 
schaftliches  Ideal  aufstellen,  welches  nur  innerhalb  der 
Stadtwirthschaft  des  Mittelalters  sich  verwirklichen  konnte 
in  der  Weltwirthschaft  des  auf  die  Neige  gehenden  19.  Jahr- 
hunderts als  aussichtslose  Utopie  erscheint. 

Betrachten  wir,  bevor  wir  dies  näher  begründen,  die 
Lage  des  deutschen  Handwerks  in  der  Gegenwart. 

Was  die  statistisch  nachweisbare  Entwicklung  der 
hanclwerksmässigen  Betriebe  im  deutschen  Reiche  anlangt, 
so  seien  die  wichtigsten  Zahlen  in  Folgendem  ange- 
geben. Als  gemeinsames  Unterscheidungsmerkmal  des 
handwerksmässigen  und  grossindustriellen  Betriebes  besitzen 
die  beiden  letzten  deutschen  Gewerbezählungen  von  1875 
und  1882  lediglich  die  Scheidung  der  gewerblichen  Betriebe 
bis  und  mit  5 Gehilfen  und  in  solche  mit  mehr  als  5 Ge- 
hilfen. 

Vergleichen  wir  nun  auf  Grund  dieses  unzweifelhaft 
nicht  ausreichenden,  rein  mechanischen  Unterscheidungs- 
merkmales die  Gross-  und  Kleinbetriebe  im  deutschen  Ge- 
werbe, wobei  wir  aut  die  Verschiedenheit  von  Kleingewerbe 
und  handwerksmässiger  Betriebsform  wohl  nicht  besonders 
aufmerksam  zu  machen  haben. 

Bei  einer  absoluten  Steigerung  der  Zahl  der  Kleinbe- 
triebe von  1760  033  auf  1 888  380  sank  im  kurzen  Zeiträume 
von  1875  auf  1882  der  Antheil  der  kleingewerblichen  Be- 
triebe am  gewerblichem  Leben  in  Preussen  von  57,57  auf 
54,92  "/o1).  Berücksichtigt  man,  dass  seit  der  letzten  Ge- 
werbezählung fast  ein  Dezennium  verflossen  ist,  dass  in 
diesem  Zeiträume  eine  zwar  statistisch  nicht  sicher  beleg- 
bare, aber  jedem  Beobachter  durchaus  augenfällige  ausser- 
ordentlich starke  Entwicklung  der  Grossindustrie  stattge- 
funden hat,  während  gleichzeitig  schon  hierdurch,  noch 
mehr  aber  durch  die  Krisenjahre  und  die  gegenwärtige 
tiefe  wirthschaftliche  Depression  verursacht,  das  Kleinge- 
werbe einen  weiteren  starken  Rückgang  erfahren  haben 
muss,  so  darf  wohl  geschlossen  werden,  dass  der  Antheil 
des  Kleingewerbes  am  gewerblichen  Leben  Preussens 
jetzt  unter  50%  gesunken  sein  dürfte.  Im  Gebiete  des 
deutschen  Reiches  gehörten  im  Jahre  1882  von  100  Ge- 
werbetreibenden 61,15%  dem  Kleinbetriebe,  38,85%  dem 
Grossbetriebe  an.  Bei  einer  solchen  prozentuellen  Fixirung 
darf  nicht  ausser  Acht  gelassen  werden,  dass  sie  eigentlich 

l)  Petersilie,  Zur  Statistik  des  Kleingewerbes  in  Preussen. 
Zeitschrift  des  preuss.  Statist.  Bureaus  1887  S.  249  f. 


als  Vergleichsmassstab  durchaus  ungeeignet  ist.  Denn 
fast  ebensowenig  wie  es  anginge,  aus  einem  Vergleiche 
der  Zahl  der  handwerksmässigen  und  grossindustriellen 
Betriebe  Schlüsse  auf  den  Antheil  derselben  an  unserer 
wirthschaftlichen  Leistungsfähigkeit  und  der  Daseinberechti- 
gung in  unserem  sozialen  Körper  zu  ziehen,  so  geht  es, 
wenn  auch  eher  doch  nur  mit  allen  Einschränkungen 
an,  aus  einem  Vergleiche  der  von  den  verschiedenen  Be- 
triebsformen beschäftigten  Personen,  die  dabei  fast  nie  nach 
Alter,  Geschlecht  und  Stellung  im  Berufe  weiter  unter- 
schieden werden,  derartige  Schlüsse  zu  ziehen.  Hierzu 
würde  nur  eine  Kombination  der  von  den  verschiedenen 
Betriebsformen  produzirten  Waarennrengen  und  in  den- 
selben sich  betätigenden  Personen  berechtigen.  Dass 
derartige  Kombinationen  beim  gegenwärtigen  .Stande  sta- 
tistischer Technik  und  Wissens  unmöglich  sind,  braucht 
nicht  weiter  ausgeführt  zu  werden.  Trotzdem  aber  ist  der 
Hinweis  wohl  gestattet,  dass  der  handwerksmässige  mit  un- 
ausgebildeter  Arbeitsteilung  und  ungenügenden  Werk- 
zeugen arbeitende  Gehilfe  und  Meister  eine  weitaus  ge- 
ringere Waarenmenge  unserer  nationalen  Wirtschaft  zuführt 
als  die  auf  Grundlage  ausgebildetster  Arbeitsteilung  mit 
Werkzeugmaschinen  und  allen  sonstigen  technischen  Hilfs- 
mitteln produzirenden  Arbeiter  und  Ingenieure  der  Gross- 
industrie. Daraus  kann  man  den  nur  zu  oft  versäumten 
Schluss  ziehen,  dass  der  Antheil  der  57,57  im  Jahre  1875 
und  der  54,92  im  Jahre  1882  im  preussischen  Kleingewerbe 
nachgewiesenen  Prozente  der  in  der  Gesammtindustrie 
tätigen  Personen  nur  die  weit  geringere  Hälfte  der  in  der 
Industrie  Preussens  überhaupt  hergestellten  Waaren  produ- 
ziren.  Erwägt  man  aber,  dass  unter  den  57,57  bezw.  54,92  % 
die  hausindustriellen  Betriebe  mitinbegriffen  sind,  die  doch 
nichts  anderes  als  dezentralisirte  Fabriksbetriebe  darstellen 
und  in  welchen  in  Preussen,  speziell  in  den  Rheinlanden, 
Westphalen,  Schlesien,  Berlin  etc.  eine  ganz  ausserordentlich 
grosse  Zahl  von  Personen  tätig  sind,1)  so  erscheint  der 
Antheil  der  handwerksmässigen  Produktion  an  unserem  ge- 
werblichen Leben  noch  geringer. 

Vergleichen  wir  nun  die  19  Gewerbegruppen  im 
deutschen  Reiche-),  so  finden  wir,  dass  die  absolute  Zahl 
der  Kleinbetriebe  in  10  Gruppen  in  der  Zeit  von  1875 — 1882 
gefallen,  dagegen  nur  in  9 gestiegen  ist,  während  die  Zahl 
der  Grossbetriebe  in  1 8 Gruppen  gestiegen  und  nur  in  einer 
(Bergbau-,  Hütten-  und  Salinenwesen)  gefallen  ist,  welches 
Fallen  (um  31,1%)  aber  sicherlich  keinen  Rückgang  dieser 
Grossindustrie  sondern  blos  eine  Verschiebung  in  der  Zahl 
der  Unternehmer  und  Aufgabe  unrentabel  gewordener  Be- 
triebe bedeutet.  Uebrigens  ist  die  Zahl  der  Kleinbetriebe 
in  dieser  Industrie  weit  mehr  (um  50,7%)  gesunken.  Die 
Angaben  über  die  Vermehrung  und  Verminderung  der 
Gross-  und  Kleinbetriebe  im  Zeiträume  von  1875 — 1882  sind 
als  die  einzigen,  die  wir  für  das  deutsche  Reich  überhaupt 
besitzen,  für  die  Frage  der  Bedeutung  des  Kleingewerbes 
so  wichtig,  dass  es  vortheilhaft  ist,  sie  in’s  Gedächtniss  zu 
rufen.  Wir  lassen  die  bez.  Tabelle  auf  der  nächsten  .Seite 
folgen. 

Wir  sehen  demnach  mit  Ausnahme  einer  einzigen 
Gruppe  (Künstlerische  Gewerbe)  im  Grossbetriebe  einen 
weitaus  rascheren  Gang  der  Entwicklung  als  im  Kleinbe- 
triebe; da  aber  in  der  Gruppe  Künstlerische  Gewerbe  im 
Jahre  1882  blos  15  388  (1875:  13  326)  Personen  beschäftigt 
waren,  so  fallen  diese  Zahlen  den  ca.  7 Millionen  Gewerbe- 
und  Handeltreibenden  im  Jahre  1882  gegenüber  absolut 
nicht  in’s  Gewicht.  Im  Durchschnitte  aller  Gewerbs-  und 
Handelsgruppen  erreichte  die  Zunahme  der  kleingewerb- 
lichen Kräfte  die  der  grossindustriell  Thätigen  nicht; 
jene  belief  sich  nämlich  nur  auf  7,6,  diese  indessen  aut 
i 1 7,5  %.  Im  Verhältnis  zur  gestiegenen  Bevölkerung  stellt 
sich  das  Wachsthum  im  Zeiträume  1875 — 1882  für  die  klein- 
gewerblichen Betriebe  im  Verhältniss  9783 : 9825,  für  die 
Grossindustriellen  im  Verhältnisse  5694:6245  dar. 

*)  6;49%  aller  Gewerbetreibenden  im  Deutschen  Reiche 
waren  im  Jahre  1882  in  der  Hausindustrie  thätig. 

-)  Kollman,  Die  gewerbliche  Entfaltung  im  deutschen 
Reiche.  Schmoller’s  Jahrbuch  N.  F.  XII.  (1888)  S.  112. 


No.  9. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


123 


Klein- 
betrieb ') 

Gross- 

betrieb 

Kunst-  und  Handelsgärtnerei,  Baumschulen 

+ 16,2 

+ 237,7 

Fischerei 

3,7 

+ 142,4 
- 31,1 

Bergbau-,  Hütten-  und  Salinenwesen  . . . 

- 50,7 

Torfgräberei  und  Torfbereitung 

39,1 

+ 380,0 

Industrie  der  Steine  und  Erden 

4,8 

-f  57,1 

Bearbeitung  von  Metallen  mit  Ausnahme 
des  Eisens  

+ 6,5 

+ D,9 

Eisenverarbeitung 

- 1,1 

+ 0,0 

Maschinen,  Instrumente,  Apparate  einschl. 
von  Gas-  und  Wasseranlagen 

1,4 

+ 16,3 

Chemische  Industrie 

+ 3,6 

+ 26,6 

ForstwirthschaftlicheNebenprodukte,Leucht- 
stoffe  etc.,  einschl.  Dachfilz  und  Dach- 
pappefabrikation   

20,1 

+ 25,0 

Textilindustrie 

10,4 

+ 24,5 

Papierindustrie  ausschl.  Dachfilz  und  Dach- 
pappefabrikation   

+ 18,7 

+ 36,2 

Leder-,  Wachstuch-  und  Gummiindustrie 

+ 1,9 

+ 17,4 

Holz-  und  Schnitzstoffe 

— 3,5 

+ 8,4 

Nahrungs-  und  Genussmittel  ausschl.  Kaffee- 
brennerei 

- 0,9 
+ 15,7 

+ 12,5 

Bekleidung  und  Reinigung 

+ 65,9 

Baugewerbe  ausschl.  Einrichtung  von  Gas- 
und  Wasseranlagen 

— 29,6 
+ 12,8 

+ 68,1 

Polygraphische  Gewerbe 

+ 43,8 

Künstlerische  Gewerbe 

+ 45,5 

+ 16,3 

Da  die  wirthschaftlichen  und  technischen  Momente, 
welche  der  Fabrikindustrie  dem  Handwerke  gegenüber  die 
Uebermacht  gewähren,  noch  lange  nicht  ihre  volle  Wir- 
kung geäussert  haben  und  das  Uebergewicht  der  Gross- 
industrie über  das  Handwerk  mit  jedem  technischen  Fort- 
schritte, jeder  Krise,  jeder  Kartellgründung  sich  steigert, 
so  muss  ein  weiterer  Niedergang  dieser  Produktionsform 
zu  gewärtigen  sein.  .So  wie  in  der  Spinnerei  und  Weberei 
der  handwerksmässige  Betrieb  nur  noch  als  vereinzelte 
Ausnahme  anzutreffen  ist,  so  wird  die  Fabrikindustrie  in 
anderen,  unserer  Meinung  nach  in  den  allermeisten  Industrie- 
gruppen dem  Handwerke  die  Existenzbedingungen  er- 
schweren und  es  zuletzt  ganz  aufsaugen. 

Erkennt  auch  die  grosse  Masse  der  Handwerker  die 
Gründe  dieser  Entwicklung  nicht,  so  tiihlt  sie  doch,  dass 
der  Boden,  auf  dem  sie  steht,  von  Tag  zu  Tag  mehr  unter- 
graben wird,  dass  die  Grundlagen  des  Handwerkes  gefestigt 
werden  müssen  und  der  Fortbestand  der  Selbstständigkeit 
des  Handwerkes  erkämpft  werden  muss. 

Dass  ein  solcher  Kampf  nöthig  ist,  falls  nicht  das  Hand- 
werk von  der  gewerblichen  Entwicklung  verschlungen  werden 
soll,  sehen  die  Handwerksmeister  wohl  ein,  sie  erkennen 
aber  nicht  ihren  wirklichen  Feind,  denn  sie  erblicken  ihn  in 
der  gesetzlich  gewährleisteten  Gewerbefreiheit,  welche  sie  für 
die  Ursache  statt  für  den  gesetzlichen  Ausdruck  der  modernen, 
für  sie  sich  so  schwer  fühlbar  machenden  gewerblichen 
Entwicklung  halten.  Deshalb  glauben  die  deutschen  Hand- 
werker als  ihr  Ziel  die  Abschaffung  der  Gewerbeordnung  vom 
Jahre  1869  und  die  Wiederherstellung  der  alten  gewerbe- 
rechtlichen Bestimmungen  aus  der  Zeit  des  ausgehenden 
Mittelalters  erstreben  zu  sollen.  Auf  dem  letzten  Allge- 
meinen deutschen  Handwerker-  und  Innungstage,  der  in 
diesem  Monat  in  Berlin  stattfand,  formulirten  die  in  im- 
ponirender  Zahl  versammelten  Vertreter  des  zünftlerisch 
gesinnten  Theiles  des  deutschen  Handwerks2)  neuerdings 
ihr  Programm. 

Ihre  wesentlichsten  Forderungen  sind  die  obligato- 
rische Innung  und  der  Befähigungsnachweis. 


')  -f-  bedeutet  gestiegen,  — gefallen  im  Zeiträume  1875 
bis  1882. 

2)  Es  wäre  falsch,  das  deutsche  Handwerk  mit  den  Innungs- 
bestrebungen zu  identifiziren  Die  Sozialdemokratie  hat  schon 
jetzt  im  Handwerk  weit  mehr  Boden,  als  allgemein  vermuthet 
wird.  Beweis  hierfür  sind  die  Wahlen  zu  den  Gewerbegerichten 
für  die  Gruppe  der  Arbeitgeber.  In  dieser  siegen  in  Nürnberg 
seit  Jahren  die  Sozialdemokraten.  Bei  den  letzten  Wahlen  zum 
Gewerbegericht  in  Frankfurt  a.  M.  fielen  von  872  Stimmen  307 
auf  die  Innungsliste,  279  auf  die  sozialdemokratische.  In  Ham- 
burg bilden  nach  dem  „Hamburger  Echo“  die  Handwerksmeister 
seit  Jahren  die  Kerntruppen  der  dort  besonders  stark  ent- 
wickelten sozialdemokratischen  Bewegung. 


Bis  zu  einem  gewissen  Grade  kann  man  aus  der 
Forderung  der  obligatorischen  Innung  auf  ein  Ein- 
geständniss  der  Schwäche  und  des  mangelnden  Zutrauens 
der  Führer  der  Bewegung  in  den  Handwerkerstand 
schliessen.  Wenn  wir  auch  keineswegs  zu  den  prinzi- 
piellen Gegnern  einer  Zwangsorganisation  uns  rechnen,  so 
glauben  wir  doch,  dass  sie  erst  dort  volle  Berechtigung 
hat  eingeführt  zu  werden,  wo  die  zu  organisirenden  Indivi- 
duen durch  möglichste  Ausnützung  aller  Mittel  der  freien 
Organisation  das  thatsächliche  Bedürfnis  nach  einer  ihre 
ganze  Klasse  oder  ihren  ganzen  Stand  umfassenden  Orga- 
nisation bewiesen  haben.  Nun  ist  aber  weder  die  den 
Handwerkern  gegenüber  in  der  Praxis  sicherlich  aut’s 
liberalste  durchgeführte  V ereinsgesetzgebung  der  deutschen 
Staaten  irgendwie  erheblich  ausgenützt  worden,  noch  ist 
auch,  und  dies  ist  besonders  bezeichnend,  von  der  Mög- 
lichkeit der  Organisation  in  freien  Innungen,  denen 
doch  werthvolle  Sonderrechte  vom  Reichstage  durch  die 
Novellen  zur  Gewerbeordnung  vom  18.  Juli  1881,  8.  De- 
zember 1884,  23.  April  1886  und  6.  Juli  1887  zugebilligt 
wurden,  ein  die  Forderung  nach  obligatorischen  Innungen 
rechtfertigender  Gebrauch  gemacht  worden.  Entweder  ist 
die  grosse  Masse  der  Handwerker  zu  indolent,  die  ihnen 
durch  die  bestehende  Gesetzgebung  eingeräumte  Gelegen- 
heit zur  Organisation  in  freien  Vereinen  und  öffent- 
lich rechtlichen  Korporationen  entsprechend  auszu- 
nützen oder  der  Glaube,  dass  auf  dem  Wege  der 
Organisation  ihrem  Stande  geholten  werden  kann,  ist 
abhanden  gekommen,  oder  die  Meinung  bricht  sich  Bahn, 
dass  „Befähigungsnachweis  und  Zwangsinnungen  nur 
Scheerereien  und  Kosten  für  die  Kleinhandwerker  bedeu- 
ten“1), in  jedem  dieser  Fälle  würden  obligatorische  Innungen 
bloss  Form  ohne  Inhalt,  eine  stumpfe  Waffe  im  Daseins- 
kämpfe des  Handwerkes  in  Deutschland  sein.  Es  sprechen 
so  manche  Anzeichen  dafür,  dass  selbst  in  den  innungs- 
freundlichen  Handwerkerkreisen  die  Innung  nicht  mehr  als 
Panacee  angesehen  wird,  stellten  doch  in  den  letzten  Mo- 
naten eine  Reihe  von  Innungen,  so  die  von  Hamburg, 
Köln  a.  Rh.,  Hanau  und  Frankfurt  a.  M.  den  Antrag  aut 
Auflösung  der  Innungen.  Irrig  wäre  es,  diese  Erscheinung 
einzig  und  allein  auf  die  sie  unzweifelhaft  in  erster  Linie 
veranlassende  Rede  des  Staatssekretärs  v.  Boetticher  in  der 
Reichstagssitzung  vom  24.  November  1891  zurückzuführen, 
oder  sie  etwa  als  eine  Demonstration  aufzufassen,  denn, 
hätten  die  Vertreter  der  Innungen  ein  festgegründetes  Ver- 
; trauen  in  ihre  Sache,  so  würden  sie  sich  durch  eine  noch 
viel  schroffer  ablehnende  Haltung  des  Bundesrathes  nicht 
aus  der  Fassung  bringen  lassen.  Die  Erfahrungen  mit  den 
obligatorischen  „Genossenschaften“  Oesterreichs  (Novelle 
zur  österreichischen  Gewerbeordnung  vom  15.  März  1883) 
sprechen  auch  in  keiner  Weise  dafür,  dass  die  Zwangs- 
innung das  Mittel  sei,  die  Lage  des  Handwerks  zu  ver- 
bessern. Die  Klagen  der  Handwerker  sind  in  Oesterreich 
ebensowenig  verstummt,  wie  im  Deutschen  Reiche,  obgleich 
doch  im  industriell  gegen  Deutschland  noch  stark  zurück- 
gebliebenen Oesterreich  die  Maschinerie  noch  lange  nicht 
die  revolutionäre  Wirkung  ausgeübt  hat  wie  im  Deut- 
schen Reiche,  und  die  gewerkschaftliche  Organisation  der 
i Arbeiter  bei  Weitem  nicht  so  ausgebildet  ist,  wie  in  Deutsch- 
| land,  Lohnerhöhungen  deshalb  weit  seltener  von  den  Ar- 
beitern den  Handwerksmeistern  abgerungen  werden  können. 
Trotz  dieser  weitaus  günstigeren  Situation  des  Handwerks 
in  Oesterreich  und  trotzdem  fast  das  ganze  Programm  der 
österreichischen  Zünftler  in  die  Gewerbeordnung  aufge- 
nommen wurde,  hat  es  sich  ergeben,  dass  in  unserem  Nach- 
barstaate die  Konkurrenzfähigkeit  des  Handwerkes  der 
Fabrikindustrie  gegenüber  nach  keiner  Richtung  grösser 
geworden  ist. 

Der  allgemeine  deutsche  Handwerker-  und  Innungstag 
hat  der  Frage  der  obligatorischen  Innung  weniger  Zeit 
gewidmet,  als  man  füglich  erwarten  dürfte.  Er  hat  die  An- 
träge auf  Auflösung  der  Innung,  soweit  sie  nicht  von  den 

>)  Wörtliche  Äusserung  in  einem  während  des  letzten 
Handwerkertages  in  Berlin  verbreiteten  Flugblatt. 


124 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  9. 


Antragstellern  zurückgezogen  wurden,  mit  grosser  Majorität 
abgelehnt.  Ein  ganz  spezialisirter,  in  Form  einer  Reso- 
lution seitens  des  Sekretärs  des  Zentralausschusses  Dr. 
Schulze  beantragtes  Programm 4)  für  die  Innungen,  welches 
mit  geringen  Einschränkungen  den  obligatorischen  Beitritt 
zu  den  Innungen  forderte,  scheint  nicht  den  vollen  Beifall 
der  Versammlung  gefunden  zu  haben,  denn  es  wurde  nur 
als  „schätzbares  Material  den  Verbänden  überwiesen.“ 

Zur  Frage  der  Handwerkerkammern  nahm  der 
Handwerkertag  nicht  direkt  Stellung,  man  schien  die  Ent- 
würfe der  Regierung  erst  abwarten  zu  wollen. 

Viel  grösseren  Eifer  und  Interesse  als  der  Frage  der 
obligatorischen  Innung  wurde  dem  Befähigungsnach- 
weise gewidmet.  Dies  mag  vielleicht  auf  den  Umstand 
zurückzuführen  sein , dass  Staatssekretär  v.  Boetticher 
in  seiner  Reichtagsrede  vom  24.  November  1891,  welche  die 
Einberufung  des  Handwerkertages  veranlasste,  sich  zwar 
in  gleicher  Weise  gegen  die  gesetzliche  Einführung  der 
obligatorischen  Innung  wie  des  Befähigungsnachweises 
ausgesprochen  hatte,  aber  doch  eine  Organisation  des  ge- 
sammten  Handwerkes  in  Handwerker-  oder  Gewerbe- 
kammern für  die  einzelnen  Bezirke,  denen  der  gesammte 
Handwerkerstand  dieser  Bezirke  unterworfen  resp.  an  denen 
er  betheiligt  sein  soll,  in  Aussicht  stellte.  Während  also 
dieses  Surrogat  der  Organisationsform  in  der  obligatorischen 
Innung  etwa  als  Abschlagszahlung  angesehen  werden 
konnte,  so  war  an  der  unbedingt  ablehnenden  Haltung  der 
Reichsregierung  hinsichtlich  der  Forderung  des  Befähigungs- 
nachweises nicht  zu  zweifeln.  Der  Handwerkertag,  von  seinen 
Veranstaltern  zur  demonstrativen  Kundgebung  gegen  die 
in  der  Reichstagssitzung  vom  24.  November  1891  vertretene 
Handwerkerpolitik  der  Reichsregierung  einberufen,  musste 
naturgemäss  die  Forderung  des  Befähigungsnachweises  mit 
ganz  besonderer  Entschiedenheit  betonen.  Der  Innungs- 
und Handwerkertag  erklärte  „mit  aller  Entschiedenheit  an 
dem  Befähigungsnachweise  festzuhalten  und  mit  vollstem 
Nachdruck  dessen  gesetzliche  Einführung  zu  erstreben,  in 
der  Ueberzeugung  dass  alle  Wiederbelebungsversuche  (des 
Handwerkes)  ohne  obige  Einführung  (des  Befähigungsnach- 
weises) nicht  durchschlagend  sein  können.“  Obgleich  der 
einstimmigen  Annahme  dieser  Resolution  eine  längere  De- 
batte vorangegangen  war,  in  der  man  sich  mit  Ausnahme 
eines  Redners  allgemein  für  den  Befähigungsnachweis  aus- 
sprach, sind  die  für  denselben  nach  den  Zeitungsberichten2) 
vorgeführten  Argumente  dürftig  und  gering  an  Zahl. 

Als  Widersprüche  wurden  hervorgehoben,  dass  der 
Staat  bei  den  gelehrten  Berufsarten  (Aerzten,  Juristen, 
Lehrer,  Bautechnikern)  Befähigungsnachweise  fordere 
und  dass  er  das  Fortbildungs-  und  Fachschulwesen 
pflege.  Zur  Ergänzung  aller  auf  dem  Handwerker- 
tage für  den  Befähigungsnachweis  angeführten  Argu- 
mente mögen  die  folgenden  von  Vertretern  dieser 
Forderung  angeführten  Gründe  dienen.  Sie  sind:  Ein- 
schränkung der  bisher  regellosen  Konkurrenz  wenigstens 
auf  die  befähigten  Personen  allein  (Ackermann)3),  Pflicht 
des  Staates  im  eigensten  Interesse  sei  es,  den  Arbeits- 
markt mit  leistungsfähigen  Bürgern  zu  versorgen  und  zu 
verhüten,  dass  das  Publikum  durch  das  Pfuscherthum  und 
von  kapitalistischen  Ausbeutern  benachtheiligt  werde.  Der 
Befähigungsnachweis  gewährleiste  einen  Konkurrenz-  und 
leistungsfähigen  Handwerkerstand  auf  dem  Arbeitsmarkt 
und  dadurch  .steuerfähige  Bürger4).  „Man  müsse  bald  den 

b Abgedruckt  in  der  3.  Beilage  zu  No  41  des  „Reichs- 
boten“  vom  18  Februar  1892. 

’)  Wir  folgen  den  ausführlichen  Referaten  des  auf  dem 
.Standpunkte  der  Innungsbewegung  stehenden  „Reichsboten“. 

3)  Reichstagssitzung  10.  März  1885,  stenographische  Be- 
richte etc.,  6.  Legislaturperiode,  X.  Session  1884/85.  Band  V, 
No.  119  der  Drucksachen  Citirt  bei  Hampke  Dr.  Thilo,  Der 
Befähigungsnachweis  im  Handwerke,  Jena,  G.  Fischer,  1892. 
S.  56  f. 

4)  Schornsteintegenneister  Faster  am  I.  Innungstage,  Juni 
1885,  citirt  bei  Hampke  a.  a.  O.  S.  62  f.  Aehnlich  auch  in' Be- 
schlüssen des  5.  alldem,  deutschen  Handwerkerbundes  und  des 
5.  Delegirtentages  des  allgem.  deutschen  Handwerkerbundes  in 
Dortmund,  August  1887.  citirt  bei  Hampke  a.  a.  O.  S.  72 


Befähigungsnachweis  gewähren,  um  der  Maschinenkonkur- 
renz  zu  begegnen“,  erklärte  ein  Redner  auf  dem  Innungs- 
tage  zu  Berlin  (September  18881).  Der  Befähigungsnach- 
weis solle  die  Vorbedingung  der  Berücksichtigung  bei  staat- 
lichen Submissionen  sein  und  nur  „Meister“  sollten  Lehrlinge 
halten  dürfen2).  Der  Befähigungsnachweis  bilde  die  Ga- 
rantie für  die  fachmännische  Ausbildung  von  Lehrlingen, 
er  beseitige  die  Lehrlingszüchterei  und  wahre  die  Standes- 
ehre3). 

Dem  naheliegendsten  und  schwerwiegendsten  Argu- 
ment gegen  die  Forderung  des  Befähigungsnachweises,  dass 
derselbe  in  Oesterreich  durchaus  wirkungslos  geblieben  ist, 
sowohl  was  die  wirthschaftliche  Hebung  des  Handwerker- 
standes und  seiner  Standesehre,  als  auch  die  Stärkung  seiner 
Konkurrenzfähigkeit  gegenüber  der  Maschinenindustrie  und 
die  Einschränkung  der  Lehrlingszüchterei  anlangt,  sucht  man 
dadurch  die  Beweiskraft  zu  nehmen,  dass  man  entgegenhält, 
in  Oesterreich  bestehe  nur  ein  „Verwendungs“-  und  kein 
„Befähigungsnachweis“.  Dies  ist  richtig,  denn  der  Nachweis 
der  Befähigung  wird  in  Oesterreich  im  Allgemeinen  durch 
das  Lehrzeugniss  und  ein  Arbeitszeugniss  über  eine  mehr- 
jährige Verwendung  als  Gehilfe  in  demselben  Gewerbe 
oder  in  einem  dem  betreffenden  Gewerbe  analogen  Fabriks- 
betriebe erbracht,  während  nach  dem  von  den  Vertretern 
der  Innungsbestrebungen  im  deutschen  Reichstage  vorge- 
legten Gesetzentwürfe  der  Nachweis  der  Befähigung 
durch  eine  wirkliche  Prüfung  geliefert  werden  soll. 
Praktisch  erscheint  uns  der  Unterschied  zwischen  den 
österreichischen  Gesetzesbestimmungen  und  dem  deutschen 
Entwürfe  nicht  erheblich,  da  doch  angenommen  werden 
kann,  dass  ein  nach  vollendeter  Lehrzeit  bis  zum  vollendeten 
25.  Lebensjahre  in  der  Regel  8—9  Jahre  thätiger  Gehilfe 
meist  im  Stande  sein  dürfte,  eine  Prüfung  zu  bestehen,  falls 
diese,  und  anders  könnte  ein  derartiges  Gesetz  überhaupt 
nicht  zu  Stande  kommen,  die  nun  auch  im  Handwerk 
weit  fortgeschrittene  Arbeitstheilung  entsprechend  be-  ' 
rücksichtigt  und  dem  Konkurrenzneide  und  den 

Monopolbestrebungen  der  Handwerker  keine  Gelegen- 
heit zur  Bethätigung  gewährt.  Wenn  heute  die  hand- 
werksmässige  Schreinerei  in  eine  grosse  Anzahl  von 
Berufsarten  zerfällt,  so  wäre  es  thöricht  von  einem 
Meisterkandidaten,  der  als  Lehrling  wie  als  Gehilfe 
nur  Parquettboden  gelegt  oder  nur  Stühle  gefertigt  • 

hat,  die  Herstellung  eines  Schreibtisches  als  Aufgabe  ) 
zu  stellen.  Eine  grosse  Anzahl  ähnlicher  Beispiele  könnte 
leicht  angeführt  werden,  um  zu  beweisen,  dass  ein  sinn- 
gemässer Befähigungsnachweis  zu  einer  unbegrenzten 
Spezialisirung  des  Handwerks  einerseits,  zu  einer  ausser- 
ordentlich beengenden  Beschränkung  der  Berufsausübung 
anderseits  führen  würde  und  jedenfalls  müsste,  falls  man 
an  die  vor  Einführung  des  Befähigungsnachweises  selbst- 
ständig gewordenen  Handwerksmeister  die  nachträgliche 
Nachweisung  der  Befähigung  zur  Ausübung  des  Gewerbes 
als  Forderung  stellen  wollte.  Trotz  der  weniger  strengen 
Bestimmungen  des  österreichischen  Gesetzes  und  der  nicht 
rigorosen  Durchführung  desselben  hat  sich  eine  unendliche 
Zahl  von  Grenzstreitigkeiten  zwischen  den  einzelnen  Ge- 
werben, welche  die  Elastizität  des  Gewerbebetriebs  und 
damit  die  Konkurrenzfähigkeit  einengen,  ergeben. 

Wir  wollen  nur  darauf  hinweisen,  dass  Tischler  und 
Tapezierer  sich  gegensitig  das  Recht  absprachen,  Reisekofler 
herzustellen,  dass  Bäcker  und  Konditoren  über  das  Recht 
der  Tortenbäckerei  lange  Zeit  in  Streit  lagen  und  nicht  nur 
in  der  Uebergangsperiode,  sondern  bis  zum  heutigen  Tage 
die  Streitigkeiten  wegen  Abgrenzung  der  Gewerberechte 
einen  ganz  ungeheuren  Umfang  genommen  haben,  der  in 
keiner  Weise  hinter  den  unerträglichen  Aergernissen  und 
Streitigkeiten  zurückblieb,  welche  die  gleichen  Ursachen 
zur  Zeit  der  Verknöcherung  der  alten  Zünfte  veranlassten. 
Unter  den  österreichischen  Handwerkern  werden  nun  auch 
immer  mehr  Stimmen  laut,  welche  schliessen  lassen,  dass  die 

b Vgl.  Hampke  S.  77. 

-b  Resolution  des  2.  Innungstages,  s Hampke  S.  78. 

3)  Faster  auf  dem  1.  deutschen  Innungstage,  s.  Hampke 


No.  9. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


125 


positive  Seite  des  Befähigungsnachweises  nicht  die  erhoffte 
Wirkung  gehabt  hat,  während  die  viel  tiefer  einschneidende 
negative  Seite  desselben  mit  den  grössten  Nachtheilen  für 
den  Betrieb  des  Handwerks  verknüpft  ist  und  in  Deutsch- 
land, würde  man  den  viel  weitergehenden  Forderungen  der 
Innungsvertreter  Rechnung  tragen,  noch  weit  mehr  Nach- 
theile dem  Handwerksbetriebe  bringen  würde. 

Betrachten  wir  kurz  die  für  den  Befähigungsnachweis 
ins  Treffen  geführten  Gründe.  Wenn  von  Aerzten,  Richtern, 
Lehrern  ein  Befähigungsnachweis  gefordert  wird,  was 
übrigens  nur  mit  Einschränkung1)  zuzugestehen  ist,  so 
stehen  hier  doch  ganz  andere  öffentliche  Interessen  im  Spiel 
als  beim  Schneider,  Handschuhmacher  und  Friseur,  deren 
Leistungen  überdies  vom  Laien  viel  leichter  beurtheilt 
werden  können,  als  die  Fähigkeiten  zur  Ausübung  gelehrter 
Berufsarten.  Den  Richter,  Lehrer,  Armenarzt  kann  ich  nicht 
nach  Belieben  wählen  oder  meiden,  den  Wirth,  Schuhmacher, 
Friseur  aber  wohl. 

Das  Fortbildungs-  und  Fachschulwesen  kommt  Lehr- 
lingen ebenso  wie  jugendlichen  Fabrikarbeitern  zu  Gute 
und  steht  in  keinem  Widerspruche  mit  einer  dem  Befähi- 
gungsnachweise ungünstigen  Handwerkerpolitik.  Eine  Ein- 
schränkung der  bisher  regellosen  Konkurrenz  wird  der 
Befähigungsnachweis  nicht  bringen,  da  die  bis  nun  er- 
sessenen Rechte  freier  Erwerbsausübung  nicht  genommen 
werden  können,  andererseits  bei  dem  statistisch  erwiesenen 
Rückgang  der  Zahl  der  Handwerkerbetriebe  die  Ausfüllung 
der  durch  Tod,  Bankerott  etc.  entstehenden  Lücken  in  der 
Zahl  der  Handwerker  auch  nach  event.  Einführung  des 
Befähigungsnachweises  unschwer  möglich  sein  wird.  LTebri- 
gens  ist  es  klar,  dass  die  „regellose  Konkurrenz“  weit 
weniger,  von  den  Handwerksmeistern  unter  einander  oder 
gar  von  den  armseligen  „Pfuschern“,  sondern  von  der 
durch  den  Befähigungsnachweis  nicht  berührten  Fabrik- 
und  Hausindustrie  ausgeht.  Die  Behauptung,  dass  der  Be- 
fähigungsnachweis einen  konkurrenz-  und  leistungsfähigen 
Handwerkerstand  gewährleiste,  ist  ebenso  leicht  aufgestellt, 
wie  schwer  zu  beweisen,  dies  gilt  auch  von  der  Behaup- 
tung, dass  der  Befähigungsnachweis  dem  Handwerke  er- 
möglichen wird,  der  Maschinenkonkurrenz  zu  begegnen. 
Hiergegen  zu  polemisiren  erscheint  überflüssig,  beweisen 
doch  derartige  Aeusserungen  nichts  mehr  als  den  gänz- 
lichen Mangel  an  Verständniss  für  die  Verschiedenheit  der 
Umstände  und  Verhältnisse  der  Gegenwart  und  der  Ver- 
gangenheit. Wenn  die  Handwerksmeister  als  Vortheile  des 
Befähigungsnachweises  anführen,  dass  dieser  Vorbedingung 
für  die  Berücksichtigung  bei  staatlichen  Submissionen  und 
für  das  Halten  von  Lehrlingen  sein  sollte,  so  muss  man 
den  Vertretern  dieses  Standpunktes  mit  dem  Minister  von 
Boetticher2)  den  Vorwurf  machen,  dass  sie  die  Regelung 
der  Interessen  des  Handwerkerstandes  für  eine  isolirte 
Frage  halten  und  an  die  Interessen  der  anderen  Berufs- 
stände dabei  gar  nicht  denken.  Es  mag  ja  sein,  dass  eine 
grössere  Garantie  für  die  fachmännische  Ausbildung  der 
Lehrlinge  durch  den  Befähigungsnachweis  gewährt  wird, 
sicherlich  aber  nicht  gegen  die  Lehrlingszüchterei. 

Aeusserte  sich  die  Abwehr  gegen  die  Grossindustrie  in 
den  Forderungen  der  obligatorischen  Innung  und  des  Befähi- 
gungsnachweises, so  die  Feindseligkeit  gegen  die  als  gleich 
gefährlichen  Feinde  von  denHandwerkern  gefürchtete  organi- 
sirte  Arbeiterschaft  in  dem  Danke  an  die  verbündeten 
Regierungen,  dass  sie  den  Wünschen  des  deutschen  Hand- 
werkes nach  schärferen  Bestimmungen  gegen  den  Kontrakt- 
bruch der  Arbeiter  Rechnung  tragen  wollten  und  in  ihren, 
freilich  mit  der  Drohung  an  die  Regierung,  im  Falle  der 
Nichtberücksichtigung  ihrer  Forderungen  zur  Sozialdemo- 
kratie übergehen  zu  wollen,  abwechselnden  Angriffen  auf 
die  Arbeiterpartei. 

Die  Wünsche  nach  schärferen  Bestimmungen  gegen 

')  Die  Führung  des  Titels,  nicht  aber  die  Ausübung  ärztlicher 
Praxis,  ist  an  den  Befähigungsnachweis  gebunden,  richterliche  Thä- 
tigkeit  wird  von  ungeprüften  Schöffen  und  Geschworenen,  ebenso 
wie  der  Lehrberuf  auch  ohne  Befähigungsnachweis  ausgeübt. 

2)  Reichstagsstzg.  v.  24.  Nov.  1 89 1 . Stenogr.  Protokolle  1891. 
S.  3022  D. 


den  Kontraktbruch  der  Arbeiter  sind  im  Munde  der  Hand- 
werker etwas  seltsam,  da  die  Arbeiter  häufig  genug  Grund 
haben,  über  den  Kontraktbruch  der  Handwerksmeister 
zu  klagen.  Wie  oft  sind  letztere  nach  eigenem  Ein- 
geständniss  ausser  Stande,  am  Lohnzahlungstage  mit 
den  Arbeitern  abzurechnen.  Wie  häufig  sind  die  Klagen 
der  Arbeiter  bei  den  Gewerbegerichten  gegen  Handwerks- 
meister wegen  Nichteinhaltung  der  vertragsmässigen  und 
gesetzlichen  Bestimmungen.  Es  wäre  vorsichtiger  gewesen, 
die  Klagen  über  den  Kontraktbruch  der  Arbeiter  zurück- 
zuhalten. 

Ueber  die  Forderungen  zweiten  Ranges  in  Hinsicht 
auf  die  Konsumvereine,  Abzahlungsgeschäfte,  Hausirhandel 
und  die  Gefängnissarbeit  wollen  wir  uns  aut  wenige  Worte 
beschränken. 

Die  Forderung  auf  Hintanhaltung  der  Schleuder- 
konkurrenz der  Gefängnissarbeit  ist  durchaus  berechtigt. 
Am  besten  thäte  man,  eine  der  Entlohnung  der  freien  Ar- 
beiter sich  nähernde  Bezahlung  der  gewerblich  beschäftigten 
Gefangenen  zu  fordern.  Dem  Vorwurf  der  Schleuder- 
konkurrenz wäre  die  Spitze  abgebrochen,  und  kriminal- 
politisch hätte  diese  Lösung  der  schwierig  scheinenden 
Frage  den  Vortheil,  dass  der  Gefangene  für  einige  Zeit 
mit  Geld  zum  ehrlichen  Lebensunterhalt  und  mit  mehr 
Freude  zur  Arbeit  das  Gefängniss  verlassen  könnte,  wo- 
durch die  Zahl  der  rückfälligen  Verbrecher  vermindert 
würde.  Erscheint  diese  Lösung  unmöglich,  so  beschäftige 
man  die  Gefangenen  mit  Arbeiten,  die  sonst  der  Gross- 
industrie  zufallen  würden,  oder  mit  kulturtechnischen  Ver- 
besserungen auf  dem  Lande.  Jedenfalls  ist  die  Konkurrenz 
der  Gefängnissarbeit  gegen  das  Handwerk  nicht  am  Platze. 

In  Bezug  auf  das  Submissionswesen  ist  zuzugestehen, 
dass  dasselbe  nach  mehreren  Richtungen  reformbedürftig 
ist,  aber  bezweifelt  muss  werden,  dass  die  Reform  des 
Submissionswesens  den  vom  Handwerke  für  sich  erhofften 
Erfolg  haben  wird. 

Den  übrigen  hier  angeführten  Forderungen  der  Hand- 
werksmeister könnte  man  einfach  das  Wort  des  Herrn 
v.  Boetticher  entgegenhalten,  dass  die  Interessen  der  Hand- 
werker keine  isolirten  sind.  Auch  die  Hausirer  haben  das 
Recht  zu  leben,  und  ihnen  den  Betrieb  des  Hausirhandel.s 
zu  verbieten,  ohne  den  in  ihrer  Mehrzahl  Erwerbsunfähigen 
eine  Entschädigung  zu  gewähren,  scheint  uns  nicht  anzu- 
gehen. Uebrigens  trotz  des  Zugeständnisses,  dass  der,  wie 
nicht  vergessen  werden  soll,  schon  jetzt  nicht  unein- 
geschränkte Hausirhandel  so  manche  ungesunde  Seiten  hat, 
darf  nicht  verkannt  werden,  dass  er  eine  wichtige  Funktion 
in  der  Zirkulation  unseres  Wirthschaftskörpers  bedeutet. 

Dass  die  Abzahlungsgeschäfte  ausschliesslich,  die  Kon- 
sumvereine fast  ausschliesslich  ihren  Kundenkreis  in  der 
Arbeiterklasse  und  unter  den  minderbemittelten  Beamten, 
Handwerkern  u.  s.  w.  haben,  ist  bekannt,  dass  sie  in  diesen 
Kreisen  allgemein  gefühlten  Bedürfnissen  Rechnung  tragen, 
braucht  trotz  der  anerkannten  Nothwendigkeit  einer  gesetz- 
lichen Regelung  und  Kontrolle  des  Abzahlungsgeschäftes 
nicht  weiter  auseinandergesetzt  zu  werden,  da  man  es  als 
unzweifelhaft  betrachten  kann,  dass  ein  Verbot  des  Ab- 
zahlungsgeschäftes entweder  zu  einer  Verminderung  des 
Konsums  der  besitzlosen  Volksklassen  oder  zu  einem  ge- 
steigerten, den  Handwerkern  sicherlich  kaum  erwünschten 
volkswirtschaftlich  ebensowenig  vorteilhaften  Konsum  von 
Trödelwaaren  führen  muss.  Die  Handwerker,  welche  ohne 
Rücksicht  auf  die  Bedürfnisse  ausserhalb  ihrer  Reihen 
stehenden  Bevölkerungsschichten  Forderungen  aufstellen, 
ignoriren  mit  Unrecht  die  Bedeutung  von  Konsumvereinen 
und  Abzahlungsgeschäften.  Sie  haben  auch  deshalb  nicht 
zu  erwarten,  dass  diese  Wünsche  Beachtung  finden  werden. 

Bemerkenswerth  war  die  entschiedene  Ablehnung  des 
Genossenschaftswesens  durch  den  Handwerkertag  gelegent- 
lich der  Empfehlung  der  deutschen  Zentralgenossenschaft 
des  Freiherrn  v.  Broich.  Ohne  zu  diesem  Projekte  nach 
irgend  einer  Richtung  Stellung  zu  nehmen,  scheint  uns 
doch  die  fast  prinzipielle  Ablehnung  aller  genossenschaft- 
lichen Organisationen  verfehlt.  Scheint , und  dies  kann 
selbst  der  kundige  Vertreter  der  Handwerkerinteressen  sich 


126 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  9. 


nicht  weiter  verhehlen,  einer  Reihe  von  Handwerkern  das 
Schicksal  der  handwerksmässigen  Spinnerei  und  Weberei 
bevorzustehen,  so  sollte  man  doch  versuchen,  die  starken 
Waffen  des  Gegners,  der  Fabrikindustrie,  sich  so  weit  als 
möglich  zu  eigen  zu  machen:  die  Produktion  auf  höherer 
Stufenleiter,  und  den  Uebergang  zum  genossenschaftlichen 
Einkauf,  Verkauf  und  zur  genossenschaftlichen  Produktion 
wenigstens  versuchen.  Wir  wissen  wohl,  dass  hierdurch  das 
Handwerk  sich  selbst  aufgiebt.  Ist  es  aber  nicht  besser, 
selbst  den  Uebergang  zu  einer  höheren  Produktionsform  zu 
versuchen,  daraus  Nutzen  zu  ziehen,  als  diesen  Uebergang 
passiv  zu  ertragen  und  im  Proletariat  zu  versinken.  Wenn 
für  eine  derartige  „Handwerkerpolitik“  des  Staates  agitirt 
und  nach  dieser  Richtung  Opfer  vom  Reiche  gefordert,  wenn 
gleichzeitig  ein  Reichsgesetz  über  die  Ausbildung  der  Lehr- 
linge in  Lehrwerkstätten  zur  besseren  Ausbildung  derselben 
und  zur  Hintanhaltung  der  unkontrollirbaren  Ausbeutung 
derselben  verlangt  würde,  so  wäre  dies  ein  viel  aussichts- 
volleres Programm  als  das  der  Innungsvertreter.  Dann 
würde  auch  mehr  Selbstvertrauen,  Frische  und  Kampfes- 
freude das  Handwerk  erfüllen  und  Hoffnungslosigkeit  wie 
Fatalismus,  welche  heute  in  der  breiten  Masse  der  Hand- 
werker herrschen,  vielleicht  verschwinden. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Gewerberätlie  in  Oesterreich.  Die  Sektion  für  Ge- 
werbe- und  sozialpolitische  Fragen  des  Klubs  der  Vereinigten 
deutschen  Linken  beschäftigte  sich  am  18.  Februar  mit  dem 
Anträge  des  Abg.  Exner  auf  Errichtung  von  Bezirks- 
und Landes-G  ewerberäthen  sowie  eines  Reichs- 
Gewer berathes.  Es  besteht  nämlich  die  Absicht  seitens 
der  deutsch-liberalen  Partei,  eine  grosse  Organisation  zu 
schaffen,  welche  nicht  nur  einen  faktischen  Beirath  der 
politischen  Behörden  in  der  Führung  der  gewerblichen 
Agenden  bilden,  sondern  auch  ein  Organ  für  die  Wünsche 
der  produzirenden  Klassen  sein  soll.  Die  Sektion  empfahl 
einstimmig  den  Antragstellern  die  Einbringung  des  Gesetz- 
entwurfes. 


Vermischtes. 


Klassische  Konzerte  für  Arbeiter.  Eine  Gesellschaft  von 
Hofmusikern  und  Dilettanten  hat  in  Verbindung  mit  dem  aus- 
schliesslich aus  Arbeitern  bestehenden  Vereine  für  Volks- 
bildung in  München  den  Versuch  gemacht,  den  Arbeitern  zu 
billigem  Preise  (20  Pf.)  klassische  Musik  zugänglich  zu  machen. 
Am  31.  Januar  d.  J.  wurden  in  einem  grossen  Lokale  Haydn,  Mozart 
und  Beethoven  u.  z.  ausschliesslich  Werke  dieser  Meister  einem 
Arbeiterpublikum  vorgeführt.  Sämmtliche  Eintrittskarten  wurden 
verkauft,  vielen  Hunderten  konnte  wegen  Lieberfüllung  des 
•Saales  kein  Einlass  gewährt  werden.  Die  Haltung  des  Publikums 
war  vortrefflich.  Die  Presse  aller  Parteien  äusserte  sich  sehr 
sympathisch  über  diesen  wohlgelungenen  Versuch.  Bis  zum 
Sommer  sollen  5 — 6 weitere  Konzerte  dieser  Art  für  das  gleiche 
Publikum  arrangirt  werden. 


Eingesendete  Schritten. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Annuaire  Statistique  de  la  Belgique.  21.  annee  1890.  Bruxelles, 
Ad.  Mertens,  1890.  811.  IX,  359,  XX  S. 

Centralblatt  für  allgemeine  Gesundheitspflege,  Organ  des 
niederrheinischen  Vereins  für  öffentliche  Gesundheitspflege. 
Herausgegeben  von  Dr.  Finkelnburg,  Dr.  Lent,  Dr.  Wolff- 
berg.  II.  Jahrgang.  I.  Heft.  Bonn.  E.  Strauss,  1892  8U. 

8 und  58  S. 

Fürth,  Dr.  Emil  von,  Die  Einkommensteuer  in  Oester- 
reich und  ihre  Reform.  (Staats-  und  sozialwissenschaft- 
liche Beiträge,  herausgegeben  von  A.  von  Miaskowski. 
I.  Band,  2 Heft.)  Leipzig,  Duncker  & Humblot.  1892.  8°. 
X und  270  S. 


Hasse,  Dr  Ernst,  Beiträge  zur  Bevülkerungs-  und  Woh- 
nungsstatistik von  Leipzig.  S.-A.  aus  der  Festschrift: 
„Die  Stadt  Leipzig  in  hygienischer  Beziehung“.  Leipzig. 
Duncker  & Humblot  1891.  gr.  8°.  88  S. 

Hitze.  Franz,  Normal  - Arbeitsordnung,  sowie  Normal- 
statut eines  Arbeiter- Ausschusses.  Festgestellt  vom 
linksrheinischen  Verein  für  Gemeinwohl.  Mit  Einleitung 
und  Erläuterungen  nebst  Auszügen  aus  Fabrik-Ordnungen, 
sowie  einer  Zusammenstellung  der  Bestimmungen  des 
Arbeiterschutzgesetzes  von  1891.  Köln  1892.  Bachem.  VI 
und  120  S. 

Höger,  Karl.  Die  Lebcnsmittelvertheuerung  (Wiener  poli- 
tische Volksbibliothek,  Heft  HD.  Wien,  L.  A.  Bretschneider, 
1892.  8n.  52  S. 

Industrielle  Gesellschaft  von  Mühlhausen.  Das  Mühlhauser 
Arbeiterviertel,  seine  Badeanstalten  und  Wasch- 
küchen. Historischer  LTeberblick.  Auszug  aus  dem  Jahres- 
berichte 1891.  Mühlhausen  im  Eisass.  G.  Detloff.  39  S. 
1 Tabelle  und  2 Tafeln 

Jung.  J.  Der  Weltpostverein  und  der  Wiener  Postkon- 
gress (S.-A.  aus  Schmoller’s  Jahrbuch  für  Gesetzgebung  etc.  I. 
Leipzig,  Duncker  & Humblot,  1892.  8n.  58  S.  und  zwei  gra- 
phische Darstellungen. 

Lassalle,  Ferd.  Reden  und  Schriften.  Neue  Gesammtaus- 
gabe.  Mit  einer  biographischen  Einleitung,  herausgegeben 
von  Ed.  Bernstein,  London.  I.  Band.  Berlin,  1892,  Verlag 
der  Expedition  des  „Vorwärts“  Berliner  Volksblatt  (Th. 
Glocke).  8°.  550  S und  1 Porträt. 

Marcinowski.  F.  Das  Lotteriewesen  im  Königreiche 
Preussen.  Berlin,  1892,  Georg  Reimer.  8°.  VIII  und  214  S. 

Miihlberger,  Dr.  Arthur.  Studien  über  Proudhon.  Ein  Bei- 
trag zum  Verständniss  der  sozialen  Reform.  Stuttgart,  G. 
J.  Göschen,  1891.  8°.  171  S. 

Rauchberg.  Dr.  Heinrich.  Beiträge  zur  Statistik  der 
öffentlichen  Volksschulen  in  Oesterreich  (S.-A.  aus 
der  „Statistischen  Monatsschrift“).  Wien,  Holder,  1891.  8". 
26  S. 

Bericht  über  die  Thätigkeit  des  statistischen 

S eminars  a n der  k.  k.  Universität  W i c n im  W i n t e r - 
semester  1890/91.  8".  39  S. 

- — Die  elektrische  Zählmaschine  und  ihre  Anwen- 
dung, insbesondere  bei  der  österreichischen  Volks- 
zählung (S.-A.  aus  dem  Allg.  Statist.  Archiv).  Tübingen, 
Laupp,  1891.  52  S. 

Rausnitz,  Julius.  Der  preussische  Richter  und  der 
deutsche  Strafprozess.  Berlin,  H.  Walther,  1892.  8". 

19  S. 

Rieks,  Dr.  F.  Rechte  und  Pflichten  der  Lehrlinge,  Ar- 
beiter und  Gesellen.  2.  verbesserte  Auflage.  Berlin, 
Wiegandt  & Grieben,  1892.  8°.  67  S. 

Schiff,  Dr.  Walter.  Zur  Frage  der  Organisation  des  land- 
wirtschaftlichen Kredites  in  Deutschland  und 
Oesterreich.  Zwei  Abhandlungen.  (Staats-  und  sozial- 
wissenschaftliche  Beiträge,  herausgegeben  von  A.  v.  Mias- 
kowski,  Band  I,  Heft  1.)  Leipzig,  Duncker  & Humblot, 
1892.  8".  173  S. 

Sozialpolitische  Rundschau.  Monatsschrift  für  die  Geschichte 
und  Kritik  der  sozialen  Bewegung.  Leipzig,  Fr.  Richter, 
Heft  5,  Februar  1892.  8n.  S.  321-400. 

Sommaire  periodiqne  des  Revues  de  Droit,  fable  mensuelle 
de  tous  les  articles  et  etudes  juridiques  publies  dans  les 
periodiques  beiges  et  etrangers.  Brüssel,  Larcier,  1891. 
Dezemberheft. 

Spiess.  Dr.  Das  Gemeinde-Stimm-  und  Wahlrecht  in 
den  Landgemeinden  der  sieben  östlichen  Pro- 
vinzen. Auf  Grund  der  Materialien  der  Landgemeinde- 
ordnung vom  3.  Juli  1891  und  der  Rechtsprechung  des  Ober- 
verwaltungsgerichts zum  praktischen  Gebrauche  systema- 
tisch dargestellt.  Berlin,  Carl  Heymann’s  Verlag,  1892.  8" 
cart.  IV  und  113  S. 

Statistisches  Jahrbuch  des  k.  k.  Ackerbau-Ministeriums  für 
1890.  Erstes  Heft.  Produktion  aus  dem  Pflanzen- 
reiche. Wien  1891.  K.  k.  Hof-  und  Staats-Druckerei.  8°. 
XVIII,  137  S.  mit  zwei  lithographischen  Tafeln. 

— Drittes  Heft.  Der  Bergwrerksbetrieb  Oester- 
reichs im  Jahre  1890.  1.  Lieferung:  Die  Bergwerksproduk- 
tion. Wien  1891.  K.  k.  Hof-  und  Staatsdruckerei.  8°.  153  S. 

— — 2.  Lieferung:  Ausdehnung  des  Bergbaues,  Betriebs- 
einrichtungen, Arbeiterstand,  Verunglückungen,  Bruderladen, 
Bergwerksabgaben,  Naphtastatistik  und  Statistik  der  Mor- 
talitäts-  und  ln  valid  itäts  Verhältnisse  der  Berg-  und  Hütten- 
arbeiter, sowie  der  Mortalitätsverhältnisse  ihrer  Frauen  und 
Kinder  im  Jahre  1889.  Wien  1891.  K.  k.  Hof-  und  Staats- 
druckerei. 8°.  211  S. 

Summarischer  Bericht  der  Handels-  und  Gewerbekammer  in 
Brünn  über  die  geschäftlichen  Verhältnisse  in  ihrem 
Bezirke  während  des  Jahres  1891.  Brünn  1892.  Selbst- 
verlag. 8n.  XVI  und  135  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  II.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT 


Berlin,  den  29.  Februar  1892. 


Kür  den  Anzeigenteil  sind  die  Redaktion  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Anzeigen-, Annahmestelle  nur  bei 
Dr.  Otto  Eysler,  Berlin  SW.,  Charlottenstrasse  11.  Breis  für  die  3spaltige  Colonelzeile  40  Pf. 


QL  % Bgtft’fifte  MrlagglnufrfjanMnng  (JMtar  Berk)  in  Mihufren. 


3n  nuferem  Verlage  ift  erfd)ieueit: 

94 e u e golge.  (Siebenter 
XXXII.  Sanb.)  £eraud= 
1 iß  erlitt  nttb  9Ritglieb  bed 

tBatib  I XXXI  (1860-1890  uott  2 dm!  t h c ü --(ß  e II'  r ü cf  o WefcfiichtofiUcui'er  wirb  I'tc-  cutf  weiteres 
ju  Sem  ermäßigten  greife  non  80  sJ.Uf.  geliefert. 


(gurupäifdiev  <Sefdndifghalent>er. 

3 n l)f gang.  1891.  (2>er  ganzen  iKeitje 

gegeben  oon  §and  3?elbtücf,  a.  o.  Sßrofeffov  an  ber  Unioerfitäi 
Wetdidtagd.  22  Sogen,  ©etjeftet  8 9)4f. 


ferner: 


Jnuattbitäta-  tut  fr  R tt  c r s U c r |hf  i o r u tt  g * ti  e f c p lut  nt 

22.  Jitni  1889.  ß io e i t e o o 11  ft ä n b t g ulit gearbeitete 

groftt).  tjeff.  SRegierung§vrtt:  Auflage  mit  einem  9tnt)ang,  b i e Sottäug dbef anut  = 

ntadjungen  bed  Sunbedratd  entfjaltenb.  ^art.  l 9)4.  80  ißf. 


Dr.  ID.  Zeller, 


Xhts  Bvbr ifc r f d; ntl gefeit  für  bad  beutfdje  94eid)  bont  1.  Suni  1891  (94ooelle 
ju  SÜt.  Vll  öer  ©etoerbeoVbiutiig).  Zegdandgabe  mit  ßiuleititttg,  erlti nternben  Slnttterfuttgen 
nttb  fRegifter.  8V2  Sog.  Äart.  1 9R-  20  5ßf. 


Bering  uott  IftumftEr  & Bnmblot  in  Xeipgg: 

ÄrfminTTm*  .3«r  freuten  Soriat-  unfr  ©merbepoittih  trer 

Vj/XI|IvXXl  iXJXlvX/ ; QgjntnUiatl.  fReben  ltnb  Sluffntte.  1890-  ^ren.'  9 9)4. 

TTiTTn  TSrmtfcmn  Hrlm-  dir  Mrfarfirn  öev  fjßuftgen  lorialtn  Butlj.  @in 
XXXIJ[U  l v IlXclilU^  Seitrag  gut  9)4orht)otogie  ber  Solfytoivttgctiaft.  1.  nttb  2.  3tuf= 

tage.  1889.  ißreid  1 9R. 

Staats-  unb  funaiuitlfmhiiatüulic  Beiträge, 

31.  0.  9)4iadfotodfi.  Sanb  I,  1.  unb  2.  «öft.  1892-  Sßteid  9.60  9)4. 

I.  1.  lur  JragE  ber  BrganU'ation  bea  IanbmirI{jJdiaftlirfjiß|i  Irebifs  in  ©euttdi- 
Ianb  unb  BÄerreid).  Sou  48.  Sdjiff.  freies  3,60  IR. 

I.  2.  UHe  (Einfutmntenfleuer  irr  Beflerreirfj  nttb  itjve  Urform.  Sou  te.  n.  Siirtl). 
Sveiö  6 9R. 


Btto  fiarnp 

ißretd  40  $fg. 


(Bit  geniert»  lüfte  Xtustiittmug  ber  Uilinarbeitcnbeu  Jöäbtfien. 

) teilt  Seitrag  gur  oerufltd)en  tergieljung  bed  loeiblictjeu  ©efdjteditd.  1892. 


IBivtfll'diafttidie  Xeftren.  6.  Stuflage.  Steid  80  Sßfg. 

©erfjarf  it.  ;§d}ulje-©aenernitj,  SDarfteUuug  ber  fojialpoütifdjeit 

o=- -r-’c. v.a  ...... c*„f,,.T,,,„s0,.t  ßjuei  Sättbe.  1890. 


tergietjung  bed  ettgltfd)en  Sotfed  im  neunaetjnten  3at)rt)unbert. 
Sretd  9)1.  18- 


Jh  Qintffrntag,  Berlagatmdifianbtung  in  Berlin. 

Rrtrljs  - Qktorrbß  - Ir>rti  intiui 

nett  ft  2lii$füljrung§Beftitttmungett. 

Bntelh'  Xaflung  bes  Qicfi'fiL's.  

Z e 1 1 * 5t  u § tt  n b e mit  St  n m e x I it  tt  c\  e it  unb  © a d)  r e g i |t  e v 

Don 

C.  pi|* 

i»icruiigärntl). 

telftc  Stuffaße. 

(Eafdieul'ormat;  rart.  1 111  h.  25  |9f. 


üperber’fdje  Slcrlagdbanölmtg,  greibitrg  im  Sreidgau. 

Soeben  ift  erfdjieuen  unb  burd;  alle  SmSaitbtungeu  311  besiegen: 

(Üatfjreiu,  ©.,  S.  J.,  Iber  ^uctaliantua. 

(Siite  Untcrf«d)img  feiner  ©ruitblagen  nub  feiner  ®nr^füt>rbarfeit. 

■Fünfte,  mit  Berittfefidiiigung  bea  (Erfurter  Programm«  bebeuienb  uermet;rte  Jtu|tage. 
(94eunted  unb  jetjnteö  Saufenb.)  8".  (XVI  u.  198  ©•)  9)t.  1.60. 


Soeben  erschien 

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Börse  und  Geldmarkt. 

Von 

Julius  Basch, 

Redakteur. 

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Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandl.  und  gegen 
vorher.  Einsendung  des  Betrages  (ev.  in  dtsch . 
Briefmarken)  postfrei  von  der  Verlagshandlung 

R.  L.  Prager  in  Berlin,  NW.  7. 

Settag  uott  ©Borg  Krimer  in  ©rrltn, 
btnrd)  alle  Sttd)t)anblititgen  ju  beäietieti: 

Qrniir  bFSt  Qiraume 

tum 

OlporgB  Bitrui). 

Slntorifirtc  Ueberfegung  and  bettt  grati3ofifd)eit 
oon 

Dr.  |Vrtb  S3ifd)off. 

Steid  9SR.  1 60,  gebiittbeit  9R.  2,20. 

Xßar  jiü’s  tilntrift v . 

SR  0 0 e 1 1 e 

001t 

J.  Marion  (Eramforb. 

älutori litte  Uebetfeltung  aud  bem  tenglifdfen 
oon 

Xbctcfc  .s>öpfnev. 

Steid  9R.  1,60,  gebutiben  9R.  2,20. 

SMiv.  3 f»ut co. 

teilte  tet,3d()luttg  and  bettt  Ijeutigen  Subieit 
oon 

X Marion  (Eraioforb. 

Slntorifirte  Uebetfeijung  and  bettt  Gnglifd)en 
oott 

Xbcrcfc  ^öDfnec* 

Sveid  9)4.  1,60,  gebimbeu  9)4.  2 20. 

SU.  QL  tMkßnbmJjßr'o 

iafdjtnliiiili  für  imiflnitr. 

20.  Stuft.  I.  Stbtf). 

i 9)4ünj=,  9)!aa§=  unb  Öetoidjtdtuube,  Qßedtfef, 
@etb=  unb  ^onbdcutfe. 

— gebutiben  9)4.  9.  — 

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1fr.  23.  !?•  v u t fd 1 0 r U c i d i a g r fo \\ 0 . Ur.  23. 
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ootn  6-  3'itli  1884 

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(frtUii  iilicr  bi c ^tobelftuintj  bßt* 
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oottt  28.  9)4ai  1885. 

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(grfter  ®anb  ^Wettet  *Banb 

2l-ft  8-3 

TO.  19.—,  gt£>.  TO.  21.40.  TO.  22—,  geh.  TO.  24,40. 

Aus  dem  Gebiete  der  Socialgesetzgebung  ent- 
halt das  Wörterbuch  folgende  Artikel: 

Arbeiter  (gewerbliche),  Reichsversicherungsamt. 

Bergarbeiter.  Unfallversicherung. 

Fabrikaufsichtsbeamte. 

Fabrikgesetzgebung. 

Gesindepolizei.  Armenrecht, 

invaliditäts-  und  Altersver-  Armenverwaltung. 

Sicherung.  Notstandsgesetzgebung. 

Knappscha  "t  .vereine.  Sparkassen. 

Krankenversicherung.  Teuerungspolizei. 

Landesversicherungsämter.  Unterstützungswohnsitz. 

(Srfter  ßrgänsnngdbattb  erfcf)eint  tut  Sanum-  1892. 


3.  (ftnttcntait,  Derlagslntrfiljanbltmg  in  Berlin  sw.  48,  EPillirlmlfraljr  119/120. 


Bunt  24.  Juni  1891. 
Kommentar  3 11  nt  praf tigert  ©ebretud) 

bearbeitet  »on 


Ojebeinter  'Jleijieviuigsrat,  TOitglteb  ber  StöuigT.  ©ireltion  für  bic  iBerwaltmig 
ber  biretten  ©teuern  tn  SSerlin. 

Slbteilmtg  1. 

3 n f) alt:  @efet!  mit  Kommentar  ttebfl  Slusfiitjrungöanioeiiungen  I.— III. 

8ej.  8U  8.50  Jl. 

yar  ®ie  310 eite  Abteilung,  eiitf)nltenb  Slbfcbuitt  5a— 10,  iUebengefetje,  SRegifter,  Sitel,  StibattSberjeidjuiö, 
behübet  fid)  im  ®rucf  uub  folgt  innerhalb  einiger  weniger  SBocberi  nact). 

Sie  Slbnafjnte  ber  3lbteituitg  1.  r>erpflid)tet  3m-  3lbna|me  bed  ooUftdtibigen  äöerfed. 

Sev  ißreiö  be<B  nollftänbigen  Sßerfeö  wirb  12  33if.  nid)t  iiberftfjreiten. 


•K 


Sn  meinem  SSerlage  erfdjiett: 


8 


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1! 


0d)mtrreu  mt  «djtimuten 


uon 


ijmmtnu  uoppc, 

.fpauptlefjrer. 

üöanb  l mtb  11. 

©röiüite  1111Ü  ffiqiililiinpii 

in 

Sfliirinpr  tl>iiniDart. 

^>rei§,  l)od)e£egartt  gebunbeit, 

k m.  mt,  3,-. 

S3orrätt)ig  in  allen  'Sudjljanbluugen. 

Bcrlaii  mm 

Eduard  Moos 

in  (Erfurt. 


K.  (Bmffenlaj),  33erlagöbud)t)anbtung  in  33erliti. 

9tect)t 

ber 

Hrbeiterberl'tdjming. 

gitr  St)eorie  uub  ißrajid  fpftematifd)  bargeftedt 

UOlt 

Dr.  ^einrid)  SKofi«, 

ovb.  Sprof.  für  ©taatäreefjt  ltnb  beutfdieö  Dted)t  a.  b. 
Uniuerfität  $reibuvg  i 18. 

(Srfter  SSattb: 

®ie  reid)Sred)tlid)en  ©nntblagett  ber 
2lrbeitemrfid)erung. 

Srfte  ltnb  jmeite  Slbttjeitnng.  8n.  9 331.  50  Sßf. 

Saö  gefmnmte  äßerf  iuirb  in  äroei  Saube 
3erfallen,  tum  benen  ber  erfte  „bie  reid)3red)h 
liefen  ©runblagen  ber  Slrbeiternerfidjernng" 
beljanbelu,  ber  iroeite  aber  in  brei  Stjeilen  bie 
ftruufeit--,  Unfall»,  fomie  bie  Snoalibität^»  mtb 
Sllterörerfidjerung  gur  (SingelbarfteUung  bringen 
fall. 

ft  et  %mb 

pdjeiifdjrift  nir  förüerung  filier  frieülidp 

l^uüalvetuvm. 

Brgan  bes  ©Eulfrfjen  Buttbe«  für  Boben- 
bEfikrrfortit. 

©rfdieim  iebeit  SRontng. 

31  b o n n e tn  e n t 3 b e b i n g u n g e tt : 

3Sei  allen  ißoftanftalten  (3fr.  2272 


ber  tPoftseitungdlifte)  ....  3Jtf.  O^O 
33ei  birefter  Äreuabaiibfenbung: 

in  Seutfdjlaub  uttb  Oefterreid) . „ 1,20 

im  SBeltpoJtüerein „ 1,50 

Sn  SSerlin  bei  freier  ßtifenbung  . „ 1,— 


Bic  (Bxpebifiun 

H.  Iutüs,  ^talirdtrrüht'vltr.  55. 


Verantwortlich  für  den  Auzeigentheil:  L)r.  Otto  Eysler  in  Berlin.  — Druck  von  11.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  7.  März  1892. 


Nummer  10. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber 


Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
NTo.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  I 


Arbeitslosigkeit.  Von  Prof.  I)r. 
Heinrich  Her  kn  er. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik : 

Zu  den  agrarischen  Reformplänen 
in  Rumänien.  Von'  Dr.  Carl 
G rünber  g. 

Zum  deutschen  Auswanderungs- 
gesetz. 

Arbeitergenossenschaften  in  Italien. 
Arbeiterzustämle : 

Schweizerisches  Arbeitersekretariat. 

Untergang  einer  Hausindustrie. 

lagelöhne  im  Grossherzogthum 
Hessen. 

Zur  Lage  der  Wiener  Schuhmacher 

Das  Schwitzsystem  der  Schneidere: 
in  den  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Krisis  im  englischen  Kohlenberg- 
bau. 

Die  gleitende  Skala  in  den  Kohlen- 
werken von  Süd  -Wales. 

Die  Kontrollmarke. 

Reorganisation  der  katholischen 
Arbeitervereine. 

Die  Leistungen  der  dänischen 
Böttcherorganisation. 

Die  amerikanischen  Gewerkschaf 
ten. 


Die  gewerkschaftliche  Bewegung 
in  Oesterreich-Schlesien. 

Ein  Urtheil  über  Strikes. 
Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Eine  Enquete  betr.  die  Organisation 
der  österreichischen  Fabrikindu- 
strie. \ 011  Dr.  Leo  Verkauf. 

Noth  wencligkeit  der  Ausdehnung 
der  Schutzvorschrifteil  für  jugend-  ' 
liehe  Arbeiter. 

Minimallöhne  in  Frankreich. 

Ein  staatliches  Arbeitsvermittlungs- 
amt in  Neii-Seeland. 

Eabrikiiispektion : 

Leberbiinlung  der  Kabrikinspek- 
toren. 

Jugendliche  Arbeiter  in  der  badi- 
schen Fabrikindustrie. 
Hamlwerkerfrageu : 

Zur  Einführung  der  obligatorischen 
Innung  und  des  Befähigungs- 
nachweises. 

Untergang  des  Kleingewerbes  in 
der  Mühleiiindustrie. 

Soziale  Hygiene: 

Zum  schwedischen  Trunksuchts- 
gesetz. Von  Axel  Ramm. 

Erwiderung. 

Lungenschwindsucht  und  Erwerbs-  , 
Verhältnisse. 

Eingesemlete  Schriften. 


Abdruck  sänimtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Arbeitslosigkeit. 


An  der  Spree  und  an  der  Donau  haben  hungernde 
arbeitslose  Proletarier  durch  Massenaufzüge  die  Berück- 
sichtigung ihrer  Noth  und  ihres  Elendes  von  Seiten  rnass-, 
gellender  Faktoren  zu  erzwingen  versucht.  Es  ist  ein  immer 
schmerzlicheres  Stöhnen  und  Klagen,  das  Winter  für  Winter 
aus  den  Kreisen  der  Arbeiter  über  den  zunehmenden  Ar- 
beitsmangel  dringt.  Die  i hätigkeit  der  Bauhandwerker 
muss  in  der  kalten  Jahreszeit  eingestellt  werden,  und  der 
Lohn,  den  diese  Arbeiter  während  der  Saison  verdienen, 
ist  selten  so  hoch  bemessen,  dass  von  demselben  etwas 
tür  die  beschäftigungslosen  Monate  zurückgelegt  werden 
könnte.  Und  das  Elend  erreicht  seinen  Gipfel,  wenn,  wie 
im  lautenden  W inter,  wenig  Schnee  fällt,  und  somit  auch 
das  kärgliche  Einkommen,  das  die  Schneeabräumungs- 
arbeiten  gewähren,  und  aut  das  die  im  Winter  Beschäf- 
tigungslosen  zu  rechnen  gewohnt  sind,  noch  verloren  geht. 


Insofern  hier  besondere  Witterungs  Verhältnisse  zum 
herrschenden  Nothstand  in  engste  Beziehung  treten,  wird 
man  unsere  V irthschattsordnung  gegen  den  Vorwurf  mann- 
halt vertheidigen,  dass  sie  irgendwie  die  Schuld  an  der 
wachsenden  Arbeitsnoth  trüge.  Wie  kommt  es  aber,  dass 
der  Lohn  nicht  ausreicht,  um  dem  Arbeiter  über  die  regel- 
mässig beschättigungsärmere  Zeit  hinwegzuhelfen?  Nach 
den  Lehren  der  Theoretiker  wäre  das  bekanntlich  doch 
seine  Pflicht  und  Schuldigkeit.  Der  Gönner  unserer  Wirt- 
schaftsordnung belehrt  uns,  dass  eben  die  gewerkschaft- 
lichen Organisationen  dieser  Arbeiter  noch  nicht  weit 
genug  vorgeschritten  sind.  Mit  der  Ausdehnung  und  Er- 
starkung derselben  wird  der  Lohn  sich  steigern  und  schliess- 
lich dem  Arbeiter  auch  während  der  Arbeitsstockungen  die 
Befriedigung  seiner  Lebensnothdurtt  gestatten.  Nicht  genug 
an  dem.  Man  vermag  auch  darauf  hinzuweisen,  dass  die 
Arbeitslosigkeit  in  den  grossen  Städten  sich  nur  als  eine 
folge  der  leichtsinnig  erfolgten  Abwanderung  vom  platten 
Lande  darstellt.  Dort  besteht  ein  ebenso  grosser  Mangel 
an  Arbeitern  als  hier,  in  der  Stadt,  an  Arbeit. 

So  sucht  man  sich  mit  den  betrübenden  Erscheinungen, 
die  in  Deutschland  und  Oesterreich  den  Mittelpunkt  des 
öffentlichen  Interesses  während  der  letzten  Zeit  gebildet 
haben,  vergleichsweise  leicht  abzufinden. 

W er  hat  uns  aber  bewiesen,  dass  es  nur  die  Bauhand- 
werker sind,  die  nach  Brod  und  Arbeit  flehen?  In  Wien 
z.  B.  ist  die  Noth  der  Schuhmacher  bekanntlich  nicht  viel 
geringer  als  diejenige  der  Bauarbeiter,  welche  sehnsüchtig 
des  Augenblickes  harren,  in  welchem  die  geplanten  gross- 
artigen \ erkehrsanlagen  in  Angriff  genommen  werden 
sollen.  Wer  giebt  uns  die  Versicherung,  dass  all’  diese 
Leute  mit  den  ersten  lauen  Frühlingslüften  auch  wieder 
Arbeit  erhalten?  Wer  will  behaupten,  dass  das  Gespenst 
der  Arbeitslosigkeit  nur  die  grösseren  Städte  heimsucht? 
W er  vermag  darzuthun,  dass  auch  im  strengen  Winter  auf 
dem  Lande  sich  genügende,  lohnende  Beschäftigung  finden 
würde?  ist  es  wirklich  nur  freventliche  Genuss-  und  Ver- 
gnügungssucht, die  vielberufene  „Begehrlichkeit“,  welche 
die  Arbeiter  vom  Lande  in  die  Städte  treibt? 

„Die  sozialen  Uebel  unserer  Arbeiterklassen,  und  somit 
auch  die  Hauptursachen  des  Sozialismus,  sind  nicht  von 
den  grossen  Städten  aut  das  Land,  sondern  im  Gegentheil 
vom  platten  Lande  in  die  Städte  getragen  worden,  und 
eine  Verbesserung  des  Lebens  der  Arbeiterklassen  muss 
daher  aut  dem  Lande  beginnen“.  So  beginnt  eine  vor 
Kurzem  erschienene  Schrift  Asemissens  über  „Die  Be- 
deutung des  Grundbesitzes  für  das  Wohl  der  arbeitenden 
unteren  Volksklassen“.1) 

r)  Berlin.  Carl  Heymanns  Verlag.  1892. 


128 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  10. 


Die  Rückständigkeit  unserer  Arbeitsstatistik  zeigt  sich 
hier  wiederum  in  greller  Beleuchtung.  Wir  besitzen  nicht 
einmal  genauere  Vorstellungen  über  die  Zahl  der  Arbeits- 
losen, geschweige  denn,  dass  wir  über  ihre  persönlichen 
und  beruflichen  Verhältnisse  irgendwie  unterrichtet  wären. 

Zum  Glücke  gibt  es  Staaten,  die  Werth  darauf  legen, 
ihren  arbeitsstatistischen  Verpflichtungen  gewissenhafter 
nachzukommen.  Aus  den  vom  Arbeitskorrespondenten  des 
englischen  Handelsamtes  veröffentlichten  Nachweisen  sehen 
wir,  dass  jeder  Zeit,  auch  in  Perioden  „glänzenden“  Ge- 
schäftsganges, ein  nicht  unerheblicher  Bruchtheil  selbst  der 
am  tüchtigsten  organisirten,  gelernten  Arbeiter  Gross- 
britanniens arbeitslos  ist.  Niemand  wird  ernsthaft  behaupten 
wollen,  bei  uns  lägen  die  Verhältnisse  vortheihatter.  Wie 
hoch  die  Zahl  der  Arbeitslosen  im  deutschen  Buchdrucker- 
gewerbe z.  B.  angeschwollen,  das  haben  erst  die  Erfah- 
rungen des  letzten  Ausstandes  neuerdings  nachgewiesen. 
Eine  von  der  Gewerkschaft  der  deutschen  Drechsler  unter- 
nommene und  jüngst  veröffentlichte  Statistik  zeigt,  dass 
ungefähr  25  pGt.  im  Jahre  arbeitslos  waren  und  zwar  im 
Durchschnitte  während  fünf  Wochen.  Nach  den  Angaben 
der  „Vereinigung  deutscher  Maler,  Anstreicher  und  Lackirer“ 
waren  sogar  25  pCt.  länger  als  drei  Monate  hindurch  ohne 
Beschäftigung.  Und  endlich:  „Sämmtliche  Arbeitsvermitt- 
lungsvereine und  Bureaux  fassen  ihre  Erfahrung  in  dem 
Einen  zusammen,  dass  sich  mehr  zur  Arbeit  melden  als 
mit  Arbeit  versehen  werden  können“.1) 

So  spärlich  immerhin  die  statistischen  Angaben  fliessen 
mögen,  im  Vereine  mit  der  allgemeinen  Erfahrung  des  täg- 
lichen Lebens  zeigen  sie  doch  deutlich  genug,  dass  die 
„industrielle  Reservearmee“  kein  Wahngebilde  trübsinniger 
Theoretiker,  sondern  dass  sie,  ganz  abgesehen  von  Zeiten 
besonderer  Krisen,  für  die  arbeitenden  Klassen  eine  furcht- 
bare Realität  darstellt.  Als  die  aufkommende  Grossindustrie 
und  ihre  Maschinen  die  Arbeiterreserve  zu  erzeugen  be- 
gonnen, da  suchte  man  sich  bei  dem  Tröste  zu  beruhigen, 
die  unausbleiblichen  Segnungen  des  industriesystemes  wür- 
den diese  temporären  Schmerzen  bald  völlig  in  Schatten 
stellen.  Seither  ist  fast  ein  Jahrhundert  verflossen,  und  die 
Arbeitslosigkeit  hat  nur  immer  gigantischere  Formen  ange- 
nommen. Niemand  vermag  sich  mehr  der  schönen  I äu- 
schung  hinzugeben,  es  handle  sich  nur  um  kleinliche 
Uebergangsschmerzen,  um  Kinderkrankheiten  einer  neuen 
industriellen  Verfassung.  Hermann  Losch  rechnet  uns  eben 
überzeugend  vor,  dass  mindestens  2 '/2  Millionen  Arbeitskräfte 
im  Deutschen  Reiche  erspart  werden  könnten,  wenn  man 
alle  Errungenschaften  der  modernen  Technik  und  Oeko- 
nomik  zur  Anwendung  bringen  wollte.  Und  diese  Heere 
von  Arbeitskräften  werden  im  Laufe  der  Jahre  erspart 
werden,  und  sie  werden  auf  das  Pflaster  geworfen  werden, 
und  sie  werden  gleich  ihren  Vorfahren  um  Brot  und  Arbeit 
betteln  müssen  - — wenn  die  arbeitenden  Klassen  und  ihre 
Freunde  nicht  endlich  Geschichte  machen,  die  Gedanken- 
gänge grosser  genialer  Volkswirthe  in’s  Leben  übersetzen 
und  der  sozialökonomischen  Entwicklung  der  Zukunft  neue 
Bahnen  anweisen. 

Denn  kein  undurchdringlicher,  geheimnissvoller  Schleier 
liegt  mehr  über  den  Ursachen  der  Arbeitsnoth.  Die  Fürsten 
der  sozialökonomischen  Wissenschaft  haben  sie  enthüllt  und 
uns  das  beklemmende  Räthsel  gelöst,  warum  Massen  von 
Nahrungsmitteln,  Kleidungsgegenständen  und  Wohnungen 
keine  Abnehmer  linden,  während  Massen  von  Arbeitern 
hungern,  frieren  und  ein  menschenwürdiges  Obdach  ent- 
behren. Xismondi,  Stein,  Rodbertus,  Marx  haben  nicht  ver- 

*)  Verhandlungen  der  achten  Versammlung  des  deutschen 
Vereines  für  Armenpflege  und  Wohlthätigkeit.  Leipzig  1887. 
Seite  73. 


geblich  im  Dienste  der  sozialen  Wissenschaft  gewirkt.  Wir 
haben  begreifen  gelernt,  dass  der' geringe  Antheil,  welcher 
den  arbeitenden  Klassen  im  sich  selbst  überlassenen  Ver- 
kehre am  Volkseinkommen  zufällt,  die  Entfaltung  des  Wirth- 
schaftslebens  einschnüren  muss,  dass  der  Unterkonsum  der 
Arbeiterwelt  zur  chronischen  Ueberproduktion  und  Arbeits- 
noth führt,  dass  die  einseitige  Niederhaltung  des  Massen- 
konsums sich  durch  eine  gefahrbringende  Störung  des 
natürlichen  Kreislaufes  der  Völkswirthschaft  zu  rächen  ver- 
steht. Nicht  früher  können  wir  zu  normalen  Verhältnissen 
des  Arbeitsmarktes  gelangen,  als  bis  wir  einen  normalen,  die 
Extreme  nur  als  Ausnahmen  zulassenden  Prozess  der  Ein- 
kommensvertheilung  erhalten.  Das  ist  eine  der  wichtigsten 
Aufgaben  der  sozialen  Reform  im  wirthschaftlichen  Sinne  und 
einer  von  der  Wissenschaft  erleuchteten,  sozial  unparteiischen 
Verwaltung.  Erst  wenn  man,  wie  L.  v.  Stein  treffend  be- 
merkt, statt  in  der  Unterwerfung  und  Ausbeutung  der  Arbeit, 
sein  höchstes  und  praktisches  Interesse  in  der  Hebung  und 
materiellen  Befreiung  derselben  suchen  wird,  wird  die  Har- 
monie des  Güterlebens  und  mit  ihr  die  wahre  Freiheit 
beginnen. 

Tndess  wo  finden  wir  den  Pfad  nach  dem  fernen  Lande 
der  Verheissung,  von  dem  uns  nur  durch  das  Seherauge 
grosser  Denker  Kunde  ward?  Wie  sollen  die  arbeitenden 
Proletarier  sich  emporringen  auf  lichtere  Höhen,  wenn  das 
fast  bedingungslose  Arbeitsangebot  der  Beschäftigungslosen 
gleich  einer  bleiernen  Kette  sie  immer  und  immer  wieder 
auf  die  Stufe  der  kärglichsten  Lebenfristung,  des  blossen 
Existenzminimums  herabzerrt?  Wir  erblicken  keine  andere 
Möglichkeit:  die  Nation,  der  Staat,  in  deren  eigenstem 

Interesse  die  Hebung  der  Arbeiterklasse  und  die  Entwick- 
lung einer  sozialen  Verwaltung  gelegen  ist,  müssen  selbst  , 
die  Fesseln  sprengen,  indem  sie  die  Arbeiterklasse  ganz  ' 
oder  tfeeilweise  von  der  Fürsorge  für  die  Arbeitslosen 
entlasten. 

Wir  haben  ein  Gesetz  über  den  Unterstützungswohn- 
sitz. Dasselbe  gewährt  nicht  einmal  ein  Recht  auf  Existenz. 
Während  der  Staat  von  seinen  Angehörigen  die  weitgehend- 
sten und  für  die  besitzlosen  Volksklassen  doppelt  drückenden  j 
militärischen  Dienste,  ja  die  Aufopferung  des  Lebens  selbst  ; 
beansprucht,  hat  er  sich  noch  nicht  einmal  entschlossen,  * 
klipp  und  klar  ihnen  auch  ein  Recht  auf  Gewährung  des  * 
Unterhaltes  oder  der  Mittel  zu  demselben  zu  gewähren, 
wenn  sie  so  unglücklich  sind,  aus  eigener  Kraft  sich  den- 
selben nicht  mehr  verschaffen  zu  können.  Das  ist  unseres 
Erachtens  ein  tief  beschämender,  eines  Rechtsstaates  voll- 
kommen unwürdiger  Zustand.  Und  was  das  schlimmste  ist, 
man  scheint  sich  der  Unzulänglichkeit  dieser  Verhältnisse 
garnicht  einmal  genügend  bewusst  zu  sein.  Dürfte  es  doch 
kaum  ein  zweites  Gebiet  des  öffentlichen  Lebens  geben, 
auf  dem  das  ödeste  Manchesterthum  und  der  platteste 
Individualismus  theoretisch  und  praktisch  noch  in  der 
Blüthe  stehen,  kein  Gebiet,  das  mit  vereinzelten  Ausnahmen 
so  durchaus  unberührt  geblieben  ist  von  dem  Fortschritte 
des  sozialen  Denkens,  wie  dasjenige  unserer  Armenpflege. 
Man  traut  seinen  Augen  kaum,  wenn  man  in  den  Verhand- 
lungen des  deutschen  Vereines  für  Armenpflege  z.  B.  die 
Rede  liest,  mit  der  Münsterberg  den  durchaus  massvollen 
Vorschlägen  des  Bezirkspräsidenten  z.  D.  von  Reitzenstein 
betreffend  die  Beschäftigung  der  Arbeitslosen  und  den  Nach- 
weis von  Arbeit  entgegengetreten  ist.  Und  doch  wird  der 
Gang  der  Ereignisse  bald  unaufhaltsam  zu  Massnahmen 
drängen,  die  über  die  Reformideen  Reitzensteins  noch  be- 
trächtlich hinausgehen.  Die  mit  den  vorgeschritteneren 
sozialen  Ueberzeugungen  nicht  mehr  im  Einklänge  befind- 
liche Armenpflege  wird  sich  in  eine  sozialpolitische  Für- 
sorge grossen  Xtyles  verwandeln  müssen,  wenn  wirklich 
eine  soziale  Reformpolitik  getrieben  werden  soll. 


No.  10. 


i‘29 


S(  t/l  \ 1.1*01.1  l ISCHES  « TINTRAI, BLATT 


Der  Staat  in  finanzieller  Hinsicht,  die  Gemeinde  als 
ausführendes  Organ  werden  nicht  nur  die  Organisation  des 
Arbeitsnachweises  im  Vereine  mit  Berufsverbänden  (man 
denke  an  die  französischen  Arbeitsbörsen!)  zu  übernehmen 
haben,  sondern  es  wird  zu  gewissen  örtlich,  und  bei  weiterer 
Ausbildung  auch  beruflich,  bestimmten  Minimalsätzen  Den- 
jenigen, die  Arbeit  begehren,  eine  ihren  Fähigkeiten 
gerecht  werdende  Beschäftigung  zu  gewähren  sein.  Wir 
werden  ein  Recht  auf  Existenz  anerkennen  und  danach 
trachten  müssen,  es  durch  fortgesetzte,  stufenweise  Hurnani- 
sirung  dem  Ideale  eines  Rechtes  auf  Arbeit  zu  nähern. 
Dem  Manne,  der  gegen  die  Minimalsätze  von  den  öffent- 
lichen Körperschaften  Beschäftigung  begehrt,  wird  dieselbe 
unter  Ausschluss  jeder  entehrenden  Bedingung  darzubieten 
sein  und  in  einer  Weise,  welche  die  erworbene  Geschick- 
lichkeit seiner  Hand,  sein  höchstes  wirtschaftliches  Gut, 
nicht  beeinträchtigt.  Man  darf  die  mühsam  errungene  Hand- 
fertigkeit eines  Setzers,  eines  Uhrmachers,  eines  Webers, 
eines  Kunsttischlers  u.  s.  w.  nicht  durch  Zuweisung  schwe- 
rer Erdarbeiten  vernichten. 

Das  sind  die  allerdings  schwierigen  Aufgaben,  deren 
Lösung  sich  eine  von  modernem  Geiste  erfüllte  Armen- 
pflege zuzuwenden  haben  wird.  Diese  Arbeiterversicherung 
wird  übrigens  erst  dann,  wenn  das  Problem  der  Arbeits- 
losigkeit seiner  Lösung  entgegengeht,  aufhören,  gerade  in 
den  dringendsten  Fällen  ihre  Wirksamkeit  zu  versagen. 
Ist  der  Schutz  gegen  Arbeitslosigkeit  oder  deren  Folgen 
doch  die  unerlässliche  Voraussetzung  jeder  in  der  That 
wirksamen  Arbeiterversicherung,  wie  Brentano  schon  längst 
nachgewiesen  hat. 

Aber  würde  denn  die  chronische  Ueberproduktion 
aut  diesem  Wege  nicht  noch  verschlimmert  werden?  Würden 
auf  diese  Weise  nicht  neue  Arbeitslose  geschaffen  werden, 
würden  die  von  den  Körperschaften  des  öffentlichen 
Rechtes  zu  beschäftigenden  Arbeiter  nicht  in  einem  Maasse 
zunehmen,  dass  ein  finanzieller  Zusammenbruch  unvermeid- 
lich 'wäre? 

Das  meinen  allerdings  die  mit  privatwirthschaftlichen 
Scheuledern  bedachten  Köpfe,  welche  nur  für  die  Ver- 
mehrung der  Waarenproduktion  ein  Auge  haben,  welche  aber 
der  volkswirtschaftlichen  Bedeutung,  welche  die  Konsum- 
tähigkeit  der  arbeitenden  Klassen  besitzt,  sich  niemals  zu 
erinnern  vermögen.  Die  uns  vorschwebende  Humanisirung 
des  Rechtes  auf  Existenz  würde  nicht  nur  produktive,  son- 
dern in  noch  weit  höherem  Grade  auch  konsumtive  Kräfte 
entfesseln.  Denn  es  kommt  nicht  nur  die  Erhöhung  der 
Konsumkraft  in  Erwägung,  welche  den  unmittelbar  von  den 
öffentlichen  Körperschaften  zu  beschäftigenden  Personen  zu 
Theil  wird.  Mit  der  Humanisirung  des  Rechtes  auf  Existenz 
eröffnet  sich  vor  allem  auch  den  gewerkschaftlichen  Be- 
strebungen der  ungelernten  und  minder  gelernter  Arbeiter 
eine  erfolgreiche  Zukunft.1)  Setzen  wir  ferner  voraus,  dass 
diese  Verwandlung  unserer  malthusianisch  angehauchten 
Armenpflege  in  eine  sozialpolitische  Fürsorge  vorzugsweise 
auf  Kosten  der  besitzenden  Schichten  der  Gesellschaft  er- 
folgt — etwa  durch  Verschärfung  der  für  die  höheren  Ein- 
kommensstufen gütigen  Progression  der  Besteuerung  — , 
so  wird  auf  dem  gekennzeichneten  Wege  sicherlich  eine 
normalere  Einkommensvertheilung  und  damit  eine  allmäh- 
lige  Beseitigung  derjenigen  wirthschaftlichen  Kreislauf- 
störung sich  anbahnen  lassen,  auf  welche  die  chronische 
Arbeitsnoth  zurückgeführt  werden  musste. 

Nicht  klägliche  Palliative,  wie  Rodbertus  sagt,  nicht 
schmale  Kost  und  Diät  für  die  laufende  Produktion  in  Form 

')  Eingehendere  Erörterungen  dieser  Frage  in  meinen 
„Studien  zur  Fortbildung  des  Arbeitsverhältnisses“.  Braun’s 
Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik.  IV.  Band. 
S.  589  u.  flgde. 


von  hohem  Diskont  und  für  die  arbeitenden  Klassen  die 
noch  kläglicheren  Almosen-  und  Suppenanstalten  sind  im 
.Stande,  wirksame  Heilung  zu  bringen.  Sie  können  nur  den 
Mitteln  verglichen  werden,  welche  der  Arzt  anwendet,  um 
einen  siechen  Körper  so  lange  zu  erhalten,  bis  diejenigen 
Massnahmen  eine  Wirkung  zu  äussern  beginnen,  welche 
den  Sitz  des  Uebels  ergreifen. 

Man  organisire  allenthalben  den  Arbeitsnachweis,  und 
man  wird  auch  eine  Statistik  der  Arbeitslosigkeit  erhalten; 
man  gewähre  den  Arbeitssuchenden  gegebenen  Falls  die 
Arbeitsmittel,  damit  die  Produktionskraft  ihrer  Hände  ihnen 
die  Deckung  ihrer  Lebensnothdurft  gestatte,  man  lasse  die 
beschäftigungslosen  Bauarbeiter  Arbeiterwohnungen  er- 
richten, man  entwickle  die  Arbeiterschutzgesetzgebung, 
man  fördere  die  auf  Herabsetzung  der  Arbeitszeit  und  Er- 
höhung des  Lohnes  gerichteten  Bestrebungen  der  Gewerk- 
schaften, man  unterstütze  die  Entwicklung  technischer 
Fortschritte,  denen  bei  sozialer  Verwaltung  kein  Arbeiter 
mehr  fluchen  wird,  und  die  Entwicklung  Deutschlands 
wird  einen  ungeahnt  grossen  Aufschwung  nehmen! 

Freiburg  i.  B.  Heinrich  Her  kn  er. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Zu  den  agrarischen  Reformplänen  in  Rumänien.1) 

Das  Gesetz  betreffend  die  Verträge  über  ländliche 
Arbeiten  vom  10.  Mai  1882  hat  zu  einer  grossen  Reihe  von 
Missbräuchen  geführt,  ganz  abgesehen  davon  dass  es  in 
der  Praxis  vielfach  garnicht  oder  doch  nur  sehr  lax  ange- 
wendet wird.  Dies  gilt  insbesondere  von  den  Vorschriften 
über  die  Y ertragsregistrirung , sowie  dass  zwei  Tage 
wöchentlich  den  Arbeitern  zur  eigenen  Wirthschaftspflege 
frei  bleiben  sollen.  Auch  die  den  Kommunalbehörden  ein- 
geräumten sehr  weitgehenden  Vollmachten  haben  zu 
schweren  Unzukömmlichkeiten  geführt.  Dass  die  Kommu- 
nalbehörden nur  zu  oft  ihre  Amtsgewalt  im  Interesse  des 
Grossgrundbesitzers  missbrauchen,  hat  die  gegen  sie, 
während  der  Bauernunruhen  im  Jahre  1888  zu  Tage  ge- 
tretene ausserordentliche  Erbitterung  bewiesen,  und  ist 
schliesslich,  bei  ihrer  Abhängigkeit  von  den  Grossgrund- 
besitzern, auch  nicht  zu  verwundern. 

Es  muss  freilich  auch  andererseits  zugestäiiden  werden, 
dass  die  ländlichen  Arbeiter  sich  sehr  häufig  schon  im 
Winter  für  die  nächste  Saison  verdingen,  vorausbezahlen 
lassen  und  dann  der  Erfüllung  ihrer  vertragsmässigen  YTer- 
pflichtungen  entziehen.  Wenn  sie  das  aber  thun,  so  ist  ihre 
elende  wirtschaftliche  Lage  daran  Schuld.  In  der  Moldau, 
wo  das  Lohnvertragssystem  vorherrscht,  sind  die  ländlichen 
Arbeitslöhne  sehr  gering.  Sie  werden  noch  mehr  durch 
den  Umstand  gedrückt,  dass  der  Gutsherr,  wenn  der  Land- 
arbeiter sich  für  die  nächste  Saison  verdingt,  bei  der  Fest- 
stellung des  Lohnes  nicht  nur  den  Zinsentgang  für  die  ge- 
währten Lohnvorschüsse  und  eine  Risikoprämie,  sondern 
auch  die  Nothlage  des  Arbeiters  in  Berechnung  bringt. 
Der  gewöhnliche  — Werklohn  in  Tagelohn  umgerechnet 
beträgt  daher  durchschnittlich  in  den  seltensten  Fällen  mehr 
als  60  Centimes  und  Nahrung  (d.  h.  Mamaliga  (Polenta)  und 
Käse). 

Schlimmer  noch  steht  es  im  Süden,  in  der  Walachei. 
Dort  bewirthschaften  die  Gutsherren  ihre  Ländereien  nur 
selten  in  eigener  Regie.  Sie  verpachten  dieselben  vielmehr 
entweder  ganz  an  Grosspächter,  die  einen  Theil  der  Grund- 
stücke den  Bauern  in  Afterpacht  geben,  oder  einzelne 


’)  Vergl.  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  5,  S.  60  und  61. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  10. 


1 30 


Theile  direkt  an  Bauernfamilien,  ln  beiden  Fällen  sind  die 
Vertragsbedingungen  für  die  Bauern  sehr  ungünstig.  Denn 
einerseits  ist  der  Grosspächter  gezwungen,  die  stetig 
wachsende  Last  des  Pachtschillings  auf  die  Afterpächter  zu 
überwälzen.  Kontrahirt  aber  auch  der  Gutsherr  direkt  mit 
den  Bauern,  so  wird  wie  übrigens  auch  im  ersten  Falle 
der  Pachtschilling  nicht  in  Geld  berechnet,  sondern  in 
einem  Theile  — l/u  1/3,  oft  sogar  der  Hälfte  des  Erträg- 
nisses (arenda  cu  dijma).  Die  Kleinpächter  ziehen  es  sogar 
vor,  50  n/0  der  erzielten  Früchte  abzuliefern,  weil  sie  sonst 
zu  noch  anderweitigen,  oft  geradezu  lächerlichen  Leistun- 
gen verpflichtet  werden. 

Die  Regierungsmotive  zu  dem  1888  von  Carp  einge- 
brachten  Gesetzentwürfe,  betreffend  die  Verträge  über 
ländliche  Arbeiten,  bemerkten  hierüber : ..Neben  und  ausser 
dem  vertragsmässig  festgesetzten  Pachtschilling  wird  in 
der  Regel  noch  eine  Summe  von  scheinbar  unbedeutenden 
Leistungen  vereinbart:  z.  B.  Fuhren,  Zug- oder  Handarbeits- 
tage, Naturalabgaben,  welche,  zusammengerechnet,  den 
Pachtschilling  ins  Ungemessene  vergrössern,  ohne  dass  der 
Kleinpächter  sich  davon  Rechenschaft  zu  geben  vermag.“ 

Nach  welcher  Richtung  nun  die  vom  gegenwärtigen 
Ministerium  geplante  Reform  sich  bewegen  soll,  ist  aus  dem 
von  demselben  am  3.  Februar  publizirten  und  von  sännnt- 
lichen  Ministern  gezeichneten  Apell  an  die  Wähler  un- 
schwer zu  entnehmen.  „Das  Gesetz  über  die  Agrarverträge 
heisst  es  da  — wird  eine  möglichste  Versöhnung  der 
lnteressen  der  Grossgrundbesitzer  und  der  Landarbeiter 
versuchen  und  die  unläugbare  Wahrheit  zum  Ausdruck 
bringen,  dass  der  Gross-  und  Kleingrundbesitz  ein  Ganzes 
bilden  und  auf  eine  gleiche  Berücksichtigung  gerechten 
Anspruch  haben.“  (Constitutionalul  vom  5.  Februar  1892.) 

Es  ist  also  einerseits  zu  erwarten,  dass  die  Schutz- 
bestimmungen für  die  ländlichen  Arbeiter  erweitert  und  für 
deren  Einhaltung  sowie  für  Eindämmung  des  Missbrauches 
der  Amtsgewalt  durch  die  Kommunalbehörden  Sorge  ge- 
tragen werde.  Andererseits  darf  wohl  mit  Sicherheit  ange- 
nommen werden,  dass  auch  das  Interesse  der  Grossgrund- 
besitzer in  erweitertem  Masse  geschützt  und  so  insbesondere 
für  die  Einhaltung  der  von  den  Landarbeitern  den  Guts- 
herrn gegenüber  eingegangenen  Verpflichtungen  erhöhte 
Garantien  geschaffen  werden. 

Von  dieser  zweifachen  Tendenz  war  auch  der  Carp- 
sche  Entwurf  von  1888  beherrscht. 

Es  liegt  aber  auf  der  Hand,  dass  alle  Schutzgesetze 
in  so  lange  wirkungslos  bleiben  müssen,  als  die  absolute 
wirthschaftliche  Abhängigkeit  der  Bauern  und  Landarbeiter 
von  ihren  Gutsherrn  in  gleichem  Masse  fortdauert,  wie  bis- 
her. Denn  nur  diese  zwingt  sie,  alle  ihnen  gestellten  Be- 
dingungen zu  acceptiren  und  nur  auf  diese  ist  es  zurück- 
zuführen, wenn  an  Stelle  der  1864  aufgehobenen  gesetz- 
lichen Frohnpflicht  eine  — viel  härtere  und  ungleich 
drückendere  freiwillige  getreten  ist. 

In  dieser  Richtung  Abhilfe  zu  schaffen  und  die  Quelle 
des  Uebels  zu  verstopfen,  ist  das  Gesetz  betreffend  die 
Veräusserung  der  Staatsgüter  (kundgemacht  mit  Dekret 
vom  6.  April  1889)  geschaffen  worden. 

Bevor  ich  den  Inhalt  dieses  Gesetzes  kurz  skizzire, 
ist  es  nöthig,  einige  einleitende  Bemerkungen  vorauszu- 
schicken. 

Als  im  Jahre  1864  (durch  das  Agrargesetz  vom 
14/26.  August1)  die  Frohndienste  aufgehoben  wurden,  er- 
hielten die  bisher  frohnpflichtigen  Wirthe,  nach  Massgabe 
des  Gesetzes,  das  freie  Eigenthum  an  den  von  ihnen  inne- 
gehabten Ländereien.  Von  den  1864  vorhandenen  frohn- 
pflichtigen Familien  wurden  402  000  freie  Eigenthümer  eines 
Gesammtareals  von  1 605  616  Hektaren.  Von  diesen  besassen 
in  der  Moldau  6700  Familienhäupter  je  786,5  Ar,  59  000  je 
572  Ar,  58  000  je  357,5  Ar.  In  der  Walachei  besassen 
64  930  Familienhäupter  je  550  Ar,  138  970  je  372  Ar  und 
74  600  je  230  Ar.  Etwa  150  000  Familienhäupter  — unbe- 
t'eldete  Häusler  und  Jnstleute  blieben  ohne  Grundbesitz. 

0 Abgedruckt  in  Rudolf  Meyers  Heimstätten  und  andere 
Wirthschaftsgesetze  S.  233  ff. 


Ausser  den  genannten  erwarben  in  Gemässheit  der 
Artikel  5 und  6 des  Agrargesetzes  und  späterer  Gesetze  von 
1881  und  1886  weitere  53  000  Familienhäupter  zusammen 
rund  702  000  Hektare,  also  im  Durchschnitt  je  6,7  Hektare. 

Die  Zahl  der  ehemaligen  Freisassen,  die  durch  das 
Agrargesetz  von  1864  nicht  berührt  wurden,  dürfte  gegen 
117  000  betragen,  sodass  die  Gesammtzahl  der  heute  in 
Rumänien  existirenden  Kleingrundbesitzer  zusammen  gegen 
570  000  erreichen  mag.  Da  nun  etwa  650  000  ländliche 
steuerpflichtige  Familien  vorhanden  sind,  so  stellt  sich  die 
Ziffer  der  ganz  besitzlosen  oder  mindestens  unbefeldeten 
ländlichen  Arbeiterfamilien  auf  etwa  80  000.  Alle  diese 
Ziffern  machen  übrigens  auf  Genauigkeit  keinen  Anspruch. 
Namentlich  gehen  die  Angaben  über  die  Höhe  der  letzt- 
genannten sehr  auseinander:  So  spricht  der  obenerwähnte 

ministerielle  Wahlaufruf  gar  von  180  000  landlosen  Land- 
arbeitern. 

Es  steht  aber  fest,  dass  ausser  den  letzteren,  die  ganz 
auf  den  Ertrag  ihrer  persönlichen  Arbeit  und  zwar  fast 
ausschliesslich  in  der  Landwirthschaft  — da  die  industrielle 
Produktion  Rumäniens  kaum  in  Betracht  kommt  — ange- 
wiesen sind,  auch  die  materielle  Lage  der  grossen  Mehrzahl 
der  Kleingrundbesitzer  eine  sehr  schlechte  ist.  Das  Er- 
trägniss  ihres  eigenen  landwirtschaftlichen  Betriebs  reicht 
zur  Deckung  ihrer  Bedürfnisse  nicht  hin.  Sie  leiden  Mangel 
an  Weide  und  Wiesenland,  sowie  an  Waldungen,  und 
müssen  daher  ihr  Vieh  auf  die  herrschaftliche  Weide 
treiben  und  sich  für  die  Erlaubniss  hierzu  die  härtesten 
Bedingungen  gefallen  lassen.  Es  ist  daher  klar,  dass  jede 
Reform,  welche  nachhaltig  wirken  will,  ihr  Bestreben  dahin 
richten  muss,  einerseits  den  unangesessenen  Landarbeiter- 
familien die  Möglichkeit  zu  verschaffen,  eigenen  Grund- 
besitz zu  erwerben,  und  den  bereits  angesessenen  : ihn  derart 
zu  komplettiren,  dass  ihnen  der  Wirthschaftsertrag  eine  ■ 
ausreichende  Existenz  sichere  und  die  wirthschaftliche  Ab- 
hängigkeit von  dem  Grossgrundbesitzer  breche. 

Zu  diesem  Zwecke  ertheilt  das  Gesetz  vom  6.  April  : 
1 889 l)  der  Regierung  die  Vollmacht : sämmtliche  Staats- 
domänen in  Parzellen  zu  je  5,  10  und  25  Hektaren  an 
rumänische,  im  Lande  wohnhafte  Landarbeiter  zu  ver- 
kaufen. Auf  jeder  Domäne  soll  '/4  des  Areals  für  10  und 
25  Hektarloose  reservirt  werden.  (Art.  1 und  10.)  Unter 
den  .sich  meldenden  Käufern  sollen  in  erster  Reihe  Berück- 
sichtigt werden  die  Familienhäupter,  welche  ganz  unbe- 
feldet  sind.  Wittwen  mit  Kindern  sind  als  Familienhäupter 
anzusehen.  Verbleibt  noch  ein  Rest,  so  sollen  solche  ! 
Käufer  berücksichtigt  werden,  welche  weniger  als  5 Hek- 
tare besitzen  und  ihren  Besitz  auf  dieses  Ausmass  bringen 
wollen.  (Art.  17  b und  c.) 

Der  Verkauf  der  5 Hektarenparzellen  findet  aut  Grund 
von  legalisirten  schriftlichen  Anmeldungen  der  Kauflustigen 
statt.  Melden  sich  mehrere  Kauflustige  zu  derselben 
Parzelle,  so  entscheidet  das  Loos.  (Art.  17.)  Der 
Kaufpreis  soll  bis  zu  der  in  Aussicht  genommenen  all- 
gemeinen gesetzlichen  Feststellung  durch  Kapitalisirung 
des  10jährigen  Durchschnittsertrages  des  betreffenden  Gutes 
(auf  Grund  einer  5%  Verzinsung)  ermittelt,  aber  keines- 
falls geringer  als  mit  10  Frcs.  i>r.  Hektar  angesetzt  werden. 
(Art.  84.) 

Der  Verkauf  der  10  und  25  Hektarenparzellen  hin- 
gegen soll  durch  öffentliche  Feilbietung  stattfinden  und  der 
Kaufpreis  auf  Grund  des  zwanzigfachen  letzten  Pacht- 
schillings, jedoch  ebenfalls  nicht  unter  10  Frcs.  pr.  Hektar, 
bestimmt  werden.  Bleiben  zwei  Feibietungstermine  er- 
folglos, so  kann  das  für  Loose  zu  10  und  25  Hektaren 
reservirte  Viertel  jeder  Domäne  auch  in  5 Hektarenloosen 
veräussert  werden.  (Art.  20  und  21.) 

Der  Kaufpreis  der  5 Hektarenparzellen  soll  in,  aut 
Grund  einer  5prozentigen  Verzinsung  und  einer  Iprozentigen 
Amortisationsquote,  jener  für  die  10  und  25  Hektarenloose 
in  auf  Basis  der  gleichen  Verzinsung  aber  einer  2prozentigen 

')  Ueber  die  der  Erlassung  dieses  Gesetzes  yorausgegaa- 
genen  Verhandlungen  vgl.  Braun’s  Archiv  für  soziale  Gesetz- 
gebung und  Statistik  1889,  S.  96  ff. 


No.  -10, 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


131 


Amortisationsquote  zu  berechnenden  Jahresraten  beglichen 
werden.  Ueberdies  sollen  die  Käufer  von  Pafzellen  der 
zwei  letzten  Kategorien  auch  noch  ein  Zehntel  des  Kauf- 
schillings  innerhalb  eines  Monats,  vom  Tage  der  Bestätigung 
des  Kaufes  gerechnet,  bezahlen.  (Art.  35.) 

Im  Interesse  der  Bildung  von  neuen  Gemeinden  w ird 
das  Domänenministerium  die  Käufer  von  5 Hektarenloosen 
verpflichten,  sich  innerhalb  3 Jahren  auf  dem  erkauften 
Grund  anzusiedeln.  Die  Agrarkreditinstitute  werden  er- 
mächtigt, ihnen  zum  Behufe  der  Einrichtung  und  Beschaf- 
fung des  fundus  instructus  Darlehen  im  Höchstbetrage  von 
600  Frcs.  zu  gewähren,  deren  Rückerstattung  in  gleicher 
Weise  wie  die  Zahlung  des  Kaufschillings  zu  erfolgen  hat 
und  vom  Staate  garantirt  wird.  (Art.  3 und  35.) 

Die  Veräusserung  der  in  Gemässheit  dieses  Gesetzes 
erkauften  5 Hektarenloose  ist  nach  Art.  132  der  Ver- 
fassung innerhalb  eines  Zeitraumes  von  30  Jahren  aus- 
geschlossen. (Art.  51.) 

Das  vorstehende  Gesetz  ist  jedoch  bisher  nicht  zur 
Durchführung  gelangt.  Die  Gründe  sind  leicht  einzusehen, 
auch  wenn  man  die  technischen  Schwierigkeiten,  deren 
Ueberwindung  längere  Zeit  erfordert,  gänzlich  ausser  Be- 
tracht lässt.  Das  konservative  Ministerium,  das  sich  auf  die 
grossgrundbesitzenden  Bojaren  stützte,  denen  durch  eine 
energische  Durchführung  der  Reform  die  billigen  Arbeits- 
kräfte entzogen  und  die  Einkünfte  geschmälert  würden, 
ging  nicht  energisch  vor.  Die  fortwährenden  Parteikämpfe 
und  Ministerwechsel  lassen  eine  stetige  Arbeit  ebenfalls 
nicht  zu.  Und  was  am  wichtigsten  ist:  den  künftigen 
Käufern  fehlt  es  an  Geld  und  die  landwirthschaftlichen 
Kreditinstitute  sind,  bei  ihrer  heutigen  Organisation,  ausser 
Stande,  die  ihnen  in  Art.  3 des  Gesetzes  zugewiesene  Auf- 
gabe zu  erfüllen  und  die  dort  vorgesehenen  Darlehen  zur 
ersten  Einrichtung  zu  gewähren. 

Es  hat  daher,  wenn  die  im  Jahre  1888  von  junimisti- 
scher  Seite  angeregten  Agrarreformen  verwirklicht  werden 
sollen,  noch  Alles  zu  geschehen. 

Der  ministerielle  Wahlaufruf  kündigt  auch  Gesetz- 
entwürte  in  Betreff  einer  Reorganisation  der  landwirth- 
schaftlichen Kreditinstitute,  sowie  der  im  Gesetze  von  1889 
vorgesehenen  Kaufschillings-Bestimmungen  beim  ^Verkauf 
der  Staatsdomänen  und  in  Betreff  der  Verträge  über  länd- 
liche Arbeiten  an. 

Wien.  Carl  Grünberg. 


Zum  deutschen  Auswanderungsgesetz  Bereits  in 
No.  9 dieser  Zeitschrift  war  betont  worden,  dass  der  von  der 
deutschen  Reichsregierung'  vorbereitete  Gesetzentwurf  zur 
Regelung  des  Auswanderungswesens  sich  merkwürdiger 
Weise  che  Vorschläge  agrarischer  Kreise  zu  eigen  gemacht 
habe,  die  von  der  Anschauung  ausgehen,  als  ob  eine  heim- 
liche Verlockung  der  Landbevölkerung  durch  Agenten  in 
grösserem  Massstabe  stattfinde.  Nun  findet  sich  aber  in  dem 
Bericht  des  kaiserlich  deutschen  Auswanderungskommissars 
tür  1891  folgende  Stelle:  „Vielfach  liefen  wieder  gegen  Aus- 
wandereragenten und  deren  Angestellte,  sowie  gegen  die  auf 
den  Bahnhöfen  stationirten  Beamten  Klagen  ein,  in  welchen 
behauptet  wurde,  dass  diese  einen  Druck  auf  die  Auswan- 
derer ausübten,  um  sie  zur  Lösung  von  Fahrscheinen  bei 
einer  bestimmten  Firma  zu  veranlassen.  Die  von  den  zu- 
ständigen Behörden  geführten  Untersuchungen  ergaben  fast 
stets  die  völlige  Grundlosigkeit  dieser  Klagen,  so  dass  sie 
wohl  zum  grössten  Theil  auf  Verhetzung  der  Auswanderer 
durch  konkurrirende  Firmen  zurückgeführt  werden  müssen. 
Auch  anonyme  Denunziationen  gingen  ein  gegen  Personen, 
die  sich  im  Geheimen  mit  Anwerbung  von  Auswanderern 
abgeben  sollten.  Die  von  den  zuständigen  Behörden  ein- 

Seleiteten  Untersuchungen  ergaben  keinen  Grund  zum 
inschreiten  gegen  die  Angeschuldigten.“  Damit  widerlegt 
ein  kaiserlich  deutscher  Beamter  aus  seiner  praktischen  Er- 
fahrung^ die  Motive,  von  welchen  sich  die  Reichsregierung 
bei  Abfassung  ihres  Gesetzentwurfes  theilweise  leiten  Hess. 

Arbeitergenossenschaften  in  Italien.  Der  zweiten  italie- 
nischen Kammer  liegt  ein  Gesetzentwurf  vor,  welcher  Erleich- 
terungen für  die  Verwerthung  genossenschaftlicher  Arbeit  bei 


öffentlichen  Unternehmungen  bezweckt.  Bisher  durften  die  Ar- 
beitergenossenschaften nur  bei  staatlichen  Unternehmungen,  und 
zwar  nur  für  Unternehmungen  bis  zu  höchstens  100  000  Lire  unter 
den  durch  Gesetz  vom  11.  Juli  1889  vorgesehenen  Erleichterungen 
der  Kautionsstellung  zugelassen  werden.  Nach  dem  Entwurf 
soll  der  Maximalbetrag  auf  200  000  Lire  erhöht  und  der  Kreis 
der  Unternehmungen  über  jene  des  Staates  hinaus  auf  solche 
der  Provinzen,  Gemeinden,  Wohlthätigkeitsanstalten,  Bonifi- 
kations-  und  Bewässerungsunternehmungen  erweitert  werden. 
Die  zur  Prüfung  des  Gesetzentwurfs  niedergesetzte  Kommission 
hat  kürzlich  einen  in  der  Hauptsache  dem  Regjerungsvorschlag 
zustimmenden  Bericht  erstattet.  Dem  Kommissionsberichte  sind 
interessante  Nachweise  über  das  italienische  Genossenschafts- 
wesen beigefügt.  Unter  den  nach  dem  Stand  vom  31  Dezember 
1891  nachgewiesenen  Kooperativ-Gesellschaften  nehmen  die 
Maurer-  und  die  Handarbeitergenossenschaften  besonderes 
Interesse  in  Anspruch.  Der  Bestand  an  Maurergenossenschaften 
beträgt  120,  davon  fallen  auf  die  Provinzen  Bologna,  Ravenna 
und  Modena  je  6,  Reggio  Emilia  8,  Rom  16.  Leider  sind  die 
Nachweise  über  das  eingezahlte  Kapital  sehr  unvollständig;  für 
die  16  römischen  Genossenschaften  sind  nur  12  919  Lire  ange- 
geben, dagegen  für  eine  Genossenschaft  in  Lecce  39  587  Lire; 
meist  fehlen  die  Angaben  ganz.  Als  Handarbeitergenossen- 
schaften (Societä  di  braccianti)  sind  199  bezeichnet;  sie  fanden 
sich  vorzugsweise  in  Oberitalien,  insbesondere  in  den  Provinzen 
Padua  12,  Forti,  Ravenna  und  Ferrara  je  15,  Modena  22.  Rovigno 
und  Mantua  je  23.  Die  Angaben  über  das  eingezahlte  Kapital 
sind  gleichfalls  sehr  unvollständig;  für  die  23  Genossenschaften 
der  Provinz  Mantua  sind  30  285  Lire,  für  die  gleiche  Zahl  von 
Genossenschaften  der  Provinz  Rovigo  nur  3 513  Lire  angegeben. 
Diesen  beiden  besonderen  Arten  von  Arbeitergenossenschaften 
sind  beigefügt  die  Genossenschaften  für  den  Bau  von  Arbeiter- 
häusern. Es  sind  80  solcher  Genossenschaften  nachgewiesen, 
davon  15  in  der  Provinz  Florenz  und  19  in  der  Provinz  Genua, 
erstere  mit  nur  164  542  Lire,  letztere  dagegen  mit  2 018  686  Lire 
eingezahltem  Kapitale.  Als  eigenartig  seien  erwähnt  die  Ge- 
nossenschaften für  Anwendung  der  Elektrizität  (6),  für  Hygiene 
(12).-  Von  einzelnen  Produktionszweigen  finden  wir  vertreten: 
Landwirthschaftliche  und  Weinbaugenossenschaften  125),  Nah- 
rungsmittelgenossenschaften (60),  darunter  21  in  der  Provinz 
Belluno;  keramische  und  Glasgenossenschaften  (9);  chemische 
Genossenschaften  (21),  mechanische  und  metallurgische  (17), 
Bergbaugenossenschaften  (2);  polygraphische  (20),  Genossen- 
schaften für  Textilindustrie  (10).  Die  Wasserbauverwaltung  hat 
schon  jetzt  in  mehr  als  100  Fällen  unmittelbar  mit  Arbeiter- 
genossenschaften Verträge  über  die  Herstellung  von  Damm- 
arbeiten abgeschlossen. 


Arbeiterzustände. 


Schweizerisches  Arbeitersekretariat.  Die  Aufsichts- 
behörde des  schweizerischen  Arbeitersekretariats , der 
Bundesvorstand  des  schweizerischen  Arbeiterbundes,  setzte 
auf  das  diesjährige  Arbeitsprogramm  des  Arbeitersekre- 
tariates: 1.  Untersuchung  über  die  Einwirkung  der  Krisen 

auf  die  Arbeiterverhältnisse;  2.  Studium  der  Frage  der 
obligatorischen  Berufsgenossenschaften  (Syndikate  und  Ge- 
werkschaften); 3.  Anlage  eines  Archivs  über  die  Arbeiter- 
bewegung in  der  Schweiz  behufs  Erstellung  einer  Geschichte 
über  diese  Bewegung;  4.  Publikation  des  Versuchs  einer 
Lohnstatistik  in  Winterthur  und  zwar  binnen  einem  hal- 
ben Jahre. 

Mit  Rücksicht  auf  die  Nothlage  m der  Stickerei- 
und  Uhrenindustrie  wurde  beschlossen , sofortige  Erhe- 
bungen über  den  Umfang  der  Arbeitslosigkeit  m diesen 
Industrien  vorzunehmen,  welche  Erhebungen  nach  Ver- 
sicherung des  Arbeitersekretärs  Greulich  in  drei  bis  vier 
Wochen  abgeschlossen  sein  können,  um  gestützt  aut  das  so 
erlangte  Material  dann  schnellstens  beim  Bundesrathe^  ein- 
zukommen um  staatliche  Schritte  zur  Hebung  der  Noth- 
lage (Forderung  eines  Nothstandskredits  etc.),  ferner  soll, 
und  zwar  ohne  Weiteres,  eine  Eingabe  an  den  Bundesrath 
abgehen,  welche  diesen  ersucht,  die  Bestrebungen  um 
internationale  Abkürzung  der  Arbeitszeit  energisch  wieder 
aufzunehmen.  _ ■ 

Das  Arbeitersekretariat  erhielt  ferner  Auttrag,  f älle 
von  Vereinsrechts-Verletz ungen  zu  sammeln  und  das  be- 
zügliche Material  stets  sofort  dem  eidgenössischen  Justiz- 
departement zur  Kenntniss  zu  bringen. 

Die  Frage  der  Errichtung  eines  gesonderten  Arbeiter- 
sekretariats für  die  französische  Schweiz  wurde  dem  im 
Jahre  1893  tagenden  Arbeitertag  zur  Entscheidung  über- 


132 


sozialpolitisches  cen  I r alblatt. 


No.  10. 


lassen.  Einem  grossen  Theil  der  Verhandlungen  wohnte 
das  Mitglied  der  eidgenössischen  Centralregierung,  Bundes- 
rath Deucher  bei. 

Untergang  einer  Hausindustrie.  Die  schlechte  Geschäfts- 
lage drückt  natürlich  vor  Allem  auf  die  ohnedies  schwachen 
Zweige  der  Produktion  am  stärksten  So  mehren  sich  die 
Meldungen  von  der  gänzlichen  Einstellung  hausindustrieller 
Thätigkeit  in  Deutschland.  Die  Hausweberei  im  Kreise  Graf- 
schaft Hohenstein  geht  hoffnungslos  ihrem  Untergange  ent- 
gegen Die  entkräfteten  Männer,  die  blassen  Kinder,  die  zu 
Soldaten  untauglichen  Burschen  bezeugen  es.  Der  „soziale 
Ausschuss  des  Hohensteinschen  Pfarrvereins“  erlässt  jetzt  einen 
Aufruf,  in  dem  er  „Gaben  der  Liebe“  erbittet,  um  1 den  ärmsten 
Weberfamilien,  welchen  in  Folge  der  schlechten  Kartoffelernte 
der  Hunger  naht,  helfen,  besonders  aber  2.  Prämien  als  Ersatz 
für  ihnen  entgehenden  Arbeitsverdienst  solchen  Eltern  gewähren 
zu  können,  deren  Kinder  der  AVeberei  den  Rücken  kehren.  Der 
soziale  Ausschuss  ruft  den  Webern  zu:  „Heraus  aus  der  | 
Weberei:  die  Erwachsenen  wenigstens  im  Sommer,  die  heran-  ! 
wachsende  Jugend  aber  für  ihr  ganzes  Leben!“ 

Tagelöhne  im  Grossherzogtlium  Hessen.  Nach  einer  so- 
eben erschienenen  Statistik  über  die  Tagelöhne  erwachsener 
Personen  in  Hessen  nach  den  Stand  vom  1.  Februar  1892  werden 
die  höchsten  Löhne  im  Kreise  Offenbach  bezahlt,  nämlich  für 
männliche  Arbeiter  Mk.  2 — 2,20.  Im  Kreise  Mainz  betragen  die- 
selben Mk.  1,60—2,20.  Alsdann  folgt  der  Kreis  Darmstadt  mit 
Mk.  1,40—2,20.  Kreis  Oppenheim  weist  Löhne  von  Mk.  1,80 — 2 
auf:  Worms  Mk  1,50  — 2;  Bingen  Mk.  1,50—1,70;  Alze3-  Mk.  1,60 
Die  geringsten  Löhne  werden  in  den  Kreisen  Alsfeld  und  Die- 
burg bezahlt,  nämlich  Mk.  1,20 — 1,50  resp.  Mk  1 — 1,80.  Die  Tage- 
löhne für  Arbeiterinnen  sind  ebenfalls  im  Kreise  Offenbach  die  1 
günstigsten,  Mk.  1,20 — 1,40,  dann  folgen  die  Kreise  Darmstaclt 
und  Mainz  mit  Mk  1 - 1,20;  die  Kreise  Bingen,  Alzey,  Oppen- 
heim und  Worms  zahlen  Mk.  1.  Die  geringsten  Löhne  für  weib- 
liches Personal  weisen  die  Kreise  Giessen,  Alsfeld  und  Dieburg 
mit  80—90  Pf.  auf. 

Zur  Lage  der  Wiener  Schuhmacher.  Die  grosse  Arbeits- 
losigkeit in  der  Wiener  Schuhmacherei  hat  bekanntlich  eine 
parlamentarische  Enquete  veranlasst,  deren  Bericht  bisnun  noch 
nicht  vorliegt.  Auch  das  Wiener  Gewerbeinspektorat  suchte  , 
sich  über  die  Arbeiterverhältnisse  in  der  Wiener  Schuhmacherei 
zu  informiren,  es  hat  aber,  wie  es  scheint,  nur  die  Kleinmeister 
befragt,  indem  es  der  Wiener  Schuhmachergenossenschaft 
(Zwangsinnung)  u.  a.  folgende  Fragen  zur  Beantwortung  vor- 
gelegt hat: 

1.  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit.  2.  Minimal-  und  Durch- 
schnittslöhne für  die  verschiedenen  Arbeiterkategorien.  3.  Wie 
werden  Ueberstunden  und  Feiertagsarbeiten  bezahlt.  4 Erfolgt 
ein  Abzug  für  Feiertage? 

Aus  der  Antwort  können  wir  folgendes  über  die  Lage  der 
Schuhmacher  in  kleingewerblichen  Betrieben  mittheilen. 

1.  Die  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  dauert  in  den  klein- 
gewerblichen Betrieben  in  schlechter  Jahreszeit  zumeist  6 — 11 
Stunden,  in  besserer  lahreszeit  auch  über  1 1 Stunden.  In  Betreff 
der  Sitzgesellen  (Heimarbeiter,  die  für  die  Fabrik  arbeiten)  kann 
die  Genossenschaft  genau  konstatiren,  dass  dieselben  mit  Hilfe 
der  Wochengehilfen  oder  Familienangehörigen  14  18  Stunden 

täglich  arbeiten. 

2 Die  Minimal-  und  Durchschnittslöhne  der  Gehilfen  der 
Kleinmeister  bei  den  Wochenarbeitern  betragen  für  die  Woche 
2 — 6 fl.  und  die  Verpflegung.  Der  Stückarbeiter  verdient  4 bis 
8 fl.  und  die  Verpflegung  pro  Woche.  Nachdem  die  Verpflegung 
mit  mindestens  3 fl.  in  Anschlag  gebracht  werden  muss,  ver- 
dient ein  Gehilfe  der  Kleinmeister  im  Durchschnitte  5 fl.  bis 
über  1 1 fl. 

3.  Ueberstunden  sind  bei  den  Kleinmeistern  nicht  üblich- 
Wenn  jedoch  ein  Wochenarbeiter  in  strenger  Saisonzeit  länger 
als  gewöhnlich  arbeitet,  so  erhält  derselbe  vom  Meister  am  Ende 
der  Woche  einen  halben  bis  einen  Gulden  mehr  Wochenlohn, 
bei  Stückarbeitern  stellt  sich  der  Lohn  ohnehin  bei  LTeber- 
stunden  höher,  weil  der  Arbeiter  in  der  längeren  Zeit  mehr 
an  fertigt. 

4.  Ein  Abzug  für  Feiertage  erfolgt  bei  den  Kleinmeistern 
nur  in  seltenen  Fällen,  dennoch  erhält  aber  der  Gehilfe  die 
Verpflegung  auch  an  den  Feiertagen.  Bei  den  Fabrikanten  ist 
nach  gemachten  Erfahrungen  ein  Abzug  in  den  meisten  Fällen 
üblich  oder  es  muss  an  gewöhnlichen  Feiertagen  gearbeitet 
werden. 

Das  Organ  der  Arbeiter,  die  „Freie  Schuhmacher-Zeitung“, 
bemängelt  die  Antwort  der  Genossenschaft.  Es  behauptet,  dass 
die  tägliche  Arbeitszeit  bei  den  Kleinmeistern  in  der  That  in 
den  meisten  Fällen  eine  13 — löstündige  ist,  ja  sogar  nicht  selten 
bis  auf  24  Stunden  ausgedehnt  wird.  Der  Antwort  betr.  die 
Lieberstunden  setzt  das  Arbeiterblatt  folgenden  Satz  entgegen: 
„Eine  geregelte  Arbeitszeit  ist  bei  den  Kleinmeistern  nicht 
üblich,  weshalb  auch  von  Ueberstunden  nicht  leicht  die  Rede 
sein  kann.“ 

Das  Schwitzsystem  in  der  Schneiderei  der  Ver- 
einigten Staaten.  Einem  zunt  Zweck  der  Gründung-  einer 


„National-Organisation  der  Mäntelmacher“  erlassenen  Auf 
rufe  entndimen  wir  folgende  Stellen: 

„Noch  vor  5 Jahren  waren  die  Arbeiter  des  Hosen-, 
Kniehosen-  und  Hemdengeschäfts  im  Stande,  einen  halb- 
wegs anständigen  Lebensunterhalt  zu  verdienen;  sie  konnten 
7 — 8 Doll,  die  Woche  verdienen.  Wie  traurig,  schrecklich 
und  jammervoll  ist  jetzt  ihre  Lage.  Bei  etwa  16stündiger 
täglicher  Arbeitszeit  sind  dieselben  jetzt  kaum  im  Stande, 
5—6  Doll,  wöchentlich  zu  verdienen. 

Vor  5 Jahren  hat  noch  ein  Plüschmantel  (dessen  Kauf- 
preis jetzt  bedeutend  höher  ist)  für  Macherlohn  5—6  Doll, 
eingebracht,  und  jetzt  beträgt  derselbe  1,25 — 1,60  Doll  Mit 
den  übrigen  Sorten  Arbeit  aus  Stoff  wie  Seide  ist  ungefähr 
dasselbe  der  Fall.  Die  Zahl  der  Kontraktoren  und  Schwitzer 
ist  in  Newyork  allein  von  100  auf  650  gestiegen.  Dieses 
schändliche  Schwitzsystem  hat  1.  Reduktion  der  Löhne, 

2.  Verlängerung  der  Arbeitszeit  und  fast  die  Verdoppelung 
der  Zahl  der  Arbeitslosen,  3.  den  geistigen  Verfall  der  Ar- 
beiter, 4.  den  bevorstehenden  Ruin  des  genannten  Gewerbes 
durch  Theilung  der  Arbeit,  d.  h.  durch  zehnfache  Zerglie- 
derung des  Mantels,  verursacht.“ 

Dass  der  Ruin  des  Gewerbes  mit  der  fortschreitenden  j 
Arbeitstheilung  begründet  wird,  ist  natürlich  unrichtig, 
richtiger  wäre  es  gewesen  zu  sagen,  die  Ausbildung  der 
Arbeitstheilung  habe  das  Sweating-System  ermöglicht,  in  | 
derselben  sei  wieder  ein  Produktionsfortschritt  zu  konsta-  [ 
tiren,  der  lediglich  den  Unternehmern  und  den  Zwischen- 
personen, nicht  aber  den  Arbeitern  zu  Gute  komme.  L 

In  dem  zitirten  Aufrufe  werden  die  Mäntelmacher  auf-  j 
gefordert,  einen  Nationalverband  der  Mäntelmacher  der 
Vereinigten  Staaten  von  Amerika  zu  gründen  und  einen 
zu  diesem  Zwecke  einberufenen  Kongress  zu  beschicken, 
der  am  15.  März  in  New -York  zusammentreten  und  folgende  j 
Tagesordnung  erledigen  soll:  1.  Wahl  zweier  (Finanz-  und 
Korrespondenz-)  Sekretäre.  2.  Gründung  eines  Strikefonds. 

3.  Einführung  eines  Union -Labels  (Kontrollmarke).  4.  Bei- 
tritt zu  einem  Centralkörper  der  Vereinigten  Staaten.  ; 
5.  Agitation  und  Organisation.  6.  Verschiedenes. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Krisis  im  englischen  Kohlenbergbau.  Das  vereinigte 
Königreich  steht  am  Vorabend  einer  Krisis,  die  beispiellos 
in  der  Geschichte  der  Industrie  ist.  Nachdem  zu  Anfang 
dieses  Jahres  die  Bergarbeiter  von  Südwales  einer  Lohn- 
reduktion von  7'/-j0/o  sich  hatten  unterwerfen  müssen,  be-  J 
schloss  der  grösste  englische  Bergarbeiterverband,  die 
„Miners  federation  of  Great  Britain“,  für  den  12.  März  die 
Arbeit  zu  kündigen,  um  einer  seinen  Mitgliedern  drohenden 
Lohnherabsetzung  vorzubeugen.  Auch  die  Bergleute  der 
Grafschaft  Durharn  haben  sieb  der  Bewegung  angeschlossen. 
Es  ist  dies  um  so  bemerkenswerther,  weil  ihre  Organisation,  ! 
die  „Miners  national  Union“,  bisher  stets  im  Gegensatz  zur 
„Miners  federation“  stand.  Nach  der  Meinung  des  „Daily  i 
Chronicle“  dürfte  eine  Verschmelzung  der  beiden  Gewerk- 
schaften eine  der  wichtigsten  Folgen  des  bevorstehenden 
Ausstandes  sein.  W ie  gross  die  Zahl  der  vom  Strike  Be- 
troffenen sein  wird,  lässt  sich  nicht  genau  beziffern.  Von 
den  178  513  Mitgliedern  der  „Miners  federation“  haben  bis- 
her 150  000  Mann  hauptsächlich  in  Yorkshire,  Lancashire, 
Cumberland,  Nottinghamshire  und  Derbyshire  gekündigt. 
Rechnet  man  noch  die  Bergleute  der  nordöstlichen  Graf- 
schaften und  von  Schottland  hinzu,  so  würden  an  300  000 
Mann  feiern.  Die  Ankündigung  des  Strikes  hat  bereits  auf 
dem  Londoner  Kohlenmarkt  eine  Panik  hervorgerufen.  Die 
Einfuhr  deutscher  und  belgischer  Kohlen  hat  begonnen. 
Die  Kohlenvorräthe  auf  den  Gruben  schwinden,  und  falls 
es  zum  Ausstande  kommt,  werden  eine  grosse  Anzahl  von 
Werken  ihren  Betrieb  aus  Kohlenmangel  einstellen  müssen. 

Die  gleitende  Skala  in  den  Kohlenwerken  von  Siid- 
Wales.  Als  das  System  der  gleitenden  Lohnskalen  dem  grossen 
Publikum  bekannt  wurde,  entspann  sich  über  ihre  Wirk- 
samkeit ein  grosser  Widerstreit  der  Meinungen.  Von  der 
einen  für  eine  Panacee,  von  anderer  Seite  schlechthin  für 
eine  der  vielen  Arten  der  Ausbeutung  erklärt,  harrt  dieses 

C t 


Ko.  10. 


SOZIALPOLITISCHES'' CENTRALBLATT. 


r 


-133 


System  sowohl  seiner  vollen  Ausbildung  im  Wirtschafts- 
leben, als  der  richtigen  Beurteilung  durch  die  Forschung. 
Jede  neue  Phase  in  ihrem  Ausbau,  jede  'Veränderung  ihres 
Standes  gewährt  daher  neue  Belehrung. 

Um  die  neue  Vereinbarung,  welche  in  Süd-Wales  am 
I.  Januar  ins  Leben  trat  und  die  Löhne  von  gegen  95  000 
Arbeitern  regelt,  recht  zu  verstehen,  ist  es  notwendig, 
einen  Rückblick  auf  ihre  Vorgeschichte  zu  werfen.  Nach 
dem  grossen  Strike  von  1875  wurde  die  erste  Skala  fest- 
gestellt.  Der  Minimallohn  der  Häuer  sollte  um  5%  über 
den  im  Jahre  1869  gezahlten  Häuerlöhnen  stehen,  der  Stück- 
lohn per  Tonne  wurde  nach  der  Dichte  bestimmter  Flötze 
abgestuft.  Dieser  Minimallohn  sollte  bei  gewissen  Minimal- 
reisen (II  und  12  sh.  per  Tonne)  der  Kohle  eintreten. 
ei  jeder  Steigerung  der  Kohlenpreise  um  I sh.  per  Tonne 
sollten  die  Löhne  um  7 1/s  °/n  über  den  Minimalsatz  bis  zu 
einem  Maximallohne  von  20  bezw.  21  sh.  steigen,  bei  sin- 
kendem Preise  in  derselben  Weise  fallen.  Rechner,  die 
sowohl  von  Seite  der  Arbeiter,  als  der  Arbeitgeber  an- 
gestellt wurden,  waren  damit  beauftragt,  die  Kohlenpreise 
der  letzten  6 Monate  aus  den  Büchern  der  Unternehmer  zu 
eruiren,  um  ihren  Durchschnitt  dem  Lohntarife  des  folgenden 
Halbjahres  zu  Grunde  zu  legen.  Im  Jahre  1878  wurde  um 
5 n/o  unter  den  Minimallohn  herabgegangen. 

Eine  neue  Skala  trat  1880,  von  einem  Joint  Committee 
der  Arbeiter  und  Arbeitgeber  durchberathen,  ins  Leben. 
Von  der  Bestimmung  eines  Minimal-  oder  Maximallohnes 
wurde  abgesehen.  Die  Dezemberlöhne  1879,  4 sh.  bis  4 sh. 
2 d.  per  Tag,  gezahlt  bei  einem  Kohlenpreisstande  von  8, 
bezw.  8'A  sh.,  wurden  als  Normallöhne  (Standard)  fest- 
gestellt, als  Nullpunkt  der  Skala,  und  die  Löhne  sollten  bei 
jeder  Preisschwankung  von  4 d.  um  2 1/2  °/n  (in  gewissen 
Gruben  um  5 %)  sich  über  oder  unter  diesen  Standard  be- 
wegen; die  Preisfeststellung  sollte  sich  auf  Basis  der  letzten 
vier  Monate  vollziehen. 

Auch  diese  Skala  dauerte  nur  bis  zum  Jahre  1882. 
Die  Lohnfestsetzung  dieses  Jahres  setzt  als  Standard  die 
Häuerlöhne  von  Dezember  1879  bei  einem  Kohlenpreise 
von  7 sh.  8 d.  bis  8 sh.  fest.  Bei  jeder  Preissteigerung  um 
4 d.  verändert  sich  der  Lohn,  wie  im  früheren  Falle,  um 
272%,  bis  er  100%  bei  21—21  sh.  4 d.  erreicht. 

Nach  einigen  Veränderungen,  die  im  Juni  1882  und 
am  7.  November  1887  eintraten,  wurde  die  vorletzte  Skala, 
nach  einer  Periode  steigender  Kohlenpreise  im  Januar  1890 
errungen.  Sie  bestimmt,  dass  der  Standardlohn  (Dezember- 
löhne 1879)  bei  einem  Kohlenpreise  von  7 sh.,  1 0l/2  d.  bis 
8 sh.  per  Tonne  gezahlt  werden  solle.  Die  Lohnschwan- 
kungen sollen  mit  U/4%  jeder  Preisschwankung  von  d. 
tolgen,  also  bei  einem  Kohlenpreise  von  13  sh.  IOV2  d-  bis 
14  sh.  per  Tonne  mit  60%  über  dem  Nullpunkte  stehen. 

Während  des  letzten  Jahres  fielen  nun  die  Kohlen- 
preise um  1 — U/s  sh.  per  Tonne;  die  Löhne  standen  noch 
immer  Dezember  1891  um  53:7(%  über  dem  Standard.1) 
Die  Reaktion  ist  nicht  ausgeblieben.  Die  Grubenbesitzer 
kündigten  eine  Reduktion  dieses  Lohnsatzes  an.  Elf  Tage 
hindurch  hielt  das  Sliding  Scale  Committee  in  Cardiff 
Sitzungen  a.b,  um  schliesslich  die  gegenwärtig  geltende 
Lohnskala  festzusetzen.  Die  Unternehmer  wollten  auf  die 
Skala  von  1882  zurückgehen;  dies  hiess  eine  137iprozentige 
Reduktion  verlangen.  In  Wirklichkeit  ist  das  Resultat  der 
Berathungen  ein  l'/.2 prozentiger  Abschlag  gewesen.  Im 
§ 9 des  neuen  Vertrages  heisst  es:  der  Standardlohn  (1879 
Dezember)  solle  eintreten  bei  einem  Kohlenpreise  von  7 sh. 
I01/,)  d.  bis  8 sh.,  und  im  § 19,  dass  die  Januarlöhne  1892  mit 
46  7 4%  über  dem  Dezemberstandard  1879  stehen  sollen. 
Dabei  sollen  die  Durchschnittspreise  der  letzten  zwei 
Monate  immer  für  die  beiden  nächstfolgenden  massgebend 
sein.  _ Durch  eine  Kombination  der  Skalen  von  1882  und 
(890  ist  ferner  die  Bestimmung  getroffen  worden,  dass  bei 
Steigen  oder  Fallen  der)  Kohlenpreise  um  weitere  1%  d. 
die  Löhne  jedesmal  1 ’^prozentige  Veränderungen  erfahren 
sollen.  Eine  wichtige  Konzession  der  Arbeiter  bestand 
schliesslich  darin,  dass  sie  aut  die  Bezahlung  der  Kleinkohle 
verzichteten.2) 

li  i nWi  , • . . 

j T 7 Vergl.  tiu  das  Vorhergehende  die  Schriften  Professor 

1 7\.,.  • Munro’s:  Sliding  Scales  in  the  Coal  Industry  1885. 

Sliding  Scales  in  the  Coal  and  Jron  Industries  from  1885  to 
1889,  und  I he  Economic  Effects  of  an  Eight  Hour’s  Day  for 
Coal  Mmers,  1891.  National  Liberal  Club  Transactions,  pt.  1, 
vpl  II,  p.  7 und  in  den  Reports  der  Royal  Commission  ofLabour 
Group  Ä. 

2)  The  Labour  Tribüne,  January  9,  1892. 


Seit  diese  Abmachungen  zu  Stande  gekommen  sind, 
sind  die  Kohlenpreise  weiter  gesunken,  und  es  ist  nicht 
unmöglich,  dass  weitere  Reduktionen  bevorstehen. 

Bei  allen  ihren  Vorzügen  spiegelt  ihre  Ausbildung 
den  Charakter  unseres  Wirthschaftslebens  deutlich  wieder: 
sie  ist  darauf  berechnet,  den  Arbeitern  eine  gewisse  Ein- 
kommenssicherheit und  doch  zugleich  die  Theilnahme  an 
dem  mit  steigenden  Preisen  steigenden  Ertrage  zu  ge- 
währen. Aber  je  ausgebildeter,  desto  unbeständiger  wird 
die  Skala;  wie  die  Preissätze  jählings  auf-  und  nieder- 
schwanken, gehen  in  immer  kleineren  Prozentualantheilen 
ihre  Sätze  auf  und  nieder,  für  desto  kürzere  Zeiträume 
bleiben  sie  in  Wirksamkeit.  Bei  sinkenden  Preisen  hilft 
keine  Sliding  Scale.  Das  beweist  auf  das  deutlichste  die 
Krisis  im  englischen  Kohlenbergbau,  über  die  wir  oben 
berichteten. 

Die  Kontrollmarke,  das  in  den  Vereinigten  Staaten 
zuerst  in  Anwendung  gekommene  gewerkschaftliche  Kampf- 
mittel, wird  immer  mehr  auch  von  den  deutschen  Arbeitern 
anzuwenden  gesucht.  Nachdem  die  Hutmacher  anscheinend 
mit  der  Kontrollmarke  Erfolge  erzielt  haben,  suchten  nun 
auch  die  Schuhmacher,  Textilarbeiter  und  Tabakarbeiter, 
dieselbe  einzuführen,  ihnen  wollen  die  Schneider  und  andere 
Branchen  folgen.  Doch  nicht  nur  die  gewerblichen  Arbeiter 
in  engerem  Sinne  finden  Gefallen  an  der  Kontrollmarke, 
auch  Kellner-  und  Musikerorganisationen  bedienen  sich  nun 
dieses  originellen  Kampfmittels.  Die  Berliner  Kellnerorga- 
nisation sucht,  allerdings  nicht  unter  dem  ungetheilten  Beifall 
der  organisirten  Arbeiter,  dieselben  zu  veranlassen,  nur 
denjenigen  Kellnern  Trinkgeld  zu  verabfolgen,  welche  sich 
durch  ihre  Kontrollmarke  als  Mitglieder  der  Gewerkschaft 
legitimiren  können.  Ein  ähnliches  Vorgehen  hält  die  freie 
Vereinigung  der  Civil-Berufsmusiker  Hamburg-Altonas  und 
Umgebung  für  angezeigt.  In  der  Nummer  vom  19.  Februar 
des  „Hamburger  Echo“  erlässt  der  Vorstand  dieses  Vereins 
eine  Aufforderung,  welche  für  die  Beurtheilung  der 
Arbeiterkontrollmarke  uns  so  charakteristisch  erscheint, 
dass  wir  sie  hier  vollinhaltlich  folgen  lassen.  Dieselbe  lautet: 
„Um  zu  verhindern,  dass  Musiker,  Musikdirigenten  resp. 
Annehmer  von  Mu.sikgeschäften,  welche  nicht  Mitglieder 
der  Freien  Vereinigung  der  Civil-Berufsmusiker  von  Ham- 
burg-Altona und  Umgegend  sind,  durch  Vorspiegelung 
falscher  Thatsachen  Musikgeschäfte  an  sich  reissen,  die  für 
die  Freie  Vereinigung  bestimmt  waren,  ist  beschlossen 
worden:  für  die  Mitglieder  der  Freien  Vereinigung  ein  Er- 
kennungszeichen, bestehend  in  einer  Legitimationskarte  mit 
vierteljährlicher  Gültigkeit  und  Farbenänderung  einzuführen. 
Wir  bitten  jedes  Mal  da,  wo  sich  ein  Berufsmusiker  als 
Mitglied  unseres  Vereins  ausgibt,  von  diesem  die  Vorzeigung 
der  Legitimationskarte,  mit  welcher  alle  unsere  Mitglieder 
versehen  sind,  zu  verlangen.  Diese  Karten  enthalten  am 
Kopf  den  vollen  Namen  des  V ereins  und  müssen  ausserdem 
mit  dem  Vereinsstempel  abgestempelt  sein.  Ferner  achte 
man  darauf,  dass  es  heissen  muss:  „Freie  Vereinigung“. 
Die  jetzt  ausgegebenen  Karten  sind  von  gelber  Farbe  und 
haben  Gültigkeit  bis  30.  April  1892.  Wir  bitten,  alle  an- 
deren Karten  als  ungültig  zurückzuweisen.'1 

Reorganisation  der  katholischen  Arbeitervereine.  Eine 
Umwandlung  der  katholischen  Arbeiter-  und  Gesellenvereine  ist 
im  Werke.  Diese  sollen  wie  die  gewerkschaftlichen  Organi- 
sationen auf  der  Grundlage  der  speziellen  Berufsart  aufgebaut 
werden.  Der  Aachener  katholische  Arbeiterverein  hat  bereits 
sechs  sogenannte  Werksgenossenschaften  eingerichtet  (Weber, 
Spinner,  Appreteure,  Nadler,  Bauarbeiter  und  Metallarbeiter). 
Weiter  sollen  in  den  so  umgestalteten  Vereinen  ein  organisirter 
Arbeitsnachweis  und  besondere  Kommissionen,  hauptsächlich 
zu  Zwecken  des  Rechtsschutzes  eingerichtet  werden.  Diese 
Kommissionen  würden  also  bei  den  Rechtsstreitigkeiten  der 
Arbeiter  und  Unternehmer,  bei  Unfallversicherungsangelegen- 
heiten  u.  s.  w.  etwa  die  Aufgaben  zu  erfüllen  haben,  welche 
jetzt  schon  vielfach  die  Vorstände  der  Fachvereine  und  Gewerk- 
schaften und  die  Arbeitersekretariate  erfüllen.  Man  sieht  hieraus, 
dass  das  Prinzip  konfessioneller  Arbeitervereinigungen  sich  nicht 
bewährt  hat,  sondern  der  Grundsatz  der  Fach  vereinigung  jauch 
hier  sich  mächtiger  erweist,  als  eine  künstliche  Scheidung  der 
Arbeiter  nach  Konfessionen.  Zu  der  späteren  Vereinigung  der 
neuen  katholischen  Fachvereine  mit  den  nichtkonfessionellen 
Fachvereinen  ist  dann  nur  noch  ein  Schritt 

Die  Leistungen  der  dänischen  .Böttcher-Organisation 
waren  nach  einem  Berichte  der  „Skandinavik  Boedker  og 
Tunnbinderiarbeitere  Tidende“  im  Jahre  1891  die  folgenden. 
Durch  eine  ausserordentliche  Agitation  in  allen  Theilen  des 
Landes  erzielte  der  Verband  einen  bedeutenden  Zufluss 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


von  Mitgliedern,  sodass  fast  sämmtliche  Böttcher  Dänemarks 
jetzt  der  Organisation  angehören. 

Im  Laufe  des  Jahres  ist  ein  neuer  Lohntarif  ausge- 
arbeitet worden,  es  ist  geglückt,  denselben  von  fast 
allen  Arbeitgebern  unterschrieben  zu  erhalten.  Derselbe 
sichert  den  Gehilfen  bestimmte  Minimalpreise  ihrer  Arbeit 
im  ganzen  Land  und  einen  Maximalarbeitstag  von  zehn 
Stunden.  Dies  ist  hauptsächlich  durch  freundschaftliches 
Uebereinkommen  mit  den  Arbeitgebern  erreicht  worden, 
doch  kam  es  auch  an  verschiedenen  Orten  zur  Arbeits- 
einstellung, so  in  Helsingör,  Kjüge  und  auf  der  Insel 
Syn.  In  beiden  letzteren  Orten  endete  die  Arbeitseinstel- 
lung mit  Unterzeichnung  des  Lohntarifs,  während  in 
Helsingör  das  Abbrennen  der  Fabrik  „Hamlet“  den  Strike 
beendigte. 

Nachdem  in  dem  Berichte  die  gute  Disziplin  der  Mit- 
glieder und  besonders  die  Treue  und  Opferwilligkeit  der 
jungen  Mitglieder  betont  wurde,  heisst  es  dann  weiter: 
„Auch  die  Verhältnisse  zwischen  uns  und  unsern  Fach- 
genossen im  Auslande  sind  gleichfalls  bessere  geworden. 
Während  wir  bei  dem  Kopenhagener  Strike  von  1884  einen 
bedeutenden  Zulauf  von  ausländischen  Fachgenossen  zu 
verzeichnen  hatten,  hat  während  des  letzten  Sommers  auch 
nicht  ein  einziger  Ausländer  in  den  vom  Strike  betroffenen 
Städten  Arbeit  angenommen.  Dies  Resultat  ist  sicher  den 
Verbindungen  zu  danken,  welche  wir  mit  den  ausländischen 
Fachgenossen  geschlossen  haben.“ 

Den  Erfolgen  der  Böttcher-Organisation  Dänemarks 
können  sich  die  Schwedens  und  Norwegens  nicht  an  die 
Seite  stellen;  in  diesen  Ländern  steckt  die  Organisation  der 
Böttcher  noch  in  den  Kinderschuhen.  Auch  die  Organisation 
der  Böttcher  Deutschlands  hält  den  Vergleich  mit  den 
Leistungen  der  dänischen  Organisation  nicht  aus. 

Die  amerikanischen  Gewerkschaften.  Die  amerikani- 
schen in  der  Federation  of  Labor  vereinigten  Gewerk- 
schaften zählten  im  Jahre  1890/91  675117  Mitglieder,  demnach 
ca.  dreimal  so  viel  wie  die  deutschen  Gewerkschaften.  Die 
stärkste  Organisation  war  die  der  Zimmerer  und  Tischler, 
welche  in  2 V erbänden  und  780  Zweigvereinen  67  800 
Mitglieder  umfasste,  dieser  reihen  sich  die  Eisen-  und  Stahl- 
arbeiter mit  311  Zweigvereinen  und  60  000  Mitgliedern  an. 
20  000  und  mehr  Mitglieder  vereinigten  9 Organisationen, 
zwischen  10-  und  20  000  Mitgliedern  wiesen  14,  zwischen  5- 
und  10  000  Mitgliedern  12  Organisationen  auf,  1000 — 5000 
Mitglieder  besassen  30  und  300  bis  1000  Mitglieder  8 Orga- 
nisationen. Aehnlich  wie  in  Deutschland  besitzen  die 
Tischler,  Metallarbeiter,  Hutmacher,  Tabakarbeiter,  Berg- 
arbeiter und  Buchdrucker  die  stärksten  Organisationen. 
Im  Gegensätze  zu  Deutschland  verfügen  aber  auch  die 
Bäcker  (17  500  Mitglieder),  Brauer  (9500  Mitglieder),  Eisen- 
bahnarbeiter (16  000  Mitglieder),  Eisenbahnschaffner  (10  000 
Mitglieder),  Weichensteller  (7000  Mitglieder),  Telegraphen- 
beamte (800  Mitglieder),  Heizer  (8000  Mitglieder),  Musiker 
(1 1 000  Mitglieder),  Muster-  und  Schablonenarbeiter  (11000 
Mitglieder),  Maler  und  Dekorateure  (16  000  Mitglieder), 
Pianomacher  (6000  Mitglieder),  Stukateure  (14000  Mitglieder), 
Matrosen  (12  000  Mitglieder)  über  Organisationen,  die  in 
Deutschland  überhaupt  nicht  existiren  oder  nur  vegetiren. 

Die  gewerkschaftliche  Bewegung  in  Oesterreich- 
Schlesien.  Seit  dem  Amtsantritte  des  Landespräsidenten 
[aeger  litten  die  schlesischen  Gewerkschaften  unter  einer 
einem  Ausnahmezustände  gleichkommenden  Auslegung  des 
Vereinsgesetzes.  Die  Statuten  neu  sich  bildender  Fach  vereine 
erhielten  ebensowenig,  wie  die  von  Arbeiterbildungsvereinen 
die  nach  dem  österreichischen  Vereinsgesetze  erforderliche 
Genehmigung,  weil  diese  Vereine  nach  Ansicht  der  Landes- 
regierung laut  ihren  Statuten  „politische“  Vereine  bilden, 
als  welche  sie  sich  aber  nicht  erklären.  Durch  eine  in 
Folge  Rekurses  der  Gründer  eines  Fachvereins  für  Maschi- 
nisten, Maschinenwärter  und  Dampfkesselheizer  in  Jägern- 
dorf  und  eines  Arbeiterfortbildungsvereines  für  Gruschdorf 
und  Umgebung  erfolgte  Entscheidung  des  Ministeriums  des 
Innern  wurde  die  Auslegung  des  Landespräsidenten  dem 
Gesetze  nicht  entsprechend  erklärt  und  damit  prinzipiell 
festgestellt,  dass  die  Bildung  von  Fach-  und  Arbeiterbildungs- 
vereinen durch  die  Erklärung  derselben  zu  politischen  Ver- 
einen nicht  gehindert  werden  darf. 

Ein  lTrtheil  über  Strike».  Der  Präsident  der  Internatio- 
nalen Cigarrenmacher-Union  von  Amerika  A.  Strasser  hat  sich 
kürzlich  über  Strikes  folgendermassen  ausgesprochen:  Die  Be- 
ziehungen der  Lohnarbeiter  zu  den  Fabrikanten  haben  nicht  die 


No.  10. 


Natur  einer  Kompagnieschaft  mit  denselben  Interessen,  Gewinnen 
und  Verlusten,  sie^gleichen  vielmehr  dem  Verhältnis»  des  Käu- 
fers zum  Verkäufer  einer  Waare.  Falls  organisirt,  wird  jeder 
Theil  bestrebt  sein,  für  sich  die  günstigsten  Bedingungen  hei 
der  gegenseitigen  Uebereinkunft  zu  erlangen.  Wenn  kein  Ueber- 
einkommen erzielt  wird,  schliesst  der  Fabrikant  seine  Fabrik 
der  Arbeiter  stellt  die  Arbeit  ein.  Man  nennt  dies  entweder 
einen  Ausschluss  oder  einen  Strike.  In  Wirklichkeit  bedeutet 
es  die  Anstrengung,  einen  bestimmten  Preis  oder  Werth  für 
Geschicklichkeit  oder  Verstand  zu  erhalten,  welcher  seinem 
Eigner  ein  annehmbares  Aequivalent  für  die  zu  vollbringende 
Arbeit  sichert.  Wenn  die  gegenseitigen  Interessen  durch  die 
Verhandlungen  nicht  ermittelt  werden  können,  verwandeln  sich 
die  Positionen  in  zwei  feindliche  Lager,  wovon  ein  jeder  Theil 
bestrebt  ist,  den  Gegner  zu  besiegen.  Die  stärkste  Seite  schreibt 
die  Bedingungen  des  Friedens  vor,  unter  welchen  das  Arbeits- 
verhältniss  wieder  hergestellt  werden  kann.  Es  ist  nicht  Ge- 
rechtigkeit, welche  siegt,  sondern  Macht.  Die  bestdisziplinirte 
Kraft,  die  vollständigste  Organisation  und  die  stärksten  finan- 
ziellen Mittel  bedingen  die  Macht,  welche  in  dem  Ausgleich 
bei  gewerblichen  Streitigkeiten  als  Gerechtigkeit  anerkannt  wird. 

Gewerkschaften,  gut  organisirt  und  disziplinirt,  begünstigen 
keine  Strikes,  sie  entmuthigen  voreilige  und  unvorbereitete  Be- 
wegungen,  um  wirkliche  oder  eingebildete  Beschwerden  zu  be- 
seitigen. Ein  Strike  sollte  nicht  unternommen  werden,  bevor  | 
nicht  alle  Anstrengungen,  die  Differenzen  zu  schlichten,  soweit 
dies  die  Ehre  und  Würde  des  Arbeiters  zulassen,  fehlgeschlagen 
sind.  Ein  Strike  sollte  in  einer  ruhigen,  doch  energischen  Art 
und  Weise  geführt  werden,  ohne  sich  anderer  als  thatsächlich 
vorhandener  Fonds  und  sicherer  Quellen  zu  rühmen.  Dies  allein 
wird  die  theilnehmende  Aufmerksamkeit  des  Publikums  und  eine 
Beachtung  unserer  Beschwerden  sichern. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Eine  Enquete  betreffend  die  Organisation  der 
österreichischen  Fabrikindustrie. 

Im  österreichischen  Abgeordnetenhause  wurde  bekannt- 
lich im  Vorjahre  eine  Regierungsvorlage,  „betreffend  die 
Einführung  von  Einrichtungen  zur  Förderung  des  Einver- 
nehmens zwischen  den  Gewerbsunternehmern  und  ihren  Ar- 
beitern“ eingebracht,  welche  die  obligatorische  Einführung  | 
von  Arbeiterausschüssen,  die  genossenschaftliche  Organi-  j 
sation  der  Fabriksindustrie , sowie  die  Errichtung  von  j 
Einigungsämtern  bezweckt.  Die  Vorlage  wurde  dem  Ge- 
werbeausschusse  zugewiesen,  der  die  Abhaltung  einer 
Enquete  zur  Beschaffung  des  nothwendigen  Materials  be- 
schlossen hat. 

Der  den  Experten  vorzulegende  Fragebogen  ist  jüngst 
veröffentlicht  worden  und  hat  folgenden  Wortlaut: 

„I.  Arbeiterausschüsse.  I.  Ist  die  Einführung  eine» 
Arbeiterausschusses  in  den  fabriksmässigen  Betrieben  für  die 
Erhaltung  und  Herstellung  guter  Beziehungen  zwischen  Unter- 
nehmern und  Arbeitern  wünschenswerth  und  durchführbar? 

2.  Soll  die  Einführung  von  Arbeiterausschüssen  durch  das  Ge- 
setz allgemein  und  unbedingt  für  alle  fabriksmässigen  Betriebe 
gefordert  werden  oder  soll  aer  Gesetzgeber  den  Unternehmern 
freisteilen,  solche  Ausschüsse  einzuführen  oder  nicht?  3 Welches 
sind  die  Aufgaben,  mit  denen  ein  Arbeiterausschuss  betraut 
werden  soll,  und  wie  verhalten  Sie  sich  zu  § 2 der  "\  orlage- 
4 Soll  der  Arbeiterausschuss  bloss  aus  Arbeitern  bestehen,  ab- 
gesonderte Berathung  pflegen  und  sich  von  Fall  zu  Fall  mit  dem 
Unternehmer  oder  seinem  Stellvertreter  in  Verbindung  setzen 
oder  soll  in  dem  Ausschüsse  (Fabriksausschuss)  neben  dem 
Arbeiter  auch  der  Unternehmer  selbst  oder  durch  seine  Organe 
ständig  vertreten  sein,  oder  endlich,  sollen  diese  beiden  Formen 
je  nach  Wahl  des  Unternehmers  zulässig  sein?  5.  Entsprechen 
die  besonderen  Bestimmungen  der  §§f — 10  des  Gesetzentwürfe» 
dem  Zwecke  eines  Arbeiter-(Fabriks-) Ausschusses?  In  welchen 
Punkten  wäre  eine  Abänderung  oder  eine  Ergänzung  dieser  Be- 
stimmungen wünschenswerth?  II-  Genossenschaftliche  Or- 
ganisation der  fabriksmässig  betriebenen  Gewerbe. 

6.  Welche  Organisationen  der  Unternehmer  und  Arbeiter  (\  er- 
eine,  Verbände,  Fachvereine,  Genossenschaften,  Lern-  und 
Bildungsvereine,  Hilfsvereine  u.  s w.)  bestehen  an  dem  Orte, 
wo  Sie  wohnen?  Wie  viele  Mitglieder  haben  diese  Organi- 
sationen, welche  Zwecke  verfolgen  sie,  welche  Mittel  stehen 
ihnen  zu  Gebote  und  welche  praktische  Wirkung  haben  sie  bis- 
her geübt?  7 Halten  Sie  eine  gemeinschaftliche  Organisation 
der  Unternehmer  einerseits  und  der  Arbeiter  andererseits  durch 
Vereinigung  von  Personen  aus  verschiedenen  Betrieben  der- 


Nd.  10. 


SOZIALPOLITISCHES  CPNTRAI  .Hl  .AT  T. 


1.3S 


selben  Art  für  geeignet,  die  wärthsehaftlichen  Interessen  der  j 
Genossen  zu  fördern?  8.  Ist  zu  erwarten,  dass  durch  die  Ver- 
einigung der  Unternehmer  und  Arbeiter  zu  von  einander  unab- 
hängigen Genossenschaften,  die  mit  einander  von  Fall  zu  Fall 
in  Verbindung  treten  und  sich  zu  verständigen  suchen,  das  Ein- 
vernehmen zwischen  beiden  Theilen  gefördert  werden  wird? 

9.  Wie  müssten  Genossenschaften  eingerichtet  sein,  um  als  von 
den  Interessenten  anerkannte,  lebensfähige  Organe  diese  beiden 
in  den  Fragen  7 und  8 bezeichneten  Zwecke  verfolgen  zu  j 
können,  und  sind  die  diesbezüglichen  Bestimmungen  der  Gesetz- 
entwürfe als  entsprechend  anzusehen?  10.  Sollen  die  Genossen- 
schaften durch  Gesetz  und  Verordnung  (§§  1 1 und  12  des  Ent- 
wurfes) obligatorisch  eingeführt  werden  oder  freiwillig  gebildet 
sein?  II.  Was  ist  insbesondere  zu  den  Bestimmungen  der 
§§15 — 34  des  Entwurfes  im  Einzelnen  zu  bemerken?  III.  Eini- 
gungsämter. 12.  Wie  haben  sich  die  bestehenden  Gewerbe- 
gerichte bewährt,  warum  sind  bisher  nur  drei  Gewerbegerichte 
in  Thätigkeit  getreten,  welche  Erfahrungen  haben  Sie  über  die 
Wirksamkeit  und  die  Erfolge  des  Gewerbegerichtes  gemacht? 
13.  Welche  Erfahrungen  haben  Sie  bezüglich  der  Entscheidung  i 
von  Streitigkeiten  aus  dem  Arbeiterverhältnisse  gemacht,  die 
auf  Grund  des  § 87  c)  der  Gewerbe-Ordnung  von  der  politischen 
Behörde  zu  verhandeln  sind?  14.  Welche  Erfahrungen  haben 
Sie  bezüglich  der  vermittelnden  Thätigkeit  einzelner  Personen, 
Repräsentanten  der  Arbeiter  oder  behördlicher  Organe  bei 
Arbeitseinstellungen  oder  anderen  Differenzen  zwischen  Unter- 
nehmern und  Arbeitern  gemacht?  15.  Besteht  ein  Bedürfniss, 
eine  Instanz  zu  schaffen,  welche  dazu  berufen  wäre,  sowohl  in 
Betreff  der  Auslegung  eines  bestehenden  Arbeitsvertrages,  als 
in  Betreff  der  Bedingungen  für  die  Wiederherstellung  eines 
unterbrochenen  oder  für  den  Abschluss  eines  neuen  Arbeitsver- 
trages zwischen  Unternehmern  und  Arbeitern  zu  vermitteln  und 
eine  Einigung  zu  erzielen?  16.  Von  wem  und  in  welcher  Weise 
sollen  die  Mitglieder  des  Einigungsamtes  (für  die  fabriksmässigen 
oder  für  die  gewerblichen  Betriebe  § 35)  gewählt  werden < 
17.  Entsprechen  die  Bestimmungen  der  §§  39—66  über  die  Zu- 
sammensetzung der  Einigungsämter  und  das  Verfahren  vor  den- 
selben ihrem  Zwecke,  in  welcher  Richtung  wären  sie  abzuändern 
oder  zu  ergänzen?  18.  Liegt  ein  Bedürfniss  vor  und  wäre  es 
möglich,  dieses  Einigungsamt  zu  einem  Schiedsgerichte  zu  er- 
weitern, welches  über  Streitigkeiten  aus  dem  Ärbeiterverhalt- 
nisse  mit  Rechtskraft  und  Exekutionsfähigkeit  zu  entscheiden 
hätte,  falls  sich  beide  Theile  vorher  seinem  Ausspruche  unter- 
worfen haben?“ 

Das  Schema  des  Fragebogens  zerfällt,  entsprechend 
dem  Gesetzentwürfe,  in  drei  Theile,  deren  erster  sich  mit 
den  Arbeiterausschüssen,  der  zweite  mit  der  genossenschaft- 
lichen Organisation,  der  dritte  endlich  mit  der  Frage  der 
Einigungsämter  beschäftigt. 

Es  ist  zu  begriissen,  dass  zum  ersten  Mal  auch  die 
Arbeiter  dazu  gelangen  werden,  ihre  Ansicht  über  die 
Fabriksausschüsse  kundzugeben.  Bisher  sind  lediglich  die 
Stimmen  der  Fabrikanten  und  ihrer  Beamten  laut  geworden. 
Freilich  versprechen  wir  uns  von  der  projektirten  Einver- 
nahme von  Arbeiterausschuss-Mitgliedern  nicht  viel.  Nicht 
nur,  dass  deren  Wahl  bisher  in  einer  Weise  zu  erfolgen 
pflegt,  dass  sie  keineswegs  als  Vertrauensmänner  ihrer  Ge- 
nossen betrachtet  werden  können;  sie  stehen  überdies 
unter  dem  Drucke  des  Fabriksherrn,  der  eine  ungünstige 
Aeusserung  über  die  Einrichtung  sicherlich  nicht  gleich- 
gültig aufnehmen  würde.  Wollte  man  also  die  Wahrheit 
erfahren,  dann  würde  nichts  Anderes  erübrigen,  als  sich  an 
Arbeiter  zu  wenden,  die  in  Fabriken  gearbeitet  haben,  in 
welchen  Ausschüsse  bestehen.  Das  Mittel,  zu  welchem,  wie 
ein  Gerücht  behauptet,  gegriffen  werden  soll:  die  gesonderte 
Einvernehmung  der  Experten,  ist  äusserst  bedenklich.  Es 
dürfte  mehr  schaden  als  nützen. 

Die  fünf  auf  diesen  Theil  bezüglichen  Fragen  erstrecken 
sich  auf  die  Durchführbarkeit  der  Arbeiterausschüsse,  auf 
deren  obligatorischen  oder  fakultativen  Charakter,  die  Auf- 
gaben derselben,  die  Zusammensetzung  und  endlich  auf  die 
Detailbestimmungen  des  Gesetzentwurfes. 

Korrekter  Weise  hält  es  der  Gewerbeausschuss  für 
erforderlich,  ehe  er  an  die  Berathung  der  genossenschaft- 
lichen Organisation  der  fabriksmässigen  Betriebe  schreitet, 
die  bestehenden  Organisationen  der  Arbeiter  und  Unter- 
nehmer, die  bisherige  Wirksamkeit  derselben,  ihre  Mitglieder- 
zahl, Mittel  und  Zwecke  kennen  zu  lernen.  Es  ist  aber 
völlig  verkehrt,  solche  Daten  auf  dem  Wege  der  mündlichen 
Enquete  zu  suchen.  Die  Zahl  der  Experten  müsste  eine 
riesige  werden:  jede  auch  noch  so  kleine  Organisation 
müsste  eben  einen  Vertreter  entsenden. 

Da  nun  die  Absicht  besteht,  eine  beschränkte  Zalli 


von  Unternehmern  und  Arbeitern  zu  vernehmen,  so  weist 
dies  mit  zwingender  Nothwendigkeit  darauf  hin,  dass  nur 
von  einer  schriftlichen  Enquete  eine  halbwegs  befriedigende 
Antwort  auf  die  P'rage  6 zu  erwarten  ist.  Auf  Grundlage 
des  vorhandenen  Vereinskatasters  und  mit  Unterstützung 
der  Behörden  wäre  eine  derartige  Erhebung  leicht  durch- 
zuführen. Das  Ergebniss  würde  eine  werthvolle  Vorarbeit 
zur  eigentlichen  Enquete  bilden. 

An  den  weiteren  auf  den  Theil  II  bezüglichen  Fra- 
gen haben  wir  noch  auszusetzen,  dass  sie  zu  allgemein 
gehalten  sind.  Dies  gilt  insbesondere  von  den  Fragen  7—9. 
Der  Punkt  9 will  beispielsweise  nicht  weniger  wissen  als, 
wie  Genossenschaften  eingerichtet  sein  müssten,  um  als  von 
den  Interessenten  anerkannte,  lebensfähige  Organe  die 
früher  bezeichneten  Zwecke  verfolgen  zu  können.  Da  wird 
von  jedem  Experten  ein  fertiges  Programm  verlangt,  das 
er  bis  ins  Detail  darlegen  und  wohl  auch  rechtfertigen  soll. 
Sache  des  Fragebogens  wäre  es  jedoch,  ganz  konkret  jene 
Momente  vorzuführen  und  zur  Erörterung  zu  stellen,  die  in 
i Betracht  kommen  können.  Die  entscheidenden  Punkte  sind 
j doch  auch  dem  Subkomitee  des  Gewerbeausschusses  kein 
] Geheimniss.  Billiger  Weise  wird  man  wohl  von  den  Ex- 
{ perten  keine  neuen  Entdeckungen  auf  dem  Gebiete  der 
I Organisation  erwarten.  Weshalb  also  allgemeine,  unklare 
| Fragen,  wo  nur  eine  scharf  umschriebene,  konkrete  Fassung 
zu  einem  befriedigenden  Ergebnisse  führen  kann? 

Der  dritte,  die  Einigungsämter  betreffende  Theil  wird 
mit  einer  Frage  nach  den  Gewerbegerichten  und  der  Wirk- 
samkeit der  politischen  Behörden  in  Lohnstreitigkeiten  ein- 
geleitet. Der  Zusammenhang  ist  schwer  zu  verstehen  und 
die  Erklärung  ist  nur  darin  zu  suchen,  dass  von  Seite  einer 
Unternehmerkorporation  die  Ausbildung  der  Gewerbe- 
gerichte zu  Einigungsämtern  in  Vorschlag  gebracht  worden 
ist.  Wir  verschliessen  uns  keineswegs  der  Nützlichkeit 
einer  Erörterung  dieser  Fragen;  sind  ja  die  Missstände  auf 
dem  Gebiete  der  Lohnstreitigkeiten  unglaublich  zahlreich. 
Wir  meinen  nur,  dass  die  Gelegenheit  nicht  die  passende 
ist,  um  auch  diese  zu  erledigen  und  dass  die  Einbeziehung 
so  vielfacher  Gegenstände  die  Gründlichkeit  der  Erörte- 
rungen beeinträchtigen  muss.  Ein  übermässiger  Umfang 
des  Fragebogens  wird  nur  zu  rasch  eine  Ermüdung  des 
Ausschusses  wie  der  wenigen  Experten  herbeiführen.  Man 
wird  die  Absolvirung  der  einzelnen  Punkte  forciren  und 
zuletzt  über  keinen  einzigen  volle  Klarheit  gewinnen.  Schon 
aus  diesem  Grunde  heisst  es  das  nicht  unbedingte  Noth- 
wendige  ausscheiden.  Ueberdies  erscheint  uns  aber  der 
Versuch  der  Verquickung  von  Schiedsgericht  und  Eini- 
gungsamt als  sehr  bedenklich  und  als  eine  Verschlechterung 
der  Regierungsvorlage. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  ein  Wunsch  vorgebracht.  Die 
bisher  vom  österreichischen  Abgeordnetenhause  veranstal- 
teten Enqueten  haben  leider  unter  Ausschluss  der  Oeffent- 
lichkeit  stattgefunden.  Wie,  wenn  man  diesmal  davon 
abweichen  und  den  Zutritt  Jedermann  ermöglichen  wollte? 
Wir  sind  überzeugt,  dass  dies  den  Gang  der  Erörterungen 
nicht  im  Geringsten  hemmen,  vielmehr  belebend  aut  die- 
selben wirken,  manche  Irrthümer  und  Unrichtigkeiten  be- 
seitigen würde.  Es  gibt  nicht  ein  Moment,  welches  gegen 
unseren  Vorschlag,  zahlreiche,  die  für  denselben  sprechen. 
Das  Interesse,  welches  heute  nur  in  sehr  engen  Kreisen 
besteht,  würde  ausserordentlich  wachsen  und  die  Stellung- 
nahme auch  jener  Körperschaften  herbeiführen,  die  über 
die  Regierungsvorlage  bisher  beharrlich  geschwiegen  haben. 

Wien.  Leo  Verkauf. 


Nothwendigkeit  der  Ausdehnung'  der  Schutzvor- 
schriften  für  jugendliche  Arbeiter.  Während  der  vor- 
jährigen Arbeiterschutzdebatten  im  deutschen  Reichstage 
wurden  mehrfach  Anträge  dahin  gestellt,  die  Schutzvor- 
schriften für  jugendliche  Arbeiter  aut  die  jungen  Leute  bis 
zu  18  Jahren  auszudehnen.  Diese  Anträge  wurden  auch 
von  der  Regierung  abgelehnt.  Jetzt  geht  ihre  dringende 
Nothwendigkeit  aus  folgender  Stelle  des  neuesten  Jahres- 
berichtes der  Badischen  Fabrikinspektion  hervor:  „Bei  dem 


136 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  10. 


Besuche  der  gewerblichen  Anlagen  w ird  häufig  die  Wahr- 
nehmung gemacht,  dass  ein  grosser  Theil  der  jungen  Leute, 
welche  das  16.  Lebensjahr  schon  überschritten  haben,  hinter 
der  körperlichen  Entwickelung  ihrer  Altersklasse  zurück- 
geblieben sind.  Sie  werden  häufig  für  jünger  gehalten  und 
es  kann  dann  nur  durch  Vorlage  des  Arbeitsbuches  der 
Nachweis  geliefert  -werden,  dass  es  sich  nicht  um  gesetzlich 
geschützte  Personen  handelt.  Schon  die  blosse  äussere 
Beobachtung  lehrt,  dass  es  ein  Unding  ist,  diese  jungen 
Leute  gesetzlich  dem  Erwachsenen  gleichzustellen. 
Allein  die  Regelmässigkeit  der  Nachtarbeit  mit  dem  für  die 
auswärts  Wohnenden  frühzeitigen  Verlassen  des  Wohnorts, 
der  späten  Rückkehr  am  andern  Morgen  und  dem  unge- 
nügenden Schlafe  in  den  engen  Wohnungen  sind  Dinge, 
welche  ein  so  jugendlicher  Organismus  auf  die  Dauer  ohne 
tiefgreifende  Schädigungen  nicht  erträgt,  auch  abgesehen 
von  der  Länge  der  regelmässigen  Arbeitszeit.  Die  nächste 
Etappe  der  Arbeiterschutzgesetzgebung  wird  daher  das 
Ziel  erreichen  müssen,  dass  der  den  jungen  Leuten  von 
14-16  Jahren  gewährte  Schutz  bis  zum  vollendeten  18.  aus- 
gedehnt, oder  dass  wenigstens  die  Nachtarbeit  der  jungen 
Leute  von  16 — 18  Jahren  untersagt  wird.“  Hier  zeigt  sich 
von  Neuem,  dass  die  deutschen  Arbeiterschutzvorschriften 
weit  mehr  mit  Rücksicht  auf  die  Wünsche  der  Unternehmer 
als  die  Erfahrungen  der  Gewerbeaufsichtsbeamten  formulirt 
zu  werden  pflegen. 

Minimallöline  in  Frankreich.  In  der  Sitzung  der  Dejmtirten- 
kammer  vom  16.  Februar  stellte  der  Abgeordnete  P.  Richard 
folgenden  Antrag: 

Art.  1.  Die  Arbeiter  oder  Angestellten  beiderlei  Ge- 
schlechtes, welche  im  Stunden-,  Tag-,  Wochen-,  Monats-,  Jahres- 
oder Akkordlohn  arbeiten,  haben  Anspruch  auf  einen  Minimal- 
lohn unter  folgenden  genau  umgrenzten  Bedingungen. 

Art.  2.  Für  die  Gesammtzeit  jedes  Gewerbes  in  jedem 
Departement  wird  ein  Lohnminimum  festgesetzt. 

Art.  3.  Der  Conseil  general  jedes  Departements  bestimmt 
für  fünf  Jahre  das  Lohnminimum,  auf  das  die  Arbeiter  jedes 
Gewerbes  Anspruch  haben. 

Bei  der  Festsetzung  desselben  stützt  er  sich  so  weit  thun- 
lich  auf  die  ihm  zu  diesem  Zwecke  zukommenden  Berichte  und 
Wünsche  der  Gewerkvereine  des  Departements. 

Art.  4.  Die  vier  Kategorien  umfassende  Lohnskala  wird 
in  der  Gesammtheit  jedes  Gewerbes  nach  der  Stellung  des 
Arbeiters  oder  Bediensteten  berechnet. 

Art.  5.  Die  von  den  Conseils  generaux  angenommene 
Festsetzung  des  Lohnminimums  wird  auf  Veranlassung  des 
Ministeriums  für  Handel  und  Industrie  im  Journal  officiel  ver- 
öffentlicht. 

Vom  Zeitpunkte  dieser  Veröffentlichung  an  wird  das  in 
jedem  Departement  veröffentlichte  Lohnminimum  obligatorisch 
und  gesetzlich. 

Art.  6.  Jede  dem  Geiste  dieses  Gesetzes  widersprechende 
Abmachung  zwischen  Arbeitgebern  .oder  Unternehmern  und 
Arbeitern  oder  Angestellten  verwirkt  für  den  Arbeitgeber  oder 
Unternehmer  eine  Geldstrafe  von  100 — 500Frcs.  und  im  Falle  der 
Wiederholung  eine  Haftstrafe  von  1 — 8 Tagen. 

Der  Antragsteller  begründete  seinen  Gesetzentwurf  mit 
der  Erhöhung  der  Lebensmittelpreise,  welche  nach  ihm  durch 
die  Anwendung  des  Generalzolltarifs  verursacht  ist,  er  verlangte 
für  seinen  Antrag  die  Dringlichkeitserklärung,  für  welche  sich 
aber  nur  101  gegen  361  Stimmen  erklärten. 

Ein  staatliches  Arbeitsvermitthingsamt  in  Neu-See- 

land.  Im  Juni  1891  wurde  in  Neu-Seeland,  wie  das  „Board 
of  Trade  Journal“  meldet,  ein  Bureau  of  Industries  gegründet. 
Die  Centrale  befindet  sich  in  Wellington,  die  Filialen  in 
Christchurch,  Dunedin  und  Invercargil.  Verwaltungsbeamte 
wurden  mit  der  Leitung  dieser  Filialen  betraut,  und  auf 
dem  Lande  200  Sub-Filialen  unter  Leitung  der  Polizei- 
beamten errichtet.  Allmonatlich  erstatten  diese  Beamten 
Bericht  über  Angebot  und  Nachfrage  auf  dem  Arbeits- 
markte. Bei  ungewöhnlicher  Arbeitsnachfrage  wird  ein 
besonderer  Bericht  auf  brieflichem  oder  telegraphischem 
Wege  erstattet.  Bei  Nachweis  der  bona  fides  der  Gesuch- 
steiler  wird  freie  Fahrt  zum  Bestimmungsorte  gewährt. 
Zeugnisse  zur  Erlangung  dieser  Vergünstigung  stellen  die 
OrtsLehörden,  der  Geistliche,  der  Vorsitzende  einer  Stifts- 
kasse oder  der  Sekretär  des  Gewerkvereinsrathes  aus. 

Von  Juli  bis  Oktober  wurden  durch  das  Büreau  1977 
Stellen  vermittelt;  1389  fanden  bei  privaten  Firmen,  der 
Rest  beim  Staats-Eisenbahn-  und  Strassenbau  Verwendung. 
Bei  den  hier  beschäftigten  Arbeitern  kommt  das  Cooperativ- 
und  Ansiedlungssystem  zur  Wirksamkeit.  Eine  Gruppe  von 
Arbeitern  thut  sich  zusammen  und  erhält  vierzehntägige 


Vorschüsse  bis  zur  Vollendung  des  Vertrages,  Es  herrscht 
keine  Konkurrenz. 

Viele  Einwanderer  werden  schon  vom  Generalagenten 
in  London  von  der  Existenz  des  Labour  Bureaus  in  Kennt- 
niss  gesetzt  und  sind  daher  in  der  Lage,  die  "Wartezeit  bis 
zur  Erlangung  eines  Postens  erheblich  abzukürzen.  Die 
Frage  der  Arbeitslosen  hat  bis  jetzt  das  Büreau  ausschliess- 
lich beschäftigt. 


Fabrikinspektion. 


Ueberbürdung  der  Fabrikinspektoren.  Die  Ueber- 
tragung  der  Dampfkesselaufsicht  an  die  Fabrikinspektoren, 
die  man  neuestens  nach  sächsischem  Muster  auch  in  Preussen 
vornahm,  wird  in  dem  soeben  erschienenen  badischen 
Fabrikinspektionsbericht  für  1891  indirekt  als  eine  sehr  un- 
geeignete Massregel  bezeichnet.  In  Baden  hat  man  dieselbe 
seiner  Zeit  auch  getroffen;  die  Gewerbeinspektion  führt 
lebhafte  Klage  darüber  und  deutet  gleichzeitig  an,  wie  dem 
Uebel  abgeholfen  werden  kann.  Es  heisst  im  Bericht  des 
Leiters  der  badischen  Fabrikinspektion,  Regierungsrathes 
Wörishoffer:  „Die  Verbindung  dieser  verschiedenartigen 
Revisionsthätigkeiten  hat  sich  bald  nach  ihrer  Einführung 
für  den  eigentlichen  Dienst  der  Fabrikinspektion  nicht 
förderlich  erwiesen,  weshalb  mit  Gutheissung  des  Gross- 
herzoglichen Ministeriums  des  Innern  dahin  gewirkt  wurde, 
dass  die  Dampfkessel  der  Privaten  mehr  und  mehr  in  die 
Aufsicht  der  badischen  Gesellschaft  für  die  Ueberwachung 
von  Dampfkesseln  ^übergingen.  . . . Jetzt  sind  daher  ausser  , 
den  Kesseln  der  Staatsbetriebe  nur  noch  wenige  Dampf- 
kessel von  Privaten  in  staatlicher  Ueberwachung.“  Da  in 
Preussen  und  Sachsen  ebensolche  Gesellschaften  mit  tüch-  < 
tiger  Organisation  bestehen,  so  sollte  derselbe  Weg  zu  einer  • 
Entlastung  der  Gewerbeaufsichtsbeamten  auch  dort  einge- 
schlagen werden.  Die  Sicherheit  und  Richtigkeit  der  Re- 
visionen durch  Gesellschaften  könnte  nöthigenfalls  durch 
wenige  staatliche  Spezialbeamte  im  Aufsichtswege  kon- 
trollirt  werden. 

{ 

Jugendliche  Arbeiter  in  der  badischen  Fabrikindustrie.  ,j 

Wie  immer,  so  erschien  auch  dieses  Jahr  der  Bericht  für  1891 
der  badischen  Fabrikinspektion  zuerst  von  allen  Referaten  der 
deutschen  Aufsichtsbeamten.  Derselbe  enthält  u.  A.  eine  unter- 
richtende Zusammenstellung  über  die  Ausnutzung  jugendlicher 
und  kindlicher  Kräfte  in  badischen  Fabriken.  Danach  wurden 
dort  beschäftigt: 


Im 

fahre 

Junge  Leute 
von  14  — 16  Jahren 

Kinder 

von  12 — 14  Jahren 

Im 

Ganzen 

männl. 

weibl.  zus. 

männl.  weibl. 

zus. 

1874  . . . 

3 369 

3 563  1 6 932 

1 488 

1 395 

2 883 

9 815 

1880  . . . 

2 500 

3011  5511 

722 

610 

1 332 

6 693 

1884  . . . 

3 453 

3 889  7 342 

848 

671 

1 519 

8 861 

1890  . . . 

5 504 

6 065  1 1 569 

1 319 

1 041 

2 360 

13  929 

1891  . . . 

5 533 

5 890  ||  1 1 423 

1 256 

1 100  || 

2 356 

13  779 

Die  Gesammtzahl  der  Anlagen,  welche  solche  Kräfte  be- 
schäftigen, stieg  von  1 450  im  Vorjahre  auf  1 548.  Im  Vergleich 
zum  Vorjahre  zeigt  sich  eine  sehr  kleine  Abnahme  bei  den 
Mädchen  von  14—16  Jahren  und  den  Knaben  von  12—14  Jahren, 
während  die  Ausnutzung  der  jungen  Leute  männlichen  Ge- 
schlechts von  14  — 16  Jahren  und  sogar  der  Mädchen  von  12—14 
Jahren  sich  weiter  steigerte,  letztere  so,  dass  sie  den  hohen 
Stand  von  1874  beinahe  wieder  erreichte  Seit  1880  zeigt  sich 
überhaupt  eine  stetige  Ausdehnung  der  jugendlichen  und  Kinder- 
arbeit, und  der  kleine  Ausfall  des  Jahres  1891  dürfte  wohl  nur 
auf  die  schlechte  Geschäftslage  dieses  Jahres  zurückzuführen 
sein.  WTeitere  Schlüsse  lassen  sich  freüich,  wie  der  Fabrik- 
inspektor richtig  bemerkt,  erst  aus  einer  vollständigen  Arbeiter- 
statistik ziehen,  welche  auch,  wie  in  Sachsen,  die  erwachsenen 
Arbeiter  mitumfasst,  die  aber  in  Baden  „andauernd“  fehlt. 


SOZIALPOLITTSC1 IKS  CE  XTRAJ /BLATT. 


137 


Np.  10. 

Handwerkerfragen. 


Zur  Einführung'  der  obligatorischen  Innung  und  des 
Befähigungsnachweises.  Gelegentlich  der  Berathung  des 
diesjährigen  Etats  des  Handelsministeriums  entwickelte  sich 
im  preussischen  Landtage  eine  lebhafte  Debatte  über  Hand- 
werkerfragen. Aus  derselben  ist  vor  Allem  die  Stellung 
des  Handelsministers  hervorzuheben,  obgleich  er  betonte, 
über  die  definitive  Stellungnahme  des  preussischen  Mini- 
steriums zur  Handwerkerfrage  noch  keine  Erklärung  ab- 
geben, sondern  nur  seine  persönliche  Meinung  äussern  zu 
können.  Minister  v.  Berlepsch  wünschte,  dass  das  Hand- 
werk in  die  Prüfung  der  Frage  eintreten  solle,  ob  nicht  auf 
anderem  W ege  als  aut  dem  des  Befähigungsnachweises 
sein  Zustand  verbessert  werden  könnte,  er  sei  der  Meinung, 
dass  die  Einführung  des  Befähigungsnachweises  dem  Hand- 
werke nicht  helfen,  sondern  es  geradezu  schädigen  müsse, 
dass  das  Handwerk  den  Zusammenschluss  zu  Genossen- 
schaften brauche,  um  es  kreditfähig  zu  machen,  und  zu 
gemeinsamem  Einkauf  und  \ erkauf  übergehen  zu  können, 
dass  ihm  eine  bessere  technische  Ausbildung  und  eine 
Regelung  des  Lehrlingswesens  Noth  thue.  Ferner  erklärte 
der  Minister,  dass  im  preussischen  Handelsministerium  die 
Frage  der  Errichtung  der  Handwerkerkammern,  als  einer 
ausschliesslich  für  die  \ ertreter  der  Handwerkerinteressen 
berufenen  Organisation,  wohl  erwogen  werde.  Sollten 
solche  Kammern  errichtet  werden,  so  müsste  man  ihnen 
auch  die  Beaufsichtigung  über  das  Lehrlingswesen  über- 
geben. Endlich  gab  er  den  Rath,  dass  das  Handwerk  sein 

I Augenmerk  mehr  auf  die  Qualität  richten  solle,  dass  die 
Handwerker  in  allen  Zweigen  Kunsthandwerker  werden 
sollen.  Die  Abgeordneten  aus  den  innungsfreundlichen 
Parteien  vertraten  die  auf  dem  letzten ' Handwerker- 
und Innungstage  betonten  Forderungen.  Bemerkenswerth 
war  die  Erklärung  des  treikonservativen  Abgeordneten 
Fohren,  dass  die  Lohnarbeiter  im  Handwerke  viel 
schlechter  daran  seien  als  die  Fabrikarbeiter.  Den 
Beweis  dafür,  dass  aber  den  Lohnarbeitern  im  Handwerke 
durch  Wiederverleihung  der  alten  Privilegien  an  die 
Meister  geholfen  werden  könne,  unterliess  er  zu  erbringen. 
Der  Centrumsabgeordnete  Pless  forderte  eine  grössere  ^Be- 
rücksichtigung des  fachgewerblichen  Unterrichtes  in  den 
Fortbildungsschulen.  Der  Freisinnige  Eberty  sprach  sich 
zwar  für  freie  Genossenschaften  aus,  suchte  aber  als  Kern- 
punkt der  Handwerkerfrage  die  Bildungsfrage  hinzustellen. 
Aut  den  Rath  des  Ministers,  dass  die  Handwerker  Kunst- 
handwerker werden  sollen,  ging  man  nach  den  vorliegenden 
Berichten  von  keiner  Seite  ein'  und  dies  mit  Recht,"  denn 
das  „Kunsthandwerk“  wird  erstens  heute  zum  überwiegenden 
Theile  von  tabriksmässig  betriebenen  Unternehmungen  ver- 
drängt, und  zweitens  ist  der  Konsum  der  naturgemäss  kost- 
spmhgen  Waaren  des  Kunsthandwerkes  auf  einen  kleinen, 
sich  stets  verengenden  Abnehmerkreis  beschränkt. 

Als  Ergebniss  der  Debatte  kann  die  neuerliche  An- 
kündigung der  Errichtung  von  Gewerbekammern,  in  Ver- 
bindung mit  der  Regelung  der  Lehrlingserziehung  und 
grösserer  Aufwendungen  für  das  Fachschulwesen  angesehen 
werden. 

Untergang  des  Kleingewerbes  in  der  Miihlenindustrie  Mit 

bezug  auf  die  Lage  der  badischen  Mühlenindustrie  schreibt  der 
• J or?-lSe  Fabrikmspek’tor  in  seinem  soeben  erschienenen  Jahres- 
berichte. „Wenn  im  Berichtsjahre  auch  wenig  Kunstmühlen  neu 
errichtet  wurden,  so  schreitet  doch  die  Aufsaugung  des  Erwerbs- 
gebietes der  kleinen  Kundenmühlen  durch  die  auf  den  Handel  be- 
rechneten Kunstmühlen  und  im  Zusammenhang  damit  der  Nieder- 
gang der  Kundenmüllerei  ununterbrochen  weiter.  Je  nach  den 
örtlichen  Bedingungen  sind  die  Kräfte  des  Widerstandes  gegen  die 
r,1  ä rjC”e”de  Vernichtung  bei  den  Kundenmühlen  verschieden,  es 
befindet  sich  daher  in  den  verschiedenen  Landestheilen  dieser 
Aut  saugungsprozess  in  verschiedenen  Stadien,  sodass  hier  an 
‘Jen  gleichzeitig  vorhandenen  Zuständen  die  ganze  Entwickeln«- 
des  wirtschaftlichen  Kampfes  ums  Dasein  für  dieses  spezielle 
Debiet  dargestellt  werden  könnte.  Wo  der  Kampf  schon  längere 
feit  beendet  ist,  sind  auch  häufig  die  Ruinen  der  Schlachtfelder 
, beseitigt,  und  die  an  die  Stelle  der  untergegangenen  Betriebe 
getretenen  technisch  vollkommeneren  Anlagen  und  die  neuen 
Industriezweige,  welche  sich  der  freigewordenen  Wasserkräfte 
Demachügt  haben,  verwischen  durch  ihre  offenbaren  guten 
Wirkungen  fast  die  Erinnerungen  an  die  Leiden,  welche  ein 
l fa  ier  Kampf,  dessen  Ausgang  unzweifelhaft  war,  für  die  Unter- 
1«^n<^en  ,lnSen  fasste.  Wo  die  kleinen  Mühlen  noch  nicht 
\ hg  unterlegen  sind,  da  sieht  man  noch  den  ganzen  Ver- 
zweinungskampt  mit  allen  seinen  nach  der  Verschiedenheit  der 


menschlichen  Natur  individuell  gefärbten  Schattirungen.  So 
werden  in  vielen  Thälern  des  Odenwaldes  Mühlen  angetroffen, 
die  ihren  Betrieb  ganz  oder  theilweise  eingestellt  haben.  Es 
fehlen  die  Bedingungen,  oder  ihr  Besitzer  konnte  den  ener- 
gischen Entschluss  nicht  fassen,  um  zu  neuen  Betriebsformen 
oder  zu  einer  anderen  Industrie  überzugehen.  Man  lebt  von  dem 
Ertrage  der  kleinen  Landwirthschaft,  man  tliut  gar  nichts  mehr 
für  die  Unterhaltung  des  Werkes,  dessen  ganze  Beschaffenheit 
in  einen  immer  jämmerlicheren  Zustand  kommt,  man  schränkt 
sich  mehr  und  mehr  ein,  steigt  von  der  eingehaltenen  relativ 
höheren  sozialen  Stufe  immer  tiefer  und  tiefer  herunter,  und 
das  Ende  ist  der  vollständige  wirtschaftliche  Untergang  durch 
moralische  Entkräftung.  Es  ist  der  Kampf  ums  Dasein  auf  dem 
sozialen  Gebiete  in  seiner  häufigsten  Erscheinungsform.  Es 
giebt  aber  auch  Besitzer,  welche  es  vorziehen,  den  Kampf  auf 
offenem  Felde  aufzunehmen,  anstatt  sich  in  ihrer  kleinen  wenig 
beachteten  bestung  aushungern  zu  lassen.  Aber  auch  hier  muss 
der  Kampf,  wenn  auch  ruhmvoller,  wegen  der  ungenügenden 
Streitkräfte  und  der  Unkenntniss  der  feindlichen  Stellung,  oder 
weil  die  Entschliessungen  nicht  rechtzeitig  gefasst  wurden, 
schliesslich  doch  verloren  gehen.  Es  gibt  unternehmende  Be- 
sitzer kleiner  Mühlen,  welche  ihrer  Leistungsfähigkeit  auf  ver- 
schiedene Art  aufzuhelfen  suchen.  Nicht  allzu  selten  wird  die 
Kundenmühle  auf  Spekulation  in  eine  Kunstmühle  umgebaut. 
Solche  in  geringem  Umfange  ausgeführte,  komplizirte  und  kost- 
spielige  Einrichtungen  lassen  aber  dann  meist  wegen  ihrer 
relativ  zu  geringen  Leistungsfähigkeit  und  wegen  der  schon  zu 
weit  vorgeschrittenen  wirtschaftlichen  Schwächung  der  Eigen- 
tümer keine  genügende  Rente  der  Kosten  übrig  und  die  Unter- 
nehmer werden  vergantet.  Eine  solche  Mühle  hatte  im  Verlaufe 
weniger  Jahre  den  dritten  Besitzer,  der  mit  seiner  Frau  allein 
die  ganze  Arbeit  besorgte.  Ein  anderer  Müller  hat  mit  seiner 
V asserkraft  die  elektrische  Beleuchtung  eines  benachbarten 
Städtchens  übernommen  und  betreibt  die  Müllerei  nur  noch 
nebenbei.  Es  ist  dies  ein  Beispiel  dafür,  wie  bei  den  durch  die 
tortschreitende  Entwickelung  für  ganze  Berufszweige  eintretenden 
Katastrophen  immer  Einzelne  durch  günstige  Umstände  und 
richtige  und  rechtzeitige  Einsicht  begünstigt  dem  allgemeinen 
I ntergang  entgehen.  Aber  nicht  nur  für  die  Arbeitgeber,  auch 
iür  die  Arbeiter  ist  ein  solcher  wirthschaftlicher  Entwicke- 
lungsprozess verhängnissvoll.  Die  Arbeitszeit  ist  bekanntlich 
nirgends  grösser  und  nirgends  rücksichtsloser  eingetheilt,  als  in 
solchen  kleinen  Mühlen.  Nirgends  so  sehr,  wie  hier,  zeigt  es 
sich  unverhüllter,  dass  die  Prosperität  einer  Industrie  "nicht 
durch  missbräuchliche,  wenn  auch  für  den  Einzelnen  wenig 
schuldhafte  Ausnützung  der  menschlichen  Arbeitskraft  erzwungen 
werden  kann.  In  solchen  einen  hoffnungslosen  Kampf  kämpfen- 
den Mühlen  ist  meist  nur  ein  Arbeiter,  meist  dazu  im  Alter  der 
köi Dei liehen  Entwickelung,  vorhanden,  der  die  ganze  Arbeit 
tluui  muss,  und  bei  den  harten  Arbeiten  frühzeitig  zu  Grunde 
gehen  muss.  Der  Bezirksarzt  eines  Bezirkes,  in  welchem  solche 
kleinen  Mühlen  nicht  einmal  besonders  zahlreich  sind,  hat  bei 
einer  über  diese  Verhältnisse  genommenen  Rücksprache  mit- 
getheilt,  dass  ihm  Fälle,  in  welchen  Arbeiter  aus  dem  Müllerei- 
gewerbe vollkommen  erwerbsunfähig  geworden,  in  seiner  Praxis 
häufig  vorkämen.“  Das  ist  auch  eine  Illustration  zu  den  Utopien 
des  kürzlich  hier  besprochenen  deutschen  Handwerkertages. 


Soziale  Hygiene. 


Z um  schwedischen  Trunksuchtsgesetz. 

In  No.  5 des  Sozialpolitischen  Centralblattes  ist  eine 
Notiz  unter  der  Ueberschrift  „Zum  schwedischen  Trunk- 
suchtsgesetz“ veröffentlicht  worden,  deren  Inhalt  einer 
kleinen  Richtigstellung'  bedarf,  weil  sie  möglicherweise  beim 
Leser  Schlüsse  hervorraten  kann,  für  welche  die  ange- 
führten I hatsachen  schwerlich  einen  richtigen  Anhalt 
gehen.  Jedenfalls  scheint  es  nicht  ganz  zutreffend,  wie 
dort  geschehen  ist,  moralstatistische  Ziffern  ohne  irgend- 
welche Vergleichung  mitzutheilen. 

Der  Branntweinverbrauch  (inclusive  des  Verbrauchs 
der  sogenannten  feineren  Spirituosen  Getränke:  Arrac, 
Cognac  etc.)  stellt  sich  in  Schweden  folgendermassen : 


J h h r 

Verbrauch, 

Liter  pro  Kopf  der 

Liter 

mittleren  Bevölkerung 

1870 

43  004  162 

10.33 

1871 

43  927  366 

10,49 

1872 

46  116  737 

10,91 

1873 

50  304  466 

11,77 

1874 

58  464  843 

13,53 

1875 

53  967  336 

12,37 

1876 

54  881  81  1 

12.45 

138 


S0ZIA1  .POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  10. 


Jahr 

Verbrauch. 

Liter  pro  Kopf  der 

Liter  mittleren  Bevölkerung 

1877 

47  584  422 

10,68 

1878 

47  496  297 

10,54 

1879 

40  089  923 

8,80 

1880 

37  204  801 

8,14 

1881 

40  473  043 

8.86 

1882 

36  842  973 

8,05 

1883 

35  787  305 

7,79 

1884 

38  182  126 

8,26 

1885 

38  277  360 

8,21 

188b 

36  828  360 

7,84 

1887 

33  456  993 

7,08 

1888 

32  690163 

6,89 

1889 

ca.  31  000  000 

ca.  6,50 

1890 

ca.  31  000  000 

ca.  6,50 

Wie  man 

hieraus  ersehen  kann, 

, ist  eine  absolute  V 

Minderung  des  Verbrauchs  eingetreten,  die  seit  dem  Jahre 
1876  beinahe  unausgesetzt  andauerte.  Die  hohen  Ziffern 
der  |ahre  1873 — 76  bezeichnen  wirthschaftlich  und  ökono- 
misch gute  Jahre. 

Die  Einfuhr  von  ausländischen  „feineren“  Spirituosen 
Getränken  (Cognac  etc.)  belief  sich  im  jährlichen  Durch- 
schnitte: 

1871-  75  Liter  2825955 

1876-80  „ 2 975  304 

1881—85  „ 2 451001 

1886—90  „ 1945  000 

und  ist  demnach  auch  gefallen. 

Die  Einfuhr  von  Wein  aller  Art  ist  auch  vermindert 


Systems  noch  auffällig  zahlreich  Vorkommen  (1890:  8440  be- 
strafte Personen,  1891:  8120  bestrafte  Personen)  Diese 
Thatsache  wird  von  obiger  Erwiderung  nicht  bestritten,  viel- 
mehr indirekt  durch  die  Mittheilung  bestätigt,  dass  auch  in 
Gothen  bürg  die  Summe  dieser  Straffälle  sich  auffällig 
steigerte.  Noch  weniger  wird  Etwas  gegen  die  bedeutsame 
Mittheilung  unserer  ersten  Notiz  eingewendet,  dass  die 
schwedischen  Polizeiorgane  den  Begriff  „Trunkenheit“  je 
länger  je  humaner  auffassten,  sodass  eigentlich,  bei  strenger 
Anwendung  des  Strafgesetzes,  eine  noch  viel  grössere  Zahl 
von  Bestrafungen  hätte  stattfinden  müssen.  Dass  diese 
Thatsachen  nicht  für  die  in  Deutschland  geplante  Strafvor- 
schrift sprechen,  auf  welche  am  Schluss  unserer  ersten 
Notiz  Bezug  genommen  wurde,  liegt  auf  der  Hand,  und  in 
diesem  Nachweis  lag  der  Hauptzweck  der  ersten  Notiz. 
Wenn  aus  den  neuen  Mittheilungen  der  Erwiderung  hervor- 
geht, dass  jenes  andauernde  Vorkommen  der  Trunkenheit 
stattfand,  trotzdem  sich  der  Verbrauch  an  Spirituosen 
quantitativ  im  Ganzen  verminderte,  so  steht  man  eben  vor 
einem  neuen  Beleg  dafür,  dass  sich  die  quantitative  Be- 
schränkung der  Trinkgelegenheit  nach  dem  gothenburger 
System  als  ein  sehr  unzulängliches  Mittel  zur  Bekämpfung 
der  eigentlichen  Trunksucht  erweist.  In  Deutschland  hat 
man  ja  bereits  ganz  ähnliche  Erfahrungen  gemacht;  die 
Verminderung  der  Schankstätten  führt  durchaus  keine  Ab- 
nahme der  Trunksucht  herbei. 


worden : 

Jahr  Liter  Liter  pro  Kopf 

1871—75  3 466  989  0,81 

1876—80  3 260  826  0,72 

1881—85  3 123114  0,68 

1886—90  2 620  000  0,55 

Alle  diese  Thatsachen  ergeben,  dass  wirklich  von  einer 
Abnahme  der  Trunksucht  die  Rede  sein  kann. 

Es  mag  richtig  sein,  dass  der  ßierver brauch,  während 
der  letzten  Jahrzehnte  bedeutend  gestiegen  ist;  aber  nach 
den  letzten  Berichten  (1888)  des  Commerz- Collegiums 
kommen  hier  in  Schweden  gegenwärtig  kaum  28  Liter  pro 
Kopf  der  Bevölkerung  gegen  81  Liter  in  Norddeutschland, 
95  Liter  in  Dänemark  und  227  Liter  in  Bayern  (Vergl.  in 
Conrad’s  Handwörterbuch  den  Artikel  „Bier  und  Bierbe- 
steuerung“). Dem  schwedischen  Reichstage  ist  in  der  dies- 
jährigen Session  von  der  Regierung  ein  Gesetzentwurf  über 
Bierbesteuerung  vorgelegt  worden,  die  bis  jetzt  hier  nicht 
existirte. 

Was  nun  die  Bestrafungen  wegen  Trunkenheit  auf 
öffentlicher  Strasse  betrifft,  so  zeigt  die  Statistik  Gothen- 
burgs  folgendes: 


Jahr 

Bestrafungen 

Bevölkerungszahl 

1875 

2 490 

59  986 

1880 

2 101 

68  477 

1885 

2 475 

84  450 

1890 

4010 

101  502 

Demnach  s 

?md  im  Prozent 

der  Bevölkerung 

die 

ahre  1875  und  1 

890  gleich  (4%)  und  die  Jahre  1880 

und 

885  davon  nicht 

viel  verschieden  ( 

um  3%). 

Die  Bestrafungen  haben  sich 

folglich  vielleicht 

ein 

wenig  erhöht.  Man  mag  aber  dieses  nicht  allzu  hoch  an- 
setzen; denn  wie  viel  von  dem  grössten  Missbrauche  geistiger 
Getränke  wird  bestraft? 

Das  sogenannte  Gothenburger-System  hat  überall, 
wo  man  es  annahm,  segensreiche  Wirkungen  gehabt;  und 
kaum  der  allerärgste  Enthaltsamkeitsmensch  kann  ver- 
neinen, dass  die  schwedische  Trunksuchtsgesetzgebung 
eine  gute  sei  und  gerade  im  gegenwärtigen  Augenblicke 
für  Deutschland  werthvoll  sein  dürfte. 

Gothenburg  (Schweden).  Axel  Ramm. 


Erwiderung. 

Die  Notiz,  auf  welche  sich  die  obige  Polemik  bezieht, 
theilte  einfach  die  Thatsache  mit,  dass  in  Stockholm  die 
Bestrafungen  wegen  Trunkenheit  trotz  des  gothenburger 


Lungenschwindsucht  und  Erwerbsverhältuisse.  Das  Auf- 
treten der  Lungenschwindsucht  in  Berlin  und  seinen  Vororten 
hat  Dr.  Halle-Berlin  für  einen  längeren  Zeitraum  verfolgt  und 
darüber  Folgendes  veröffentlicht.  Trügerisch  sind  auf  alle  j 
Fälle  allgemeine  Durchschnittszahlen.  Man  ersieht  dies  daraus, 
dass  für  ganz  Berlin  in  den  Jahren  1851  — 1878  auf  je  10  000 
| Menschen  38  Todesfälle  an  Lungenschwindsucht  kamen,  seit  j 
1885  aber  diese  Zahl  auf  31,9  heruntergegangen  ist,  während  bei  , 
genauerer  Betrachtung  die  Verhältnisse  in  den  einzelnen  Vor- 
orten, von  denen  Lichterfelde  und  Friedrichsfelde  die  günstigsten, 
Stralau  dagegen  die  ungünstigsten  Zahlen  aufweist,  ausser- 
ordentlich schwankend  sind.  Es  starben  nämlich  während  der 
letzten  Jahre  in  Gross-Lichterfelde  an  der  Lungenschwindsucht 
von  je  "10 000  Einwohnern  9,4,  in  Steglitz  15,1,  in  Schöneberg-  , 
Friedenau  23,5,  Tempelhof  30,9,  Friedrichsfelde  7,2,  Pankow  41,8, 
Plötzensee  24,7,  Tegel  17,7,  Reinickendorf  42,5,  Hohen-Schön-  i 
hausen  25,3,  Nieder-Schönhausen  44,  Weissensee  26,7,  Lichten-  1 
berg  34,7,  Rixdorf  37,8,  endlich  in  Stralau  70,9.  Diese  Ungleich-  j 
heit  lässt  deutlich  erkennen,  dass  bei  Verbreitung  der  Lungen-  ; 
tuberkulöse,  abgesehen  von  den  hygienischen  Verhältnissen,  ; 
auch  den  sozialen  Bedingungen  eine  grosse  Bedeutung  beizu- 
messen ist.  Es  erweist  dies  auch  der  Umstand,  dass  die  Villen- 
kolonie Lichterfelde  die  geringste,  der  Fabrikort  Stralau  die 
höchste  Sterblichkeitsziffer  zeigt.  Bei  einzelnen  Orten  wirken 
für  diese  Ziffern  noch  besondere  Umstände  mit,  welche  durch 
grössere  öffentliche  Anstalten  bedingt  werden.  So  hat  Schöne- 
berg seine  Krankenhäuser,  Lichterfelde  die  Kadettenanstalt  und 
Plötzensee  das  Gefängniss.  Nach  dem  aus  208  Orten  mit 
1500  Einwohnern  und  mehr  zusammengestellten  Gesammtmaterial 
bilden  die  ungünstigste  Gruppe  folgende  vorwiegend  industriellen 
17  Städte:  Remscheidt,  Mühlheim  a.  Rh.,  Stralau.  Langenbielau, 
Fürth,  Erlangen,  Linden,  Solingen,  Passau,  Heidelberg,  M.-Glad- 
bach,  Bockenheim,  Nürnberg,  Neuss,  Würzburg,  Bamberg  und 
Münster.  Die  günstigste  Gruppe  wird  gebildet  von  Hamburg, 
Hof,  Tilsit,  Ingolstadt,  Lichterfelde,  Friedrichsfelde,  Grünberg 
in  Schlesien  und  Guben. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

American  Federation  nt'  Labor.  Otticial  Book  ©t  the 
American  Federation  of  Labor  issued  for  the  Ele- 
venth  Annual  Convention  held  at  Birmingham. 
Ala.,  December  14,  1891.  41'.  80  S. 

Jahresbericht  der  Grossherzoglich  badischen  Fabrikinspektion 
für  das  Jahr  1891.  Herausgegeben  im  Aufträge  des  Gross- 
herzoo-ffchen  Ministeriums  des  Innern.  Karlsruhe  1892. 
F.  Thiergarten.  8U.  \ u.  82  S. 

Webb.  Sidnex  L.  L.  B.  The  Reform  of  London.  London 
„Eighty“  Club,  1892.  8".  35  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — - Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 

Berlin,  den  7.  März  1892. 

Kür  den  Anzeigentheil  sind  die  Redaktion  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Anzeigen-Annalnnestelle  nur  bei 
Dr.  Otto  Kysler,  Berlin  SW'.,  Charlottenstrasse  11.  Preis  für  die  Bspaltige  Colonelzeile  40  Pi. 


X (tihittputan,  Rcvlagglntdiljanbliing  in  Bevtin, 

(SiittmtagfcR'  Sammlung 

DeutJdjer  Ucid)öijcfct;c  uitb  J)teulnjcl)er  dkfeije. 


mit  .TSmiu'vInmium. 

tSaJtfjeitfDxrmat,  liAvtonnirt. 


A 

JUttifd)*  lUtd)00e|>J?e* 


1.  Tic  SBcrfaffuitg  bes  ffcutfdieu  Dteidie-  uon  Dr.  V*. 
uon  STtiinnc.  ©edjfie  9CufIage.  1 'Ulf.  25  5pf. 

2.  ©trafgefefeburi)  für  baS  ffcutfdie  9*f cid»  mit  beit 
gcbrändilidiften  91eid)sfirafgetefecn.  Son  Dr.  .£). 
sRitborff.  ©edjSäetjute  Stuflage.  1 SHf. 

3.  A*Jilittii'=®tvafgefefebud)  für  bes  ffcutfdie  9feid) 
uon  Dr.  Sy.  SUiiborff.  B'neitc  ?IiifTage  uon  SS.  2. 
Solms.  2 SLTfr. 

4.  21 II  gerne:  uce  ffeiitfdicS  £>itiibclsgefcfefmdi  unter 
Vlnefd;tufj  beS  ©eered)tö.  Sou  fy.  Vitt  1)  a u er.  Siebente 
Sluftage.  2 SJif. 

5.  '.Htlg  ineine  ffcutfdie  ittedifelovbnung  uon  Dr. 

S.  Sordjarbt,  ©ertjfte  Stuflage  uon  S.  Salt,  unb 
28e efef  elfte  m v et  fte  u e r ge  f efe  nebft  SEBedifeliicmveB 
ftcnertnrif  uon  33.  ©aupp.  ffftnjte  Sluftage.  2 9Jlf. 

6.  :Keid)6=Wcuierbe=CrPniina  mit  ben  für  ba*3  9fcid) 

Ierfaffenen  StiigfübrunaSbeftimnuingen.  ilfenefte  fyaffnng 
beä  ©efetjeS.  Sou  ff.  St).  S erg  er,  SientetunnSrmlj. 
hlfte  Stuflage.  1 iölf.  25  ißt- 

7.  ffie  ffeutfdjc  'Voft=  nnb  ffe  t e g r a p 1 1 c u = W e i e fe= 

gebuug.  Sou  Dr.  S-  ®.  Sfifdier.  dritte  Stufloge. 
S SJif.  50  St- 

8.  $ie  Weiche  über  beit  ItntcrftüfeungSwol) nfife, 

über  Sunoeä--  unb  StaatSaugeljöngfcit  unb  greijügigfcit. 
Sou  Dr.  3-  ftved).  3'ucite  Sluftage.  2 50f El 
9a.  Sammlung  flciiterer  prin atrcdütidier  91eid)S= 
gefefec.  GrijäiijuiigSbaub  ju  ben  im  3.  ©iittcntag'idieii 
Sevlage  erfdjienenen  GinjeKSlnSgaben  beutfdjcv  9feid)8> 
gefetje.  Sou  jy-  Si  er  tja  US.  2 Wt  25  St- 
9h.  Sammlung  flciiterer  9lcid)Sgcfefee  ftrafredit- 
lidicn  Anhalts.  ©rgäitpiigSbanb  ju  ben  im  3-  ©nttciu 
tag  fdjen  Scrlage  erfdjieuencn  ©iii5el=9lu3gabeii  bcntjdjev 
9teid)ägefefce.  Sott  93J.  äöernev.  1 AB f.  80  Sjjf. 

10.  ff  no  91  c i diSfeea  in  t eil g e j c t;  oom31.  äff  r;1673.  Autelte 
Stuftage  uon  SB.  Sur  na  u,  9fetd)Sgerid)t§rntt).  2S.tif.  40  St- 
il- (Siöilbroäcftorbuuitg  mit  Werirf)tSocrfaffiuuis= 
gefefe,  (Sinfütjruiigc'gefeüen,  ÜWcbeugefetjcn  tittb 
©rgnmttitgcn.  Sou  9t.  ©pboiu.  Sfunfte  Slufiage. 
2 go”f.  50  St- 

12.  Strafv>roäefturbuuitg  nebft  W e r i di  I c- u e r f a f f u tt g s = 
gefefe.  fünfte  Slufiage  uon  fbelliueg.  1 Sftf.  00  Sf- 
13.  ftonfiirsorbituug  mit  ©ittfülmtngSgcfcfe, tBe beu- 
ge cfecii  ititb  Wrgätmuigcu-  Sou  9\.  ©ijboiu. 
Vierte  Slufiage.  80  Sf. 

14,  Wcridjte-uerfaffungögcfeü  für  bas  Seit  tfrfic  9icidi. 

Son  9t.  ©pbolo.  fyififte  Stuftagc.  80  St- 


15.  Weridjtsfufteugefefe  unb  Webührcuorbuuug  für 
WeridjtSuotljieljer.  Wcbührciiorbmutg  für  3eu= 
gen  unb  Sadiberftänbigc.  9JJit  .Uoftcntabellen. 

Sou  9t.  ©tjboiu.  Sievte  Slufiage.  80  St- 

16.  Di c dj t Cniu tu a t ts u r b ttn it g für  bas  ffcutfdie  9feidi. 
Son  9t.  S tj  b o tu.  äd'ette  Stuftage.  50  St- 

17.  Webührenorbit uitg  für  t'tcdjtsainualtc.  San 
9t.  ©IjDolD.  ffvitte  Stuftagc.  60  St- 

18  ffaS  ffeutfehe  9Icidisgcicfe  über  bie  9Jeid)6= 
ftemüelabgabcn  in  ber  jyaffung  b e§  ©efeijeS  Dom 
29.  ttjtai  lfeö.  SörfenftcuergefeR  Sou  S.  ©aupft. 
3./i.  Slufiage  evgäutt  bt8  1890.  2 AB f . 

19.  ®ie  ©eegefeögebuitg  bec  ®cutfdien  9t  ei  dies. 
Son  Dr.  jur.  Ss.  ©.  St’ui  t f d)  f t).  3 Sif. 

20.  Kefefee,  betrcffcitb  bie  M ra n ten uerfidjc nt ug  ber 
SCrbciter.  Sou  ©.  uon  tüBoebtfc.  ®rittc  Stuftagc 

i af.  20  st- 


21.  ®ic  .9 im f u t a r g e i e ü g e b u 1 1 a bes  Teutfdicit  '.Beidjes. 

Son  Dr.  S l)i  tipp  3llv  a.  4 SOtf. 

22.  g atcittgcfcfe.  Weier,  über  99J nfter=  itub  ABobctl- 
fdi ut?.  Weier  über  '.Wartenfdiur.  9teb[t  StuS- 
ffiprmigSbefiimiiuuigen.  S*ou  ff.  fßt).  Sergcv.  ffritte 
Stuftagc.  Sn  Vorbereitung. 


23.  Uiijaftberfidici  uugegeicü  uom  6.  3»!'  1884  unb 
Weich  über  bie  'ilusbehuuita  ber  ItnfafD  unb 
Äranfeuuerfidierung  uom  28.  ABai  1885.  Soii 
©.  ooit  SBocbife.  Sievte  Stuftagc.  2 ATtf. 

24.  fficiriisgcfefe,  betrcffcitb  bie  .9oittmanbitgcfe(l= 
fdiaftett  auf  pHtticn  unb  bie  'Itttieugcfellfdiaften. 
Sou  A.  Äcufincv  unb  Dr.  A.  S.  © i ui  ö it.  ffvitte  Stitf- 
tage.  1 99(f. 

25.  ffas  ffcutfriie  tlfeidisgefer  tucgeii  Wrücbiutg  ber 
'Braiifteuer  uom  31.  ATfai  1872.  Son  (S.  Scrtpo. 
1 Sif.  60  St. 


26.  ff ie  9 i e ih s g e f e ü g e b 1 1 1 1 g über  9)lün;=  unb  itanf- 
tuefeit,  ffBil’iei  gctb,  H>räutiemuu>iere  uitb  9ieidis= 
aitletbeit.  Sou  Dr.  9t.  »t  od).  .Biucite  S(uf||gc.  29Jif.  40  Si- 

27.  ffic  Wefebgebuiig.  betr.  bas  WefiiubSheitSmefcn 
int  ffentfdieu  91  cid).  Son  Dr.  jur.  G.  Woefd)  unb 
Dr.  med.  3-  ft<prfteu.  ! 991  f.  60  Sf. 


28.  Wefcfe,  betrcffcitb  bie  Unfaflberfidjcruttg  ber  bei 
'-Bauten  befdiäftigten  'peri Litten.  Som  -3"ti  1887. 
Sou  Sco  8Jt u g bau.  1 AB f.  25  Sf. 


29.  Wefcfe,  betreffenb  bie  ('riuerbs=  unb  ifeirtti-- 
id) a f tsg c ti o ff e it |d) a f te n . Som  1.  ABai  1889.  Sou 
2.  S.avtfiuS.  Sicrte  Slufiage.  1 A.Bf.  25  Sf- 


1. 

2. 


3. 


4 


5. 


6. 

7. 


8. 


9. 

10. 


30.  Wefete»  betveffeub  bie  3iiua1ibitätS=  unb  9llters= 
ucrfidicrung.  Som  22.  Suai  1889.  Sou  G.  uon  [|. 
2Boebtfe.  Sierte  Stuftagc.  2 5üf. 


31.  9teidisgefefe , betreffenb  bie  Wemcrbegcridite. 

Som  29.  3» d 1890.  Son  2eo  S.Bngbau.  2.  SlnSgabe. 
1 SOtf.  25  Sr- 


B 


yien^trd|c 


ffic  älerfaffiittgssUrfuitbc  für  beit  'Vreuüifdjeit 
©iaat.  Son  Dr.  Stbotf  Strubt.  Sroeite  Stuflage. 
2 ABf. 

iBeaniteiKWcfcfegebuug,  '4>rcuinfdie.  Gntfjaltenb 
bie  tt)id)tigfien  Scamteiigefefie  tu  Sveufjeu.  SOtit  furjeu 
Stutiicrfuugeu,  einem  djronoloiiifdjen  Serjeidjuifj  ber  ab- 
gebriidteu  ©efebe  re.  Son  G.  Sfafferotp.  thwiR 
ueubearbeitete  Sluftage.  1 ABf.  50  Sf- 

ffaS  'Vreuüifriie  Wefcfe,  betr.  bie  ;}iuangouotl' 
ftreefung  in  bac-  iiiib.meglidic  'itermogeii  uom 

13.  Sah  1883  unb  alten  fftebengefetjen.  Son  Dr, 
3-  ft'rcd)  unb  Dr.  ff.  Sifdjev.  Stoeitr  Stuftagc. 
1 991f. 

ffic  41reuf;iid)cit  Wefefee,  betreffenb  bas  91otariat 

in  beu  2anbe3tf)cileu  be-3  gemeinen  DtecbtS  unb  be» 
VaubreditS.  3>uche  ueriinberte  Sluftage  tjecaiiSgegcben 
uon  9t.  ©pboiu  utib  Sl.  ®elltoeg.  1 991  f.  60  ißf. 

ffaS  Wcfefe  uom  24.  ’-Hprit  1854  (betr.  bie  aufjcr= 
eheliche  ©djinäugeeimg)  unb  bie  baneben  gettenbeu  Se= 
ftimmimgi  n bc-3  Stttg.  Saitbred)t-3  nebft  ben  baju_  ergangenen 
Srajubifatcu,  ber  Öitteratur  jc.  Son  Dr.  jur.  .§.  © d)  u lä  c. 
75  St- 

ffic  AWeufjiieheu  2tuSfül)ritnge-«cfefee  unb  '1ter= 
orbmtitgcn  nt  ben  91eid)Sjuftt4gcfefecn.  Sou 

9t.  6 1)  b o ln.  3ll,eite  Stuftagc.  2 99iE. 

'Jlügeineittc  Weriditc-mbnung  für  bie  s4‘reufti= 
fdicit  Staaien  uom  <>.  Sitli  171*3  unb  'Vreuftifdie 
ÄonfitrSorbnnng  uom  8.  991  ai  1855.  Son 

ff-,  Sicrtja  u-3.  2 99t f.  50  St- 

ff  ieaSormiinbfd)aftS=Orbuung  baut  5.  Anti  1875, 

nebft  ben  ba.)u  crlaffenen  'Dtebe'ngcfebeii  unb  Stttge- 
meinen  Serfügmigen.  Sou  Star  ©rinitljenftcti! 
ßlocitc  Stuftagc.  t 9CB f . 50  Si- 

ffic  'Vrci'üifdte  ©rnitbbudjgefefegebuug.  Sou 

Srof.  Dr.  ff.  fy  tf  d)  er.  1 991f.  20  Sf. 

Winfommcnfteucrgeiefe  für  bie  AHeunifdie  9Jlo-- 
itardiie.  Sou  ©et).  Statt)  SR.  Aft  e i lj e it.  jÄmeite  9tnf= 
tage.  1 A.Bf. 

Weiucrbefteucrgejefe  für  bie  A'reuüiidie  9Jli'-- 
uavdiie.  Son  Kegtcriniglratf)  Sl.  7y c r n o u< . 80 


CÜ.  BKdi’friu'  Rerlaggtmrfjfianblitng  (ll^har  Bt?tk)  in  tDünrtjcit. 


3tt  ttttferent  S3evlage  ift  erfd)ienen: 

(glUimätrtlHW  (i9ferdlid;teliaU'itBi.'V,  5Pc e u e goltje.  (Siebenter 
3a()rgaug.  L 89 1.  (®er  ifaiBe11  ?Heit)e  XXXII.  93mtb.)  ,pennts= 
(leaebett  hon  .§ctn3  Sselbrürf,  a.  o.  ^vofeifov  au  her  Itniueijitot  sBerlin  uitb  OJittglicb  beö 
Inetdjötacjö.  22  löocfeu.  ©etjeftet  8 9Jif. 

sBaub  1 XXVI  (1860-181*0  nun  ©dml t!)cf;=ff olbrücfs  Wcfd)id)tSfaIcnber  wirb  bie  auf  weiteres 
tu  bem  ermäßigten  '4-' reife  non  80  99t f.  geliefert. 

Aevuer: 

)Tk|»  111%  G&üWi >v  Jnxtftli&itätg-  lütt*  Utti'i-alti'i-|td).cvuutDäiU'IV1;  xunit 

l«  UiPt  Aj*cUt-li  22.  Jmtt  1889.  3 id e 1 1 e o o U ft ä u b i fl  u nt flear bettete 

gvofitj.  t)eff.  'Jtegicrnngsrat:  Auflage  mit  einem  ätnljathj,  bie  SolIjugiSbelanut* 

ntadjuugen  bee»  SöuubeSvatd  eutbalteub.  Äavt.  1 DJf.  80  ißf. 

BvbuifErVrfluHfleVEii  f»f  bnö  beu iTf d) e tlieid)  uom  1.  3i»'i  X891  (Lobelie 
au  Sdt.Tir  ber  ©eiuerbeorbnnng).  Sejtauögabe  mit  (Einleitung,  erläuternbeu  Slunterfungen 
unb  SRegifter.  8l/s  Sog.  ^art.  1 9Jt-  20  Spf. 


fm  ilanb 

PfliljEnfiijrift  nir  Brömnui  einrr  frifDlirijeit 

SuiialrcfnruL 

©i'gan  bcs  J^rutrdii'n  Bintirs  für  Botutn- 
bi'lifjrt'fonir. 

©rfdjcittt  jebeu  ÄRoutag. 

Stb  ottne  nt  entSbebingungen: 

Töei  allen  tßoftanftalten  (,5Rr.  2272 


ber  Tßoitieitungcdifte)  ....  93t I.  0,80 
VBci  bivefter  Ä'reujbanbieitbuug: 

itt  3)eutfd)Ianb  unb  tOefterreid) . „ 1 ,20 

int  SMtpoJtberein „ 1,50 

3tt  TSetiin  bei  freier  3ufenbitng  . „ I,— 

Btt  (Expebifuin 


K.  Iua'Its,  ‘AtAUIiljimilTevltv.  55. 


®niap  unn  Buitrkev  fr  %mnblot  in  Iripjig: 


(föltlfatf  ^rhirmllpr  Iur  teutr*fteit  Snrial-  unh  cncnuuiu'pölitilt  her 
U cu  -^UHIU  UU  ©egcuUtarf.  Sieben  imb  Slufffitje  1890-  Aßreis  9 W. 

In  TU  BrpnfanD  IH?*1'  tlil'  Hrfacfan  her  Iieutigen  lirrialvn  Untii.  (Sin 

1 ®e,tva(]  ’>uv  SDiorpljoIogie  ber  Jßoiroroirtljfcljaft.  1.  unb  2.  Sluf. 

läge.  1889.  '4?ret<3  1 9)i. 

Staats-  imti  )\i  1: i a h n i n> n !Vfr a ft I i di r Bnträiu\  l)eZ^ 

V,U.  ü 9)iiasfon)Sfi.  Söonb  I,  1.  imb  2 .oft.  1892  ißreid  9 60  9)i. 

I.  l.  3ttr  Trage  ber  ©rganilatiun  bes  lanbioirtlifdiat'Uulu'n  Tsrrbits  in  ©rutfdi- 
(anb  unb  Drlterreirfj.  £>on  iy.  (gdjiff.  tßveid  3,60  'JJi. 

I.  2.  Bit  (Sinluimnmilhum-  in  Drjierreid)  unb  ifjre  Refnrm.  33 an  ©.  n.  giivtli. 
jßvtftö  (i  y j i . 

Btiil  iKailtn  gl'\uei'L,lid?c  Husliilbiuut  ber  luIinaiiH'iti'itbni  Häbthrn. 

o,  * . <■  > ®I"  öetitrnn  3111  beruflidjeii  @r3ie[)iuiq  beb  weiblichen  ©efdfferiits.  1892. 

Sßreis  4<>  ißig. 

Jiritj  Kalk,  Hi> tr tri Cdy aff I i if]]?  Lehren.  6.  Sluflage.  Sßreiä  80  ißfg. 

(Verhall  il  3um  fujinten  Trieben.  (Sine 

V. ■ u 1 V V3cttlli  L UlL»i  ®ar|teüniii]  ber  fosialpolitiidjen 

(Si3tegmig  bey  engltfdjen  Tolles  111t  uemijeljuten  Sabrfiunbevt-  (wei  Söätibe.  1890. 
ißrets  9)i.  18- 

J.  ©utfenfag,  Derlagsbmfüianbhuni  in  Berlin. 

Ri'iiiis  - Ok  Hierin.'-  Hvimumi 

it  e b ft  2f  n s f it  l)  v u it  g $ b e ft  i 111 11t  it  it  ^ c lt. 

Heu  eite  „ffalfüng  bes  (Jki'eües. 


^ e f t S li  I n a b e mit  31 11  m e r f 11  it  g e 11  unb  6 a d)  r e g i ft  c 


€.  pij»  Bcitut, 

Sleiiiniinfl  vatl). 

(elfte  tJlitftagc. 

[afdieuforntat;  ravt,  i Mt.  25  JBf. 


AafcA 


'V:' 

/ O < 


(Meh, 


mm: 


©te  im  vsobve  1827  tum  beut  ebleit  t\>c eitf ctjeiif veintbe  (£*tuft  iL'tll). 
Sfrnolbi  begrünbete,  auf  Oöegeufeitigfeit  mtb  Oeffentlid^feit  berubenbe 

€ebenöücrrt(ljenmg0böttk  f.  B. 

3u  aPotlja  — 

labet  biermtt  311111  Beitritt  ein.  Sic  barf  für  ftd)  geltend  niadjen, 
boft  fte,  getreu  beit  Slbfidften  iljrec'  C'orit uberc,  „als  tfigentbnut  3111er, 
luetdje  iiet)  it)r  311111  '-Befielt  ber  übrigen  anfdfltefeen,  and)  3 Uten  ol)ue 
'Kueuabme  ,311111  ÜJutteit  gereicht.“  ©ie  ftrebt  nad)  größter  We 
redjtigfeit  unb  killigfeil.  'sl)i*e  (yefebäfteerfolge  fiitb  ftetc-  überau» 
g duftig.  @ie  bat  allezeit  beut  nernitnfttgen  <Vortfct)i*itt  geljulötgl. 

0ie  ift  tute  bte  altefte,  fo  and)  bie  größte  ® e 1 1 tf  cf)  e 1? ebene 0 e r f t d)  e r 1 1 1 1 g s = 

Stuftalt. 


33  e v f i d)  e v 1 1 n g e = si'  e f t a 11  b ©ube  1891  . . . 

Wefctjäftsfonbs  CSube  1891 

Set  runter: 

3n  berffjeüenbe  Ueberfct)iiffe 

iSiit'  (Sterbefälle  aitSbe^atjlt  feit  ber  söe= 
gritnbimg 

Pie  BevUi a 1 1 11  it g 0 U a |ien  Ijaben  ftets  unter  aber  wenig  über  ö°'0  ber 
(Siiiimbuie  betragen. 


(»O« :7t  SßiUiattcn  iVff. 
I J3  iWülliottcu  SJDif. 

31  Will  innen  y.){f. 

3833/4  WiUtonett  Wf. 


1 

In  unserm  Verlag  ei'sohien: 

Quesnay,  Fr., 

Oeuvres  econoiniques  et  philosophiques,  ac- 
oomp.  des  öloges  et  d:autres  travaux  biogr.  sur 
Quesnay,  publ.  avec  introd.  et  notes  jiar 
A.  O n e k e n. 

Frankfurt  a Main  1888. 

Preis  It  m I».  so.—. 

Ein  stattlicher  Band  in  Imp.  8t  Das  Werk 
ist  von  der  Fachpresse  gelobt  und  auf  das  Ein- 
gehendste besjjroclien  worden,  u.  A.  schrieb  Hie 
., Revue  d’Economie“: 

„Quesnay  est  considere  eomme  le  chef  de  l’6cole 
physiocratique,  et  cependant  ses  öcrits  soiit  « 
peu  pres  inconnus:  ils  n’ont  jamais  ite  l'ohjet 
d’une  etude  monograpliique:  et  avant  cette  annie 
une  seule  öditiou  fort  mcompl^te  en  avait  6te 
publiee  dans  la  Collection  des  principaux  öcono- 
mistes,  avec  une  preface  de  51.  Daire  (1846).  5) 
Oncken  a voulu  coinbler  cettelacunede  notre 
littirature  öconomique;  il  nous  donne.  une 
Edition  compltte  et  savante  des  Oeuvres 
Econoiniques  et  philosophiques  de  F.  Quesnay. 
I.e  public  tranpais  doit  lui  en  etre  particuliEre- 
meut  recounaissant.  . , 

Joseph  Baer  & Co. 

Buchhändler  und  Antiquare. 

Frankfurt  a.  Main. 

Hugo  Frankel, 

Antiquariat  türRech  ts-u.  Staatswissen.se  haft, 

Berlin  N.  24,  Elsasserstr.  36, 

empfiehlt  sich  zur  Beschaffung-  aller  in  sein 
Specialfach  einschlagender  Literatur. 

Verzeichniss  I: 

Rechts-  u.  Staatswissenschaften, 

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Vertag  non  (tjcorg  Kaiutai*  in  Berlin, 
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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  Dr.  Otto  Eysler  in  Berlin.  — Druck  von  H.  8.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  14.  März  1892 


Nummer  11. 


SOZIALPOLITISCHES 


ENTRALBL 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


ATT. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


Die  K o h 1 e n a r b e i t e r f r a g e 
Grossbritannien.  Von 
Stephan  Bauer. 

Soziale  Wirthschaftspolitik: 

Die  Wiener  Verkehrsanlagen  und 
die  Arbeiter.  Von  Dr.  Hein- 
rich F r i e d j u n g. 

Städtische  Sozialpolitik  in  England. 

Reform  des  Gesetzes  betr.  den 
Unterstützungs  Wohnsitz. 

Ai'beiterzustände: 

Statistik  der  Bergarbeiterentlas- 
sungen. 

1 ländliche  Arbeiterverhältnisse. 

Schneiderwerkstätten  in  der  Stadt 
New- York. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung : 

Die  Lage  der  deutschen  Gewerk- 
schaften. Von  Dr.  Adolf 
Brau  n. 

Kontrollmarken  ftir  Textilarbeiter. 

Ein  Kellnerstrike. 

Der  Strike  der  Pariser  Droschken- 
kutscher. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel 


Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Schutz  von  Arbeiterinnen  und 
jugendlichen  Arbeiter  in  Zucker- 
fabriken. 

Schutz  der  jugendlichen  Arbeiter 
auf  Steinkohlenbergwerken. 

Schutzvorschriften  für  Bergleute. 

Internationale  Regelung  der  deut- 
schen , österreichischen  und 
schweizerischen  Stickerei. 

Gesetzlicher  Schutz  der  Handlungs-  j 
Bediensteten  in  England. 

Gewerbeinspektion : 

Fabrikaufsicht  und  Arbeiterbewe-  I 
gung  in  Baden.  Von  Professor  j 
Dr.  Heinrich  Her  kn  er. 

W ohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Staatlicher  Bau  ländlicher  Arbeiter- 
wohnungen. 

Wohnungszustände  in  Bamberg. 

Wohnungszustände  in  Warschau. 

Litteratur: 

Hampke,  Dr.  Thilo,  Der  Befähi- 
gungsnachweis. 


und  Zeitschriften  gestattet,  | 


INHAL  f 

i n 
Dr. 


ist  Zeitungen 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Kohlenarbeiterfrage  in  Grossbritannien. 


Es  giebt  zur  Stunde  kaum  ein  Schauspiel,  welches  der 
Aufmerksamkeit  des  modernen  Volkswirthes  und  Sozial- 
politikers würdiger  wäre,  als  jenes  der  Kohlenkrisis  in  Eng- 
land. Auf  dem  klassischen  Boden  der  Grossindustrie  würde 
Kohle  dieselbe  universelle  Rolle  als  Produktionsgut  spielen, 
wie  das  Geld  im  Tauschverkehre,  gäbe  es  nicht  anderes 
Gut,  das  der  Kohle  erst  zu  ihrer  allgemeinen  Wirksamkeit 
verhilft  — die  menschliche  Arbeit. 

Wer  den  Ausspruch  wagt,  dass  Englands  Grösse  in 
den  Eländen  einer  halben  Million  Kohlenbergarbeiter  ruht, 
macht  sich  daher  keiner  Uebertreibung  schuldig.  Von 
dem  Dampfe  des  Gesteins,  das  sie  zu  Tage  fördern,  rauchen 
seine  Fabriksschlote,  glühen  seine  Hochöfen,  dampfen  seine 
Lokomotiven,  seine  Schiffe;  die  Kohlenfrage  ist  die  Frage 
der  Getreideversorgung,  die  Frage  des  Freihandels,  der 
industriellen  Kapitalsanlage,  der  Weltstellung  und  der 


kolonialen  Machterweiterung  Englands ').  Wird  dieser 
Reichthum  je  versiegen  und  der  prophezeite  Niedergang 
Grossbritanniens  seinen  Anfang  nehmen?  Der  Schreiber 
dieser  Zeilen  erinnert  sich  noch  der  Bewegung,  mit  welchen 
man  vor  zwei  Jahren  in  einer  Sitzung  der  Statistical  Society 
zu  London  den  Ausspruch  des  gelehrten  Geologen 
Mr.  G.  G.  Chisholm  begleitete:  „English  coal,  we  may 

feel  sure,  will  never  be  exhausted“.  Der  Tag  wird  niemals 
kommen,  an  welchem  unsere  Bergleute  sagen  werden: 
„Wir  brauchen  nicht  mehr  hinabzufahren,  um  Kohle  zu 
fördern,  es  ist  nichts  mehr  da  unten“* 2).  Wie  aber,  wenn 
das  andere  Produktionsgut,  die  Arbeit,  zwar  nicht  versiegen, 
aber  zeitweilig  seine  Wirksamkeit  versagen  würde! 

Die  Folgen  wären  theilweise  dieselben,  und  die  Er- 
eignisse geben  uns  Gelegenheit,  sie  zu  beobachten.  Man 
weiss,  dass  eine  lange  Periode  der  Ruhe  in  den  englischen 
Kohlenrevieren  seit  Dezember  vorigen  Jahres  einer  leb- 
haften sozialpolitischen  Bewegung  gewichen  ist.  Ihr  Vor- 
spiel bildeten  die  Lohnreduktionen  in  Süd-Wales,  welche 
in  dieser  Zeitschrift  erst  kürzlich  geschildert  wurden.3)  Den 
Anstoss  zum  Preisfalle  der  Kohle,  der  zu  jenen  Vorgängen 
führte,  gab  die  Depression  des  Eisen-  und  Kohlenmarktes. 
Man  hatte  im  verflossenen  Jahre  auf  einen  steigenden  Ab- 
satz englischer  Eisenbahnschienen  nach  Argentinien  ge- 
rechnet,  dessen  Eisenbahnnetz  sich  stetig  erweitert  hatte. 
In  den  Nationalbankerott  der  aufblühenden  Republik  wurde 
nicht  nur  die  hohe  Finanz,  sondern  nunmehr  auch  die  Gross- 
industrie verwickelt.  Von  101  Hochöfen  in  Cleveland  allein 
wurden  Ende  1891  1 2 ausgeblasen ; viele  andere  beschränkten 
ihre  Produktion,  Ein  erbitterter  Konkurrenzkampf  ent- 
spann sich,  in  welchem  die  gefährdeten  Betriebe  sich  gegen- 
seitig unterboten. 

So  kam  es  zu  den  geschilderten  Lohnreduktionen  in 
Süd-Wales,  die  nach  langen  Berathungen  von  den  Ver- 
tretern des  Arbeitgebervereines  und  der  Süd- Wales  und 
Monmouthshire  Kohlenarbeiter-Föderation  bestimmt  wurden. 
Dieser  Verein  gehörte  bisher,  gleich  der  Miner’s  National 
Union,  welche  Northumberland,  Durham,  Nord-Yorkshire 
und  Cleveland  beherrscht,  der  Richtung  des  alten  Unionis- 
mus  insofern  an,  als  sie  im  Prinzipe  die  Regelung  der 


')  Nach  Price-Williams,Journ.R.  Stat.  Society,  1888  vertheilte 
sich  der  Kohlenkonsum  in  Prozenten  der  Jahresproduktion 
folgendermassen:  Industrie  23,58,  Haushaltungen  17,44,  Export 
1 6,4,  Eisen-,  Erz-  und  Stahlproduktion  15,11,  Schifffahrt  8,48, 
Kohlen-  und  Erzwerke  6,72,  Gasfabriken  5,87,  Lokomotiven  3,98, 
Wasserwerke  1,40,  Zinn-,  Kupfer-,  Blei-,  Zinkgiesserei  0,80, 
Kriegsdepartement  0,18. 

2 An  Examination  of  the  Coal  and  Iron  Production  of  the 
Principal  Coal  and  Iron  Producing  Countries  of  the  World  etc. 
By  George  G.  Chisholm.  Journ.  R.  Statist.  Soc.,  1890. 

3)  Vergl.  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  10  S.  131  lg. 


140 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  11. 


Löhne  durch  gleitende  Skalen,  Schlichtung  von  Streitig- 
keiten durch  Schiedsgerichte  und  Einführung  einer  acht- 
stündigen Schicht  auf  dem  Wege  der  Selbsthilfe  anstrebt. 
Aber  ein  Theil  der  Bergleute  von  Süd- Wales  und  Mon- 
mouthshire  war  unzufrieden  mit  der  getroffenen  Verständi- 
gung. Die  letzteren  gehörten  der  dritten  grossen  Kohlen- 
arbeiter-Verbindung an,  der  numerisch  grössten  und  radi- 
kalsten: der  Miner’s  Federation  of  Great  Britain.  ln  vielen 
Gruben  von  Monmouthshire  wurde  daher  den  ganzen  Januar 
hindurch  gestrikt. 

Am  2.  Januar  erfuhren  auch  die  Bergarbeiter  von 
Northumberland  einen  5prozentigen  Lohnabschlag;  die  Ar- 
beiter von  Durham  und  Westschottland  wurden  auf  10-  bis 
l5prozentige  Lohnreduktionen  vorbereitet.  Der  Vizepräsi- 
dent der  Miners’  Federation,  Mr.  S.  Woods,  besprach  diese 
Vorgänge  auf  der  zu  Hanley  (N.  Staffordshire)  abgehaltenen 
Jahresversammlung;  er  entrollte  das  Bild  des  stetigen,  und 
in  Folge  des  Vorhandenseins  eines  Fonds  von  einer  halben 
Million  Lstr.  gesunden  Wachstlmms  der  Föderation,  welche 
im  fahre  1888  nur  36  000  Mitglieder  zählte  und  gegenwärtig 
112.  Januar  1892)  178  513  Mitglieder  umfasst.  Die  Föderation 
könne  es  nicht  zugeben,  dass  ihre  Angehörigen  in  Süd- 
Wales  von  der  neuen  gleitenden  Skala  getroffen  werden. 
Diese  letztere  sei  auf  Preisen  aufgebaut,  die  durch  ein  paar 
Agenten  im  Unterbietungskampfe  herbeigeführt  worden 
seien.  Die  Vorschläge  der  Konferenz  sollten  dahin  gehen, 
die  Preise  aufrecht  zu  halten  und  die  Reduktion  einzu- 
schränken. Das  beste  Mittel  wäre,  nur  fünf  Tage  in  der 
Woche  zu  arbeiten.  Andere  Redner  wiesen  darauf  hin, 
dass  die  bestehende  Depression  der  Kohlenpreise  dadurch 
entstanden  sei,  dass  einige  Kohlenbesitzer  zu  Verräthern 
(blacklegs)  ihrer  eigenen  Vereinigung  geworden  seien  und 
zu  Spottpreisen  Kontrakte  mit  Eisenbahn-  und  Gaskompag- 
nien geschlossen  hätten;  sollten  die  Arbeiter  diesen  Gesell- 
schaften zu  12  und  30%  Dividenden  verhelfen?  Das 
beste  wäre  einfach,  man  könne  es  nicht  gerade  striken 
nennen,  — aber  auf  hören  zu  produziren.1)  Am  3.  Februar 
beschloss  die  Konferenz  zu  Birmingham,  nach  dem  Ein- 
treffen neuer  Hiobsposten  aus  Forest  of  Dean  und  Lancashire, 
eine  allgemeine  Bergarbeiterkonferenz  zur  Berathung  einer 
allgemeinen  Arbeitseinstellung  für  den  11.  nach  Manchester 

o o 

einzuberufen. 

In  Yorkshire,  Lancashire  und  Cheshire,  Staffordshire, 
Derbyshire,  Nottinghamshire,  Cumberland,  Nordwales  und 
Leicestershire  schlossen  sich  mit  überwältigender  Majorität 
die  Logen  der  Bewegung  an.  Am  6.  Februar  ergab  die 
Rechnungslegung  des  Sliding  Scale  Comittee  von  Süd- Wales 
und  Monmouthshire  eine  neuerliche  Lohnreduktion  von  2l/2%5 
also  im  Ganzen  seit  Jahresbeginn  von  10%.  Unter  diesen 
Auspizien  trat  die  Konferenz  zu  Manchester  zusammen; 
ihre  66  Delegirten  vertraten  175  485  Bergarbeiter.  Auf  An- 
trag des  Mr.  S.  H.  Whitehouse  wurde  einstimmig  der  Be- 
schluss gefasst,  eine  allgemeine  Arbeitseinstellung  der  Berg- 
arbeiter zu  veranlassen,  deren  Beginn  mit  dem  12.  März 
festgesetzt  wurde;  über  ihre  Dauer  sollte  eine  für  den 
16.  März  nach  London  einzuberufende  Konferenz  die  Ent- 
scheidung fällen.  Am  Schlüsse  der  Konferenz  hielt  Miss 
Beatrice  Potter,  die  in  England  durch  ihre  Forschungen 
über  Schwitzsystem  und  Genossenschaftswesen  rühmlichst 
bekannt  ist,  einen  Vortrag  über  Organisation  und  Föde- 
ration der  Arbeiter. 

Zur  Vertheidigung  des  Konferenzbeschlusses  wurde 
vielfach  darauf  hingewiesen,  dass  die  Kohlendepression  im 
Fortschreiten  begriffen  sei,  wie  man  aus  den  in  den  Zeitungen 

t)  Diese  „restriktive  Politik'1  wurde  bereits  von  R.  Chisholm 
Robertson,  Sekretär  der  Forth  & Clyde  Valley  Miners’  Asso- 
ciation vor  mehreren  Jahren  propagirt.  Vergf.  Krümmer  und 
Nasse,  Die  Bergarbeiterverhältnisse  in  Grossbritannien,  S.  130. 


angekündigten  Kohlenverkäufen  „um  jeden  Preis“  entnehmen 
könne;  dass  daher  bei  weiterem  Zuwarten  die  Rechnungs- 
legung für  das  erste  Jahresquartal  eine  neuerliche  unerträg- 
liche Lohnherabsetzung  erwarten  lasse.  Die  Aussichten 
einer  Verbindung  mit  anderen  Arbeiterkategorien,  wie  der 
Kohlenträger  in  London  und  auf  den  Werften,  seien  günstig. 
Der  Präsident  der  Miners  Federation,  Mr.  B.  Pickard  M.  P., 
rechnet  auf  eine  Betheiligung  von  300  000  Strikenden  gegen 
190  000  Gegner  des  Strikes.  Den  Einwänden  der  Citypresse 
gegenüber,  dass  es  nationalökonomisch  unmöglich  sei,  durch 
Arbeitseinstellung  dauernd  die  Preise  zu  heben  und  die 
Löhne  dadurch  zu  festigen,  blieb  der  Führer  der  Strike- 
Partei  taub.  „Die  Arbeitgeber  haben  nur  dann  Anerken- 
nung für  die  Nationalökonomie,“  sagte  er,  „wenn  sie  eine 
Lohnerniedrigung  brauchen“. 

Nach  Schluss  der  Konferenz  verwarfen  auch  die  Berg- 
leute von  Durham,  die  dahin  keinen  Vertreter  entsendet 
hatten,  mit  41  897  Stimmen  die  Vorschläge  einer  lOprozen- 
tigen  Lohnreduktion  und  der  Entscheidung  durch  ein 
Schiedsgericht.  Die  Kohlenbesitzer  dieses  Bezirkes  drohten 
darauf  am  15.  Februar  mit  14 tägiger  Kündigung,  boten 
aber  noch  am  4.  März  einen  nur  5%  betragenden  Lohn- 
abschlag an.  So  blieben  denn  nur  Süd- Wales  und  Nor- 
thumberland, sowie  ein  Theil  von  Schottland  von  der 
„Wochenfeierbewegung“  unberührt.  Auch  in  Süd-Stafford- 
shire  und  Ost-Worcestershire  beschloss  man,  an  derselben 
nicht  theilzunehmen.  In  Leeds  (Yorkshire)  wurde  noch  zu 
Beginn  des  Monats  von  der  Association  der  Bergarbeiter 
der  Versuch  gemacht,  mit  den  Bergwerksbesitzern  sich 
über  kürzere  Arbeitszeit  und  Bestrafung  jedes  Arbeitgebers 
zu  verständigen , der  Kohlen  unter  einem  festgesetzten 
Preise  verkaufen  würde.  Der  Plan  erwies  sich  aber  als , 
undurchführbar. 

Indessen  machte  sich  der  Ernst  der  Lage  auf  dem 
Kohlenmarkte  deutlich  fühlbar.  Ende  Februar  kündigten 
Londoner  Kohlenfirmen  bereits  an,  dass  90  unter  100  Firmen 
nur  für  6 Tage  Vorrat  besässen.  Kohle,  die  am  25.  Februar 
noch  25  Sh.  per  Tonne  bezahlt  wurde,  notirte  am  26.  aut 
der  Kohlenbörse  26  Sh.;  im  Detailhandel  dagegen  betrug 
die  Steigerung  5 Shillings.  Am  5.  März  betrug  der  Gross- 
handelspreis 34  Sh.,  war  also  um  8 Sh.  seit  Beginn  der 
Krise  gestiegen;  im  Detailhandel  war  der  Preis  der  Kohle' 
in  demselben  Zeiträume  um  10  Sh.  in  die  Höhe  gegangen. 
Diese  Kohlenpanik  trifft  nicht  nur  in  der  schwersten  Jahres- 
zeit die  ärmeren  Volksklassen  sehr  hart,  sondern  wird  vor- 
aussichtlich die  Aussperrung  eines  grossen  Teiles  der  In- 
dustriearbeiter in  den  Metall-,  Waggon-,  Glas-,  chemischen, 
Salzwerken,  sowie  Entlassungen  von  Eisenbahnarbeitern 
zur  Folge  haben,  wenn  der  Strike  gegen  Erwarten  länger 
als  eine  Woche  dauern  sollte. 

Während  so  für  die  kommende  Märzwoche  der  Aus- 
blick ein  ernster  ist,  bietet  es  dem  englischen  Sozialpolitiker 
eine  gewisse  Beruhigung,  für  die  Erforschung  der  Zustände 
der  Bergarbeiter  und  die  Klarstellung  ihrer  Forderungen 
das  seinige  geleistet  zu  haben.  Alle  Parteien  sind  von  der 
Royal  Commission  on  Labour  öffentlich  verhört  worden, 
und  ihre  Aussagen  werden  einen  authentischen  Kommentai 
für  die  nächste  Zukunft  bilden. 

Gewisse  Forderungen  sind  allen  Parteien  gemeinsam 
und  auch  dem  deutschen  Leser  bekannt.1)  Dahin  gehört 
erstens  die  Erlassung  eines  Haftpflichtgesetzes,  welches  die 
vielfach  übliche  Praxis  der  Unternehmer,  sich  der  Ent- 
schädigungspflicht  durch  Beitragsleistung  zu  freien  Hilts- 
kassen  zu  entziehen,  unmöglich  machen  soll.  \\  as  die 

i)  Yergl.  Schulze-Gävernitz.  Zum  sozialen  Frieden  Bd. .11  J 
und  insbesondere  Krümmer  und  Nasse,  Die  Bergarbeiterverhält- 
nisse in  Grossbritannien.  1891. 


No.  11. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


141 


Wirksamkeit  des  bestehenden  Gesetzes  betrifft,  so  zeigte 
die  von  einem  Vertreter  von  Durham  angeführte  Statistik 
die  günstigsten  Resultate2)  (no.  576).  Nichtsdestoweniger 
ist  die  Thatsache,  dass  angeblich  für  60  000  Kohlenarbeiter 
das  Haftpflichtgesetz  in  der  angeführten  Weise  ausge- 
schlossen ist  (888,  1007)  Beweggrund  genug,  eine  Reform 
auf  diesem  Gebiete  zu  verlangen.  Die  zweite  Forderung: 
Vermehrung  der  Bergwerkinspektoren,  eventuell  Wahl  der- 
selben aus  den  Reihen  der  Arbeiter  findet  in  der  Ueber- 
biirdung  der  gegenwärtigen  Aufsichtsbeamten  ihre  volle 
Erklärung. 

Der  Gegensatz  zwischen  der  alten  und  neuen  Richtung 
tritt  insbesondere  in  den  Meinungsverschiedenheiten  über 
die  Festsetzung  der  Schichtdauer  und  die  Entscheidung  von 
Lohnstreitigkeiten  zu  Tage.  Beseitigung  der  gleitenden 
Skalen  als  eines  bedrückenden  Lohnsystems,  gesetzlicher 
Achtstundentag  von  der  Einfahrt  bis  zur  vollendeten  Rück- 
fahrt (eight  hours  from  bank  to  bank  by  act  of  Parliament) 
und  fünftägige  Arbeitszeit  in  der  Woche  sind  die  Haupt- 
postulate  der  Anhänger  der  Miners’  Federation  Bekannt- 
lich herrscht  faktisch  ein  Arbeitstag  von  acht  und  selbst 
weniger  Stunden  in  den  Gruben  jener  Bezirke,  wo  die 
Bergleute  einer  gesetzlichen  Regelung  sich  bisher  widersetzt 
haben;  weniger  bekannt  ist,  dass  diese  Stundenverkürzung 
im  Jahre  1872  durch  Strike  erwirkt  und  dass,  damals  eine 
337-jProzentige  Lohnerhöhung,  welche  von  den  Arbeitgebern 
bei  Fortsetzung  der  bisherigen  Schichtdauer  angeboten 
worden  war,  zurückgewiesen  wurde. 

Ueber  die  Anschauungen  der  neuen  Richtung  gibt  die 
Vernehmung  Mr.  George  Jacques’ bisher  die  beste  Auskunft. 
Er  ist  Mitglied  der  Northumberland  Miners’  Association, 
aber  mit  ihrem  Vorgehen  nicht  zufrieden.  Kürzung  der 
Arbeitsdauer,  vor  Allem  der  jugendlichen  Personen,  durch 
Gesetz  zieht  er,  nach  den  Erfahrungen,  die  er  in  Strike- 
zeiten  gemacht , jener  durch  Selbsthilfe  vor.  Um  die 
Schwierigkeit  einer  einförmigen  Regelung  der  Arbeitszeit 
in  Bezirken  zu  beheben,  welche  eine  kürzere  und  solchen, 
welche  eine  längere  als  die  achtstündige  Schicht  besitzen, 
schlägt  er  die  Annahme  dreifacher  sechsstündiger  Häuer- 
und  doppelter  achtstündiger  Förderschichten  für  Knaben 
vor  (No.  3306 — 3593).  Der  Vorzug  dieses  Plans  wäre  ausser 
seiner  Elastizität  die  Erhöhung  der  Kohlenförderung  und 
bei  gleichen  Löhnen  die  Verbilligung  der  Kohlen  für  die 
Konsumenten.  Denselben  Effekt  hätte  aber  ein  Gesetz, 
welches  das  Arbeitsalter  der  Knaben  in  Kohlenwerken  von 
16  auf  18  oder  21  Jahre  steigern  würde.  Darin  stimmt  der 
neue  Unionist  mit  den  parlamentarischen  Vertretern  der 
alten  Richtung,  Burt  und  Abraham,  überein. 

Alle  Details  dieses  Planes  und  die  Aussichten  seiner 
Verwirklichung  können  hier  nicht  besprochen  werden. 
Nur  so  viel  soll  zur  Charakteristik  der  gegenwärtigen 
Bergarbeiterpolitik  noch  bemerkt  werden:  sie  neigt 

überall  dort,  wo,  wie  in  Schottland,  der  Unionismus 
auf  schwachen  Füssen  steht,  der  gesetzlichen  Intervention 
zu.  In  diesen  Bezirken  sind  noch  die  missbräuch- 
lichen Abzüge  für  Repariren  des  Gezähes,  das  Streichen 
unreiner  Wagen  bei  der  Lohnberechnung,  die  Subkontrakte 
häufige  Vorkommnisse.  Das  Interesse  an  all  diesen  Reform- 
fragen überragt  jedoch  der  Schutz  der  jugendlichen  Per- 
sonen gegen  allzufrühe  Inanspruchnahme  ihrer  Kräfte,  die 
Fernhaltung  des  Zuströmens  ungelernter  Arbeiter,  die  mög- 
lichste Schonung  und  Sicherung  der  Erwachsenen  vor  Un- 
fällen in  dem  gefährlichsten  aller  Berufe.  Und  so  viel  hier 
noch  der  englische  Gesetzgeber  zu  wirken  vermag,  so  gross 

2 Die  Zahl  der  Unfälle  mit  tödtlichem  Ausgange  betrug: 
1851  1 unter  223,  1860  (amending  Act.)  1 unter  258,  1872  t neuer 
am.  Act.'  1 unter  312,  1872  (Miners  Regulation  Act.)  bis  1887 
1 unter  553. 


ist  der  Fortschritt  seit  zwanzig  Jahren.  Von  12stündiger 
Kinderarbeit,  von  einjährigen,  leibeigenschaftsähnlichen 
Kontrakten,  vom  System  der  fünfwöchentlichen  Lohnzahlung 
für  vier  wöchentliche  Arbeit  hat  er  den  englischen  Berg- 
arbeiter befreit  Bei  ihrer  jetzigen  Machtstellung  haben  die 
Führer  der  englischen  Bergarbeiter  wohl  die  volle  Verant- 
wortlichkeit  für  die  Märzereignisse  zu  tragen ; aber  selbst 
ein  Misserfolg  würde  auf  die  Dauer  nur  zu  einer  schärferen 
Handhabung  des  Gesetzgebungsapparates  zu  ihren  Gunsten, 
zu  einer  von  gesetzeswegen  restriktiven  Arbeiterpolitik 
führen. 

Stephan  Bauer. 


Soziale  Wirthschaftspolitik. 

Die  Wiener  Verkehrsanlagen  und  die  Arbeiter. 

In  starkem  Anlauf  will  das  neugeschaffene  Gross-Wien 
nachholen,  was  zwei  Jahrzehnte  politischen  und  Wirtschaft  - 
lichen  Stillstandes  versäumt  haben.  Oesterreich  ist  der 
konservativste  Staat,  aber  gerade  er  musste,  um  nicht  die 
Fäulniss  des  Stillstandes  über  sich  zusammenschlagen  zu 
lassen,  zeitweise  mit  gewaltigem  Ruck  in  die  Bahnen  des 
Fortschritts  einlenken.  So  rüstet  sich  jetzt  die  Stadt  Wien 
und  mit  ihr  der  Staat  wie  das  Land  Niederösterreich,  um 
die  alte  Metropole,  welche  in  ihrem  Kommunikationswesen 
hinter  London  und  Berlin  und  selbst  hinter  kleineren 
Städten  zurückgeblieben  ist,  mit  einem  Netz  von  Schienen- 
strängen, mit  Hafenanlagen  und  mit  einem  Hauptstock 
grossartiger  Unrathskanäle  zu  versehen  Der  Plan  ist  um- 
fassend genug.  Die  innere  Stadt  soll  rings  mit  einem 
Schienengürtel  umgeben  werden;  auch  das  Klein -Wien  mit 
seinen  800000  Einwohnern  wird  fast  seiner  ganzen  Peripherie 
nach  eine  Eisenbahnlinie  erhalten;  und  dann  werden  zu 
der  einen  bestehenden  Halbmesserlinie  noch  drei  andere 
Radialbahnen  gebaut,  so  dass  das  Problem,  von  überall 
nach  überall  mit  dem  Dampfwagen  eilen  zu  können,  seiner 
Erfüllung  ziemlich  nahe  kommt.  Denn  auch  der  Eisenring, 
welcher  Wien  an  seinen  äussersten  Grenzen  jetzt  bereits 
umzieht,  soll  in  seinen  letzten  Lücken  ausgebaut  werden. 
Dies  alles  soll  zum  grossen  Theile  schon  1897  beendet  sein. 
Dazu  kommt  die  Umwandlung  des  schmalen,  Wien  durch- 
ziehenden Donauarms  in  einen  Hafen,  wodurch  man  den 
darniederliegenden  Donauhandel  heben  will.  Gewaltige 
Summen  kommen  da  in  Cirkulation.  Zur  Ausführung  des 
gesammten  umfassenden  Planes  ist  die  Summe  von  131,2 
Millionen  Gulden  nothwendig,  wovon  bis  1900  jedenfalls  103,7 
Millionen  verwendet  sein  werden.  Schon  hat  das  Ministerium 
beim  Parlamente  einen  Kredit  von  41  Millionen  Gulden  ange- 
sprochen, so  dass  mit  demZuschuss  dervonder  StadtWien  und 
dem  Lande  Niederösterreich  bewilligten  Summen  der  Bau  be- 
reits im  Sommer  dieses  Jahres  beginnen  soll.  Nicht  bloss 
dem  eigentlichen  Verkehrszwecke  wird  dadurch  entsprochen; 
der  Plan  geht  dahin,  in  das  stockende  Erwerbsleben  Wiens 
einen  Anstoss  zu  bringen,  so  dass  von  diesem  Mittelpunkte 
aus  Arbeit  und  Verdienst  nach  allen  Seiten  gefördert  werden. 
Laute  Klage  ward  in  den  letzten  Jahren  erhoben,  dass  der 
Staat  die  Entwickelung  Wiens  in  keiner  Weise  begünstige, 
während  die  Stadt  durch  die  Zweitheilung  der  Monarchie, 
sowie  durch  die  wachsende  Selbstständigkeit  der  Provinzen 
in  ihrer  Bedeutung  bedroht  ist. 

Von  dem  Entwürfe  dieser  grossen  Bauten  an  war  die 
Arbeiterschaft  mit  der  Frage  beschäftigt,  welche  Rückwir- 
kung dieselben  auf  ihre  wirtschaftliche  Lage  üben  werde. 
Bis  Ende  1 897  sollen  schon  65  Millionen  verwendet  sein,  und 
ein  allgemeiner  Ueberschlag  geht  nun  dahin,  dass  etwa  ein 
Drittheil  dieser  Summe  an  Arbeitslöhnen  für  Wiener  Arbeiter 
verausgabt  werden  dürfte,  während  der  Rest  theils  ausser- 
halb Wiens  in  den  verschiedenen  Etablissements  auszugeben 
ist,  theils  als  Unternehmergewinn  in  Rechnung  kommt 


142 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAJ  BLATT. 


No.  11. 


Vertheilt  man  die  Summe  von  22  Millionen  Gulden  aut  die 
fünf  Jahre  von  1892  bis  1897,  so  entfallen  auf  jedes  Jahr 
etwa  4l/2  Millionen.  Nun  wird  der  Tagelohn  für  die  in 
Wien  verwendete  Menschenmenge  zwischen  82  Kreuzer  und 
1 fl.  50  Kr.  schwanken,  da  nicht  bloss  die  zahlreichen  weib- 
lichen, sondern  auch  die  männlichen  Arbeiter  aus  Italien, 
Nordungarn  und  Böhmen  ihre  Arbeit  zu  einem  niedrigen 
Preise  zu  verdingen  bereit  sind.  Greift  man  selbst  sehr 
hoch,  so  wird  man  auf  einen  mittleren  Jahreslohn  von 
400  fl.  für  jede  beschäftigte,  im  Lohnverhältnisse  stehende 
Person  rechnen  können,  so  dass  durchschnittlich  1 2 000 
Menschen  an  den  grossen  Werken  beschäftigt  sein  werden. 
Es  ist  dies  gegenüber  der  Bevölkerung  einer  Stadt  von 
1 300  000  Einwohnern  keine  nennenswerth  grosse  Anzahl, 
so  dass  sich  schon  aus  dieser  Rechnung  ergibt,  dass  man 
die  Bedeutung  der  Arbeiten  für  Lohnverhältnisse  und  wirth- 
schaftliches  Leben  in  Wien  gewöhnlich  überschätzt.  Es 
ist  unzweifelhaft,  dass  die  Summe  der  Arbeitslosen  in  Wien 
unendlich  grösser  ist,  als  die  Anzahl  von  Personen,  die  bei 
den  Verkehrsanlagen  Beschäftigung  finden  können.  Jüngst 
wurde  in  den  Zeitungen  eine  Berechnung  veröffentlicht, 
welche  von  dem  Sekretär  des  Vereins  für  Arbeitsvermitte- 
lung, Herrn  Bardorf,  ausging,  nach  der  sich  von  den 
200  000  gelernten  Arbeitern  Wiens  nicht  weniger  als  40  000 
ausser  Verdienst  befinden  Und  dabei  bedenke  man  noch  die 
ungeheure  Anzahl  ungelernter  Arbeiter,  welche  ihre  Arbeits- 
kraft zu  den  verschiedensten  Beschäftigungen  anbieten,  da  sie 
kein  Handwerk  gelernt  haben  oder  schon  seit  so  langer  Zeit 
aus  demselben  wieder  hinausgeworfen  sind,  dass  sie  es  nicht 
mehr  auszuüben  vermögen.  Einzelne  Angaben  der  Berech- 
nung sind  zwar  von  kundigen  Beurtheilern  angezweifelt 
worden,  besonders  deshalb,  weil  die  Anzahl  der  gelernten 
Arbeiter  in  einzelnen  Geschäftszweigen  viel  höher  angesetzt 
wurde,  als  nach  der  Summe  der  betreffenden  industriellen 
Betriebe  eigentlich  anzunehmen  wäre  Es  zeigt  sich  aber 
hier  wieder  der  schwere  Mangel  der  modernen  Verwaltung, 
welche  den  Staat  und  die  Wirthschaft  des  Volkes  lenken 
will,  ohne  über  eine  genügende  Arbeitsstatistik  zu  verfügen, 
ohne  auch  nur  im  Entferntesten  die  Grundlagen  zu  kennen, 
auf  denen  sie  gesetzgeberische  Massregeln  zu  treffen  hat. 
Aber  so  lückenhaft  auch  trotz  aller  Büreaukratie  und  alles 
Schreibewesens  unsere  Kenntniss  .der  nächsten  und  wich- 
tigsten Verhältnisse  beschaffen  sein  mag,  so  steht  fest,  dass 
der  Bau  von  Verkehrsanlagen  vielleicht  durch  den  Antrieb, 
der  von  ihm  aus  gegeben  werden  mag,  von  Bedeutung  sein 
kann,  dass  er  aber,  wie  die  nackten  Ziffern  beweisen,  an 
sich  -wenig  zur  Linderung  des  Nothstandes,  zur  Massen- 
beschäftigung der  Arbeitslosen  wird  beitragen  können.  In 
dieser  Richtung  ist  in  Wien  viel  übertrieben  worden  und 
zwar  vielleicht  am  meisten  von  Denjenigen,  welche  die 
wohlmeinende  Absicht  hegten,  durch  eine  optimistische 
Darstellung  die  herrschende  Niedergeschlagenheit  zu  be- 
kämpfen und  den  fröhlichen  Glauben  zu  erwecken,  dass 
neues  wirthschaftliches  Leben  in  die  österreichische  Haupt- 
stadt einziehen  werde. 

Dennoch  musste  die  sozialdemokratisch  organisirte 
Arbeiterschaft,  da  mit  den  neuen  Bauten  das  Schicksal  von 
Tausenden  ihrer  Brüder  verknüpft  sein  wird,  rechtzeitig 
daran  denken,  das  Loos  derselben  in  Bezug  auf  die  Arbeits- 
löhne und  auf  den  Arbeiterschutz  zu  sichern  und  zu  bessern. 
Der  weitfliegende  Plan,  dass  die  Wiener  Gewerkschaften 
sich  als  Unternehmerverbände  konstituiren  und  selbst  Bau- 
loose zur  Ausführung  übernehmen  sollten,  konnte  freilich 
bei  den  stattgehabten  Besprechungen  nur  gestreift  werden, 
weil  die  Organisation  nicht  weit  genug  fortgeschritten  ist. 
In  Paris  allerdings  haben  die  Syndikate  der  Bauarbeiter 
durch  den  sozialistisch  angehauchten  Gemeinderath  so  viel 
Förderung  erfahren,  dass  die  Arbeiten  der  Stadt  zum  grossen 
Theile  direkt  an  die  Arbeiterverbände  vergeben  werden. 
In  Wien  nun  ist  speziell  die  Genossenschaft  der  Maurer 
und  Steinmetze  gespalten,  da  in  der  staatlich  organisirten 
Innung  die  Meister  überwiegenden  Einfluss  üben,  dem  sich 
nur  ein  Theil  der  Gehilfen  fügt.  Die  auf  eigenen  Füssen 
stehende  Gewerkschaft  aber  hat  weder  an  Zahl  noch  an 
Kraft  genügende  Bedeutung,  um  sich  an  die  Spitze  einer 


solchen  Unternehmung  stellen  zu  können.  So  mussten  sich 
denn  die  Arbeiter  mit  bescheideneren  Hoffnungen  und 
Forderungen  begnügen.  Die  von  der  sozialdemokra- 
tischen Partei  beeinflusste  „Gewerkschaft  der  Maurer 
und  Steinmetze  Niederösterreichs“  veranstaltete  am 
24.  Januar  eine  Versammlung,  in  welcher  demgemäss  die 
Forderungen  der  Arbeiter  festgestellt  wurden.  Sie  ver- 
langen vor  Allem  für  einfache  Handlangerarbeiten  bei 
Demolirungen  und  Erdbewegungen  einen  Minimallohn 
(Grundlohn)  von  1 fl.  30  Kr.  (2  Mk.  20  Pfg.)  bei  einem 
Arbeitstage  von  zehn  reinen  Arbeitsstunden.  Weiter  wird 
die  Forderung  gestellt,  dass  sich  die  den  Bau  ausführende 
Kommission  mit  den  Vertretungen  der  Arbeiter  zu  einigen 
habe  über  die  Festsetzung  eines  Minimallohntarifes  und 
einer  Maximalarbeitszeit.  Der  dritte  Wunsch  zielt  ab  auf  die 
Ausdehnung  der  herrschenden  Arbeiterschutzgesetzgebung 
von  den  gelernten  Arbeitern,  auf  welche  sich  die  verschie- 
denen Bestimmungen  über  die  Einschränkung  der  Frauen- 
und  Kinderarbeit  etc.  beziehen,  auf  die  Handlanger  und 
Erdarbeiter,  welche  von  dem  Gewerbegesetze  ausdrück- 
lich ausgenommen  sind.  Mit  diesen  Forderungen  sind  die 
Arbeiter  bereits  an  den  Gemeinderath  der  Stadt  Wien  und 
an  den  Reichsrath  herangetreten. 

Im  Gemeinderath  fand  dieses  Programm  wenigstens 
theilweise  Anerkennung.  Diese  Körperschaft  beschloss  im 
Anhang  zu  der  Votirung  des  auf  sie  entfallenden  Theiles 
der  Baukosten,  dass  der  Regierung  nahegelegt  werde,  sie 
solle  die  Arbeiters!  hutzgesetzgebung  auf  alle  bei  den  Ver- 
kehrsanlagen  beschäftigten  Arbeiter  ausdehnen.  Dieser 
Beschluss  wurde  von  dem  Antragsteller  dahin  motivirt,  dass  . 
ohne  Frage  in  dem  Zeiträume  von  1892  bis  1897  mannig- 
fache Lohnkrisen  und  Arbeitsausstände  eintreten  könnten;  , 
der  Gemeinderath  müsse  zeigen,  dass  er  von  vornherein 
bereit  gewesen  sei,  gerechten  Forderungen  der  Arbeiter 
entgegenzukommen.  Im  Reichsrathe  kamen  die  Verkehrs-  ;| 
anlagen  noch  nicht  zur  Berathung.  Nur  der  Ausschuss  < 
desselben  beschäftigte  sich  vorerst  mit  dem  Entwurf.  In 
diesem  nahm  der  jungtschechische  Abgeordnete  Kaizl  die  ' 
Forderungen  der  Arbeiter  auf.  Er  konnte  aber  mit  den- 
selben nicht  durchdringen.  Doch  erklärte  der  Abgeordnete 
Bärnreither  namens  der  deutsch-liberalen  Mitglieder  des  ' 
Ausschusses,  dass  er  ohnedies  beabsichtige,  unmittelbar  j 
nach  Ostern  einen  Gesetzentwurf  einzubringen,  welcher  die  i 
Frage  der  Ausdehnung  der  Arbeiterschutzgebung  auf  die  ‘ 
Erdarbeiter  und  die  Handlanger  nicht  bloss  nebenbei,  son- 
dern grundsätzlich  regeln  solle.  Jedenfalls  hat  dieser  Ent- 
schluss grösseren  Werth  als  die  Fassung  einer  an  sich 
werthlosen  Resolution  des  Abgeordnetenhauses. 

Die  Arbeiterfrage  wird  auf  österreichischem,  besonders 
auf  dem  Wiener  Boden  verwirrt  durch  die  stete  Einwande- 
rung billiger  Arbeitskräfte:  denn  Wien  liegt  an  der  Schwelle 
des  menschenreichen,  industriearmen  Ostens,  es  ist  die 
Hauptstadt  eines  Reiches,  in  welchem  der  grosse  Grundadel 
noch  jetzt  eine  überwiegende  Macht  ausübt,  so  dass  aut 
seinen  Gütern  in  Böhmen  und  Mähren  ein  Arbeitslohn 
von  30,  40  bis  50  Ivr  gewöhnlich  ist,  was  zum  Zuströmen 
billiger  Arbeitskraft  nach  Wien  und  zum  Unterbieten  des 
gewöhnlichen  Arbeitslohnes  führt.  Das  ist  die  wichtigste 
Ursache  der  politischen  und  wirthschaftlichen  Nothlage  des 
Wiener  Arbeiters;  er  muss  die  Zuzügler  aus  den  Provinzen 
erst  nothdürftig  für  seine  Organisation  gewinnen.  Die 
Erdarbeit  besorgen  billige  italienische  und  friaulische  Ar- 
beiter aus  Oberitalien,  aus  den  Küstenländern;  Tschechen 
und  Slovaken  werden  sich  auch  zu  den  Eisenbahn-  und 
Hafenbauten  Wiens  drängen.  Die  antisemitische  Minorität 
im  Wiener  Gemeinderathe  hat  eine  auf  den  ersten  Blick 
bestechende  Forderung  in  die  Massen  zu  werten  gesucht: 
sie  verlangte  den  Ausschluss  aller  Nichtösterreicher,  also 
insbesondere  der  Italiener  und  der  ungarischen  Slovaken, 
von  den  Wiener  Arbeiten.  Darauf  ist  die  sozialdemokra- 
tische Partei  in  Wien  nicht  eingegangen,  da  sie  eine  solche 
nationale  Abschliessung  verwirft,  vielmehr  eine  Hebung  des 
Lohnniveaus  aller  Arbeiter  anstrebt.  Und  so  spiegelt  die 
Wiener  Lohnpolitik  alle  die  Fragen  und  Gegensätze  wider, 
von  welchen  Europa  bewegt  wird.  Der  internationale 


No.  II 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


143 


| Charakter  der  grossen  Bewegung  lässt  sich  nicht  abweisen. 
Ist  doch  auch  der  Hunger  international,  der  nach  dem  Miss- 
rathen  der  russischen  Ernte  und  der  Steigerung  des  Weizen- 
! preises  von  8 auf  I I fl.  in  den  arbeitslosen  Massen  wüthet. 
i Ein  sezessionistiseher  Zweig  der  sozialistischen  Partei  n 
Wien  hat  es  unternommen,  durch  Brotvertheilungen,  welche 
auf  Wohlthätigkeitssammlungen  beruhen,  der  ärgsten  Noth 
zu  steuern,  — aber  vergebens  ringt  mit  so  kleinen  Mitteln 
das  menschliche  Erbarmen  gegen  das  unermessliche  mensch- 
jj  liehe  Elend. 

Wien.  Heinrich  Friedjung. 


Städtische  Sozialpolitik  in  England. 

Das  Y erst  ad  1 1 iqßu  ngspjogramm  der  Eabisched  Gesell- 
schaft in  London,  welches  angesichts  des  Sieges  der  Reform- 
partei bei  den  soeben  stattgefundenen  Wahlen  zum  Lon- 
doner Grafschaftsrath  (Stadtrath)  erhöhtes  Interesse  gewinnt, 
ist  in  acht  kürzlich  erschienen  Pamphleten  enthalten.  Das 
erste,  „The  Unearned  Incremenl“  betitelt,  beschreibt  das 
Wachsthum  der  Bodenrente  Londons.  Es  betrug  nach  offi- 
ziellen Berichten  (Local  Government  Board  for  1891  c — 6460 
und  County  Council  Report) 


am  6.  April 


der  Bruttomiethswerth 
der  Metropolis 


Zunahme  gegen  das  Vorjahr 
(Jährlicher  Miethswerth) 


1871 

24  103  083 

Lstr 

1876 

27  602  649 

1881 

33  384  851 

1886 

37  027  516 

5) 

1891 

39  835  700 

>5 

1 960  377  Lstr 

2 028  283  „ 

2 963  780  „ 

1 338  282  „ 

1 373  207  „ 


Nach  Abzug  des  durch  Neubauten  von  1871  — 1891 
entstandenen  Werthzuwachses  von  17  693  004  Lstr.  bleibt 


das,  wie  Stuart  Mill  und  Thorold  Rogers  sagen,  „vom  Land- 
lord im  Schlafe  gewonnene  arbeitslose  Einkommen“  übrig; 
es  betrug  in  den 


Jahren  1871  1876  1881  1886  1891 

Lstr.  1458  560  1526  466  2 461963  836  465  871  390. 


In  den  letzten  20  Jahren  betrug  dasselbe  also  7 154  834 
| Lstr.,  gleich  einem  Kapital  von  hundertzehn  Millionen  Pfund 
; Sterling.  „Dies  ist  die  fürstliche  Gabe  des  Londoner  Ar- 
beiters an  den  Londoner  Grossgrundbesitzer“.  Erweitert 
man  diese  Proportion  von  17  693  004  Lstr.  des  durch  Neu- 
bauten erzielten  Werthzuwachses  zu  dem  arbeitslosen  Ein- 
kommen von  7 154  834  Lstr.  auf  ganz  London,  so  würden 
im  jährlichen  Ertrage  von  40  Millionen  Pfund  i6  Millionen 
auf  die  Bodenrente  allein  entfallen,  gleich  8 sh.  per  Woche 
und  Familie.  Die  Fabier  schlagen  vor,  dieselbe  durch  eine 
lOprozentige  städtische  Immobiliarerbschaftssteuer  zu  ab- 
sorbiren  und  daraus  alle  sozialpolitischen  Aufgaben  der 
Gemeinde  zu  bestreiten.  Denn  diese  besitzt  hierfür  keine 
genügenden  Fonds. 

Das  grösste  Hinderniss  für  munizipale  Reform  bildet  die 
i schwere  Last  der  Gemeindesteuern,  der  „Rates“.  Dagegen 
besitzen  die  alten  städtischen  Gilden  ein  bedeutendes  Ver- 
mögen; ihre  Rolle  und  Vermögensgebahrung  schildert  No.  2. 
London’ s Heritage  in  the  City  Guilds.  Von  den  fünf 
i grössten  Innungen  verwendeten  im  Jahre  1879  die  Mercers 
| (bei  einem  Einkommen  von  47  341  Lstr.)  8766  Lstr.  auf  Ge- 
bühren, 4909  Lstr.  auf  Gelage  und  Festlichkeiten;  die 
| Grocers  (bei  einem  Emkotnmen  von  37  236  Lstr.)  762  Lstr. 
auf  Gebühren,  6014  Lstr.  auf  Gelage  und  Festlichkeiten. 

Es  betrug  nach  dem  Royal  Commission  Report  c -4073, 
vol.  IV: 


Das  Gesammteinkommen 


Zwölf  grosse  Innungen  . 510  760  Lstr. 

„ grössere  unter  den 

kleinen  . . . 108  226  „ 

Fünfzig  kleine.  ....  50000  „ 


Zahl  der  Mitglieder 

2715 

1496 

3500 


Schon  der  Royal  Commission  Report  von  1884  ver- 
langte eine  Reform  in  der  Vermögensbesteuerung,  Reor- 
ganisation und  die  Aufhebung  des  politischen  Wahlrechts, 
das  bis  heute  mit  der  Mitgliedschaft  verbunden  ist.  Die 
Fabier  beantragen  die  Aufhebung  der  Innungen  und  die 
Uebertragung  ihrer  Funktionen,  Rechte  und  ihres  Ver- 
mögens an  den  Londoner  Grafschaftsrath. 

Die  Verstadtlichung  der  Gasversorgung  ist  bereits  in 
Manchester,  Birmingham  und  Bradford  erfolgt  und  nirgends 
rückgängig  gemacht  worden;  in  London,  Liverpool,  Dublin, 


Sheffield  und  Bristol  ist  die  Gasversorgung  in  der  Hand 
von  Aktiengesellschaften.  In  London  ist  die  Zahl  der  kon- 
kurrirenden  Gasunternehmungen  von  20  im  Jahre  1855  auf 
3 gefallen.  Da  durch  Gesetz  eine  höhere  Dividende  auf  die 
Verbilligung  der  Gasversorgung  verwendet  werden  muss, 
so  werden,  um  dies  zu  vermeiden,  an  die  Beamten  enorme 
Gehalte  und  Pensionen  gezahlt.  Die  Dividende  der  Gas 
Light  and  Coke  Company  betrug  12%  pro  1891;  dennoch 
erhöhte  sie  im  Dezember  dieses  Jahres  den  Preis  von 
2 sh.  6 d.  auf  3 sh.  1 d.  per  1000  Kubikfuss,  was  eine 
jährliche  Mehrbelastung  der  Konsumenten  von  einer  halben 
Million  Pfund  Sterling  ausmacht.  In  Manchester  betrug  der 
Reingewinn  der  städtischen  Gasversorgung  21  994  Lstr.  im 
Jahre  1889—90  bei  einem  Preise  von  2 sh.  6 d.,  in  Birmingham 
70  337  Lstr.  bei  einem  Preise  von  2 sh.  3 d.,  bei  gleichem 
Preise  in  Bradford  18  000  Lstr.  Die  Verstadtlichung  ist  aber 
nicht  nur  finanziell  erfolgreich,  sondern  hat  auch  die  bessere 
Löhnung  der  Gasarbeiter,  die  Beleuchtung  der  ärmeren 
Quartiere,  die  Versorgung  der  Kochöfen  mit  Gas  zur  Folge. 

Die  Uebernahme  der  Tramways  in  städtischen  Betrieb 
zeigt  dasselbe  Bild  (Munizipal  Tramways  No.  4);  eine  grosse 
und  zehn  kleinere  Gesellschaften  monopolisiren  1 26  englische 
Meilen  in  London.  Im  Jahre  1890  betrug  ihr  eingezahltes 
Aktienkapital  3 492  014  Lstr.,  ihr  Reingewinn  240  653  Lstr., 
also  bei  9'/'->  %.  Der  Lohn  ihrer  Arbeiter,  etwa  5000  Tram- 
waybediensteter, beträgt  gegen  4 sh.  für  ein  Tagewerk,  das 
nicht  selten  16  Stunden  dauert.  In  29  Provinzialstädten  ist 
die  Stadt  Besitzerin  der  Tramway,  ohne  sie  zu  betreiben, 
übt  aber  immerhin  einen  kontrollirenden  Einfluss  aus.  Nur 
Huddersfield  besitzt  und  betreibt  seit  1882,  gemäss  dem 
Gesetze  45  und  46  Vict.  c.  236,  seine  Tramways  und  Glasgow 
ist  im  Begriffe,  Huddersfield  zu  folgen.  Ein  besonderes 
Gesetz  ist  aus  dem  Grunde  nothwendig,  weil  die  Tramways 
Act  1870,  unter  dem  Einfluss  des  damaligen  Handelsministers 
John  Bright,  verfügte,  dass  öffentliche  Verkehrsmittel  nur 
durch  Privatunternehmer  betrieben  werden  sollten.  In 
Huddersfield  besteht  der  Achtstundentag  für  Tramway- 
bedienstete; die  Einnahmen  stiegen  von  7935  (1889)  auf 
8536  Lstr.  (1890) 

Die  Wasserversorgung  Londons  besorgen  acht  Ge- 
sellschaften (London’s  Water  Tribute  No.  5);  in  Manchester 
und  Liverpool  die  Stadt.  Trotz  verschwenderischer  Aus- 
gaben erhielten  während  der  letzten  5 Jahre  die  Aktionäre 
der  grössten  Gesellschaft  (New  River  Co.)  eine  Dividende 
von  11  /,  In  Folge  des  rapiden  Anschwellens  des  Wasser- 
bedarfes rückt  die  Verschlechterung  des  gelieferten  Wassers 
in  immer  grössere  Nähe;  die  Wasserlords  wollen  aber  in 
den  Bau  einer  aus  Wales  führenden  Wasserleitung  nicht 
einwilligen. 

Im  Jahre  1879  versuchte  die  konservative  Regierung, 
den  Ankauf  der  Wasserwerke  herbeizuführen,  musste  aber 
in  Folge  der  enormen  Forderung  von  Lstr.  33  118  000  davon 
absehen.  Mit  dem  Ertrage  einer  progressiven  „Wassersteuer“ 
von  6 d.  im  Pfund  Sterling  Hesse  sich  aber  ein  städtisches 
Wasserwerk  bauen  und  den  Gesellschaften  die  wirksamste 
Konkurrenz  machen.  „Wir  können  uns  wenigstens  diesen 
Wasserkommunismus  sehr  wohl  vergönnen  “ 

Die  Verstadtlichung  der  Londoner  Docks  (No.  6), 
dieses  „industriellen  Leviathan’s“,  ist  gewiss  unter  allen 
Vorschlägen  von  grösstem  Interesse;  ist  doch  das  Elend  der 
Dockarbeiter  auf  das  Bestreben  der  Direktoren  von  4 Aktien- 
gesellschaften zurückzuführen,  die  24/  prozentige  Dividende 
vor  dem  gänzlichen  Verschwinden  zu  bewahren.  Die  Zahl  der 
Dockarbeiter  schwankt  zwischen  3888  in  der  schlechten  und 
9043  in  der  guten  Zeit.  Dennoch  könnte  ein  Docker  ebenso 
ständig  beschäftigt  werden,  wie  ein  Eisenbahnbediensteter, 
wenn,  wfle  dies  in  Liverpool  der  Fall  ist,  ein  „Dock-  und 
Hafenamt“  geschaffen  würde,  welchem  nach  entsprechender 
Umlage  Funktionen  und  Vermögen  der  vier  Kompagnieen 
übertragen  würde.  Ein  Ersatz  des  bestehenden  Themse- 
Erhaltungsamtes  durch  einen  Ausschuss  des  Grafschaftsrathes 
oder  durch  die  erwähnte  „Dock-  und  River  Trust“  wäre 
den  Fabiern  die  erwünschteste  Form  dieser  Wandlung. 

Der  „Skandal  der  Londoner  Märkte“  (No.  7)  besteht 
darin,  dass  die  Märkte  der  grössten  Stadt  der  Welt  abhängen 
von  zwei  geringfügigen  Bezirksbehörden,  voa  zwei  Philan- 
tropen  (Bress.  Burdett-Coutts  und  Mr.  Plimsoll)  und  zwei 
Monopolisten,  dem  Herzog  von  Bedford  und  Sir  Julian 
Goldsmid  M.P.,  die  durch  Privilegien  aus  dem  Jahre  1661 
und  1682  resp.  durch  deren  Interpretation  die  ausschliess- 
liche Marktgerechtigkeit  in  Covent  Garden  und  Spitalsfield 
besitzen  — zusammen  gleich  Lstr.  20  000  jährlich.  Selbst- 
verständlich wird  die  Uebernahme  der  Marktgerechtigkeit 


144 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  11. 


durch  den  Grafschaftsrath  gegen  blosse  Zahlung  des  Boden- 
lind  Gebäudewerthes  beantragt. 

Die  Grundsätze  der  städtischen  Politik  bei  öffentlichen 
Arbeiten  sind:  1.  achtstündiger  Normalarbeitstag  für  alle 

öffentlichen  Bediensteten;  2.  Zahlung  von  Gewerkvereins- 
löhnen (wie  dies  durch  Beschluss  der  Stadträthe  von  Bir- 
mingham, Bristol,  Hüll,  Manchester,  Salford,  Nottingham 
und  Sheffield  bereits  erfolgt  ist);  3.  volle  Koalitionsfreiheit; 
4.  Gewährung  eines  Ruhetages  wöchentlich  und  genügender 
Feiertage;  5.  Verbot  der  Ueberstunden,  ausser  im  Nothfalle. 

Auch  könnten  Artikel  für  rein  munizipalen  Verbrauch 
im  städtischen  Betriebe  erzeugt  werden.  „Das  Kriegs- 
ministerium besitzt  seine  eigene  Fabrik  für  Soldatenuni- 
formen; die  Admiralität  eine  Biskuitfabrik  für  die  Matrosen; 
der  Stadtrath  von  Manchester  betreibt  Gaswerke,  der  von 
Bristol  besitzt  eigene  Docks,  Huddersfield  seine  Tramways, 
Nottingham  seine  Arbeiterwohnungen,  und  die  Vestry  von 
St  Pancras  errichtet  eben  ihre  elektrischen  Anlagen.“  Die 
Erbauung  eines  Gewerkvereinsraths-Hauses  wird  gleichfalls 
in  Vorschlag  gebracht;  Paris  mit  seiner  Arbeitsbörse,  Mel- 
bourne in  Victoria  mit  seiner  Trades  Hall  sind  hier  voraus- 
gegangen, Edinburgh  wird  voraussichtlich  bald  ein  solches 
besitzen. 

Die  Verstadtlichungsaktion  der  Fabier  bezieht  sich, 
wie  man  sieht,  auf  das  praktisch  Durchführbarste,  — auf 
alles  im  Augenblicke  mögliche.  Find  dennoch  — vor  zwanzig 
Jahren  wären  diese  fabischen  Reformer,  die  heute  zu 
den  geistigen  Inspiratoren  der  Sozialpolitik  in  Eng- 
land zählen,  als  Utopisten  verlacht  und  verketzert  worden. 
Nicht  nur  die  Geschichte  der  Vergangenheit,  auch  die  der 
jüngsten  Gegenwart  lehrt  so,  die  Relativität  des  Bestehenden 
erkennen. 


Reform  des  Gesetzes  betr.  den  Unterstützungswohn- 
sitz.  Dem  Bundesrath  ist  eine  Novelle  zum  Unterstützungs- 
wohnsitz zugegangen,  die  das  geltende  Gesetz  in  folgenden 
fünf  Punkten  abändern  soll.  Es  ist  das  achtzehnte  Lebens- 
jahr als  Grenze  festgesetzt;  die  Verjährung  soll  nach  zwei 
Jahren  eintreten;  es  erfolgt  eine  Ausdehnung  auf  land-  und 
forstwirthschaftliche  Arbeiter;  statt  der  bisherigen  sechs- 
wöchentlichen sind  dreizehnwöchentliche  Fristen  angenom- 
men, und  endlich  soll  folgende  Bestimmung  Platz  greifen. 
Der  Beweis,  dass  ein  Unterstützungswohnsitz  des  Unter- 
stiizten  nicht  zu  ermitteln  gewesen  ist,  gilt  schon  dann  als 
erbracht,  wenn  der  die  Erstattung  fordernde  Armenverba.nd 
darlegt,  dass  er  alle  diejenigen  Erhebungen  vorgenommen 
hat,  welche  nach  Lage  der  Verhältnisse  als  geeignet 
zur  Ermittelung  eines  Unterstützungswohnsitzes  anzusehen 
waren.  Wird  nach  der  Erstattung  ein  Unterstützungswohn- 
sitz des  Unterstützten  nachträglich  ermittelt,  so  ist  der 
Armenverband,  welcher  die  Erstattung  vorgenommen  hat, 
berechtigt,  innerhalb  zweier  Jahre,  vom  Tage  der  Ermitte- 
lung ab  gerechnet,  von  dem  Armenverbande  des  Unter- 
stützungswohnsitzes für  die  gewährte  Unterstützung  und 
für  die  durch  nachträgliche  Ermittelungen  entstandenen 
Kosten  Ersatz  zu  beanspruchen.  Wer  als  dazu  verpflichtet 
sich  dem  Unterhalt  seiner  Familie  entzieht,  wird  mit  Haft 
bestraft.  Das  Inkrafttreten  des  Gesetzes  ist  Vorbehalten. 


Arbeiterzustände. 


Statistik  der  ßergarbeiterentlassnngen.  Der  Bergarbeiter- 
verband „Glückauf“  hatte  vor  Kurzem  in  Essen  beschlossen, 
eine  Eingabe  an  den  Minister  v.  Berlepsch  zu  richten  und  Letztem 
zu  bitten,  eine  Statistik  durch  die  Bergrevierbeamten  anfertigen 
zu  lassen,  um  über  die  Art  und  Weise  der  Entlassung  von  Berg- 
leuten Klarheit  zu  bekommen.  Das  königliche  Oberbergamt  zu 
Dortmund  hat  nun  kürzlich  eine  solche  Statistik  bereits  an  geord- 
net. Dieselbe  soll  enthalten,  an  welchen  Tagen  gefeiert  worden 
ist,  ob  dabei  ganze  Schichten  oder  nur  Bruchtheile  derselben 
gefeiert  wurden,  und  ob  die  ganze  Belegschaft  oder  nur  Theile 
derselben  betheiligt  waren.  Welche  /fahl  von  Arbeitern  zur 
Ablegung  wegen  mangelnder  Arbeit  gekommen  ist,  welche 
Arbeiterkategorien  (ob  jüngere  oder  ältere,  verheirathete  oder 
unverheirathete,  einheimische  oder  fremde  Arbeiter)  betroffen 
wurden,  ob  und  bezw.  welche  ungünstigen  Folgen  daraus  er- 
wachsen oder  zu  befürchten  sind. 


Ländliche  Arbeiterverhältnisse.  Das  Konsistorium  der 
Provinz  Schlesien  hatte  bei  den  Kreissynoden  eine  Umfrage 
über  Umfang,  Ursache  und  Bekämpfung  der  Sozialdemo- 
kratie veranstaltet  In  dem  auf  Grund  der  eingelaufenen 
Mittheilungen  ergangenen  Bescheide  heisst  es:  „Alle  Kreis- 
synoden  stimmen  wesentlich  darin  überein,  dass  fast  aller- 
orten in  Stadt  und  Land  eine  bedenkliche  Unzufriedenheit 
weit  verbreitet  sei,  und  dass  der  Wunsch  und  das  Begehren, 
es  müsse  in  den  sozialen  Verhältnissen  vieles  anders  und 
besser  werden,  weithin  die  Gemüther  beherrsche.  Wenn 
freilich  die  Lohn  Verhältnisse  in  einigen  Gegenden  der- 
artig sind,  dass  auch  die  angestrengteste  Arbeit  nicht  völlig 
im  Stande  ist,  die  unentbehrlichsten  Lebensbedürfnisse  zu 
erwerben;  wenn  vielfach  die  Arbeitsverhältnisse  so  gestaltet 
sind,  dass  den  Eltern  eine  einigermassen  genügende  Pflege  ' 
und  Beaufsichtigung  der  Kinder  unmöglich  wird;  wenn  die 
Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiterbevölkerung  ein  ge- 
deihliches Familienleben  nicht  zulassen  und  die  nothwendige 
Erholung,  namentlich  die  Sonntagsruhe,  entbehrt  wird,  so 
erscheint  jene  Unzufriedenheit  erklärlich.  Verschärft  mag 
sie  oftmals  dadurch  werden,  dass  manche  der  Besitzenden, 
statt  sich  als  verantwortliche  Haushalter  zu  wissen,  den 
Besitz  nur  ansehen  als  das  Mittel  zu  üppigstem  und  zügel- 
losestem Lebensgenuss  und  in  der  Arbeit  und  dem  Ar- 
beiter nur  das  Werkzeug  zur  Beschaffung  jener  Mittel 
erblicken.  Da  kann  Missgunst,  Neid  und  Hass  nicht  aus- 
bleiben,  und  aus  vielen  Synodalverhandlungen  tönt  uns  die 
Klage  entgegen,  dass  dieser  Riss  gefährlich  zu  werden  be- 
ginne.“ 

Schneiderwerkstätten  in  (1er  Stadt  Newyork.  Dr.  med. 
Georg  C.  Stiebeling  hat  die  hygienischen  Verhältnisse  der  New- 
Yorker  Schneiderei  durch  genaue  LTntersuchung  von  9 kleinen 
Werkstätten  (sweatings  shops)  und  3 grossen  Fabrikräumen 
(factories)  beleuchtet.  Er  zieht  aus  seinen  Untersuchungen  fol- 
gendes Fazit:  Die  neun  untersuchten  kleinen  Werkstätten 

(sweating  shops)  haben  zusammen  einen  Inhalt  von  10  778  Kubik- 
fuss,  uncl  es  befanden  sich  in  denselben  zusammen  86  Personen,  | 
so  dass  durchschnittlich  auf  jede  Person  ein  Luftraum  von  125 
statt  1 000—3  000  Kubikfuss  kommt.  In  einer  der  geschilderten  . 
Werkstätten  mussten  in  einem  für  eine  Person  gerade  genügen-  ( 
den  Luftraum  von  1 568  Kubikfuss  17  Personen  arbeiten,  so  dass  , 
auf  eine  nur  92  Kubikfuss  kamen,  wobei  übrigens  noch  zu  be- 
merken ist,  dass  der  von  den  Maschinen,  Tischen,  Tuchen  und 
fertigen  Waaren  eingenommene  Raum  nicht  in  Abzug  gebracht 
wurde.  Dabei  sind  Vliese  engen  Buden  schmutzig,  überhitzt, 
schlecht  beleuchtet  und  übelriechend,  und  besitzen  je  nur  einen 
Abort  zur  gemeinschaftlichen  Benutzung  für  beide  Geschlechter.  < 

Die  drei  untersuchten  grossen  Werkstätten  (factories;  haben 
zusammen  einen  Inhalt  von  151  500  Kubikfuss  In  denselben 
waren  zusammen  132  Personen  beschäftigt,  so  dass  durch-  . 
schnittlich  auf  jede  Person  ein  Luftraum  von  1 148  Kubikfuss  J 
kommt  Dabei  sind  diese  grossen  Räume  reinlich,  gut  beleuchtet, 
nicht  überhitzt,  gut  ventilirt  und  daher  frei  von  schlechten  Ge-  ' 
riichen,  und  mit  getrennten  Aborten  für  Männer  und  Frauen 
versehen. 

Schon  im  Interesse  der  Verhütung  von  Verschleppungen 
der  sich  in  so  elenden  Räumen  zahlreich  entwickelnden  Krank- 
heitskeime müsste  man,  nicht  minder  aus  sanitätspolizeilichen 
wie  aus  gewerbepolizeilichen  Gründen,  gegen  derartige  Ueber- 
füllung  der  Arbeitsstätten  Vorgehen. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Die  Lage  der  deutschen  Gewerkschaften. 

Die  deutschen  Gewerkschaften  stehen  vielleicht  vor 
einem  Wendepunkte  ihrer  Entwicklung.  Durchaus  neue 
Grundlagen  für  die  fachgewerbliche  Organisation  der 
deutschen  Arbeiter  sollen  auf  dem  am  13.  März  in  Halber- 
stadt zusammentretenden  deutschen  Gewerkschaftskongresse 
geschaffen  werden.  Mag  auch  vielleicht  dieser  Kongress 
noch  nicht  zum  erstrebten  Ziele  führen,  so  darf  doch  zum 
mindesten  konstatirt  werden,  dass  das  Bediirfniss  nach 
neuen  Organisationsformen  unter  den  Gewerkschaften 
Deutschlands  ein  fast  allgemein  gefühltes  ist,  dass  das 
Interesse  an  den  auf  dem  Gewerkschaftskongresse  zur 
Debatte  stehenden  Fragen  unter  der  Masse  der  Arbeiter, 
nicht  nur  bei  ihren  Führern  ein  im  höchsten  Grade  inten- 
sives ist.  Doch  wir  wollen  nicht  die  Aussichten  einer 
eventuellen  Neuorganisation  hier  besprechen,  sondern  die 


No.  11. 


S<  >ZI. UNPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


145 


! 

Verhältnisse  einer  Betrachtung  unterziehen,  welche  die 
Ueberzeugung  von  der  Nothwendigkeit  einer  Umgestaltung 
der  Organisationsform  den  an  der  gewerkschaftlichen  Be- 
wegung interessirten  Arbeitern  aufdrängen  musste. 

Das  Bediirfniss  nach  einer  Zusammenfassung  der 
Kräfte  und  damit  das  Eingeständniss  der  eigenen  Schwäche 
war  das  leitende  Motiv  für  die  Reorganisationsbestrebungen. 

Für  die  Ursachen  der  mangelnden  taktischen  und  finan- 
ziellen Leistungsfähigkeit  der  deutschen  Gewerkschaften 
kommen  wesentlich  zwei  Gesichtspunkte  in  Betracht,  die 
Stellung  der  Gesetzgebung  und  der  Verwaltungsbehörden 
einerseits,  die  Stellung  der  Unternehmer  andererseits 

Die  Gesetzgebung  äussert  sich  auf  dem  Gebiete  des 
Koalitions-  und  Vereinsrechtes. 

Das  Koalitionsrecht  (§152  der  R.  G.  O.)  lässt  im  Prin- 
zipe  die  Bewegungsfreiheit  im  Lohnkampfe  zu,  in  der 
Praxis  aber  ist  es  für  die  Arbeiter  durch  die  Handhabung 
des  Vereins-  und  Versammlungsrechtes,  durch  Auslegung 
des  § 153  der  R.G.O.  und  durch  die  Verwaltungspraxis  der 
Behörden  wesentlich  beschränkt.  Während  der  Anwen- 
dung der  Kampfesmittel  der  Unternehmer  (Aussperrungen, 
schwarze  Listen  u.  dergl.)  noch  nie  Hindernisse  in  den 
Weg  gelegt  wurden,  sind  die  Arbeiter  von  den  Gerichten 
in  ähnlichen  Fällen  häufig  wegen  Verrufserklärung  ver- 
urtheilt  worden.  Dass  hierbei  der  elastischste  Paragraph 
unseres  Strafgesetzbuches , die  Strafbestimmung  gegen 
groben  Unfug  (§  360  Abs.  1 1 R.  St.  G.)  sehr  häufig 
Anwendung  gefunden  hat , ist  bekannt.  Auch  den 

§ 110  R.  St.  G.  (Aufforderungen  zu  Ungehorsam  gegen 
Gesetze  oder  rechtsgiltige  Verordnungen)  wandten 
deutsche  Gerichte  und  das  Reichsgericht  in  seinen  Ent- 
scheidungen (vom  28.  November  und  3.  Dezember  1889 
Band  20  S.  63  und  150  der  Entscheidungen  des  Reichsge- 
richts) auf  die  Aufforderung  zur  Arbeitseinstellung  vor  Ab- 
lauf der  Kündigungsfrist  an,  obgleich  kein  Gesetz  das 
Kündigen  gebietet  und  der  sich  dessen  schuldig  Machende 
lediglich  die  für  seine  Person  daraus  folgenden  civilrecht- 
lichen  Konsequenzen  herbeiführt.  ’)  Das  hiermit  der  Koa- 
litionsfreiheit und  vor  Allem  der  Oeffentlichkeit  des  Kampfes 

!um  bessere  Arbeitsbedingungen  ein  schwerer  Schlag  ver- 
setzt wurde,  liegt  auf  der  Hand.  Die  Arbeiter  werden  hier- 
durch in  ihrer  Ueberzeugung,  dass  man  eher  gegen  als  für 
sie  entscheidet,  nur  bestärkt. 

Noch  einschneidender  als  das  Koalitionsrecht  berührt 
das  Vereins-  und  Versammlungsrecht  die  Entwicklung  der 
deutschen  Gewerkschaften.  Die  Vereinsgesetze  Preussen’s 
(Verordnung  vom  11.  März  1850).  Bayern’s  (Gesetz  vom 
26.  Februar  1850)  und  Sachsen’s  (Gesetz  vom  22.  November 
1850)  und  ähnliche  Gesetze,  welche  unter  von  den  heutigen 
vollständig  verschiedenen  politischen  und  sozialen  Verhält- 
nissen gegeben  wurden,  bestehen  bis  zum  heutigen  Tage 
unverändert  fort,  sie  berechtigen  die  Polizeibehörden  zur 
Auflösung  bezw.  Schliessung  von  Vereinen  und  Versamm- 
lungen, geben  diesen  die  weitgehendsten  diskretionären 
Rechte,  indem  sie  über  das  Vorhandensein  der  hierzu 
nöthigen  Voraussetzungen  (Gründe  der  öffentlichen  Sicher- 
heit) lediglich  deren  Ermessen  entscheiden  lassen.  Ganz 
abgesehen  von  dem  Inhalte  der  Vereinsrechte  ist  schon  ihre 
Verschiedenheit  allein  ein  schweres,  in  einzelnen  Fällen 
unüberwindbares  Hinderniss  für  eine  einheitliche,  das  ganze 
Reich  umfassende  gewerkschaftliche  Organisation  der  Ar- 
beiter, die  um  so  peinlicher  empfunden  wird,  als  durch 
die  Verwaltungspraxis  der  Behörden  den  Unternehmern  nicht 
die  mindesten  Schwierigkeiten  bei  der  Ausdehnung  ihrer 
Verbände  und  Kartelle  über  das  ganze  Reich  gemacht  wur- 
den, dagegen  den  Arbeitern  gegenüber  alle  die  legitimsten 
Bestrebungen  erschwerenden  Bestimmungen  der  Vereins- 
gesetze auf’s  allergenaueste  zur  Ausführung  gebracht  werden. 
Darauf  ist  in  erster  Linie  die  auffallende  Erscheinung  zurück- 
zuführen, dass,  obgleich  die  gewerkschaftlich  organisirten 
deutschen  Arbeiter  ihrer  überwiegenden  Mehrheit  nach  die 
Centralisation  der  Gewerkschaften  vertreten  und  diesen 
Standpunkt  in  Resolutionen  auf  den  meisten  Gewerkschafts- 
kongressen zum  Ausdruck  brachten,  die  in  Lokalvereinen 
organisirten  Arbeiter  bisher  so  gut  wie  keinen  Schritt  ge- 
than  haben,  die  Centralorganisation  durchzuführen.2)  Eine 


*)  Vgl.  Kaufmann  G.  Rechtsanwalt,  Das  Vereinsrecht.  Ein 
Wort  gegen  Polizeimassregeln.  Berlin  1890,  S.  53  f. 

2)  Die  Organisationsfrage.  Ein  Beitrag  zur  Entwickelung 
der  deutschen  Gewerkschafts-Bewegung.  Herausgegeben  von 
der  Generalkommission  der  Gewerkschaften  Deutschlands. 
Hamburg  1891.  S.  7. 


Reihe  von  Filialen  centrali.sirter  Gewerkschaften  wurden 
durch  die  Gefahr,  zu  politischen  Vereinen  erklärt  zu  werden, 
gezwungen,  aus  der  Centralisation  zu  scheiden;  da  politische 
Vereine  mit  anderen  Vereinen  nicht  in  Verbindung  stehen 
dürfen,  mussten  vielfach  an  Stelle  der  Zugehörigkeit  zu 
centralen  Organisationen  Lokalvereine  oder  Vertrauens- 
männer treten,  wodurch  entweder  die  für  eine  leistungs- 
fähige Gewerkschaft  unerlässliche  Verbindung  mit  den 
übrigen  Gewerkschaften  des  gleichen  Faches  aufgehoben, 
die  Anregung,  Belehrung  und  Förderung  innerhalb  der 
Gewerkschaft  verhindert  und  der  nothwendige  persönliche 
Verkehr  der  Mitglieder  beschränkt,  wenn  nicht  gänzlich 
abgeschnitten  wurde. 

Die  Schwierigkeiten  für  eine  Centralisirung  der  deut- 
schen Gewerkschaftsbestrebungen  sind  am  grössten  im 
grossindustriellen  Sachsen  und  im  zweitgrössten  Bundes- 
staate, in  Bayern.  In  Sachsen  mussten  alle  Versuche  von 
V erbindungen  gewerkschaftlicher  Organisationen  aufgegeben 
werden,  so  dass  man  sich  zumeist  auf  ein  Vertrauensmänner- 
system beschränken  musste,  neben  dem  aber  ohne  Ver- 
bindung mit  den  Vertrauensmännern  meist  Lokalorganisa- 
•tionen  gegründet  wurden.  In  Bayern  aber  sind  die  für  die 
Organisation  massgebenden  Paragraphen  so  unklar,  dass 
die  Entscheidungen  der  Behörden  in  Bezug  auf  das  gleiche 
Vorkommniss  oft  direkt  diametral  sich  gegenüb  erstehen. 
Auch  in  den  anderen  Bundesstaaten,  wenn  wir  von  Württem- 
berg und  Hamburg  absehen,  sind  die  der  gewerkschaftlichen 
Organisation  entgegenstehenden  Hindernisse  sehr  grosse.  In 
Preussen  wird  durch  die  Erklärung  zu  politischen  Vereinen 
die  Fortdauer  vieler  Gewerkschaften  unmöglich  gemacht, 
da  weder  die  Verbindung  mit  anderen  Vereinen  noch  die 
Mitgliedschaft  von  Frauen  und  nicht  Volljährigen  weiter 
möglich  ist. 

Man  darf  nicht  glauben,  dass  die  Erklärung  zum  poli- 
tischen Verein  von  den  Gewerkschaften  leicht  vermieden 
werden  kann,  stellte  doch  das  Kammergericht  zu  Berlin 
den  Grundsatz  auf,  dass  auch  die  Erringung  besserer  Lohn- 
und  Arbeitsbedingungen  eine  sozialpolitische  Bethätigung 
sei.1)  Gegen  die  Vorstandsmitglieder  der  Fachvereine  der 
Tischler  zu  Altona  und  Hamburg  wurde  gerichtlich  vor- 
gegangen, weil  die  betreffenden  Vereine  Petitionen  an  den 
Reichstag  betr.  Einschränkung  der  Arbeitszeit,  der  Frauen - 
und  Kinderarbeit  u.  s.  w.  in  Zirkulation  gesetzt  hatten. 
Das  Reichsgericht  [Entscheidungen  Band  XVI,  S.  383] 
entschied  in  diesem  Falle,  dass  sobald  irgend  welche  ge- 
werbliche Korporation  in  das  staatliche  Gebiet  hinüber- 
greift, sobald  sie  die  Organe  und  die  Thätigkeit  des  Staates 
für  sich  in  Anspruch  nimmt,  aufhört,  gewerbliche  Korpo- 
ration zu  sein  und  sich  in  einen  politischen  Verein  um- 
wandelt. . . . Nicht  lediglich  die  allgemeine  Tendenz  und 
das  letzte  Ziel,  sondern  zugleich  Form  und  Mittel  der 
Vereinsbestrebungen  entscheiden  darüber,  ob  sie  politischen 
Charakter  tragen.  Das  Reichsgericht  hat  auch  die  Be- 
sprechung der  Fragen  des  Normalarbeitstages  und  der 
Sonntagsruhe  als  Behandlung  politischer  Gegenstände  be- 
zeichnet. 

Es  wäre  verfehlt  anzunehmen,  dass  sich  das  rigorose 
Vorgehen  der  Behörden  bloss  gegen  die  als  sozialistisch 
angesehenen  Arbeiterorganisationen  richtet,  auch  die  von 
freisinniger  Seite  geförderten  Hirsch-Duncker’schen  Gewerk- 
vereine haben  mannigfache  polizeiliche  Beschränkungen 
ihrer  statutengemässen  Thätigkeit  zu  registriren  gehabt; 
so  wurden  von  ihnen  polizeiliche  Anmeldung  der  Ver- 
sammlungen und  Einreichung  der  Mitgliederlisten  verlangt, 


')  Hiegegen  wendet  sich  eine  Entscheidung  des  Reichs 
gerichtes  aus  jüngster  Zeit,  aus  der  wir  folgendes  hervorheben: 
„Für  die  Begriffsbestimmung  „politische  Gegenstände“  im  Sinne 
des  Vereinsgesetzes  handelt  es  sich  nicht  darum,  durch  irgend 
welche  Kombinationen  zu  ermitteln,  ob  der  fragliche  Gegen- 
stand nicht  unter  irgend  welchen  Umständen  und  Bedingungen 
in  die  Interessen  und  Aufgaben  des  Staates  hinüber  greiien 
kann,  sondern  ausschliesslich  darum,  ob  der  fragliche  Gegen- 
stand als  solcher  unmittelbar  den  Staat,  seine  Gesetzgebung 
oder  Verwaltung  berührt,  seine  Organe  und  Funktionen  in 
Bewegung  setzt  und  solcher  Art  als  ein  politischer  bezeichnet 
werden  darf.  Verbindungen  zur  Erlangung  günstigerer  Lohn- 
und  Arbeitsbedingungen,  Verbände,  welche  auf  Organisation 
eines  Arbeiterausstandes  berechnet  sind,  gehören  dem  Privat- 
recht an  und  nicht  der  Politik;  sie  sind  daher  nicht  ohne  weiteres 
den  Beschränkungen  des  § 8 des  Vereinsgesetzes  unterworfen. 
Mit  der  entgegengesetzten  Annahme  würde  die  in  der  Ge- 
werbeordnung gewährleistete  gewerbliche  Koalitionsfreiheit  nicht 
verträglich  sein.“ 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  11. 


146 


einzelne  der  Vereine  wurden  lediglich  auf  Grund  des  In- 
haltes ihrer  Statuten  als  politische  Vereine  erklärt,  während 
dies  hei  anderen  Vereinen  mit  gleichlautenden  Statuten  nicht 
der  Fall  war.  Ja  man  ging  noch  weiter  und  erklärte  den 
Ortsverein  graphischer  Berufe  zu  Stettin  als  Versicherungs- 
unternehmen und  forderte  demgemäss  von  ihm  die  mi- 
nisterielle Erlaubniss  zum  Geschäftsbetrieb.  Ein  ähnliches 
Vorgehen  und  zwar  gegen  die  Gewerkschaften  und  Kassen 
im  Allgemeinen  scheint  seitens  der  bayerischen  Regierung 
in  ihrer  Novelle  vom  Jahre  1891  zu  § 137  des  Polizeistraf- 
gesetzbuches  beabsichtigt  gewesen  zu  sein.  Dass  die  Bahnen 
der  deutschen  Vereinsgesetzgebung  und  der  einschlägigen 
Verwaltungspraxis  nicht  so  bald  verlassen  werden  dürften, 
beweisen  nicht  nur  die  das  Vorgehen  der  Polizeibehörden 
sanctiönirenden  Entscheidungen  der  obersten  Gerichtshöfe, 
sondern  auch  der  Entwurf  eines  neuen  hamburgischen  Ver- 
einsgesetzes, auf  Grund  dessen  V ersammlungen  nicht  nur 
aufgelöst,  sondern  vor  ihrer  Abhaltung  schon  untersagt 
werden  können  und  besondere  Bestimmungen  für  Ver- 
sammlungen vorgeschlagen  werden,  in  welcher  innere  oder 
äussere  Angelegenheiten  des  deutschen  Reiches  oder  des 
hamburgischen  Staates  erörtert  oder  berathen  werden.' 
Dass  eine  Besprechung  des  Krankenkassengesetzes  oder 
der  Nachtarbeit  der  Frauen  eine  derartige  öffentliche  An- 
gelegenheit des  Deutschen  Reiches  ist,  kann  nach  derjudi- 
catur  des  Reichsgerichtes  nicht  bezweifelt  werden. 

Die  Entwicklung  der  Vereine  wird  durch  die  Hand- 
habung der  Vereinsgesetzgebung  auf’s  empfindlichste  ge- 
hemmt, an  die  verantwortlichen  Vorstandsmitglieder  werden 
die  gewaltigsten  Aufgaben  gestellt  und  endlich,  was  viel- 
leicht das  einschneidendste  Moment  ist,  kann  sich  bei  den 
noch  ausserhalb  der  gewerkschaftlichen  Organisation 
stehenden  Arbeitern  die  Ueberzeugung  von  der  Leistungs- 
fähigkeit und  dem  längeren  Bestände  derselben  nicht 
bilden,  was  sie  vom  Eintritte  in  die  Organisation  und  den 
damit  verknüpften  Opfern  naturgemäss  fernhalten  muss. 

Andere  äussere  Momente  wirkten  in  der  gleichen 
Richtung.  Vor  Allem  der  Umstand,  dass  in  den  meisten 
deutschen  Staaten  erst  durch  die  Gewerbeordnung  vom 
Jahre  1869  die  Koalitionsfreiheit  eingeführt  wurde  und  so- 
mit die  Grundlagen  für  eine  öffentliche  Organisation  zum 
Zwecke  der  Einwirkung  auf  das  Arbeitsvertragsverhält- 
niss  noch  nicht  ein  Vierteljahrhundert  lang  existiren.  Von 
Bedeutung  für  die  gewerkschaftlichen  Organisationen  war 
es  ferner,  dass  sie  schon  vor  Vollendung  des  ersten  Dezen- 
niums ihres  Bestandes  dem  Sozialistengesetze  fast  aus- 
nahmslos zum  Opfer  fielen.  Von  nicht  zu  unterschätzen- 
dem Einfluss  ist  auch,  dass  die  deutschen  Arbeitgeber  in 
den  Gewerkschaften  ein  unberechtigtes  Hemmmss  ihrer 
Produktion  sehen,  so  dass  die  Gewerkschaften  noch 
schwere  Kämpfe  zu  bestehen  haben  dürften,  um  für  die  in 
England  seitens  der  Unternehmer  schon  längst  als  legitim 
anerkannten  Vertretungen  der  Arbeiter  die  Anerkennung 
durchzusetzen.  Wie  ott  erklären  noch  die  Unternehmer  in 
Deutschland  bei  Ausbruch  von  Strikes  oder  bei  dem  Wunsche 
nach  Einigung,  dass  sie  nur  mit  „ihren“  Arbeitern  aber 
nicht  mit  den  Vertretern  der  Gewerkschaft  oder  einer 
Lohnkommission  verhandeln  können.  In  einer  grossen  Zahl 
von  Arbeitsverträgen  müssen  sich  die  Arbeiter  verpflichten, 
aus  den  Gewerkschaften  auszutreten,  bezw.  in  solche  nicht 
einzutreten.  Die  Zugehörigkeit  der  Gewerkschaft  ist  sehr 
häufig  der  zugestandene,  noch  häufiger  der  verschwiegene 
Grund  der  Entlassung  aus  dem  Arbeitsverhältnisse. 

Gerhardt  v.  Schulze-Gävernitz,  dem  eine  eingehende 
Kenntniss  englischer  Verhältnisse  nicht  abgesprochen  wer- 
den kann,  schreibt  in  Bezug  auf  diese  Taktik  der  Unter- 
nehmer: „Die  englischen  Arbeitgeber,  die  früher,  genau  wie 
heute  die  unseren,  die  Gewerkvereine  nicht  anerkannten 
und  mit  ihnen  zu  unterhandeln  verweigerten  in  der  Furcht, 
„ihre  Autorität  zu  untergraben“,  ergreifen  nunmehr  begierig 
die  ihnen  dargebotene  Hand  der  Verständigung.  Die  Ge- 
werkvereine gewährleisten  Tüchtigkeit  und  Zuverlässigkeit 
der  Arbeit,  auf  ihnen  allein  bauen  sich  die  friedlichen  Be- 
ziehungen und  friedenstiftenden  Einrichtungen  auf,  sie  sind 
derjenige  Faktor,  auf  welchem  für  die  englische  Industrie, 
die  mit  vielen  Nachtheilen  zu  kämpfen  hat,  in  erster  Linie 
ihre  Stärke  und  Ueberlegenheit  auf  dem  Weltmärkte  beruht. 
Dieser  Thätigkeit  sind  sich  die  englischeir  Arbeitgeber  be- 
wusst“.1) In  Deutschland  aber  legen,  wie  wir  sahen,  Gesetz- 


p Vermeidung  von  Arbeitsstreitigkeiten  ^ Strikes  u.  s.  w.) 
in  England  in  Schmoller’s  Jahrbuch  N.  F.  Band  13  (1889)  S.  1417. 


gebung,  Verwaltung,  Rechtsprechung  in  gleicher  Weise  wie 
das  Unternehmerthum  der  Erstarkung  der  gewerkschaft- 
lichen Organisation  der  Arbeiter  die  grössten  Schwierig-  ; 
keiten  in  den  Weg. 

Fehlt  es  neben  diesen  ausserhalb  der  Arbeiterklasse 
wirkenden  Hemmungserscheinungen  nicht  auch  an  inneren 
Gründen,  welche  die  Entwicklung  der  Gewerkschaften 
hemmen?  Sicherlich  existiren  auch  innerhalb  der  Arbeiter- 
klasse derartige  Gründe,  aber  sie  würden  nimmermehr  er- 
klären, dass  die  deutsche  gewerkschaftliche  Bewegung  hinter 
der  englischen  zurückgeblieben  ist,  denn  die  deutsche  Ar- 
beiterklasse hat  durch  die  stete  Ausdehnung  ihrer  politischen 
Organisation,  durch  das  Ueberdauern  des  Sozialistengesetzes 
bewiesen,  dass  in  ihr  die  Fähigkeiten  des  Kampfes,  des 
Zusammenschlusses  der  Organisation,  und  endlich  des  An- 
bequemens  an  die  ungünstigsten  Existenzbedingungen  im 
höchsten  Masse  vorhanden  sind.  Die  innerhalb  der  Organisation 
hie  und  da  in  Erscheinung  tretenden  Hemmungserscheinungen 
haben  in  England  ebensowenig  gefehlt  wie  in  Deutschland: 
Unverträglichkeit  Einzelner,  Berufsdünkel  einzelnerGruppen, 
beispielsweise  unter  Arbeitern  im  Kunsthandwerke,  bei 
Bildhauern,  Malern  etc.  Nur  für  eine  nach  Zahl  der 
Arbeiter  und  Bedeutung  der  Industrie  überaus  hervorragen- 
de Branche,  für  die  Textilindustrie,  existiren  ausschlag- 
gebende Gründe  für  die  Bedeutungslosigkeit  der  Gewerk- 
schaften. Der  tief  unter  das  Existenzminimum  der  übrigen 
Arbeiter  gesunkene  Lohn  in  diesem  Zweig,  insbesondere 
in  der  Spinnerei  und  Weberei  lässt  es  nicht  zu,  dass  auch 
nur  ein  nennenswerther  Bruchtheil  dieser  Arbeiter  auf  die 
Dauer  finanzielle  Opfer  für  eine  Gewerkschatt  bringt.  Wo 
dies  in  Folge  einigermassen  höherer  Löhne  möglich  ist,  im 
Obereisass,  verhindert  das  noch  in  Geltung  stehende  franzö- 
sische Vereinsrecht  in  Verbindung  mit  dem  Diktaturpara-  j 
graphen  jede  längere  Dauer  garantirende  Organisation  der 
Arbeiter.  Wir  führen  diese  Momente  der  Vollständigkeit 
wegen  an  und  um  zu  zeigen,  dass  diese  inneren  Gründe 
die  relative  Schwäche  der  deutschen  Gewerkschaften  im. 
Allgemeinen  nicht  erklären  können. 

Wir  kommen  zum  Schluss.  _ t 

Hat  die  vom  Staate  und  dem  Unternehmerthume  ein- 
geschlagene Politik  den  beabsichtigten  Erfolg?  Wir  glauben,1 
dass  diese  Frage  verneint  w'erden  muss.  Grosse  Arbeits- 
einstellungen, wir  erinnern  an  den  Bergarbeiterstrike  von 
1889,  werden  dadurch  nicht  verhindert,  und  immer  grösseren 
Massen  wird  durch  Versperren  der  Bethätigung  innerhalb 
der  bestehenden  Wirthschaftsordnung  das  Erstreben  einer 
anderen  Gesellschaftsform  aufgenöthigt.  Auch  ein  Vergleich 
mit  anderen  Ländern  ist  recht  lehrreich.  Die  Freiheit  der, 
Arbeiterorganisationen  in  England  hat  weder  den  Staat 
noch  die  Industrie  vernichtet,  die  noch  stärkere  Bevormun- 
dung in  Oesterreich  hat  weder  die  gewerkschaftliche 
Arbeiterbewegung  verhindert,  noch  die  Erstarkung  der 
Sozialdemokratie  gehemmt.  Die  Schweiz  aber  mit  ihrer 
alten  Vereins-  und  Versammlungsfreiheit  hat  nur  eine  un- 
bedeutende Arbeiterbewegung.  Lässt  sich  hieraus  nicht 
schliessen,  dass  die  beschränkende  Politik  des  Staates  und 
des  Unternehmerthums  in  letzter  Linie  doch  schwächer 
sind,  als  die  inneren  Wachsthumsmomente  einer  aus  der 
gesellschaftlichen  Entwickelung  naturgemäss  entstehenden 
und  sich  stärkenden  Klassenbewegung?  Alle  Möglichkeiten 
der  Expansion  wird  keine  Macht  verhindern  können;  versperrt 
man  den  deutschen  Arbeitern  auf  die  Dauer  die  Möglichkeit, 
sich  in  befriedigender  Weise  gesetzlich,  öffentlich  und  un°'e- 
hindert  zu  organisiren,  so  wird  man  nur  die  politischen  Be- 
strebungen der  Arbeiterklasse  fördern.  Hat  man  im  Sozialisten- 
gesetze eine  unwirksame  Waffe  gegen  diese  gesehen,  so 
müsste  man  konsequenterweise  der  gewerkschaftlichen  Be- 
wegung gegenüber  auch  die  polizeiliche  Chikanirung  auf- 
geben und  ihr  die  nöthige  Bewegungsfreiheit  gewähren. 
Thäte  man  dies,  so  würde  auch  das  Unfernehmerthum  seine 
kurzsichtige  Taktik  gegen  die  Gewerkschaften  aufgeben, 
und  diese  selbst  würden  sich  nicht  zum  Schaden  unserer 
Industrie  in  ähnlicher  Weise  entwickeln  wie  die  englischen. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Kontrollmarken  für  Textilarbeiter.  Nachdem  zuerst 
nur  für  die  Wirker  die  Kontrollmarken  eingeführt  wurden, 
hat  man  jetzt  auch  in  den  übrigen  Branchen  der  Textil- 
industrie Versuche  mit  ihnen  gemacht.  Für  die  Kontroll- 
marke für  Textilarbeiter  wird  in  einem  durch  die  sozial- 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


147 


I No.  11. 

demokratische  Presse  gehenden  Aufruf  der  Kontrollkommission 
deutscher  Textilarbeiter  Propaganda  gemacht.  Durch  die 
Kontrollmarke  soll  nach  dieser  Quelle  den  Unternehmern 
gezeigt  werden,  welche  Macht  die  Arbeiter  als  Konsumenten 
[besitzen.  In  ganz  kurzer  Zeit  soll  nach  dem  Flugblatt  einer 
grossen  Anzahl  von  Arbeitern  und  Arbeiterinnen  der  Textil- 
industrie durch  die  Kontrollmarke  die  neunstündige  Arbeits- 
zeit errungen  worden  sein.  Durch  dieselbe  soll  auch  der 
Gefängnissarbeit,  sowie  der  niedrigen  Entlohnung  entgegen- 
gewirkt werden.  Die  Behauptung,  dass  mit  Kontrollmarke 
versehene  Waaren  theurer  seien  als  andere  gleichwerthige, 
wird  als  eine  „bewusste  Lüge“  hingestellt. 

Die  Fabrikanten,  welche  die  Kontrollmarke  einzu- 
führen beabsichtigen,  haben  mit  der  Kontrollkommission 
deutscher  Textilarbeiter  zu  Chemnitz  einen  Vertrag  ab- 
zuschliessen,  aus  dem  wir  die  wichtigsten  Punkte  zum 
Abdruck  bringen: 

„§  4.  Für  den  Gebrauch  des  Stempels  ist  an  die 
Kontrollkommission  pro  Kopf  und  Tag  der  in  ihrem  Geschäft 
beschäftigten  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  ein  Pfennig  zu 
entrichten.  Die  Ablieferung  der  zu  entrichtenden  Gelder 
hat  am  letzten  Tag  eines  jeden  Monats  portofrei  an  die 
Kommission  zu  geschehen. 

§ 5.  Die  Arbeitszeit  darf  neun  Stunden  nicht  über- 
schreiten. Sie  verpflichten  sich,  den  von  der  Organisation 
aufgestellten  Lohntarif  zu  zahlen.  Derselbe  muss  im  Arbeits- 
raume zu  Jedermanns  Einsicht  aushängen. 

§ 6.  Massregelungen  wegen  politischer  wie  gewerk- 
schaftlicher Thätigkeit  dürfen  nicht  stattfinden. 

§ 7.  Bei  etwa  vorkonmienden  Differenzen  hat  sich 
die  Firma  zunächst  an  den  Vertrauensmann,  bei  nicht 
zu  Stande  kommender  Einigung  an  die  Kommission  zu 
wenden.“ 

In  der  kurzen  Zeit  ihres  Bestandes  scheint  die  Köntroll- 
markenkommission  noch  nicht  viele  Erfolge  erzielt  zu  haben, 
denn  die  Einnahmen,  welche  (siehe  § 4)  einen  Massstab  für 
die  Anwendung  der  Kontrollmarken  bieten,  beweisen  nicht 
die  in  dem  Flugblatte  aufgestellte  Behauptung,  sie  betrugen 
bisnun  nur  470  Mk.  47  Pfg.,  denen  Ausgaben  in  der  Höhe 
von  357  Mk.  22  Pfg.  gegenüberstehen. 

Ein  Kellnerstrike  ist  in  Hamburg  ausgebrochen  weil  die 
Direktion  der  „Grossen  Bier-Hallen“  sich  weigert,  das  benöthigte 
Personal  wie  bisher  durch  den  Arbeitsnachweis  des  Vereins 
der  Kellner  und  Berufsgenossen  von  Hamburg  vermitteln  zu 
lassen,  obgleich  die  Kellner  zur  vollsten  Zufriedenheit  der 
Wirthe  tliätig  gewesen  sind  Bei  dieser  Gelegenheit  theilen  die 
ausständigen  Kellner  über  die  Ausbeutung  durch  die  Stellen- 
vermittler im  „Hamburger  Echo“  folgendes  mit:  „Die  Kellner 
werden  fast  alle  durch  sogenannte  Kommissionäre  besorgt,  für 
diese  Besorgung  muss  nun  der  Kellner  schweres  Geld  bezahlen, 
für  feste  Stellung  15 — 20  Mk.,  für  Aushilfe  50  Pf.  bis  1 Mk.  pro 
Tag.  Wenn  man  nun  bedenkt,  dass  die  Kellner  ohne  Gehalt 
und  ohne  Beköstigung  arbeiten  müssen,  so  wird  man  zugestehen 
müssen,  dass  diese  Summen  horrend  sind.  Beispielsweise  hat 
der  Kommissionär  des  Hamburger  Gastwirthvereins  ein  Jahres- 
einkommen von  12000—14000  Mk.  Durch  diese  Uebelstände, 
welche  mit  der  Stellenvermittlung  verbunden  sind,  veranlasst, 
hat  der  Verein  der  Kellner  und  Berufsgenossen  ein  vollständig 
kostenfreies  Arbeitsnachweis  - Biireau  eingerichtet.  Dasselbe 
funktionirt  zum  Segen  für  die  Kellner.“ 

Der  Strike  der  Pariser  Droschkenkutscher.  Nach  einer 
mehr  als  zweimonatlichen  Dauer  ist  der  Pariser  Kutscherstrike 
zu  Ende  gegangen,  ohne  ein  Resultat  erzielt  zu  haben.  Da  alle 
Versuche,  auch  nur  die  mindeste  Konzession  seitens  der  Kom- 
pagnie „Urbaine“  zu  erlangen,  als  gescheitert  betrachtet  wurden, 
hatten  die  Strikenden  in  ihrer  letzten  Versammlung  ganz  einfach 
(erklärt,  ihre  Kautionen  — 150  Frcs.  pro  Mann  — zurückverlangen 
und  anderwärts  Beschäftigung  suchen  zu  wollen  Die  Strikenden 
(sind  demnach,  wenn  sie  auch  die  Arbeit  nicht  wieder  bei  der 
i„Urbaine“  aufnehmen  sollten,  nicht  desto  weniger  unterlegen; 
nicht  aber,  weil  ihre  Forderungen  zu  exorbitant  waren,  sondern 
weil  die  Droschkengesellschaft  um  keinen  Preis  nachgeben 
wollte,  so  versöhnlich  sich  auch  die  Kutscher  zeigten.  Dieselben 
hatten  sich  in  der  That  gleich  bei  Ausbruch  des  Strike  an  den 
Munizipalrath  gewendet,  damit  er  ähnlich  wie  beim  vorjährigen 
Omnibusstrike  intervenire,  doch  hatte  die  Direktion  der  „Urbaine“ 
(diese  Intervention  zurückgewiesen,  wie  sie  es  mit  dem  spätem 
Vorschlag  gethan,  den  Streit  einem  freigewählten  Schieds- 
gerichte — die  Kutscher  hatten  ihrerseits  bereits  den  Abgeord- 
neten Mesureur  hierzu  gewählt  zu  unterbreiten.  Mit  Recht 
isagte  da  derselbe  in  einem  unterm  12  Februar  veröffentlichten 
Schreiben:  „Diejenigen,  die  den  Arbeitern  ausser  der  Llnter- 
werfung  und  der  Empörung  dieses  friedliche  Mittel  verweigern, 
ihre  Interessen  zu  vertheidigen  und  das,  was  an  ihrer  Sache 
gerecht  und  billig  ist,  zum  Siege  zu  führen,  laden  eine  grosse 
I Verantwortlichkeit  auf  sich.“  Weit  entfernt,  die  Streitangelegen- 


heit vor  ein  unparteiisches  Schiedsgericht  bringen  zu  wollen, 
hatte  der  Direktor  der  „Urbaine“  mit  den  Herausgebern  eines 
Anarchistenblättchens  („L’Insurge“)  ein  Uebereinkommen  ge- 
troffen, wonach  dieselben  für  die  Bekämpfung  des  Strike 
wie  er,  nachdem  die  Sache  ruchbar  geworden  war,  in  einem 
Interview  mit  einem  Journalisten  selber  zugestand  — „220  oder 
250  Frcs.“  von  ihm  erhielten. 

Hält  man  dieses  Vorgehen  dem  der  Strikenden  gegenüber, 
dann  ersieht  man  auf  den  ersten  Blick,  auf  welcher  Seite  Recht 
und  Anstand  in  diesem  Strike  lag.  Um  so  unerquicklicher  muss 
es  wirken,  wenn  ein  angesehenes  Blatt  wie  der  „Temps“, 
das  sonst  bei  allen  Lohnstreitigkeiten  dem  Schiedsrichteramt 
das  Wort  spricht,  für  die  unterlegenen  Kutscher,  die  allein  für 
ein  Schiedsgericht  eingetreten  waren,  nur  Spott  und  Hohn 
findet.  So  schliesst  es  einen  Artikel,  in  welchem  die  Verluste, 
die  den  Kutschern  aus  diesem  Strike  erwuchsen,  über  Gebühr 
aufgebauscht  werden:  „Fürwahr,  eine  wunderbare  Wirkung  des 

Strike!  Da  haben  die  Kutscher  nun  viel  gewonnen!  Die  Kom- 
pagnie, die  schon  vor  den  Verlusten,  die  ihr  eben  beigebracht 
wurden,  es  für  eine  Unmöglichkeit  erklärte,  die  Lage  ihres  Per- 
sonals zu  verbessern;  wie  sollte  sie  dies  heute  thun?“  Dabei 
passirte  aber  dem  „Temps“  das  Malheur,  dass  er  übers  Ziel  hin- 
ausschoss, oder  besser  gesagt,  auf  die  Strikenden  zielte  und  die 
Droschkengesellschaft  traf.  „Die  Kompagnie“,  führte  er  nämlich 
u.  A.  aus,  „hatte  einen  Verlust  von  I6  0Ö0  Frcs.  pro  Tag  zu  er- 
leiden, d.  i.  ungefähr  eine  Million  für  die  ganze  Dauer  des  Striks. 
Von  jener  Summe  kann  man  300  000  Frcs.  — 5 000  Frcs.  pro  Tag 
- als  jenen  Theil  betrachten,  welcher  das  Reineinkommen  der 
Kompagnie  gebildet  hätte.“  Wenn  aber  die  „Urbaine“  bei  einem 
täglichen  Brutto-Einkommen  von  16  000  Frcs.  einen  Reingewinn 
von  5 000  Frcs.  zählt,  dann  beträgt  ihre  tägliche  Gesammtausgabe 
nicht  mehr  11000  Frcs.  und  ihr  Gewinn  somit  mehr  als  45%! 
Wie  viel  Unternehmungen  weisen  noch  einen  so  hohen  Profit 
auf?  Wenn  also  irgend  etwas  beweist,  dass  die  Kutscher  be- 
rechtigt waren,  eine  Verbesserung  ihrer  Lage  zu  verlangen  und 
dass  es  der  Droschkengesellschaft  ein  Leichtes  gewesen  wäre, 
diesem  Verlangen  wenigstens  theilweise  nachzukommen,  so  sind 
es  gerade  die  Ausführungen  des  „Temps“,  die  das  Gegentheil 
zu  beweisen  suchten. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Schutz  von  Arbeiterinnen  und  jugendlichen  Arbeitern 
in  Zuckerfabriken.  Dem  Vernehmen  nach  soll  in  den  dem 
Bundesrathe  gegenwärtig  vorliegenden  Bestimmungen  über 
die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und  jugendlichen  Ar- 
beitern in  Zuckerfabriken  vorgeschrieben  werden,  dass  beide 
genannten  Arbeiterkategorien  zur  Bedienung  der  Rüben- 
schwemmen, der  Rübenwäschen  und  der  Fahrstühle,  sowie 
zum  Transport  der  Rübenschnitzel  in  schwer  zu  bewegenden 
Wagen  nicht  verwendet  werden  dürfen.  Es  soll  ihnen  auch 
im  Füllhause,  in  den  Centrifugenräumen,  den  Krystalli- 
sationsräumen,  den  Trockenräumen  und  den  Maischräumen, 
sowie  an  anderen  Arbeitsstellen,  an  welchen  eine  ausser- 
gewöhnliche  Wärme  herrscht,  während  der  Dauer  des  Be- 
triebes eine  Beschäftigung  nicht  gewährt  und  der  Aufent- 
halt nicht  gestattet  werden  dürfen.  Die  Beschäftigung  von 
Arbeiterinnen  über  sechzehn  Jahre  während  der  Nachtzeit 
soll  auf  den  Zuckerböden  verlooten  und  übrigens  nur  mit 
solchen  Arbeiten  stattfinden,  welche  für  den  Fortgang  des 
kontinuirlichen  Betriebes  unentbehrlich  sind.  Die  Zeit  der 
Beschäftigung,  die  Pausen-  und  Ruhezeitdauer  sollen  genau 
geregelt,  auch  bestimmt  werden,  dass  die  Tag-  und  Nacht- 
schichten wechseln  müssen.  Der  wöchentliche  Wechsel 
zwischen  den  Tag-  und  Nachtschichten  soll  so  geregelt 
werden,  dass  die  in  der  Tagschicht  beschäftigten  Arbeite- 
rinnen erst  nach  einer  Ruhezeit  von  mindestens  24  Stunden 
in  der  Nachtschicht,  die  in  der  Nachtschicht  beschäftigten 
erst  nach  einer  Ruhezeit  von  mindestens  24  Stunden  in  der 
Tagschicht  beschäftigt  werden  dürfen.  Auch  soll  die  An- 
zahl der  in  den  Fabriken  zulässigen  Arbeiterinnen  begrenzt 
und  so  festgestellt  werden,  dass  sie  in  Rohzuckerfabriken 
sowie  in  denjenigen  Zuckerraffinerien,  welche  nicht  wäh- 
rend des  ganzen  Jahres  im  Betriebe  sind,  die  Zahl  der  im 
Durchschnitt  der  beiden  letzten  Betriebsperioden,  in  den- 
jenigen Zuckerrafiinerien,  welche  während  des  ganzen  Jahres 
im  Betrieb  sind,  die  Zahl  der  im  Durchschnitt  der  beiden 
letzten  Kalenderjahre  in  Tag-  und  Nachtschichten  beschäf- 
tigten Arbeiterinnen  nicht  überschreiten  darf.  Vom  1 . April 
1894  ab  sollen  nur  noch  zwei  Drittel,  vom  I.  April  1896  ab 
nur  noch  ein  Drittel  dieser  Höchstzahl  von  Arbeiterinnen 


148 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  11. 


beschäftigt  werden.  Ausserdem  sollen  Bestimmungen  über  [ 
die  Erleuchtung,  den  Luftraum,  die  innere  Einrichtung  in 
Bezug  auf  Ankleide-  und  Waschräume  u.  a.  m.  getroffen 
sein.  Die  für  Arbeiterinnen  und  jugendliche  Arbeiter  ge- 
meinsamen Bestimmungen  sollen  bis  zum  I.  April  1902,  die 
die  Arbeiterinnen  allein  betreffenden  bis  zum  I.  April  1898 
Gültigkeit  haben. 

So  sehr  auch  gewünscht  werden  muss,  dass  die  Nacht- 
und  Ueberarbeit  der  so  überaus  ungesunden,  ja  aufreibenden 
Arbeit  in  Zuckerfabriken  Frauen  und  jugendlichen  Arbeitern 
sofort  und  gänzlich  untersagt  werde,  so  muss  doch  aner- 
kannt werden,  dass  die  Bestimmungen  für  den  Uebergang 
in  den  gesetzlichen  Zustand  befriedigendere  sind,  als  die 
für  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  auf  Steinkohlen- 
werken etc.  im  Regierungsbezirk  Oppeln  dem  Bundesrathe 
gemachten  Vorschläge.  (Vergl.  No.  9 dieser  Zeitschrift, 
Seite  120.) 

Schutz  der  jugendlichen  Arbeiter  auf  Steinkohlen- 
bergwerken. Dem  Bundesrath  ist  ein  Entwurf  von  Be- 
stimmungen über  die  Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter 
auf  Steinkohlenbergwerken  zugegangen,  welche  bis  zum 
1.  April  1902  gültig  sein  sollen  Danach  darf  die  erste 
Schicht  nicht  vor  5 Uhr  morgens  beginnen,  die  zweite 
nicht  nach  10  Uhr  abends  schliessen,  keine  länger  als 
8 Stunden  dauern.  Am  Tage  vor  Sonn-  und  Festtagen 
darf  die  erste  Schicht  um  4 Uhr  morgens  beginnen,  am 
nächsten  Werktage  die  zweite  Schicht  um  12  Uhr  abends 
schliessen.  Zwischen  zwei  Arbeitsschichten  muss  den 

jugendlichen  Arbeitern  eine  Ruhezeit  von  mindestens 
12^  Stunden  gewährt  werden.  Ebenso  sind  eine  oder 
mehrere  Pausen  in  Gesammtdauer  von  mindestens  einer 
Stunde  an  Arbeitstagen  angeordnet.  Alles  Uebrige  ist  wie 
bei  den  anderen  ähnlichen  Bestimmungen  für  jugendliche 
Arbeiter  männlichen  Geschlechts  über  13  Jahre  auf  Stein- 
kohlenbergwerken festgesetzt. 

Scliutzvorschriften  für  Bergleute.  Für  den  preussi- 
schen  Bergbau  hat  die  Frage  der  Schiessarbeit  in  Schlagwetter- 
Gruben  zur  Zeit  dadurch  eine  Lösung  gefunden,  dass  im  Wege 
der  Bergpolizei  - Verordnung  seitens  der  Oberbergämter  die 
Schiessarbeit  vor  allen  Betriebspunkten,  an  welchen  sich  An- 
sammlungen schlagender  Wetter  durch  die  Sicherheitslampe 
bemerkbar  machen,  verboten  worden  ist  Dieses  Verbot  erstreckt 
sich  auch  auf  alle  belegten  Grubenräume,  die  mit  nicht  schlag- 
wetterfreien Betriebspunkten  in  naher  Wetterverbindung  stehen. 
Auch  bei  Abwesenheit  von  Schlagwettern  ist  die  Schiessarbeit 
mit  Schwarzpulver  oder  anderen  langsam  explodirenden  Spreng- 
stoffen in  solchen  Grubenbauen  verboten,  in  denen  erfahrungs- 
mässig  entzündlicher  Kohlenstaub  sich  bildet,  ebenso  in  solchen 
Grubenräumen,  die  mit  den  diesen  Kohlenstaub  führenden 
Grubenbauen  denselben  Wetter-Theilstrom  gemeinsam  haben. 
In  allen  Fällen  muss  vor  dem  Wegthun  eines  Schusses  fest- 
gestellt werden,  dass  innerhalb  einer  Entfernung  von  zehn 
Metern  Ansammlungen  von  Schlagwettern  nicht  vorhanden  sind 
Auch  im  Königreich  Sachsen  ist  man  dazu  übergegangen,  die 
Schiessarbeit  vor  allen  gefährdeten  Punkten  zu  verbieten.  In 
fachmännischen  Kreisen  bezeichnet  man  es  als  zweckmässig, 
wenn  die  Schiessarbeit  mit  Scüwarzpulver  oder  ähnlichen  lang- 
sam explodirenden  Sprengstoffen,  sowie  ferner  mit  Spreng- 
gelatine u dgl.  ohne  Anwendung  besonderer  Sicherheitspatronen 
vor  Arbeitspunkten  mit  Schlagwetter-Ausströmung  und  auch  in 
trockenen  Grubenräumen,  in  denen  sich  Kohlenstaub  bildet, 
gänzlich  untersagt  würde. 

Internationale  Regelung  der  deutschen,  österreichischen 
und  schweizerischen  Stickerei.  Das  Centralkomitee  der 
Arbeiter  und  Arbeiterinnen  der  ostschweizerischen  Stickerei- 
Industrie  und  der  Kantonalvorstand  st.  gallischer  Griitli- 
vereine  haben  nach  dem  „St.  Galler  Stadtanzeiger“  an  den 
Bundesrath  das  Gesuch  gerichtet,  derselbe  möchte  mit  den- 
jenigen Industriestaaten,  in  welchen,  die  Stickerei  in  grösserem 
Massstabe  betrieben  wird,  also  besonders  mit  Deutschland 
und  Oesterreich,  Verhandlungen  über  die  Regelung  einzelner 
Produktionsverhältnisse  durch  einen  Staatsvertrag  einleiten. 
In  der  Begründung  des  Gesuches  wird  darauf  verwiesen, 
dass  die  Stickerei  in  ihren  drei  Hauptgebieten  Schweiz,  Oester- 
reich, Deutschland  bereits  organisirt  sei,  die  betreffenden 
Privatverbände  sich  aber  als  nicht  ausreichend  erwiesen  haben, 
so  dass  die  Mithilfe  der  Staaten  nothwendig  werde  Ein  inter- 
nationales Vorgehen  des  Staates  werde  auf  diesem  Gebiete  t 
ebensowohl  von  den  Unternehmern  als  den  Arbeitern  gewünscht.  ' 
Die  Kaufleute  und  Maschinenbesitzer  werden  auch  eine  ent- 
sprechende Eingabe  an  den  Bundesrath  richten.  Als  Inhalt  der 
zu  vereinbarenden  Abmachungen  wird  die  Regulirung  der  Arbeits- 
zeit und  die  Feststellung  eines  Minimallohnes  bezeichnet. 

Gesetzlicher  Schutz  der  Handlungsbediensteteu  in  England. 
Am  24.  Februar  d.  J.  fand  im  englischen  Unterhause  eine  unge- 
mein interessante  Debatte  und  eine  noch  bedeutsamere  Ab- 


stimmung statt.  Es  handelte  sich  um  die  erste  Lesung  eines 
Gesetzentwurfes  zum  Schutze  der  Handlungsbediensteten-,  die 
von  Mr.  Provaud  eingebrachte  Shop  Hours  Bill  ist  eine  Erweite- 
rung der  Shop  Hours  Regulation  Act,  1886  (49  u.  50  Vict  c.  55). 
Diese  letztere  verfügt,  dass  jugendliche  Personen  nicht  in  oder 
in  Verbindung  mit  einem  Kaufladen  länger  als  74  Stunden 
wöchentlich,  einschliesslich  der  Mahlzeitpausen,  verwendet 
werden  dürfen.  Der  Entwurf  dehnt  diese  Bestimmung  auf  er- 
wachsene Frauen  aus  und  verlangt  die  Einsetzung  von  Inspek- 
toren zur  Ueberwachung  ihrer  Wirksamkeit  Es  lässt  sich  also 
auch  hier  dieselbe  Entwicklung  wie  bei  der  Fabrikgesetzgebung 
verfolgen:  erst  Schiüz  der  Kinder,  dann  Schutz  der  Frauen  und 
dadurch  mittelbar:  Schutz  der  erwachsenen  Arbeiter  über- 

haupt. 


Der  Antragsteller  hob  hervor,  dass  die  gegenwärtige : 
Arbeitszeit  der  weiblichen  Personen  in  Gasthäusern  und  Mode- 
waarenhandlungen  84-86  Stunden  wöchentlich  betrage.  Der  Ein- 
wand, dass  durch  die  Kürzung  der  Arbeitszeit  viele  Frauen  beruf- 
los würden,  sei  nicht  stichhaltig;  Männer  und  Frauen  sind  in 
den  meisten  Handlungshäusern  gleichzeitig  angestellt,  der  Vor-1 
theil  der  einen  würde  den  anderen  zu  Gute  kommen.  Der 
folgende  Redner,  Mr.  Baumann,  führte  aus,  dass  an  einen  Ersatz 
der  billigen  weiblichen  durch  theure  männliche  Arbeitskraft 


nicht  zu  denken  sei.  Er  selbst  sei  Individualist  in  dem  Sinne, 
dass  man  das  Individuum  schützen  müsse,  zumal  in  Zeiten,  in 
welchen,  mit  Carlyle  zu  sprechen,  „es  nöthig  sei,  den  Menschen 
einen  Zaum  anzulegen  und  sie  zu  zwingen,  recht  zu  handeln.“ 
Die  Gegner  suchten  die  Bill  durch  ein  Amendement  des  Inhalts 
zu  Falle  zu  bringen,  „dass  das  Haus  jede  weitere  Einmengung 
in  die  Arbeitszeit  erwachsener  Frauen  ablehne,  bis  die  Frauen 
die  verfassungsmässigen  Mittel  besitzen,  durch  das  parlamen- 
tarische Wahlrecht  ihrer  Meinung  darüber  Ausdruck  zu  ver- 
leihen.“ Das  Manöver  ist  nicht  neu;  schon  in  Neu-Südwales, 
hat  man  versucht,  sich  der  Frauenemanzipationsbewegung  gegen 
die  Schutzgesetzgebung  für  weibliche  Arbeiter  zu  bedienen. 
Die  Argumente  der  Gegner  waren  in  der  That  ungemein 
schwächliche.  Es  wurde  hervorgehoben,  die  Arbeit  der  Hand-, 
lungsbediensteten  bestehe  nur  in  leichten  Verrichtungen,  die 
unter  Plaudern  und  Handarbeiten  vor  sich  gehen.  Viscount 
Cranborne  ging  so  weit,  zu  behaupten,  man  könne  nicht  datf 
Argument  gelten  lassen,  dass  durch  die  Annahme  des  Entwurfes' 
die  Löhne  der  Männer  steigen  würden.  „Diesen  Frauen  habe 
die  Vorsehung  die  Kraft  gegeben,  Geld  zu  erwerben,  und  das 
Haus  habe  kein  Recht,  diese  ihre  Kraft  zu  verkürzen.“  Sir 
John  Lubbock  hatte  dem  gegenüber  ein  leichtes  Spiel,  darauf 
hinzuweisen,  dass  hier  eine  durch  keinerlei  Klassengegensätze' 
verschärfte  Frage  vorliege;  95  Prozent  der  Ladenbesitzer  seien, 
wie  in  Liverpool  durch  Cirkulare  erhoben  wurde,  für  die  gesetz-,; 
liehe  Regelung.  Das  Komitee,  welches  im  Jahre  1886  die  Shop' 
Hours  Act  vorbereitet  hatte,  habe  konstatirt,  dass  in  vielen  Be- 
zirken 85  stündige  wöchentliche  Arbeitszeit  herrsche.  Sir  James 
Paget  und  300  Londoner  Aerzte  haben  auf  die  Gesundheits- 
schädlichkeit dieser  Verwendung  durch  Petition  an  das  Parla- 
ment aufmerksam  gemacht,  ebenso  aus  pädagogischen  Gründen 
der  Erzbischof  von  Canterbury  und  der  Kardinal  Manning;  sehr 
massgebend  sei  auch  das  Zeugniss  der  Gewerbeinspektoren.  I 
Sir  Lubbock  empfahl  daher,  die  zweite  Lesung  zu  beschliessen, 
und  ein  Selekt-Komitee  mit  den  Erhebungen  über  die  Zweck- 
mässigkeit eines  Entwurfes,  sowie  der  Vorlage  eines  Halbfeier- 
tagsgesetzes für  Handlungsbedienstete  zu  beauftragen.  Der 
Minister  des  Innern  sprach  sich  gegen  den  Entwurf  aus,  er- 
klärte aber  ausdrücklich,  nur  im  eigenen,  nicht  im  Namen  der 
Regierung  so  zu  sprechen.  Er  bedauerte,  über  die  Sterblichkeit 
unter  weiblichen  Handlungsbediensteten  keine  statistischen 
Daten  zu  besitzen;  seiner  Ansicht  nach,  jener  der  bespöttelten 
Schule  des  Individualismus,  gehe  der  Entwurf  über  den  durch 
Fabrikgesetze  gewährten  Schutz  hinaus  Die  Stellen  der  Frauen 
würden  vermuthlich  durch  Männer  ausgefüllt  werden,  und 
zwar  wahrscheinlich  durch  fremde.  Eine  wirksame  Inspektion 
sei  nur  dann  denkbar,  wenn  der  Inspektor  den  ganzen  Tag  hin- 
durch im  Laden  bleibe.  Auch  der  Führer  des  Hauses,  Mr.  Bai- 1 
four,  erklärte  den  Entwurf  für  unannehmbar;  er  ersuchte  den 
Antragsteller,  seine  Vorlage  zurückzuziehen  und  die  Frage 
einem  Selekt-Komitee  zum  Studium  vorzulegen.  Mr.  Provaud 
zog  vor,  es  auf  die  Abstimmung  ankommen  zu  lassen,  die  mit 
23  Stimmen  Majorität  zu  Gunsten  der  zweiten  Lesung  und 
gegen  die  Regierung  entschied.  Hierauf  erst  beantragte  er  die 
Zuweisung  des  Entwurfes  an  ein  Selekt-Komitee.  Dieses  Er- 
gebniss  bedeutet  für  England  unzweifelhaft  einen  erfreulichen 
sozialpolitischen  Fortschritt  und  eine  denkwürdige  Niederlage 
der  alten  Schule. 


No.  1 I . 


SOZI  AI  ,l’OI  ,1  TISCH  KS  CENTRALBLAT'l . 


149 


Gewerbeinspektion. 

| 

Fabrikaufsicht  und  Arbeiterbewegung  in  Baden. 

Mit  gewohnter  Pünktlichkeit  ist  soeben  der  (ahres- 
bericht  der  grossherzogl.  badischen  Fabrikinspektion  für 
1891  erschienen.  Der  Inhalt  desselben  liefert  für  die  Be- 
urtheilung  schwebender  sozialpolitischer  Fragen  ein  so 
reiches  und  interessantes  Material,  dass  es  gerechtfertigt  er- 
scheinen dürfte,  wenigstens  einige  der  bedeutsamsten  Aus- 
führungen wiederzugeben. 

Vor  allem  ist  der  objektiven,  in  amtlichen  deutschen 
Berichten  leider  immer  noch  einzig  dastehenden  Berück- 
sichtigung zu  gedenken,  welche  der  modernen  Arbeiter- 
bewegung von  Seiten  des  verdienstvollen  Vorstandes  der 
badischen  Fabrikinspektion,  des  Herrn  Dr.  Wörishoffer '), 
gezollt  ward.  So  macht  derselbe,  ehe  die  Beziehungen,  die 
im  Berichtsjahre  zwischen  Kapital  und  Arbeit  bestanden 
haben,  besprochen  werden,  die  treffende  Bemerkung,  es  sei 
durchaus  unrichtig,  wenn  man  annehme,  dass  die  Arbeiter 
mit  der  fortschreitenden  Vervollkommnung  der  Technik  in 
immer  geringerem  Masse  an  den  industriellen  Erfolgen  Theil 
hätten.  Die  technischen  Fortschritte  seien  durchaus  nicht 
1 allein  das  Verdienst  der  Unternehmer  und  Erfinder, 
denn  sie  würden  nur  ermöglicht  durch  Erhöhung  des  ganzen 
Kulturzustandes.  Es  sei  eine  viel  zu  wenig  beachtete  Vor- 
aussetzung dieser  Fortschritte,  dass  ihrer  Durchführung  auch 
intelligente  Organe  bis  zum  letzten  Arbeiter  herab  zur  Ver- 
fügung stünden.  Die  Ansprüche  an  die  Zuverlässigkeit  der 
Leistungen  und  das  richtige  Urtheil  in  der  Leitung  des 
Arbeitsprozesses  durch  die  Maschine  seien  grösser  geworden. 
„Wenn  daher  die  Arbeiter  steigend  an  den  Früchten 
der  technischen  Fortschritte  theilnehmen  wollen, 
so  ist  dies  durchaus  nicht  der  Ausdruck  der  Be- 
gehrlichkeit, sondern  es  liegt  dem  die  die  innere 
Berechtigung  dieser  Forderung  begrün  dendeThat- 
sache  zu  Grunde,  dass  die  Arbeiter  ebenso  wie  die 
anderen  Stände  Träger  des  allgemeinen  Kultur- 
zustandes sind,  ohne  welchen  alle  diese  Fort- 
schritte einfach  undenkbar  wären.  Allerdings  müssen 
die  Arbeiter  auch  ihrerseits  sich  des  Zusammenhanges  mit 
den  gesellschaftlichen  Zuständen  bewusst  bleiben,  und  nicht 
ihre  innerlich  berechtigten  Forderungen  dadurch  in  Frage 
stellen,  dass  sie  diesen  Zusammenhang  durch  ausschliessliche 
Vertretung  ihres  Klassenstandpunktes  lösen.“ 

Die  geringe  Ausdehnung  der  Arbeitseinstellungen  und 
ihr  geordneter  Verlauf  wird  ,im  Wesentlichen1  „einem  be- 
sonnenen und  mässigenden  Einflüsse  der  Führer  der 
Arbeiterparteien  zugeschrieben,  welche  trotz  zähen  Fest- 
haltens an  ihren  Grundsätzen  einer  nutzlosen  Kraftver- 
geudung durch  aussichtslose  Arbeitseinstellung  Vorbeugen 
wollen.“  Wenn  die  thatsächliche  berufliche  Organisation 
j selbst  in  der  grössten  Industriestadt  des  Landes,  Mannheim, 
ungeachtet  der  politischen  Erfolge  der  dortigen  Arbeiter 
noch  nicht  sehr  weit  vorgeschritten  ist,  so  führt  der  amt- 
liche Berichterstatter  auf  die  rege  Organisationsthätigkeit 
doch  immerhin  den  Erfolg  zurück,  dass  trotz  des  Rück- 
ganges der  geschäftlichen  Prosperität  in  dem  abgelaufenen 
Jahre  keine  nennenswerthe  Lohnreduktion  stattgefunden 
hat.  Anerkennend  wird  über  die  Herberge  für  durch- 
reisende und  unverheirathete  Arbeiter  berichtet,  welche  die 
Centralisation  der  Gewerkvereine  in  Mannheim  ins  Leben 
gerufen.  „Ein  derartiges  positives  Eingreifen  der  Arbeiter- 
schaft zur  Herbeiführung  wirklicher  Verbesserungen  ist  er- 
freulich, und  sollte  von  allen  berufenen  Organen  unterstützt 
werden.  Es  widerstreitet  durchaus  dem  öffentlichen  Inter- 
esse, bei  den  Arbeitern  die  Meinung  aufkommen  zu  lassen, 
dass  ihre  Veranstaltungen  grösseren  Schwierigkeiten  be- 
gegnen, als  sie  bei  allen  neuen  Schöpfungen  ohnedem  über- 
wunden werden  müssen.“ 

b Die  philosophische  Fakultät  der  Universität  Freiburg  i.  B. 
n S1<i*1  Un-^  Herrn  Oberregierungsrath  Wörishoffer  dadurch  ge- 
ehrt, dass  sie  denselben  vor  Kurzem  in  Anbetracht  seiner  sozial- 
wissenschaftlichen  Verdienste  zum  Doctor  honoris  causa  promo- 
virt  hat.  ^ 


Unter  diesen  Umständen  ist  es  klar,  dass  Dr.  Wöris- 
hoffer  die  Anschläge  der  Arbeitgeber  zur  Vernichtung  der 
Arbeiterorganisationen  nur  scharf  verurtheilen  kann.  Seine 
diesbezüglichen  Aeusserungen  sind  aber  aus  verschiedenen 
Gründen  und  auch  mit  Rücksicht  darauf,  dass  sie  den  viel- 
fach höherenorts  vorhandenen  Auffassungen  durchaus  die 
materielle  Grundlage  entziehen,  so  bemerkenswert!!,  dass 
wir  dem  Wunsch,  sie  hier  vollinhaltlich  mitzutheilen, 
kaum  widerstehen  können:  „Anderseits  wurden  aber  auch 

im  Berichtsjahre  seitens  der  Arbeitgeber  mehr  als  früher 
Anstrengungen  gemacht,  die  Organisationen  der  Arbeiter 
zu  untergraben.  Oefter  fand  ein  Ausschluss  von  Arbeitern 
von  der  Beschäftigung  statt,  die  sich  wegen  ihrer  Thätig- 
keit  in  den  Fachvereinen  missliebig  gemacht  hatten.  Ein 
solches  Vorgehen,  so  schlimm  es  ohne  Zweifel  für  die  davon 
Betroffenen  ist,  nahm  aber  doch  nirgends  grössere  Dimen- 
sionen an,  unter  Anderem  vielleicht  auch  deshalb, 
weil  die  Arbeitgeber  sich  dadurch  ihrer  besten 
Arbeiter  berauben.  Meist  sind  nämlich  die  Arbeiter, 
welche  in  den  Fachvereinen  am  meisten  Einfluss 
haben,  zugleich  die  beruflich  tüchtigsten  Arbeiter. 
Vielleicht  ist  aber  auch  die  Sache  umgekehrt,  nämlich  so, 
dass  die  beruflich  tüchtigsten  Arbeiter,  welche  überall 
leicht  ankommen  können,  an  die  Spitze  der  Fachvereine 
gestellt  werden,  um  letztere  dadurch  vor  Massregelungen 
zu  schützen.  Dessenungeachtet  zeigt  sich  in  dem  Kampfe 
gegen  die  Organisationen  der  Arbeiter  doch  auf  vielen  Ge- 
bieten die  Ueberlegenheit  der  Arbeitgeber.  Wenn  den- 
selben auch  die  äussere  Berechtigung  zu  ihrem  Verhalten 
nicht  abgesprochen  werden  kann,  so  ist  ihr  Verhalten  doch 
unklug,  weil  das  Bestreben  der  Arbeiter,  sich  zur  Wahrung 
drrer  Interessen  zu  organisiren,  nicht  nur  durch  die  Gesetz- 
gebung anerkannt,  sondern  auch  an  sich  durchaus  berech- 
tigt ist,  und  den  allgemeinen  Interessen  nicht  widerstreitet. 
Diese  Organisation  hat  übrigens  so  grosse  innere  Schwierig- 
keiten, dass  gegen  sie  das  Verhalten  der  Arbeitgeber  kaum 
in  die  Wagschale  fällt.  Das  letztere  ist  nur  geeignet, 
die  Arbeiter  unnöthig  zu  verbittern.  . . . Wird  den 
Arbeitern  die  Anwendung  der  ihnen  zustehenden 
loyalen  Mittel  durch  Massregeln  wie  die  genannten 
unmöglich  gemacht,  so  kann  dies  auf  die  Dauer 
keine  guten  Folgen  haben,  und  die  im  Augenblicke 
erzielten  Eintags  erfolge  kommen  nicht  sowohl  den 
allgemeinen  Interessen  als  den  vorübergehenden 
einseitigen  Interessen  der  Arbeitgeber  zu  gut.“ 

ln  gleich  treffender  Weise  wird  das  Verhalten  der 
Gemeindebehörden,  die  es  nicht  für  nöthig  erachten,  bei 
dem  Erlass  von  Statuten  für  die  Gewerbegerichte  auch  an- 
erkannte Vertreter  der  Arbeitervereinigunnen  beizuziehen, 
kritisirt.  „Unter  allen  Umständen  kann  der  Zuzug  der  be- 
stehenden Arbeiter  Vertretungen  zu  allen  diesen  Fragen 
den  Dingen  selbst  nur  von  Nutzen  sein.  Speziell  bei  den 
Erhebungen  über  die  soziale  Lage  der  Fabrikarbeiter  in 
Mannheim  und  dessen  nächster  Umgebung  wurde  die  Er- 
fahrung gemacht,  dass  bei  allen  konkreten  Erörterungen 
die  Arbeiter  ein  gutes  sachliches  Urtheil  hatten,  und 
ihr  Zuzug  lieferte  eine  Anzahl  werthvoller  An- 
regungen. — In  Freiburg  siegte  bei  der  Wahl  der 
Arbeitervertreter  zum  Gewerbegericht  die  Liste  der  sozial- 
demokratischen Partei,  was  am  Anfang  bei  den  Arbeitgebern 
einen  gelinden  Schrecken  erregte.  Bald  fand  man  es  aber 
doch  nur  für  selbstverständlich,  dass  derjenige  Theil 
der  Arbeiter,  welcher  die  Interessen  seines  Standes 
am  rührigsten  vertritt,  auch  bei  den  offiziellen 
Wahlen  von  Arbeitervertretern  siegt,  und  man  fand 
es  auch  mitunter  erfreulich,  dass  die  Arbeiter  an  der  posi- 
tiven Weiterbildung  der  Verhältnisse  so  lebhaften  Antheil 
nahmen.“ 

Der  schon  früher  geäusserte  Wunsch,  das  Fabrik- 
inspektorat  möge  mit  anerkannten  Organen  der  Arbeiter- 
schaft in  Beziehung  gesetzt  werden,  weil  nur  so  eine 
entsprechende  Fühlung  mit  den  Arbeitern  und  weiter 
eine  befriedigende  Berichterstattung  über  die  Entwicklung 
der  Arbeiterverhältnisse  sich  erzielen  lasse,  wird  von 
Dr.  Wörishoffer  neuerdings  ausdrücklich  wiederholt.  Vor- 


150 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAT. BLAtt. 


No.  Li. 


läuiig'  scheint  ihm  das  sorgfältige  Studium  der  Arbeiter- 
zeitungen, deren  Anregungen  der  Bericht  mehrfach  erwähnt, 
einen  gewissen  Ersatz  zu  bieten. 

Nicht  selten  erfolgten  im  Berichtjahre  Herabsetzungen 
der  Arbeitszeit.  Am  weitesten  ist  die  Druckerei  der  sozial- 
demokratischen „Volksstimme“  in  Mannheim  gegangen, 
welche  seit  1.  Oktober  1891,  also  noch  vor  dem  Buch- 
druckerstrike,  die  achtstündige  Arbeitszeit  eingeführt  hat. 
Allgemein  war  man  von  dem  Erfolge  der  kürzeren  Arbeits- 
zeit und  den  Leistungen  der  Arbeiter  befriedigt.  „Man 
hebt  vielfach  den  Vortheil  hervor,  welcher  in  der  grösseren 
Frische  der  Arbeiter  für  die  Produktion  liege.“  Wenn 
dieser  Erfolg  auch  eiiifgermassen  sich  voraussehen  liess,  so 
hat  er  doch  in  einigen  Anlagen,  wo  der  Gang  der  Maschinen 
schon  früher  ein  so  rascher  war,  dass  er  kaum  gesteigert 
werden  konnte,  geradezu  überrascht.  Es  zeigt  sich  somit, 
„dass  die  menschliche  Leistungsfähigkeit  innerhalb  gegebener 
Grenzen  einer  grossen  Steigerung  fähig  ist,  wenn  jede  er- 
schlaffende Ueberbürdung  ferngehalten  wird.“ 

Im  Hinblick  auf  die  auffallend  zurückbleibende  körper- 
liche Entwicklung  der  jugendlichen  Arbeiter  bedauert 
Wörishoffer,  dass  bei  der  Reform  des  Arbeiterschutzes  der- 
selbe für  jugendliche  Personen  nicht  bis  zum  vollendeten 
18.  Lebensjahre  ausgedehnt  worden  ist.  So  könnte  ihnen 
wenigstens  noch  Schutz  vor  vorzeitiger  Nachtarbeit  ver- 
schafft werden.  Gegen  etwaige  Ausnahmen  von  dem  Ver- 
bote der  Nachtarbeit  weiblicher  Personen  wird  geltend  ge- 
macht, dass  dieselbe  in  der  Regel  nicht  technischen,  sondern 
nur  finanziellen  Bedürfnissen  des  Unternehmers  entspringe, 
dass  es  sich  meist  „um  eine  im  Interesse  der  Niederhaltung 
der  Löhne  getroffene  Einrichtung  handele.“ 

Zum  Schlüsse  mag  nicht  unerwähnt  bleiben,  wie  eifrig 
die  Arbeitgeber  darauf  bedacht  sind,  den  Arbeitern  die  be- 
scheidene Mitwirkung  bei  dem  Erlasse  von  Arbeitsordnungen, 
welchen  die  neue  Gesetzgebung  vorschreibt,  zu  entziehen 
und  so  eine  vom  § 134  g gelassene  Lücke  auszunützen.  Es 
heisst  da  bekanntlich,  dass  Arbeitsordnungen,  welche  vor 
dem  Inkrafttreten  des  Gesetzes  erlassen  worden  sind,  den 
Bestimmungen  des  § 134d  nicht  unterliegen,  also  desjenigen 
Paragraphen,  welcher  verlangt,  dass  vor  dem  Erlasse  der 
Arbeitsordnung  den  grossjährigen  Arbeitern  Gelegenheit 
gegeben  werde,  sich  über  den  Inhalt  derselben  zu  äussern. 
„Es  ist  fraglich,“  schreibt  der  Berichterstatter,  „ob  die  ge- 
nannte gesetzliche  Vorschrift  beim  Eintritt  der  Wirksamkeit 
des  Gesetzes  vom  1.  Juni  1891  häufig  zur  Anwendung 
kommen  wird,  weil  sich  die  Arbeitgeber  beeilen,  die 
Fabrikordnung  noch  vorher  abzuändern.“  Und 
weiter:  „Auch  bezüglich  der  erst  in  der  letzten  Zeit 
erlassenen  Fabrikordnungen  wird  stets  von  Neuem 
die  Erfahrung  gemacht,  dass  sie  der  Ausdruck  des 
einseitigsten  Unternehmerinteresses  sind.“ 

Freiburg  i.  B.  Heinrich  Herkner. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 

Staatlicher  Bau  ländlicher  Arbeiterwohmingen.  Die 

braunschweigische  Regierung  hat  dem  Landtage  eine  Vor- 
lage gemacht,  wodurch  sie  die  Bewilligung  von  780  000  Mk. 
aus  dem  Kapitalfonds  der  Kammer-  und  Klostergüter  er- 
fordert, um  dafür  weitere  Familienwohnungen  für  land- 
wirthschaftliche  Arbeiter  auf  den  Kammer-  und  Kloster- 
domänen zu  bauen.  Die  Vorlage  wird  einerseits  mit  dem 
Bediirfniss  der  Wirthschaftsführung  motivirt,  weil  Schaffung 
angemessener  Wohnungen  eines  der  einfachsten  Mittel  sep 
die  landwirthschaftlichen  Arbeiter  der  Güter  zu  erhalten, 
andererseits  werden  sozialpolitische  Gründe  dafür  angeführt. 
In  schlechten  Wohnungen  fände  der  Geist  der  Unzufrieden- 
heit leicht  eine  Stätte,  auch  müsse  der  Staat  bei  der  Für- 
sorge für  Verbesserung  der  Laoe  der  Arbeiter  nicht  zuriiek- 
stehen,  sondern  vorangehen.  Er  könne  das  um  so  leichter, 


als  die  finanziellen  Ergebnisse  der  Domänen  sehr  günstig 
sind.  Die  Erträge  der  Kammergüter  haben  sich  in  den 
letzten  20  Jahren  verdoppelt. 

W ohiiungszustämle  in  Bamberg.  Auf  Anordnung  der 

Gesundheitspolizei  wurden  Erhebungen  über  die  Arbeiter- 
wohnverhältnisse  in  Bamberg,  der  schön  gelegenen  baye- 
rischen Bischofsstadt  am  Main,  angestellt.  Dieselben  hatten 
folgendes  Ergebniss.  In  779  Quartieren  wohnen  2 915  Per- 
sonen, darunter  1 054  Kinder  im  Alter  von  unter  14  Jahren. 
Souterrainwohnungen  giebt  es  im  Ganzen  nur  5,  die  meisten 
Arbeiter  wohnen  zu  ebener  Erde.  In  5 Fällen  werden 
Wohnungen  benützt,  in  denen  sich  keine  Heizvorrichtung 
befindet.  In  385  Fällen  werden  2 Zimmer,  in  333  Fällen 
I Zimmer  von  einer  Familie  bewohnt. 

Wohnungszustämle  in  Warschau.  Nach  einer  im 
Frühjahr  1891  vorgenommenen  amtlichen  Erhebung  wohnen 
dort  20  °/M  der  Gesammtbevölkerung  in  Mansarden  und 
Kellern.  Die  letzteren  sind  überaus  elend,  2 °/0  derselben 
haben  gar  keine  Fenster  und  4"/()  trotz  des  strengen  Win- 
ters keine  Oefen.  Die  Zahl  der  Keller  betrug  5 623,  die 
im  Ganzen  6 993  Zimmer  enthalten;  die  meisten  Kellerräume 
bestehen  also  aus  einem  Zimmer.  Die  Einwohnerzahl  der- 
selben beträgt  28  175  Personen,  also  4,3  Personen  auf  jedes 
Zimmer.  Davon  sind  über  10  000  Kinder  jünger  als  15  Jahre. 
Auf  jeden  Bewohner  solcher  Keller  kommen  8 — 10, 8 Kubik- 
meter Luft  (die  normale  Quantität  soll  25  Kubikmeter  be- 
tragen). Licht  fehlt  überall  und  in  70  Kellern  sind  über- 
haupt gar  keine  Fenster,  sondern  blos  Löcher  in  der  Thür 
und  doch  muss  man  unter  solchen  Verhältnissen  arbeiten, 
da  912  solcher  Souterrains  Werkstätten  und  195  verschiedene 
Verkaufsläden  enthalten.  Die  Feuchtigkeit  solcher  „Woh- 
nungen“ kann  man  sich  vorstellen,  wenn  man  in  Betracht 
zieht,  dass  bei  den  Ueberschwemmungen  der  Weichsel 
17  Strassen  mit  Souterrainwohnungen  vom  Wasser  über- 
schwemmt werden.  Der  Miethspreis  ist  von  enormer  Höhe, 

! das  Zimmer  kommt  auf  96 — 136  (Mittel  121,4 ) Mark  jährlich 
zu  stehen.  Kein  Wunder,  dass  die  Sterblichkeit  eine  sehr 
grosse  ist.  1886  starben  in  Warschau  von  je  1 000  Personen  < 
der  besitzenden  Klassen  18,  der  Arbeiter  40,  der  Taglöhner  57.  < 


Litteratur. 


Hampke,  Pr.  Thilo,  Der  Befähigungsnachweis  im  Handwerk.  ; 

Sammlung  nationalökonomischer  und  statistischer  Abhand-  J 
langen  des  staatswissenschaftlichen  Seminars  zu  Halle  a.  S. 
Herausgegeben  von  Dr.  Joh.  Conrad.  VIII.  Band.  1.  Heft.  ' 
Jena.  G.  Fischer.  1892.  8«  und  192  S. 

Die  vorliegende  Schrift  ist  von  aktueller  Bedeutung.  Der 
Läge  des  Handwerkerstandes  und  ihren  Ursachen  sind  sechs 
Kapitel  gewidmet,  diese  erschöpfen  aber  die  Frage  nicht,  da  der 
Verfasser  unterlassen  hat,  das  vorhandene  Material  vollständigzu 
verarbeiten,  er  berücksichtigte  die  Rechtsprechung  der  Gewerbe- 
gerichte gar  nicht,  behandelt  das  gewerbe-statistische  Material 
viel  zu  wenig  eingehend,  endlich  scheint  er  aus  dem  Verkehre 
mit  Handwerkern  wenig  gelernt  zu  haben,  sonst  hätte  er  die  Kon- 
kurrenz der  Grossindustrie  mit  zahlreicheren  und  lehrreicheren 
Beispielen  belegen  können.  Aus  diesen  Mängeln  der  Vorarbeiten 
lässt  sich  sein,  wenn  auch  eingeschränkter  Optimismus  bei  Be- 
urtheilung  der  Lebensfähigkeit  der  handwerksmässigen  Betriebs- 
form erklären. 

Drei  Kapitel  widmet  der  Verfasser  der  auf  die  Einführung 
des  Befähigungsnachweises  gerichteten  deutschen  Handwerker- 
bewegung. Dieser  Abschnitt  des  Buches  bietet  viel  Lehrreiches, 
indessen  ist  zu  bedauern,  dass  die  Ursachen,  weshalb  ein  grosser 
Theil  der  Handwerker  von  der  Innungsbewegung  sich  fernhält, 
nicht  erörtert  wurden  Die  dritte  Abtheilung  des  Buches  ist 
speziell  der  Frage  des  Befähigungsnachweises  gewidmet,  sie 
enthält  den  werth vollsten,  fleissigsten  und  meist  durchdachten 
Theil  der  Arbeit.  Dass  der  Verfasser  im  Schlusskapitel  seiner 
Arbeit  mit  den  Kleinkraftmaschinen  die  Handwerker  auf  eine 
bessere  Zukunft  vertrösten  zu  können  glaubt,  spricht  mehr  für 
seinen  Optimismus,  als  für  gründliche  Abwägung  der  für  und 
gegen  diese  Auffassung  sprechenden  Gründe.  Trotz  der  Mängel 
der  Schrift  wird  sie  so  manches  Vorurtheil  aus  der  Welt  schaffen. 
Die  typographische  Ausstattung  verdient,  abgesehen  von  der 
ausserordentlichen  Zahl  von  Druckfehlern,  welche  auf  die  Her- 
stellung während  des  Buchdruckerstrikes  zurückzuführen  sein 
dürfte,  alles  Lob. 


\ £ nult  wörtlich  liii  die  Redaktion:  Df.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  II.  .5.  Hermann  in  Berlin, 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 

Berlin,  den  14.  März  1892. 


Kür  den  Anzeigentheil  sind  die  Redaktion  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Anzeigen-Annahmestelle  nur  bei 
Dr.  Otto  Eysler,  Berlin  SW.,  Charlottenstrasse  11.  Preis  für  die  3spaltige  Colonelzeile  40  Pf. 


©rrlag  otm  Bmuhrr  & Bumblof  in  Ueipfig. 


fTfrirffcm  ÄrhmnlTm*  3ur  bcutfdjim  öuctal-  itnti  (i'u'nu'vhrnnlitilt  ber 

vtplXfXyiU  <vUIllU)Uvt , ©egettitrarf.  Sieben  unb  ytnffnite  1890.  ©retS  9 SB?. 

TTirrn  l&renfcmn  Melier  bir  lirfa  dpm  dev  fjmttigni  l'orialcu  Bntlj.  (Sin 

.AH-IJU  J&K  vilXcltHJ^  «Beitrag  3111'  3)torV>l)olitgie  ber  ©tübomrtl|||l)aft.  1 1111b  2.  2litf= 
läge.  1889.  ©reiS  1 SOi. 


Staats-  unb  Juc ialui t pfen Fefraf Ui dj e Beiträge,  [|e™? 

91.  n Sütin^foiuäfi.  23 n li b T,  1.  unb  2 «pft.  1892  ©reiei  9,60  99i. 

I.  1.  Bur  Jraae  bcr  Braanifation  bes  lanbiuirttjldiat tltrijen  Krebifs  in  Brutfrfi- 
laitb  mtb  Belierreidi.  ©011  äß.  ©d)iff.  ©reid  3,60  Ulf. 

I,  2.  Bir  (Einttmnmenlteuer  in  Belterreirii  unb  iljre  Reform.  2?on  (£.  n.  giirtl). 
©reid  6 5)i. 


TPlffn  Baittri  (Bir  aenievtilidie  Hustiübung  der  lolinartieitenben  Mäbtfpm. 

Hslkkt  ac\CI  11  ip  ^ ©in  Beitrag  311V  beruflicljeu  (gQiefjinig  beo  uieildid)en  ©efcfjleditei.  1892. 
©reis?  40  ©fg. 


Iriti  Kalte,  ID  irf  ftfdf  aff  ti dje  Xelireit.  6.  Auflage,  ©reis  80  Sßfg. 
®erl;arf  it.  f> dj u h e - (!äa e uetntls , 2)ar[telüuig  ber  [ 03  i a t p 0 i i t i t ct)  e 1 1 

(Svjiefjmtg  be«3  euglifdjen  ©olfed  im  ueunjelpiten  3af)rt)unbev1.  3>rei  Sättbe.  1890. 
23reiö  9)3  18- 


3.  Qbuttentag,  Berlagsbinlifjaitblumi  in  Berlin. 

(Ühtffbuta^’plic  Sammlung 
Bv.  2.  Biutf |t1j,pr  Kctdfiuu'fi't  i'-  Bv.  2. 

lertQIusgaben  mit  Ültimerfungeii. 


^trafgefegtiutlj 

für  bas  Beutfdfe  Xteidj. 

9iebft  beit  gebräuclflicfifteit  9üeid)6  = (©trafgefeiseit: 

(©oft,  ^inpfen,  treffe,  ©evfonenftcmb,  iRatjnmgänüttel,  Ä’ronfem,  Unfall, 
21  ttevö=  unb  3ltün^bitcit§0erftc§erimg/  ©eiuerbeorbnung  n.  f.  in.) 

GL?xt-Mn&$abz  mit  Brnnndutnaen 

tunt 

Di*.  .£an§  Üiiibotff. 

§>  c rf)  s } v fj  it  f k JL  u f I a g r 

tunt 

Dp.  B.  Bppvliuö. 

® a i d)  e n f o r m a t , r a r f n n n i r t. 

tyvciS  I Wf. 


■fterber’fd)e  ftkrlngelmnblmtfl,  gfrdbimi  int  ©rei<8gau. 

Soeben  ift  erf d)ienen  mtb  burrf)  alle  ©ndjtjanblungen  31t  besiegen: 

Qlatfjrein,  ©.,  S.  J.,  Ber  ^ncialismus. 

©ine  llntcrfitcfniitg  feiner  ©rmtblagen  mtb  feiner  ®nrd)fut)rborfeit. 

Jiinfte,  mit  Bcnhüftd)tignntt  bes  tErfnrter  ]3rogramma  bebnttenb  nermelirle  Kujtage. 
(9leimted  unb  aetjnted  Saufenb.)  8".  (XVI  u.  198  ©•)  9)i.  1.60. 


rkXXX±X±X±±XX±±  ±±±XX±±X±  -:  •* 

■K 

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Sn  meinem  ©erläge  erfdjien: 

|ls 

0(f)mtiTeit  mt  ^djtintmen 

tum 

h mit  nun 

•pauptlefjrer. 

93anb  I mtb  11. 

®eöiditr  imii  flrriiiljliiiuirii 

in 

Sfiiiriitger  ätfunbort. 

i^reiö,  Ifodfeiegnnt  gebuiiben, 

ä «b.  $m  3,-. 

©orrätffg  in  alten  Sudjljaitblimgeii. 

©erlag  tum 

Eduard  Moos 

in  (Evfuvf. 


In  nnserm  Verlag  erschien: 

Quesnay,  Fr., 

Oeuvres  economiques  et  philosophiques,  ac- 
comp.  des  bloges  et  d’autres  travaux  biog-r.  sur 
Quesnay,  publ.  avec  introd.  et  notes  par 
A.  Oncken. 

Pranklurt  a Main  1888. 

Preis  Rmk.  ao.-. 

Em  stattlicher  Band  in  Imp.  8°.  Das  Werk 
ist  von  der  Fachpresse  geloht  und  auf  das  Ein- 
gehendste besprochen  worden,  u.  A.  schrieb  die 
„Revue  d’Economie“: 

„Quesnay  est  considere  comme  le  chef  de  l’ecole 
pbysiocratique,  et  cependant  ses  ecrits  sont  ä 
peu  pres  inconiuis:  ils  n’ont  jamais  6td  l’objet 
dune  etude  monographique;  et  avant  cette  ann6e 
une  seule  Edition  fort  incomirlfete  en  avait  6te 
publice  dans  la  Collection  des  principaux  6cono- 
mistes,  avec  une  preface  de  M.  Daire  (1846).  M 
Oncken  a voulu  combler  c e 1 1 e lacunede  notre 
^ 1 I ^.r m t u v e öconomique;  i L nous  donne  une 
edition  complete  et  savante  des  oeuvres 
economiques  et  philosophiques  de  F.  Quesnay. 
Le  public  franyais  doit  lui  en  gtre  particulifere- 
ment,  reconnaissant  . . .“ 

Joseph  Baer  &.  Co. 

Buchhändler  und  Antiquare. 

Frau  kirnt  a.  Main. 


fui  Hanti 

PndpltijL'ift  }\\i  flröfrung  mm  fneiilirijm 

»iunalrcfuvm. 

©rgan  br»  Brutfitji'u  Bnnbrs  für  Bobrit- 
brftfiU'Qirm. 

®rfd)eint  jeben  'JWoutao. 

2t  b n n n e nt  e n t § b e b i n g u u g e n : 

©ei  alten  ©oftanftalten  pltv.  2272 

bet  ©u^eitimgötifte)  ....  2)if.  o,80 
©ei  bireltev  Ävveuabanbfeiibung : 

in  Beutfd)tanb  uttb  Oefterreidj . „ 1,20 

im  2Bettpoftüemn  ....  „ 1,50 

Sit  ©erlitt  bei  freier  31Ifeubuitg  . . „ 

Bir  (ExpBbiftmi 

K.  tu* ries,  l5fallld|vt'Uu'v|tv.  55. 


Ul.  Berit  TdjP  Beridgslmri)I)cnibhtng  (Iftghar  Berk)  in  TJlimrijen. 


Sn  nuferem  Verlage  iit  erfdjieuen: 

l&rflltlfftPxS:***  CliitiiHiätrdH'v  U^rrdmlitaltalcittH'r.  9teuc  Solge.  Siebenter 
^UjlUU|tz>Z>  Satjrgang.  1891.  (©er  galten  Sieilje  XXXII.  93aub.)  £erand» 
gegeben  Hon  J^an*  ©elbrütf,  a.  o.  SJ3rofeff or  an  bev  Untoerfität  iöertin  nnb  93fitglieb  beö 
IKeidjcdagd.  22  33ogen.  ©ekeltet  8 501!. 

Üaiit  I XXXI  (1860-1890  non  2dmlHiei:=3veUulurfe-  (8efd)id)t«f«lenScv  rotvt*  l'io  auf  weiterem 
SU  tcin  ermäßigten  greife  non  80  9.W.  iic liefert. 


ferner: 

l»r.  ID.  Zeller, 

größt).  t)cff.  SRegierimgäral: 


Jmiatiftitäts-  ntth  BltgraBetdtdimtng&inrich  dm» 
22.  Hunt  1889.  Bmeite  oollftänbig  umgearbeitete 
2lnl)ang, 


91  nf  läge  mit  einem  Stnliang,  bie 
mad)u itgen  beö  33unbeöratd  entfjaltenb.  Äart.  l 93f.  80  5ßf. 


aSoüiugäbefannt  = 


Daa  HvlH'itcvlriinlnu'Vcli  ffir  bad  beutfdje  ,9teid)  bom  1.  Suni  1691  (9looelle 
ju  £it.  YII  ber  ©eroerbeorbnung).  Sejtanägabe  mit  Einleitung,  erläuternben  Slnnierfnngen 
nnb  fJiegifter.  8Vs  Sog.  fiart.  1 93?.  20  Sf- 


® erlag  non  Qüeorg  Krimer  in  Berlin, 
bittd)  alle  'öndjbanblnngen  31t  besieljen: 


£)a§ 

Urntiß  X\m  ©rauma 

non 


(Bmviie  Bitruij. 

Stutorifirte  Ueberfeiping  and  bem  granaofifctjeii 
non 

Dr.  grifj  5Bifd)öff. 

rfireiö  50t.  1,60,  gebunben  50t.  2,20. 

IDacno’a  (Eruciffoe. 

9t  0 ü e II  e 

non 

J.  Bknott  Qlraiuförb. 

Stntorifirte  Ueberfetmng  aus  bem  Englifd^en 
non 

©tierefe  topfiter. 

Sßveid  5Dt.  1,60,  gebunben  50t.  2,20. 


3.  (gnttfentag,  ©rrlagsbmhkanbluitg  in  Berlin. 

Keirijs  - ©L’fui’rfnt-  Brtmniui 

n c b ft  2(  itafit  I)  r it  it  g § b c ft  i 11t  nt  tt  tt  g c it . 

Bmu'ltc  -Fällung  bes  (i'ibfcijes.  


©ir*  Sfaaci 

(Sine  @r3Öl)Inng  ans  bem  heutigen  Sitbien 
non 

y.  Blavton  (Eramforb. 

Stntorifirte  Ueberfelmng  ans  bem  (Sngtifdjen 
non 

2d)crcfe  Spopfncr. 

tßreid  93?.  1,60,  gebunben  93t.  2,20 


% e j t = s2l  11  § g n b e mit  ill  n nt  e r f it  tt  g e 11  11  tt  b 6 a d)  regt  ft  e r 

n.  it 


<L.  pi|.  Bmu'v, 

^uHfievniuf ' vatlj. 

Elfte  Slnftiige. 

SafriiEnt'ormat;  ravt.  1 11!  k.  25  Pf. 


©erlag  nun  3.  C.  B.  Ifioftr  in  i'rrilmrg  i.  B. 
Soeben  erfdjieu: 

ö v t c v b 11  cb 

beä 

f ciitfriji'u  ^numltimgsri'djts. 

Sn  äJevbiubung  mit  nieten  5ßraftiferit  nnb  ©eieljrten 

1)  c v a 11  •>  it  c if  c h c it 
0011 

Dr.  ft.  tum  Stengel. 

(grfter  ®ant>  fetter  «anb 

21— ft  8—8 

sJDi . 19.—,  i]cb.  9)f.  ‘21.40.  9)1.  22—,  i]cb.  9Jf.  24,40. 

Aus  dem  Gel)iete  der  Socialgesetzgel)  u ni;  ent 
luilt  das  Wörterbuch  folgende  Artikel: 

Arbeiter  (gewerbliche),  Reichsversicherungsamt. 

Bergarbeiter.  Unfallversicherung. 

Fabrikaufsichtsbeamte. 

Fabrikgesetzgebung. 

Gesindepolizei.  Armen  recht. 

Invaliditäts-  und  Altersver-  Armenverwaltung. 

Sicherung.  Notstandsgesetzgebung. 

Knappschaftsvereine.  Sparkassen. 

Krankenversicherung.  Teue  ungspolizei. 

Landesversicherungsamicr.  Unterstütz  ungs' wohn  sitz. 

(frftcr  (frgänjungdbniib  ei-fdjeint  im  Souuar  1892. 


H.  (I.  BclhcnlirBd)cr'ö 

Cafitieiibiidi  für  fUiifltutt. 

20.  Stuft.  I.  Slbtf). 

9J?ünj=,  23Jaaf?=  nnb  @etthd)t§hinbe,  SBedifeb, 
©elb=  unb  ^onbScurfc. 

— ißveid  gebunben  93t.  9.  — 


Im  Verlage  von  Robert  Oppenheim 

(Gust.  Schmidt)  in  Berlin  S.W.  46  sind 

erschienen : 

■•«st,  J..  Prof.  Dr.,  Musterstätten 
persönlicher  Fürsorge  von  Arbeit- 
gebern für  ihre  Geschäftsange-  ' 
hörigen.  Bd.  I.  Die  Kinder  und 
jugendlichen  Arbeiter,  gr.  8U.  XII 
u.  380  S.  mit  44  Abbildungen.  1889.  ' 

geh.  M.  10. — , geb.  Mb  11.50. 

Patriarchalische  Beziehungen  in 

der  Grossindustrie.  Fünf  Briefe  an 
einen  Arbeitgeber.  (Sonderabdruck 
aus  „Musterstätten“  Bd.  I.)  gr.  8".  IV 
u.  86  S.  1889.  geh.  M.  1.50. 

May,  M.,  Zehn  Arbeiter-Budgets, 

deren  sieben  nur  mit  Zuschüssen  des 
Arbeitgebers  balancieren.  Ein  Bei- 
trag zur  Frage  der  Arbeiterwohl- 
fahrtseinrichtungen. 36  S.  in  gr.  8°. 
gell.  M.  — .60. 

Schneller,  W.,  Prof.  Dr.,  Die  Un- 
vereinbarkeit des  sozialistischen 
Zukunftstaates  mit  der  mensch- 
lichen Natur.  6.  Aufl.  80  S.  in  gr.8°. 
geh.  M 1. — . 

Verlag  hon  (f.  fi.  ,$irfd)felb  in  ^eipjtg. 

Buriate  5vaium 

tun*  fUtctljunbni  Jaljmt 

(an  Essay  on  Pro.jectsl 
non 

Daniel  Defoe 

1697. 

UcbrrielU  non  .ö  u g o y i j d)  c r. 

Prrts  1».  2.40. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : Dr.  Otto  Kysler  in  Berlin. 


Druck  von  II.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  21.  März  1892. 


Nummer  12. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltent 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 


Die  Organ  isationsbestrebun-  | 
gen  der  Gewerkschaften 
auf  dem  Halberstädter 
Kongress.  Von  Dr.  \dolf 
Braun. 

Soziale  Wirthschaftspolitik: 

Das  schweizerische  Ausw anderungs- 
gesetz.  Von  Kantonsstatistiker 
E.  N a e f. 

Der  Entwurf  eines  Heimstättenge- 
setzes für  das  Deutsche  Reich. 

Das  Höferecht  in  Tirol. 

Arbeiterzustände : 

Statistik  der  Arbeitslosigkeit  in 
England. 

Löhne  und  Lebenshaltung  der  (un- 
gelernten) Bauarbeiter  Harburgs. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Die  französischen  Arbeitergewerk- 
schaften. Von  Leo  Frankel. 

Rechenschaftsbericht  der  General- 
kommission der  deutschen  Ge- 
werkschaften. 

Der  Gewerkschaftskongress  zu  Hal- 
berstadt. 


Die  Kommis  der  Gemischtwaaren- 
händler  von  Paris. 

Handwerkerfragen : 

Eine  Statistik  wandernder  Hand- 
werksgehilfen. 

Verpflegung  und  Wohnung  der 
Lehrlinge  im  Hause  des  Meisters. 

Untern  ehmerverbände: 

Verein  deutscher  Juteindustrieller. 

Kartell  der  bayerischen  Spiegel- 
glasfabriken. 

Westfälisches  Koks-Syndikat. 

Vereinigung  niederrheinischer  Stoff- 
druckereien. 

Einschränkung  der  schottischen 
Tuteindustrie. 

Arbeiterversicherung: 

Amtliche  Berichte  Uber  die  Unfall- 
versicherung in  den  Jahren  1890 
und  1891.  Von  Dr.  M Quarck. 

Die  Krankenversicherung  der  Ar- 
beiter im  Jahre  1890. 

Gewerbegerichte : 

Ein  neues  Prud’hommes-Gesetz  in 
Frankreich. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Organisationsbestrebungen  der  Gewerk- 
schaften auf  dem  Halberstädter  Kongress. 

Der  Halberstädter  Gewerkschaftkongress  war  der  erste 
allgemeine  Gewerkschaftskongress  im  Deutschen  Reiche 
und  als  solcher  ein  sozialpolitisches  Ereigniss.  Wenn  wir 
von  den  Hirsch-Duncker’schen  Gewerkvereinen  absehen, 
waren  alle  Richtungen  der  gewerkschaftlich  organisirten 
deutschen  Arbeiter  auf  demselben  vertreten.  Seine  Verhand- 
lungen sind  deshalb  für  die  deutsche  Arbeiterbewegung 
und  deren  Beurtheilung  von  grosser  Bedeutung. 

Im  Mittelpunkt  des  Kongresses  stand  die  Frage  der 
Organisation  der  Gewerkschaften.  In  Bezug  auf  diese 
Hessen  sich  drei  Hauptgruppen  unterscheiden,  die  wir 
kurz  als  Vertreter  der  Unionen,  der  Industrieverbände  und 
der  Lokalorganisationen  mit  Vertrauensmännercentralisation 
bezeichnen  wollen.  Jede  dieser  Gruppen  hält  die  Centrali- 
sation  der  gewerkschaftlichen  Organisation  für  nothwendig, 
indess  macht  sich  keine  derselben  Hoffnung,  ihr  Prinzip  in 
nächster  Zeit  von  allen  gewerkschaftlichen  Organisationen 


angenommen  zu  sehen.  Die  Hauptursache  für  die  Ver- 
schiedenheit in  der  Auffassung  über  die  zweckentsprechendste 
Organisationsform  scheint  uns  in  dem  Umstande  zu  liegen, 
dass  den  deutschen  Gewerkschaften  eine  Geschichte  und 
Tradition  fehlt,  und  dass  sie  noch  immer  tastend  und  experi- 
mentirend  vorgehen  müssen,  weil  der  gesetzliche  Boden, 
auf  dem  sie  ruhen,  kein  fester,  sondern  ein  in  hohem  Grade 
schwankender  und  unsicherer  ist.  (Vergl.  unsere  Aus- 
führungen über  die  Lage  der  deutschen  Gewerkschaften 
in  No.  11  dieser  Zeitschrift.)  Zum  Theil  spielt,  ähnlich  wie 
nunmehr  auch  in  England,  eine  Differenz  in  der  Auffassung 
der  Aufgaben  der  Gewerkschaften  mit.  Während  die  Einen 
die  Gewerkschaften  fast  ausschliesslich  als  politische  Kampf- 
organisationen ansehen,  legen  die  anderen  das  Hauptgewicht 
auf  die  eigentlichen  gewerkschaftlichen  Aufgaben;  den 
ersteren  erscheinen  die  Gewerkschaften  als  überflüssig,  wenn 
innerhalb  derselben  nicht  öffentliche  und  politische  Ange- 
legenheiten behandelt  werden  können,  während  die  anderen 
für  ihre  politischen  Anschauungen  nur  ausserhalb  der  Ge- 
werkschaften in  öffentlichen  Versammlungen  der  Berufs- 
genossen, in  politischen  Vereinen  und  Volksversammlungen 
eintreten  wollen.  Dabei  ist  es  auffallend,  dass  diejenigen 
Gewerkschaften,  welche  die  Nothwendigkeit  politischer 
Bethätigung  innerhalb  der  Gewerkschaften  verfechten,  am 
meisten  die  bestehenden  gesetzlichen  Grundlagen  berück- 
sichtigen und  mit  grossem  Geschick  es  verstanden  haben, 
allen  Schwierigkeiten,  welche  die  deutschen  Vereinsgesetze 
der  Gewerkschaftsbewegung  bereiten,  aus  dem  Wege  zu 
gehen. 

Die  Organisationsform  einer  Centralisation  durch 
Vertrauensleute  mit  Lokalorganisationen  ist  mit 
Rücksicht  auf  die  Vereinsgesetzgebung  Preussens,  Bayerns, 
Sachsens,  Braunschweigs,  Anhalts,  Reuss  j.  L.  und  Lübecks 
geschaffen  worden.  Früher  war  diese  Organisationsform 
verbreiteter  als  gegenwärtig,  jetzt  bedienen  sich  der- 
selben vor  Allem  die  Töpfer  und  Stukkateure.  Wir  theilen 
hier  das  Wesentliche  über  diese  ausserhalb  der  Arbeiter- 
klasse sehr  wenig  bekannte  Form  mit.* 1)  Die  erste  und 
höchste  Instanz  ist  der  von  keinem  Vereine  einzuberufende 
Kongress  mit  Delegirten,  die  in  öffentlichen,  nie  in 
Vereinsversammlungen  gewählt  werden.  Dieser  setzt 
einen  Centralvorstand  zum  Zwecke  der  Geschäftsleitung 
ein,  sammelt  und  verwaltet  einen  Generalfonds  zur  Strike- 
unterstützung  und  Agitation,  regelt  die  Strikeangelegenheiten, 

')  Ein  Musterstatut  für  diese  Organisationsform  findet  sich 
in  der  „Anleitung  zur  Benutzung  des  Vereins-  und  Versammlungs- 
rechts“ (Bibliothek  der  Arbeiter  in  der  Thonwaarenmdustne  und 
den  verwandten  Berufszweigen.  Herausgjegeben  vom  General- 

i Ausschuss  der  Töpfer  Deutschlands.  III.  Heft\  Halle  a.'S.. 
Ferd.  Kaulich,  S.  32  u.  ff. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT.  Nu.  12. 


vertheilt  die  Unterstützung,  kann  statistische  Aufnahmen 
veranlassen  etc.;  er  unterlässt  Verhandlungen  politischer  An- 
gelegenheiten, kann  daher  mit  Centralkommissionen  anderer 
Gewerkschaften  in  Verbindung  treten,  ohne  mit  dem  Ver- 
einsgesetze in  Konflikt  zu  kommen;  falls  er  aber  Petitionen 
an  die  Regierung,  den  Reichstag  oder  Behörden  richtet, 
muss  er  wegen  der  Auslegung  des  § 8a  des  preussischen 
Vereinsgesetzes  und  ähnlicher  Bestimmungen  anderer 
deutscher  Vereinsgesetze  durch  die  Gerichte  die  Verbin- 
dung mit  anderen  Centralkommissionen  vermeiden.  Die 
Grundlage  dieser  Organisation  bilden  die  von  öffentlichen 
Versammlungen  der  Gewerksgenossen  einzelner  Orte  ge- 
wählten Vertrauensmänner,  je  einer,  höchstens  zwei  an 
einem  Orte.  Diese  Vertrauensmänner  haben  die  Aufgabe, 
mit  dem  Centralvorstande  in  Verbindung  zu  stehen,  sie  be- 
richten ihm  über  die  Vorkommnisse  im  Orte,  sorgen  hin- 
gegen wieder  für  Bekanntmachungen  der  Anordnungen 
und  Erlasse  des  Centralvorstandes  und  für  die  Durch- 
führung derselben.  Sie  sammeln  und  verwalten  einen 
Generalfonds  am  Orte,  berufen  öffentliche  Versammlungen 
der  von  ihnen  vertretenen  Arbeiter  ein  und  haben  die 
Interessen  derselben  nach  allen  Richtungen  zu  vertreten. 
Den  Vertrauensmännern  stehen  häufig  Lohnkommissionen 
zur  Seite,  die  in  ihren  Sitzungen  die  Behandlung  politischer 
Angelegenheiten  zu  vermeiden  haben;  ihre  Aufgabe  ist  die, 
den  Vertrauensmann  zu  unterstützen  und  seine  Amtsführung 
zu  beaufsichtigen.  Auch  die  Lohnkommission  ist  ohne  jeden 
Zusammenhang  mit  einem  Vereine  in  öffentlicher  Versamm- 
lung zu  wählen,  dasselbe  gilt  von  den  Revisoren,  deren  Auf- 
gabe es  ist,  die  Kassengebahr ung  des  Vertrauensmannes  zu 
beaufsichtigen  und  über  die  vorgenommenen  Revisionen  in 
öffentlichen  Versammlungen  Bericht  zu  erstatten.  Neben 
diesen  Vereinen  bestehen  lokale  Fachveine  oder  Gewerk- 
schaften, die,  ohne  mit  den  Behörden  in  Konflikt  kommen  zu 
müssen,  auch  Angelegenheiten  politischer  Natur  behandeln 
können.  In  denselben  kann  der  Vertrauensmann  Mitglied 
sein,  dagegen  soll  er  Aernter  in  denselben  nicht  annehmen. 

Die  den  Vertrauensmännern  zur  Verfügung  gestellten 
Gelder,  welche  meist  zum  Theil  an  den  Centralvorstand 
abgegeben  werden,  werden  in  der  Regel  durch  sogenannte 
Sammelbons  oder  durch  Sammellisten  aufgebracht. 

Der  hier  vorgeführte  Organisationsplan  wurde  von 
einer  schwachen  Minorität  am  Gewerkschaftskongresse  ver- 
treten; dieselbe  schlug  eine  Resolution  vor,  in  der  sie  das 
Prinzip  des  Klassenkampfes  scharf  betonte,  und  ferner  er- 
klärte, dass  die  Centralorganisation  in  den  vereinsgesetz- 
lichen Bestimmungen  einen  grossen  Hemmschuh  finde  und 
deshalb  eine  Organisation  geschaffen  werden  müsse,  die  den 
bestehenden  Vereinsgesetzen  keine  Handhabe  biete.  Diese 
Form  sei  die  Centralisation  mit  Vertrauensmännern.  Die 
Antragssteller  wussten,  dass  der  Kongress  den  von  ihnen 
vertretenen  Organisationsplan  nicht  adoptiren  werde  und 
schlossen  deshalb  ihre  Resolution  mit  dem  Satze: 

„Wir  erwarten  von  dem  Kongresse,  dass  er  jede  Form 
der  Arbeiterorganisation  als  zu  Recht  bestehend  anerkennt 
und  in  keiner  Weise  eine  Diktatur  auszuüben  sucht.“ 

Es  braucht  nicht  besonders  betont  zu  werden,  dass 
ein  Kongress,  der  zur  Herbeiführung  einer  straffen  cen- 
tralistischen  Organisation  einberufen  wurde,  auf  der  sämmt- 
liche  grossen  centralisirten  Gewerkschaften  vertreten  waren, 
den  Vorschlag  einer  Centralisation  mit  Vertrauensleuten  ent- 
schieden bekämpfte.  Es  wurde  u.  A.  eingewendet,  dass  die 
Vertrauensmännerorganisation  keine  nennenswerthen  Leis- 
tungen aufzuweisen  habe,  und  man  selbst  in  Sachsen,  trotz 
der  durch  die  Gesetzgebung  den  Arbeitern  aufgedrängten 
Vertrauensmännersysteme  eine  straffere  Organisation  an- 
strebe, dass  in  vielen  Bundesstaaten  die  Politik  treibenden 
Lokalorganisationen  Frauen,  Minderjährige  und  Ausländer 


nicht  aufnehmen  können,  die  Vertrauensmännerbewegung 
einen  autoritativen  Charakter  habe  und  endlich  nicht  einmal 
ein  Kongress,  wie  der  Halberstädter,  bei  Lokalorganisation 
möglich  gewesen  wäre. 

Die  überwiegende  Majorität  konnte  sich  von  den 
Gründen  der  Vertreter  des  Vertrauensmännersystems  nicht 
überzeugen  lassen,  andererseits  war  sie  selbst  aber  nicht 
einig  über  die  zu  wählende  Organisationsform.  Zwei  Haupt- 
richtungen, die  unter  sich  in  manchen  Punkten  differirten, 
standen  sich  in  der  Majorität  des  Kongresses  gegenüber:  die 
Vertreter  der  Unionen  und  die  der  Industrieverbände.. 

Ueber  diese  beiden  Organisationsformen  haben  sich 
in  dieser  Zeitschrift1)  Verfechter  derselben  eingehend  ge-  i 
äussert,  sodass  wir  dieselben  nur  kurz  zu  berühren  brauchen. 
Dagegen  ist  ein  näheres  Eingehen  auf  die  von  der  General- 
kommission der  deutschen  Gewerkschaften  vorgeschlagene  | 
Organisationsform  erforderlich,  weil  der  ursprüngliche  Vor- 
schlag derselben  zurückgezogen  und  durch  einen  weniger 
weitgehenden  ersetzt  wurde,  dessen  Grundzüge  in  Folgen- 
dem bestehen. 

Die  Verbindung  der  Centralvereine  der  verwandten  Berufs- 
zweige unter  einheitlicher  Leitung  zu  Gruppenorganisationen 
wird  nunmehr  nur  denjenigen  Gewerben  empfohlen,  in  deren 
Organisationen  dieselbe  praktisch  durchführbar  ist,  während  den 
übrigen  Gewerkschaften  blos  der  Rath  ertheilt  wird,  diese  Or- 
ganisationsform vorzubereiten  Vorerst  mögen  sich  die  Organi- 
sationen der  nächstverwandten  Gewerbe  durch  Kartellverträge 
verbinden.  Diese  Verträge  wären  dahin  abzuschliessen , dass 
die  verwandten  Berufe 

1.  bei  Streiks  und  Aussperrungen  gemeinsame  Beschlüsse  , 
fassen  uud  sich  finanziell  unterstützen: 

2.  ihre  auf  der  Reise  befindlichen  Mitglieder  gegenseitig  , 
unterstützen; 

,'i.  die  Agitation  möglichst  gleichmässig  und  auf  gemein-  . 
schädliche  Kosten  betreiben ; 

4.  statistische  Erhebungen  gemeinsam  veranstalten; 

5.  Herberge  und  Arbeitsnachweise  zentralisiren,  sowie 

b.  das  Presswesen  regeln. 

Da  angesichts  des  gegenwärtigen  Standes  der  wirthschaft- 
lichen  Entwickelung,  bei  Errichtung  von  Industrieverbänden  die 
Heranziehung  der  den  Organisationen  noch  indifferent  gegenüber-  ; 
stehenden  Arbeitermassen  voraussichtlich  sehr  erschwert  wird,  ; 
diese  v, elmehr  bei  Organisationen  in  Berufsverbänden  in  un-  , 
gleich  höherem  Masse  zu  erwarten  steht,  könne  die  Bildung  ! 
von  Industrieverbänden  gegenwärtig  nicht  allgemein  empfohlen 
werden. 

Als  Grundlage  der  Organisation  werden  die  in  Verbänden 
zentralisirten  Berufsorganisationen  betrachtet  und  sämmtlichen 
Arbeitern  empfohlen,  sich  den  bestehenden  Centralisationen  an- 
zuschliessen  resp.  solche  zu  bilden  in  Gewerken,  welche  bisher 
lokal  organisirt,  oder  durch  ein  Vertrauensmännersystem  ver- 
bunden waren. 

Jeder  dieser  Centralvereine  (Verbände)  habe  in  allen  Orten, 
wo  eine  genügende  Anzahl  Berufsgenossen  vorhanden  und  keine 
gesetzlichen  Hindernisse  im  Wege  stehen,  Zahlstellen  zu  er- 
richten. Wo  solche  Hindernisse  bestehen,  sei  den  Arbeitern  zu 
empfehlen,  als  Einzelmitglieder  den  Centralvereinen  beizutreten 
und  sich  durch  gewählte  Vertrauensmänner  eine  stete  Vertretung 
und  Verbindung  mit  der  Gesammtorganisation  zu  schaffen. 
Dieses  Vertrauensmänner-System  ist  so  zu  gestalten,  dass  es 
gleichzeitig  eine  V ertretung  der  Gesammtheit  der  Berufsgenossen  ! 
an  den  Orten  bildet,  wo  für  die  Centralvereine  als  solche  | 
Schwierigkeiten  bestehen. 

Ausserdem  können  an  solchen  Orten  lokale  Vereine  j 
eventuell  in  Verbindung  mit  verwandten  Berufszweigen  ge- 
schaffen werden. 

Die  Verbindung  der  einzelnen  Centralisationen  zum  ge- 
meinsamen Handeln  in  Fällen,  bei  welchen  Alle  gleichmässig 
interessirt  sind,  soll  durch  eine  auf  dem  jeweilig  stattfindenden 
Gewerkschaftskongress  zu  erwählende  Generalkommission  her- 
beigeführt werden. 

Die  Aufgaben  dieser  Generalkommission  werden  nunmehr 
in  folgender  Weise  umschrieben: 



*)  Das  Programm  des  deutschen  Gewerkschaftskongresses 
von  C.  Legien  im  Sozialpol.  Centralblatt,  No.  5,  S.  65  fg.  und  Zum 
Programm  des  deutschen  Gewerkschaftskongresses  von  M.  Segitz. 
ebendaselbst.  No.  7,  S.  92. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


153 


1 No.  12. 

die  Betreibung  der  Agitation  in  denjenigen  Gegenden, 
Industrien  und  Berufen,  deren  Arbeiter  noch  nicht 
organisirt  sind; 

die  von  den  einzelnen  Centralvereinen  aufgenommenen 
Statistiken  zu  einer  einheitlichen  für  die  gesammte 
Arbeiterschaft  zu  gestalten  und  eventuell  zusammen- 
zustellen ; 

statistische  Aufzeichnungen  über  sämmtliche  Strikes  zu 
führen  und  periodisch  zu  veröffentlichen; 
ein  Blatt  herauszugeben,  welches  die  Verbindung  sämmt- 
licher  Gewerkschaften  mit  zu  unterhalten,  die  nöthigen 
Bekanntmachungen  zu  veröffentlichen  und  soweit  ge- 
boten, deren  rechtzeitige  Bekanntmachung  in  der  Tages- 
presse herbeizuführen  hat,  und 

in  geeigneten  Fällen  und  unter  Zustimmung  der  Mehr- 
heit der  Centralvereinsvorstände  aus  dem  vorhandenen 
Fonds  Darlehen  an  einzelne  Gewerkschaften  zur  ITnter- 
stützung  von  Strikes  zu  gewähren. 

Die  einzelnen  Central  vereine  sollen  pro  Mitglied  und 
Quartal  10  Pf.  an  die  Generalkommission  zahlen. 

Aus  diesen  Beträgen  wären  zunächst  die  Kosten  für  die 
Verwaltung  und  Agitation  zu  decken.  Der  Rest  soll  zur  An- 
sammlung der  unter  Zitier  5 genannten  Fonds  benutzt,  Dar- 
lehen aus  diesen  Fonds  erst  dann  gegeben  werden,  wenn  der- 
selbe die  Höhe  von  100  000  M.  erreicht  hat.  Der  Fonds  soll  auf 
dieser  Höhe  erhalten  werden. 

Diejenigen  Gewerkschaften,  welche  ihren  Verpflichtungen 
gegenüber  der  Generalkommission  bezw.  die  Zahlung  der  Bei- 
träge nicht  leisten,  sollen  keinerlei  Anspruch  auf  moralische 
oder  pekuniäre  Unterstützung  haben  und  Sitz  und  Stimme  auf 
den  von  der  Generalkommission  einberufenen  allgemeinen  Ge- 
werkschaftskongressen verlieren. 

Ueber  Beginn,  Weiterentwicklung,  Beendigung  und  Erfolg 
von  Strikes  ist  der  Generalkommission  regelmässig  Bericht  zu 
erstatten  — desgleichen  müssen  derselben  die  von  den  einzelnen 
Gewerkschaften  aufgenommenen  statistischen  Erhebungen  zur 
Verfügung  gestellt  werden. 

Endlich  wird  den  Gewerkschaften  empfohlen  zum  Zweck 
wirksamer  Agitation  und  Ansammlung  von  Fonds  die  Beiträge 
entsprechend  zu  erhöhen. 


3. 


Legien,  der  diesen  Organisationsplan  in  erster  Linie 
vertrat,  führte  zu  seiner  Unterstützung  im  wesentlichen  Fol- 
gendes aus.  Die  Centralorganisationen  sollen  nur  Fach-  nicht 
Parteipolitik  treiben.  Heute  können  Industrieverbände  noch 
nicht  allgemein  gegründet  werden,  man  müsse  sich  deshalb 
wie  in  England  vorerst  noch  mit  der  Centralisation  der 
Branchen  begnügen.  Ein  Industrieverband  beispielsweise 
der  Holzbearbeitungsgewerbe  sei  schon  wegen  der  Ver- 
schiedenheit der  Mitgliederbeiträge  in  den  einzelnen 
Branchenorganisationen  und  wegen  der  entsprechend  ver- 
schiedenen Leistungen  derselben  an  die  Mitglieder  unmög- 
lich. Diese  Verschiedenheiten  können  nicht  mit  einem 
Schlage  ausgeglichen  werden.  Als  Vortheile  der  Unionen 
führte  Legien  an,  dass  die  Agitation  einheitlich  und  da- 
mit sparsamer  betrieben  werden,  die  Unterstützung  von 
Strikes  durch  die  Fonds  der  Unionen  stattfinden,  die 
Aufnahme  der  Statistik  in  ein  einheitliches  System  ge- 
bracht werden  könnte  bei  Verminderung  der  Kosten  und 
bei  besserer  Verwerthung  der  Erhebung  der  Statistik. 
Endlich  könnte  auch  die  Organisation  der  Presse  eine 
zweckentsprechendere  Gestalt  erhalten. 

Die  Organisationsform  der  Industrie  verbände  ver- 
focht Segitz.  Er  vertrat,  zwei  Resolutionen  der  Gewerk- 
schaften Nürnbergs  und  Fürths  und  die  seitens  des 
Vorstandes  und  Ausschusses  des  Metallarbeiterverbandes 
vorgeschlagene  Resolution.  In  diesen  Resolutionen  wird 
die  Gründung  einer  Generalkasse  nach  dem  Muster  der 
schweizerischen  Arbeiterreservekasse  empfohlen,  zu  der 
alle  betheiligten  Gewerkschaften,  ohne  dass  ein  Zwang 
.stattfinde,  einen  bestimmten  nach  der  Kopfzahl  berech- 
neten Beitrag  zahlen  sollen.  Aus  dieser  Kasse  sollen 
bei  aussergewöhnlichen  Lohnkämpfen  Unterstützungen  und 
unverzinsliche  Darlehen  bewilligt  werden.  Die  Kasse 


soll  einem  Verwaltungsrath  unterstehen,  der  aus  je  einem 
Mitgliede  der  betheiligten  Gewerkschaften  und  einem 
besoldeten  Generalkassirer  und  einem  fünfgliedrigen 
Exekutivausschuss  bestehen  soll.  Weder  Generalkassirer 
noch  die  Mitglieder  des  Exekutivausschusses  sollen  eine 
leitende  Stelle  in  einer  Gewerkschaft  bekleiden  dürfen,  da- 
mit verhindert  werde,  dass  sie  eine  oder  andere  Gewerk- 
schaft bevorzugen.  Ausserdem  wird  die  von  den  meisten 
Metallarbeiterbranchen  adoptirte  Centralvereinigung  von 
Industriegruppen  für  die  Arbeiter  der  Grossindustrie 
empfohlen.  Eine  örtliche  Gliederung  in  Sektionen  nach 
Berufen  soll  möglich  bleiben.  Die  Regelung  der  Wander- 
unterstützung,  des  Herbergswesens  und  der  Agitation  soll 
jeder  Organisation  selbst  überlassen  bleiben.  Zur  gegen- 
seitigen Verständigung  über  Fragen,  welche  alle  Gewerk- 
schaften ohne  Unterschied  des  Berufes  interessiren,  sollen 
die  Vorstände  der  verschiedenen  Gewerkschaften  in  ge- 
eigneten Zwischenräumen  zur  Berathung  zusammen  treten. 
Alle  drei  Jahre,  in  gewissen  Fällen  auch  früher,  sollen  zu 
gleichem  Zwecke  allgemeine  Gewerkschaftskongresse  abge- 
halten werden.  Den  bestehenden  Organisationen  soll  bis 
zum  I.  April  1894  Zeit  gelassen  werden,  sich  nach  diesen 
Vorschlägen  zu  organisiren. 

Als  Vorzüge  dieser  Vorschläge  hob  Segitz  die  Ein- 
fachheit und  leichte  Beweglichkeit  dieser  Organisationsform 
hervor,  und  dass  sie  allein  sämmtlichen  Arbeitern  einer 
Fabrik  Einheitlichkeit  und  Planmässigkeit  des  Vorgehens 
ermöglichen.  Die  praktische  sofortige  Durchführung  der- 
selben fordert  er  nicht,  er  begnügt  sich  vorläufig  mit  der 
Anerkennung  ihrer  theoretischen  Richtigkeit.  Von  anderer 
Seite  wird  für  die  von  Segitz  vertretenen  Grundsätze  noch 
ins  Feld  geführt,  dass  der  nach  diesem  Muster  zusammen- 
gesetzte Metallarbeiterverband  dem  „Kastengeiste“  der 
Arbeiter  und  der  Verschiedenheit  der  lokalen  Verhältnisse 
in  hohem  Masse  Rechnung  trage. 

Die  hier  charakterisirten  Richtungen  kämpften  auf  dem 
Gewerkschaftskongress  um  Geltung  in  der  zu  schaffenden 
Organisation.  In  dem  Moment,  in  welchem  wir  diese  Zeilen 
abschliessen,  ist  die  Entscheidung  insofern  erfolgt,  als  die 
Mehrheit  des  Kongresses  sich  im  Prinzip  für  die  von  Segitz 
befürworteten  Industrieverbände  als  Organisationsform  aus- 
gesprochen hat.  Indess  ist  mit  diesem  prinzipiellen  Votum 
volle  Sicherheit  über  die  Gestalt  der  künftigen  Organisation 
nicht  gewonnen,  weil  sehr  wichtige  Fragen  noch  unent- 
schieden sind.  Wir  behalten  uns  vor,  nach  Beendigung  des 
Kongresses  die  auf  demselben  erzielten  Ergebnisse  einer 
kritischen  Prüfung  zu  unterziehen. 

Soweit  man  jetzt  urtheilen  kann,  wird  eine  einheit- 
liche Organisation  der  deutschen  Gewerkschaften  durch  den 
Kongress  zu  Halberstadt  noch  nicht  herbeigeführt  werden. 
Derselbe  wird  vieles  zur  Klärung  der  Meinungen  beigetragen 
und  späteren  ähnlichen  Bestrebungen  nützlich  vorgearbeitet 
haben.  Vorerst  werden  aber  die  verschiedenen  Organisations- 
formen wohl  noch  weiter  nebeneinander  bestehen,  so  vor 
allem  die  für  sich  centralisirten  Gewerkschaften  einzelner 
Branchen,  der  Industrieverband  der  Metallarbeiter  und  die 
Vertrauensmännercentralisation  mit  Lokalorganisationen. 
Dabei  darf  aber  nicht  übersehen  werden,  dass,  wenn  auch 
viele  Vertreter  der  Gewerkschaften  in  Halberstadt  ausdrück- 
lich oder  stillschweigend  das  getrennte  Marschiren  vertraten, 
ausnahmslos  alle  für  das  vereinte  Schlagen  mit  Entschie- 
denheit eintraten. 

Z.  Zt.  Halberstadt.  Adolf  Braun. 


I 


154 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  12. 


Soziale  Wirthschaftspolitik. 

Das  schweizerische  Auswanderungsgesetz. 

Da  man  sich  in  Deutschland  anschickt,  die  Aus- 
wanderung von  Reichswegen,  gesetzlich  zu  regeln,  so  mag 
eine  kurze  Darstellung  der  einschlägigen  schweizerischen 
Gesetzgebung  Interesse  bieten. 

Die  Bundesverfassung  von  1874  überträgt  dem  Bund 
die  Aufsicht  und  Gesetzgebung  über  den  Geschäftsbetrieb 
der  Auswanderungsagenturen;  vorher  lag  die  Gesetzgebung 
in  den  Händen  der  Kantone,  war  aber  sehr  lückenhaft  und 
unzureichend.  Es  fehlte  bei  den  Revisionsdebatten  nicht 
an  Stimmen,  welche  weiter  gehen  und  die  gesammte 
Organisation  der  Auswanderung  verbunden  mit  der  Koloni- 
sation dem  Bund  übertragen  wollten;  allein  sie  blieben  in 
der  Minderheit.  Die  Mehrheit  und  mit  ihr  der  Bundesrath 
stellten  sich  auf  den  Standpunkt,  dass  eine  weite  Aus- 
dehnung der  Bundesautorität  über  das  gesammte  Aus- 
wanderungswesen die  Grenzen  überschreite,  welche  in  dem 
modernen  Staat  für  seine  Machtausübung  und  für  den  Zu- 
sammenhang mit  seinen  ehemaligen  Angehörigen  gestattet 
sind.  Der  Staatsschutz  erstrecke  sich  im  Allgemeinen  über 
Auswandernde  wesentlich  auf  das  Gebiet  des  eigenen 
Landes  und  darüber  hinaus  höchstens  soweit,  bis  der  Aus- 
wandernde dauernd  eine  neue  Heimat  gefunden  hat,  und 
nach  seiner  Absicht  oder  nach  den  Gesetzen  des  neuen 
Staates  in  eine  andere  Staatsangehörigkeit  (Bürgerrecht 
oder  förmliche  Niederlassung)  getreten  ist.  Dagegen  sei 
dem  Staat  die  Aufgabe  zugewiesen,  durch  geeignete 
Gesetzgebung  über  die  Auswanderungsagenturen  für 
die  Interessen  der  Auswandernden  zu  sorgen,  den- 
selben ein  gehöriges  Aufsuchen  der  Auswanderungs- 
ziele und  der  geeigneten  Mittel  zur  leichtesten  Er- 
reichung derselben  durch  staatlichen  Rath  und  Belehrung 
zu  ermöglichen,  dieselben  bis  zur  faktischen  Erreichung 
dieses  Zieles  durch  geeignete  Organe  und  Verbindungen 
auch  im  Auslande  in  Schutz  zu  nehmen,  endlich  sogar 
dauernd  eine  gewisse  entferntere  Aufsicht  durch  diese  Or- 
gane weniger  über  die  ausgewanderten  Personen  als  über 
das  Auswanderungswesen  selbst  im  Auslande  auszuüben. 

Nach  diesen  Grundsätzen  wurde,  gestützt  auf  die  vor- 
erwähnte Verfassungsbestimmung,  im  Jahre  1880  das  erste 
Bundesgesetz  erlassen.  Wie  schon  sein  Titel  besagte,  ging 
es  über  den  Rahmen  der  staatlichen  Kontrolle  des  Geschäfts- 
betriebes von  Auswanderungsagenturen  nicht  hinaus.  Es 
zeigte  sich  indessen  bald,  dass  von  Staates  wegen  tür  den 
Schutz  der  Auswanderer  mehr  getlian  werden  musste,  und 
so  brachte  die  1888  erfolgte  Revision  des  Gesetzes  gleich- 
zeitig mit  der  Verschärfung  der  Kontrollmassregeln  die  Er- 
richtung eines  eigenen  Biireaus  für  Auswanderung  mit 
Kommissariat  zur  Ueberwachung  der  Spedition  der  Aus- 
wanderer und  Ertheilung  von  Auskunft,  Rath  und  Hilfe. 

Was  nun  zunächst  die  Beaufsichtigung  der  Aus- 
wanderungsagenturen betrifft,  so  erfolgt  sie  von  Seite  des 
Bundes  unter  Mitwirkung  der  Kantone.  Die  Kantons- 
regierungen prüfen  die  Qualifikation  der  Bewerber  für  ein 
Agenturpatent;  verlangt  wird  hierfür:  guter  Leumund, 
bürgerliche  Ehrenfähigkeit,  Kenntniss  des  Auswanderungs- 
geschäfts und  Domizil  in  der  Schweiz;  die  Kaution  beträgt 
40  000  Frcs.  und  dazu  für  jeden  Unteragenten  eine  solche 
von  3000  Frcs.  Uebertretungen  gegen  das  Gesetz  und  Ent- 
schädigungsklagen von  Auswanderern  werden  von  den 
kantonalen  Gerichten  beurtheilt.  Die  Mitwirkung  der  Kan- 
tone kann  und  muss  überall  da  eintreten,  wo  der  Bund 
nicht  ausschliesslich  allein  zu  handeln  berufen  oder  in  der 
Lage  ist. 

Man  hoffte,  mit  der  Forderung  einer  Kaution  für  die 
Unteragenten  die  stark  angewachsene  Zahl  derselben  zu 
reduziren  Wirklich  ging  sie  in  den  ersten  Jahren  nach 
Erlass  des  Gesetzes  etwas  zurück;  allein  seitdem  wächst 
sie  wieder,  und  der  gehoffte  Erfolg  wird  illusorisch.  Viel- 
leicht dass  man  es  nun  mit  Festsetzung  einer  Maximalzahl 
versuchen  wird,  doch  dürfte  auch  in  diesem  Falle  der  Er- 


folg zweifelhaft  sein.  Die  Zahl  der  öffentlichen  Agenten 
wird  wieder  abnehmen,  dafür  aber  in  gleichem  Grade  die- 
jenige der  unkontrollirbaren  geheimen  Zuweiser  zunehmen. 
Die  Gefahr  liegt  übrigens  weniger  in  der  Zahl  der  Agenten, 
als  in  der  Art  und  Weise,  in  welcher  die  Propaganda  be- 
trieben wird.  Verführungen  und  Verlockungen  soll  das 
Gesetz  mit  aller  .Schärfe  entgegentreten;  in  der  blossen  Zu- 
weisung von  Auswanderern  an  die  Hauptagentur  kann  da- 
gegen unmöglich  ein  Vergehen  gefunden  werden. 

Die  Agenten  haben  über  ihren  Vertragsabschluss 
Kontrolle  nach  einheitlichem,  vom  Bund  festgesetztem 
Formular  zu  führen;  auch  das  Vertragsformular  ist  einheit- 
lich. Sie  dürfen  nicht  befördern:  invalide  Personen,  sofern 
nicht  eine  hinlängliche  Versorgung  derselben  am  Be- 
stimmungsorte nachgewiesen  ist;  minderjährige  oder  unter 
Vormundschaft  stehende  Personen  ohne  Einwilligung  der 
Inhaber  der  elterlichen  oder  vormundschaftlichen  Gewalt; 
Kinder  unter  16  Jahren  müssen  überdies  von  zuverlässigen 
Personen  begleitet  werden,  und  es  muss  für  ihre  gehörige 
LTnterkunft  am  Reiseziel  gesorgt  sein;  ferner  Personen, 
welche  nach  Bestreitung  der  Reisekosten  ohne  Hilfsmittel 
anlangen  würden,  und  Personen,  denen  die  Gesetze  des 
Einwanderungslandes  den  Eintritt  verbieten;  Personen, 
welche  keine  Heimathsschriften  besitzen  oder  dem  Staat  die 
erhaltenen  Militäreffekten  nicht  zurückerstattet  haben, 
Eltern,  welche  ohne  Einwilligung  der  zuständigen  Armen- 
behörden unerzogene  Kinder  zurücklassen  wollen.  Ein 
Aufgebot  findet  nicht  statt,  sondern  der  Agent  wird  ein- 
fach empfindlich  bestraft,  wenn  ihm  nachgewiesen  wird, 
dass  er  das  Speditionsve-rbot  übertreten  hat. 

Den  Agenturen  sowohl  als  den  Kolonisationsgesell- 
schaften ist  der  Abschluss  von  Verträgen,  laut  welchen  sie 
sich  zur  Lieferung  von  einer  gewissen  Anzahl  Personen, 
sei  es  an  Schiffsgesellschaften,  Kolonisations-  und  andere 
Unternehmungen  oder  Staatsregierungen  verpflichten,  unter- 
sagt. Ferner  enthält  das  Gesetz  alle  diejenigen  noth- 
wendigen  vorsorglichen  Bestimmungen,  welche  nothwenig 
sind,  um  dem  Auswanderer  sichere  und  bequeme  Beför- 
derung, gehörige  Verpflegung  und  Beköstigung  während 
der  Reise  zu  sichern.  Es  sind  ferner  Vorschriften  auf- 
gestellt, welche  den  Auswanderer  vor  Uebervortheilung  von 
Seite  des  Agenten  bei  den  Reisekosten,  beim  Geldwechsel 
und  bei  Geldmandaten  schützen  sollen.  In  dieser  Hinsicht 
namentlich  hat  sich  das  Gesetz  als  eine  grosse  Wohlthat 
erwiesen.  Die  Bundesbehörden  ahnden  Vergehen  unnach- 
sichtlich,  finden  aber  leider  bei  den  Kantonsbehörden  nicht 
immer  die  wünschenswerte  Unterstützung,  sei  es,  dass 
sich  diese  um  die  ihnen  übertragene  Aufsicht  gar  nicht  be- 
kümmern, oder  dass  die  Gerichte  Schuldige  ungestraft  laufen 
lassen. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  die  Einrichtung  eines 
speziellen  Auswanderungsbureaus.  Vor  1888  wurden 
die  Geschäfte  betreffend  das  Auswanderungswesen  von  zwei 
Beamten  des  Landwirthschaftsdepartements  besorgt.  'Nun 
sollte  dem  Departement  des  Auswärtigen  ein  besonderes 
Bureau  für  Auswanderung  beigegeben  werden,  bestehend 
aus  einer  administrativen  Abtheilung  und  einer  kom- 
missarischen; der  Kommissär  funktionirt  bereits  seit 
mehreren  Jahren  mit  gutem  Erfolg,  leider  aber  sind  die 
beiden  Abtheilungen  immer  noch  nicht  vereinigt,  der  Kom- 
missär amtet  beim  Departement  des  Auswärtigen,  der  ad- 
ministrative Chef  beim  Landwirthschaftsdepartement.  Solche 
Zustände  sind  unhaltbar.  Es  mag  ja  sehr  zweckdienlich 
sein,  die  Geschäfte  zu  theilen,  aber  das  sollte  in  einem 
gemeinschaftlichen  Bureau  geschehen  und  die  Leitung  dieses 
Bureaus  sollte  in  einer  Hand  vereinigt  sein. 

Nach  Bundesrathsbeschluss  hat  der  Kommissär  durch 
Verkehr  mit  den  Auswanderungs-  und  Hafenbehörden, 
Konsularbeamten,  Hilfsgesellschaften  und  Privaten  in  aus- 
wärtigen Staaten  die  allgemeinen  Interessen  der  Auswan- 
derung zu  wahren;  er  begleitet  Auswandererzüge  bis  zum 
Hafen,  inspizirt  die  Logirhäuser  und  Schiffseinrichtungen, 
sammelt  die  auswärtigen  amtlichen  Erlasse  betreffend  das 
Auswanderungswesen,  die  Konsularberichte  und  einschlägi- 
gen wissenschaftlichen  Berichte  der  Einwanderungsländer 


No.  12. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALB1  .ATT. 


155 


die  Auswanderungslitteratur,  tritt  in  Verbindung  mit  inlän- 
dischen Vereinen  und  Privaten  behufs  Verhütung  leicht- 
j sinniger  Auswanderung  und  unzweckmässiger  Ausrüstung- 
dürftiger,  zur  zielbewussten  Auswanderung  entschlossenen 
Personen  und  Familien  und  hält  öffentliche  Vorträge;  ferner 
| begutachtet  er  Kolonisationsunternehmungen  und  damit 
zusammenhängende  Fragen  und  ertheilt  Rath,  Auskunft  und 
Empfehlungen  an  Auswanderer,  wo  dies  gewünscht  wird. 
Zu  bedauern  ist  nur,  dass  immer  noch  so  viele  Auswanderer 
! das  Bureau  garnicht  benützen,  weil  sie,  wie  es  scheint,  von 
der  Existenz  eines  solchen  keine  Kenntniss  haben.  Gute 
Dienste  kann  das  Bureau  bei  Kolonisationsunternehmen 
leisten,  indem  es  zuverlässige  Auskunft  verschafft;  auch  ist 
es  am  besten  in  der  Lage,  der  schwindlerischen  Auswan- 
derungslitteratur mit  Erfolg  entgegenzutreten.  Sehr  zu 
wünschen  wäre,  dass  dem  Bureau  Jemand  angehörte,  der 
wenigstens  Land  und  Leute  in  den  Vereinigten  Staaten 
gründlich  kennt,  denn  auf  die  Aussagen  Dritter  sich  ver- 
lassen zu  müssen,  ist  misslich,  wenn  man  stets  zuverlässige 
Auskunft  ertheilen  soll.  Im  Uebrigen  ist  das  Kommissariat, 
an  dessen  Spitze  ein  früherer  geistlicher  und  Regierungsrath 
steht,  vom  besten  Willen  beseelt.  Nächstens  wird  von  ihm 
ein  gedruckter  Rathgeber  für  Auswanderer  erscheinen, 
ebenso  sind  Vorarbeiten  im  Gang,  um  für  die  Auswanderer 
in  New-York  und  Buenos-Ayres  besondere  Logirhäuser 
einzurichten  und  ihnen  überhaupt  die  durch  das  Gesetz  in 
den  hauptsächlichsten  Ein-  und  Ausschiffungshäfen  gewährte 
Hilfe  zu  sichern. 

Wie  man  sieht,  geht  unser  Auswanderungsgesetz  weit 
über  den  Rahmen  eines  blossen  Polizeigesetzes  hinaus.  Es 
steuert  auf  ein  Ziel  los,  welches  vor  40  Jahren  der  Staats- 
i mann  Augustin  Keller  mit  den  trefflichen  Worten  vor- 
zeichnete: ,,Der  Auswanderung  wird  das  Vaterland  endlich 
doch  einen  sicheren  Stab  an  die  Hand  geben  und  die 
| scheidenden  Kinder  auch  über  die  Ozeane  mit  seiner  Sorge 
und  den  treuen  Schutzgöttern  der  alten  Heimath  begleiten 
müssen.“ 

Aarau.  E.  Naef. 


Der  Entwurf  eines  Heimstättengesetzes  für  das  Deutsche 

Reich.  Der  durch  Beschluss  des  Reichstages  vom  3.  Februar 
1892  einer  Kommission  von  21  Mitgliedern  zugewiesene  Entwurf 
eines  Heimstättengesetzes  für  das  Deutsche  Reich1)  hat  nunmehr 
die  Kommissionsberathungen  passirt.  (Bericht  der  XXIV.  Kom- 
mission, No.  99  der  Drucksachen  des  deutschen  Reichstages, 
Berichterstatter  Abg.  Dr.  Graf  von  Matuschka). 

Der  Kommission  lagen  zunächst  zwei  Resolutionsanträge 
vor,  von  denen  der  erste  dem  leitenden  Gedanken  des  Heim- 
stättengesetzentwurfes sehr  wohlwollend  gegenübersteht,  „in  der 
j Erwägung,  dass  die  Erhaltung  und  Ausdehnung  des  bäuerlichen 
Grundbesitzes,  sowie  die  Sesshaftmachung  der  Arbeiter  aus 
wirtschaftlichen  und  sozialpolitischen  Gründen  dringend  ge- 
boten ist“;  während  der  zweite  Antrag  die  zurZeit  herrschende 
Unklarheit  über  die  Berechtigung  und  Noth wendigkeit  eines 
agrarischen  Sonderrechtes  betont.  Beide  Resolutionsallträge 
aber  kommen  darin  überein,  dass  zunächst  genaue  statistische 
Untersuchungen  über  den  Umfang  und  die  Llrsachen  des  Rück- 
ganges des  bäuerlichen  Grundbesitzes  in  den  verschiedenen 
Theilen  des  Reiches  noth  wendig  seien.  Der  erste  Antrag  fordert 
auch  statistische  Erhebungen:  über  Umfang  und  Erfolg  der  mit 
der  Sesshaftmachung  von  Arbeitern  gemachten  Versuche;  der 
zweite:  über  den  Umfang,  Reinertrag  und  die  rechtliche  Natur 
des  fideikommissarisch  resp.  durch  Stammguts-  oder  Lehens- 
qualität gebundenen,  der  freien  Verfügung  der  Besitzer  ent- 
zogenen Grundbesitzes,  da  vielfach  das  fortwährende  Anwachsen 
des  letzteren  in  Verbindung  mit  den  blos  den  grösseren  Be- 
sitzern zu  Gute  kommenden  Kornzöllen,  als  Hinderniss  für  den  ; 
Fortbestand  und  die  Neubegründung  des  Kleinbesitzes  be- 
i zeichnet  werde. 

Seiner  Tendenz  gemäss  verlangt  der  erste  Resolutions-  j 
antrag:  der  Reichskanzler  möge  zugleich  mit  der  Vorlegung  der 
Ergebnisse  der  statistischen  Enquete  dem  Reichstage  Vorschläge 
über  die  zur  Sesshaftmachung  der  bäuerlichen  und  der  Arbeiter- 
bevölkerung auf  eigenem  Grund  und  Boden,  geeigneten  Mittel  er- 
statten. 

Zur  zweiten  Lesung  lagen  noch  zwei  neue  Resolutions- 
anträge vor:  (III.)  die  verbündeten  Regierungen  seien  zu  er- 
suchen: die  Ausbildung  des  fakultativen  Anerbenrechtes  und 
des  Institutes  der  Rentengüter  zu  fördern,  sowie  die  gesetz- 

l)  Vgl.  No.  7 des  Sozialpol.  Centralblatts,  S.  87 — 89. 


liehe  Einführung  eines  deutschen  ITeimstättenrechtes  zu  er- 
wägen; und  (IV.)  den  Reichskanzler  zu  ersuchen,  nach  Prüfung 
weiterer  Mittel  zur  Erhaltung  und  Ausdehnung  des  bäuerlichen 
Grundbesitzes,  sowie  zur  Sesshaftmachung  der  Arbeiter  dem 
Reichstage  hierüber  Mittheilung  zu  machen. 

Die  Diskussion  in  der  Kommission  bot  durchaus  keine 
neuen  Momente  zur  Beleuchtung  der  Heimstättenfrage  und  jener 
nach  der  Nothwendigkeit  oder  Berechtigung  agrarischer  Sonder- 
rechtsbestimmungen  überhaupt  Für  und  wider  wurden  die  be- 
kannten Argumente  vorgebracht,  die  sich  in  den  obenangeführten 
Resolutionsanträgen  wiederspiegeln.  Ein  ganz  selbständiger,.  neu 
eingebrachter  Entwurf  wurde  abgelehnt.  Von  den  Resolutions- 
anträgen erledigten  sich  I.  und  III.  durch  die  kommissionelle 
Fassung  des  Gesetzentwurfes,  II.  wurde  mit  13  gegen  4 Stimmen 
abgelelint,  IV.  mit  13  gegen  5 Stimmen  angenommen.  Dem- 
gemäss beantragt  die  Kommission  die  Annahme  des  Heimstätten- 
gesetzentwurfes  in  ihrer  Fassung  sowie  der  Resolution:  „den 
Herrn  Reichskanzler  zu  ersuchen,  in  eine  nähere  Prüfung  darüber 
einzutreten,  durch  welche  weitere  Mittel  die  aus  wirthschaft- 
lichen und  sozialpolitischen  Gründen  dringend  gebotene  Erhal- 
tung und  weitere  Ausdehnung  des  bäuerlichen  Grundbesitzes 
sowie  die  Sesshaftmachung  der  Arbeiter  zu  erreichen  sei  und 
dem  Reichstage  über  das  Ergebniss  dieser  Prüfung  Mittheilung 
zu  machen“. 

Der  Entwurf  des  Herrn  Graf  von  Dönhoff-Friedrichstein 
und  Genossen  hat  in  der  Kommissionsberathung  folgende  wich- 
tigeren Abänderungen  erfahren. 

§ 1.  „Jeder  Angehörige  des  Deutschen  Reiches  hat  nach 
vollendetem  24.  Lebensjahres  das  Recht  zur  Errichtung  einer 
Heimstätte“,  ist  durch  die  Bestimmung  ergänzt:  „die  Errichtung 
erfolgt  durch  Eintragung  eines  nach  Massgabe  dieses  Gesetzes 
geeigneten  Grundstücks  in  das  Heimstättenbuch“. 

§ 3 (erster  Absatz)  lautet  in  der  neuen  Fassung:  der  zur 
Heimstätte  festziilegende  Besitz  darf  bis  zur  Hälfte  des  Werthes 
und  zwar  nur  mit  Renten  oder  mit  Annuitäten  verschuldet  sein. 
Die  Renten  oder  die  Annuitäten  müssen  durch  Amortisation 
getilgt  werden.  Die  Errichtung  hat  die  Umwandlung  der  Hypo- 
theken und  Grundschulden  des  Grundstückes  in  amortisirbare 
Renten  oder  in  Annuitäten  zur  Voraussetzung. 

§ 4 gestattet  nunmehr  allgemein  die  Eintragung  von  Renten- 
schulden oder  Annuitäten  bis  zur  Hälfte  des  Ertragswerthes  mit 
Bewilligung  der  Heimstättenbehörde,  welche  Bewilligung  bei 
Missernten  oder  bei  sonstigen  Unglücksfällen,  zu  noth- 
wendigen  Meliorationen  und  zur  Abfindung  von  Miterben 
ertheilt  werden  muss 

In  § 5 sind  die  Fälle,  in  denen  eine  Zwangsvollstreckung 
in  die  Heimstätte  zugelassen  wird,  theils  vermehrt,  theils  all- 
gemeiner gefasst  („wegen  Verpflichtungen  aus  unerlaubten 
Handlungen“,  „wegen  rückständiger  Renten  oder  Annuitäten 
(sowie)  wegen  gesetzlicher  Verpflichtungen“  (statt  „wegen 
rückständiger  Renten  und  Steuern). 

In  § 6 wird  nunmehr  das  Niessbrauchsrecht  nicht  nur  der 
Wittwe  des  früheren  Besitzers,  sondern  allgemein  dem  über- 
lebenden Ehegatten  eingeräumt,  und  der  Umtausch  von 
Grundstücken  nicht  nur  für  den  Fall  der  Zusammenlegung  von 
Ländereien,  sondern  allgemein  — die  Bewilligung  der  Heim- 
stättenbehörde vorausgesetzt  — gestattet 

In  § 7 wird  die  Zulässigkeit  der  Veräusserung  der  Heim- 
stätte nicht,  wie  nach  dem  Entwurf,  blos  von  der  Zustimmung 
der  Frau,  sondern  des  Ehegatten  überhaupt,  sowie  vom  Ueber- 
gange  der  Heimstätte  an  deutsche  Reichsangehörige  abhängig 
gemacht.  . 

Neu  ist  §7a.  „Die  Aufhebung  der  Heimstätteneigenschatt 
erfolgt  durch  Löschung  im  Heimstättenbuch.  Die  Löschung 
' kann  durch  Beschluss  der  Heimstättenbehörde  auf  hinreichend 
begründeten  Antrag  des  Heimstätteneigenthümers  dann  erfolgen, 
wenn  der  Ehegatte  und  die  Renten-  und  Annuitätenberechtigten 
zustimmen“.  , , , 

Die  Zahl  der  durch  § 8 des  Entwurfes  der  landesrecht- 
lichen Ordnung  überlassenen  Gegenstände  ist  durch  ^die  Kom- 
mission noch  um  einen  „Gewährung  der  Stempel  und  Gebühren- 
freiheit bei  Errichtung  von  Heimstätten“  vermehrt  worden. 

Obschon  der  Entwurf  in  der  Kommissionsfassung  manche 
der  gegen  den  Urentwurf  erhobenen  Bedenken  zu  beseitigen 
versucht,  und  namentlich  nach  schärferer  juristischer  Formulirung 
strebt,  so  kann  doch  dadurch  das  IJrtheil,  das  über  den  Antrag 
des  Herrn  Graf  von  Dönhoff-Friedrichstein  und  Genossen  gefällt 
werden  musste,  in  keinem  wesentlichen  Punkte  eine  Aenderung 
erfahren. 

Das  Höferecht  in  Tirol.  Bekanntlich  enthält  das 
österreichische  Reichsgesetz  vom  1.  April  1889  No.  52 
R.-G.-Bl.  betreffend  die  Einführung  besonderer  Erb- 
theilungsvorschriften  für  landwirtschaftliche  Besitzungen 
mittlerer  Grösse  lediglich  die  leitenden  Gesichtspunkte  tiii 
ein  agrarisches  Sonderrecht.  Die  Anwendung  derselben 
und  ihre  Anpassung  an  die  gegebenen  Verhältnisse  in  den 
einzelnen  Kronländern  blieb  den  Landesgesetzgebungen 
überlassen.  Trotz  der  starken  agrarischen  Strömung  m 
Oesterreich,  hat  bisher  kein  Landtag  von  der  ihm  einge- 
räumten Befugniss  Gebrauch  gemacht.  Nunmehr  hat  aber 


156 


SOZIALPC  iLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  12. 


die  Regierung  selbst  die  Initiative  ergriffen  und  dem  tiroler 
Landtag  2 Gesetzentwürfe  zur  Aktivirung  des  Reichs- 
gesetzes vom  1.  April  1889  — jedoch  nur  für  Deutschtirol 
unter  Ausschluss  der  italienischen  Landestheile  — vor- 
gelegt. 


Arbeiterzustände. 


Statistik  der  Arbeitslosigkeit  in  England. 

Der  bereits  in  dieser  Zeitschrift  erwähnte  Bericht 
Mr.  Burnetts  über  Strikes  enthält  folgende  Tabelle,  die  als 
Beitrag  zu  der  so  vernachlässigten  Statistik  der  Arbeits- 
losigkeit dienen  kann. 

Monatliche  Prozentzahlen  der  unbeschäftigten  Mitglieder  von 
20  der  bedeutendsten  Gewerkvereine. 


Monat 

1887 

1888 

1889 

1890 

1891 

Januar  

9,9 

6,8 

3,3 

1,75 

3,05 

Februar  .... 

10,3 

7,8 

3,1 

1,44 

3,37 

März 

8,5 

7,0 

2,8 

1,40 

2,6 

April  . . 

7,7 

5,7 

2 2 

1,70 

2,85 

Mai 

6,8 

5,2 

2,0 

1,96 

2,69 

juni  . ... 

8,5 

4,8 

2,0 

1,96 

2,98 

Juli 

8,0 

4,6 

1,8 

1,88 

2,86 

August  .... 

8,5 

3,9 

1.7 

2,28 

3,28 

September  . . . 

8,3 

4,8 

2,5 

2,28 

4,23 

Oktober  .... 

7,5 

4,4 

2,1 

2.6 

4,48 

November  . . . 

8,6 

4,4 

1.8 

2.6 

— 

Dezember  . . . 

8,5 

3,1 

1,5 

2,4 

— 

Die  Zahlen  beziehen  sich  auf  eine  Viertelmillion 
Arbeiter.  Während  zu  Anfang  1887  fast  10%  Arbeitslose 
vorhanden  waren,  waren  1891  nur  5%  ohne  Beschäftigung. 
Im  Jahresdurchschnitt  betrug  die  Zahl  der  Arbeitslosen 
1887:  8,43%,.  1888:  5,2%,  1889:  2,23%,  1890:  2,02% 

und  1891  (bis  November):  3,24%.  Zum  Verständniss 
dieser  Zahlen  ist  zu  berücksichtigen,  dass  die  Jahre  1887 
bis  1890  für  Grossbritannien  eine  Periode  des  grossen 
wirthschattlichen  Aufschwunges  darstellen.  Die  indu- 
strielle Reservearmee  ist  in  diesen  verhältnissmässig 
schwach,  um  in  den  Krisenjahren  desto  stärker  anzu- 
schwellen. So  hatte  die  Gewerkschaft  der  Kesselschmiede 
und  Schiffbauer  im  März  1890  nur  0,85  unbeschäftigte  Mit- 
glieder, während  1886  das  Verhältnis^  noch  28%  ge- 
wesen war. 


Löhne  und  Lebenshaltung  der  (ungelernten)  Bauarbeiter 
Harburgs.  In  einer  öffentlichen  Bauarbeiterversammlung  Har- 
burgs wurden  folgende  Mittheilungen  gemacht:  „Wir  sind  nur 
Saisonarbeiter  und  können  während  unserer  Arbeitszeit  nicht  so 
viel  verdienen,  um  in  der  harten  Winterzeit  leben  zu  können,  im 
Winter  sind  wir  also  vollständig  dem  Hunger  preisgegeben.  Die 
Bauarbeiter  können  im  Jahre  höchstens  nur  9 Monate  arbeiten, 
ln  diese  9 Monate  fallen  275  Tage;  von  diesen  275  Tagen  kom- 
men 40  Sonn-  und  3 sonstige  Feiertage  in  Wegfall,  es  verbleiben 
somit  nur  232  Arbeitstage"  oder  2 320  Arbeitsstunden,  ä Stunde 
40  Pf.,  das  macht  für  einen  Arbeiter,  der  ununterbrochen  gearbeitet 
hat,  eine  jährliche  Einnahme  von  M 928.  Von  diesen  M.  928  geht 
folgende  niedrigst  angesetzte  Ausgabe  ab:  M.  180  für  Miethe, 
M.  52  für  Feuerung,  M.  5,20  für  Licnt,  M.  4,80  für  Invalidengeld 
in  40  Arbeitswochen,  M.  23,40  für  Krankengeld  (eingeschriebene 
Hilfskasse),  M.  4 für  Lektüre  (nur  das  Fachorgan),  M.  4,20  für 
Steuern,  M.  3,60  für  Vereinsbeiträge  (nur  Gewerkverein),  M.  60 
für  Kleidung  und  Schuhzeug,  macht  in  Summa  M.  337,20.  Somit 
verbleiben  M.  590,80  jährlich  zu  Lebensmitteln  für  eine  Familie 
von  5 Personen  oder  pro  Woche  M.  11,36%,  oder  pro  Woche 
und  Kopf  M.  2,27%,  oder  pro  Tag  und  Kopf  32(Vp  Pf.  Um  blos 
das  Leben  fristen  zu  können,  braucht  eine  5gliedrige  Familie 
mindestens  pro  Woche:  Weissbrot  70  Pf.  gleich  M.  36,40  jährlich, 
4 Schwarzbrote  zu  I M das  Stück  gleich  M.  208  jährlich,  20  Liter 
Kartoffeln  zu  7 Pf.  der  Liter  gleich  M.  72,80  jährlich,  % Pfd. 
Kaffee  zu  75  Pf.  gleich  M.  39  jährlich,  7 Pfund  Fleisch  zu  60  Pf. 
das  Pfund  gleich  M.  218,40  jährlich,  2 Pfund  Margarine-Butter  zu 
M.  1 das  Pfund  gleich  M.  104  jährlich,  2 Pfund  Schmalz  zu  50  Pf. 
das  Pfund  gleich  M.  52  jährlich,  für  70  Pf.  Milch  gleich  M.  36,40 
jährlich,  Salz  für  10  Pf.  gleich  M.  5,20  jährlich,  für  10  Pf.  Zwie- 
beln, Pfeffer  u.  s.  w.  gleich  M 5,20  jährlich.  Macht  in  Summa 
M.  777,40.  Diese  M.  777,40  werden  in  der  Familie  verbraucht; 
ein  Bauarbeiter  kann  aber  bei  seiner  anstrengenden  Arbeit 


damit  nicht  bestehen,  er  braucht  zumindest  täglich  Zubrot 
für  20  Pf.,  I Flasche  Bier  20  Pf.  und  für  10  Pf.  Schnaps, 
macht  in  Summa  in  den  232  Arbeitstagen  Mk.  116.  M.  777,40  und 
M.  116  macht  M.  893,40.  Diese  unbedingt  nothwendige  Ausgabe 
von  M.  337,20  und  die  allernothwendigste  von  M.  893,40  macht  in 
Summa  M.  1 230,60.  Folglich  müsste  der  Verdienst  eines  Familien- 
vaters von  5 Personen  sich  auf  obige  Summe  belaufen,  er  beläuft 
sich  aber  nur  auf  M.  928,  somit  hätte  derselbe  ein  Defizit  von 
M.  302,60.  Noch  weitere  Einschränkung  muss  das  Defizit  ver- 
ringern, falls  dasselbe  nicht  durch  die  Arbeit  der  Frau  und  der 
Kinder  gedeckt  wird.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Die  französischen  Arbeiter-Gewerkschaften. 

Ungleich  anderen  Ländern,  wo  der  Gewerkschafts- 
bewegung so  grosse  Hindernisse  in  den  Weg  gelegt  werden 
und  ein  solcher  Druck  auf  sie  ausgeübt  wird,  dass,  wenn  es 
schon  nach  zäher  Ausdauer  zur  Bildung  von  Gewerkvereinen 
kommt,  dieselben  keinen  Moment  vor  einer  behördlichen 
Auflösung  sicher  sind,  lässt  ihr  Frankreich,  wenn  auch  keine 
unbegrenzte,  so  doch  eine  recht  ausgedehnte  Freiheit.  In 
der  That  können,  nach  dem  Syndikatsgesetze  vom  21.  März 
1 884,  alle  in  der  Industrie,  dem  Handel  und  der  Landwirth- 
schaft  beschäftigten  Lohnarbeiter  ein  und  desselben  Berufes, 
verwandter  oder  zur  Herstellung  bestimmter  Produkte  — 
Gebäude,  Dampfschiffe  etc.  — zusamnrenwirkender  Gewerbe 
sich  frei,  ohne  irgend  welche  Genehmigung  oder  Beauf- 
sichtigung der  Behörden,  zu  Gewerkschaften  konstituiren. 
Nun  kommt  es  allerdings  bei  Gesetzen,  insbesondere  solchen, 
die  den  Arbeitern  mehr  Freiheit,  Rechte  oder  Schutz  ge- 
währen, weniger  auf  ihre  Fassung,  als  auf  deren  Durch- 
führung an.  Aber  auch  in  dieser  Beziehung  kann  man  sich 
hier  nicht  beklagen.  Weit  entfernt  das  Gesetz  in  der 
Praxis  umzustossen  oder  seine  einzelne  Bestimmungen  eng- 
herzig auszulegen,  ist  den  Präfekten  in  einem  Ministerial- 
Rundschreiben  (25.  August  1884)  empfohlen  worden,  das 
Gesetz  im  liberalsten  Sinne  aufzufassen  und  die  Bildung 
von  Gewerkschaften  nach  Möglichkeit  zu  unterstützen,  ohne 
sich  in  deren  Angelegenheiten  zu  mischen.  „Lassen  Sie,“ 
heisst  es  dort  — ich  fasse  die  wichtigsten  Stellen  kurz  zu- 
sammen — „die  Initiative  den  Betheiligten,  die  ihre  Be- 
dürfnisse besser  kennen  als  Sie.  Es  genügt,  wenn  man 
weiss,  dass  die  Syndikate  alle  Sympathien  der  Verwaltungs- 
behörde haben  und  ihre  Gründer  sicher  sind,  alle  ge- 
wünschten Auskünfte  von  Ihnen  zu  erhalten.  In  dieser  wie 
in  jeder  andern  Sache  hat  die  republikanische  Verwaltungs- 
behörde die  Aufgabe,  zu  helfen,  nicht  Schwierigkeiten  zu 
bereiten.  Dieses  Gesetz  hat  den  Arbeitern  gänzlich  die 
Besorgung  ihrer  Interessen  überlassen;  es  enthält  keine 
Bestimmung,  die  eine  administrative  Einmischung  in  ihre 
Verbände  rechtfertigen  würde.  Wo  Schwierigkeiten  auf- 
tauchen, sind  sie  in  dem  der  Entwickelung  der  Freiheit 
günstigsten  Sinne  zu  lösen.“ 

Wie  sehr  dieses  Gesetz,  das  den  Arbeitern  volle 
Koalitionsfreiheit  zusichert  und  ihren  Syndikaten  (Gewerk- 
schaften) die  juristische  Persönlichkeit  verleiht,  zur  Bildung 
und  Entwickelung  der  Gewerkschaften  beiträgt,  das  zeigt 
das  jüngst  vom  Handelsministerium  veröffentlichte  Jahrbuch: 
„L’Annuaire  des  Syndicats  professionnels“.  Darnach  ver- 
mehrte sich  die  Zahl  der  gesetzlich  konstituirten  Arbeiter- 
Syndikate,  die  am  1.  Juli  1884,  d.  i.  drei  Monate  nach  Erlass 
des  zitirten  Gesetzes  68  betrug,  im  darauffolgenden  Jahre 
um  153,  im  Jahre  1886  um  59,  im  Jahre  1887  um  221,  im 
Jahre  1888  um  224,  im  Jahre  1889  um  96,  im  Jahre  1890  um 
185  und  im  letztverflossenen  Jahr  um  244.  Davon  ist  die 
Zahl  der  sich  inswischen  aufgelösten  Gewerkschaften  stets 
in  Abrechnung  gebracht.  So  hatten  sich  im  abgelaufenen 
Berichtsjahre  313  neue  Gewerkschaften  gebildet,  während 
ihre  Vermehrung  nur  mit  244  angegeben  ist,  weil  sich  im 
selben  Zeitraum  69  andere  Gewerkschaften  aufgelöst  hatten. 
Die  Gesanmrtzahl  der  am  1 . Juli  1891  bestandenen  Arbeiter- 


No.  12. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


157 


Syndikate  beträgt  somit  1250.  Zu  den  einzelnen  Jahren  seil 
Erlass  des  Gesetzes  stellt  sich  ihr  Verhältniss  wie  folgt.  Es 
bestanden  im 


J‘ 


ahre : 

Syndikate: 


188-1 

68 


1885 

221 


1886  1887  1888 

280  501  725 


1889  1890  1891 

821  1006  1250 


In  diese  Syndikate  sind  auch  die  der  kaufmännischen 
Angestellten,  wie  Buchhalter,  Kommis,  Handelsreisende  etc. 
einbezogen.  Will  man  ihre  Zahl,  wie  dies  vom  sozialstasti- 
schen  Standpunkte  aus  erforderlich  ist,  besonders  kennen, 
muss  man  erst  — was  zur  Darnachachtung  des  Handels- 
ministeriums hier  hervorgehoben  werden  soll  — das  ganze 
Jahrbuch  eigens  durchgehen.  Scheut  man  diese  Arbeit 
nicht,  dann  findet  man,  dass  es  36  solcher  Syndikate,  und 
zwar  7 von  Buchhaltern,  1 2 von  Handelsreisenden  und  1 7 
von  Handlungskommis  und  sonstigen  kaufmännisch  Ange- 
stellten, mit  einer  Mitgliederzahl  von  ca.  10  000  gibt.  Be- 
merkt muss  auch  werden,  dass  sich  unter  den  Arbeiter- 
syndikaten kein  einziges  von  Agrikulturarbeitern 
gebildetes  befindet,  obwohl  es  750  landwirthschaftliche 
Syndikate  gibt,  die  sich  auf  676  Gemeinden  vertheilen  und 
269  298  Mitglieder  umfassen.  Diese  Syndikate  verfolgen 
aber  nur  speziell  landwirthschaftliche  Zwecke,  „und  wenn 
auch  einige“  — wie  sich  der  Bericht  nicht  besonders  präcise 
ausdrückt  — „nach  dem  Wortlaut  ihrer  Statuten  gleich- 
zeitig Agrikulturarbeiter  in  sich  begreifen  können,  so  ist 
doch  deren  Zahl  im  allgemeinen  eine  äusserst  geringe.“ 

Unter  den  Industrien,  welche  die  meisten  Arbeiter- 
syndikate zählen,  steht  obenan  das  Baugewerbe  mit  216 
Syndikaten,  ihm  folgen  die  Metallindustrie  mit  130,  die 
Buchindustrie  (Schriftsetzer,  Schriftgiesser,  Lithographen  etc.) 
mit  116,  die  Textilindustrie  mit  85,  die  Hutmacherei  mit  50, 
die  Schuhmacherei  mit  46,  die  Bäckerei  mit  30  und  die 
Möbelindustrie  mit  23  Syndikaten. 


An  Gewerkschafts- Verbänden  zählte  Frankreich 
zu  Ende  des  Berichtsjahres  27,  während  im  Vorjahre  nur 
24  bestanden.  Von  den  neuen  Verbänden  ist  besonders  die 
„Federation  des  Travailleurs  des  Ardennes“  zu  erwähnen, 
die  ihren  Sitz  in  Charleville  hat.  Sie  zählt  41  Gewerk- 
schaften, von  welchen  die  Mehrheit,  nämlich  26,  der  Metall- 
industrie angehören,  und  giebt  ein  eigenes  Organ  „L’Eman- 
j cipation“,  heraus,  das  wöchentlich  erscheint  und  von  dem 
ehemaligen  Mitglied  der  Pariser  Kommune  J.  B.  Clement 
■ redigirt  wird.  Wie  dieser  Verband  sind  auch  die  meisten 
anderen  aus  Gewerkschaften  der  verschiedensten  Industrien 
zusammengesetzt,  sie  erstrecken  sich  zum  grossen  Theil 
bloss  auf  eine  Stadt  oder  ein  Departement.  Nur  drei  Ver- 
: )ände  erstrecken  sich  über  das  ganze  Land  und  das  sind 
gerade  solche,  von  welchen  jeder  nur  Gewerkschaften  einer 
bestimmten  Industriegruppe  umfasst,  nämlich  1.  der  Buch- 
arbeiter-Verband (Federation  franc;aise  des  Travailleurs  du 
Livre),  der  88  Gewerkschaften  zählt  und  ein  trefflich  redi- 
girtes  Wochenblatt  „La  Typographie  franyaise“  herausgiebt; 
2 der  Hutmacher-Verband  (Societe  generale  des  Ouvriers 
Chapeliers  de  France),  der  68  Gewerkschaften  umfasst  und 
ebenfalls  ein  Fachblatt,  „L’Ouvrier  chapelier“,  herausgiebt; 
3.  der  Tabakarbeiter-Verband  (Federation  des  Ouvriers  et 
1 Ouvrieres  des  Manufactures  des  Tabacs  de  France),  der 
10  Gewerkschaften  zählt.  Den  27  Verbänden  wäre  nun 
noch  der  Verband  der  Eisenbahnarbeiter  anzureihen,  der 
sich  im  Oktober  v.  J.  konstituirt  hat  und  über  27,000  Mit- 
glieder zählt.  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  auch  gleichzeitig 
bemerkt,  dass  man  sich  gegenwärtig  mit  der  Bildung  eines 
Bauarbeiter-,  sowie  eines  Metallarbeiter-Verbandes  befasst. 

Viele  Syndikate  bezw.  Syndikatsverbände  haben  Hilfs- 
kassen, Arbeitsvermittlungs-Bureaux,  Bibliotheken  gegründet 
! oder  sonstige  Institutionen  ins  Leben  gerufen.  So  haben 
| 300  dieser  Arbeiterkörperschaften  Bibliotheken  geschaffen, 
j 240  Krankenkassen,  144  Arbeitsvermittelungs-Bureaux,  63 
j Unterstützungskassen  für  Arbeitslose,  47  gewerbliche  Unter- 
richtskurse, 31  Sparkassen,  25  Pensionskassen,  17  Konsurn- 
: vereine,  13  Produktivgenossenschaften,  3 Fachschulen. 
| Einige,  wie  z.  B.  das  Syndikat  der  kaufmännisch  Angestell- 
! ten  von  Paris  oder  der  Tabakarbeiter- Verband  haben  auch 


einen  Rechtsbeirath,-  doch  erwähnt  der  Bericht  nicht  den- 
selben. 

Was  die  politische  Gesinnung  der  Gewerkschaften  an- 
belangt, ist  sie  fast  durchgeh  ends  eine  sozial  republikanische, 
an  deren  Unerschiitterlichkeit  alle  monarchistischen,  kleri- 
kalen, antisemitischen  und  anarchistischen  Verführungs- 
künste sich  vergeblich  versuchen.  Arbeiter  ohne  sozial- 
republikanische Gesinnung  finden  sich  allenfalls  in  den 
gemischten,  das  ist  -aus  Unternehmern  und  Arbeitern 
zusammengesetzten  Syndikaten.  Ihr  Charakter  geht  zum 
Theil  aus  deren  Bezeichnung  hervor.  Da  gibt  es  St.  Anna- 
Korporationen  (Schreiner  und  Zimmerer),  St.  Crispinus- 
Korporationen  (Schuhmacher),  St.  Joseph-Korporationen 
(Maurer)  etc.  Es  sind  Ueberbleibsel  ehemaliger  Zünfte. 
Die  gemischten  Syndikate  haben  übrigens  last  gar  keine 
Bedeutung  und  zählen  im  Ganzen  nicht  mehr  als  15  773  Mit- 
glieder, während  die  Arbeitersyndikate  das  Dreizehnfache, 
nämlich  205  152  Mitglieder  zählen. 

Diese  Zahl  ist  zwar  im  Verhältniss  zur  industriellen 
Bevölkerung  auch  noch  eine  sehr  geringe;  wenn  man 
aber  bedenkt,  dass  die  Gewerkschaftsbewegung  in  Frank- 
reich im  Ganzen  eine  noch  recht  junge  ist  und  die 
Arbeitersyndikate  im  letzten  Jahre  allein  — 1890  zählten 
sie  139  692  Mitglieder  — um  65  460  Mitglieder,  das  ist  um 
ein  Drittel  zugenommen  haben,  dann  erscheint  die  Zahl  in 
einem  ganz  anderen  Lichte  und  gewinnt  viel  an  ihrer 
inneren  Bedeutung.  Dabei  muss  noch  bemerkt  werden, 
dass  es  ausser  den"  1250  legalen  Syndikaten  auch  noch  120 
solcher  Syndikate  gibt,  welche  nicht  dem  Gesetze  vom 
21.  März  1884  nachgekommen  sind,  weil  es  ihnen  noch  zu 
„polizistisch“  erscheint.  W In  die  Freiheit  nicht  schreckt,  und 
wem  die  Grenzpfähle  nicht  das  Urtheil  trüben,  wird  ihnen 
im  Prinzip  kaum  Unrecht  geben  können.  Denn  wogegen  sie 
sich  auflehnen,  ist  besonders  der  Paragraph  4 des  Gesetzes, 
welcher  vorschreibt,  dass  die  Gründer  jedes  Syndikats  nebst 
den  Statuten  auch  die  Namen  der  Personen,  welche  mit 
seiner  Verwaltung  oder  Leitung  betraut  sind,  bei  dem 
Bürgermeisteramt  des  betreffenden  Ortes,  in  Paris  bei  der 
Seinepräfektur,  zu  hinterlegen  haben,  dass  dieser  Vorgang 
bei  jeder  Veränderung  der  Leitung  oder  der  Statuten  zu 
beobachten  ist  und  dass  jedes  Verwaltungs-  oder  Direktions- 
mitglied Franzose  sein  muss.  Sie  sehen  nichtein,  warum 
sie  ein  tüchtiges  Mitglied,  weil  es  zufällig  in  Belgien,  der 
Schweiz  oder  sonstwo  ausserhalb  Frankreich  geboren 
wurde,  nicht  zum  Vorsitzenden,  Sekretär  oder  Kassirer 
sollen  wählen  dürfen  und  warum  sie  den  Bürgermeistern,  die 
oft  selbst  Unternehmer  oder  mit  solchen  eng  befreundet  sind, 
die  Namen  ihrer  Leiter  bekannt  geben  sollen.  Fraglich 
ist  es  nur,  ob  es  nicht  besser  wäre,  sich  vorläufig  diesen 
Anordnungen  zu  fügen  und  gemeinsam  mit  den  anderen 
Syndikaten,  die  ja  diesen  Verfügungen  auch  nicht  bei- 
stimmen,  auf  deren  Beseitigung  hinzuarbeiten.  Sie  würden 
dies  sicherlich  um  so  leichter  erlangen,  als  ja  die  Behörden 
auch  jetzt  nicht  gegen  die  Gewerkschaften  einschreiten, 
welche  dem  Syndikatsgesetze  nicht  nachgekommen  sind. 
Rechnet  man  diese  102  Syndikate  zu  den  legalen,  dann 
erhält  man  im  Ganzen  1352  Arbeitergewerkschaften  mit 
ca.  einer  Viertelmillion  Mitglieder,  was  für  eine  so  junge 
Gewerkschaftsbewegung,  wie  die  französische,  ein  sehr 
günstiges  Resultat  ist. 

Paris.  Leo  Frankel. 


Rechenschaftsbericht  der  General  komm  ission  der  deut- 
schen Gewerkschaften.  Für  die  Zeit  vom  17.  November  1890 
bis  zum  1.  März  1892  wurde  dem  Halberstädter  Gewerk- 
schaftskongress ein  Rechenschaftsbericht  vorgelegt,  dem  wir 
folgende  Mittheilungen  entnehmen:  Die  Gewerkschaftskonferenz, 
welche  am  16.  und  17.  November  in  Berlin  tagte,  gab  der  Kom- 
mission bis  zum  Stattfinden  des  Gewerkschaftskongresses  fol- 
gende Aufgabe:  „Die  Kommission  hat  einen  allgemeinen  Gewerk- 
schaftskongress einzuberufen  und  eine  Vorlage  für  die  Organi- 
sation der  deutschen  Gewerkschaften  auszuarbeiten.  Ferner 
allen  Angriffen  der  Unternehmer  auf  das  Örganisationsrecht  der 
Arbeiter,  gleichviel  welcher  Branche,  energisch  entgegenzutreter 


158 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  12. 


bezw.  jeden  Widerstand  der  Einzelorganisationen  thatkräftig  zu 
unterstützen.  Sodann  für  Organisirung  der  wirthschaftlich  zu 
schwach  gestellten  Arbeiter  einzutreten  und  deren  Organisationen 
thatkräftig  zu  unterstützen,  sowie  die  Agitation  zur  Verbreitung 
der  Organisation  in  den  unorganisirten  Landestheilen  zu  leiten.“ 
Die  Mittel  für  die  Thätigkeit  der  Kommission  sollten  von  allen 
Gewerkschaften  nach  Massgabe  der  Mitgliederzahl  aufgebracht 
werden. 

Während  auf  der  einen  Seite  die  Organisationen  ihre 
Verpflichtungen  der  Kommission  gegenüber  nur  äusserst  mangel- 
haft erfüllten,  wurden  anderseits  grosse  Anforderungen  an  die- 
selbe gestellt  Schon  die  Berliner  Gewerkschaftskonferenz 
übertrug  der  Kommission  die  Verpflichtung,  die  Ausstände  in 
Kirchhain  i.  L.,  Erfurt,  Bergedorf  und  Ottensen  zu  unterstützen. 
Um  dieses  möglich  machen  zu  können,  wandte  sich  die  Kom- 
mission in  verschiedenen  Aufrufen  an  die  deutschen  Arbeiter, 
diese  zu  freiwilligen  Beiträgen  zur  Unterstützung  der  Strikes 
auffordernd.  Diese  freiwilligen  Leistungen  ergaben  bis  zum 
1.  März  1892  wohl  die  Summe  von  106  504,86  M.,  jedoch  waren 
die  Gelder  zu  der  Zeit,  als  sie  gebraucht  wurden,  nicht  zur 
Stelle.  Die  Kommission  glaubte,  auf  Grund  der  Berliner  Reso- 
lution ein  Recht  zu  haben,  zur  Unterstützung  der  Ausstände 
Anleihen  machen  zu  dürfen.  Es  konnten  diese  Darlehen  bei 
prozentualer  Vertheilung  auf  alle  Organisationen  gedeckt  wer- 
den. Die  über  die  Leistungsfähigkeit  der  Gewerkschaften  auf- 
genommene Statistik  zeigte  jedoch,  dass  diese  bei  dem  gegen- 
wärtigen Stande  der  Kassen  nicht  in  der  Lage  sein  würden, 
die  gedachten  Darlehen  zu  decken  Einmal,  um  nach  dieser 
Richtung  hin  gedeckt,  andererseits  aber,  um  für  spätere  Kämpfe 
gerüstet  zu  sein,  schrieb  die  Kommission  die  Sammlung  zum 
Maifonds  aus.  Der  Ertrag  derselben  blieb,  trotz  seiner,  in  An- 
betracht der  ungünstigen  wirthschaftlichen  Verhältnisse  enormen 
Höhe,  hinter  den  Erwartungen,  die  darauf  gesetzt  waren,  zurück. 
Die  eingegangenen  Summen  genügten  nicht  einmal,  die  Ver- 
pflichtungen der  Kommission  erfüllen  zu  können,  vielweniger 
noch  war  es  möglich,  einen  festen  Fonds  zu  bilden. 

Vom  November  1890  bis  September  1891  wurde  von  der 
Kommission  über  32  Ausstände  Statistik  geführt,  38  waren  bei 
ihr  zur  Anzeige  gebracht  Von  diesen  wurden  31  pekuniär  unter- 
stützt, während  bei  6 Ausständen  eine  solche  Unterstützung  ab- 
gelehnt wurde,  weil  es  sich  nach  Ansicht  der  Kommission  nicht 
um  Abwehrstrikes  handelte. 

Die  31  unterstützten  Ausstände,  an  welchen  insgesammt 
6600  Personen  225  Wochen  betheiligt  waren,  erforderten  eine 
Ausgabe  von  184  396  M.  In  diese  Summe  sind  nur  die  Beträge 
eingerechnet,  welche  direkt  als  Strikeunterstützung  seitens  der 
Kommission  in  Deutschland  gewährt  wurden.  Nicht  eingerechnet 
sind  2000  M.,  die  nach  Bremerhaven,  und  100  M.,  die  nach  Fürth 
als  Vorschuss  gesandt  und  von  dort  wieder  zurückgezahlt  worden 
sind.  Ferner  1000  M.,  die  zur  Unterstützung  des  Ausstandes  der 
Buchdrucker  in  Wien  bewilligt,  sowie  3600  M.,  die  zum  deutschen 
Buchdruckerausstand  als  Darlehn  gegeben  wurden.  Sodann  auch 
1600  M.,  die  während  des  Ausstandes  der  Tabakarbeiter  aus 
Antwerpen  zur  Verfügung  gestellt  und  dann  von  der  Kommission 
zurückgezahlt  wurden.  Für  agitatorische  Zwecke  konnten  unter 
diesen  Umständen  nur  geringe  Mittel  verwandt  werden.  Es 
wurde  Agitation  unter  den  Ziegeleiarbeitern  in  Lippe-Detmold 
betrieben  uud  ein  Zuschuss  zu  einer  Agitationstour,  welche  die 
Bauarbeitsleute  nach  Ost-  und  Westpreussen  veranstalteten, 
gegeben. 

Lim  die  Meldungen  von  Ausständen,  sowie  die  Mittheilungen 
und  Aufrufe  der  Kommission  in  die  Presse  zu  bringen,  sowie 
die  Leiter  der  Organisationen  stets  über  alle  Vorgänge  unter- 
richtet zu  halten,  wurde  von  der  Kommission  ein  Blatt  das 
„Correspondenzblatt“,  herausgegeben. 

Auch  auf  internationalem  Gebiet  wurde,  soweit  dies  unter 
den  schwierigen  Verhältnissen  möglich  war,  ein  reger  Verkehr 
unterhalten.  Die  Mittheilungen  von  Ausständen  sowie  Berichte 
über  die  Organisationen  in  anderen  Ländern  setzten  die  Kom- 
mission in  die  Lage,  eine  Reihe  interessanter  Veröffentlichungen 
zu  machen. 

Die  Generalkommission  schliesst  ihren  Bericht  mit  der 
Bemerkung,  dass  wenn  auch  von  einzelnen  Personen  die  Meinung 
vertreten  worden  ist  und  noch  vertreten  wird,  dass  die  Einrich- 
tung der  Kommission,  im  Verhältniss  zu  deren  Unkosten,  keinen 
Nutzen  für  die  Gewerkschaftsbewegung  in  Deutschland  gebracht 
hat,  diese  Einrichtung  sich  als  durchaus  praktisch  und  zweck- 
mässig erwiesen  habe. 

Einer  ausführlicheren  Abrechnung  der  Generalkommission 
entnehmen  wir  die  folgenden  Daten  von  allgemeinem  Interesse. 
Die  Kommission  verwaltete  drei  Fonds,  und  zwar  den  Gewerk- 
schaftsfond mit  einer  Einnahme  von  116058  M.,  den  Maifond  mit 
einer  Einnahme  von  64  776  M.  und  den  Verwaltungsfond  in  der 


Höhe  von  1208  M.;  hierzu  sollten  noch  hinzugerechnet  werden 
21 696 1 2 M ■ , die  für  den  Maifond  in  Hamburg  und  Mannheim 
gesammelt,  aber  zur  Unterstützung  von  Strikes  am  Orte  ver- 
wandt wurden,  so  dass  der  Maifond  eigentlich  die  Höhe  von 
86  472  M erreichte.  Diese  Einnahmen  genügten  nicht  zur  Deckung 
der  Ausgaben,  so  dass  Darlehen  in  der  Höhe  von  106  950  M. 
kontrahirt  werden  mussten;  von  diesen  wurden  bis  Ende  Februar 
1892  75000  M zurückgezahlt.  Ausserdem  finden  wir  als  Ausgaben 
verrechnet  192  696  M.  für  Ausstände;  hiervon  149  541  M für  die 
Tabakarbeiter  Hamburgs  und  Umgebung  und  12  556s  4 M.  für  j 
Agitation,  Prozesskosten,  Reisen,  Verwaltung  etc.  etc.  Einnah-  ! 
men  und  Ausgaben  balanziren,  wenn  wir  von  der  Summe  von  | 
21  696 '/o  M.  absehen,  die  in  Hamburg  und  Mannheim  für  Strikes 
verwandt  wurden,  mit  der  Summe  von  288  992  M.  16  Pf. 


Der  Gewerkschaftskongress  zu  Halberstadt.  Auf  dem 

Kongresse  waren  durch  über  200  Delegirte  mehr  als  300  000 
organisirte  Arbeiter  vertreten.  Die  wichtigsten  Berufsgruppen 
waren  folgendermassen  repräsentirt:  38  200  baugewerbliche 
Arbeiter  durch  38  Delegirte,  28  500  Arbeiter  aus  den  Beklei- 
dungsindustrieen  durch  27  Delegirte,  40  610  Metallarbeiter 
durch  36  Delegirte,  35510  Arbeiter  aus  den  Holzbearbeitungs- 
industrieen  durch  29  Delegirte,  20  145  Arbeiter  aus  den  ln-  ' 
dustrieen  der  Nahrungs-  und  Genussmittel  durch  23  Dele- 
girte, 10  743  Arbeiter  des  Seewesens  durch  9 Delegirte, 

83  000  Bergleute  durch  6 Delegirte,  24  860  Arbeiter  aus  den 
graphischen  Gewerben  durch  22  Delegirte,  6 030  Arbeiter 
aus  der  Textilindustrie  und  4 400  nicht  gewerbliche  Arbeiter  ^ 
durch  je  7 Delegirte.  Nicht  vertreten  waren  die  Graveure, 
Stellmacher,  Glasarbeiter,  Schlosser,  Bürsten-  und  Stell- 
macher. 

Die  Kommis  (lei'  Gemischt  waarenhiimller  von  Paris,  ■ 

die  eine  Sektion  des  Syndikats  der  kaufmännisch  Angestellten 
bilden,  haben  beschlossen,  ihren  Arbeitgebern  folgende  Forde-  ' 
rungen  zu  unterbreiten:  1.  der  Arbeitstag  darf  für  alle  in 
Gemischtwaarenhandlungen  Angestellten  im  Sommer  nicht  i 
mehr  als  14  Stunden  und  im  Winter  nicht  mehr  als  13  Stunden 
betragen;  2.  an  Sonntagen,  mit  Ausnahme  derjenigen,  die  auf  . 
die  Zeit  vom  15.  Dezember  bis  15.  Januar  und  auf  die  beiden  ' 
Osterwochen  fallen,  darf  die  Beschäftigungszeit  nicht  länger 
als  6 Stunden  währen;  3.  als  Placirungsbureau  hat  das  des 
Syndikats  zu  dienen.  Die  Kommis  hoffen  mit  ihren  For-  j 
derungen,  die  in  der  That  sehr  bescheiden  sind,  deren  Ge- 
währung aller  immerhin  einen  nicht  zu  unterschätzenden 
Fortschritt  bedeuten  würde,  seitens  ihrer  Prinzipale  auf 
keinen  Widerstand  zu  stossen. 


Handwerkerfragen. 


Eine  Statistik  wandernder  Hand  wer  ksgeliilfen.  Der  J 

Geschäftsbericht  des  Armen-Unterstützungs-Vereins  zu  Siegen 
für  1891  enthielt  interessante  Angaben  über  die  Wanderung  von 
Handwerksgehilfen.  Insgesammt  wanderten  durch  Siegen  im 
Jahre  1880:  5227,  dann  sinkt  die  Zahl  auf  2502  in  1888,  steigt  ] 
dann  aber  wieder  1889  auf  3234,  1890:  3651,  1891:  4150.  Als  Ur- 
sache dieser  rapiden  Steigerung  in  den  letzten  Jahren  wird  die  . 
Einrichtung  der  Verpflegstationen,  die  geringe  Entfernung  der- 
selben untereinander  und  die  volle  Verpflegung  angeführt,  ohne  ; 
dass  auch  nur  andeutungsweise  der  Grund  des  vermehrten 
Wanderns  tiefer  gesucht  wird  in  der  allgemeinen  wirthschaft- 
lichen Situation,  der  speziellen  Lage  des  Handwerkerstandes 
und  in  der  grenzenlosen  Lehrlingszüchterei,  die  den  jungen 
Mann,  sobald  er  Geselle  geworden,  zum  Wandern  zwingt.  Was 
das  Alter  der  unterstützten  Durchreisenden  anbetrifft,  so  zeigen 
die  Zahlen: 

Jahr  15  16—20  21—25  26—30  31—40  41—50  51—60  61—70 


1890 

253 

198 

124 

224 

137 

50 

10 

.1891  15 

eine  Zunahme 

428 

347 

229 

290 

202 

62 

20 

von  % — 

69 

75 

84 

29 

48 

24 

100. 

Die  stärkste  Zunahme  zeigt  die  Altersklasse  vom  26. — 30.  Jahre.  ! 

Auf  dem  Arbeitsnachweis  wurden  1891  an  Gesellen  ge- 
sucht  438;  zugewiesen  wurden  aber  nur  183.  Daraus  wird  der 
Schluss  gezogen,  dass  an  ein  ernstes  Arbeitsuchen  von  den 
meisten  Reisenden  nicht  gedacht  wird,  da  bei  4150  Reisenden 
nicht  einmal  438  Arbeitsangebote  Bewerber  fanden.  In  ihrer 
Allgemeinheit  sagen  diese  Zahlen  aber  nichts,  denn  wenn 
beispielsweise  zehn  Schneider  verlangt  werden,  aber  nur  zehn 
Schuhmacher  da  sind,  so  ergäbe  das  nach  der  Berechnung  des 


No.  12. 


SOZIALPOLITISCHES  CKNTRALBLATT. 


159 


Siegener  Armen  - Unterstützungs  -Vereins  zehn  arbeitsscheue 
Vagabunden.  Ganz  davon  zu  geschweigen,  dass  es  längst  nicht 
immer  Arbeitsscheu  ist,  welche  eine  Stelle  ausschlagen  lässt. 
Es  ist  interessant  hieraus  zu  ersehen,  wie  Zahlen  für  Arbeits- 
scheue konstruirt  werden  können. 

Die  Unterscheidung  nach  Monaten  ergibt,  dass  während 
der  Wintermonate  am  meisten  gewandert  werden  musste. 

IDie  Anzahl  war  von  Januar  bis  Dezember:  I.  455,  11.429,  III.  275, 
IV.  203,  V.  247,  VI.  245,  VII.  298,  VIII.  336,  IX.  297,  X.  319, 
XI.  451,  XII.  595.  Diese  Zahlen  zeigen,  wie  falsch  es  ist,  die 
Lust  am  Vagabondiren  als  einzige  Ursache  der  Zunahme  der 
Wanderer  zu  nennen.  Im  Winter  arbeitet  selbst  ein  Fauler,  um 
von  der  Landstrasse  zu  kommen. 

Verpflegung  und  Wohnung  der  Lehrlinge  im  Hause  der 
Meister.  Der  Landes-Direktor  der  Provinz  Sachsen  hatte  der 
Gewerbekammer  für  den  Regierungsbezirk  Magdeburg  die  Frage 
gestellt:  „Ist  die  alte  gute  Sitte,  dass  die  Lehrlinge  im  Hause 
des  Lehrherrn  Wohnung,  Kost  und  Aufsicht  gemessen,  im  Ab- 
nehmen, und  was  ist  eventuell  zur  Aufrechterhaltung  derselben 
zu  thun?“  Seit  Kurzem  liegen  die  Ergebnisse  der  Erhebung  vor. 
Aus  ihnen  ergibt  sich,  dass  in  den  grösseren  Städten  die  ange- 
zogene Sitte  eine  Einschränkung  erfahren  hat,  sonst  aber  meist 
noch  besteht.  Dasselbe  Verhältniss  besteht  im  Grossbetrieb  und 
Kleingewerbe.  Die  Gründe,  aus  denen  die  Lehrlinge  vielfach 
nicht  mehr  beim  Meister  wohnen,  liegen  nach  den  eingegangenen 
Gutachten  meist  bei  letzterem.  Als  solche  sind  anzuführen: 
Bequemlichkeit  des  Meisters  und  besonders  der  Meisterin,  Hoch- 
muth,  weil  der  Lehrling  oft  angeblich  geringerer  Abkunft,  un- 
zureichende Wohnung,  Abneigung  in  Folge  der  Beschränkung 
der  Machtbefugnisse  "des  Lehrherrn  durch  die  neuere  Gewerbe- 
gesetzgebung, Scheu  vor  der  beliebten  Nachrede  des  schlechten 
Essens  und  Hungerns  und  endlich  nicht  selten  das  Bestreben, 
durch  das  Zahlen  eines  geringen  Kostgeldes  die  Arbeitskraft 
des  Lehrlings  billiger  zu  haben.  Eine  Rolle  spielt  der  Wunsch 
der  Eltern,  dass  die  Kinder  zu  Hause  wohnen;  das  Kostgeld  ist 
im  Haushalt  willkommen,  dazu  kommt  die  Furcht  vor  Ueberan- 
strengung  des  Jungen  und  Heranziehung  zu  ungebührlichen 
Arbeitern'  Als  ein  weiteres  Moment  wird  angeführt,  dass  die 
Lehrlinge  selbst  nicht  gern  beim  Meister  wohnen,  um  ein  unge- 
bundeneres Leben  führen  zu  können.  Die  Meister  haben  nach 
diesen  Angaben  sehr  zahlreiche  Gründe  für  da.s  Externat  der 
Lehrburschen.  Da  die  Entscheidung  meist  bei  den  Meistern 
steht,  ist  das  folgende  Ergebniss  der  Erhebungen  Seitens  der 
Magdeburger  Innungen  recht  verwunderlich.  In  der  Grossstadt, 
deren  Verhältnisse,  wie  oben  gesagt  wurde,  dem  Internat  un- 
günstig sind,  hatte  Ende  1891 : 


Die  Innung  der 

Lehrlinge 

Davon  beim 
Meister  in 
Kost  und 
Wohnung 

Bäcker  

161 

161 

Schneider 

130 

130 

Schmiede 

186 

186 

Stellmacher 

18 

18 

Bottelier 

8 

8 

Schornsteinfeger  .... 

25 

25 

Sattler 

36 

36 

Buchbinder  . .... 

24 

15 

Tapezierer 

94 

45 

Drechsler 

37 

32 

Tischler 

209 

194 

Schlosser  

360 

132 

Danach  scheinen  die  Magdeburger  Innungsmeister  und 
Meisterinnen  die  Lehrjungen  doch  ganz  gern  um  sich  zu  haben. 
Eine  Erklärung  hierfür  bleibt  das  Protokoll  schuldig;  sie  dürfte 
wohl  am  besten  aus  der  „Bequemlichkeit  des  Meisters  und  be- 
; sonders  der  Meisterin“  herzuleiten  sein,  die  oben,  merkwürdig 
genug,  das  Auwärtswohnen  des  Lehrlings  als  wünsch enswerth 
begründen  musste. 


Unternehmerverbände. 

: 

Verein  deutscher  Jute-Industrieller.  Der  Vorstand  machte 
1 in  der  kürzlich  stattgefundenen  Versammlung  des  Vereins  nach 
Erledigung  des  Rechnungsabschlusses  und  der  Festsetzung  des 
Vereinsbeitrages  die  Mittheilung,  dass  die  Einschränkung 
der  Fabrikbetriebe  seit  dem  1.  Februar  d.  J.  vertragsmässig 
vollzogen  sei. 

Kartell  der  bayerischen  Spiegelglasfabriken.  Die 
Vereinigung  bayerischer  Spiegelglasfabriken  hat  eine  wei- 


tere ßetriebseinstellung  sämmtlicher  Genossenschafts  werkt  • 
bis  31.  März  d.  J.  beschlossen,  da  die  Lagerbestände  zur 
Zeit  noch  eine  Million  Mark  darstellen. 

Westfälisches  Koks-Syndikat.  Die  in  Bochum  abgehalten  <• 
Monatsversammlung  beschloss,  eine  20prozentige  Erzeugungs- 
Einschränkung  auch  für  März  dieses  Jahres.  Das  Syndikat  hat 
also,  nach  früheren  Berichten,  im  Ganzen  bis  jetzt  eingeschränkt 
im  August  1891  5n/0,  September  5%,  Oktober  10%,  November 
10%,  Dezember  10  %,  Januar  1892  20°  n,  Februar  20%,  März  20%. 
Demnach  ist  also  vom  1.  August  1891  bis  31.  März  1892  eine 
ganze  100 prozentige,  oder  eine  ganze  Monatserzeugung 
von  rund  350000  Tonnen  ausgefallen.  Durch  diese  Pro- 
duktionseinschränkungen ist  das  Syndikat  in  der  Lage,  die 
Preise  im  Inlande  hochzuhalten,  während  es  aber  gleichzeitig- 
en Auslande  die  Angebote  ihrer  Konkurrenten  trotzdem  stark 
unterbietet.  Der  „Moniteur  des  interets  materiels“  stellt  fest, 
dass  das  westfälische  Kokssyndikat  die  Preise  in  Deutschland 
auf  10 — 10l/3  Mark  in  die  Höhe  treibt  und  gleichzeitig  im  Aus- 
lande die  nämliche  Waare  mit  8 Mark  anbietet. 

Vereinigung  niederrheinischer  Stottdruckereien.  Die 

sieben  Druckereien  dieses  Bezirkes  haben,  der  „Industrie“ 
zufolge , nach  langen  eingehenden  Erörterungen  eine 
Uebereinkunft  geschlossen.  Die  Vortheile  dieser  gegen- 
über früher  gebildeten  und  bald  wieder  zerfallenen  Ver- 
bindungen liegen  darin,  dass  erstens  sämmtliche  Drucker 
der  Vereinbarung  angehören,  dass  zweitens  die  Satzungen 
in  rechtsverbindlicher  Form  abgeiasst  worden  sind,  und 
dass  drittens  eine  hohe  Vertragsbruchstrafe  zur  Sicherung 
cler  strengen  und  einheitlichen  Durchführung  der  getroffenen 
Vereinbarungen  festgesetzt  worden  ist.  Für  die  Weissweber 
hat  die  Sache  hinsichtlich  des  laufenden  Jahres  geringe 
Bedeutung,  weil  die  Preise  nur  unwesentlich  erhöht  wurden, 
um  denjenigen,  die  nicht  vertraglich  gedeckt  sind,  da.s  Ge- 
schäft nicht  besonders  zu  erschweren  oder  gar  unmöglich 
zu  machen. 

Einschränkung  in  der  schottischen  Juteindustrie. 

Eine  in  Dundee  stattgehabte  Versammlung  von  Jute- 
spinnereibesitzern und  Fabrikanten  beschloss  nach  dem 
Wiener  „Handels-Museum“,  wegen  der  Knappheit  des  Jute- 
materials die  Fabriken  durch  sechs  Monate  an  Samstagen 
vom  25.  März  angefangen  zu  schliessen. 


Arbeiterversicherung. 

Amtliche  Berichte  über  die  deutsche  Unfallversicherung 
in  den  Jahren  1890  und  1891. 

Schon  mehrfach  wurde  in  dieser  Zeitschrift  die 
Unzulänglichkeit  deutscher  amtlicher  Berichte  über 
sozialpolitische  Dinge  betont.  Die  amtlichen  Druck- 
sachen über  die  Wirksamkeit  der  deutschen  Unfallver- 
sicherung bestätigen  die  Richtigkeit  jenes  1 adels  von 
Neuem.  Dem  deutschen  Reichstage  ging  Ende  vorigen 
Jahres  die  vorgeschriebene  „Nacliweisung  über  die 
Rechnungsergebnisse  der  Berufsgenossenschaften  im  Jahre 
1890“  (Drucksache  No.  557),  sowie  vor  Kurzem  der  Ge- 
schäftsbericht des  Reichsversicherungsamtes  für  das  Ge- 
schäftsjahr 1891  (Drucksache  No.  655)  zu.  Wer  sonst  keine 
Hilfsmittel  aus  Litteratur  und  Presse  zur  Kenntniss  der 
deutschen  Unfallversicherung  hätte,  könnte  sich  aus  jenen 
amtlichen  Aktenstücken  unmöglich  ein  Bild  von  der  \\  irk- 
samkeit  dieses  Versicherungszweiges  machen;  die  Akten- 
stücke enthalten  in  der  Hauptsache  nur  trockene  Ziffern 
über  die  Versicherung  und  auch  diese  wieder  in  so  wenig 
glücklicher  Zusammenstellung,  dass  es  erst  einer  Art  Inter- 
pretationskunst bedarf,  um  einiges  Besondere  aus  ihnen 
heraus  zu  lesen.  Richtig  ist,  dass  das  Reichsversicherungs- 
amt ausserdem  noch  periodische  Veröffentlichungen  macht; 
aber  dieselben  gelangen  nicht  als  parlamentarische  Schrift- 
stücke an  die  weitere  Oeffentlichkeit,  sondern  bleiben  auf 
einen  kleinen  Kreis  von  Interessenten  beschränkt,  und  sie 
müssen  naturgemäss  vorwiegend  der  Technik  der  Unfall- 
versicherung dienen.  Dabei  soll  ausdrücklich  anerkannt 
werden,  dass  das  Reichsversicherungsamt  innerhalb  der  ihm 


160 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  12. 


gesetzten  Schranken  sehr  viel  zur  Aufklärung  durch  Ver- 
öffentlichungen und  Bearbeitung  des  bei  ihm  einlaufenden 
Materials  tliut.  Aber  diese  Schranken  sind  eben  ziemlich 
eng  gezogen  und  es  fehlt  durchaus  an  einem  amtlichen 
Schriftstück,  welches  die  Wirksamkeit  der  Unfallversiche- 
rung alljährlich  nach  allen  Seiten  hin,  auch  in  ihren 
Mängeln,  unbefangen,  zusammenfassend  und  gemeinver- 
ständlich darlegte.  Litteratur  und  Presse  müssen  hier  ihr 
Bestes  thun,  und  die  Summe  ihrer  Beiträge  ist  auch  bereits 
riesengross;  aber  eben  deshalb  kaum  mehr  übersehbar. 

Den  unvollkommenen  amtlichen  Mittheilungen  an  den. 
Reichstag  haftet  nun  ausserdem  ein  weiterer  Mangel  an: 
sie  erscheinen  sehr  spät,  wenigstens  die  Nachweisungen 
über  die  Rechnungsergebnisse  der  Berufsgenossenschaften, 
nämlich  meist  erst  ungefähr  ein  Jahr  nach  Abschluss  der 
Berichtsperiode,  welche  sie  betreffen.  So  wurden  die 
neuesten  Nachweisungen  über  1890  erst  Ende  1891  ver- 
öffentlicht. Ein  Fachblatt,  das  Organ  der  Südwestdeutschen 
Holzberufsgenossenschaft,  hat  in  seiner  Nummer  vom 
20.  Dezember  1890  diese  Verzögerung  folgendermissen  ent- 
schuldigt. Die  Centralpostbehörden  hätten  nach  § 69  des 
Unfallversicherungsgesetzes  allein  8 Wochen  nach  Ablauf 
des  Rechnungsjahres  Zeit,  um  ihre  Nachweisungen  der  auf 
Anweisung  der  Vorstände  geleisteten  Zahlungen  diesen 
Vorständen  zuzustellen,  und  sie  brauchten  diese  Zeit  voll- 
ständig. Dann  komme  die  Prüfung  der  Nachweisung  bei 
der  Berufsgenossenschaft;  der  Bedarf  des  abgelaufenen 
Rechnungsjahres  werde  erst  jetzt  genau  bekannt.  Es  folge 
die  Prüfung  der  Lohnnachweisung,  zu  deren  Einreichung 
dem  Unternehmer  auch  6 Wochen  Zeit  gelassen  seien;  dann 
sei  die  Heberolle  fertig  zu  stellen  und  die  Umlegung,  sowie 
die  Einziehung  bei  den  Mitgliedern  der  Berufsgenossen- 
schaft  vorzunehmen,  und  auf  diese  Weise  komme  der 
Schluss  des  Jahres  heran.  Von  da  ab  lägen  die  Nachweise 
beim  Reichsversicherungsamt,  und  das  Letztere  pflegt  aller- 
dings kaum  einen  Monat  verstreichen  zu  lassen,  Iris  es  seine 
Zusammenstellung  abliefert  — ob  aber  der  von  dem  berufs- 
genossenschaftlichen Blatte  naturgetreu  geschilderte  Gang 
der  Sache  für  oder  gegen  die  jetzige  Organisation  spricht, 
möchten  wir  dem  unbefangenen  Urtheil  festzustellen  über- 
lassen. Wir  glauben  kaum,  dass  das  Urtheil  sehr  günstig 
ausfällt. 

Die  trockene  Statistik  der  Unfallversicherung  ist,  wie 
schon  betont,  aus  dem  „Rechnungsergebnissen11  ziemlich 
vollständig  zu  entnehmen.  Als  Organe  der  Versicherung 
bestanden  im  Jahre  1890  neben  316  Ausführungsbehörden 
für  staatliche  und  kommunale  Betriebe  mit  60-1 380  Ver- 
sicherten 1 12  Berufsgenossenschaften,  und  zwar  64  gewerb- 
liche und  48  landwirtschaftliche,  mit  13  015  370  Versicherten; 
das  Schwergewicht  der  Unfallversicherung  liegt  also  in  den 
Berufsgenossenschaften,  und  die  Ausführungsbehörden  be- 
sorgen nur  den  kleinsten  Theil  der  Versicherungsarbeit, 
allerdings  in  mustergiltig  billiger  Weise.  Sie  zahlten  im 
Jahre  1890  im  Ganzen  1,8  Millionen  Mark  Entschädigungs- 
beträge an  2444  Verletzte  und  benöthigten  dafür  56  696  M. 
Geschäftsunkosten  insgesammt,  wovon  21  761  M.  für  Unfall- 
verhütungskosten stecken.  Im  Nachfolgenden  braucht  nicht 
aut  diesen  Zweig  der  Versicherung  zurückgekommen  zu 
werden;  er  repräsentirt  offenbar  den  vollkommeneren  Typus 
einer  Organisation  derUnfallversicherung.  Weit  theurer  wirt- 
schafteten bereits  die  landwirtschaftlichen  Berufsgenossen- 
schaften. Sie  zahlten  im  Jahre  1890  zusammen  1 ,8  Millionen 
Mark  Entschädigungsbeträge  für  12  573  Verletzte,  und  hatten 
dafür  an  Ausgaben  1,07  Millionen  Mark  für  Geschäftsun- 
kosten, sowie  die  winzige  Summe  von  3854  M.  für  Unfall- 
verhütung, die  hier  noch  völlig  im  Argen  liegt.  In  den 
Geschäftsunkosten  stecken  u.  A.:  81  989  M.  für  Reisekosten 
und  Tagegelder,  474  922  M.  für  Gehälter,  20  003  M.  für 
Lokalitäten  etc.,  nicht  weniger  als  151  423  M.  für  Schreib- 
materialien, Druckkosten  und  Porti,  sowie  1 27  204  M.  für 
Zinsen-  und  sonstigen  Verwaltungsaufwand.  Dabei  ist  es 
den  landwirtschaftlichen  Berufsgenossenschaften  noch  nicht 
einmal  möglich,  die  Zahl  ihrer  Versicherten  für  die 
4,8  Millionen  Betriebe,  welche  in  Betracht  kommen,  anzu- 
geben; die  Vorbemerkungen  des  amtlichen  Schriftstückes 


sprechen  einfach,  ohne  jede  nähere  Begründung,  von  der 
unüberwindlichen  „Schwierigkeit  der  Durchführung“  einer 
solchen  Statistik,  welche  die  Genossenschaftsvorstände  beim 
Reichsversicherungsamt  geltend  machten.  Wir  kommen 
jedoch  zum  Gipfel  der  büreaukratisch-kapitalistischen  Um- 
ständlichkeit, wenn  wir  die  Organisation  und  die  Rechnungs- 
ergebnisse der  gewerblich®  Berufsgenossenschaften  über- 
blicken. Die  64  gewerblichen  Berufsgenossenschaften  zählten 
im  Jahre  1890  zusammen  4,9  Millionen  Versicherte  auf 
390  622  Betriebe.  Die  Versicherten  sind  hier  allgemein  be- 
trachtet, weit  mehr  auf  eine  kleinere  Zahl  von  Betrieben 
konzentrirt,  wie  bei  der  landwirthschaftlichen  Unfallver- 
sicherung, und  diesem  Umstande  entspricht  auch  eine  kleinere 
Zahl  ehrenamtlicher  und  bezahlter  Funktionäre.  Welche 
Summen  wurden  aber  trotzdem  verbraucht,  um  im  Jahre 
1800  für  26  403  Verletzte  16,3  Millionen  Mark  Entschädi- 
gungsbeträge festzustellen  und  zu  gewähren!  Auf  diese 
Leistungen  kommen  folgende  Geschäftsunkosten:  499  662  M. 
für  Unfalluntersuchungen  und  Feststellungen,  31 1 859  M.  für 
schiedsgerichtliches  Verfahren,  nicht  weniger  als  3 794  687  M. 
allgemeine  Verwaltungskosten  und  341  525  M.  für  Unfall- 
verhütung, insgesammt  4 947  733  M.,  also  eine  Summe,  die 
beinahe  den  dritten  Theil  der  überhaupt  gezahlten  Ent- 
schädigungsbeträge ausmacht.  Bei  einzelnen  Berufsge- 
nossenschaften ist  das  Missverhältnis  noch  viel  schlimmer. 

So  hatte  die  Bekleidungsindustriegenossenschaft  im  Jahre 
1890  auf  56  595  M.  Entschädigungsbeträge  nicht  weniger 
als  30  446  M.  Unkosten,  und  die  Schornsteinfegergenossen- 
schaft  sogar  21  722  M.  Unkosten  auf  12  206  M.  Leistungen. 
Die  Beispiele  könnten  leicht  vermehrt  werden.  Und  dabei  • 
stecken  in  den  16,3  Millionen  Gesammtentschädigung  alle 
Rentenlasten  der  gewerblichen  Berufsgenossenschaften,  auch  , 
diejenigen,  welche  in  dem  Jahre  1885 — 1889  entstanden  sind.  \ 
Für  die  Feststellung  dieser  Renten  in  den  früheren 
Rechnungsperioden  sind  aber  bereits  viele  Millionen  ausge-  , 
geben,  und  man  muss  befremdet  darüber  sein,  dass  der  l 
amtliche  Bericht  der  Gesammtsumme  aller  auf  Grund  der  ' 
Unfallversicherung  seit  1885  überhaupt  erzielten  Leistungen 
nicht  auch  die  Unsummen  gegenüberstellt,  welche  in  Folge 
der  berufsgenossenschaftlichen  Organisation  seit  1885  als 
Unkosten  notlnvendig  waren.  Im  Augenblicke,  wo  wir  dies 
schreiben,  können  wir  die  gesammten  Geschäftsunkosten 
nur  bis  1887  einschliesslich  zurückverfolgen;  sie  beträgt  J 
nicht  weniger  als  rund  20,6  Millionen  Mark,  wie  man  mit  j 
einiger  Mühe  aus  den  amtlichen  Berichten  zusammen- 
addiren  kann.  Einer  Gesammtleistung  von  rund  ! 
52  Millionen  von  1886 — 1890  gezahlter  Entschädi- 
gungsbeträge steht  also  ein  Geschäftsunkosten- 
konto von  rund  25  Millionen  Mark  für  dieselbe 
Periode  gegenüber.  Auf  jede  Million  gezahlter  Ent- 
schädigungen kam  eine  halbe  Million  Geschäftsunkosten. 
Ausserdem  ist  für  die  gesammte  Unfallversicherung  ein 
Reservefonds  von  nicht  weniger  als  56  Millionen  Mark  auf- 
gesammelt; stellenweise  verzeichnen  einzelne  Genossen- 
schaften sehr  bedeutende  Kursverluste  aus  der  falschen 
Anlage  des  Reservefonds.  Wir  werden  nun  kaum  in  dem 
Verdachte  stehen,  der  Industrie  „unerschwingliche  Lasten“ 
ersparen  oder  abwälzen  zu  wollen  und  deshalb  die  Höhe 
der  Unkosten  der  berufsgenossenschaftlichen  Unfallver- 
sicherung zu  beklagen.  Die  Zahlen  müssen  vielmehr  immer 
wieder  hervorgehoben  werden,  weil  sie  zu  bezeichnend  für 
die  Plumpheit  des  ganzen  berufsgenossenschaftlichen  Me- 
chanismus sind,  und  weil  neben  ihnen  ausserdem  alle  jene 
Chikanen  stehen,  welche  die  ganz  unzureichend  vertretenen 
Arbeiter  bei  den  Berufsgenossenschaften  auszustehen  haben 
und  noch  mehr  auszustehen  hätten,  wenn  das  Reichsver- 
sicherungsamt  nicht  in  seiner  jetzigen,  freilich  ganz  zufälligen 
Zusammensetzung  vielfach  einen  mildernden  Einfluss  auf 
die  berufsgenossenschaftlichen  Organe  übte.  Man  kann 
eben  überhaupt  Zahlen,  wie  sie  die  amtlichen 
Schriftstücke  enthalten,  nicht  nackt  aneinander- 
reihen und  sich  über  die  schönen  Summen  freuen, 
die  da  herauskommen;  die  statistische  Betrachtung  muss 
stets  mit  Rücksicht  auf  die  Organisationsform  der  Ver- 
sicherung vorgenommen  werden;  wer  dies  bei  den 


No.  12. 


SOZI  AI. POLITISCHES  CKNTRAI  HI, ATI'. 


161 


1 

I 

„Rechnungsergebnissen“  der  Berufsgenossenschaften  be- 
achtet, wird  immer  zu  demjenigen  Ergebniss  kommen, 
welches  ein  Praktiker  bereits  1888  in  der  grossindustriellen 
Zeitschrift  „Stahl  und  Eisen“  zog:  „Die  Vielschreiberei  bei 
den  Genossenschaften  ist  grenzenlos.  Das  verbrauchte 
Papier  beziffert  sich  nicht  nach  Centnern  oder  Tonnen, 
sondern  nach  Waggonladungen  ....  Der  Verfasser  ist 
zwei  Jahre  lang  Vertrauensmann  gewesen,  dabei  mit  einer 
Menge  überflüssiger  Dinge  geplagt  worden,  hat  aber 
während  dieser  Zeit  thatsächlich  nur  , leeres  Stroh  ge- 
droschen' und  liegt  den  Verdacht,  dass  es  mit  manchem 
Anderen  kaum  besser  bestellt  ist.  Nur  wenige  Berulsge- 
nossenschaften  erkannten  die  Nothwenigkeit,  durch  mög- 
lichst einfache,  sparsame  Haushaltung  die  Klippe  zu  um- 
schiffen, zwischen  welche  das  Gesetz  die  Arbeitgeber  leider 
lenkte.  Einzelnen  ist  das  sogar  thatsächlich  durch  die  Ungunst 
der  bestehenden  Verhältnisse  nicht  möglich  gewesen,  und 
hier  trifft  die  Schuld  allein  Gesetzgeber  und  Ausführungs- 
behörden . . . Auf  diesem  Wege  liegt  nicht  das  Heil, 
sondern  in  gründlicher  Aufräumung  des  ungeheuer- 
lichen Apparates,  der  bedauerlicherweise  trotz  viel- 
seitiger Warnungen  geschaffen  wurden.“ 

Noch  ein  Wort  über  die  Unfallstatistik  des  amtlichen 
Berichts.  Dass  dieselbe  unvollständig  ist,  wird  alljährlich  mit 
folgender  stereotypen  Wendung  in  den  „Vorbemerkungen“ 
der  Rechnungsergebnisse  angedeutet:  „es  ist  anzunehmen, 
dass  die  angegebenen  Gesammtzalden  der  Unfälle  im  All- 
gemeinen hinter  der  Wirklichkeit  Zurückbleiben.“  Grund 
dafür:  die  Unternehmergenossenschaften  .können  sich  nicht 
durchweg  entschliessen,  ihre  Kollegen,  welche  Unfallanzeigen 
versäumen,  mit  Strafe  zu  belegen.  Auch  eine  Illustration, 
welche  die  Organisation  der  Unfallversicherung  in  einem 
eigenthiimlichen  Lichte  erscheinen  lässt!  Trotzdem  ist  dies 
Mal  eine  ganz  auffällige  Steigerung  der  entschädigten  Unfälle 
gegen  das  Vorjahr  festzustellen  gewesen.  Die  Gesammtzahl 
betrug  42  038  (gegen  31  449  im  Vorjahr);  davon  die  Zahl  der 
Unfälle  mit  tödtlichem  Ausgang  6 047  (5  260)  und  mit  der 
Folge  dauernder,  völliger  Erwerbslosigkeit  2 708  (2  908). 
Das  interessanteste  Zahlenverhältniss  freilich  wird  in  dieser 
Zusammenstellung  des  Berichtes  nicht  aus  den  Tabellen 
herausgehoben:  dass  die  auffälligste  Steigerung  offenbar  bei 
den  landwirtschaftlichen  Genossenschaften  stattfand, 
nämlich  von  6 631  Verletzten  im  Vorjahre  auf  12  573  im  Jahre 
1890,  was  sich  allerdings  theilweise  daraus  erklärt,  dass  die 
landwirthschaftliche  Unfallversicherung  stellenweise  erst 
1890  in  Wirksamkeit  trat.  Nebenbei  betrug  die  Zahl  der 
verletzten  jugendlichen  Arbeiter  bei  den  gewerblichen 
Genossenschaften  1890  zusammen  995  gegen  785  im  Jahre 
1889.  Es  darf  hier  wohl  vorweg  genommen  werden,  dass 
diese  anormalen  Steigerungen  denn  doch  die  Aufmerksam- 
keit des  Reichsversicherungsamtes  erregten  und  Anlass  zu 
einer  besonderen  Umfrage  gaben,  die  im  vorliegenden 
Aktenstück  noch  nicht  erwähnt  ist,  deren  Ergebniss  aber 
dieser  Tage  anderweit  bekannt  wurde.  Die  amtliche  Ver- 
öffentlichung hierüber  im  „Reichsanzeiger“  zeigt,  dass  die 
Angefragten,  eben  wieder  nur  Unternehmer,  Wahres  stark 
mit  Falschem  mischten.  Was  eine  „verschärfte  Kontrolle“ 
mit  der  Zunahme  der  Unfälle  zu  thun  hat,  ergiebt  sich  aus 
dem  Eingeständniss  der  Vorbemerkungen,  dass  eine  Anzahl 
Unfälle  mangels  einer  Strafbestimmung  auch  im  Jahre  1890 
noch  nicht  angezeigt  wurde.  Die  „grössere  Vertrautheit 
der  arbeitenden  Bevölkerung“  mit  einem  Gesetz,  das  bereits 
seit  1885  besteht,  kann  doch  auch  unmöglich  zur  Erklärung- 
anormaler  Verhältnisse  im  Jahre  1890  herangezogen  werden. 
Ebenso  will  uns  bedünken,  dass  die  humane  Auffassung  des 
Begriffs  „Betriebsunfall“  durch  das  Reichsversicherungsamt 
so  neuen  Datums  nicht  wäre,  dass  sie  von  entscheidendem 
Einfluss  auf  das  Jahr  1890  hätte  sein  können.  Das  Richtige 
wird  unseres  Erachtens  mit  folgenden  Gründen  getroffen: 
Die  angespanntere  Thätigkeit  der  Industrie,  die  Einstellung 
nicht  genügend  geübter,  d.  h.  billigerer  Arbeiter,  auch  in 
Folge  von  Strikes,  die  hier  zu  erwähnen  sind,  nicht  aber 
bei  der  „Unbesonnenheit“  der  Arbeiter,  die  mangelhafte 
Vorbildung  jugendlicher  Arbeiter,  um  deren  Anlernung  sich 
Niemand  kümmert,  die  Verdrängung  der  Handarbeit  durch 


die  Maschine  und  die  immer  mehr  um  sich  greifende 
Arbeitsteilung — diese  Ursachen  hätten  in  die  erste  Reihe 
gerückt  werden  sollen,  nicht  in  die  hinterste,  wie  es  in  der 
genannten  Veröffentlichung  geschieht.  Zum  Schluss  wird 
mitgetheilt,  dass  sich  im  Jahre  1891  die  Zahl  der  Unfälle 
weiter  auf  51  437  gesteigert  hat.  Damit  sind  die  Loblieder 
auf  die  Unfallversicherung  und  Unfallverhütung  durch  die 
Unternehmer,  durch  die  Thatsachen  ad  absurdum  geführt, 
wie  es  kaum  vorauszusehen  war.  Man  darf  nun  gespannt 
darauf  sein,  wie  lange  mit  Palliativmitteln  auf  diesem  Wege 
fortgearbeitet  wird,  ehe  man  sich  zur  gründlichen  Abhilfe, 
zur  völligen  Aenderung  der  Organisation  entschliesst. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Die  Krankenversicherung  der  Arbeiter  im  Jahre  1890, 

Die  Vierteljahrshefte  zur  Statistik  des  deutschen  Reiches 
veröffentlichen  über  dieselbe  eine  vorläufige  Mittheilung, 
der  wir  folgendes  entnehmen.  Im  Jahre  1890  waren  21  173 
Kassen  in  Thätigkeit,  denen  im  Durchschnitte  des  Jahres 
6 579  539  Mitglieder  angehörten,  demnach  bezifferte  sich  die 
durchschnittliche  Mitgliederzahl  derselben  auf  319,9.  Der 
Anzahl  der  Kassen  nach  gruppiren  sich  dieselben  folgender- 
massen:  Gemeinde  - Krankenversicherung  (8011),  Betriebs- 
(Fabriks-)kassen  (6124),  Ortskassen  (41  19),  Eingeschriebene 
Hilfskassen  (1869),  Landesrechtliche  Hilfskassen  (468),  In- 
nungskrankenkassen (452)  und  Baukrankenkassen  (130). 
Die  Gruppirung  nach  der  Mitgliederzahl  weicht  hiervon 
wesentlich  ab.  Hier  stehen  die  Ortskrankenkassen  (2  746  025) 
an  der  Spitze,  ihnen  folgen  die  Betriebskassen  (1673  531), 
die  Gemeinde-Krankenversicherung  (I  101  364),  die  einge- 
schriebenen Hilfskassen  (810  455),  die  landesrechtlichen  Hilfs- 
kassen (144  668),  die  Innungskrankenkassen  (74  438)  und 
endlich  die  Baukrankenkassen  (29  058  Mitglieder).  Die  Bau- 
end Innungtkrankenkassen  sind  in  Preüssen  relativ  stärker 
verbreitet  als  in  den  anderen  Bundesstaaten.  Die  Gemeinde- 
Krankenversicherung  wird  in  Bayern  ausserordentlich  ge- 
pflegt, es  gehören  ihr  in  Bayern  mehr  Arbeiter  als  in 
Preüssen.  Den  eingeschriebenen  Hilfskassen  gehören  in 
Bayern  weniger  Mitglieder  an  als  in  Sachsen  - Weimar  und 
nicht  einmal  die  Hälfte  der  in  Bremen  in  denselben  ver- 
sicherten Personen.  Ueber  ein  Wertei  sämmtlicher  und 
über  zwei  Drittel  der  preussischen  Mitglieder  gehören  in 
Hamburg  allein  den  eingeschriebenen  Hilfskassen  an.  Von 
den  282  775  Hamburger  Krankenkassenmitgliedern  sind  Mit- 
glieder der  eingeschriebenen  Hilfskassen  nicht  weniger  als 
206  813,  zu  denen  noch  25  798  Mitglieder  landesrechtlicher 
Hilfskassen  hinzukommen.  Letztere  Kassenart  ist  in  Preüssen 
ganz  unentwickelt,  gehörten  doch  nur  14  893  preussische 
Arbeiter  diesen  Kassen  an,  während  sie  in  Bayern  28  262 
und  im  Königreich  Sachsen  35  989  Mitglieder  zählen. 

Die  Ausgaben  der  Krankenkassen  haben  sich  von  1885 
auf  1890  von  52,6  auf  92,7  Millionen  gesteigert,  und  zwar 
bei  der  Gemeinde-Krankenversicherung  von  4,1  auf  8,8,  bei 
den  Ortskrankenkassen  von  17,5  auf  37,5,  bei  den  Fabrik- 
kassen von  18,4  auf  29,4,  bei  den  Baukrankenkassen  von 
0,3  auf  0,6,  bei  den  Innungskrankenkassen  von  0,25  aut 
0,84,  bei  den  eingeschriebenen  Hilfskassen  von  10,0  auf  13,2, 
bei  den  landesrechtlichen  Hilfskassen  von  2,0  auf  2,5.  Die 
Krankheitskosten  betrugen  im  Jahre  1890  auf  je  ein  Mitglied 
überhaupt  12,77  Mk.  und  bei  den  einzelnen  Krankenkassen 
nach  der  Höhe  der  Leistung  geordnet:  Bei  den  Baukranken- 
kassen 18,78  Mk.,  bei  den  Betriebskassen  16,72  Mk.,  bei  den 
eingeschriebenen  Hilfskassen  14,65  Mk.,  bei  den  landes- 
rechtlichen Krankenkassen  14,20  Mk.,  kei  den  Ortskranken- 
kassen 11,91  Mk.,  bei  den  Innungskrankenkassen  9,70  Mk. 
und  bei  der  Gemeindekrankenversicherung  7,41  Mk. 


Gewerbegerichte. 

Ein  neues  Prud’hommes-Gesetz  in  Frankreich. 

Die  französische  Abgeordnetenkammer  beräth  gegen- 
wärtig einen  Gesetzentwurf,  betreffend  die  Conseils  de 
Prud’üommes  (Gewerbeschiedsgerichte),  der,  namentlich  mit 
den  Verbesserungen,  welche  die  Kammer  bisher  an  ihm 


162 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT, 


No.  12. 


vorgenommen  hat,  nicht  nur  die  einschlägigen  Gesetze  der 
übrigen  Länder  weit  überragt,  sondern  auch  all  den  lang- 
gehegten Erwartungen  der  Arbeiterschaft  theils  ganz  ent- 
spricht, theils  sehr  entgegenkommt  und  im  Ganzen  einen 
recht  erfreulichen  Fortschritt  auf  dem  Wege  der  französi- 
schen Sozialgesetzgebung  bezeichnet.  In  erster  Reihe  wird 
der  Entwurf  den  Forderungen  der  kaufmännisch  Angestellten 
gerecht,  die  schon  seit  Jahren  sowohl  in  Versammlungs-  ; 
beschlössen  wie  in  Petitionen  an  die  Kammern  wiederholt 
das  Verlangen  stellten,  die  Wirksamkeit  der  Prud’hommes- 
Gerichte  auf  sie  auszudehnen.  Bisher  waren  sie  der  Juris- 
diktion der  Handelsgerichte  unterworfen.  Wie  achtungswerth 
diese  Gerichte,  die  aus  der  Wahl  der  Kaufleute  und  Gross- 
industriellen hervorgehen,  nun  auch  sein  mögen,  so  bieten 
sie,  da  sie  nur  aus  Unternehmern  bestehen  doch  nicht  die- 
selben Garantieen  einer  nach  allen  Seiten  hin  gerechten 
Beurtheilung  der  aus  dem  Arbeitsverhältniss  entstehenden 
Differenzen,  wie  ein  zur  Hälfte  aus  Angestellten  zusammen- 
gesetztes Gericht.  Sieht  man  aber  auch  davon  ab,  dann 
bleibt  noch  das  Bedenken,  dass  sie  viel  kostspieliger  und 
zeitraubender  als  die  Prud’hommes- Gerichte  sind,  was  ! 
allein  Viele  abhält,  sich  gegebenen  Falles  an  das  Handels- 
ericht zu  wenden.  Dem  ist  nun  abgeholfen,  indem  künftig- 
in — vorausgesetzt,  dass  der  Senat  dem  Votum  der  Kammer 
beistimmt  — auch  die  aus  dem  Dienstverhältnis  der  Prin- 
zipale und  ihrer  Angestellten  entstehenden  Differenzen  vor 
das  Prud’hommes-Gericht  gehören  und  die  kaufmännisch 
Angestellten  gleich  ihren  Chefs  sowohl  das  Wahlrecht  wie 
die  Wahlfähigkeit  zu  den  Prud’hommes  besitzen. 

Weit  entfernt,  gegen  diese  Bestimmung  zu  remonstriren, 
ist  die  Kammer  noch  weiter  gegangen,  indem  sie  auch  den 
Verkehr  und  — last  not  least  — die  Landwirtschaft  mit 
einbezogen  hat.  Die  Entscheidung  der  Prud’hommes  wird 
demnach  angerufen  werden  können  von  den  Arbeitern, 
Angestellten,  Kommis,  Handelsreisenden,  Buchhaltern,  Haus- 
gewerbetreibenden (Chefs  d’atelier  de  famille),  Bureau-  und 
Ladendienern,  Hausknechten  (Hommes  de  peine),  Arbeitern 
und  Angestellten  der  Verkehrsunternehmungen,  sowie  im 
Allgemeinen  von  allen  in  Handel,  Industrie  und  Landwirt- 
schaft beschäftigten  Lohnarbeitern  jeder  Art.  Dieselben 
bilden  die  Klasse  der  Arbeiterwähler  und  sind  wahlberech- 
tigt, sofern  sie  das  politische  Wahlrecht  besitzen,  d.  i.  das 
21.  Lebensjahr  vollendet  haben,  unbescholten  und  in  einer 
Wahlliste  eingetragen  sind , wofür  ein  sechsmonatlicher 
Wohnaufenthalt  in  derjenigen  Gemeinde  genügt,  in  welcher 
der  Betreffende  sein  Wahlrecht  ausüben  will. 

Dabei  muss  noch  besonders  hervorgehoben  werden, 
dass  man,  wie  aus  der  Kammerdebatte  hervorgeht,  nicht 
blos  in  demjenigen  Bezirke  Prud’homme-Wähler  sein  kann, 
in  welchem  man  das  politische  Wahlrecht  besitzt,  sondern 
in  welchem  Bezirke  immer,  vorausgesetzt,  dass  man  nur 
überhaupt  in  einer  politischen  Wahlliste  eingetragen  ist 
und  selbstverständlich  nur  in  einem  Bezirke  wählt.  Diese 
Bestimmung,  die  sowohl  für  die  Kategorie  der  Unter- 
nehmer wie  für  die  Arbeiter  gilt,  ist  besonders  für  die  Letz- 
teren sehr  werthvoll,  weil  dieselben  infolge  der  Arbeits- 
verhältnisse nur  allzu  oft  gezwungen  werden,  ihren  Wohn- 
ort zu  wechseln.  Künftighin  wird  also  ein  Arbeiter,  der 
beispielsweise  in  der  Wählerliste  eines  Pariser  Wahlbezirkes 
eingetragen  ist,  aber  durch  die  Verhältnisse  gezwungen  wird, 
nach  Bordeaux,  Lyon  oder  sonstwohin  zu  ziehen,  daselbst 
gleich  sein  Prud’homme- Wahlrecht  ausüben  können,  sofern 
er  nur  durch  seine  Wählerkarte  oder  ein  sonstiges  Dokument 
nachweisen  kann,  dass  er  in  Paris  wahlberechtigt  ist.  Dieser 
Fortschritt  ist  ein  um  so  bedeutenderer,  als  bisher  sowohl 
Unternehmer  wie  Arbeiter  nur  dann  ihr  Prud’homme-Wahl- 
recht  ausüben  konnten,  wenn  sie  das  25.  Lebensjahr  er- 
reicht, mindestens  fünf  Jahre  ihr  Gewerbe  ausgeübt  hatten 
und  drei  Jahre  im  selben  Orte  wohnhaft  waren.  Weit  ent- 
fernt, sich  an  diese  Bestimmung  zu  halten,  verleiht  der  neue 
Entwurf  sogar  Denjenigen  das  Wahlrecht,  die  seit  weniger 
denn  zehn  Jahren  aufgehört  haben,  ihr  Gewerbe  auszuüben. 

Derselbe  Fortschritt  zeigt  sich  auch  in  Bezug  auf  die 
Wählbarkeit.  Jeder  Wähler  ist  auch  gleichzeitig  wählbar, 
nur  mit  dem  Unterschied,  dass  er  das  25.  Lebensjahr  er- 
reicht haben  und  des  Lesens  sowie  Schreibens  kundig  sein 
muss,  während  bisher  nur  solche  Unternehmer  und  Arbeiter 
zu  Prud’hommes-Räthen  gewählt  werden  konnten,  die  ein 
Alter  von  30  Jahren  hatten  und  gleich  den  Wählern  fünf 
Jahre  in  ihrem  Gewerbe  thätig  und  drei  Jahre  in  ihrem 
Wahlbezirke  domizilirt  waren.  Die  Wählbarkeit  von  dem 


Empfange  oder  Nichtempfang  einer  Armenunterstützung 
abhängig  machen  zu  wollen,  wie  dies  im  deutschen  Reiche 
der  Fall  ist,  wo  doch  der  Spruch  gilt,  dass  Armuth  keine 
Schande  sei,  ist  natürlich  keinem  Abgeordneten  eingefallen. 

Als  eine  wesentliche  Verbesserung  kann  auch  die 
Bestimmung  bezeichnet  werden,  wonach  die  Werkführer 
(Contre-maitres),  im  Gegensatz  zur  jetzigen  Praxis,  zu  den 
Unternehmerwählern  zählen  und  demnach  nur  als  Unter- 
nehmer-Prud’hommes  wählbar  sind.  Wer  die  Stellung  der 
Werkführer  kennt,  von  deren  Entscheidung  nicht  selten 
die  Aufnahme  oder  Entlassung  der  Arbeiter  sowie  deren 
Entlohnung  abhängt  und  die,  sei  es  aus  persönlichem 
Interesse,  sei  es  durch  den  Zwang  der  Verhältnisse,  stets 
auf  Seite  der  Unternehmer  stehen,  kann  diese  Bestimmung 
nur  vollauf  berechtigt  finden.  Die  Werkführer  zu  Arbeiter- 
Prud’hommes  wählen,  heisst  dem  Unternehmerthum  eih 
künstliches  Uebergewicht  verleihen. 

Von  grosser,  prinzipieller  Bedeutung  ist  eine  Bestim- 
mung, die  erst  die  Kammer  in  den  Entwurf  eingeführt  hat. 
Dieselbe  hat  nämlich  beschlossen,  auch  den  Frauen  das 
Wahlrecht  zu  den  Prud’hommes-Gerichten  zu  ertheilen. 
Diesem  Beschlüsse  gemäss  sind  einerseits  alle  Arbeiterinnen, 
Kassirerinnen,  Ladenmädchen  u.  s.  w.,  andererseits  alle  an 
der  Spitze  eines  Gewerbes  oder  Handels  stehenden  Frauen 
wahlberechtigt,  sofern  sie  das  21.  Lebensjahr  zurückgelegt 
haben,  unbescholten  sind  und  einen  sechsmonatlichen  Wohn- 
aufenthalt im  Wahlbezirke  des  Prud’hommes-Gerichtes  nach- 
weisen können.  Damit  ist  gleichzeitig  ein  altes  Unrecht  • 
beseitigt.  Es  ist  in  der  That  nicht  einzusehen,  warum  den 
Frauen,  die  in  vielen  Industrien,  wie  z.  B.  in  der  Textil- 
industrie, der  Tabakindustrie  u.  s.  w.  die  Zahl  der  Männer 
übersteigen  und  in  einzelnen  Industriezweigen  ausschliess- 
lich beschäftigt  werden,-  während  es  nur  wenige  Erwerbs- 
zweige giebt,  in  welchen  sie  keine  Beschäftigung  finden, 
das  Wahlrecht  zu  den  Gewerbeschiedsgerichten  verweigert 
werden  soll.  Bedauerlich  ist  es  nur,  dass  die  Kammer  den 
Frauen  nicht  auch  gleichzeitig  die  Wählbarkeit  ertheilt  hat.  ! 

Auf  die  übrigen  Bestimmungen  des  Entwurfes  wird 
es  wohl  Zeit  sein,  dann  zurückzukommen,  wenn  sie  die  . 
Kammer  passirt  haben  werden. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Friedenteis,  Dr.  Josef  Freiherr  von.  Oesterreichisch.es  ,4 
Städtebuch.  Statistische  Berichte  von  grösseren  öster- , 
reichischen  Städten  herausgegeben  durch  die  K.  K.  statis-  ' 
tische  Centralkommission.  IV.  Jahrgang.  Redigirt  unter  der 
Leitung  des  Präsidenten  der  K.  K.  statistischen  Central- 
kommission Dr  K.  Th.  v.  Inama-Sternepp.  Wien,  Hof-  und 
Staatsdruckerei,  1892.  gr.  8°.  16  und  677  S. 

Gebhard,  Hermann.  Die"  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherung der  Hausgewerbetreibenden  der  Tabak- 
fabriken. Berlin  1892.  C.  Heymann.  8°.  95  S. 

Huber,  Prof.  Dr.  F.  C.  Die  Zukunft  des  süddeutschen 
Weinbaus.  Stuttgart.  Kohlhammer,  ohne  Jahr.  8°.  VI  und 
194  S. 

IcaeBa  A.  A.  (Issajew,  A.  A.)  „Heypoatafi  H ro,!0«B“.  „(Miss- 
ernte und  Hunger  in  Russland“.  (IeKIlJü  BB  IEUnepaTOpCKOMB 
AaeKCaHUpOBCKOMT.  filmet.  (Vorlesungen  am  kaiserlichen 
Alexander-Lyceum).  Bb  H0.TL3y  nOCTpanaBmilXB  0TB  He- 
ypOHtäfl.  (Zum  Besten  der  von  der  Missernte  Betroffenen'. 
St  Petersburg,  R Golike,  1892.  8°.  45  S. 

Jay,  Raoul  Prof.  Une  Corporation- moderne.  Grenoble  1892. 
F.  Allier  pere  et  fils.  8"  27  S. 

Mayi“,  G.  v.  Dr.,  Unterstaatssekretär,  Dr.  und  Privatdocent. 
Üeber  Sammlung  und  Verwerthung  des  durch  die 
Arbeiterversicherung  gebotenen  sozialstastischen 
Materials  (S  A.  aus  dem  Allgemeinen  statistischen  Archiv). 
Tübingen,  Laupp.  8". 

Statut  der  Haus-  und  Wohnungsbesitzgenossenschaft 
„Wohnungs-Heimstätte“.  Eingetragene  Genossenschaft  mit 
beschränkter  Haftung.  Berlin-Charlottenburg.  Selbstverlag. 
1891.  8°.  15  S. 

Stolp.  Dr.  Hermann.  Die  Lösung  der  Wohnungsfrage 
oder  ein  eigenes  Heim  für  Jedermann.  Mittheilungen 
über  die  Haus-  und  Wohnungsbesitzgenossenschaft 
„Wohnungs-Heimstätte“.  Eingetragene  Genossenschaft  mit 
beschränkter  Haftung  zu  Berlin-Charlottenburg.  Berlin. 
Rosenbaum  & Hart,  1892.  8°.  8 und  2 unnummerirte  Seiten. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 

Berlin,  den  21.  März  1892. 


Für  den  Anzeigentheil  sind  die  Redaktion  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Anzeigen-Annahmestelle  nur  bei 
Dr.  Otto  Eysler,  Berlin  SW.,  Charlottenstrasse  11.  Preis  für  die  3 spaltige  Colonelzeile  40  PL 




3.  (üuftenfajj,  DErlagaburfgjanöIung  in  Berlin. 

(SmffEUtaö’J'rije  Sammlung 
Bx\  *23,  Benffrijev  ftetrfiögefeh1^  Br.  23. 

Lerh9(nsgaben  mit  Slnmevfungen. 


|iifnlliiEr|id)Erungs$ffr^ 

Xntrn  6.  Unit  1884 

Ullb 

(f  über  btt'  Httsfrelimtmt  ber  Unfall-  nnb 
llcanlmtüerlttfiernna 

umn  28.  tföai  1885. 

lataucugtbe  mit  Slmner? ungen  itnb  ©adfmpftev 

turn 

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ftaif.  ©ef).  0bei=9tegievimg§=91nff),  ®ortr.  iRatf)  im  ffteicAmt  be-S  3nncvit. 

Bixrte  X»Ennef|rfe  Buflagi\ 

® a |'  di  e n f o r »tat,  ravt  o it  n i r t. 

i^reii  3 Sölf. 


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3»  meinem  ißerlage  erfd)teti : 

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sBattb  l ltltb  11. 

ipfiiititf  imti  Iqiitiliiiip 

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Jtlüriiiiicr  äKunbart. 

s$ret§,  tjoctjelegant  gebunöeit, 
k Ü8t>.  9)if.  3,-. 

S3orrätI)ig  in  allen  'Undflianblnngen. 

©Erlag  mm 

Eduard  Moos 

in  (Erfurt 


S+ 

4. 


Zum  Abschluss  von  Todesfall-,  Aussteuer-, 

Renten-  und  Sterbekassen- Versiehe- 

rungen  bei  vortheil  haften  Be-  Jk  ^ — 

dingungen  und  billigen  ^ 

Prämien  Hält L,ebens- 
sich  die^ — " — '»rrslrheni  hj»s- 

^ 1 1 sch a ff  zu  Berlin, 

S.O.,  Kaiser  Franz  Grenadierplatz  8 

bestens  empfohlen. 

^ — Prospecte  und  Auskünfte  postfrei  bei  der  Direction  und  den  Vertretern 


QI.  % B£iif|ti)E  ©Erlagabmfljanbhmg  (©ghar  Btch)  in  HKnttQen. 


3»  nuferem  Verlage  tft  erfdpenen: 

f&Hllt  Itlt  priSt’  ^»t'HPiüldüEV  UH'ldnditttltalimdvr.  Oleue  golge.  (Siebenter 

I _ - 3abvgaug.  1891.  (2)er  ganzen  bleibe  XXXIh  23aub.)  peraud« 

gegeben  tum  .§ans  3)elbriicf,  a.  o.  ißrofeffor  an  bev  Uninerfität  ^Berlin  nnb  2kitglieb  beb 
91ei(^btagb.  22  Sogen,  ©efjeftet  8 9)lf. 

Öatib  I XXXI  (1860—1890  nun  SrfnilthcrVS'eUmufb  ©efcbtchtöfalcnbei’  lutrö  l>i$  auf  weiten*« 
;tt  bettt  ermäfitgten  greife  »uu  80  9SWf.  geliefert. 


ferner: 


Dr-  IB.  Heller, 

größt),  fjeff.  SRegienuigärat: 


3nüalitntät6-  unfr  HUgrengr|trf|tgnmfleflp)'cfit  Xiont 


22.  3nnt  1889 
21  uf  la  ge  mit 
madjungen  beb  iöunbeöratd  entbattenb. 


, 3 weite  oollftänbig  um  gearbeitete 

einem  2lnt)ang,  bie  S3olt8ngäbefanut* 
Äart.  1 211.  80  Sßf. 


J>as  Htbetfet: Trimbachs  für  baS  beutfdje  3leid)  uom  l.  3nni  1891  (blouelle 
m 2it.  VII  ber  ©eroerbeorbmtng).  Seftauägabe  mit  ©inleitung,  erlftuternben  2tnmerfnngen 
nnb  IRegifter.  8%  Sog.  Start.  1 211.  20  igf. 


Hugo  Frankel, 

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oon 

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erb.  'Fvof.  für  ©taatsredjt  mib  beutfdies  SRedjt  a.  b. 
Unircrfität  ftreiburg  i ®. 

(Svfter  23aitb: 

®ic  veid}Sreff)tlicl)en  ©nutblagcu  her 
31rbeitcri)crfT(l)entug. 

©rfte  nnb  jmeite  21btbeilmig.  8°.  9 211.  50  igf. 

2)aö  gefamntte  2Berf  roirb  in  jmei  23anbe 
verfallen,  non  benen  ber  erfte  „bie  reid)3red;b 
lidjen  ©runblageu  ber  2lrbeiteroerfid)erung'1 
bel)anbeln,  ber  ffroedv  aber  in  brei  Ubehen  bie 
Äranfen=,  Unfall»,  fomie  bie  3lltjalibitätö-  uub 
2llteräuerficf)ernng  jur  (ginjelbarftellnng  bringen 
fall. 


1 


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®te  int  Isatpx  1827  non  öem  ebleit  93ien^ c£) e n ff e urt b e (£rnft  "Ui  II) 
ffritolbt  Beßrünbeie,  auf  ©egeitfeittßfeit  unb  ©effenttidjfeit  beiultenbe 

£ebeii0oerlid)etmi00bank  f.  D. 

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labet  ßtenmt  311m  "-Beitritt  ein.  ©te  barf  für  fiel)  ßeltertb  machen, 
baß  fie,  netreu  ben  Mftcffteit  iltreo  ©ritttberS,  „als  ©tßentf)um  Mer, 
ui e t d) e ftdj  it)r  31UIT  tBeften  ber  übrigen  anfcfjlteßen,  and)  Stilett  ol)tte 
SfiÜuafyme  ptut  91ui$eit  gereicht."  Sie  ftrebt  nad)  größter  ©e 
rect)tigfeit  11  nb  "öifltgfeit.  xstfre  ©efdjäftserfolge  ftnb  ftet§  überaus 
günftig.  Sie  t)at  allezeit  bent  »eniünfttgen  Tsorticltr itt  gefpilbtßt. 
Sie  ift  wie  bte  ättefte,  fo  and)  bte  größte  Teuticlie  sd e b e tt 6 b e rftcfjerntt g£s 

Stnftalt. 


frei  Eaub 

jrift  jiu*  ioröernna  f ineu  1 

Su|ialVTt'uvnu 

Bcgan  des  Bcufl'dim  Bunbts  für  Beben- 
ßBjifjreform. 

(Scfdicint  jeben  IDtontai. 

St  b o n n e in  e u t db  e b i u g n u 9 e 11 : 


Bei  allen  tßoftanftnlten  (9h\  2272 

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«OJ:i/4  9)lillioucu  9UJf. 
SJö  9)iitlioncn  tWtf. 


33erfict)evmtij'§=?i:  eftaub  CSubc  1891  .... 

®efct)äftöfonbS  6nbe  1891 

©cunntee: 

fju  »eittjeitenbe  lleberfdjüffe 31  DJJiüiouen  9Jlf. 

aüv  ©terbefällc  au^Begatjlt  feit  ber  Be= 

gviinbung 333%  SJlillioncit  ÜMf. 

Pie  Peruialfungehollen  Ijabeu  ftetS  unter  ober  wenig  über  5%  ber 
Gnnnabme  betragen. 


©erlag  mm  Suntfoer  & Bumblot  in  Iteipjig. 


pft  ITT  n 1 1"  m*  3 uv  beulfdjen  ümeial-  uttb  (tieluerlieinititiU  ber 
veHlfitl U ^UJUIUUU  (öegemuarf.  Stehen  ltnb  3liif|ähe  1890-  ißretä  9 -Dt. 

Tirtn  TSkVtmf  an  n Heber  bte  Hvladpett  ber  ßciitigen  ©1  igle  11  Hnttj.  ©tu 

AilljU  Ab?  1 t llvbl  I lU^  'Beitrag  jnr  9)torßl)otogie  ber  33  olloro  irt  ift  ct)  a f t . 1.  ltnb  2.  Stuf* 
läge.  1889.  fßreid  1 30t. 

Staats-  iinb  |uc i all n i |]'e n läuft li d) e Beiträge,  %'?• 

51.  b.  99ti:flöfoft>efi.  Bnnb  I,  1.  1111  b 2.  dp  ft.  1892-  fßveid  9,60  93t. 

I.  1.  3ur  Jrage  ber  ©rganifaliou  des  lanbinirtblifjaftlitben  Kredits  in  Beutfrfj- 
Iaud  und  BeJterreidj.  33 on  59.  ©dp  ff.  fßreiö  3,60  9Jt. 

I 2.  Bie  (Einfunranenjteuer  in  Beltevreidj  unb  iljrt  Befotm.  93cut  6.  u.  f?ürt(). 
'41  reib  6 93t. 

TÖtl-fn  TtJcairm  2>ie  tu'Uu'rliUdjtr  HusbUiuutg  ber  lußnarbeiteubeu  Hlädripm. 
At-'ltU  AivtlUl^p  @Mii  Söeitvag  jur  oeniflirijen  ©rgiegnug  beb  meiMidjeu  ©efd)lecfytS.  1892. 
Sßreiö  40  ißfg. 

JkUtfj  1kl  II l\  IBirtlil'dtatttidie  Beßren.  6.  Sluflage.  ißreis  80  ißfg. 

(Oerijart  b.  ^djuße-dhaenenüß,  Barfteünng  ber  " f'ojialpoiitiidten 

©rjieljmig  beb  engtifdjen  Boifees  im  lieiiii^eljiiteii  Sabrljnnbert.  .ßroei  Stäube.  1890. 
tßreib  53t.  18- 

1 


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insbesondere  Preisverzeichnisse,  Circulare  und  Prospekte, 

werden  schnell,  sauber  und  billig  hergestellt  in  der 

Buch,  druck  er  ei 


von 

Leonhard  Simion 

BERLIN 

SW,  Wilhelmstrasse  No.  121. 

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ber  iPoftseitungelifte) 

'Bei  birefter  Äreugbaiibienbung: 

in  ®eiitid)taub  unb  Oefterreid) . „ 1,20 

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33 erlag  oon  (övorg  Hvimvr  in  Bvrliit, 
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©Borge  Bunin. 

Stntorifivte  Iteberfetuing  anb  beut  ^raiuöfifdjen 
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BreiS  93t.  160,  gelmitben  93t.  2,20. 

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J.  Blarioit  QTrainforh. 

Slntnrifirte  Ueberfe^nng  ans  beut  @uglifd)eu 
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Xßcvcfc  .^»ößfitcv. 

'ßreib  93t.  1,60,  gebunbeit  93t.  2,20. 

Wiv.  3faac$. 

©ine  ©rjäljlititg  aub  beut  Xjeiitigeu  Subien 

D01I 

y.  Rlanon  Ülrauifovh. 

Sluturifivte  Ueberfetmng  aus  bem  ©iiglifdjeu 
oöit 

Xßcvcfc  jpöpfner. 

Sßreib  93t.  1,60,  gebiitiben  93t.  2,20. 

2,  QI.  Bi'lki'ubmdjßr’s 

®iü(!imt)in1i  für  Inufhiitr. 

20.  Stuft.  I.  Slbth. 

Dltiin^,  9Jiaafj=  unb  öelnicbtsfunbe,  2Bedife(=, 
@elb=  unb  ^onbbcurfe. 

— gebunbeit  93t.  9.  — 


k.t,n_tuti44WJi-;uui  1 « 

Verlag  vou  Leonhard  Simion  in  Berlin,  : 

• SW.,  Wilhelmstrasse  121. 

I Beschichte  der  leuesten  Zeit 

1 1815 — 1885 


Prof.  Constantin  Bulle. 

4 Bände.  1687.  Preis  brosch.  20  M.,  geb.  24  M. 


-*t  „Bulle’s  Geschichte  der  Neuesten  Zeit  ist  ; 
3f  durchaus  vom  Standpunkte  der  Wissenschatt  : 
di  aus  geschrieben,  soweit  bei  Beschattenheit  • 
V • des  Quellenmaterials  eine  wissenschaftliche  | 
> Behandlung  möglich  ist.  Ein  besonderes  • 

v ^ Geschick  bekundet  der  Verfasser  in  der  l 
kj  kurzen  aber  scharfen  Chara cterisirung  der  ♦ 
iV  ^ bandelnden  Personen.“ 

: Jenaer  Literaturzeitung.  * 

^ f ff  rT ....  ffffffffn  tttfff  ft  ff  ft  t • « 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentlveil:  Dr.  Otto  Eysler  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


NtlWWH  •••••••?» 


Berlin,  den  28.  März  1892. 


Nummer  13. 


I.  Jahrgang. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausp-eber : Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


Inhalt. 


Die  Novelle  zum  preussischen 
Berggesetze.  Von  Dr.  Leo 
V erka  u f. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthscliaftsstatistik: 

Die  Abzahlungsgeschäfte  in  Raten- 
loosen in  der  Schweiz.  Von 
Kantonsstatistiker  E.  Naef. 

Die  überseeische  Auswanderung  in 
Oesterreich. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Der  Ausstand  der  Kohlenarbeiter 
in  England.  Von  Dr.  Stephan 
Baue  r. 

Die  Ergebnisse  des  deutschen  Ge- 
werkschaftskongresses. Von  Dr. 
Adolf  Braun. 

Evangelische  Arbeitervereine  in 
Württemberg. 

[ Organisation  der  deutschen  Tabak- 

I arbeiten 

Französischer  Schneiderkongress. 
Ein  Kellnerstrike. 


Unternehmerverbände: 

Das  Kokssyndikat  im  Jahre  1890/91. 

Die  Spiegelglasfabriken  in  Böhmen 
und  Bayern. 

Handwerkerfragen : 

Die  Genossenschaften  in  Oester- 
reich. 

Innungsbewegungen  in  Westphalen. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Anweisung  zur  Ausführung  der 
Gewerbeordnung  in  Preussen. 

Arbeiterversicberung : 

Die  Abänderung  des  deutschen 
Krankenversicherungs  - Gesetzes. 
Von  Dr.  Max  Quarck. 

Kriminalität: 

Psychologische  Glossen  zur  Straf- 
gesetznovelle. Von  Dr.  Georg 
S i m mel. 

Gefängnissnrbeit  in  Preussen. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Novelle  zum  preussischen  Berggesetze. 


I 


! 

I 


Der  in  der  Thronrede  angekündigte  Entwurf  eines 
Gesetzes  betreffend  die  Regelung  der  Verhältnisse  zwischen 
Bergarbeitern  und  Grubenbesitzern,  ist  nunmehr  dem  Ab- 
geordnetenhause zugegangen  und  hat  am  24.  d.  Mts.  die 
erste  Lesung  passirt,  welche  mit  der  Verweisung  der  Vorlage 
an  eine  Kommission  von  21  Mitgliedern  endete.  Der  Inhalt 
des  Gesetzentwurfes  wird  überall  Enttäuschung  hervorrufen, 
wo  man  die  Hoffnung  nährte,  die  Kämpfe  der  letzten  Jahre 
müssten  auch  die  Regierung  von  der  Nothwendigkeit  ein- 
schneidender Reformen,  von  der  Unhaltbarkeit  des  gegen- 
wärtigen Zustandes  überzeugt  haben.  Keine  oder  nur  wenige 
dieser  Hoffnungen  finden  im  vorliegenden  Entwürfe  ihre 
Verwirklichung.  Dem  alten  Zustande  soll  blos  ein  neuer 
Name  gegeben,  der  Willkür  der  Bergwerksbesitzer  ein 
juristisch-formelles  Gewand  umgehängt  werden. 

Fast  möchte  man  zur  Annahme  neigen,  dass  dieser 
Charakter  der  Vorlage  eine  der  Ursachen  ist,  weshalb  wir 
dem  Entwürfe  nicht  im  deutschen  Reichstage,  sondern  im 


i 


preussischen  Landtage  begegnen.  Hier  sind  die  Schwierig- 
keiten geringere,  die  Opposition  eine  schwächere;  hier  ver- 
mag kein  Vertreter  der  Arbeiter  die  kritische  Sonde  an  die 
Regierungsvorschläge  anzulegen. 

Doch  sehen  wir  von  der  formellen  Seite  der  Frage  ab 
und  befassen  wir  uns  mit  dem  Inhalt  des  Entwurfes.  Da 
fällt  zuerst  auf,  dass  derselbe  auf  dem  Gebiete  des  Arbeiter- 
schutzes  i.  e.  S.  Alles  so  ziemlich  beim  Alten  belässt. 
Weder  zum  Schutze  der  Frauen,  noch  auch  der  jugendlichen 
Personen  wird  eine  neue  Bestimmung  zu  den  von  der 
Gewerbeordnung  bereits  getroffenen  hinzugefügt.  Das  wird 
Niemanden  überraschen,  der  die  Stellung  des  Bundesrathes 
zu  den  bezüglichen  Vorschriften  der  Gewerbeordnungs- 
Novelle  kennt.  Nur  in  einer  Richtung  weist  der  Entwurf 
einen  recht  bescheidenen  Fortschritt  auf.  Der  § 192  des 
Berggesetzes  erfährt  eine  Erweiterung  dahin,  dass  die  Ober- 
bergämter in  Zukunft  befugt  sein  sollen,  wenn  durch  über- 
mässige Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  die  Gesundheit  der 
Arbeiter  gefährdet  wird,  Dauer,  Beginn  und  Ende  der 
Arbeitszeit  und  der  zu  gewährenden  Pausen  vorzuschreiben 
und  die  erforderlichen  Durchführungs -Verordnungen  zu 
erlassen. 

Diese  Bestimmung  entspricht  dem  § 120  c der  G.-O. 
Wäre  eine  ernstliche  Verwirklichung  des  darin  ausgespro- 
chenen Grundsatzes  in  der  Absicht  der  preussischen  Regie- 
rung gelegen,  dann  hätte  sie  nothwendig  zur  gesetzlichen 
Regelung  der  Schichtdauer  gelangen  müssen;  sie  würde 
die  Einführung  des  Normalarbeitstages  nicht  in  einzelnen 
Oberbergamtsbezirken  auf  dem  Verwaltungswege  in  Aussicht 
genommen  haben.  Es  bedarf  nicht  erst  in  jedem  besonderen 
Falle,  bei  jeder  einzelnen  Grube  der  Feststellung,  welche 
Arbeitsdauer  auf  die  Gesundheit  schädigend  einwirkt.  Wenn 
man  von  den  abnormen  Fällen  besonders  hoher  l em- 
peratur,  übermässig  starken  Wasserandranges  u.  s.  w.  ab- 
sieht, so  lässt  sich  ganz  wohl  aussprechen,  dass  ohne  Ge- 
fährdung der  Gesundheit  und  Arbeitskraft  unter  Tage  nicht 
länger  als  acht  Stunden  gearbeitet  werden  kann.  Zu  einem 
solchen  Ergebnisse  ist  die  Vorlage  nicht  gelangt,  und  so 
zeigt  sich  denn  mit  nur  zu  grosser  Deutlichkeit,  was  von 
der  ergänzenden  Bestimmung  zu  § 192  erwartet  werden 
kann.  Man  wird  frühzeitig  genug  zur  Ueberzeugung 
kommen,  dass  Rücksichten  auf  die  Konkurrenzfähigkeit 
eine  Verwirklichung  des  Grundsatzes  nicht  zulassen,  der 
ja  auch  in  sonderbarem  Gegensätze  zu  den  Bestrebungen 
nach  internationaler  Regelung  des  Arbeiterschutzes  steht. 

Die  hauptsächliche  Bedeutung  des  Entwurfes  sucht 
! die  Regierung  selbst  in  der  Regelung  der  Frage  der  Ar- 
beitsordnungen, mit  der  sich  in  der  I hat  der  grösste  1 heil 
der  vorgeschlagenen  Bestimmungen  beschäftigt.  Die  Aul- 


164 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


\o.  13. 


fassung  über  die  Natur  der  Arbeitsordnung  kann  eine  zwei- 
fache sein.  Nimmt  man  an,  dass  dieselbe  ein  Theil  des  Ar- 
beitsvertrages ist,  so  muss  man  dazu  gelangen,  die  Mitwir- 
kung beider  Kompaziszenten,  der  Arbeiter  wie  der  Unter- 
nehmer, beim  Zustandekommen  der  Arbeitsordnung  zu  for- 
dern. Betrachtet  man  jedoch  die  Wirklichkeit  mit  freiem 
Auge,  unbeeinflusst  durch  juristische  Fiktionen,  so  wird 
man  gestehen,  dass  in  Wahrheit  die  unorgamsirten  Arbeiter 
nicht  den  mindesten  Einfluss  auf  die  Arbeitsordnung  und 
ihren  Inhalt  auszuüben  vermögen.  Vom  Standpunkte  des 
öffentlichen  Interesses  muss  man  dann  ein  Eingreifen  der 
Gesetzgebung  wie  der  Verwaltung  fordern,  soll  nicht  die 
grösste  Rücksichtslosigkeit  und  Willkür  die  Basis  des  Lohn- 
verhältnisses bilden. 

Von  welchem  dieser  Gesichtspunkte  geht  der  Entwurf 
aus?  Sucht  er  den  Arbeitern  die  Theilnahme  an  der  Ab- 
fassung der  Arbeitsordnung  zu  sichern  oder  lässt  er  ihre 
Interessen  in  wirksamer  Weise  durch  die  öffentlichen  Or- 
gane vertreten?  Um  den  Standpunkt  der  Regierung  zu 
verstehen,  muss  man  wissen,  woraus  nach  ihrer  Auffassung 
die  Mängel  der  gegenwärtigen  Verhältnisse  entspringen. 
Die  ETnzufriedenheit  der  Bergleute  rührt  keineswegs  davon 
her,  dass  sie  beim  Zustandekommen  des  Arbeitsvertrages 
nicht  als  gleichberechtigter  Faktor  mitzuwirken  vermögen. 
Die  Erbitterung  der  Knappen  ist  auch  nicht  durch  ihre  ge- 
drückte wirthschaftliche  Lage  zu  erklären.  Unzufriedenheit 
und  Erbitterung  sind  in  ganz  anderer  Weise  entstanden  und 
sind  auch  gar  leicht  zu  bannen.  Es  stehe  fest,  wird  in  der 
Begründung  des  Entwurfes  ausgeführt,  „dass,  wo  überhaupt 
Arbeitsordnungen  von  den  Werksbesitzern  erlassen  waren, 
ein  wesentlicher  Theil  derselben  die  wichtigsten  Punkte 
des  bergmännischen  Arbeitsverhältnisses  nicht  mit  hin- 
reichender Bestimmtheit  klargelegt,  dadurch  zu  irrthüm- 
licher  Beurtheilung  der  gegenseitigen  Beziehungen  Anlass 
gegeben  und  eine  willkürliche  Handhabung  der  Rechte  und 
Pflichten  aus  dem  Arbeitsvertrage  durch  die  Bevollmäch- 
tigten und  unteren  Beamten  der  Werksbesitzer  mitunter 
nicht  zu  hindern  vermocht  hat.“  Desshalb  werde  darauf 
Bedacht  zu  nehmen  sein,  „dass  die  Arbeitsordnungen  beim 
Bergbau  eine  deutliche,  Missverständnisse  nach  Möglich- 
keit ausschliessende  und  die  Einzelheiten  des  Arbeitsver- 
trages klarlegende  Fassung  erhalten,  dass  dadurch  den  beiden 
in  Betracht  kommenden  Interessengruppen  der  Umfang 
ihrer  gegenseitigen  Berechtigungen  und  Verpflichtungen  in 
nicht  abzuweisender  Form  vor  Augen  geführt  wird,  und 
dass  Bergwerksbesitzer  und  Bergmann  die  Arbeitsordnung 
als  Grundlage  des  Arbeitsverhältnisses  betrachten  lernen“ 
(Seite  20). 

Nach  dieser  Darstellung  ist  es  nicht  die  Abhängigkeit, 
der  Druck  und  die  traurige  wirthschaftliche  Lage,  welche 
die  Ausstände  der  letzten  Jahre  herbeigeführt  haben.  Es 
bedarf  also  auch  keiner  Massregel  um  eine  Abhilfe  zu 
schaffen.  Nur  der  Mangel  ausführlicher  Arbeitsordnungen 
hat  die  aufregenden  Ereignisse  im  Jahre  1889  und  später 
verursacht.  Sie  wären  unterblieben,  wenn  man  rechtzeitig 
all  dasjenige,  was  die  Bergleute  als  Druck  und  Willkür 
betrachteten,  durch  die  Aufnahme  in  Arbeitsordnungen  ge- 
heiligt hätte.  Die  obligatorische  Arbeitsordnung  ist  dem- 
nach das  Mittel  zur  Schaffung  befriedigender  Zustände. 

Man  möchte  freilich  glauben,  dass  so  wichtig  wie  die 
Existenz,  auch  wohl  der  Inhalt  der  Arbeitsordnung  sei. 
Der  vorliegende  Entwurf  theilt  diese  Auffassung  nicht.  Im 
Grossen  und  Ganzen  bleibt  der  Inhalt  der  Arbeitsordnungen 
auch  in  Zukunft  dem  Belieben  des  Grubenbesitzers  über- 
lassen. Er  soll  lediglich  mit  dem  Gesetze  nicht  im  Wider- 
spruche stehen.  Da  aber  das  Gesetz  nur  sehr  wenige 
Grenzen  zieht,  so  ist  eine  wesentliche  Veränderung  der 


heutigen  Sachlage  nicht  zu  gewärtigen,  wenn  die  Vorlage 
in  der  vorliegenden  Gestalt  zur  Annahme  kommt. 

Die  Arbeitsordnung  soll  thunlichst  alle  Eventualitäten 
vorhersehen.  Sie  hat  insbesondere  zu  enthalten:  Bestim- 
mungen über  die  Schichtdauer,  wie  über  Nebenschichten 
und  die  Voraussetzungen,  unter  welchen  dieselben  zu  ver- 
fahren sind,  Vorschriften  über  die  Art  der  Gedingestellung, 
über  die  Abzüge  wegen  ungenügender  oder  vorschrifts- 
widriger Arbeit,  über  Kündigung  und  Entlassung,  Ordnungs- 
strafen u.  s.  w.  Die  Mehrzahl  dieser  Vorschriften  bleibt 
völlig  dem  Ermessen  des  Grubenbesitzers  überlassen  und 
es  tritt  so  an  die  Stelle  der  ungeschriebenen,  in  Zukunft 
die  geschriebene  Willkür  des  Unternehmers.  Daran  wird 
die  Anordnung  nichts  ändern,  dass  vor  Erlassung  und  Ab- 
änderung der  Arbeitsordnung  die  Knappen  oder  der  etwa 
bestehende  Arbeiterausschuss  zu  hören  sind.  Auch  diese 
können,  wie  die  Behörde,  nur  ungesetzliche  Bestimmungen 
beanstanden.  Die  Beseitigung  unbilliger  oder  drückender 
Vorschriften  werden  sie  vergeblich  fordern,  da  die  Ver- 
waltungsorgane keine  Handhabe  zu  deren  Untersagung 
besitzen.  Der  Entwurf  weiss  eben  Nichts  von  der  Noth- 
wendigkeit,  den  Bergleuten  das  Recht  einzuräumen,  die 
Arbeitsordnung  auch  vom  Standpunkte  der  Zweckmässigkeit 
zu  prüfen. 

Die  Regierung  lässt  sich  demnach  von  keiner  der  oben 
dargelegten  Auffassungen  leiten.  Weder  haben  die  Arbeiter 
am  Zustandekommen  des  „Vertrages“  mitzuwirken,  noch  , 
auch  werden  ihre  Interessen  von  Seiten  der  behördlichen 
Organe  gewahrt.  Die  Arbeitsordnung  ist  schlechthin 
Gegenstand  der  Sorge  des  Grubenbesitzers;  von  seinem, 
grossem  oder  geringem  Wohlwollen  hängt  es  ab,  ob  die 
bisherige  unerträgliche  Lage  der  Bergarbeiter  fortbestehen  ; 
oder  ob  sie  eine  Milderung  erfahren  soll.  , 

Von  diesem  prinzipiellen  Gesichtspunkte  lässt  sich  die 
Vorlage  in  fast  allen  Fragen  leiten,  welche  den  Bergleuten 
Grund  zu  Beschwerden  gegeben  haben.  Prüfen  wir  dies  . 
kurz  im  Einzelnen. 

Das  auch  amtlich  zugestandene  Uebermass  von  Strafen,  i 
die  dabei  herrschende  Willkür,  die  Unvereinbarkeit  der  j 
angemassten  Disziplinargewalt  mit  der  Gleichberechtigung  ' 
von  Unternehmer  und  Arbeiter,  linden  im  Entwürfe  keine  \ 
weitergehende  Abhilfe  und  Berücksichtigung,  als  in  der  No- 
velle zur  Gewerbeordnung.  Auch  beim  Bergbau  soll  es 
der  Arbeitsordnung,  das  heisst  also  dem  Unternehmer,  un- 
benommen bleiben,  jede  beliebige  Handlung  mit  Ordnungs- 
strafen zu  bedrohen,  die  Höhe  der  Strafen  zu  flxiren,  die 
Art  ihrer  Festsetzung,  sowie  die  dazu  berufenen  Personen 
zu  bestimmen.  Ausdrücklich  wird  der  Werksbesitzer  sogar 
dazu  berufen,  die  Währung  der  guten  Sitten,  die  Durch- 
führung der  gesetzlichen  Vorschriften  (sic!)  durch  Geld- 
strafen zu  erzwingen.  Es  fehlt  nur  noch,  dass  ihm  das  Recht 
zuerkannt  werde,  statt  der  Geldstrafen  auch  Haft  und  Ge- 
fängniss  zu  verhängen. 

Von  den  zwei  im  Gesetze  vorgesehenen  Beschrän- 
kungen, wonach  die  Strafbestimmungen  das  Ehrgefühl  und  | 
die  guten  Sitten  nicht  verletzen  dürfen  und  das  Ausmass 
der  Geldstrafen  den  halben  oder  ganzen  durchschnittlichen 
Tagesverdienst  nicht  überschreiten  soll,  ist  die  letztere 
völlig  belanglos.  Nicht  blos  die  Hohe  der  im  einzelnen 
F'alle  verhängten  Geldstrafen  bildet  einen  Beschwerdepunkt 
der  Bergarbeiter,  sondern  das  Gesammtausmass  der  vom 
verdienten  Lohne  zurückbehaltenen  Beträge.  Und  in  dieser 
Richtung  bleibt  es  beim  bisherigen  Zustande 

Auch  das  „Nullen“  wird  vom  Entwürfe  als  eine  be- 
rechtigte Eigenthümlichkeit  des  Bergbaues  anerkannt.  Nur 
hat  die  Arbeitsordnung,  also  wieder  der  Unternehmer,  die 
Voraussetzungen,  unter  welchen  Abzüge  wegen  unge- 


No.  13. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


165 


nügender  oder  vorschriftswidriger  Arbeit  gemacht  werden 
dürfen,  die  Personen,  die  dazu  berufen  sind  und  der  Be- 
; schwerdeweg  der  dagegen  eingeschlagen  werden  kann, 
festzusetzen  und  die  Art  der  Verwendung  der  in  Abzug 
i gebrachten  Produkte  oder  des  Geldwerthes  derselben  zu 
bestimmen.  Ist  dies  Alles  geschehen,  dann  steht  Nichts  im 
Wege,  dass  das  „Nullen“  in  eben  derselben  Weise  wie  bis- 
her vor  sich  gehe,  ein  juristisches  Gewissen  wird  daran 
Nichts  mehr  auszusetzen  finden. 

Auch  in  der  Frage  der  amtlichen  Aichung  der  Förder- 
gefässe  ist  dem  Wunsche  der  Arbeiter  nicht  entsprochen 
worden.  Der  Entwurf  begnügt  sich  mit  der  Bestimmung, 
dass  bei  Abhängigkeit  des  Gedinges  vom  Rauminhalte  der 
Wagen,  bei  jeder  Grube  nur  Fördergefässe  von  gleichem 
Rauminhalt  benutzt  werden  dürfen,  der  überdies  äusserlich 
von  den  Grubenverwaltungen  kenntlich  gemacht  werden 
muss.  Hängt  das  Gedinge  vom  Gewichte  der  Förderung 
ab,  dann  sollen  die  Fördergefässe  nach  Form  und  Raum- 
inhalt gleich  sein  und  das  Leergewicht  ebenfalls  äusserlich 
kenntlich  gemacht  werden.  Es  hätte  nur  eines  Schrittes 
bedurft  und  man  wäre  zur  amtlichen  Aichung  gelangt, 
welche  die  umfangreiche  Ueberwachungsthätigkeit  den 
Bergbehörden  ersparen  würde. 

Die  Beschwerden  über  die  Abkehrscheine  bleiben 
unberücksichtigt.  Auch  fürderhin  soll  die  Existenz  eines 
jeden  Arbeiters  selbst  wegen  der  geringfügigsten  Hand- 
lungen gefährdet  werden  können.  Man  vermag  es  nicht 
zu  leugnen,  dass  der  ursprüngliche  sicherheitspolizeiliche 
Zweck  der  Abkehrscheine  heute  weggefallen  ist.  Die  Unter- 
nehmer senden  bei  aufsteigender  Konjunktur  ganz  uner- 
fahrene Arbeiter  in  die  Gruben  und  setzen  dadurch  zahl- 
reiche Menschenleben  auf’s  Spiel.  Dafür  hat  der  Abkehr- 
schein eine  in  den  Augen  unserer  Sozialpolitiker  weit 
wichtigere  Aufgabe  zu  erfüllen:  er  soll  jeden  Kontraktbruch 
unmöglich  machen  oder  mindestens  den  Vertragsbrüchigen 
Bergmann  von  der  Bergarbeit  ausschkessen.  Vor  einer 
solchen  Aufgabe  müssen  alle  Bedenken  verstummen,  muss 
selbst  unberücksichtigt  bleiben,  dass  für  die  kleingewerb- 
lichen und  grossindustriellen  Arbeiter  weder  der  Zeugniss- 
zwang  noch  das  obligatorische  Arbeitsbuch  besteht. 

Dem  gleichen  Zwecke  soll  neben  vielen  anderen  auch 
die  Bestimmung  des  § 80,  Absatz  2,  des  Entwurfes  dienen, 
welche  dem  § 134,  Absatz  2,  der  Gewerbe-Novelle  ent- 
nommen ist.  Der  Bergwerksbesitzer  hat  das  Recht,  einen 
durchschnittlichen  Wochenlohn  von  jedem  Arbeiter  zurück- 
zubehalten und  denselben  im  Falle  der  widerrechtlichen 
Auflösung  des  Arbeitsverhältnisses  mit  Beschlag  zu  belegen. 

Wir  könnten  noch  eine  Reihe  weiterer  Vorschriften, 
die  im  gleichen  Geiste  gehalten  sind,  anführen.  Wir  glau- 
ben jedoch,  dass  schon  das  bisher  Gesagte  zur  Kennzeich- 
nung der  Vorlage  genügt.  Wir  wollen  nur  noch  auf  die 
wenigen  Lichtblicke  des  Entwurfes  hinweisen. 

Nach  § 80  c Abs.  2 ist  dann,  wenn  auf  Grund  der  Ar- 
beitsordnung wegen  ungenügender  oder  vorschriftswidriger 
(der  Entwurf  bleibt  beharrlich  beim  geschmacklosen  „un- 
vorschriftsmässig“)  Beladung  Fördergefässe  nicht  angerech- 
net werden,  den  betheiligten  Arbeitern  Gelegenheit  zu 
geben,  hiervon  nach  Schluss  der  Schicht  Kenntniss  zu 
nehmen. 

Der  Bergwerksbesitzer  ist  ferner  verpflichtet,  zu  ge- 
statten, dass  die  Arbeiter  durch  einen  von  ihnen  oder  dem 
Arbeiterausschus.se  aus  ihrer  Mitte  gewählten  Vertrauensmann 
das  Verfahren  bei  Feststellung  der  Abzüge  insoweit  über- 
wachen lassen,  als  dadurch  eine  Störung  der  Förderung 
nicht  eintritt. 

Mit  anerkennenswerther  Entschiedenheit  räumt  der 
Entwurf  mit  dem  vielgenannten  „Füllkohlenabzuge“  auf. 
Es  sollen  in  Hinkunft  den  Bergleuten  für  Waschabgänge, 


Halden-  und  sonstige  beim  Absätze  der  Produkte  sich  er- 
gebende Verluste  keine  Abzüge  mehr  gemacht  werden 
dürfen. 

Ueberblickt  man  den  Inhalt  des  Entwurfes  und  lauscht 
man  der  Sprache  der  Begründung,  so  glaubt  man  altbe- 
kannte Anschauungen,  bereits  gehörte  Laute  zu  erkennen. 
Es  ist  der  Geist,  der  auch  der  „Denkschrift  über  die  Ar- 
beiter- und  Betriebsverhältnisse  in  den  Steinkohlenbezirken“ 
seine  Signatur  aufgedrückt  hat,  jener  bureaukratisch  eng- 
herzige Geist,  dem  alles  Leben,  jede  Bewegung  ein  Greuel 
ist,  und  der  vielleicht  deshalb  allein  den  Bemühungen  der 
Bergleute  nach  Besserung  ihrer  Lage  ablehnend  gegenüber- 
steht. Weiss  man  dies,  dann  begreift  man  den  Inhalt  der 
Novelle  zum  preussisc.hen  Berggesetze. 

Leo  Verkauf. 


Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  Abzahlungsgeschäfte  in  Ratenloosen  in  der 
Schweiz. 

In  jüngster  Zeit  hat  in  der  deutschen  Schweiz  der 
gewerbsmässige  Vertrieb  von  sogenannten  Prämienwerthen 
gegen  Ratenzahlungen  einen  solchen  Umfang  genommen 
und  sind  hierbei  derartig  schlimme  Auswüchse  zu  Tage 
getreten,  dass  in  einzelnen  Kantonen  staatliches  Einschreiten 
verlangt  wird.  Im  züricherischen  Kantonsrath  ist  bereits 
ein  dahinzielender  Antrag  vom  schweizerischen  Gewerbe- 
sekretär angekündigt  und  auch  im  Aargau  beschäftigt  man 
sich  mit  der  Frage,  in  welcher  Weise  aut  dem  Wege  der 
Gesetzgebung  vorzugehen  sei.  Schützende  Massregeln  sind 
bei  diesen  Abzahlungsgeschäften  weit  nothwendiger  als  bei 
den  gewöhnlichen  Abzahlungsgeschäften,  weil  der  Käufer 
hier  meistens  gar  nicht  in  der  Lage  ist,  den  Werth  des 
Kaufgegenstandes  richtig  zu  beurtheilen  und  daher  einzig 
aut  die  Angaben  des  Verkäufers  sich  verlassen  muss,  der 
in  Folge  dessen  mit  seinen  verlockenden  Anpreisungen  nur 
zu  leichtes  Spiel  hat.  Dazu  kommt,  dass  der  Vertrieb 
meistens  durch  Hausiren  geschieht,  wobei  mit  Vorliebe  das 
platte  Land  aufgesucht  wird;  den  schlichten  Dortbewohnern 
sind  Börsenpapiere  unbekannt  und  so  ist  es  nicht  schwer, 
unter  Vorspiegelung  grosser  Gewinne,  auf  die  man  durch 
kleine  monatliche  Ratenzahlungen  Aussichten  erlangen 
kann,  die  Leute  in's  Garn  zu  locken. 

Liest  man  die  Prospekte  der  sogenannten  „Banquiers“, 
welche  den  Verkauf  solcher  Papiere  gewerbsmässig  als 
Spezialität  im  Grossen  betreiben  und  in  alle  Gegenden 
ihre  Hausirer  schicken,  so  könnte  man  freilich  glauben, 
es  handle  sich  um  die  solidesten  Geschäfte,  die  es  giebt. 
„Ausser  der  grössten  Sicherheit  und  neben  eventueller 
Verzinsung  ist  ja  noch  die  Möglichkeit  da,  sehr  bedeutende 
Gewinne  zu  erzielen.  Von  einem  Verlust  kann  niemals 
die  Rede  sein;  das  Spiel  ist  hier  gerade  das  Gegentheil 
eines  Wagnisses,  nämlich  Gratiszugabe,  freie  Gewinnchance 
ohne  Spielrisiko,  weshalb  der  Besitz  von  Prämienloosen 
zugleich  die  billigste  und  ungefährlichste  Gelegenheit  ge- 
setzlich erlaubten  Glücksspiels  in  sich  begreift.  Dazu 
tritt  noch  die  positive  Gewissheit  der  beständigen  Mehr- 
bewerthung  der  Loose.“  Solche  und  andere  Reklame  wird 
gemacht  und  hierbei  nicht  versäumt,  darauf  hinzuweisen 
dass  sich  die  Anlehensloose  ganz  besonders  für  jeden  ein- 
sichtigen Handwerker  und  Arbeiter  eignen,  um  Erspar- 
nisse anzulegen  und  dass  sie  Lebensversicherung  und 
Sparkassen  weit  in  Schatten  stellen.  Welche  Bewandtniss 
es  mit  den  „Ersparnissen“  Gei  den  Ratenloosen  hat,  zeigt 
die  Praxis  deutlich  genug.  Gewöhnlich  nimmt  der  Hausirer 
oder  Agent  eine  Anzahlung  auf  eine  .Serie  von  Loosen 
entgegen,  deren  Preis  in  monatlichen  oder  halbmonatlichen 


166 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  13. 


Ratenzahlungen  durch  Nachnahme  erhoben  wird.  Die 
Käufer  erhalten  bei  der  ersten  an  den  Agenten  zu  machen- 
den Zahlung,  welche  in  der  Regel  dessen  Provision  bildet, 
einen  Interimsvertrag  nebst  Prospekt  und  bei  später  er- 
folgenden Nachnahmen  ein  Original-Nummern-Dokument. 
Die  Loosnummern  bleiben  in  Händen  des  Bankgeschäftes 
bis  alle  Zahlungen  geleistet  sind  und  erst  wenn  dies  ge- 
schehen, bekommt  der  Käufer  die  Loose  in  seine  Hände. 
Wenn  inzwischen  ein  Loos  einen  Treffer  zieht,  so  soll 
dieser  dem  Käufer  zu  Gute  kommen. 

Es  handelt  sich  hier  meistens  um  fremde  Staats-  oder 
Städte-Obligationen  von  oft  recht  dubiosem  Werth.  Fatal 
ist  es  nun  für  den  Abnehmer  vor  Allem,  dass  im  Original- 
Nummern-Dokument  die  Jahreszahl  der  Loose  nicht  ange- 
geben ist.  In  den  Ziehungslisten  heisst  es  immer:  Loose 
vom  Jahr  so  und  so:  wie  soll  nun  der  Inhaber  eines  Origi- 
nal-Nummern-Dokuments  wissen,  ob  sein  Loos  unter  den 
gewinnenden  sei?  Der  Banquier  verspricht  freilich  pünkt- 
liche Kenntnissgabe;  allein  wer  kontrolirt  ihn?  Ferner  hat 
der  Looskäufer  gar  keine  Garantie,  dass  die  für  ihn  reser- 
virt  sein  sollenden  Original-Loos-Nummern  auch  wirklich 
vorhanden  sind.  Hat  der  Käufer  während  fast  3 Jahren 
seine  Zahlungen  geleistet,  so  muss  er  erst  noch  abwarten, 
ob  er  überhaupt  so  viele  Originalloose  erhält,  als  ihm  zu- 
gesichert worden  sind,  und  wenn  dies  auch  der  Fall  ist,  ob 
ihm  nicht  solche  jüngeren  Datums  unterschoben  werden. 
Man  darf  indessen  kühn  behaupten,  dass  keine  50  Prozent 
der  Käufer  alle  Ratenzahlungen  leisten.  Der  Eine  hält 
vielleicht  ein  Vierteljahr,  der  Andere  ein  volles  Jahr  aus; 
wenn  aber  nie  ein  Treffer  erfolgt,  werden  die  Zahlungen 
sistirt  und  Alles  ist  verloren  und  die  Tasche  des  schmun- 
zelnden Banquiers  wird  gefüllt.  Der  auf  diese  Weise  erzielte 
Gewinn  ist  weit  grösser  als  derjenige,  der  aus  dem  hohen 
Preise  der  Loose  gezogen  wird. 

Dem  Käufer  wird  natürlich  vom  Agenten  vorgespiegelt, 
wenn  er  keine  weiteren  Ratenzahlungen  mehr  leisten  könne 
oder  wolle,  würden  ihm  alle  Einzahlungen  wieder  zurück- 
erstattet; das  zieht,  ist  aber  eine  plumpe  Täuschung.  Der 
Banquier  beruft  sich  einfach  auf  die  gedruckten  Vertrags- 
bedingungen und  bemerkt  höhnisch,  was  die  Agenten  ver- 
sprochen, gehe  ihn  nichts  an;  den  Agenten  wird  dagegen 
dieses  Lockmittel  angerathen.  Beispiele  dieser  Art  sind  in 
jüngster  Zeit  im  Aargau  mehr  als  ein  Dutzend  konstatirt 
worden,  in  Wirklichkeit  betragen  die  Fälle  indessen  in  einem 
einzigen  Bezirke  mehr  als  das  Zehnfache!  Der  Schwindel 
wird  ärger  getrieben  als  man  glaubt,  und  es  ist  daher  gesetz- 
liches Einschreiten  dringend  nothwendig 

Vorerst  wird  es  sich  darum  handeln,  die  Ratenab- 
zahlungsgeschäfte aus  dem  Hausirvertrieb  zu  entfernen  und 
dann  den  gewerbsmässigen  Verkauf  der  Ratenloose  unter 
solche  staatliche  Kontrole  zu  stellen,  dass  die  Klienten  vor 
Ausbeutung  und  Betrug  wirksam  geschützt  werden. 

Aarau.  E.  Naef. 


Die  überseeische  Auswanderung  aus  Oesterreich.  In  der 
„Statistischen  Monatsschrift“  veröffentlicht  Dr.  F.  Probst  einen 
längeren  Aufsatz  über  die  überseeische  Auswanderung  in  Oester- 
reich, dem  wir  folgende  Angaben  entnehmen.  Im  Jahre  1889 
wanderten  aus  Oesterreich-Lngarn  55  667  und  im  Jahre  1890 
74  002  Personen  aus,  davon  entfielen  1889  über  29  000,  1890  gegen 
38  000  auf  Oesterreich.  1889  gehörten  hiervon  65,1%,  1890  63,6% 
dem  männlichen  Geschlechte  an.  Von  den  im  Jahre  1890  aus- 
wandernden standen  unter  je  100  im  Alter  von 

Männer  Frauen 

unter  15  Jahren  ...  50  50 

15—40  Jahren  ....  67  33 

über  40  Jahren  ...  77  23. 


Von  sämmtlichen  Auswanderern  standen  in  der  Alters- 


1889 

1890 

unter  15  Jahren  . . . 

. 21 

20 

von  15 — 40  Jahren  . . 

69 

67 

über  40  Jahren  . . . 

10 

13. 

Demnach  bestand  der  fünfte  Theil  der  Auswanderer  aus 
Kindern,  während  ca.  7/xo  dem  arbeitsfähigen  Alter  angehörten. 
Die  Berufsstatistik  der  österreichischen  Auswanderer  ist  wie 
die  ganze  österreichische  Berufsstatistik  ungenügend.  Nach 
derselben  gehörten  an 


Prozente 

1889 

1890 

der  Land-  und  Forstwirthschaft  . . . 

7 

4 

den  Gewerben  und  der  Industrie  . . 

11 

7 

dem  Handel  und  Verkehre 

12 

6 

den  liberalen  Berufen 

1 (0,6) 

0(0,5) 

anderen  Berufen  (einschl.  der  Arbeiter) 

29 

48 

unbekannten  Gewerben 

40 

35. 

Sehr  merkwürdig  gestaltet  sich  die 

Gruppirung  der  Ge- 

schlechter  innerhalb  der  einzelnen  Berufsgruppen.  Es 
im  Jahre  1890  aus 

wanderten 

auf  je  100  Personen  Männer 

Frauen 

der  Land-  und  Forstwirthschaft  . . 

61 

39 

„ Gewerbe  und  der  Industrie  . . 

81 

19 

des  Handels  und  Verkehrs  .... 

83 

17 

der  liberalen  Berufsarten 

82 

18 

„ Arbeiter . . 

75 

25 

aus  anderen  Berufen  

87 

13 

„ unbekannten  Berufen 

32 

68. 

LTnter  den  europäischen  Auswanderungsstaaten,  nach  der  j 
absoluten  Auswanderungsziffer  geordnet,  würde  Oesterreich-  | 
Ungarn  nach  Grossbritannien  und  Irland,  Italien  und  dem  (I 
deutschen  Reiche  die  vierte  Stelle,  Oesterreich  ohne  Ungarn 
nach  Schweden-Norwegen  die  5.  Stelle  einnehmen.  Da  der 
Geburtenüberschuss  in  Oesterreich  im  Jahre  1890  172  593  Köpfe 
beträgt,  verliert  Oesterreich  durch  die  Auswanderung  22%,  über 
ein  Fünftel  derselben. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Der  Ausstand  der  Kohlenarbeiter  in  England. 

In  den  Tagen  vom  12.  bis  zum  21.  März  1892  ist  der 
grösste  Ausstand  in  der  Geschichte  der  europäischen  Arbeit 
friedlich  vorübergegangen.  So  wenig  sich  zur  Stunde  be-  ' 
urtheilen  lässt,  ob  der  wirthschaftliche  Zweck,  zu  dessen  j 
Erzielung  er  in  Scene  gesetzt  worden  war,  verwirklicht  • 
worden  sei  — einen  Beweis  hat  er  sicherlich  erbracht:  er  < 
hat  die  Stärke  der  Organisation  der  englischen  Arbeiterschaft 
und  den  Werth  freier  Institutionen  ihres  Landes  der  Welt 
bewiesen.  Kein  Treubruch  und  keine  nennenswerthen  Aus- 
schreitungen waren  seine  Begleiter. 

Der  Ausstand  umfasste,  wie  durch  die  Miners  Federation 
konstatirt  wurde,  405  890  Personen,  also  rund  zwei  Drittel 
der  gesammten  Bergarbeiter  des  vereinigten  Königreiches.1)  \ 
Nur  Schottland,  mit  der  Ausnahme  von  Stirlingshire, 
Northumberland  und  Südwales  blieben  der  Bewegung  aus  ; 
Ursachen,  die  später  erörtert  werden  sollen,  lern.  Durharn 
schloss  sich  der  Bewegung  im  letzten  Augenblicke  an  und 
befindet  sich  zur  Stunde  noch  im  Ausstande. 

Das  Experiment  der  Miners’  Federation  ist  somit  stra- 
tegisch gelungen.  Auf  den  Wink  der  Konferenz  von  Man- 
chester verliess  fast  eine  halbe  Million  Arbeiter,  ohne  jede  j 
Aussicht  auf  Zahlung  von  Strikegeldern,  die  Gruben.  Sie 
beugten  sich  dem  Willen  ihrer  Führer,  die  nach  resultat- 
losen Besprechungen  mit  den  Unternehmern  das  Preis- 
experiment versuchten.  Vielen  Unternehmern  in  der  Eisen- 
und  Textilindustrie  war  der  Ausstand  ein  willkommener 
Anlass  zur  Schliessung  erträgnissarmer  Fabriken;  manche 
gestatteten  ihren  Arbeiterinnen  als  Angehörigen  von  Berg- 
leuten mitzufeiern  und  beschränkten  ihre  Produktion.  Viele  . 
Kohlenbesitzer  wurden  aber  durch  die  Einstellung  schwer 
geschädigt,  und  die  durch  die  Zeitungen  kolportirte  Nach- 
richt von  einem  Kartell  der  Kohlenarbeiter  und  Kohlen- 
besitzer scheint  auf  feindseligen  Kombinationen  zu  be- 
ruhen. 

Die  Motive,  von  welchen  sich  die  Arbeiterführer  leiten 
Hessen,  sind  bekannt.  „Dies  ist  eine  neue  Kamptesweise,“ 
sagte  Sam  Woods,  der  Vizepräsident  der  Federation,  am 

b Nach  den  Summaries  of  the  Statistical  Portion  of  the 
Reports  of  the  Inspectors  of  Mines,  die  soeben  zur  Ausgabe 
gelangen,  betrug  in  den  Jahren 

1891  1890 

die  Anzahl  der  Arbeiter  in  den 

Kohlenwerken 648  458  613  241. 

geförderte  Tonnen 185  479  126  181  614  288. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


167 


No.  13. 


Vorabende  des  Strikes,  „und  lediglich  ein  Experiment 
<regenüber  dem  alten  Vorgänge,  jede  Grafschaft  ihre  eigenen 
Streitigkeiten  auskämpfen  zu  lassen.  Würde  ein  Bezirk 
sich  eine  Lohnreduktion  gefallen  lassen,  so  würde  diese 
Bewegung  gleich  einer  Epidemie  auch  über  das  ganze 
Königreich  sich  ausbreiten.“  Ja,  Woods  behauptet,  dass 
das  Gelingen  dieses  Ausstandes  eine  Lohnerniedrigung  und 
dadurch  einen  Massenstrike  aller  Arbeiterkategorien  ver- 
hüten solle.  Die  Kohlenpanik  erklärte  er  für  das  Werk  der 
Londoner  Middlemen  und  Kohlenhändler;  und  diese  Be- 
hauptung fand  neue  Nahrung  in  dem  Ausspruche  des 
Präsidenten  des  Kohlenhandelsvereins  zu  Birmingham,  dass 
im  Gegensätze  zu  London  die  Kaufleute  von  Birmingham 
die  übliche  Ehrlichkeit  gehabt  hätten,  die  Preise  zum  Schaden 
des  konsumirenden  Publikums  nicht  emporzuhetzen. 

Die  Vorbereitungen  zum  Ausstande  erstreckten  sich 
besonders  auf  Bezirke,  die  dem  Rufe  der  Federation  hall) 
widerwillig  Folge  leisteten.  Dahin  gehörte  Nordwales, 
wo  Grubenleuten,  welche  ihre  Kündigung  nicht  meldeten, 
mit  der  Ausstossung  aus  der  Federation  gedroht  wurde, 
und  Südwales,  wo  die  gleitende  Skala  den  Anschluss  an 
die  Bewegung  verhinderte.  „Zwischen  einer  guten  Orga- 
nisation und  gleitenden  Skalen“,  sagte  dort  der  Strike- 
agitator,  „herrscht  derselbe  Unterschied,  wie  zwischen  einem 
lebenden  und  einem  todten  Fische.  Dieser  wird  vom  Strom 
abwärts  getrieben;  der  lebende  Fisch  schwimmt  eventuell 
auch  gegen  den  Strom,  wie  die  National-Federation  gegen 
die  Strömung  des  Marktes.“  Aber  die  Inszenirung  des  Aus- 
; Standes  erheischte  auch  die  Abwehr  der  Einfuhr  auslän- 
discher Kohle  Die  Nähe  der  Kohlenkrisis  hatte  in  der  dem 
Strike  vorhergehenden  Woche  für  die  Kohlenträger  in 
London  einen  glücklichen  Ausgang  ihrer  Lohnstreitigkeit 
zur  Folge  gehabt.  Sie  erboten  sich  zum  Danke,  keine 
fremden  Kohlen  zu  löschen,  und  drückten  den  Wunsch  aus, 
mit  der  Federation  in  engeren  Verband  zu  treten.  Ja  es 
waren  selbst  von  Seite  der  belgischen  Bergarbeiterführer 
Vorkehrungen  getroffen,  die  Kohlenförderung  nöthigenfalls 
zu  verringern,  und  dadurch  die  Beschaffung  ausländischer 
Kohle  zu  verhüten. 

Die  ganze  Bewegung,  welche  von  Lancashire,  dem  Sitze 
der  Federation,  ausging,  erhielt  aber  ihren  grössten  Impuls 
durch  den  Anschluss  der  Bergleute  von  Durham,  die  nach 
zwei  Abstimmungen  am  10.  März  erfolgte.  Diese  Einstel- 
lung betraf  92,588  Bergleute  in  216  Gruben,  die  86  Be- 
sitzern gehören,  und  deren  Förderung  fast  ein  Fünftel  der 
gesammten  englischen  Kohlenproduktion,  einen  Werth  von 
jährlich  1 1 634  202  Lst.  repräsentirt.  Durham  versorgte 
sonst  Sheffield  und  London  mit  Hauskohle;  diese  waren 
nunmehr  auf  Südwales  angewiesen.  Aber  auch  hier  be- 
schlossen die  Bergleute,  keine  Ueberstunden  zu  arbeiten. 
Die  Vereinigung  der  Bergwerkbesitzer  erliess  ein  Manifest, 
in  welchem  ein  Rückblick  auf  die  bisherige  Lohnregelung 
geworfen  wird.  Sie  erinnern  daran,  dass  seit  1871  An- 
sprüche auf  höhere  Entlohnung  vielfach  im  gegenseitigen 
Einvernehmen  geschlichtet  worden  seien.  Im  Jahre  1877 
wurde  die  erste  gleitende  Skala  mit  einem  Minimallohnsatze 
(2s.  9d.  per  Tag)  festgestellt.  Diese  wurde  von  den  Unter- 
nehmern zur  Zeit  der  Preisdepression  von  1879  (April)  ge- 
kündigt, was  einen  siebenwöchentlichen  Ausstand  zur 
Folge  hatte.  Durch  den  definitiven  Schiedsspruch 
Lord  Derby’s  im  Juli  des  Jahres  wurde  dieser  beigelegt 
und  eine  10  procentige  Lohnreduktion  beschlossen. 
Oktober  1879  wurde  eine  zweite  Sliding  Scale 
eingeführt;  die  bestehenden  Gedinge  und  Tagelöhne  sollten 
bei  einem  Kohlenpreise  von  4 s.  2 d.  bis  4 s.  6 d.,  und  bei 
jeder  Preissteigerung  von  4 d.  eine  Lohnsteigerung  von 
272°/o  eintreten.  Die  dritte  Skala  vom  29.  April  1882  lässt 
den  Standardlohn  bei  einem  Preise  3 s.  10  d.  bis  4 s.  und 
bei  jeder  Preissteigerung  von  2 d.  eine  Lohnsteigerung 
von  1V40/0  eintreten.  Nur  bei  den  Preisen  von  5 s.  10  d. 
bis  6 s.,  6 s.  bis  6 s.  2 d.  beträgt  die  Lohnsteigerung  2 l/2  %• 
Die  vierte  und  letzte  Skala  (12.  Juni  1884)  unterschied 
sich  nur  von  der  vorhergehenden  in  der  Ermittelung 
des  Verkaufspreises,  bei  welcher  ein  3 monatlicher  Durch- 
' schnitt  zu  Grunde  gelegt  wurde.  Diese  Skala  wurde  von 


den  Bergleuten,  welche  die  Steigerung  als  zu  gering  be- 
trachteten, am  31.  Juli  gekündigt.1)  Die  Kohlenpreise 
stiegen;  vom  Frühjahr  1889  bis  Januar  1891  erlangten  die 
Bergleute  im  Ganzen  eine  35  proz  Lohnerhöhung.  Zugleich 
trat  eine  Kürzung  der  Arbeitszeit  in  Kraft,  welche  im  Jahre 
1887  für  die  Häuer  39,4  bis  40,3  Stunden  per  Woche  be- 
tragen hatte.  Im  Januar  begann  die  rückläufige  Preisbe- 
wegung; schon  im  April  1891  machte  der  Sekretär  des 
Kohlenbergbesitzervereins  den  Sekretär  der  Durham  Asso- 
ciation auf  die  Nothwendigkeit  einer  Lohnreduktion  auf- 
merksam, worauf  sich  die  letztere  nach  gepflogener  Be- 
rathung  einzugehen  weigerte.  Der  Preistall  nahm,  wie  be- 
kannt, im  Herbste  und  im  Januar  1892  an  Heftigkeit  zu. 
Am  14.  Januar  wurde  der  formelle  Antrag  einer  10  prozentigen 
Lohnreduktion  gestellt,  beziehungsweise  sollte  einem  Schieds- 
gerichte die  Entscheidung  über  die  Höhe  derselben  über- 
lassen werden.  Nach  neuerlicher  Weigerung,  in  diese  Be- 
dingungen einzuwilligen,  stellten  am  20.  Februar  die  Unter- 
nehmer ihr  Ultimatum:  7'/2  % sofortige  Lohnreduktion,  oder 
zwei  Reduktionen  von  je  5 °/0,  von  welchen  die  eine  sofort, 
die  zweite  vom  1 . Mai  angefangen,  eintreten  sollte.  Am 
12.  März  wurde  ihnen  der  letzte  Bescheid  zu  theil:  keine 
Lohnreduktion  wird  angenommen.  Einige  Gruben  streikten 
bereits  am  1 1 . auf  die  Nachricht,  dass  keine  freie  Haus- 
kohle mehr  zugestanden  werde.  In  einer,  durch  Grund- 
wasser bedrohten  Grube  (Sherburn  House  Pit),  wurde 
eine  5 prozentige  Lohnerhöhung  angeboten;  aber  auch 
hier  wurde  die  Arbeit  eingestellt.  Vielen  Dörfern  der  Um- 
gebung, die  durch  die  Pumpwerke  der  Gruben  mit  Wasser 
versehen  werden,  drohte  schwere  Wassersnoth. 

Dass  Schottland  der  Bewegung  fernbleiben  werde, 
war  vorauszusehen.  Die  Miners  Federation  besass  nur  in 
Stirlingshire  Mitglieder,  und  diese  waren  auch  am  Aus- 
stande betheiligt.  Ueber  den  Stand  der  Organisation  in 
den  übrigen  Revieren  haben  aber  zwei  Bergarbeitertührer, 
Mr.  William  Small  und  Keir  Hardie  übereinstimmende  Aus- 
kunft vor  der  Royal  Commission  on  Labour  abgegeben. 
Trotz  der  Führerrolle  Lancashire’ s ist  auch  in  diesem  Distrikte 
in  Folge  religiöser  und  Racenunterschiede  die  Gewerkvereins- 
organisation eine  verhältnissmässig  lockere.  (10280.)  Aber 
diese  Bergleute  "naben  „das  Geheimniss  der  Beschränkung  der 
Produktion  herausgefunden:  sie  beschränken  die  Forderung 
und  verkürzen  die  Arbeitszeit,  sobald  eine  Lohnreduktion 
in  Aussicht  steht“.  Die  „F'ünftagepolitik“  hat  tür  sie  nicht 
nur  einen  physischen,  sondern  auch  einen  geschäftlichen 
Zweck,  nämlich  den  der  Regelung  des  Marktes“.  (10  166.) 
Ebenso  erklärt  Keir  Hardie,  der  Präsident  der  etwa  1000 
Mitglieder  zählenden  Ayrshire  Miners  Union,  dass  seit  ihrer 
Begründung  (1886)  die  Löhne  dadurch  gesteigert  worden 
seien,  dass  die  Bergleute  nur  dreitägige  Förderarbeit  ver- 
richteten oder  dieselbe  so  lange  einschränkten,  bis  die 
Lohnerhöhung  erfolgte  (12  433).  In  Schottland  war  also 
das  Preisexperiment,  das  man  in  England  durchzusetzen 
strebte,  in  vollem  Gange  und  unter  ungünstigen  Verhält- 
nissen erfolgreich  gewesen.  Man  beschloss  daher  zu  Glas- 
gow am  10.  März,  die  fünftägige  Arbeitswoche  fortzusetzen, 
und  nicht  zu  striken. 

Die  Wirkungen  des  Strikes  sind  zur  Stunde  noch 
nicht  absehbar.  Noch  am  7.  März  hatten  im  Detailverkauie 
Kohlen  in  London  38  s.  per  Tonne  notirt.  Auch  die  Holz- 
preise stiegen  noch  zwei  Tage  später.  Aber  am  10.  be- 
gannen die  Kohlenpreise  bereits  zu  sinken,  und  erreichten 
am  15.  d.  M.  den  Preis  von  34  s.  Dieser  Preisfall  erklärt 
sich  sowohl  aus  der  überreichen  Kohlenversorgung,  die  an- 
gesichts des  Strikes  stattgefunden  hatte;  als  Rückschlag 
nach  der  wilden  Spekulation  der  früheren  Tage,  zum  Theil 
wohl  auch  aus  der  durch  die  Einstellung  vieler  Unter- 
nehmungen gesunkenen  Nachfrage.  Kupfer-  und  Eisen- 
werke in  Derbyshire  und  Cleveland,  die  Baumwollspinne- 
reien in  Bolton,  Thonwerke  in  Nordstaffordshire,  Maschinen- 
und  chemische  Fabriken,  Schiffbau  und  Eisenbahnunter- 

1 ) Eine  neue  Lohnskala  wurde  von  ihnen  noch  im  August 
1891  vorgeschlagen;  die  Sätze  betrugen  F/4%  für  jede  Preis- 
steigerung von  2.  d.  Vgl.  Royal  Commission  on  Labour,  2606. 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLAT I . 


No.  13. 


nehmungen  standen  stille  oder  reduzirten  ihren  Betrieb. 
So  beschränkte  die  Nord-Eastern  Railway  ihren  Verkehr 
um  178  Züge. 

Auf  die  Einfuhr  ausländischer  Kohle  konnte  man  daher 
verzichten.  Der  Hafen  von  Hüll  war  mit  Kohlen  auf 
l-l  Tage  hinaus  versehen.  Auch  die  Kohlenversorgung 
solider  Firmen  war  eine  vollständige;  manche  städtischen 
Gasanstalten,  so  jene  von  Leeds,  erklärten,  auf  lange  Zeit 
mit  Brennmaterial  versehen  zu  sein,  während  die  Gas 
Company  in  London  zum  sparsamen  Gasverbrauch  mahnen 
zu  müssen  glaubte.  Die  kleineren  Unternehmer  litten  da- 
gegen beträchtlich;  und  wäre  nicht  mildes  Wetter  ein- 
getreten, so  würde  das  Elend  der  ärmeren  Bevölkerung 
durch  den  Strike  verschärft  worden  sein. 

Die  Bergleute  mancher  Distrikte,  zum  Beispiel  jene 
von  Cumberland,  hatten  von  vornherein  beschlossen,  nur 
eine  Woche  zu  feiern.  Unter  diesen  Umständen  trat  am 
16.  im  Westminster-Palace  Hotel  in  London  die  Konferenz 
der  Miners  Federation  zusammen.  Sie  beschloss  nach  zwei- 
tägiger Berathung  auf  den  Antrag  desselben  Mr.  S.  S.  White- 
house,  der  zu  Manchester  die  „Stop-week“  in  Vorschlag 
gebracht  hatte,  „allen  mit  der  Federation  in  Verbindung 
stehenden  Bergleuten  den  Rath  zu  ertheilen,  dass  sie,  an- 
gesichts dessen,  dass  der  Zweck  der  Arbeitseinstellung 
erfüllt  sei,  denselben  zur  Wiederaufnahme  der  Arbeit  am 
nächsten  Montag  rathe.“  Am  16.  traten  auch  die  Kohlen- 
bergwerksbesitzer zu  Manchester  zu  einer  Konferenz  zu- 
sammen, die  jedoch  lediglich  der  Wiederaufnahme  der 
Arbeit  zuzustimmen  beschloss,  ohne  über  die  bevorstehende 
Lohnregelung  Bestimmungen  zu  treffen.  Am  18.  beschloss  , 
die  Londoner  Bergarbeiterkonferenz,  dass  vom  1 1 . April 
angefangen  nur  fünf  Tage  gearbeitet  werden  und  Montag 
der  Ruhetag  sein  solle.  Den  Bergleuten  von  Cumberland 
und  Durham  wurde  Beistandleistung  versprochen,  und  für 
die  letzteren  eine  Umlage  von  wöchentlich  6 d.  ausge- 
schrieben, welche  von  jedem  Mitgliede  der  Federation  vom 
April  angefangen  einzuheben  sei.  Endlich  wurde  den 
Londoner  Kohlenträgern  die  Verbindung  mit  der  Federation 
in  Aussicht  gestellt. 

So  endete  dieser  Strike,  der  ein  doppeltes  Nachspiel 
haben  wird:  eines  in  Durham,  wo  er  mit  grösserer  Heftig- 
keit fortgesetzt  wird,  als  in  den  Gebieten  der  radikalen 
Federation;  ein  anderes  wird  voraussichtlich  um  die  Acht- 
stundenbill für  Bergarbeiter  sich  drehen.  Wenn  auch  die 
Achtstundenbill  im  Unterhaus  abgelehnt  worden  ist,  so  wird 
ohne  Zweifel  nicht  zuletzt  unter  dem  Eindruck  des  Aus- 
standes der  Kohlenarbeiter  die  Forderung  des  Achtstunden- 
tages der  Bergleute  bei  der  bevorstehenden  Wahl  des 
Parlaments  eine  sehr  einflussreiche  Rolle  spielen. 

Stephan  Bauer. 


Die  Ergebnisse  des  deutschen  Gewerkschaftskongresses. 

Der  Zweck  des  deutschen  Gewerkschaftskongresses 
wurde  insofern  erreicht,  als  ein  Organisationsplan  durch 
die  Vertreter  von  mehr  als  300  000  deutschen  Arbeitern 
festgestellt  wurde.  Bekanntlich  erklärte  sich  der  Kongress 
für  centrale  Organisationen  und  gegen  die  Centralisirung 
durch  Vertrauensmänner.  Die  Vertreter  dieser  Organi- 
sationsform verliessen  in  Folge  dessen  nach  Ueber- 
reichung  eines  Protestes  den  Kongress.  Sie  erklärten 
damit,  dass  sie  auf  ihrem  Standpunkte  beharren  und 
sich  den  Majoritätsbeschlüssen  nicht  fügen,  für  dieselben 
keine  Verantwortung  übernehmen  wollen.  Da  es  sich 
hierbei  nur  um  einen  sehr  geringen  Bruchtheil  der 
gewerkschal  dich  organisirten  Arbeiter  handelt  und  eine 
Spaltung  von  irgend  welcher  Tragweite  nicht  die  Folge 
sein  wird,  ist  diesem  Ereignisse  besondere  Bedeutung 
nicht  beizulegen.  Mit  diesem  Beschlüsse  war  auch  ausge- 
sprochen, dass  die  in  Halberstadt  versammelten  Vertreter 
die  Erörterung  politischer  Fragen  innerhalb  der  gewerk- 
schaftlichen Organisation  wenn  auch  nicht  alle  aus  prin- 
zipiellen Gründen,  so  doch  ausnahmslos  mit  Rücksicht  auf 
die  Handhabung  der  Vereinsgesetzgebung  ausgeschlossen 
wissen  wollten. 

Infolge  des  Ausscheidens  der  Vertreter  der  Lokal- 


organisation verblieben  auf  dem  Kongresse  bloss  zwei 
Richtungen,  die  Vertreter  der  Industrieverbände  und  die 
der  Unionen.  Eine  Abstimmung  darüber,  welche  Organi- 
sationsform die  Majorität  der  Kongresstheilnehmer  für  die 
beste  hält,  vermied  man,  indem  man  einen  vom  Spezial- 
kongresse der  Holzbearbeitungsarbeiter  gestellten  Kom- 
promissantrag in  seinen  wesentlichen  Punkten  annahm. 
Für  denselben  erklärten  sich  in  einer  namentlichen  Ab- 
stimmung 149  Stimmen,  gegen  den  Antrag  der  General- 
kommission,  welchen  wir  in  seinen  wesentlichen  Punkten 
in  der  letzten  Nummer  veröffentlichten,  37  Stimmen,  ausser- 
dem enthielten  sich  10  Kongressmitglieder  der  Stimme.  Wir 
drucken  hier  die  zum  Beschluss  erhobene  Resolution  voll- 
inhaltlich ab: 

„Der  Kongress  erklärt  sich  für  die  Annäherung  der  Centra- 
lisationen  verwandter  Berufe  durch  Kartell  vertrage,  überlässt 
jedoch  die  Entscheidung  über  die  Frage,  ob  die  spätere  Ver- 
einigung der  Branchenorganisationen  zu  Unionen  oder  Industrie- 
verbänden stattzufinden  hat,  der  weiteren  Entwickelung  der 
Organisationen  in  Folge  der  Kartellverträge. 

Der  Kongress  erklärt,  dass  in  all  denjenigen  Berufsgruppen, 
wo  die  Verhältnisse  den  Industrieverband  zulassen,  dieser  vor- 
zuziehen ist,  dass  jedoch  in  all  denjenigen  Berufsgruppen,  wo 
in  Folge  der  grossen  Verschiedenheit  der  Verhältnisse  die  Ver- 
einigung in  einen  Industrieverband  nicht  durchführbar  ist, 
durch  Bildung  von  Unionen  diese  Möglichkeit  herbeigeführt 
werden  soll. 

Der  Kongress  empfiehlt  die  Kartellverträge  dahin  abzu- 
schliessen,  dass  die  verwandten  Berufe 

1.  bei  Strikes  und  Aussperrungen  sich  gegenseitig  finanziell 

unterstützen,  _ _ t 

2.  ihre  auf  der  Reise  befindlichen  Mitglieder  gegenseitig 
gleichmässig  unterstützen, 

3.  die  Agitation  möglichst  gleichmässig  und  auf  gemein- 
schaftliche Kosten  betreiben, 

4.  statistische  Erhebungen  gemeinsam  veranstalten, 

5.  Herbergen  und  Arbeitsnachweise  zentralisiren, 

6.  ein  gemeinsames  Organ  schaffen, 

7.  den  Liebertritt  von  einer  Organisation  in  die  andere  bei 
Ortswechsel  ohne  Beitrittsgeld  und  weitere  Formalitäten  , 
herbeiführen. 

Der  Kongress  erklärt,  dass  die  Centralorganisation,  als 
Grundlage  der  Gewerkschaftsorganisation,  am  besten  befähigt  , 
ist,  die  der  letzteren  zufallende  Aufgabe  zu  lösen  und  empfiehlt  , 
allen  Gewerken,  welche  bisher  lokal  organisirt  oder  durch  ein 
Vertrauensmännersystem  verbunden  waren,  sich  den  bestehenden 
Centralverbänden  anzuschliessen  resp.  solche  zu  bilden. 

Jeder  dieser  Centralvereine  (Verbände)  hat  in  allen  Orten, 
wo  eine  genügende  Anzahl  Berufsgenossen  vorhanden  und  keine  i 
gesetzlichen  Hindernisse  im  Wege  stehen,  Zahlstellen  zu  er- 
richten. Wo  solche  Hindernisse  bestehen,  ist  den  Arbeitern  zu 
empfehlen,  als  Einzelmitglieder  den  Centralvereinen  beizutreten  ■ 
und  sich  durch  gewählte  Vertrauensmänner  eine  stete  Vertretung  , 
und  Verbindung  mit  der  Gesammtorganisation  zu  schaffen.  * 
Dieses  Vertrauensmänner-System  ist  so  zu  gestalten,  dass  es  ' 
gleichzeitig  eine  Vertretung  der  Gesammtheit  der  Berufsgenossen 
an  den  Orten  bildet,  wo  für  die  Centralvereine  als  solche 
Schwierigkeiten  bestehen. 

Ausserdem  können  an  solchen  Orten  lokale  Vereine 
eventuell  in  Verbindung  mit  verwandten  Berufszweigen  ge- 
schaffen werden. 

Die  Verbindung  der  einzelnen  Centralisationen  zum  ge- 
meinsamen Handeln  in  Fällen,  bei  welchen  Alle^  gleichmässig 
interessirt  sind,  wird  durch  eine  auf  jeden  stattfindenden  Ge- 
werkschaftskongress zu  erwählende  Generalkommission  herbei- 
geführt. 

Die  Aufgaben  der  Generalkommission. 

Die  Generalkommission  hat: 

1.  die  Agitation  in  denjenigen  Gegenden,  Industrien  und 
Berufen,  deren  Arbeiter  noch  nicht  organisirt  sind,  zu 
betreiben  ; 

2.  die  von  den  einzelnen  Centralvereinen  aufgenommenen 
Statistiken  zu  einer  einheitlichen  für  die  gesammte 
Arbeiterschaft  zu  gestalten  und  eventuell  zusammenzu- 
stellen ; 

3.  statistische  Aufzeichnungen  über  sämmtliche  Strikes  zu 
führen  und  periodisch  zu  veröffentlichen; 

4.  ein  Blatt  herauszugeben  und  den  Vorständen  der  Central- 
vereine in  genügender  Zahl  zur  Versendung  an  deren 
Zahlstellen  zuzusenden,  welches  die  Verbindung  sämmt- 
licher  Gewerkschaften  mit  zu  unterhalten,  die  nöthigen 
Bekanntmachungen  zu  veröffentlichen  und  soweit  ge- 
boten, deren  rechtzeitige  Bekanntmachung  in  der 
Tagespresse  herbeizuführen  hat; 

5.  internationale  Beziehungen  anzuknüpfen  und  zu  unter- 
halten. 

Die  Pflichten  der  einzelnen  Central  vereine  der 
Generalkommission  gegenüber. 

[ede  centralisirte  Gewerkschaft  hat  pro  Mitglied  und 
Quartal  5 Pf.  an  die  Generalkommission  zu  leisten.  Diese  Bei- 


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träge  können  aus  den  Kassen  cler  Gewerkschaften  gezahlt,  oder 
durch  von  der  Generalkommission  auszugebende  Marken  von 
den  Mitgliedern  der  Organisationen  erhoben  werden.  Diese 
Marken  können  auch  an  nichtorganisirte  Arbeiter  abgegeben 
werden. 

Diejenigen  Gewerkschaften,  welche  ihren  Verpflichtungen 
o-egenüber  der  Generalkommission  bez.  Zahlung  der  Beiträge 
nicht  nachkommen,  haben  weder  Sitz  noch  Stimme  auf  den  von 
der  Generalkommission  einberufenen  allgemeinen  Gewerkschafts- 
kongressen. 

Ueber  Beginn,  Weiterentwickelung,  Beendigung  und  Er- 
folg von  Streiks  ist  der  Generalkommission  regelmässig  Bericht 
zu  erstatten  — desgleichen  müssen  dieselben  die  von  den  einzel- 
nen Gewerkschaften  aufgenommenen  statistischen  Erhebungen 
zur  Verfügung  gestellt  werden 

Die  Einberufung  des  nächsten  Kongresses  bleibt  der 
Generalkommission  unter  Zustimmung  der  Mehrzahl  der  Central- 
vorstände überlassen.  Die  Einberufung  muss  erfolgen,  wenn 
zwei  Dritttheile  der  Centralvereinsvorstände  dieses  beantragen. 

Centralorganisationen  bis  zu  1500  Mitgliedern  entsenden 
zum  Kongress  I Delegirten,  grössere  Organisationen  auf  jede 
weitere  1500  Mitgliedern  ebenialls  1 Delegirten. 

Lokalorganisirte  Arbeiter  in  den  Landestheilen,  in  welchen 
die  gesetzlichen  Bestimmungen  die  Errichtung  von  Zahlstellen 
der  Centralverbände  nicht  zulassen,  können  sich  auf  dem  Kon- 
gress nach  demselben  Wahlmodus  vertreten  lassen,  sofern  für 
den  betreffenden  Beruf  ein  Centralverband  nicht  besteht,  ein 
Anschluss  an  Einzelmitglieder  also  unmöglich  war.  Orte,  in 
denen  nicht  1500  der  in  Frage  kommenden  Arbeiter  organisirt 
sind,  haben  sich  mit  anderen  Orten  zu  gemeinsamer  Wahl  in 
Verbindung  zu  setzen. 

In  Erwägung,  dass  thatkräftige  Organisationen  das  beste 
Mittel  zur  erfolgreichen  Durchführung  von  Strikes  wie  zur  Ver- 
hinderung aussichtsloser  Strikes  ist,  die  Leistungsfähigkeit  aber 
in  der  Aufklärung  der  Mitglieder,  der  Disziplin  und  der  Höhe 
der  Fonds  erblickt  werden  muss;  welche  Vorbedingungen  jedoch 
durch  die  heute  fast  allgemein  niedrigen  Beiträge  nicht  erfüllt 
werden  können,  empfiehlt  der  Kongress  zum  Zweck  wirksamer 
Agitation  und  Ansammlung  von  Fonds  die  Beiträge  diesem 
Zweck  entsprechend  festzusetzen.“ 

Es  geht  aus  der  Resolution  hervor,  dass  die  Form  des 
Industrieverbandes,  demnach  die  Zusammenfassung  aller 
Arbeiter  in  graphischen  Berufen,  in  der  Metallindustrie,  in 
den  Holzindustrien  etc.  in  je  eine  Organisation  als  Ideal 
aufgestellt  wurde,  dass  aber  mit  Rücksicht  auf  den  „Berufs- 
dünkel“ der  Arbeiter  und  auf  die  nicht  in  allen  Gewerben 
gleich  entwickelte  Akkumulation  der  Betriebe  die  Bildung 
von  Unionen  der  Fachorganisationen  ermöglicht  bleiben  soll. 
Und  dies  mit  vollem  Rechte.  Der  im  handwerksmässigen 
Betriebe  arbeitende  Holzschnitzer  wird  nicht  leicht  zu 
überreden  sein,  einem  Industrieverbande  der  Holzbearbei- 
tungsarbeiter beizutreten,  er  wird  aber  viel  leichter  über- 
zeugt werden  können,  dass  es  in  seinem  Interesse  liegt, 
einem  Verbände  der  Holzschnitzer  sich  anzuschliessen;  da- 
gegen werden  die  Arbeiter  grosser  Maschinenwerkstätten 
nicht  für  nöthig  halten,  sich  als  Schlosser,  Spengler,  Former, 
Dreher,  Monteure  etc.  etc.  gesondert  zu  organisiren,  sondern 
sie  werden  gemeinsam  arbeitend,  gleichartige  Forderungen 
ihren  Unternehmern  gegenüber  vertretend,  viel  mehr  Inter- 
esse an  einem  Industrieverbande  sämmtlicher  Metallarbeiter 
haben.  Diese  Verschiedenheit  der  Organisation  ermöglicht 
bei  vergrösserter  Anpassungsfähigkeit  an  die  thatsächlichen 
Verhältnisse  in  den  einzelnen  Gewerben  eine  vollkommene 
Zusammenfassung  der  Kräfte.  In  dem  Industrieverbande 
werden  bei  hochentwickelten  Industrien  die  einzelnen  Ar- 
beiter direkt  ohne  Zwischenglied  Mitglieder  der  die  ver- 
schiedenen Branchen  der  Industriegruppe  zusammenfassenden 
Organisation,  während  bei  der  Union  nicht  die  einzelnen 
Holzschnitzer,  Drechsler,  Schreiner  etc.  der  Union  direkt 
beitreten,  sondern  die  Verbände  derselben  an  .Stelle  der 
Mitglieder  Glieder  der  Union  bilden.  Hierdurch  ist  dann 
auch  für  die  einzelnen  Branchen  eine  gewisse  Bewegungs- 
freiheit gegeben.  So  z.  B.  für  die  Klavierarbeiter  oder  die 
Zimmerer;  bei  beiden  spielt  die  Bearbeitung  des  Holzes 
eine  Hauptrolle,  trotzdem  ist  es  nicht  a priori  festzustellen, 
ob  sie  ein  Interesse  haben,  einem  Industrieverbande  der 
Holzarbeiter  anzugehören,  die  ersteren  können  vorziehen, 
einen  Kartellvertrag  mit  anderen  Gruppen  der  Musikinstru- 
mentenindustrie  einzugehen,  letztere  einer  Union  der  Bau- 
arbeiter beizutreten. 

Deshalb  scheint  es  uns  in  den  Bedürfnissen  der  gewerk- 
schaftlichen Organisation  zu  liegen,  dass  eine  gewisse  Elas- 
tizität durch  die  Halberstädter  Kongressbeschlüsse  den  Ge- 
werkschaften gewahrt  blieb.  Sind  doch  die  Verhältnisse  in  den 
einzelnen  Gewerben  Deutschlands  trotz  der  starken  Fort- 
schritte zur  Grossproduktion  noch  immer  so  verschieden, 
dass  man  die  Arbeiter  nicht  nach  einem  überall  in  gleicher 


Weise  zur  Anwendung  kommenden  Schema  organisiren 
kann.  Wir  sprachen  von  einer  gewissen  Elastizität,  und 
nur  von  dieser  kann  gesprochen  werden,  da  die  elastischste, 
sich  am  leichtesten  den  örtlich  oft  so  verschiedenen  Ver- 
hältnissen anpassende  Organisation,  die  der  lokalen  Fach- 
vereine mit  Vertrauensmännercentralisation  vom  Kongresse 
nicht  anerkannt  wurde. 

Die  Aufgaben  der  Unionen  bezw.  Industrieverbände 
und  der  von  dem  allgemeinen  Gewerkschaftskongresse  zu 
wählenden  Generalkommission  der  Gewerkschaften  Deutsch- 
lands sind  die  folgenden.  Die  Unterstützung  der  Arbeiter 
bei  Strikes  und  Aussperrungen  obliegt  nicht  mehr  wie  bis- 
her den  einzelnen  Centralvereinen  und  der  Generalkom- 
mission, sondern  den  Unionen  und  natürlich  auch  den 
Industrieverbänden.  Für  Reiseunterstützung,  Agitation  und 
statistische  Erhebungen  soll  von  den  vereinigten  Organi- 
sationen gesorgt  werden,  diese  sollen  auch  das  Herbergs- 
wesen und  die  Arbeitsnachweise  centralisiren,  für  die  ver- 
schiedenen Branchen  ein  gemeinsames  Organ  schaffen  und 
Freizügigkeit  nicht  nur  wie  bisher  in  den  Vereinen  der 
einzelnen  Branche,  sondern  auch  in  allen  der  durch  Kartell- 
verträge verbundenen  Centralvereine  gestatten.  Kurz  ge- 
sagt: ein  planmässigeres  Arbeiten  bei  mindestens  gleichen 
Leistungen  und  erheblicher  Reduzirung  der  Auslagen  soll 
erzielt  werden.  Nur  über  einen  Punkt  ist  mehr  zu  sagen: 
über  die  Strikeunterstützung.  Diese  ist  nunmehr  der  General- 
kommission vollständig  entzogen,  sie  hat  über  Berechtigung 
und  Nichtberechtigung  von  Arbeitseinstellungen  nicht  mehr 
zu  entscheiden,  dies  bleibt  den  die  Verhältnisse  im  einzelnen 
Gewerbe  leichter  beurtheilenden  Einzelorganisationen  über- 
lassen. Der  Generalkommission  werden  dadurch  sehr  viele 
Anfeindungen  erspart  und,  was  nicht  das  Liifwichtigste  ist, 
man  wird  nicht  leichtfertig,  auf  die  Fonds  und  die  moralische 
Macht  derselben  bauend,  Strikes  insceniren.  Die  Erfahrungen 
mit  der  schweizerischen  Arbeiterreservekasse  haben  gelehrt, 
dass  eine  derartige  Institution,  wenn  auch  gegen  den  Willen 
der  Leiter  derselben,  das  Ausbrechen  von  Strikes  eher  för- 
dert als  verhindert.  Fehlt  auch  nunmehr  in  Deutschland 
eine  Centralleitung  für  Strikes,  fehlt  auch  der  von  den 
Metallarbeitern  beantragte  Strikefonds,  so  werden  trotzdem 
bei  Strikes,  die  von  der  Masse  der  organisirten  Arbeiter  ge- 
billigt werden,  und  bei  Aussperrungen  die  Arbeiter  reich- 
liche Unterstützung  finden. 

Die  Generalkommission,  der  durch  Beiträge  der  Mit- 
glieder der  Centralvereine  von  20  Pf.  pro  Jahr  und  Mitglied 
eine  Summe  von  mindestens  40  000  M.  zur  Verfügung  ge- 
stellt wurde,  soll  die  Agitation  in  denjenigen  Gegenden, 
Industrien  und  Berufen  betreiben,  deren  Arbeiter  noch  nicht 
organisirt  sind,  sie  soll  eine  Strikestatistik  für  Deutschland 
führen  und  die  Statistiken  der  einzelnen  Centralverbände 
einheitlich  verarbeiten. 

Die  übrigen  Theile  der  Resolution  bedürfen  keiner 
besonderen  Erläuterung. 

Wird  das  was  auf  dem  Kongresse  beschlossen  wurde, 
auch  verwirklicht  werden?  Dies  wird  nicht  früher  festge- 
stellt werden  können,  bis  die  einzelnen  Organisationen  in 
ihren  Generalversammlungen  zu  den  Beschlüssen  des  allge- 
meinen Gewerkschaftskongresses  Stellung  genommen  haben 
werden.  Wohl  waren  die  zum  Halberstädter  Kongress  ent- 
sandten Delegirten  die  legitimen  Vertreter  der  Arbeiter 
ihres  Gewerbes,  aber  sie  repräsentirten  zum  grössten  Theile 
die  fortgeschrittensten,  geklärtesten,  abgeschlossensten  Ge- 
dankenkreise innerhalb  der  Organisationen , nicht  die  An- 
schauung des  Durchschnittes.  Gegen  dieses  Bedenken  kann 
man  einwenden,  dass  der  Kongress  und  seine  Beschlüsse 
starken  moralischen  Eindruck  auf  die  Arbeiter  üben  werden 
und  derselbe  nicht  leicht  durch  eine  Opposition  innerhalb 
der  einzelnen  Organisationen  verwischt  werden  dürfte. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Evangelische  Arbeitervereine  in  Württemberg.  Nach 
Mittheilungen  auf  cler  am  20.  d Mts.  in  Stuttgart  abgehaltenen 
Hauptversammlung  des  Landesverbandes  dieser  Vereine  gehören 
demselben  gegenwärtig  15  Vereine  (Stuttgart,  Schramberg, 
Oberndorf,  Heidenheim,  Aurich,  Perouse,  Cannstatt,  Königs- 
bronn, Fellbach,  Hall,  Wasseralfingen,  Esslingen,  Schorndorf, 
Schwenningen,  Schnaitheim)  mit  1580  aktiven  und  313  passiven 
! oder  Ehrenmitgliedern  an.  Den  Mitgliedern  wurde  der  Bei- 
tritt zur  M.-Gladbacher  Hilfskranken-  und  Sterbekasse  evange- 
lischer Arbeitervereine  empfohlen  Der  Hauptpunkt  der  lages- 
i ordnung  bildete  eine  vom  Vorstand  vorgeschlagene  Erklärung 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  13. 


über  die  Stellung  der  evangelischen  Vereine  zur  sozialen  Frage, 
welche  in  folgender  Form  angenommenen  wurde:  „Die  evan- 

gelischen Arbeitervereine  Württembergs  erstreben  t ür  ihre  Mit- 
glieder: kürzere  Arbeitszeit  (im  Interesse  der  Gesundheit 
der  Familie  und  der  Industrie  selbst),  angemessenen  Lohn, 
grössere  Existenzsicherheit  und  volle  Geltung  im  öffentlichen 
Leben;  gegentheilige  Behauptungen  weisen  sie  als  Verdächti- 
gungen zurück.  Sie  erkennen  aber  die  grossen  Missstände 
des  Kapitalismus  in  seiner  heutigen  Ausgestaltung.  Sie  ver- 
kennen auch  nicht  den  Werth  einer  einheitlichen  Organisation 
für  die  Arbeiter.  Wenn  sie  aber  trotzdem  die  Sozialdemo- 
kratie mit  aller  Entschiedenheit  bekämpfen  und  der- 
selben die  Organisation  der  Evangelischen  Arbeitervereine  gegen- 
überstellen, so  geschieht  dies,  1.  weil  sie  wissen,  dass  die  Sozial- 
demokratie nach  ihren  eigenen,  deutlichen  Erklärungen  keinewegs 
bloss  wirthschaftliche  Ziele  erstrebt,  sondern  eine  Weltan- 
schauung ist  und  sein  will,  und  zwar  eine  christenthumsfeind- 
liche,  sie  aber  das  Christenthum  mit  allen  Kräften  schützen 
wollen;  2 weil  sie  treu  zu  Fürst  und  Vaterland  stehen  im  Ver- 
trauen, dass  dabei  auch  die  Lebensinteressen  des  deutschen 
Arbeiterstandes  am  besten  gewahrt  werden;  3.  weil  sie  die 
nähere  Gestalt  der  wirthschaftlichen  Ziele,  die  nach  Aeusse- 
rungen  der  sozialdemokratischen  Führer  sich  ergibt,  nicht  für 
möglich  und  erspiesslich  halten;  4.  weil  sie  die  von  Klassenhass 
erfüllte  Agitation  der  Sozialdemokratie  nicht  billigen  können, 
vielmehr  glauben,  dass  der  Arbeiterstand  nicht  abgesondert  von 
den  anderen  Ständen,  sondern  nur  in  Fühlung  mit  ihnen  und 
im  Bund  mit  den  ihm  Wohlgesinnten  in  der  Lage  sein  werde, 
wirklich  bessere  Zustände  herbeizuführen.  Die  Nothlage  der 
Landwirthschaft  und  das  Bedürfniss  nach  Staatshilfe  für  die- 
selbe wird  von  den  evangelischen  Arbeitervereinen  vollständig 
anerkannt  uud  jede  Bestrebung  zur  Hebung  dieser  Nothlage 
nach  Kräften  unterstützt.“ 

Organisation  (1er  deutschen  Tabakarbeiter.  Einer  der 
grössten  Hirsch-Dunker’schen  Gewerkvereine  ist  derjenige 
der  deutschen  Cigarren-  und  Tabaksarbeiter  (Sitz  Magde- 
burg). Der  Generalrath  desselben  veröffentlicht  jetzt  den 
Rechenschaftsbericht  für  das  Jahr  1891.  Danach  betrug  die 
Mitgliederzahl  Ende  v.  J.  1198  in  26  Ortsvereinen.  Die  Ge- 
neralrathskasse hatte  ein  Vermögen  von  3598,91  M.,  in  den 
Ortsver einen  befanden  sich  5152,16  M.;  das  Vermögen  der 
Reise-  und  Arbeitslosen-Unterstützungskasse  betrug2368,42  M. 
und  der  Reservefond  2159,08  M.,  so  dass  sich  das  Gesammt- 
vermögen  auf  13  278,57  M.  stellte.  Die  Einnahmen  der  Ge- 
neralrathskasse im  Jahre  1891  (mit  dem  Vortrag  von  1890) 
betrugen  9936,09  M.,  die  Ausgaben  6337,18  M.,  die  Ortsvereine 
vereinnahmten  7463,83  M.  und  verausgabten  6303,60  M.  Die 
Unterstützungskasse  für  reisende  und  arbeitslose  Mitglieder 
leistete  nur  sehr  Bescheidenes;  sie  zahlte  an  4 Mitglieder 
für  60  Tage  Arbeitslosigkeit  60  M.,  an  22  Mitglieder  Reise- 
geld (für  3702  km  ä 2 Pf.)  74,04  M.  Der  Kranken-  und 
Begräbnisskasse  gehörten  Ende  v.  J.  1330  Mitglieder  (888 
männliche,  442  weibliche)  gegen  1232  Ende  1890  an.  Die 
Zahl  der  Erkrankungsfälle  betrug  707  (474  bei  männlichen, 
233  bei  weiblichen  Mitgliedern),  die  Zahl  der  Krank- 
heitstage 10665  (6981  bei  männlichen,  3684  bei  weiblichen 
Mitgliedern).  Das  lässt  auf  sehr  gesundheitsschädliche  Ein- 
flüsse des  Berufs  schliessen.  Die  Einnahmen  betrugen 
24  615,20  M.;  verausgabt  wurden  23  289,35  M.  (darunter  an 
Krankenunterstützung  14  419,87  M. , Begräbnissgeld 
1080  M.).  Das  Gesannut  vermögen  der  Kasse  beträgt 
14  644,60  M.  Die  Hauptkrankenkasse  hatte  eine  Einnahme 
von  7720,13  M.  und  eine  Ausgabe  von  6593,32  M.,  die  Haupt- 
begräbnisskasse  eine  Einnahme  von  3394,81  M.  und  eine 
Ausgabe  von  2513,38  M.;  die  Ausgaben  dieser  Hauptkassen 
bestehen  zum  grössten  Theil  in  Zuschüssen  an  die  Ver- 
waltungsstellen, sowie  in  der  Deckung  der  Verwaltungs- 
kosten. 

Französischer  Schneiderkongress.  Vorige  Woche  tagte 
in  Montpellier,  im  Konferenzsaale  der  dortigen  Arbeitsbörse, 
ein  Kongress  von  Männerschneidern,  der  sich  u.  A.  mit  der 
Schaffung  von  Schneiderwerkstätten  beschäftigte,  die  in  den 
verschiedensten  Städten  zu  errichten  wären,  um  den  sich 
auf  der  Reise  befindenden  Gehilfen  zeitweilig  lohnende  Be- 
schäftigung geben  zu  können.  Der  Kongress  sprach  sich 
dahin  aus,  dass  diese  Werkstätten  seitens  der  Gewerkschaften 
mittelst  Unterstützung  der  Gemeinderäthe  zu  errichten  seien, 
an  welch’  letztere  das  Verlangen  zu  stellen  sei,  die  hiefür 
nothwendigen  Fonds  zu  votiren  und  die  Werkstätten  mit 
Arbeiten  zu  versehen,  die  auf  dem  Submissionswege  ver- 
geben werden,  wie  Kleidungsstücke  für  die  städtischen 
Polizeileute,  Mauthwächter  etc.  Auch  andere  Arbeiten 
könnten  daselbst  unter  Einhaltung  des  in  den  bezüglichen 
Städten  geltenden  Lohntarifs  ausgeführt  werden.  Wo  die 
Gemeinderäthe  nicht  die  nothwendigen  Fonds  beschaffen 


könnten,  sollen  die  Gewerkvereine  sich  auf  andere  Weise 
zu  behelfen  suchen,  um  dieses  Project  zur  Ausführung  zu 
Irringen.  Ein  weiterer,  vom  organisatorischen  Standpunkt 
aus  viel  wichtigerer  Punkt,  den  der  Kongress  behandelte, 
war  der  betreffs  Gründung  eines  Nationalverbandes  aller 
Schneidergewerkschaften  und  sonstiger  aus  Schneidern  und 
Schneiderinnen  bestehenden  Arbeitervereine.  In  dem  vom 
Kongress  angenommenen  Entwurf  wird  als  Ziel  des  Ver- 
bandes aufgestellt;  1.  Der  Ausbeutung  der  Unternehmer 
Widerstand  zu  leisten;  2.  die  Konflikte  zwischen 
Unternehmern  und  Arbeitern  auf  dem  Vergleichs-  und 
schiedsrichterlichen  Wege  zum  Austrag  zu  bringen;  3.  die  < 
Fachgeschicklichkeit  der  Schneider  durch  Preisausschrei- 
ungen  für  Lehrlinge  und  durch  gewerbliche  Unterrichts-  [ 
kurse  zu  heben;  4.  den  reisenden  Gewerkschaftsmitgliedern 
Unterstützung  zu  verabreichen;  5.  die  gegenseitige  Unter- 
stützung in  Krankheitsfällen  und  bei  gezwungener  Arbeits-  | 
losigkeit;  6.  eine  Fachstatistik  in  den  verschiedenen  Städten 
Frankreichs  und  des  Auslands  zu  erheben.  Der  Beitrag  : 
beträgt  einen  Franc  pro  Jahr  und  Mitglied  und  dient  zur  ! 
Bildung  einer  Widerstandskasse,  zur  Bestreitung  der  Bureau-  | 
kosten  des  Bundeskomitees,  sowie  zur  Propaganda.  Ein  ! 
monatlich  erscheinendes  offizielles  Organ  wird  die  Mitglieder  | 
über  alle  Fortschritte  im  Schneidergewerbe  auf  dem  Lau-  j 
fenden  erhalten  und  statistische  Daten  über  Angebot  und 
Nachfrage,  über  die  Arbeitsbedingungen  in  den  verschie-  j 
denen  Städten  des  In-  und  Auslandes,  sowie  über  die  Preise 
der  Wohnungen,  Lebensmittel  etc.  bringen.  Als  Sitz  des  j 
Bundeskomitees,  der  von  jedem  Kongress  neu  zu  bestimmen 
ist,  wurde  Monpellier  bestimmt. 

Ein  Kellnerstrike  ist,  wie  wir  in  No.  1 1 des  Sozialpol.  Central-  j 
blattes  berichteten  in  Hamburg  ausgebrochen  weil  die  Direktion  der  i 
„Grossen  Bier-Hallen“  sich  weigerte,  das  benöthigte  Personal  ' 
wie  bisher  durch  den  Arbeitsnachweis  des  Vereins  der  Kellner 
und  Berufsgenossen  von  Hamburg  vermitteln  zu  lassen,  obgleich 
die  Kellner  zur  vollsten  Zufriedenheit  der  Wirthe  thätig  ge- 
wesen sind.  Trotz  der  für  jede  Arbeitseinstellung  überaus  un-  : 
günstigen  Zeit  endete  der  Strike  mit  einem  Siege  der  Arbeiter. 
Die  von  den  Ausständigen  verlassenen  Stellen  konnten  zwar 
sofort  besetzt  werden,  aber  durch  einen  rasch  verhängten  Boy-  < 
cott  wurden  die  Hamburger  Bierhallen  so  empfindlich  geschä- 
digt, dass  6 Tage  nach  Verhängung  des  Boycotts  der  Direktor 
der  Bierhallen  erklärte,  dass  er  durchaus  keine  Antipathie 
gegen  den  Verein  der  Kellner  und  Berufsgenossen  Hamburgs 
und  Vororte  hege  und  dass  er  mit  dem  kostenfreien 
Stellenvermittlungsamt  des  Kellnervereins  am  Rödingsmarkt 
resp.  mit  dem  von  diesem  Bureau  bezogenen  Bedienungsper- 
sonal ganz  zufrieden  sei.  Die  streikenden  Kellner  (ca  254  in  j 
der  St  Pauli-Bierhalle  und  in  der  Neustädter  Fuhlentwiete  '■ 
konnten  bereits  am  nächsten  Tage  wieder  in  ihre  altenStellungen 
eintreten. 


Unternehmerverbände. 


Das  Kokssyndikat  im  Jahre  1890/91.  Dem  eben  er-  . 
schienenen  Bericht  der  Aktiengesellschaft  Westfälisches  | 
Kokssyndikat  zu  Bochum  entnehmen  wir  folgendes:  Die  von  i 
allen  Betheiligten  lange  gehegte  Absicht,  den  Verkauf  von  | 
Koks  in  eine  Hand  zu  legen,  gelangte  durch  die  Beschlüsse 
der  General -Versammlungen  vom  22.  September  und  16.  Ok- 
tober 1890  zur  Ausführung,  indem  durch  diese  Beschlüsse  die 
Uebertragung  des  Alleinverkaufs  an  die  Aktiengesellschaft  j 
Westfälisches  Kokssyndikat  erfolgte. 

Die  Aufstellung  der  Jahresgesammtstatistik  über  unsere 
Koksindustrie  ergiebt,  dass  die  Kokserzeugung  auf  den 
Zechen  und  Privatkoksanstalten  des  Oberbergamtsbezirks 
Dortmund  im  Jahre  1891  betragen  hat: 

a)  bei  den  Syndikatsmitgliedern  ....  3 937  773  t 

b)  bei  den  ausserhalb  stehenden  Zechen  . 62  160  „ 

c)  auf  den  Zechen  im  Hüttenbesitz  . , 388  077  „ 

zusammen  4 388  010  t 

im  Werth  von  rund  57,5  Millionen  Mark. 

Demnach  sind  98,42°  0 aller  selbständigen  Kokszechen 
und  88,58%  der  gesammten  Kokszechen  schon  kartellirt. 
Die  Wirkung  des  Kartells  auf  die  Steigerung  der  Produk- 
tion ergiebt  sich  aus  folgender  Mittheilung:  Die  Zunahme 

der  Kokserzeugung  in  den  seit  Beginn  der  Koksvereinigung 
verflossenen  Jahren  ist  recht  erheblich  und  beträgt  gegen 
1885  im  Ganzen  55%. 


No.  13. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


171 


Die  Spiegelglasfabrikanteil  Böhmens  und  Bayerns  hatten 
sich  am  21.  März  in  Regensburg;  zu  einer  Versammlung  einge- 
funden und  in  einer  mehrstündigen  Sitzung  beschlossen:  „im 
Hinblick  auf  die  immer  mehr  und  mehr  drohende  Konkurrenz 
durch  die  in  Amerika  eingeführte  Krystallglasfäbrikation  ihr 
Produkt  von  45  auf  55%  herabzusetzen.  Mit  dieser  Reduktion 
sei  angesichts  der  hohen  Arbeitslöhne,  die  schon  seit  mehr  als 
20  Jahren  Geltung  haben,  sowie  der  in  letzterer  Zeit  in  die  Höhe 
gegangenen  Preise  der  Rohmaterialien,  wie  Glaubersalz  und 
So*da,  und  der  erhöhten  Preise  der  Kohlen  der  Nutzen  dieser 
Fabrikation  so  viel  wie  auf  Null  herabgesunken,  und  sei  der 
qu  Beschluss  nur  gefasst  worden,  um  der  drohenden  Gefahr 
des  Verdrängens  der  ganzen  Spiegelglasfabrikation  in  Bayern  und 
Böhmen  durch  Amerika  vorzubeugen.“  An  der  Versammlung, 
die  eine  der  zahlreichsten  der  bisher  stattgehabten  war,  waren 
sämmtliche  Besitzer  der  44  Spiegelglasöfen  vertreten. 

Dieser  Versammlung  war  eine  Einigung  der  bayerischen 
Spiegelglasfabrikanten  vorangegangen,  welche  konstatirten,  dass 
trotz  der  Durchführung  der  Beschlüsse  vom  Dezember  vorigen 
Jahres,  wonach  sämmtliche  Spiegelglasöfen  14  Tage  und  sämmt- 
liche Schleif-  und  Polirwerke  6 Wochen  feiern  sollten,  die  Lage 
des  Spiegelglasmarktes  sich  nicht  gebessert  hatte;  es  wurde 
deshalb  beschlossen,  eine  weitere  Produktionseinstellung  auf  die 
Dauer  von  2 Monaten  anzuordnen.  Alle  Spiegelglasöfen  sollen 
kaltgestellt  und  die  Schleif-  und  Polirwerke  bis  31.  März  d.  Js. 
ausser  Betrieb  gesetzt  werden.  Um  die  Arbeiter,  für  die  wäh- 
rend der  erstmaligen  Feierzeit  bereits  die  Summe  von  70  000  M. 
ausgeworfen  worden  ist,  auch  für  die  Dauer  der  jetzigen  Betriebs- 
einstellung existenzfähig  zu  erhalten,  wird  von  den  Fabrikanten 
die  Summe  von  130  000  M.  aufgewendet,  so  dass  also  im  Ganzen 
200  000  M.  Feiergelder  zur  Auszahlung  gelangen. 


Handwerkerfragen. 


Die  Genossenschaften  in  Oesterreich.  Durch  das  Ge- 
setz vom  15.  März  1883  wurden  in  Oesterreich  (Cisleithanien) 
für  das  Handwerk  Zwangsinnungen  eingeführt.  Als  das 
neue  Gesetz  in  Kraft  trat,  bestanden  2870  freie  Gewerbe- 
genossenschaften, meist  Ueberbleibsel  alter  Innungen.  Durch 
die  Einführung  des  Zwanges,  sich  in  Genossenschaften  zu 
organisiren,  stieg  die  Zahl  der  Gewerbegenossenschaften  bis 
Ende  1891  auf  5113,  von  diesen  sind  blos  722  Gewerbe- 
genossenschaften für  einzelne  Gewerbe  (14,4"/  ),  2252  Ge- 
nossenschaften für  Gruppen  verwandter  Gewerbe  (44,1  %) 
und  2139  Kollektivgenossenschaften  (41,8%)  d h.  Innungen, 
welche  die  Handwerker  aller  Gewerbe  an  einem  Orte  oder 
Bezirke  umfassen. 

Obgleich  geraume  Zeit  seit  der  Einführung  der  Zwangs- 
genossenschaft in  Oesterreich  verstrichen  ist,  scheinen  die 
Meister  blos  für  die  Wahrung  ihrer  Rechte  in  denselben 
bedacht  gewesen  zu  sein,  da  die  im  Gesetze  vorgeschriebe- 
nen Institutionen  im  Interesse  der  Arbeiter  bei  sehr  vielen 
Genossenschaften  noch  immer  nicht  ins  Leben  gerufen  sind. 
Nur  2857  Genossenschaften  (55,9  %)  besitzen  Gehilfenver- 
sammlungen, blos  2657  (52  %)  genossenschaftliche  Schieds- 
gerichte, nicht  mehr  als  808  (15,8  %)  halten  genossenschaft- 
liche Krankenkassen  und  nur  195  (3,8  %)  Lehrlings- 

krankenkassen.  Ganz  vereinzelte  Genossenschaften,  so 
die  der  Trödler  haben  überhaupt  keine  Gehilfen.  Die 
geringe  Zahl  der  genossenschaftlichen  und  Lehrlings- 
krankenkassen erklärt  sich  aus  der  geringen  Leistungs- 
fähigkeit und  den  grossen  Verwaltungsauslagen  der- 
selben , welche  die  Genossenschaften  veranlassten  die 
Versicherung  ihrer  Arbeiter  anderen  Kassen,  so  insbe- 
sondere den  Bezirkskassen  zu  überlassen.  Ein  grosser 
Theil  der  genossenschaftlichen  Krankenkassen  steht  voll- 
ständig unter  der  Verwaltung  der  Gehilfenschaft,  so  dass 
den  Meistern  an  ihrer  Erhaltung  nichts  liegt.  Die  Gehilfen- 
versammlungen der  Genossenschaften  haben  sich  zum  'I  heil 
in  Organisationen  der  Arbeiter  umgewandelt  und  ersetzen 
diesen  vielfach  die  Gewerkschaften,  deren  Thätigkeit  in 
Oesterreich  noch  mehr  als  im  deutschen  Reiche  durch  die 
Verwaltungspraxis  der  Behörden  und  durch  ein  sehr  eng- 
herziges Vereinsgesetz  unterbunden  ist.  Die  österreichi- 
schen Gewerbegenossenschaften,  über  deren  innere  1 hätig- 
keit  leider  in  der  unlängst  vom  österreichischen  Handels- 
ministerium publizirten  „Darstellung  des  Standes  des  ge- 
| werblichen  Genossenschaftswesens“  nichts  mitgetheilt  wird, 
haben  eine  Organisation  des  Handwerkes,  aber  nicht  die 
von  derselben  für  das  Handwerk  erhoffte  Wirkung  zur 


Folge  gehabt.  Sie  haben  von  den  Rechten  des  gemein- 
samen Betriebes  keinerlei  Gebrauch  gemacht,  sondern  nur 
eine  Reihe  weiterer  durchaus  unerfüllbarer  Wünsche  zum 
ausschliesslichen  Heile  des  Handwerkes  gezeitigt.  Die  mit 
Einführung  der  Gehilfenversammlungen  beabsichtigte  Tren- 
nung der  Arbeiter  des  Kleingewerbes  und  der  Fabriken 
wurde  nicht  erreicht,  ebensowenig  gelang  es,  die  Arbeiter 
in  grössere  Abhängigkeit  von  den  Meistern  zu  bringen. 
Das  Gegentheil  war  der  Fall,  die  Arbeiter  machten  sich  die 
zwangsweise  Organisation  mehr  zu  Nutze  als  die  Meister, 
die  Gehilfenversammlungen  der  österreichischen  Zwangsge- 
nossenschaften bilden  heute  vielfach  die  kräftigsten  Organi- 
sationen der  Sozialdemokratie. 

Innungsbewegung  in  Westfalen.  Während  mehrere 
Eingaben  westfälischer  Innungen  bekannt  werden,  welche 
die  Behörde  ersuchen,  ihnen  das  Lehrlingsprivilegium  aus 
§ lOOe  der  Gewerbeordnung  wieder  abzunehmen,  fand  in 
Lethmathe  am  20.  d.  Mts.  ein  XII.  Westfälischer  Hand- 
werkertag statt,  der  hauptsächlich  zwei  Beschlüsse  fasste. 
Im  ersten  erklärte  sich  die  Versammlung  mit  den  auf  dem 
letzten  berliner  Innungstag  gefassten  Beschlüssen  einver- 
standen und  erachtet  insbesondere  nach  wie  vor  die  obli- 
gatorische Innung  und  den  Befähigungsnachweis  als  das 
Wünschens wertheste  und  allein  Richtige.  Die  zweite  Re- 
solution richtete  sich  gegen  das  Genossenschaftswesen  und 
wies,  unter  Anerkennung  der  guten  Absicht  dem  Handwerk 
zu  helfen,  doch  die  Genossenschaften  von  der  Hand,  „weil 
diese  den  Einzelerwerb  gefährden,  der  Sozialdemokratie  in 
die  Hände  arbeiten,  endlich  aber  eine  wirkliche  Hilfe  für 
das  Handwerk  nur  in  der  Realisirung  der  bekannten  Hand- 
werkerforderungen zu  finden  sei.“  Nebenbei  wurde  die 
Eröffnung  der  Reichsbank  für  die  Handwerker  keineswegs 
als  erfreulich  bezeichnet,  weil  sich  derselbe  besser  nicht  auf 
Wechselverkehr  einlasse. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Anweisung  zur  Ausführung  der  Gewerbeordnung 
in  Preussen.  Der  preussische  Handelsminister  hat  unter 
dem  26.  Februar  für  diesen  Bundesstaat  an  alle  Ortspolizei- 
behörden eine  Anweisung  zur  Ausführung  derjenigen  Be- 
stimmungen der  neuen  Gewerbeordnung  erlassen  welche 
am  1 . April  in  Kraft  treten.  Dieselbe  bezieht  sich  auf 
Arbeitsbücher  und  Zeugnisse,  Lohnzahlungen,  Anzeigen 
und  Aufsicht  über  die  Beschäftigung  jugendlicher  und 
weiblicher  Arbeiter,  statutarische  Bestimmungen  und  Ar- 
beitsordnungen. Nur  hinsichtlich  des  letztgenannten 
Punktes  sind  bisher  Einzelheiten  aus  der  ministeriellen  An- 
weisung durch  den  „Reichsanzeiger“  bekannt  gegeben 
worden.  Diese  Einzelheiten  bringen  theilweise  recht  inter- 
essante Erläuterungen  und  Erweiterungen  der  gesetzlichen 
Bestimmungen.  Arbeitsordnungen  brauchen  bekanntlich 
nur  von  Fabriken  erlassen  zu  werden,  welche  in  der  Regel 
mindestens  20  Arbeiter  beschäftigen.  Bei  der  Feststellung 
dieser  Zahl  sollen  Betriebsbeamte,  Werkmeister  und  Tech- 
niker, sowie  nur  vorübergehend  angenommene  Arbeiter 
ausser  Ansatz  bleiben.  Die  untere  Verwaltungsbehörde 
soll  je  eine  Ausfertigung  des  von  den  Unternehmern  bei 
ihr  eingereichten  Arbeitsordnung  alsbald  dem  zuständigen 
Gewerbeinspektor  einreichen.  Die  behördliche^  Prüfung 
soll  so  rasch  „wie  es  ohne  Beeinträchtigung  der  Gründlich- 
keit möglich  ist“,  zunächst  bei  solchen  Arbeitsordnungen 
vorgenommen  werden,  zu  welchen  die  Arbeiter  des  Unter- 
nehmers Beschwerden  eingereicht  haben.  Neu  ist  die  Be- 
stimmung der  Anweisung,  dass  die  Arbeiter  auch  „späteP  , 
d.  h.  wohl  nach  der  Einreichung  und  vor  der  Rückgabe 
an  den  Unternehmer,  noch  Beschwerden  bei  der  Behörde 
anbringen  können.  Dass  ist  nur  zu  begrüssen.  Sehr  an- 
gebracht ist  ferner  folgende  Erläuterung  des  Gesetzes:  „Da 
die  Prüfung  nicht  aiL  eine  bestimmte  Frist  gebunden  ist, 
und  die  untere  Verwaltungsbehörde  zu  jeder  Zeit,  wenn 
sie  einen  Mangel  in  der  Arbeitsordnung  entdeckt,  die 
Beseitigung  desselben  anordnen  kann,  so  empfiehlt  es 
sich,  namentlich  in  der  ersten  Zeit,  mit  \ orsicht  vorzu- 
gehen und,  soweit  nicht  Beschwerden  von  Arbeitern  vor- 
liegen, zunächst  nur  wegen  zweifelloser  Lücken  und  Ge- 


172 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  13. 


setz y/idrigkeiten  die  Ersetzung  oder  Abänderung  anzu-  1 
ordnen.  In  dieser  Anordnung  kann  — namentlich,  wenn 
die  Arbeitsordnung  noch  andere  zweifelhafte  Bestim- 
mungen enthält  — ausdrücklich  daraut  hingewiesen  werden, 
dass  ~ die  Anordnung  weiterer  Abänderungen  Vorbehalten 
bleibe.“  Danach  kann  später  noch  Manches  korrigirt 
werden,  was  in  der  Eile  der  ersten  Arbeit  übersehen  oder 
von  den  Arbeitern  noch  nicht  als  nachtheilig  erkannt 
wurde.  Arbeiterfreundlich  und  zweckentsprechend  er- 
scheint endlich  die  Vorschrift  der  Anweisung,  dass  die  Pa- 
ragraphen der  Arbeitsordnung,  welche  über  die  Verwen-  ; 
düng  der  Strafgelder  zum  Besten  der  Arbeiter  Auskunft 
geben,  diese  Wendung  des  Gesetzes  nicht  einfach  wieder- 
holen dürfen,  sondern  genau  die  Art  und  Weise  der  Ver- 
wendung angeben  sollen,  und  dass  dies  auch  für  die  Lohn- 
einbehaltung gilt,  welche  aus  einem  Kontraktbruch  fällig 
werden  kann;  das  Letztere  geht  aus  dem  Wortlaut  der 
Gewerbeordnung  nicht  klar  hervor.  Von  dem  Erlass 
ähnlicher  Anweisungen  in  anderen  Bundeststaaten  ver- 
lautet, obgleich  doch  der  1.  April  vor  der  Thüre  steht, 
noch  nichts. 


Arbeiterversicherung. 


Die  Abänderung  des  deutschen  Krankenversicherungs- 
gesetzes. 

ln  der  Reichstagssitzung  vom  19.  März  d.  Js.  spielte 
sich  der  Schlussakt  der  Revision  des  deutschen  Kranken- 
versicherungsgesetzes ab;  die  aus  drei  Lesungen  verändert 
hervorgegangene  Fassung  des  Gesetzes  wurde  in  der  Ge- 
sammtabstimmung  mit  Mehrheitsbeschluss  vom  Reichstage 
gegen  die  Stimmen  der  Sozialdemokratie,  Volkspartei  und 
Freisinnigen  angenommen.  Das  alte  Gesetz  trägt  das  Datum 
des  15.  Juni  1883  und  bedeutete  den  Anfang  der  deutschen 
Versicherungsgesetzgebung.  Seine  Grundzüge,  die  Organi- 
sation der  Krankenversicherung  in  lokalen  Verwaltungs- 
stellen (in  der  Hauptsache  Ortskrankenkassen),  die  Heran- 
ziehung der  Unternehmer  zu  den  Versicherungslasten  (Be- 
zahlung eines  Drittels  der  Beiträge  durch  dieselben),  die 
Mitverwaltung  der  Arbeiter  und  die  geschichtlich  und  poli- 
tisch gebotene  Rücksichtnahme  auf  die  freien  Kassen  der 
Arbeiter,  die  Vorbilder  der  staatlich  organisirten  (sogenannten 
Zwangs-)  Kassen,  machten  das  alte  Gesetz  vom  15.  Juni  1883 
zu  demjenigen  Bestandtheile  der  neuen  deutschen  .Sozial- 
gesetzgebung, welcher  bei  den  Arbeitern  immer  noch  am 
wenigsten  Antipathie  erweckte  und  als  eine  Basis  betrachtet 
wurde,  auf  welcher  man  eventuell  weitere  staatliche  Ver- 
sicherungen leicht  gründen  könne.  Der  letzteren  Erwartung 
wurde  freilich  weder  beim  Unfallversicherungsgesetz,  noch 
beim  Alters-  und  Invaliditätsgesetze  entsprochen,  indem  man 
für  jede  dieser  neuen  Versicherungsarten  einen  neuen  kom- 
plizirten  Apparat  schuf,  und  die  Freunde  einer  möglichst 
einheitlichen  und  übersichtlichen  Organisation  der  gesamm- 
ten  Versicherung  müssen  jetzt  schon  mit  einer  sehr  um- 
ständlichen Revision  der  beiden  neuen  Versicherungen 
rechnen,  wenn  ihr  Wunsch  in  Erfüllung  gehen  soll.  In- 
zwischen brachten  aber  die  verbündeten  Regierungen  unter 
dem  22.  November  1890  auch  noch  eine  Abänderungsvorlage 
zum  alten  Krankenversicherungsgesetze  beim  Reichstage 
ein,  welche  den  früheren  Bestimmungen  manche  oben 
sympathisch  erwähnte  Vorzüge  nahm  und  ihnen  dafür  un- 
willkommene Zusätze  gab.  Die  Berathung  dieser  Novelle 
ist  es,  welche  bis  vor  wenigen  Tagen  dauerte,  also  ungefähr 
anderthalb  Jahre  in  Anpruch  nahm.  In  der  Hauptsache 
sollte  das  Abänderungsgesetz  die  Handhaben  zur  allmäligen 
Verdrängung  der  freien  Arbeiterkassen  durch  die  staatlich 
organisirten  gesetzlich  sicherstellen,  Handhaben,  die  man 
bis  dahin  nur  in  Verwaltungsmassregeln  fand.  Die  freien 
Arbeiterkassen  wehrten  sich  gegen  dieses  Bestreben,  so  gut 
sie  konnten;  in  den  Anfangstagen  des  Monats  Dezember 
1890  fand  in  Berlin  ein  eigener  Kongress  der  freien  cen- 
tralisirten  Hilfskassen  statt,  der  gegen  jene  Tendenz  der 
Novelle  Stellung  nahm;  dem  Reichstage  gingen  zahlreiche 
Petitionen  der  Hirsch-Duncker’schen  und  anderer  freien 
Kassen,  z.  B.  der  kaufmännischen,  zu,  welche  um  Ablehnung 
des  Regierungsentwurfes  baten.  Diese  Schritte  haben  den 
gewünschten  Erfolg  nur  in  untergeordneten  Punkten  gehabt. 


Das  Krankenversicherungsgesetz  in  seiner  neuen,  nunmehr 
gütigen  Fassung  ist  im  Wesentlichen  gegen  die  Wünsche 
der  Hauptbetheiligten,  der  versicherten  Arbeiter  und  Ge- 
hilfen, zu  Stande  gekommen. 

Der  springende  Punkt  ist  und  bleibt  dabei  das  Ver- 
hältniss  der  aus  freier  Arbeiterinitiative  hervorgegangenen 
Hilfskassen  zu  den  staatlich  organisirten  Orts-  oder  Ge- 
meindekrankenkassen. Das  alte  Gesetz  war  auf  der  Grund- 
lage des  blossen  Versicherungszwanges  aufgebaut,  d.  h.  es 
schrieb  den  Arbeitern  und  verwandten  Gehilfenkategorien 
die  Krankenversicherung  zwangsweise  vor,  überliess  es 
aller  den  Versicherungspflichtigen  durchaus,  sich  die  ihnen 
passende  Kassenart  selbst  auszusuchen.  Die  freien  Hilfs- 
kassen bestanden  danach  ohne  andere  behördliche  Reglemen- 
tirung,  als  die  übliche  Oberaufsicht,  mit  ihren  besonderen 
Einrichtungen  (volle  Selbstverwaltung,  Centralisation,  Ge- 
währung der  Unterstützung  in  Geld,  freie  Aerztewahl) 
gleichberechtigt  neben  den  staatlich  organisirten  Kassen, 
die  mit  Behörden  und  Unternehmern,  mit  lokaler  Organi- 
sation und  bestimmt  vorgeschriebenen  Aerzten  arbeiteten, 
und  jeder  Versicherungspflichtige  konnte  zwischen  beiden  i 
Kassenarten  frei  wählen;  er  genügte  dem  Gesetze  vollstän-  ; 
dig,  wenn  er  seinem  Arbeitgeber  nachwies,  dass  er  in  einer  ' 
freien  Kasse  versichert  sei.  Schon  unter  der  Geltung  dieser  | 
Bestimmungen  erreichten  es  nun  die  Verwaltungen  der  | 
staatlich  organisirten  Kassen  durch  ihr  behördliches  Ueber- 
gewicht  und  durch  vexatorische  Massnahmen  gegen  die 
freien  Kassen,  dass  die  Entwicklung  der  letzteren  nicht 
mehr  in  dem  Maasse  Fortschritte  machte,  wie  früher.  Es  | 
genüge  hier,  zwei  Zahlen  anzuführen:  bei  den  Ortskranken- 
kassen  wuchs  die  Mitgliederzahl  von  1885  auf  1890  von  1,5 
auf  2,7  Millionen,  bei  den  Eingeschriebenen  Hilfskassen 
dagegen  nur  von  730  722  auf  810  455  Personen.  Die  neue  ) 
Fassung  des  Krankenversicherungsgesetzes  legt  die  Regle- 
mentirung  der  freien  Kassen  gesetzlich  fest,  geht  somit  vom 
liberalen  Prinzip  des  blossen  Versicherungszwanges  ab,  | 
greift  direkt  in  die  Verwaltung  der  freien  Kassen  durch  die  j 
Vorschrift  ein,  dass  auch  diese  künftig  statt  blosser  Geld- 
unterstützung  Arzt  und  Arznei  in  natura  liefern  müssen, 
und  nähert  sich  dadurch  beinahe  vollständig  dem  Zwangs- : 
kassensy stem,  das  den  Versicherten  nicht  bloss  die  Ver- 
sicherung, sondern  auch  die  Versicherungsart  vorschreibt. 
Nachdem  man  so  die  Krankenversicherung  schablonisirt 
hat,  ist  es  nur  noch  eine  Frage  der  Zeit,  dass  dieselbe  von 
staatlich  organisirten  Kassen  allein  besorgt  wird  und  die  j 
freien  Hilfskassen  auf  hören,  gleichberechtigte  zu  sein,  viel- 
mehr sich  mit  der  Rolle  von  Zuschusskassen  begnügen  für  | 
solche  Versicherungspflichtige,  die  zwar  staatlich  organisirten, 
Kassen  angehören,  aber  sich  eine  Mehrversicherung  noch 
ausserdem  leisten  wollen.  In  den  Motiven  der  Novelle  vom 
22.  November  1890  ist  als  Grund  für  diese  völlige  Verän- 
derung des  ursprünglichen  gesetzlichen  Standpunktes  ange- 
geben) dass  die  von  den  freien  Kassen  geleistete  Geldunter- 
stützung , .keinen  ausreichenden  Ersatz“  für  die  Kosten  der 
ärztlichen  Behandlung  und  der  Arznei  bilde,  vielmehr  in 
dieser  Geldunterstützung  der  Anreiz  für  die  Arbeiter  liege, 
„sich  unter  Verzicht  auf  die  freie  ärztliche  Behandlung  und 
Arznei  eine  höhere  Geldunterstützung“  zu  sichern,  wodurch 
der  Hauptzweck  der  ganzen  Krankenversicherung  vereitelt 
werde.  Die  Unrichtigkeit  dieser  Behauptung  ist  im  Laufe 
der  P/ajährigen  Diskussion  über  die  Novelle  so  schlagend 
nachgewiesen  worden,  dass  dieselbe  von  gewissenhafter  Seite 
nicht  wiederholt  werden  kann.  Aus  einer,  allerdings  immer 
merkwürdig  versteckt  geführten  Rubrik  der  amtlichen  Kran- 
kenversicherungsstatistik geht  hervor,  dass  die  Eingeschrie- 
benen Hilfskassen  auf  einen  Krankheistag  ihrer  Versicherten 
fast  genau  die  gleiche  Gesammtleistungaufzu  weisen  haben,  wie 
die  bestzahlenden  staatlich  organisirten  Ortskrankenkassen, 
trotzdem  sie  keine  Unternehmerzuschüsse  erhalten;  und 
dabei  arbeiten  die  freien  Kassen  mit  wesentlich  geringeren 
Verwaltungskosten,  obgleich  sie  auch  hier  keine  Sub- 
ventionen gemessen.  Nunmehr  hätte  mit  Individualfällen 
eine  zweckwidrige  Verwendung  der  Geldunterstützung 
durch  freie  Hilfskassenmitglieder  nachgewiesen  werden 
müssen.  Dieser  Nachweis  wurde  jedoch  regierungsseitig 
niemals  versucht.  Es  gelang  trotzdem,  die  Vorschrift  der 
freien  Arzt-  und  Arzneilieferung  auch  für  die  freien  Kassen 
beim  Reichstag  durchzusetzen.  Damit  ist  diesen  Kassen 
eine  völlige  Reorganisation,  bei  welcher  sie  die  freie  Aerzte- 
wahl beschränken  müssen,  vorgeschrieben,  und  die  grossen 
centralisirten  Kassen  können  ihre  Centralisation  schwerlich 
aufrecht  erhalten,  weil  sie  kaum  an  den  zahlreichen  Wohn-i 
plätzen  ihrer  kleinen  Mitgliedergruppen  lauter  vorteilhafte 


No.  13. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


173 


Verträge  mit  Aerzten  und  Apothekern  zu  schliessen  ver- 
mögen. Sie  werden  also  ihren  Mitgliedern  vielfach  selbst 
rathen,  lieber  in  die  staatlich  organisirten  Kassen  zu  treten 
und  dort  als  Sauerteig  in  der  büreaukratisch  steifen  und 
manchmal  wenig  arbeiterfreundlichen  Organisation  zu 
wirken.  Dieser  Uebertritt  en  masse  sollte  nach  einer 
anderen  Bestimmung  der  Regierungsnovelle  befördert 
werden  durch  ein  geschickt  ausgedachtes  Meldesystem, 
welches  die  Arbeiter  bei  Versäumung  gewisser  Fristen  zu 
den  staatlich  organisirten  Kassen  hinübergezogen  hätte. 
Dieses  Meldesystem  ist  in  der  Hauptsache  vom  Reichstag 
beseitigt  worden.  Aber  die  oben  besprochenen  Neuerungen 
der  Novelle  werden  ohnedies  ihre  Wirkung  thun.  Im 
Uebrigen  bringt  die  neue  Fassung  des  Gesetzes  organi- 
satorisch wenig  Fortschritte.  Der  einzige,  der  besondere 
Erwähnung  verdient,  ist  eigentlich  die  Bestimmung  nach 
welcher  die  vielgetadelte  dreitägige  Karenzzeit  zu  Anfang 
der  Krankheit  durch  Kassenstatut  beseitigt  werden  kann, 
wenn  der  Reservefonds  eine  bestimmte  Höhe  erreicht  hat. 
Gewisse  moralisirende  Bestimmungen  der  Novelle,  welche 
unehelichen  Wöchnerinnen  und  kontraktbrüchigen  Arbeitern 
die  Unterstützung  entziehen  wollten,  sind  glücklich  be- 
seitigt, nicht  aber  die  die  Gesundheitspflege  direkt 
schädigende  Vorschrift,  dass  jene  Entziehung  für  Ge- 
schlechtskrankheiten eintritt.  Daran,  die  von  den  Arbeitern 
seit  Jahren  dringend  verlangte  Centralstelle  für  die  Kranken- 
versicherung zu  schaffen,  damit  die  Entscheidungen  über 
zweifelhafte  Fälle  einheitlich  für  das  ganze  Reich  getroffen 
werden  und  nicht  in  jedem  Bundesstaat  verschieden  aus- 
fallen,  sowie  damit  ein  Organ  zur  Sammlung  und  Sichtung- 
aller  organisatorischen  Erfahrungen  vorhanden  sei,  hat  gar 
Niemand  während  der  Berathung  gedacht. 

Der  Kreis  der  versicherungspflichtigen  Personen  ist 
unter  schlecht  motivirter  Ablehnung  der  Dienstbotenver- 
sicherung (vergl.  Sozialpolitisches  Centralblatt  1891,  No.  7, 
S.  94)  im  Wesentlichen  nur  durch  Aufnahme  einer  be- 
stimmten Kategorie  von  Handlungsgehilfen  erweitert 
worden.  Die  Handlungsgehilfen  waren  nach  dem  alten 
Gesetz  nicht  allgemein  versicherungspflichtig,  sondern 
konnten  nur  für  den  Bezirk  einer  einzelnen  Gemeinde 
durch  Ortsstatut  versicherungspflichtig  gemacht  werden. 
Die  Regierungsnovelle  schlug  vor,  den  Versicherungszwang 
durch  Reichsgesetz  für  alle  Handlungsgehilfen  auszu- 
sprechen, und  kam  hier  einmal  wirklich  den  Wünschen 
der  Betheiligten  entgegen,  deren  Organisationen  wegen  der 
vielfach  prekären  Lage  und  der  Indolenz  der  jungen  Kauf- 
leute den  Zwang  begrüssten.  Als  freilich  im  Laufe  der 
Reichstagsdebatten  an  den  Staatssekretär  des  Innern  die 
durchaus  berechtigte  Frage  gerichtet  wurde,  wie  und  wo 
sich  bisher  der  ortsstatutarische  Zwang  bewährt  habe,  tla 
zeigte  sich,  wie  schlecht  die  Regierung  über  die  wichtigsten 
Vorfragen  unterrichtet  war:  der  Regierungsvertreter  konnte 
keine  Auskunft  geben.  Schreiber  dieser  Zeilen  weiss  da- 
gegen aus  einer  von  ihm  mit  freundlicher  Unterst üygpng 
der  Frankfurter  Ortskrankenkasse  unternommenen  Privat- 
enquete, dass  ungefähr  40  deutsche  Städte  den  ortsstatu- 
tanschen  Krankenversicherungszwang  für  Kommis  einge- 
führt haben,  und  dass  Klagen  über  diesen  heilsamen  Ver- 
sicherungszwang nirgends  laut  geworden  sind.  Trotzdem 
wurde  die  Einführung  der  Versicherung, spflicht  für  sämrnt- 
liche  Handlungsgehilfen  durch  eine  wesentlich  freisinniger  \ 
Führung  folgende  Gruppe  von  Reichstagsabgeordneten 
verhindert  und  dieselbe  nur  für  solche  Kommis  ausge- 
sprochen, die  im  Engagementsvertrag  die  sechswöchent- 
liche Salärzahlung  im  Krankheitsfalle  nach  Art.  61  des 
H G.  B.  nicht  seitens  ihrer  Prinzipale  zugesichert  erhalten 
haben.  Die  Urheber  wollten  dadurch  einer  angeblichen 
Doppelversicherung  verbeugen,  für  welche  sie  nicht  den 
geringsten  Beleg  beibringen  konnten;  denn  nach  Ansicht 
der  Gehilfen  nehmen  gerade  die  Engagements  immer  mehr 
überhand,  bei  welchen  jene  sechswöchentliche  Salärzahlung 
nicht  .stattfindet.  Ausserdem  ist  die  neue  Bestimmung- 
praktisch  kaum  brauchbar,  da  man  bezüglich  der  Anzeige 
jener  ungünstigeren  Engagementsverträge  ganz  auf  den 
j guten  Willen  der  Prinzipale  angewfiesen  bleibt!  Die  Motive 
dieser  sehr  bedauerlichen  Verschlechterung  der  Regierungs- 
vorlage wurzeln  offenbar  in  dem  freisinnigen  Bestreben, 
die  Handlungsgehilfen  von  der  Berührung  mit  der  Sozial- 
gesetzgebung, welche  die  Kaufleute  auf  die  öffentliche 
Wahrung  ihrer  Interessen  mehr  und  mehr  hinweist,  mög- 
lichst fernzuhalten.  Die  nächste  Revision  des  Krankenver- 
sicherungsgesetzes wird  zweifellos  die  monströse  Bestim- 
i mung  bezüglich  der  Handlungsgehilfen  durch  den  allge- 


meinen Versicherungszwang  für  diese  Gehilfenkategorie  er- 
setzen. 

So  bedeutet  die  Neuordnung  des  Krankenkassen  wesens 
in  Deutschland  durch  die  neueste  Abänderung  des  Gesetzes 
vom  15.  Juni  1883  in  den  meisten  Beziehungen  nur  e in 
Uebergangsstadium  zu  Konsequenzen,  über  welche  sich  die 
heutigen  Bearbeiter  des  Stoffes  vielfach  noch  nicht  klar 
gewesen  sind,  die  aber  sehr  bald  mit  voller  Deutlichkeit 
heraustreten  werden. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Ouarck. 


Kriminalität. 

Psychologische  Glossen  zur  Strafgesetznovelle. 

Das  Problem  aller  Strafgesetzgebung  ist  ein  psycho- 
logisches. Jede  äussere  Festsetzung  des  Gesetzgebers  und 
des  Richters  geht  ebenso  an  der  Gerechtigkeit  wie  an  der 
Zweckmässigkeit  vorbei,  wenn  sie  nicht  als  blosses  Mittel 
zur  Erregung  gewisser  psychischer  Zustände  betrachtet 
wird.  So  sehr  ihr  letzter  Zweck  ein  ausschliesslich  sozialer 
sein  mag:  sie  kann  ihn  nur  durch  das  Medium  individueller 
Seelen  Verfassungen  hindurch  erreichen.  Verfehlt  sie  diese, 
so  ist  jener  von  vornherein  verfehlt. 

Man  kann  dem  deutschen  Strafgesetzbuch  nicht  nach- 
sagen, dass  es  besonders  grosse  Klarheit  über  die  psycho- 
logische Bedeutung  der  Strafe  verriethe.  Unsere  krimina- 
listische Rechtsprechung  — freilich  nicht  nur  die  deutsche 
— krankt  daran,  dass  Vergehen  und  Strafe  nach  einem  sehr 
äusserlichen  Schematismus  gegeneinander  abgemessen  wer- 
den, ohne  dass  auf  die  seelische  Verfassung  näher  einge- 
treten wird,  auf  der  doch  allein  die  Richtigkeit  und  Zweck- 
mässigkeit des  Verhältnisses  zwischen  beiden  beruht.  Die 
Bestimmung  über  Strafverschärfung  in  der  Novelle  zum 
Strafgesetzbuch  § 16a  scheint  den  psychologischen  Mängeln 
unserer  Kriminalistik  einen  neuen  hinzuzufügen.  Es  wird 
daselbst  bestimmt: 

„Bei  der  Verurtheilung  zu  Zuchthaus-  oder  Gefängniss- 
strafe  kann,  wenn  die  That  von  besonderer  Roheit  oder 
Sittenlosigkeit  des  Thäters  zeugt,  auf  Verschärfung  der 
Strafe  bis  auf  die  Dauer  der  ersten  sechs  Wochen  er- 
kannt werden.  Die  Verschärfung  der  Strafe  besteht  darin, 
dass  der  Verurtheilte  eine  harte  Lagerstätte  und  als  Nahrung 
W'asser  und  Brod  erhält.“ 

Die  Verschärfung  der  Strafe  ist  an  sich  wohl  motivirt. 
Der  Aufenthalt  in  unseren  Gefängnissen  erregt  vielen  ihrer 

o c~> 

Insassen  angesichts  ihrer  sonstigen  Lebenshaltung  keines- 
wegs die  Empfindungen,  ohne  welche  die  Strafe  nun  einmal 
nicht  Strafe  ist;  wir  Menschen  empfinden  eben  nur  den 
Unterschiedeines  neuen  Eindrucks  gegen  unser  sonstiges 
Empfindungsniveau.  Die  Zukunft  hat  zwar  darauf  hin  noch 
einen  andern  Weg  vor  sich:  dem  Proletarier  eine  erhöhte 
Lebenshaltung  und  dadurch  eine  feinere  Empfindlichkeit 
zu  verschaffen,  durch  die  auch  schon  auf  die  milderen 
Strafen  hin  tiefgreifende  Gefühlsfolgen  eintreten;  man  kann 
die  Bestrafung  verschärfen  entweder  indem  man  die  Strafe 
erhöht  oder  indem  man  die  Seelen  empfindlicher  macht. 
Die  letztere  Lösung  der  Straffrage  von  den  langsamen 
Wirkungen  sozialer  Entwickelung  erwartend,  hat  man  zu- 
nächst nur  die  erstere  zur  Verfügung.  Was  aber  wird  die 
Folge  sein,  wenn  bei  einer  Gefängnissstrafe  von  mehreren 
Monaten  die  ersten  Wochen  in  solchem  wirklich  pein- 
vollem Zustand  zugebracht  werden?  Nur  die,  dass  die 
übrige  Zeit  als  eine  Erquickung,  jedenfalls  sehr  viel  leichter 
empfunden  wird,  als  wenn  die  gesammte  Strafzeit  auf 
dem  schliesslichen  Niveau  verflösse.  Denn  gerade  weil  wir 
nur  für  Unterschiede  der  Empfindungen  empfänglich  sind, 
weil  wir  den  Hintergrund  nur  dunkler  zu  machen  brauch®, 
um  den  Vordergrund  um  so  heller  erscheinen  zu  lassen, 
darum  dient  der  schlimme  Anfang  dazu,  dass  das  Uebrige 
um  so  weniger  schmerzlich  empfunden  werde.  Der  schliess- 
liche  Eiirdruck  aber  ist  der  Gesammteindruck,  insbesondere 
für  Menschen  niedriger  Bildung,  mit  ihren  kurzen  Vor- 


174 


SOZIALPOLITISCHES  CENTKALRLATT. 


No.  13. 


stellungs-  und  Gefühlsreihen  und  ihrer  Bestimmbarkeit 
durch  die  Verfassung  des  Augenblicks;  je  ungebildeter  der 
Mensch  ist,  desto  mehr  gilt  für  ihn:  Ende  gut,  Alles  gut. 
Die  Stimmung,  in  der  der  Delinquent  das  Gefängniss  ver- 
lässt, ist  die  Grundlage  seines  demnächstigen  Verhaltens, 
und  sie  wird  eine  um  so  weniger  zerknirschte  sein,  um  so 
weniger  eine  Abschreckung  in  sich  tragen,  je  mehr  man 
ihm  den  letzten  1 heil  der  Strafe  dadurch  erleichtert  hat, 
dass  man  den  ersten  erschwerte.  Die  Motive  der  Novelle 
sagen  zwar  mit  Recht:  „Eine  schlaffe  und  unzweckmässig  voll- 
zogene dreimonatige  Gefängnisstrafe  ist  im  thatsächlichen 
Ergebnis«  für  den  Verurtheilten  eine  mildere,  als  eine  ener- 
gisch und  empfindlich  vollstreckte  einmonatige.  Dasjenige, 
was  er  nach  eingetretenem  Vollzüge  an  seinem  körperlichen 
Zustand  empfindet,  ist  für  den  Verbrecher  „die  Strafe““  - 
allein  jene  Bestimmung  handelt  in  genau  umgekehrtem 
Sinne,  indem  sie,  bei  längeren  Strafen,  gerade  das  schliess- 
liche  „Ergebnis«“,  das  schliesslich  „am  körperlichen  Zustande 
Empfundene“  besonders  milde  gestalten  muss.  Ein  altes 
Strafrecht  verorclnete,  dass  die  Verbrecher  vor  ihrer  Ent- 
lassung aus  dem  Gefängniss  noch  ausgepeitscht  würden, 
hi  dieser  überwundenen  Barbarei  steckt  eine  feinere  Psycho- 
logie und,  mutatis  mutanclis,  eine  sicherere  Gewähr  für  den 
Effekt  der  Strafe  als  Ganzes,  als  in  der  jetzt  vorgeschlage- 
nen, an  ihren  Beginn  gesetzten  Verschärfung. 

Ein  zweiter  Punkt  aus  den  Motiven,  zeigt,  dass  die 
psychologische  Einsicht  auch  da  fehlt,  wo  sie  durch  viel 
weniger  Glieder  hindurchzugehen  hätte  als  bei  dem  erster- 
wähnten. Es  heisst  nämlich  anlässlich  der  Strafbestim- 
mungen über  die  Verbreitung  anstosserregender  Bilder  etc.: 

„Werden  derartige  Darstellungen  und  Abbildungen  in 
geschlossenen  Räumen,  insbesondere  auch  in  Kunstaus- 
stellungen zum  Zwecke  der  Besichtigung  oder  des  Verkaufs 
in  einer  Weise  ausgestellt,  dass  sie  von  öffentlichen  Strassen 
oder  Plätzen  aus  nicht  gesehen  werden  können,  so  erscheint 
dies  weniger  bedenklich,  da  Jedermann  in  der  Lage  ist,  den 
Besuch  solcher  Räume  zu  vermeiden.“  Der  soziale  Schaden 
öffentlicher  Verletzung  des  Anstands  liegt  also  dieser 
Motivirung  zufolge  darin,  dass  Leute,  die  derartiges  nicht 
sehen  wollen,  die  es  gern  vermeiden  möchten,  durch 
die  Oeffentlichkeit  der  Schaustellung  gezwungen  werden 
hinzusehen!  Als  ob  nicht  die  Schädigung  durch  Laszivitäten 
so  gut  wie  ausschliesslich  die  träfe,  die  sie  suchen,  und  die 
Präventivmassregeln  nicht  darauf  gehen  müssten,  sie  grade 
diesen  zu  verschliessen ! Als  ob  es  nicht  auf  diesem  Gebiete 
der  Gemeinheit  mehr  als  auf  jedem  andern  gälte,  dass  wer 
sich  selbst  schützen  will;  sich  auch  schützen  kann ! Man  hat 
den  Eindruck,  als  ob  unsere  Gesetzgebung,  wie  sie  eine 
Gesetzgebung  in  favorem  der  Reichen  ist,  so  auch  eine  Ge- 
setzgebung in  favorem  der  Sittlichen  und  ästhetisch  Ge- 
sinnten sein  sollte,  nur  darauf  bedacht,  diese  in  ihrem  Be- 
sitz zu  sichern,  dass  nicht  der  leiseste  Llauch  der  Frivolität 
ihren  Weg  kreuze  und  ihre  Seelen  trübe:  nur  der  soll  ge- 
schützt werden,  der  solche  Dinge  vermeiden  will;  wer  sie 
aufsucht,  der  mag  sie  haben!  Aber  umgekehrt:  wenn  der 
Staat  hier  überhaupt  regulirend  eingreifen  will,  so  kommt 
alles  darauf  an,  den  Lüsternen,  Gierigen,  den  Knaben  mit 
vorzeitig  wachgekitzelten  Trieben  die  Reize  neuer  Auf- 
regungen zu  entziehen,  gegen  die  die  „Geschlossenheit“ 
der  Räume  grade  ihnen  keine  Barriere  ist.  Denen,  die  sie 
überhaupt  vermeiden  wollen,  droht  auch  bei  öffentlichster 
Schaustellung  keine  Gefahr,  sondern  höchstens  ein  Gefühl 
von  Gene  und  Chockirung.  Indem  die  Verweisung  des  Un- 
sittlichen in  geschlossene  Räume  allerdings  die  Möglich- 
keit gewährt,  selbst  diesem  Gefühle  zu  entgehen,  es  im 
Uebrigen  aber  in  Jedermanns  Belieben  stellt,  ob  er  von 
dieser  Möglichkeit  Gebrauch  machen  will,  zeigt  sich  eine 
wunderliche  Mischung  von  weitgehender  Fürsorge  und  weit- 
gehendem Liberalismus  — erklärbar  nur  aus  der  Mangel- 
haftigkeit einer  psychologischen  Grundlage,  die  nicht  er- 
kennt, dass  die  sittliche  Schädigung  nicht  denen  droht,  die 
sie  vermeiden  wollen,  sondern  denen,  die  sie  suchen. 

Wir  lächeln  heute  über  die  Forderung  Platos,  dass 


die  Regierenden  Philosophen  sein  müssten.  \\  enn  wir  aber 
statt  der  Philosophen  überhaupt  Psychologen  in  die  Formel 
einsetz em,  so  ist  es  uns  sehr  ernst  mit  ihr.  Man  kann  sicher 
sein:  unsere  gesammten  öffentlichen  Zustände  wären  er- 
freulichere, wenn  die  Personen,  die  Andere  zu  lenken  be- 
rufen sind,  mehr  von  dem  feinen  Instrument  wüssten,  durch 
das  und  auf  das  allein  sie  doch  schliesslich  wirken  können, 
von  der  menschlichen  Seele  Unsere  Lehrer  werden  zu 
philologischen  oder  naturwissenschaftlichen  Gelehrten  aus- 
gebildet, unsere  Prediger  lernen  Kirchengeschichte,  Exe- 
gese und  Dogmatik  bis  in  ihre  letzten  Zuspitzungen, 
unsere  Juristen  lernen  Rechtsbestimmung  über  Rechtsbe- 
stimmung  und  die  schematischen  Proportionen  zwischen 
der  That  und  ihrer  Rechtsfolge  mit  all  ihren  Aeusserlich- 
keiten  und  Einzelheiten  — aber  bei  keinem  von  ihnen  wird 
viel  nach  der  Kenntniss  der  Menschenseele  gefragt,  von  der 
allein  die  Anwendung  und  der  Segen  aller  Kenntnisse  und 
aller  Institutionen  abhängt.  So  gleichen  sie  dem  Arzte,  der 
treffliche  Heilmittel  kennt,  aber  nicht  den  Körper,  auf  den 
sie  wirken  sollen,  oder  dem  Gärtner,  der  zwar  guten  Samen 
hat,  aber  nichts  von  dem  Boden  weiss,  in  dem  allein  er  seine 
Früchte  tragen  kann. 

Berlin  Georg  Simmel. 


Gefängnissarbeit  in  Prenssen.  ln  den  dem  preussischen 
Ministerium  des  Innern  unterstellten  Straf-  und  Gefangenen-  ] 
anstalten  betrug  während  des  Etatsjahres  1890/91  die  Zahl  der 
im  täglichen  Durchschnitt  detinirten  Gefangenen  mit  Arbeits-  | 
zwang  24  523,38,  von  denen  6,38n/„  gegen  6,95"  o im  Vorjahre  un-' 
beschäftigt  waren.  Für  den  eigenen  Bedarf  der  Anstalt  wurden 
23,34°/,  gegen  23,83°  o im  Jahre  1889/90,  für  eigene  Rechnung  der 
Anstalten  zum  Verkauf  1,73%,  gegen  1,80°  im  Vorjahre,  und 
für  Dritte  gegen  Lohn  74,88%,  gegen  74,37%  im  Vorjahre,  be-i 
schäftigt.  Von  den  Letztgenannten  hatten  97,05%  mit  Industrie- 
arbeiten, 2,95 % mit  landwirtschaftlichen  und  sonstigen  gewöhn- 
lichen Tagelöhnerarbeiten  zu  thun.  Der  Arbeitslohn-Reinertrag ( 
stellte  sich  pro  Kopf  und  Arbeitstag  auf  40,3  Pfg.  gegen  38.2  Pfg. : 
in  1889/90.  Die  Verdienstantheile,  die  den  Gefangenen  mit  ein 
Sechstel  des  ganzen  Arbeitsertrages  gutgeschrieben  werden,  be- 
trugen für  den  Arbeitstag  6,7  Pfg.  gegen  6,4  Pfg.  im  Vorjahre.  | 
Von  den  Gefangenen  ohne  Arbeitszwang  (Üntersuchungsgefan- 
genen,  Gefangenen  in  einfacher  Haft,  Polizeigefangenen  und 
Schuldgefangenen),  deren  Durchschnittsbestand  840.96  betrug,; 
waren  247  unbeschäftigt  und  593,96  beschäftigt.  Der  Brutto- i 
Arbeitsverdienst  der  Untersuchungsgefangenen  betrug  pro  Kopf) 
und  Arbeitstag  in  den  einzelnen  Anstalten  5.8  bis  46,2  Pfg-,  der- 
Verdienstantheil  stellte  sich  auf  1,9  bis  15,5  Pfg. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

A.  P.  Der  Sozialismus  als  Feind  der  Religion  und  die 
Volksschule.  Ein  Wort  zur  Klärung.  11 — 20.  Tausend. 
Berlin  1892,  O.  Harnisch.  8°.  32  S. 

Aureliann,  D-lui  Petre  S.  Economia  nationala  Revista 
intereselor  economice  romane  sub  directumea.  XVI.  Jahr- 
gang, 5.  Heft-  Bukarest  1892,  Vointa  nationala.  8".  73—96  S. 

Grol».  C.  Jahrbuch  des  Unterrichtswesens  in  der! 
Schweiz  1890  Bearbeitet  und  mit  Bundesunterstützung 
herausgegeben.  Zürich,  Grell  Fiissli’s  Verlag  Art -Institut,  j 
1892  8""  VIII,  152  u.  143  S. 

Knorr,  Ferdinand  Dr.  jur.  Entwurf  einer  Berufsgenossen- 
schaftsordnung.  Ein  Votum  der  Reform  der  gesetzlichen 
Arbeiterfürsorge  Minden  1891,  J.  Schweitzer.  8°.  87  S.  | 

Lichtstrahlen.  Blätter  für  volksverständliche  Wissenschaft  und  | 
atheistische  Weltanschauung.  Zugleich  Unterhaltungsblatt 
und  litterarischer  Wegweiser  für  das  Volk.  2.  Jahrgang  I 
11.  und  12.  Heft.  Berlin  1892,  O.  Harnisch.  8'.  S 465  —560. 

Palgrave,  R.  H.  Inglis  F.  R.  S.  Dictionary  of  political 
economy.  Second  Part  Beeke — Chamberlayne.  London  1892, 
Macmillan  & C.  8Ü.  129 — 256  S. 

Vierteljahrshefte  zur  Statistik  des  deutschen  Reiches.  Heraus- 
gegeben vom  Kaiserlichen  statistischen  Amt.  Jahrgang  1892. 

1 Heft.  Berlin  1892,  Puttkammer  & Mühlbrecht.  4".  94  S. 

Varlez,  Louis.  Les  homestead  exemption  acts.  Rapport 
presentö  au  cercle  d’etudes  sociales  des  etudiants  Brüssel 
1892.  H.  Lamertin.  8°.  23  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  l)r.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 

Berlin,  den  28.  März.  1892 


Für  den  Anzeigentheil  sind  die  Redaktion  und  die  Verlagsbuchhandlung  nicht  verantwortlich.  Anzeigen-Annahmestelle  nur  bei 
l)r.  Otto  Eysler,  Berlin  SW.,  Charlottenstrasse  II.  Preis  filr  die  3 spaltige  Colonelzeile  40  Pf. 


3n  meinem  äSertage  erfdjien : 


mt  8d)timmeit 


tum 


itmnatm  »e, 

dpauptlefjier. 

iöcwb  ! Hltb  H. 

(Miditc  ntiü  Cniil)liinp 

in 

Slpirtuger  äWimbnrt. 

$rei§,  tjodjelegant  gefmnöert, 

ti  üBic  ©?f.  3,-. 

33orrätf)ig  in  allen  93ud)f)aubluugeit. 

Bndag  mm 

Eduard  Moos 

in  (Erfurt. 


Hugo  FriinkoL 

Antiquariat  für Rechts-u. Staatswissenschaft, 

Berlin  N.  24,  Elsasserstr.  36, 

empfiehlt  sich  zur  Beschaffung  aller  in  sein 
Specialfach  einschlagender  Literatur. 

Verzeichniss  I: 

Hechts-  u.  Staats  Wissenschaften, 

vor  Kurzem  erschienen,  steht  gratis  zu 
Diensten. 

Angebote  von  einzelnen  Bänden  und 
ganzen  Bibliotheken  zum  Kauf  oder  in 
Tausch  sind  stets  willkommen. 


5 Verlag  von  Leonhard  Simion  in  Berlin,  t 

6 SW-,  Wilhelmstrassc  121.  T 


1 Geschichte  der  Neuesten  feit 

| 1815—1885 

1^1  von 

% Prof.  Constantin  Bulle. 

T;  4 Bünde.  1687.  Preis  brasch.  20  31..  c/eb.  24  31. 


„Bnlle’s  Geschichte  der-  Neuesten  Zeit  ist  T 
durchaus  vom  Standpunkte  der  Wissenschaft  /j 
aus  geschrieben,  soweit  bei  Beschaffenheit  V 
des  Quellenmaterials  eine  wissenschaftliche 
Behandlung  möglich  ist.  Ein  besonderes 
Geschick  bekundet  der  Verfasser  in  der  f£: 
lurrzen  aber  scharfen  Chnracterisirung  der  X 
handelnden  Personen.“  Y 

Jenaer  Literaturzeitung. 


QI.  I|.  Bnrh’frf)p  B c r lagg Intd;  [)  a nM  u mi  (Pshar  Bedf)  in  iBündjun, 

3u  nuferem  Vertage  ift  erfcf)tenen: 

€urop atftti.gr  (5  e fdi uft  1 9 h a Un  t ft  c w Steue  golge.  (Siebenter 

^ Uj ttUtj 3al)vgang.  1891.  (©er  ganjeu  3teil)e  XXXII.  ffianb.)  SperauX 
gegeben  Don  tjjnn»  ©eUtriicf,  a.  0.  Sßvofeffor  au  bev  Uniuerfität  ^Berlin  1111b  5)iitglieb  beb 
tReidjötagö.  22  33rgeu.  ©eljeitet  8 SOif. 

iöanb  I XXVI  (1800-1890  uuii  ®dmltf)eß=®el6vitcfö  ©efdiirfitöfnlcnt'er  MJirS  l>i£  auf  weiteres 
511  Sein  ermäßigten  greife  tunt  80  9SJif . geliefert. 


ferner: 


l>r.  ID.  Zeller, 

grofef).  fjeff.  SJtegieriingärat: 


XtHaliftitäfe-  unft  H 1 1 r v 5 u r r fnl  ir  n ti  t g 5 g r fr  1 mutt 
22.  3 uni  1889. 


groeite  ooltftänbig  umgearbeitete 

Stuf  läge  mit  einem  Slntjang,  bie  ©otljugSbeTannt’ 
mactjuugeu  b e 0 33nubeSvaL3  entfjaltenb.  Start.  1 5)1.  80  Sßf. 


Da&  B r h r it r v f tbt itt; p r feilt  für  ba§  beutfct)e  91  e i cf)  00m  1.  S'O'i  1891  (91  ouelte 
,31t  ©it.  VII  ber  ©eroerbeorbnung).  ©epamSgabe  mit  (Srinleitnug,  erläuternben  Stnmerfungen 
unb  Stegifter.  8V2  23og.  Start.  1 5)f.  20  5Pf. 


Zum  Abschluss  von  Todesfall-,  Aussteuer-, 

Renten-  und  Sterbekassen- Versiche- 
rungen bei  vortheil  haften  Be- 
dingungen und  billigen 

Prämien  hält ^ JLebens- 
sich  die  — ^Versieh  er  11  ai  g;  s- 

Gesellschaft  zu  Berlin, 

S.O.,  Kaiser  Franz  Grenadierplatz  8 

bestens  empfohlen. 

Prospecte  und  Auskünfte  postfrei  bei  der  Direction  und  den  Vertretern 


X ©itlfimfait,  DnTagabiufiljanMung  in  Berlin. 

(üutfentag’fdi®  Sammlung 
Br.  23,  Br  nt  Jäh  er  Krid|öitr  fr^e.  Br.  23. 

Aert=9(iisga6eu  mit  Stnuierfuiigen. 

|iifnUütr|d)mui$5gr|'etj 

mmt  6.  Juli  1884 

unb 

(fn'iili  iüTiT  tue  Ru0tr^uuu0  ticr  Bnfaü-  untr 
Iran  Ix mix  erfüll  erium 

oom  28.  Iföat  1885. 

Xertan-Sc^abe  mit  Jlnnterfmtgim  ititb  ®ctd)regt|ter 

non 

(£.  uott  ißSoebtfc, 

,Q aif.  ©ef).  Ebcr^egicvungS-Slaff),  9>ortr.  Staff)  im  Sieicfimit  öe>3  Sm'fvu. 

Bieriß  tievmelirle  Bufhtiu'. 

®afrfj?n  formal,  rarf onnirf. 

^vei§  3 ©lf. 


jfrct  Hanti 

Portjeiifftjrift  nir  fl  mrnnifl  einer  fiirMidien 

Sustatofnrnt. 

Brgait  brs  Bnitlvhcn  Bnnhre  für  Bobrn- 
bcltfjvrfurm. 

(frfdicim  jfbnt  yjionta.n. 

21 1)  o n n e in  e li  t ö b e b i n g n u g t’  n : 


Sei  allen  Poftanftalteu  (31  r.  2272 

ber  PoffoettungSlifte)  ....  33t  f 0.  0 
Sei  biretter  .«leix^baubfenbiinn : 

iit  ®eutfd)lanb  mib  Defterrcidj . „ 1,20 

im  PBeltpoftüerein  ...  „ 1,50 

Sit  Sertin  bei  freier  gnfenbung  . „ ],- 

Wn  (Bxpebition 


3L  Uvcha,  3jMaüm|mbcijtv.  55. 

Pertag  uon  (Smirg  Reinm*  in  Berlin, 
bind)  alle  Snd)boubluugen  311  belieben: 

®a§ 

(Enbe  bis  Cxauuts 

lUUt 

(hi  rouge  IFHtrup. 

Stulorifirte  lleberfehung  ans  beut  grau jäfiidjen 
0011 

Dr.  Si’ib  'S i fd) off. 

Sreiö  331:  1 00,  gebnuben  33t.  2 20. 

Marpo’s  Qlnu'tfe. 

3 c oo  e H c 
nun 

J.  Marion  Olrauiforb. 

älutorifirte  lleberfdmug  aus  bem  ©uglifdjen 
uon 

Sfjcrefc  «pöyfuer. 

Preis  331.  1,60,  gebnuben  33i.  2,20. 

93ir.  3fö«t§. 

©ine  ©rgätftuug  nitS  bem  heutigen  Snbieu 
1)011 

X Marion  (Eraioforb. 

Slutorifirte  lteberfetmng  miS  bem  ©nglifd)en 
0011 

Uljcrcjc  «pöpfitcr. 

Preis  33i.  1,60,  gebunbeu  33i.  2,20 

X QL.  Brlkrnbmljrr's 

lafdjtntiiuli  fiir  faiifUiitt. 

20.  stuft  i.  atbtb. 

9Jlüuj=,  93caaü=  unb  ©eioiditShutbe,  2Bed)feI=, 
@etb=  unb  jjonifeurfe. 

— preiS  gebunbeu  33t.  9.  — 

1t.  ©uttenlag,  Perlag31)ud)l)anblung  in  Sertin. 

£as  9icd)t 

ber 

Hvlu'ttmu'vfuljenuux. 

giir  Stjeorie  uub  prajid  fi)fteiuatifd;  bargeftellt 
0011 

Dr.  j^einridj  9iofiu, 

ort>.  'l>rof.  jiir  £tantSved)t  mib  beutldieä  Sicdjt  n.  b. 
Itnioertitcit  ^rcibiivn  i 33. 

©rfter  Sanb: 

$te  reid)§red)tlid)en  ©runMageit  ber 
Sirbcitcioerftdiermtfl. 

<Srfte  uub  jioeite  Slbtbeilimg.  8°.  9 33t.  50  pf. 

2)ac>  gefammte  2Berf  mirb  in  gmei  Säube 
verfallen,  oou  beneu  ber  erfte  „bie  reid}Sred)t= 
lid)eu  ©ruubtageu  ber  2lrbeiterüerfid)erutig" 
begcmöelu,  ber  pieite  aber  in  brei  il)eileu  bie 
Äraitfeu-,  llnfa ü=,  fomie  bie  SnoatibitätS--  uub 
SllterSoer|id)erung  gur  ©ingetbnrftellnng  bringen 
fott. 


©erlag  uon  ©untkeu  & Bumblof  in  Leipjig. 


lf<*n  .Bur  ttcutrd|en  Social-  ititl»  ©riuerbepolitift  fcrr 

viyUfltlU  -'CHlJUiUU.vV^  ©cgoüuarf.  Peben  unb  Sluffälie  1890.  Preis  9 33t. 

Titrn  T&ronfai-m  Kr&rr  feie  Hrfad|en  örr  Ijrittigrn  Tor talrn  Botlj.  ©in 
XI 11 J L)  PI  llcilllX  Seitrag  ,311V  Ptorubotogie  ber  Solfen)irtl)|d)aft.  1.  unb  2 Stuf« 

Inge.  1889.  PreiS  1 Pt. 

Staats-  mit)  [üc  talro  t JJnt fdja ft Itdir  Beiträge,  1,eiull“fn* 

St.  0 93tiaöfoiüSn  Saub  I,  1 1111b  2 •C'ft.  1892  PreiS  9 60  Pi. 

I 1.  Bur  Jragr  brr  ©rganilation  brs  lanbmirtlifdjaftliitrn  Krebifs  in  Brutldi- 
laitb'  unb  Drltrrvcirf).  Sou  28.  <Sd)iff.  preis  8,60  33t 
I 2 ©ir  (Einkoimnrnlirnrr  in  ©.rgrrrrtrfj  unb  iljrr  Beform.  Sou  ©.  0.  gfirtt). 
preiS  6 33t. 

TPiHr»  Ittcnvm  The  arutcvblidjr  Huobilbung  brr  Infjnarbritenbrn  Blainljcit. 
AtPim  ATXclUlpi,  ©in  Seitvag  gur  oerufttrijen  ©rgiebnng  beo  meibtidjeu  ©efdßedßS.  is92. 
Preis  40  Pfg. 

Infi  Kalle,  IDivtlilrliattlirlir  Tcljvcn.  6.  Sluftage  preiS  80  pfg. 


(§e rljarf  ii.  ^djuIje-GSaeiiernitj,  f?$e  llmig  ber  ' fögialp 


fojialuolitiidien 

©r3iel)iing  bcS  eugtifd)en  SotfeS  im  lieuiijeljuteii  “Sa()rkunbert.  3't'ei  Sänbc.  1890. 
Preis  33t.  18- 


>9 


yco 


, CXJ 


Sie  tut  Satfvc  1827  ooit  beut  cblen  3.V c n fd)e n freu  11  b e (Srnft  PSill). 


»itolbi  begrünbete,  auf  ©egeitfeitigfeit  intb  £)effentlid)feit  beruljenbe 

fcbcnöDcrfuljenutgöbank  f.  D. 

3U  #ot0fl 


labet  hiermit  31111t  ^Beitritt  ein.  Sie  barf  für  fid)  geitenb  mad)cn, 
baß  fie,  getreu  ben  2(bfid)ten  ibreo  ©riinberP,  ,,al«  Bigenttjiim  31  Uer, 
uietctje  fid)  tl)r  311m  33eften  ber  anfd)ließen,  and)  mitten  olgtc 

21it§ual)mc  311m  Ütupen  gereidjt/'  Sie  ftrebt  itad)  größter  D!e= 
redftigfeit  unb  'Silligfeit.  'sljre  Wefdidftserfotgc  ftnb  fteto  überaus 
güitfttg.  Sie  hat  aUe3ett  bem  vernünftigen  gortfdjritt  gehutbtßi. 
Sic  ift  lute  bte  ältefte,  fo  aitd)  bie  gröfde  £\mtfd)c  eebeneuerfidjenntgS; 

2'fnftolt. 


PerficbrrungS=i'eitanb  ©ube  1891 

«OJ 

©efd)äftSfonbS  ©ube  1891 

i 75 

®a  runter: 

ßu  oertbeilcnbe  Uebcrfd)üffe  .... 
giir  ©terbrfaüe  auSbcgalgt  feit  be 

r Sc« 

5 1 

rWUtioncn  93t t. 


iDiiUimten  93t f. 


3883/4  93tiUioncit  93tf. 


griinbnug .... 

Bte  Br rlu a tt n 11  gsft 0 )U'it  fjabeit  ftetS  untre  ober  loenig  über  5n0  ber 
©innatjme  betragen. 


'¥ 


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werden  schnell,  sauber  und  billig  hergestellt  in  der 

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von 

Leonhard  Simion 

BERLIN 

SW.,  Wilhelmstrasse  No.  121 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : Dr.  Otto  Eysler  in  Berlin.  — Druck  von  11.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  4.  April  1892. 


Nummer  14. 


SOZIALPOLITISCHES 

C E NTRALB  LATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


I.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  viertel,] ährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Zur  L a g e der  schlesischen 
Hausweber.  Von  Prof.  Dr. 
Werner  Sombart. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthscliaftsstatistik : 

Die  Postsparkassen  in  Llngarn. 

Aargauische  Verordnung  betr.  Ver- 
kauf von  Loosen  in  Raten. 

Bestrebungen  fiir  reichsgesetzliche 
Regelung  des  Gesinderechtes. 

\rbeitsnachweis  in  Stuttgart. 

Arbeiterzustände : 

Reichskommission  für  Arbeiter- 
statistik. 

Lohnfristen  und  Lohnzahlungstage. 

Eine  Statistik  des  Pariser  Elends. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Ein  neuer  Kutscherstrike  in  Paris. 

Schweizerischer  Gewerkschaftskon- 
gress. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Sozialistische  Bauernbewegung  in 
Oesterreich. 

Kaufmännische  Bewegung: 

Zur  Organisation  der  weiblichen 
Angestellten  in  kaufmännischen 
und  Fabrikgeschäften.  Von  J. 
Silbermann. 


Unternehmerverbände: 

Ein  neuer  Kupferring. 

Verein  anhaitischer  Unternehmer. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Die  Ausführung  der  deutschen  Ge- 
werbeordnung vom  1.  Juni  1891. 

Die  achtstündige  Schicht  für  Berg- 
arbeiter im  englischen  Parlament. 

Gewerbeinspektion : 

Die  Berichte  der  ungarischen  Fabrik- 
inspektoren. 

Arbeiterversicherung: 

Geschäftsbericht  desReichsversiche- 
rungsamtes  für  das  Jahr  1891. 
Von  Dr.  R.  van  der  Borght. 

Zur  Wirksamkeit  der  deutschen  Un- 
fallversicherung. 

Strengere  Handhabung  des  Unfall- 
versicherungsgesetzes in  Deutsch- 
land. 

Die  Einberufung  eines  Kongresses 
der  freien  Hilfskassen. 

Wohnungszustände : 

Nürnberger  Wohnungszustände. 

Gew7erbegerichte , Einigungs- 
ämter u.  Arbeiterausschüsse: 

Der  Gesetzentwurf  betreffend  die 
Prud’hommes-Gerichte  in  Frank- 
reich. 

Arbeiter-Prud’hommes  und  Impe- 
rativmandate. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zur  Lage  der  schlesischen  Hausweber. 

Ihre  Haltung  diesen  ganzen  langen  Winter  hindurch 
war  musterhaft,  sie  haben  nicht  gemuckst,  sie  haben  nicht 
einmal  geklagt,  wie  noch  im  vorigen  Winter,  sie  haben  nur 
gehungert.  O,  man  bekommt  Uebung  auch  im  Hungern; 
anfangs  hungert  man  und  murrt  dabei,  dann  aber  hungert  man 
und  schweigt  dazu.  Gerhard  Hauptmann  hat  uns  unlängst 
in  einem  interessanten  Drama  ,de  Waver‘  aus  den  1840er 
Jahren  geschildert,  wie  sie  Tumulte  machten,  wie  sie 
barbarenhaft  die  Salons  ihrer  Verleger  und  Ausgeber 
ruinirten;  das  sind  jetzt  tempi  passati.  „Das  nordische 
Phantom  ist  nun  nicht  mehr  zu  schauen“;  auch  der  schle- 
Isische  Hausweber  ist  civilisirt  geworden,  er  respektirt  das 
jgute  Recht  der  Andern  und  hat  Lebens-  und  Weltweisheit 
i genug  erworben,  um  sich  mit  seinem  bescheidenen  Loose 
zufrieden  zu  stellen.  Dass  es  den  Leuten  heute  wirklich 
besser  ginge  als  vor  50  Jahren,  kann  selbst  die  „Schlesische 


Zeitung“  nicht  behaupten  und  die  Thatsache,  dass  der 
Hausweber  der  Eulen-  und  anderen  Gebirge  ab  und  zu  und 
immer  häufiger  jetzt  sogar  seine  3 M.  Wochenverdienst  ent- 
behren muss,  weil  er  überhaupt  keine  Arbeit  hat,  ist  zu 
notorisch,  um  vertuscht  werden  zu  können.  Auch  diesen 
Winter  ist  das  Gespenst  der  Arbeitslosigkeit  in  den  arm- 
seligen Hütten  unserer  Weber  umgegangen  und  das  will 
was  sagen  bei  der  bitterlichen,  unerbittlichen  Kälte  der 
letzten  langen  Monate,  will  was  sagen  in  einem  Jahre,  da 
wiederum  die  Kartoffeln  schlecht  gerathen  waren,  da  das 
Brot  um  viele,  viele  Pfennige  vertheuert  war.  Aber  der 
Weber  klagt  nicht  mehr;  man  würde  am  Ende  gar  nichts 
mehr  von  ihm  hören,  wenn  man  nicht  selbst  an  Ort  und 
Stelle  Umfrage  hielte,  wenn  nicht  hie  und  da  auf  Umwegen 
die  Kunde  von  seinem  Elend  in  die  Oeffentlichkeit  dränge. 
Wie  grau  das  Elend  heuer  wieder  war,  beweist  der  Um- 
stand, dass  sogar  die  Handelskammern  der  Gegend  sich 
darum  bekümmert  haben;  im  Dezember  beschloss  die  von 
Schweidnitz:  „Die  hiesige  Handelskammer  fordert  die 

Fabrikanten  auf,  den  zahlreichen  arbeitslosen  Züchen webern 
der  Reinerzer  Gegend  behufs  Verhinderung  eines  sonst 
sicheren  schweren  Nothstandes  reichliche  Arbeit  zuzu- 
führen.“ Das  sind  natürlich  ganz  platonische  Liebesbe- 
theuerungen,  die  den  Betheiligten  gar  nichts  nützen.  Der 
Fabrikant,  der  Verleger  wird  auf  die  Dauer  nicht  mehr 
Hausindustrielle  beschäftigen,  als  es  die  Geschäftslage  er- 
fordert und  erlaubt;  er  kann  es  auch  nicht,  denn  in  der 
frischen  Luft  der  freien  Konkurrenz  kommen  so  zarte 
Pflänzchen  wie  Mitleid,  Menschenliebe  nur  schwer  fort. 
Der  LInternehmer  rechnet;  das  ist  seine  ihm  von  Gott  be- 
stimmte Mission  und  er  wäre  ein  schlechter  Geschäftsmann 
und  würde  seinem  Volke  keinen  Gefallen  thun,  wenn  er 
aus  reiner  Menschenfreundlichkeit  auf  die  Dauer  die  Waaren 
auf  Handwebestühlen  aus  dem  vorigen  Jahrhundert  her- 
steilen Hesse,  die  er  auf  dem  mechanischen  Webstuhl  für 
die  Hälfte  des  Preises  kann  fertigen  lassen.  Wenn  heute 
noch  besonders  wohlwollende  Fabrikanten,  wie  Websky  in 
Wüste waltersdorf,  Kauffmanns  in  Tannhausen  alten  Haus- 
webern, entgegen  ihrem  Geschäftsinteresse  das  Gnadenbrod 
geben,  so  ist  das  eben  ein  Akt  der  Wohlthätigkeit,  der 
aber  immer  die  Ausnahme  bilden  wird,  der  niemals  verall- 
gemeinert gedacht  werden  kann  oder  soll.  Was  hier  helfen 
kann,  ist  allein  das  zielbewusste  Eingreifen  der  Gesellschaft, 
des  Staates.  |Es  handelt  sich  bei  den  Hauswebern  um 
Reste,  um  Bodensätze,  die  bei  dem  Umformungsprozess  des 
Wirthschaftslebens  zurückgeblieben  sind  [und  die  nur  künst- 
lich entfernt  werden  können.  Die  Sache  liegt  so  sehr  auf  der 
flachen  Hand,  dass  das  zaghafte  Verhalten  unserer  Behörden 
und  Parlamente  geradezu  unerklärlich  ist.  Was  geschieht 
zum  Besten  der  schlesischen  Hausweber?  was  ist  in- 


176 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  14. 


Sonderheit  diesen  Winter  über  wieder  geschehen? 
Wir  wollen  nicht  unhöflich  sein  und  schlankweg  „Nichts“ 
antworten,  wollen  vielmehr  alle  Massnahmen  genau  re- 
gistriren. 

Auffällig  ist  es,  welcher  Wissensdrang  die  Ver- 
treter unserer  Regierung  seit  Jahrzehnten  nun  schon 
beseelt,  sobald  es  sich  um  die  Frage  der  Hausweber 
handelt!  Auch  diese  Saison  hat  wieder  „amtliche  Unter- 
suchungen“ gebracht.  In  Veranlassung  einer  Mittheilung 
der  Schweidnitzer  Handelskammer  hat  der  königliche  Re- 
gierungspräsident zu  Breslau  statistische  Erhebungen 
über  die  Handweberbevölkerung  angeordnet.  Die  bezüg- 
lichen Aufnahmen  sollen  gemeindeweise  und  zwar  überall 
im  Monat  Februar  erfolgen,  weil  in  diesem  Monat  er- 
fahrungsmässig  der  grösste  Theil  der  Handweber  that- 
sächlich  mit  Handweberei  beschäftigt  ist  (oder  auch  nicht!). 
Die  Erhebungen  sollen  sich  auf  die  Kreise  erstrecken,  in 
denen  die  Handweberei  in  nennenswerthem  Umfange  be- 
trieben wird.  Was  in  aller  Welt,  muss  man  fragen,  will 
man  eigentlich  noch  „in  Erfahrung  bringen“?  Die  Hand- 
weberfrage war  vor  50  Jahren  schon  spruchreif  und  jetzt 
sollen  erst  wieder  grossartige  „Erhebungen“  veranstaltet 
werden.  Wenn  man  doch  wichtigere  Dinge,  die  noch 
weniger  klargestellt  sind,  von  Amtswegen  untersuchen 
wollte!  Und  was  wird  geschehen,  wenn  nun  die  Erhebun- 
gen fertig  sind?  Ich  fürchte,  nicht  viel  mehr,  als  was  jetzt 
schon  „geschieht“.  So  lange  die  Regierung  den  Standpunkt 
einnimmt:  die  Hausweberei  soll  thunlichst  erhalten  werden; 
wo  sie  eben  gar  nicht  mehr  existenzfähig  ist,  sollen  die 
Weber  oder  ihre  Kinder  „in  andere  Berufsarten  übergeführt 
werden“  und  zwar  nicht  zwangsweise,  sondern  durch  Lock- 
mittel; so  lange  wird  das  Elend  in  Permanenz  erklärt 
werden.  Die  bisherigen  Massnahmen  der  Regierung  ent- 
springen dem  eben  gekennzeichneten  Gedankengange. 
Primo  loco  der  Versuch,  das  Elend  zu  konserviren.  Die 
Mittel  hierzu  werden  gesucht:  1.  in  dem  Bau  von  Eisen- 
bahnen, in  der  billigen  Abfuhr  der  Fabrikate  etc.  Als  ob 
das  der  Hausweberei  als  solcher  etwas  nützte.  Wird  ein 
Weberdistrikt  „erschlossen“,  wogegen  sich  gewiss  nichts 
einwenden  lässt,  so  kommen  die  hierdurch  erzielten  Vor- 
theile offenbar  in  gleich  hohem  Masse  der  Fabrik  Weberei 
zu  gute,  die  Hausweberei  bleibt  verhältnissmässig  gleich 
konkurrenzunfähig.  2.  sollen  die  Militärlieferungsauf- 
träge  den  Haus webern  in  grösserem  Maasse  zugewendet 
werden.  Ganz  schön.  Nützt  für  den  Augenblick,  wirkt 
aber  auf  die  Dauer  eher  schädlich,  denn  es  verewigt  die 
jammervolle  Lage  der  Hausweberei.  Schliesslich  versagt 
das  Mittel  und  der  Jammer  ist  um  so  grösser.  Das 
Almosen,  das  der  Staat,  also  die  Steuerzahler  in  der  Form 
bezahlen,  dass  sie  den  Bedarf  der  Armee  durch  eine  tech- 
nisch unvollkommene  Gütererzeugung,  also  theurer  als 
nöthig  wäre,  decken,  könnte  viel  besser  zu  wirksameren 
Reformen  verwandt  werden.  Nun  versucht  man  aber  3.  die 
Leistungsfähigkeit  der  Hausweber  zu  heben.  Man 
will  sie  einmal  mit  leistungsfähigen  Webstühlen  ver- 
sehen. Zu  diesem  Behufe  hat  der  Kaiser  unlängst  45  000  M. 
gespendet.  Dazu  bemerken  die  eingeweihten  Blätter  der 
Provinz:  Ob  zunächst  nur  die  Zinsen  der  kaiserlichen 

Spende  oder  gleich  diese  selbst  zu  dem  genannten  Zwecke 
verwendet  werden  dürfen,  hat  nicht  in  Erfahrung  gebracht 
werden  können.  Jedenfalls  werden  wohl  vor  Benutzung 
der  Summe  zunächst  geeignete  behördliche  Organe,  Sach- 
verständige und  mittelbar  oder  unmittelbar  Betheiligte  zu 
einer  nochmaligen  Erörterung  (!)  der  ganzen  Handweber- 
frage in  Schlesien  zusammentreten.  Zum  Zwecke  der 
Lösung  der  Weberfrage  haben  übrigens  bereits  Staat  und 
Provinz,  beide  je  2000  M.,  und  die  Kreise  des  Eulengebirges 
und  der  Grafschaft  ebenfalls  2000  M.  bewilligt  und  die 


Bewilligung  gleicher  Summen  bis  auf  weiteres  Jahr 
um  Jahr  in  mehr  oder  weniger  sichere  Aussicht  gestellt. 
Was  heisst  das:  „leistungsfähigere  Webstühle“?  Doch  nur 
etwas  weniger  altfränkische  Handwebstühle.  Und  mit 
Summen,  [wie  den  oben  genannten,  glaubt  man  wirklich, 
den  fieberhaften  Fortschritten  der  Maschinentechnik  Kon- 
kurrenz machen  zu  können?  Man  wird  die  Summen  ver- 
ausgaben, man  wird  ein  Paar  „leistungsfähigere“  Webstühle 
in  den  Hütten  der  Hausweber  aufstellen  und  nach  10  Jahren 
ist  (man  gerade  so  weit  wie  jetzt:  Die  „leistungsfähigen“ 

Webstühle  sind  veraltet,  der  Weber  selbst  ist  genau  wie 
heute  [konkurrenzunfähig  gegenüber  den  rapiden  Fort- 
schritten der  Maschinenweberei.  Daneben  beschreitet  man 
einen  andern  Weg,  um  die  „Leistungsfähigkeit“  der  textilen 
Hausindustrie  zu  heben.  Man  schickt  willfährige  Haus- 
weber auf  Regierungskosten  in  die  Weberschule,  damit 
sie  hier  „sich  ausbilden“  (und  nachher  auf  ihren  „leistungs- 
fähigen“ Handstühlen  ihr  Heil  versuchen!).  Die  Landräthe 
sind  schon  an  der  Arbeit,  diesen  neuen  Gedanken  der 
Regierung  zur  Ausführung  zu  bringen.  Der  Landrath  des 
Kreises  Landeshut  hat  dieser  Tage  folgende  Bekannt- 
machung erlassen: 

Der  Minister  für  Handel  und  Gewerbe  hat  sich  bereit 
erklärt,  eine  Anzahl  von  geeigneten,  ständigen  Handwebern 
aus  dem  hiesigen  Kreise  vom  Beginne  des  nächsten  Lehr- 
kursus an  in  der  Webeschule  zu  Sorau  für  die  Taschen- 
tuchweberei ausbilden  zu  lassen,  um  durch  Einführung 
dieses  bisher  in  der  Textilindustrie  des  Kreises  Landeshut 
nicht  heimischen  Artikels  den  Handwebern  eine  weitere 
lohnende  Arbeitsgelegenheit  zu  schaffen.  Die  Kosten  für 
die  Ausbildung  werden  auf  Staatsfonds  übernommen  werden;: 
dieselben  sind  bemessen  auf  60  M.  für  den  Unterhalt,  40  M. 
für  die  etwa  erforderliche  Vervollständigung  der  Bekleidung,, 
12  beziehungsweise  4 M.  für  die  Reise,  sowie  Zehrung  auf: 
derselben;  im  Ganzen  also  116  M.  für  die  Person;  ausser- 
dem trägt  der  Staat  das  Schulgeld.  Die  Dauer  des  Lehr- 
kursus  beträgt  einen  Monat  und  sollen  je  5 Weber  immer 
gleichzeitig  zur  einmonatlichen  Ausbildung  zugelassen 
werden.  Es  wird  beabsichtigt,  zunächst  etwa  40  Webern 
diese  Vortheile  zu  gewähren.  Ich  fordere  solche  im  Kreise  an-, 
gesessene,  jüngere  und  arbeitstüchtige,  ständige  Handweber, 
welche  an  diesen  Vortheilen  theilnehmen  wollen,  aut,  sich, 
unverzüglich  bei  ihren  Herren  Arbeitgebern  hierzu  anzu- 
melden und  letztere  wiederum  ersuche  ich,  sich  alsbald 
gefälligst  mit  mir  wegen  Auswahl  der  ersten  10  auszu- 
bildenden  Persönlichkeiten  in  Verbindung  setzen  zu  wollen. 

Abgesehen  von  der  Geringfügigkeit  der  Mittel,  welche 
hierbei  zur  Verwendung  kommen,  wird  das  Bestreben  aus 
den  vorhin  angedeuteten  Gründen  ebenfalls  fruchtlos  bleiben. 
Wenn  die  10  Weber  und  ihre  Nachfolger  gescheidt  sind, 
werden  sie  von  selbst,  nachdem  sie  einmal  in  die  Welt 
hinausgekommen  sind,  auf  das  karge  Brod  der  Hausweberei 
verzichten  und  ihre  neu  erworbenen  Kenntnisse  in  der 
Maschinenweberei  verwerthen.  Das  wäre  der  glücklichste 
Erfolg  der  gewiss  gut  gemeinten  Massnahmen. 

Wo  man  nun  aber  höheren  Orts  eingesehen  hat,  dass  es 
verlorene  Liebesmüh  ist,  die  Hausweberei  zu  erhalten , da  ist 
man  auf  ein  ganz  eigenthümliches  Mittel  verfallen,  um  dem 
Elend  ein  Ende  zu  machen.  Man  versucht  nämlich,  die  Weber 
oder  deren  Kinder  durch  List  aus  ihrem  Bau  herauszulocken 
dadurch,  dass  man  ihnen  Prämien  ausbezahlt,  wenn  sie 
in  einen  anderen  Beruf  übertreten.  Ganz  im  Stillen 
arbeitet  dieser  Betrieb  schon  seit  einiger  Zeit;  man  weiss 
nicht,  mit  welchem  Erfolg.  Bedeutend  kann  dieser  nicht 
sein,  denn  die  Fonds,  aus  denen  die  Prämien  bezahlt 
werden,  sind  recht  bescheiden.  Für  das  laufende  Ver- 
waltungsjahr sind  von  der  Regierung  2000  M.  und  ebenso 
viel  von  der  Provinz  für  obigen  Zweck  ausgesetzt  worden. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


177 


No.  14. 

Damit  lässt  sich  natürlich  nicht  viel  anfangen.  Dazu  kommt 
nun  aber,  dass  ein  anderer  Umstand  erschwerend  und 
hindernd  in  den  Weg  tritt,  der  nämlich,  dass  sich  die  Leute 
entweder  gar  nicht  hervorlocken  lassen  oder  wenn  sie  ein- 
mal hervorgelockt  sind,  Mittel  und  Wege  finden,  zwar  die 
Prämie  zu  verzehren,  dann  aber  zu  den  heimischen  Penaten, 
zu  Spule  und  Webstuhl  zurückzukehren.  Das  ist  fatal,  aber 
den  Betroffenen  nicht  zu  verdenken.  Einen  andern  Uebel- 
stand  würde  das  Prämienverfahren  aber  im  Gefolge  haben, 
wenn  es  sich  wirksam  erwiese:  es  würde  einen  beträcht- 
lichen und  werthvollen  Betrag  unseres  Nationalvermögens, 
das  in  der  Arbeitsgeschicklichkeit  des  Webers  oder  auch 
nur  des  spulenden  Kindes,  aufgestapelt  ist,  unwiderbring- 
lich zerstören,  dadurch  dass  die  weiland  Weber  oder 
Weberaspiranten  in  neuen,  fremden  Gewerben  unterge- 
bracht würden.  Dabei  ist  angenommen,  dass  sie  körperlich 
im  Stande  wären,  als  Erdarbeiter  oder  Bauhandwerker  über- 
haupt zu  funktioniren,  was  zu  bezweifeln  sein  dürfte. 

Ist  also,  wenn  all’  die  vorhin  erwähnten  Massnahmen 
der  Regierung  in  den  Sand  gebaut  sind,  in  der  That  alle 
Hoffnung  eitel,  die  Frage  der  Hausweber  zu  lösen,  dem 
Elend  ein  Ende  zu  machen?  Nein,  gewiss  nicht.  Es  muss 
nur  richtig  angegriffen  werden.  Man  muss  zunächst  das 
Bemühen  aufgeben,  die  Hausweberei  durch  künstliche 
Mittelchen  zu  erhalten;  sie  kann  auf  die  Dauer  neben  der 
Maschinenweberei,  von  einigen  wenigen  Fällen  abgesehen, 
nicht  bestehen.  Das  Ziel  muss  also  sein,  sie  aus  der  Welt 
zu  schaffen.  Aber  nicht  dadurch,  dass  man  die  Weber  oder 
ihre  Kinder  in  andere  Berufsarten  überleitet,  sondern 
dadurch,  dass  man  sie  zu  Maschinenwebern  macht. 
Wenn  ganz  alte  Wavermeester  nicht  mehr  im  Stande  sind, 
einen  Maschinenwebstuhl  zu  bedienen,  so  mag  man  sie  auf 
den  Aussterbeetat  setzen  und  ihnen  das  Gnadenbrot  geben. 
Die  bei  weitem  überwiegende  Mehrzahl  der  jetzigen  Hand- 
weberbevölkerung, Männer,  Weiber  und  Kinder,  kann  aber 
sehr  wohl  noch  in  der  Fabrik  verwendet  werden.  Und 
hier  nun  öffnet  sich  für  den  Staat  ein  weites  Feld  seiner 
Thätigkeit:  er  soll  selbst  Fabriken  in  den  Haus- 

weberdistrikten bauen  oder  ihren  Bau  befördern.  Es 
ist  das  gar  kein  so  ungeheuerlicher  oder  befremdlicher  Ge- 
danke. Der  preussische  Staat  braucht  nur  seine  Haus- 
weberpolitik der  1840er  Jahre,  die  viel  energischer  und  ge- 
sünder war  als  die  jetzige,  wieder  aufzunehmen.  Damals 
sind  aus  Staatsmitteln,  durch  die  preussische  Seehandlung 
in  den  hauptsächlichsten  Weberdistrikten  Fabriken  be- 
gründet worden,  deren  bekannteste  die  in  Wüstegiersdorl 
erbaute,  jetzt  von  Kauffmanns  geleitete  grossartige  mecha- 
nische Weberei  ist.  Also  es  geht!  Aber  es  gereicht  auch 
den  Webern  selbst  zum  Segen.  Der  Wanderer,  der  von 
Reichenbach  über  das  Eulengebirge  durch  die  erbärmlichen 
Hausweberdörfer  gepilgert  ist,  athmet  erleichtert  auf,  wenn 
| er  das  Thal  der  Weistritz  erreicht  und  hier  den  verhält- 
nissmässigen  Wohlstand  der  Bevölkerung  in  den  Fabrik- 
dörfern Wüstegiersdorf  und  Tannhausen  beobachtet.  Da 
versagen  alle  Schwärmereien  sentimentaler  Naturen  für  die 
sozialen  Vorzüge  der  Hausindustrie.  Der  Fabrikarbeiter  ist 
unendlich  viel  besser  gestellt;  er  arbeitet  10 — 11  Stunden  in 
der  Fabrik  und  kann  dann  in  derselben  Fuft  und  in  der- 
selben Gegend  wie  früher  als  Hausindustrieller  sein  Häus- 
chen bestellen  und  seinen  Kohl  bauen.  Eine  Reihe  wirk- 
licher Wohlthätigkeitsanstalten:  Krankenhaus,  Waisenhaus, 
Kindergarten  nach  Fröbels  System,  Handfertigkeits-  und 
Fortbildungsschule,  eine  Heimstätte  für  unverheirathete 
Fabrikarbeiterinnen,  woselbst  die  letzteren  für  geringes 
Entgelt  anständig  wohnen  und  tür  sich  kochen  können, 
und  anderes  mehr  verschafft  den  Arbeitern  eine  Menge  von 
Annehmlichkeiten,  die  für  den  erbärmlichen  Hausweber 
unerreichbar  sind.  Also  nur  keine  falsche  Sentimentalität. 


Hier  muss  zielbewusst  und  energisch  eingesetzt  werden. 
Alles  übrige  ist  Flickwerk  und  führt  zu  nichts.  Einge- 
wendet  gegen  das  von  mir  vorgeschlagene  Verfahren  wird 
wohl:  der  Hausweber  würde  doch  nicht  in  die  Fabrik 
gehen,  selbst  wenn  sie  in  oder  bei  seinem  Dorfe  stände. 
Der  Einwand  ist  unbegründet,  wie  die  Erfolge,  namentlich 
der  Giersdorfer  Anlage  beweisen.  Wenn  sich  aber  wirk- 
lich ein  Widerstreben  der  Hausarbeiter  bemerkbar  machen 
sollte,  so  gibt  es  ein  sehr  gutes  Mittel:  man  macht  ihnen 
den  Betrieb  zu  Hause  dadurch  unmöglich,  dass  man  die 
Heimarbeit  den  Anforderungen  der  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung unterstellt;  d.  h.  man  räuchert  die  Haus- 
weber aus.  Das  ist  aber  nur  angängig,  wenn  man  ihnen 
gleichzeitig  in  der  Nähe  Arbeitsgelegenheit  schafft.  Des- 
halb muss  zuvor  mit  dem  Bau  von  Fabriken  begonnen 
werden.  Also  unverzagt:  where  is  a will,  there  is  a way! 
Aber  mit  Fatwergen  und  Mixturen  kurirt  man  keinen 
Todtkranken. 

Breslau.  Werner  Sombart. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts 

Statistik. 


Die  Postsparkassen  in  Ungarn.  Seit  dem  Jahre  1885 
bestehen  in  Ungarn  Postsparkassen,  doch  haben  sich  die- 
selben noch  keineswegs  eingelebt.  Die  ersten  fünf  Jahre 
der  Postsparkassengebahrung  (1885 — 1890)  haben  269  950  fl. 
ö.  W.  Defizit  ergeben.  Dasselbe  fiel  zwar  von  Jahr  zu  Jahr 
(1886:  100  505  fl.  35  Kr.,  1887:  56  944  fl.  66  Kr.,  1888:  50316  fl. 
61  Kr.,  1889:  39  807  fl.  92  Kr.,  1890:  22  375  fl.  49  Kr.),  besteht 
aber  bis  zum  letzten  vorliegenden  Rechnungsabschluss.  Am 
31.  Dezember  1890  hatte  die  königlich  ungarische  Postspar- 
kasse eine  Bilanz  aufgestellt,  in  der  als  Passiven  figuriren 

6 683  943  fl.  68>/2  Kr.  ö.  W.  Einlagen  der  Sparer,  wozu 
831  739  11.  54  Kr. "auf  Rentenbücher  und  in  Depot  gehaltene 
Werthpapiere  kommen,  so  dass  Ersparnisse  in  Höhe  von 

7 515  683  fl.  22' j. 2 Kr.  durch  die  Postsparkasse  verwaltet 
werden.  Stellen  wir  diese  Summe  (in  Francs1):  15  990  815) 
neben  das  Guthaben  der  Einleger  anderer  Postsparkassen 
im  Jahre  1888,  so  sehen  wir,  dass  die  ungarische  Postspar- 
kasse noch  in  den  Kinderschuhen  steckt,  denn  in  Gross- 
britannien und  Irland  bezifferte  sich  das  Guthaben  der 
Einleo-er  auf  1463  909  850  Frcs.,  in  Frankreich  auf 
266  788  603,  in  Belgien  auf  260  224  438  und  in  Oesterreich 
auf  37  494  400  Frcs. 

Auf  je  1 000  Einwohner  entfielen  im  Jahre  1885  9,1, 
im  Jahre  1890  9,67  Einlagebücher,  was  nicht  nur  eine  sehr 
langsame  Einbürgerung  der  Institution,  sondern  auch  ein 
starkes  Zurückbleiben  hinter  anderen  Bändern  beweist, 
kamen  doch  auf  je  1 000  Einwohner  im  Jahre  1888  in 
Grossbritannien  und  Irland  110,6  in  F rankreich  29,6  in 
Belgien  98,5  und  in  Oesterreich  29,6  Einleger.  Von  den 
Einlegern  waren  im  Jahre  1890  65,5  Männer,  32,9  Frauen, 
der  Rest  juristische  l^ersonen.  Dem  Alter  nach  entfielen 
24,9  % der  Einleger  auf  das  Alter  bis  zu  10  Jahren,  demnach 
auf  Personen,  die  noch  nicht  erwerben  können,  31,8%  ent- 
fielen auf  das  Alter  zwischen  10  und  20  Jahren,  demnach 
auf  Personen,  die  zum  weitaus  grössten  Theil  noch  nicht, 
oder  nur  in  sehr  beschränktem  Masse  selbständig  erwerben 
können,  so  dass  nur  43,3  % im  Alter  voller  und  abnehmender 
Erwerbsfähigkeit  standen.  Der  Beschäftigung  nach  waren 
22,4  n/0  Schüler,  15,3%  Handwerker,  13,2  % Kinder,  8,7  % 
Beamte  und  Soldaten,  4,6  % Personen  mit  liberalen  Beruls- 
arten,  5,1  % Kaufleute.  Leider  ist  in  dem  in  deutscher 
Sprache  vorliegenden  Berichte  über  die  „Wirksamkeit  des 
königlich  ungarischen  Handelsministers  im  Jahre  1890“  die 
Zahl  der  von  Arbeitern,  Taglöhnern,  kaufmännischen  Ge- 
hilfen, Dienstboten  u.  s.  w.  besessenen  Postsparkassenbücher 
nicht  angegeben.  Wir  können  daher  nicht  beuitheilen, 
welche  Bewandniss  es  mit  der  Angabe  des  Berichtes  hat, 

i)  Umgerechnet  zum  Kurse  des  Francs  — 0,47  fl.  ö.  W. 


178 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  14. 


dass  die  grösste  Zunahme  gerade  bei  diesen  Personen  statt- 
gefunden hat.  Aus  der  Thatsache,  dass  für  diese  Gruppen 
keine  Zahlen  angegeben  sind,  müssen  wir  schliessen,  dass 
in  Ungarn  wie  in  Oesterreich  die  Postsparkassen  von  nur 
ganz  geringer  Bedeutung  für  die  Arbeiterklasse  sind. 

Aargauische  Verordnung  betr.  Verkauf  von  Loosen 
in  Raten.  Der  Regierungsrath  des  Kantons  Aargau  hat 
am  25.  März  d.  J.  veranlasst  durch  Erhebungen  des 
statistischen  Bureaus  über  die  vielfachen  Missbrauche  im 
Verkaufe  von  sogenannten  Prämien-  oder  Ratenloosen  auf 
dem  Wege  des  Hausirhandels  (vgl  Sozialpolitisches  Cen- 
tralblatt, No.  13,  Seite  165  fg.)  eine  Vollziehungsverordnung 
genehmigt,  welche  den  Geschäftsbetrieb  auswärtiger  Bank- 
geschäfte im  Kanton  unter  staatliche  Kontrolle  stellt.  Die 
Verordnung  soll  mit  1.  Mai  in  Kraft  treten.  Nach  derselben 
haben  auswärtige  Geschäfte,  welche  im  Aargau  durch  eigene 
Angestellte  Bankgeschäfte  irgend  welcher  Art  betreiben, 
im  Kanton  ein  Rechtsdomizil  zu  verzeichnen  und  unterliegen 
hinsichtlich  der  im  Kanton  betriebenen  Geschäfte  der  gleichen 
staatlichen  Beaufsichtigung  und  Besteuerung  wie  die  aar- 
gauischen Kreditinstitute.  Ferner  wird  der  gewerbsmässige 
Verkauf  von  Ratenloosen  vom  Markt-  und  Hausirverkehr 
ausgeschlossen. 

Bestrebungen  für  reichsgesetzliche  Regelung  des 
Gesinderechtes.  Der  Landtag  von  Sachsen- Weimar  be- 
schloss die  Regierung  aufzufordern,  im  Bundesrathe  aut 
reichsgesetzliche  Regelung  des  Gesinderechtes  hinzuwirken 
und,  wenn  dies  thunlich,  mit  den  anderen  thüringischen 
Staaten  eine  gemeinschaftliche  Gesindeordnung  zu  verein- 
baren. 

Arbeitsnachweis  in  Stuttgart.  Die  älteste  der  gemein- 
nützigen deutschen  Arbeitsvermittelungsanstalten,  das  Stuttgarter 
Btireau  für  Arbeitsnachweis  hat  seinen  27.  Jahresbericht  für 
1891/92  ausgegeben.  Aus  demselben  ist  ersichtlich,  dass  das 
Büreali  im  verflossenen  Jahre  17  634  Gesuche  erledigte,  nämlich 
16  506  Arbeiter-,  Arbeitslehrstellen  und  Lehrlings-  und  1128  Lhiter- 
stützungsgesuche  Für  letzteren  Zweck  wurden  1977  M.  90  Pf. 
verausgabt.  In  auswärtigen  Stellen  fanden  698  Arbeiter  Ver- 
wendung. Seit  seiner  Gründung  wurde  nun  die  sehr  respek- 
table Zahl  von  463  257  Gesuchen  vermittelt.  Das  Lehrlingsver- 
mittelungsgeschäft macht  immer  mehr  Fortschritte,  gegen  504 
Vermittelungen  i.  J.1890  haben  826  i.  J.  1891  stattgefunden  Dass 
ein  reger  Geschäftsverkehr  auf  dem  Btireau  obwaltete,  ist  aus 
dem  Bericht  ersichtlich,  da  ein  Postverkehr  von  6906  Aus-  und 
Eingängen  stattfindet  und  noch  über  12  000  Arbeitsanweisungen 
auszustellen  sind.  Obschon  das  abgelaufene  Geschäftsjahr  kein 
besonders  günstiges  zu  nennen  ist,  konnte  doch  das  Bureau 
seine  Jahresrechnung  ohne  Defizit  abschliessen,  was  aber  nur 
in  Folge  von  Unterstützungen  durch  Industrielle  und  Hand- 
werke möglich  war. 


dadurch,  dass  Reichskanzler  und  Bundesrath  sich 
Vorbehalten  haben,  die  Majorität  der  Mitglieder  (7  von  ■ 
13)  zu  ernennen,  vollkommen  in  der  Gewalt  der 
Regierungen  ist.  Aber  selbst  davon  abgesehen  sind  die  j 
Befugnisse  und  die  Freiheit  der  Bewegung  der  Kommission 
dermassen  auf  das  äusserste  eingeschränkt,  dass  der  letzteren 
nicht  einmal  zu  der  lediglich  begutachtenden  Rolle,  die  ihr 
zugewiesen  ist,  die  Mittel  zugestanden  werden.  Alle  Merk- 
male, welche  die  für  die  Arbeiterstatistik  geschaffenen 
Einrichtungen  des  Auslandes  vorthei lhaft  kennzeichnen, 
fehlen  der  Reichskommission  ausnahmslos,  und  so  kann  , 
man  schon  heute  sagen:  falls  der  unwahrscheinliche  Fall 
überhaupt  eintreten  sollte,  dass  die  Arbeiten  dieser  Kom-  | 
mission  irgend  einmal  ein  erspriessliches  Resultat  haben,  i 
so  wird  dies  nicht  dank  .sondern  trotz  der  ihr  gegebenen  1 
Organisation  der  Fall  sein. 

Lohnfrist en  uiul  Lohnzahlungstage.  Das  Stuttgarter 

Gewerbegericht  beschloss  einstimmig,  an  sämmtliche  Fabrik- 
geschäfte Stuttgarts  das  Ersuchen  zu  richten,  aus  freier!: 
Fntschliessung  die  achttägige  Lohnzahlung  einzuführen  und! 
als  Lohntag  nicht  den  Samstag  zu  bestimmen.  In  den|l 
meisten  Etablissements  wurde  bisher  der  Lohn  alle  14  Tage  1 
am  Samstag  Abend  ausgezahlt. 

Eine  Statistik  des  Pariser  Elends.  Einem  Berichte  I 

des  Vorsitzenden  des  „Oeuvre  de  l’hospitalite  de  nuit“  zu-  : 
folge  haben  die  vier  in  Paris  bestehenden  Nachtasyle  im 
vergangenen  Jahre  102  345  Personen  ein  Obdach  während  l' 
276  936  Nächte  gewährt.  Ihrem  Berufe  nach  zählten  die 
Bodenarbeiter,  d.  i.  Wallgräber,  Landarbeiter,  Gärtner  etc.  j 
die  meisten  Obdachlosen  und  zwar  37  273  Ihnen  folgen  | • 
die  Arbeiter  der  Nahrgngsindustrie:  Fleischhauer,  Bäcker}  I 
etc.  mit  12  723,  die  Metallarbeiter:  Schmiede,  .Schlosser  etjc.'l 
mit  9317,  die  Bauarbeiter:  Maurer,  Anstreicher  etc  mit  j 
6386  Personen,  hierauf  in  absteigender  Linie  die  Holzarbeiter. 
Kleidermacher,  Handelsbediensteten,  Lederarbeiter,  Dienst-  i 
leute,  Buchdrucker,  Kunstarbeiter  und  sodann  die  soge- 
nannten freien  Berufe,  also  geistige  Proletarier.  Von  diesen; 
wurden  beherbergt:  136  Professoren,  77  Lehrer,  26  Jour- 
nalisten, 47  Schriftsteller,  24  Architekten,  60  dramatische , 
und  33  lyrische  Künstler,  54  Musiker  und  213  Advokaten- 
schreiber.  Der  Nationalität  nach  waren  unter  den  102  345 
Obdachlosen  91  866  Franzosen,  während  die  übrige  Zahl. 
10  479,  sich  auf  Deutsche,  Belgier,  Italiener  und  sonstige 
Ausländer  vertheilt. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Arbeiterzustände. 


Reichskommission  für  Arbeiterstatistik.  Die  in  der 

Reichstagssitzung  vom  13.  Januar  d.  J.  angekündigte  Kom- 
mission für  Arbeiterstatistik  hat  nunmehr  ihre  Organisation 
erhalten.  Unter  dem  24.  März  d.  ).  ist  dem  Reichstag  ein 
vom  Bundesrath  festgestelltes  „Regulativ  für  die  Errichtung 
einer  Kommission  für  Arbeiterstatistik“  mit  der  Aufforde- 
rung zugegangen,  gemäss  dem  § 2 des  Regulativs  sechs 
Mitglieder  der  Kommission  zu  wählen.  Das  Letztere  hat 
der  Reichstag  in  seiner  Sitzung  vom  31.  März  gethan,  in- 
dem derselbe  die  Abgeordneten  Dr.  Hartmann  (Konserv.), 
Dr.  Hitze  und  Biehl  (Centrum),  Siegle  (Nationalliberal), 
Dr.  Hirsch  (Freis.)  und  Schippel  (Soz'aldem  ) mit  Akkla- 
mation wählte 

Die  Organisation,  welche  die  nun  geschaffene  Reichs- 
behörde für  Arbeiterstatistik  in  dem  Regulativ  erhalten  hat, 
stimmt  mit  den  Auszügen  überein,  welche  der  Reichsanzeiger 
und  andere  Regierungsorgane  vor  der  Veröffentlichung  des- 
selben gegeben  haben.  Es  trifft  daher  die  Kritik,  welche  wir 
an  der  geplanten  Organisation  üben  mussten  (vgl.  Sozial- 
politisches Centralblatt,  No.  9,  S.  136)  auf  die  nun  in  Wirk- 
samkeit tretende  genau  zu,  und  wir  können  uns  mit  dem 
Hinweis  auf  jene  Ausführungen  begnügen.  In  dieser  Kom- 
mission ist  nicht  eine  unabhängige  Behörde  für  Arbeiter- 
statistik geschaffen  worden,  sondern  ein  Organ,  welches 


Ein  neuei'  Kutsclierstrike  in  Paris.  Kaum  ist  der  Strike 

bei  der  Droschkengesellschaft  „Urbaine“  beendet  und  schon 
ist  ein  neuer  ausgebrochen.  Diesmal  richtet  er  sich  gegen 
einige  kleinere  Unternehmungen  und  zwar  gegen  die  beiden 
Droschkengesellschaften  „A  beide“  und  „Metropolitaine“, 
von  welchen  die  ersten  320,  die  letztere  85  Wagen  besitzt, 
sowie  gegen  fünf  Einzelunternehmer,  die  30 — 100  Drosch- 
ken besitzen.  Die  Ursache  der  Strike  ist  dieselbe:  die  hohen 
Forderungen  der  Unternehmer.  So  verlangen  sie  selbst 
jetzt,  wo  es  weder  Bälle  noch  Fremde  giebt,  der  Droschken- 
verkehr also  ein  verhältnissmässig  schwacher  und  minder 
rentabler  ist,  15 — 16  Frcs.  täglich.  Bei  dieser  Summe  können  i 
nur  die  wenigsten  Kutscher  ihr  Auskommen  finden.  Sie: 
haben  sich  darum  an  das  Syndikat  der  Droschkeninhaber 
um  Herabsetzung  der  geforderten  Tagessumme  gewendet, 
doch  harrten  sie  vergeblich  auf  Antwort  und  griffen  deshalb 
zum  Strike.  Sie  verlangen  einen  Vertrag,  der  ihnen  ent-i 
weder  einen  Minimallohn  von  5 Frcs.  für  einen  zwölf- 
stündigen  Arbeitstag  zusichert  oder  die  Festsetzung  einer! 
von  ihnen  zu  zahlenden  Maximalsumme  enthält,  die  an 
keinem  Tage,  unter  welchen  Umständen  immer,  überschritten 
werden  dürfe.  Ob  die  Kutscher  diesmal  siegreicher  sein 
werden,  ist  fraglich;  was  sollen  sie  aber  thun,  um  ihre  Lage 
zu  verbessern,  da  die  Unternehmer  weder  freiwillig  nach- 
geben, noch  sich  einem  Schiedssprüche  unterwerfen  wollen : 
Sollen  sie  geduldig  ihr  Loos  ertragen  und  sich  willenlos 
fügen?  Wenn  sie  dem  „Journal  des  Debats“  wie  dem  „Temps“ 
Gehör  schenkten,  könnten  sie  freilich  nichts  Besseres  thun, 
denn,  wie  sie  fast  gleichlautend  sagen,  sind  nur  zwei  Fälle 


No.  14. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


179 


möglich:  entweder  die  Unternehmer  siegen  gleich  der 
!Urbaine“  und  dann  werden  alle  E.  tbehrungen  der  Striken- 
en  vergeblich  gewesen  sein,  oder  sie  unterliegen  und  geben 
ire  Unternehmungen  auf,  dann  werden  die  Kutscher  nur 
rössere  Schwierigkeiten  haben,  einen  Platz  zu  finden  und 
lr  Leben  zu  fristen  Ist  aber  kein  anderer  Fall  denkbar? 
Väre  es  den  beiden  Blättern  ernst  mit  ihrer  letzteren  Hy- 
pothese, glaubten  sie  wirklich,  dass  die  Droschkeninhaber, 
alls  sie  den  Forderungen  der  Sinkenden  nachgeben  wollten, 
ezwungen  wären,  ihre  Lhiternehmungen  aufzugeben,  dann 
/ürden  sie,  die  ja  sonst  dem  Schiedsamte  das  Wort  reden, 
lächerlich  ein  solches  zur  Austragung  der  Differenzen 
mpfehlen.  Was  gäbe  es  auch  in  der  That  Einfacheres, 
,1s  aus  den  Büchern  der  Unternehmer  nachzuweisen,  dass 
[s  diesen  unmöglich  sei,  den  an  sie  gestellten  Forderungen 
achzukommen?  Weigern  sie  sich  aber  dies  zu  thun,  dann 
jt  es  nur  ein  Zeichen,  dass  sie  ohne  Gefahr  für  ihre  Unter- 
ehmungen  nachgeben  könnten,  wenn  sie  nur  wollten, 
ind  daraus  folgt,  dass  noch  ein  dritter  Fall  möglich  ist: 
lass  der  Gewinn  der  Droschkenbesitzer  ein  Sinken  in 
em  Masse  verträgt,  der  es  erlaubt,  den  Forderungen  der 
Rutscher  gerecht  zu  werden,  ohne  die  Unternehmungen  zu 
efährden.  Und  diesen  Fall  haben  die  Strikenden  im 
rnge. 

Schweizerischer  Gewerkschaftskongress.  Ein  Kon- 
ress  des  schweizerischen  Gewerkschaftsbundes  tritt  am 
7.  April  in  Aarau  zusammen,  derselbe  wird,  von  unwesent- 
chen  Punkten  abgesehen,  die  Frage  der  obligatorischen 
lerufsgenossenschaften,  der  Arbeits-  und  Lohnstatistik  be- 
andeln  und  soll  ein  bindendes  Strikereglement  feststellen. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Sozialistische  Bauernbewegmig  in  Oesterreich.  In 

Viener-Neustadt  (Niederösterreich)  fand  am  20.  März  d.  J. 
ine  allgemeine  Bauernversammlung  statt,  zu  welcher  mehr 
1s  700  Bauern  aus  den  umliegenden  Ortschaften  erschienen, 
lachdem  Maurermeister  Leitner  (Wiener-Neustadt)  zum 
'orsitzenden  gewählt  worden  war,  ergriff  der  oppositionell- 
pzialdemokratische  Arbeiterführer  Sigmund  Neumann  das 
Vort,  um  die  ökonomische  Lage  der  Bauernschaft  zu  be- 
prechen.  Während  einerseits  der  Grossgrundbesitz  von 
'ag  zu  Tag  im  Anwachsen  begriffen  sei,  sinke  andererseits 
er  Bauernstand  ins  Proletariat  hinab;  die  jüngere  Gene- 
ition  sei  schon  gezwungen,  die  Grossstadt  aufzusuchen 
nd  dort  die  Zahl  der  Arbeitslosen  zu  vermehren.  Die 
inzelnen  politischen  Parteien  versprechen  jederzeit  dem 
lauernstande  aufzuhelfen;  in  solchen  Versprechungen,  die 
iemals  gehalten  werden,  leiste  besonders  die  klerikal-anti- 
emitische  Partei  Grossartiges.  Dabei  drücken  die  christ- 
ch-sozialen  Feudalherren,  die  Lichtenstein  und  Schwarzen- 
erg  durch  ihre  Konkurrenz  die  Preise  herunter,  und  diese 
lerren,  welche  immer  von  christlicher  Nächstenliebe  pre- 
igen,  zahlen  ihren  schwer  geplagten  Arbeitern  20  Kr. 
ageslohn!  Neumann  forderte  schliesslich  die  Bauern 
ufj  sich  der  sozialdemokratischen  Partei  anzuschliessen. 
lauer  Schimak  (Pottendorf)  schilderte  hierauf  in  drasti- 
chen  Worten  die  traurige  Lage  der  Bauernschaft.  »Es 
ann,«  sagte  Schimak)  »nicht  mehr  so  fortgehen, 
vir  sind  nicht  mehr  im  Stande,  die  Steuerlast  zu  er- 
ragen.  Unsere  Angehörigen  leben  nur  von  Erdäpfeln 
nd  Knödeln,  und  nur  einmal  im  Jahr,  am  „Kirtag“,  kommt 
’leisch  auf  unsern  Tisch.  Die  Antisemiten,  ihnen  voran 
,nser  Abgeordneter  Troll,  haben  uns  versprochen,  dass 
ich  unsere  Verhältnisse  verbessern  werden.  Wir  haben 
liesen  Leuten  geglaubt,  aber  wir  sind  schändlich  getäuscht 
|vorden.  Jetzt  wissen  wir,  was  wir  von  diesen  Ver- 
:prechungen  und  von  Volksvertretern  zu  erwarten  haben.« 
Es  sprach  noch  eine  Reihe  von  Rednern,  worauf  schliess- 
ich  eine  Resolution  angenommen  wurde,  in  welcher  der 
Jauernstand  zum  Anschlüsse  an  die  sozialdemokratische 
’artei  und  zur  Bildung  von  sozialistischen  Bauernvereinen 
tufgefordert  wird. 


Kaufmännische  Bewegung. 

Zur  Organisation  der  weiblichen  Angestellten  in 
kaufmännischen  und  Fabrikgeschäften. 

Wie  in  den  rein  industriellen  Unternehmungen,  so 
macht  sich  auch  im  Handelsstande  immer  mehr  das  Bestreben 
geltend,  durch  Beschaffung  möglichst  billiger  Arbeitskräfte 
den  Gewinn  zu  vermehren  oder  der  durch  übermässige 
Konkurrenz  drohenden  Gewinnreduktion  vorzubeugen.  Die 
Beschäftigung  weiblicher  Arbeitskräfte  in  den  Comptoirs  als 
Buchhalterinnen,  Korrespondentinnen,  in  den  Verkaufsläden 
als  Verkäuferinnen  nimmt  fortwährend  zu.  Diese  Erschei- 
nung hat  durchaus  nicht,  wie  hie  und  da  behauptet  wird, 
ihren  Grund  in  den  physischen  und  den  geistigen  Eigen- 
schaften des  weiblichen  Wesens,  welche  sie  zu  den  ange- 
führten Thätigkeiten  in  höherem  Masse  befähigt  als  den 
Mann.  Im  Gegentheil  wird  häufig  über  einen  bei  dem 
herrschenden  weiblichen  Erziehungssystem  leicht  erklär- 
lichen Mangel  an  Gründlichkeit  und  positiven  Kenntnissen 
geklagt.  Wenn  dennoch  die  Beschäftigung  weiblicher  An- 
gestellter in  kaufmännischen  Geschäften  zunimmt,  so  hat 
das  eben  seinen  Grund  in  der  niedrigen  Bezahlung,  die 
alle  anderen  Mängel  mehr  als  ausgleicht.  Es  ist  nicht  zu 
verkennen,  dass  die  Zulassung  der  Frauen  zu  solcher  ge- 
winnbringender Thätigkeit,  die  bisher  nur  dem  männlichen 
Geschlechte  offen  stand,  wie  die  Verhältnisse  nun  einmal 
liegen,  immerhin  einen  Fortschritt  bedeutet,  trotzdem  das 
LTnternehmerthum  diesen  Schritt  nicht  aus  wohlwollender 
Absicht  für  das  weibliche  Geschlecht  gethan  hat.  Aber 
wohin  müssen  wir  schliesslich  dabei  gelangen? 

Je  stärker  die  Konkurrenz  der  Unternehmer  selbst 
wird,  je  mehr  also  der  Reingewinn  derselben  sich  verringert, 
desto  niedriger  wird  auch  das  den  Angestellten  gewährte 
Entgelt,  und  je  heftiger  der  Wettbewerb  zwischen  männ- 
lichen und  weiblichen  Handlungsgehilfen  wird,  auf  ein 
desto  niedrigeres  Niveau  wird  auch  die  Lebenshaltung 
dieser  gedrückt.  Da  das  Angebot  weiblicher  Kräfte  sich 
stets  erhöht  und  bei  dem  Ueberwiegen  der  weiblichen  Be- 
völkerung sich  erhöhen  muss,  nachdem  einmal  der  Kampf 
eingeleitet  ist,  so  wird  die  Bezahlung  der  männlichen  Be- 
werber progressiv  sinken  müssen.  Doch  auch  die  Bezahlung 
der  weiblichen  Kräfte  wird  dasselbe  Schicksal  nothwendig 
erfahren.  Denn  da  man  männliche  Personen  wegen  ihrer 
grösseren  Leistungsfähigkeit  noch  immer  lieber  anstellt,  so 
werden  die  weiblichen  Bewerber,  falls  sie  Berücksichtigung 
finden  sollen,  mit  ihren  Ansprüchen  noch  weiter  herunter- 
gehen müssen. 

Die  geradezu  unmoralisch  schlechte  Bezahlung  der 
Verkäuferinnen  in  Konfektionsgeschäften  ist  ja  bekannt.  Es 
kommen  aber  auch  garnicht  vereinzelt  Fälle  vor,  in  denen 
z.  B.  Verkäuferinnen  einem  Gehalt  beziehen,  welcher  kaum 
zur  Bestreitung  der  Ausgaben  für  Kost  und  Wohnung  reicht, 
und  dabei  wird  oft  eine  Arbeitszeit  von  8 Uhr  früh  bis  9 oder 
10  Uhr  abends  bei  nur  einstündiger  Mittagspause  verlangt. 
Dass  Buchhalterinnen  und  Korrespondentinnen  ein  Monats- 
gehalt von  30  bis  40  M.  beziehen,  ist  auch  nichts  Seltenes. 
Vielleicht  erscheinen  manche  Gehälter  in  solchen  Fällen  er- 
träglich, wo  die  Mädchen  bei  ihren  Eltern  wohnen.  Keines- 
falls aber  wird  man  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  die  Be- 
zahlung als  ein  Aequivalent  für  die  Leistung  ansehen  können, 
und  die  Ausnutzung  der  Arbeitskraft  in  diesem  Grade 
bleibt  weit  hinter  dem  zurück,  was  unsere  Gesellschaft  als 
das  niedrigste  Mass  von  Menschlichkeit  und  Sittlichkeit  be- 
zeichnet. 

Und  dazu  kommt  die  Einbürgerung  der  Unsitte,  für 
weibliche  Angestellte  eine  möglichst  kurze  Kündigungsfrist 
festzusetzen.  "Vielfach  bildet  sogar  die  tägliche  Kündigung 
die  Regel.  In  einer  Beziehung  sind  die  Verhältnisse  der 
männlichen  und  weiblichen  Handlungsgehilfen  sogar 
schlimmer  als  die  der  Fabrikarbeiter.  Diese  bekommen 
nach  der  Arbeitszeit  bezahlt,  und  Ueberstunden  müssen  also 
vergütet  werden.  Die  Handlungsgehilfen  haben  aber  die 
kontraktliche  Verpflichtung,  in  der  sogenannten  Saison  und 
bei  der  Inventur  oft  15  und  mehr  Stunden  zu  arbeiten,  ohne 
einen  Anspruch  auf  Vergütung  zu  besitzen.  Was  für  die 
Mehrarbeit  etwa  gewährt  wird,  hängt  lediglich  von  dem 
Wohlwollen  des  Chefs  ab.  Freilich  hängt  dieser  Uebelstand 
mit  dem  Mangel  einer  gesetzlichen  Maximalarbeitszeit  zu- 
sammen. 

Sollen  sich  die  Verhältnisse  nicht  noch  weiter  in  dieser 
Weise  entwickeln,  so  muss  eine  Organisation  der  weiblichen 


180 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  14. 


Angestellten  stattfinden,  welche  das  Ziel  verfolgt,  zunächst 
einer  noch  grösseren  Ausnutzung  der  Arbeitskraft  einen 
Damm  entgegenzusetzen  und  sodann  bessere  Existenzbe- 
dingungen zu  erlangen.  Damit  müsste  ein  Stellennachweis 
verbunden  werden,  der,  geschickt  organisirt,  eine  nicht  zu 
unterschätzende  gewerkschaftliche  Waffe  wäre.  Selbstver- 
ständlich würde  ein  solcher  Verband  auch  die  Direktricen, 
Zuschneiderinnen,  Expedientinnen  in  Fabrikgeschäften  etc. 
umfassen  müssen. 

Bei  den  weiblichen  Angestellten  ist  das  Zusammen- 
gehörigkeitsgefühl bedauerlicherweise  noch  weit  weniger 
stark  ausgeprägt  als  bei  den  männlichen.  Nachlässigkeit, 
Gleichgiltigkeit  und  der  Mangel  eines  auf  das  Weite  ge- 
richteten Blickes  erschweren  die  Bildung  der  oben  ange- 
deuteten Organisation.  Man  verstehe  diese  Organisation 
nicht  als  eine  Kampfverbindung  auf  jeden  Fall,  denn  es 
können  viele  Zugeständnisse  auf  friedliche  Weise  erlangt 
werden;  aber  es  muss  eben  eine  Macht  da  sein,  die  durch 
ihre  Stärke  imponirt.  Sie  müsste,  sei  es  auf  dem  Wege 
der  Unterhandlung  oder  in  offenem  Kampfe  die  Anstellungs- 
bedingungen nach  der  Richtung  besserer  Bezahlung  und 
geringerer  Arbeitszeit  vor  allen  Dingen  zu  regeln  suchen. 
Auch  die  Einwirkung  auf  ein  unabhängiges  Verhältniss 
zwischen  Chef  und  Angestellten  dürfte  nicht  vergessen  wer- 
den. Hier  ist  ja  überhaupt  ein  wunder  Punkt,  aer  so  rasch 
als  möglich  geheilt  werden  muss.  Die  materielle  Zwangslage 
des  unkundigen,  leicht  zu  bethörenden  Mädchens  bringt 
dieses  recht  häufig  in  ein  nicht  bloss  geschäftliches  Ab- 
hängigkeitsverhältniss  zum  Chef,  das  nothwendiger  Weise 
am  Ende  zur  Prostituirung  führt. 

Bevor  eine  nach  der  angegebenen  Richtung  zielbe- 
wusst hinstrebende  Organisation  eintritt,  mag  wohl  lange 
Zeit  vergehen,  denn  sie  findet  ihr  Hinderniss  nicht  bloss  in 
dem  engen  Gesichtskreis  der  weiblichen  Angestellten  selbst 
sondern  auch  in  der  philiströsen  Engherzigkeit  von  Eltern 
und  Vormündern.  Aber  ein  Anfang  muss  gemacht  werden. 
Und  vielleicht  ist  er  bereits  gemacht. 

Seit  Oktober  1 890  besteht  in  Berlin  der  „kaufmännische 
und  gewerbliche  Hilfsverein  für  weibliche  Angestellte“,  der 
soeben  seinen  zweiten  Jahresbericht  versendet.  Der  Verein 
zählte  bei  der  Aufstellung  des  Berichtes  1672  Mitglieder, 
also  immerhin  eine  ganz  respektable  Ziffer.  Der  Jahres- 
beitrag beläuft  sich  auf  6 M.  pro  Person.  In  dem  Kalender- 
jahr 1891  gingen  8820,50  M.  an  Beiträgen  ein.  Die  Zwecke 
des  Vereins  sind  dieselben  wie  die  der  Vereine  männlicher 
Handlungsgehilfen,  also:  Stellungsnachweis,  Krankenhilfe 
und  Unterstützung  bei  Stellenlosigkeit,  Errichtung  einer 
kaufmännischen  Fortbildungsschule,  Einführung  von  Unter- 
haltungs-  und  Vortragsabenden  und  unentgeltliche  Rechts- 
hilfe. Für  Arzneien,  Aerztehonorar,  Verpflegung  in  Kranken- 
häusern wurden  rund  6930  M.  verausgabt.  Die  Stellenver- 
mittelung und  die  Fortbildungsschule,  trotzdem  die  letztere 
sich  eines  regen  Besuches  erfreute,  erforderte  Zuschüsse 
von  über  3000  M.  Die  Mehrausgaben  wurden  gedeckt 
durch  die  Beiträge  ausserordentlicher  Mitglieder,  d.  h.  einer 
grösseren  Anzahl  von  Firmen,  welche  unter  Billigung  der 
Vereinszwecke  eine  nach  Belieben  festzusetzende  Summe 
zahlen.  Diese  Beiträge  beliefen  sich  im  Kalenderjahr  1891 
auf  5532  M.  Ausserdem  erhält  der  Verein  vom  Aeltesten- 
kollegium  der  Kaufmannschaft  in  Rücksicht  auf  die  Auf- 
wendungen für  die  Fortbildungsschule  500  M.  Nun  wird  ja 
jetzt  für  den  Fortbestand  des  Vereins  gefürchtet,  da  die 
Krankenkassennovelle  den  Versicherungszwang  auch  auf 
die  kaufmännischen  Angestellten  ausdehnt,  eine  sehr  grosse 
Anzahl  der  Mädchen  aber  lediglich  der  Krankenunterstützung 
wegen  dem  Verein  angehört.  Zur  Illustration  dieser  That- 
sache  möge  die  Angabe  dienen,  dass  784,  also  fast  die  Hälfte 
aller  Mitglieder  ärztliche  Hilfe  in  Anspruch  genommen 
haben.  Doch  hofft  man,  der  Gefahr  einer  Verminderung 
der  Vereinsmitglieder  durch  Gründung  einer  freien  Hilfs- 
kasse zu  begegnen. 

Wie  viel  Gutes  der  Verein  auch  jetzt  leistet,  zweifel- 
los wird  er  in  der  gegenwärtigen  Verfassung  jene  Aufgabe 
nicht  zu  erfüllen  im  Stande  sein,  die  wir  vorher  als  im 
Interesse  der  weiblichen  Angestellten  liegend  vorgezeichnet 
haben.  Die  Rücksicht  aut  die  Wohlthaten  der  ausser- 
ordentlichen Mitglieder  wird  immer  ein  gewisses  Hemmnis 
bedeuten.  Doch  mag  wohl  mit  der  Zeit  auch  hier  eine 
Besserung  eintreten.  Eine  Erhöhung  der  Beiträge  und  eine 
Einschränkung  der  Ausgaben  namentlich  für  Drucksachen 
würde  am  besten  helfen.  Aber  von  grundlegender  Be- 
deutung' für  die  zukünftige  Gestaltung  einer  gewerkschaft- 
lichen Organisation  auch  für  die  weiblichen  in  Handlungs- 


geschäften  thätigen  Personen  ist  das  Erwachen  des  Zu- 
sammengehörigkeitsgefühls, welches  die  Gründung  eines 
Vereines  überhaupt  verursacht  hat.  Leider  hat  das  Beispiel 
Berlins  noch  keine  Nachahmung  gefunden,  und  doch  hätte 
dies  nach  dem  geradezu  glänzenden  Erfolg  einer  wenn  auch 
für  ihre  höchste  Aufgabe  mangelhaften  Organisation  erwartet 
werden  dürfen.  Wir  stehen  hier  vor  einem  der  wichtigsten 
The.ile  der  sozialen  Frage,  denn  die  Stellung  der  Frau  ist 
ausschlaggebend  für  die  physische  und  auch  für  die  geistige 
Entwickelung  eines  Volkes.  Gerade  dem  in  einem  Berufe 
ausserhalb  der  engen  Sphäre  des  Hauses  stehenden  Weibe 
fällt  vor  Allem  die  Aufgabe  zu,  die  praktische  Lösung  dieser 
Frage  zu  fördern.  Hilfst  du  dir  nicht  selbst,  so  hilft  dir 
Niemand. 

Berlin.  J.  Silber  mann. 


Unternehmerverbände. 


Ein  neuer  Kupferring.  Das  Zustandekommen  einer 
freien  Vereinigung  aller  grösseren  Kupferminen  der  Welt 
behufs  Regelung  der  Produktion  nach  dem  Konsum  und 
Festsetzung  des  Kupferpreises  auf  ein  rentables  Niveau  ist 
im  Grossen  und  Ganzen  gesichert.  Die  europäischen  Minen 
sind  unter  sich  vollkommen  einig  und  haben  ihre  Propo- 
sitionen den  amerikanischen  Bevollmächtigten  unterbreitet, 
deren  definitive  Antwort  noch  aussteht.  Amerika  ist  auf 
das  Zustandekommen  der  Konvention  angewiesen,  weil  die 
dortigen  Minen  sich  in  kapitalsschwachen  Händen  befinden, 1 
und  bei  den  jetzigen  Kupferpreisen  dort  thatsächlich  mit 
Verlust  gearbeitet  wird.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass 
die  Kupferpreise,  sobald  das  Zustandekommen  der  Kon- 
vention publizirt  wird,  erheblich  steigen  werden. 

Verein  anhaitischer  Arbeitgeber.  Nach  dem  in  seiner. 

I kürzlich  stattgefundenen  5.  Generalversammlung  in  Dessau  er-! 
statteten  Bericht  hat  der  Verein  der  anhaitischen  Arbeitgeber  eine' 
Mitgliederzahl  von  58  mit  8557  Arbeitern  Die  Ende  1891  unter 
Mitwirkung  des  anhaitischen  Arbeitgebervereins  in  Berlin  errich- 
tete Centralstelle  für  Arbeiter- Wohlfahrtseinrichtungen,  die  vom 
preussischen  Staate  unterstützt  wird,  ist  nach  demselben  geeig- 
net, die  Bestrebungen  des  Vereins  in  die  weitesten  Kreise  zu  . 
tragen.  Desgleichen  habe  die  Vereinigung  der  dessauer  Mit-'; 
glieder  zu  gemeinsamer  Krankenpflege  ihrer  Arbeiter  unter 
Mitwirkung  von  Diakonissen  einen  weiteren  Aufschwung  ge-j 
nommen.  Das  Vermögen  des  Vereins  belief  sich  am  Schluss^ 

1891  auf  953  M.  38  Pf.,  und  wiederum  wurde  ein  Jahresbeitrag  für 

1892  von  10  Pf.  für  jeden  beschäftigten  Arbeiter  festgesetzt.  I 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Die  Ausführung  der  deutschen  Gewerbeordnung 
vom  i.  Juni  1891. 

Mit  dem  1.  d.  Mts.  ist  der  Haupttheil  des  reformirten 
deutschen  Gewerberechtes  in  Kraft  getreten;  an  der  behörd- 
lichen Ausführung  liegt  es  nun,  die  geringen  Fortschritte, 
welche  die  neue  Gewerbeordnung  namentlich  für  den 
Arbeiterschutz  bedeutet,  so  energisch  zum  Ausdruck  zu 
bringen,  dass  wenigstens  innerhalb  der  leider  allzu  eng  ge- 
zogenen gesetzlichen  Grenzen  der  volle  Ernst  der  Sache 
zur  Geltung  kommt;  und  zwar  zur  Geltung  kommt  bis  in 
die  untersten  Instanzen.  Die  deutsche  Verwaltung  wird 
sich  hier  ein  Lob  zu  verdienen  haben , das  man  ihr 
bisher  etwas  zu  verschwenderisch  in  Oesterreich  spendete. 
In  Oesterreich  stände  viel  Arbeiterschutz  auf  dem  Papiere, 
so  sagte  man  dort,  aber  er  werde  nicht  ausgeführt  in 
Deutschland  sei  weniger  vorgeschrieben,  aber  was  \ or- 
schrift  sei,  werde  mit  peinlicher  Genauigkeit  in  die  Praxis 
' umgesetzt.  Es  ist  den  deutschen  Verwaltungen  sogar 
einigermassen  leicht  gemacht,  dieses  Lob  zu  verdienen, 
und  zwar  durch  die  Theilung  der  Arbeit,  welche  dadurch 
herbeigeführt  wird,  dass  die  gewerbliche  Sonntags- 
ruhe noch  gar  nicht  in  Kraft  tritt,  bezüglich  der  kaut- 


No.  14. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


181 


männischen  Sonntagsruhe  vorläufig  durch  kaiserliche  Ver- 
ordnung mit  Zustimmung  des  Bundesrathes  nur  die  Be- 
stimmungen in  Kraft  gesetzt  sind,  welche  die  Orts-  und 
Polizeibehörden  zur  Vorbereitung  der  nöthigen  Vorschriften 
ermächtigen,  und  auch  für  jugendliche  Arbeiter,  weh' he 
vor  dem  1.  Juni  1891  bereits  beschäftigt  waren,  die  bis- 
herigen Bestimmungen  bis  zum  I.  April  1894  bestehen 
bleiben.  Es  gelangt  also  vom  1.  April  d.  J.  ab  nur  soviel 
Neues  zur  Durchführung,  als  wirklich  mit  peinlicher  Ge- 
wissenhaftigkeit bis  in  das  kleinste  Etablissement  durchge- 
führt werden  kann. 

Die  Ausführung  der  reformirten  Gewerbeordnung  be- 
dingte allerdings  eine  Anzahl  neuer  Verfügungen  auch  in 
materieller  Hinsicht.  Gemeint  sind  die  Vorschriften,  welche 
nach  § 139  a der  Bundesrath  über  die  Beschäftigung  von 
jugendlichen  und  weiblichen  Arbeitern  gewisser  Fabri- 
kationszweige erlassen  kann.  Die  hierher  gehörigen  Be- 
kanntmachungen wurden  vom  „Sozialp.  Centralbl.“  in  den 
letzten  Wochen  jedes  Mal  sofort  nach  Erscheinen  ihrem 
wesentlichen  Inhalte  nach  wiedergegeben;  eine  kurze  Zu- 
sammenfassung derselben  mag  nicht  unangebracht  erschei- 
nen. Bei  der  Vergleichung  mit  dem  bisher  bestehenden  Rechte 
ergiebt  sich  zunächst,  dass  in  Walz  - und  Hammerwerken 
der  Ausschluss  der  Kinder  unter  14  Jahren , sowie  der 
Arbeiterinnen  vom  „unmittelbaren  Betrieb“  und  die  Vor- 
schrift eines  ärztlichen  Zeugnisses  für  erstere  beibehalten 
werden,  ebenso  die  Begrenzung  der  täglichen  effektiven 
Arbeitszeit  für  dieselben  auf  10  Stunden,  der  wöchent- 
lichen auf  60  Stunden.  Dagegen  soll  durch  den  Wegfall  der 
Bestimmung,  dass  von  der  Gesammtdauer  der  Beschäftigung 
innerhalb  zweier  Wochen  in  die  Nachtzeit  nicht  mehr  als 
60  Stunden  fallen  dürfen,  die  Einführung  von  drei  je  acht- 
stündigen Schichten  ermöglicht  und  die  Nachtarbeit  der 
jungen  Leute  in  grösserem  Massstabe  erlaubt  worden,  was 
selbstverständlich  einen  Rückschritt  im  Arbeiterschutz  be- 
deutet. Für  Glashütten  sind  durch  Bekanntmachung  vom 
11.  März  1892  neben  einigen  neuen  Beschränkungen  der 
Frauen-  und  jugendlichen  Arbeiter  die  Bestimmungen  über 
die  Nachtarbeit  der  jungen  Leute  ähnlich  nach  rückwärts 
revidirt,  wie  bei  Walz-  und  Hammerwerken.  Von  einer 
Abänderung  der  Bekanntmachung,  betreffend  die  Beschäf- 
tigung jugendlicher  Arbeiter  in  Spinnereien  (vom  20.  Mai 
1879)  ist  Nichts  bekannt  geworden.  Durch  die  abgeänderte 
Bekanntmachung  vom  17.  März  1892,  Steinkohlenberg- 
werke mit  doppelter  Arbeitsschicht  betreffend,  ist  neu 
zugelassen,  dass  für  männliche  jugendliche  Arbeiter  (14  bis 
16  Jahren)  an  Tagen  vor  Sonn-  und  Feiertagen  die  Schicht 
bereits  um  4 Uhr  Morgens  (!!),  statt  5 Uhr  wie  sonst,  beginnen 
darf.  Dagegen  ist  auch  für  Steinkohlenbergwerke  ohne 
doppelte  Arbeitsschicht  die  Beschäftigungsdauer  jener  Ar- 
beitskategorie auf  6 Stunden  täglich  (ohne  Pausen)  neu 
beschränkt.  Aus  der  neuen  Bekanntmachung  vom  1 1 . März 
1892,  Drahtziehereien  mit  Wasserbetrieb  betreffend, 
fällt  namentlich  auf,  dass  die  Nachtarbeit  der  jugendlichen 
männlichen  Arbeiter  noch  etwas  mehr  (auf  10  Stunden)  ein- 
geschränkt wird.  Durchwegs  neu  sind  schliesslich  folgende 
Zusatzbekanntmachungen  zur  Gewerbeordnung.  Auf  Stein- 
kohlenbergwerken, Zink-  und  Bleierzbergwerken,  sowie 
Kokereien  des  Regierungsbezirks  Oppeln  gelten  bis  zum 
I.  April  1902  weder  der  Maximalarbeitstag  noch  das  Verbot 
der  Nachtarbeit  für  Arbeiterinnen  (Bekanntmachung  vom 
24.  März  1892).  Aehnlich  sind  diese  Schutzbestimmungen 
vorläufig  ausser  Kraft  gesetzt  für  die  Arbeiterinnen  in 
Rohrzuckerfabriken  und  Zuckerraffinerien  durch 
Bekanntmachung  vom  24.  März  1892,  wenn  auch  die  Be- 
schäftigung von  weiblichen  und  jugendlichen  Arbeitern  in 
einzelnen  Räumen  jener  Anlagen  ganz  verboten  ist,  aller- 
dings wieder  mit  Ausnahme  bis  zum  1.  April  1893.  Endlich 
enthält  eine  Bekanntmachung  vom  17.  März  1892  das  Verbot 
der  Beschäftigung  von  weiblichen  und  jugendlichen  Arbeitern 
in  den  Darrräumen  der  Cichorienfabriken.  Der  gemein- 
same Zug  der  meisten  dieser  materiellen  Zusatzbestim- 
mungen ist:  Erhaltung  der  Frauenarbeit  ohne  die  neuen 
Beschränkungen,  theilweise  Ausdehnung  der  Nachtarbeit 
jugendlicher  Personen,  aber  nirgends  durchgreifende 
neue  Beschränkungen  auch  nur  der  jugendlichen  Arbeit! 

Die  einheitliche  formale  Ausführung  sämmtlicher  neuen 
Vorschriften  wird  nun  in  Preussen  gesichert  durch  eine  An- 
weisung des  Handelsministers  an  die  Unterbehörden  vom 
26.  Februar  d.  J.,  welche  bereits  in  der  letzten  Nummer 
dieser  Zeitschrift  erwähnt  und  theilweise  besprochen  wurde. 
Die  dort  befindliche  Mittheilung,  dass  diese  Anweisung  nur 
theilweise  veröffentlicht  sei,  bezog  sich  auf  die  Veröffent- 


lichung im  „Reichsanzeiger“.  Ganz  veröffentlicht  ist  die 
Anweisung  als  billige  Broschüre  mit  Formularen  bei  Fr. 
Kortkampf  in  Charlottenburg.  Interessante  Einzel  Vorschriften 
daraus  über  die  Prüfung  von  Arbeitsordnungen  durch  die 
Unterbehörden  wurden  bereit  mitgetheilt.  Bei  der  Lohn- 
zahlung ist  ausgeführt,  dass  die  Erlaubniss  zur  Auszahlung 
in  Gastwirthschaften  und  Verkaufsstellen  für  grössere  Bau- 
ten und  ständige  Betriebe  niemals  zu  ertheilen  ist,  und 
auch  sonst  nur  dann,  wenn  Fürsorge  dafür  getroffen  ist, 
dass  die  Arbeiter  nicht  zur  Entnahme  von  Speisen,  Ge- 
tränken oder  Waaren  verleitet  werden.  Für  den  Erlass  von 
Sicherheitsvorschriften  in  gewerblichen  Anlagen  wird  die 
Verständigung  mit  dem  Gewerbeaufsichtsbeamten  vorge- 
schrieben. Die  Frist  zur  Erstattung  der  Anzeigen,  dass 
und  wieviel  Arbeiterinnen  in  einer  Fabrik  beschäftigt  wer- 
den, ist  bis  zum  16.  d.  M.  festgesetzt.  Nicht  unbedenklich 
sind  auf  Seite  22  ff.  die  Anweisungen,  nach  denen  bei  Ge- 
stattung von  Ausnahmen  für  gewisse  Fabrikationszweige 
bezüglich  der  Arbeitspausen  für  die  geschützten  Arbeits- 
kategorien verfahren  werden  soll.  „Rücksichten  auf  die  Ar- 
beiter“ sollten  nur  von  selbst,  nicht  von  den  Unternehmern 
geltend  gemacht  werden  können.  Im  Laufe  der  Monate 
Mai  bis  Juli  dieses  Jahres  sollen  die  Ortspolizeibehörden 
eine  allgemeine  Revision  aller  gewerblichen  Anlagen  vor- 
nehmen, um  zu  sehen,  wie  weit  die  neuen  Vorschriften  in 
der  Praxis  verwirklicht  sind.  Sehr  nothwendig  war  die 
Vorschrift,  dass  alle  ortsstatutarischen  Bestimmungen  der 
Centralstelle  in  Berlin  mitzutheilen  sind.  Bisher  hatte  man 
an  dieser  Stelle  überhaupt  keine  Uebersicht  über  die  vor- 
handenen Ortsstatute.  Engherzig  erscheint  die  Vorschrift, 
dass  die  Auswahl  solcher  Gewerbetreibenden  und  Arbeiter, 
die  nach  § 145  der  G.-O.  über  ortsstatutarische  Bestimmun- 
gen vorher  zu  hören  sind,  vorzugsweise  „aus  den  Beisitzern 
der  Gewerbegerichte,  der  Schiedsgerichte  der  Berufsge- 
nossenschaften, der  Arbeiterausschüsse  oder  aus  den  Vor- 
standsmitgliedern der  Orts-,  Betriebs-,  Bau-  und  Innungs- 
krankenkassen, sowie  der  Knappschaftskassen“  getroffen 
werden  soll.  Die  Uebergehung  der  freien  Hilfskassen  und 
der  Fachvereine  in  dieser  Liste  erscheint  uns  kleinlich. 

Schliesslich  gehen  neben  diesen  behördlichen  Mass- 
nahmen zur  Ausführung  der  neuen  Gewerbeordnung  eine 
Reihe  privaten  Arbeiten,  welche  die  Einführung  der  nun- 
mehr obligatorischen  Arbeitsordnungen  in  Fabriken  för- 
dern und  erleichtern  wollen.  Vor  uns  liegen  nicht  weniger 
als  drei  besondere  Schriften,  welche  diesem  Zwecke  dienen. 
Die  weitschichtigste  ist  diejenige  von  R.  Platz,  kgl.  Ge- 
werbeinspektor: „Rathgeber  für  den  Entwurf  von  Arbeits- 
ordnungen“ (Berlin  1892,  R.  Oppenheim).  Hier  wird  neben- 
bei ein  Haupttheil  der  neuen  Gewerbevorschriften  kurz  er- 
läutert, sowie  für  Arbeiterausschüsse  und  Betriebskranken- 
kassen Propaganda  gemacht.  In  ganz  origineller  V eise 
sind  die  Bestimmungen  100  älterer  „bewährter“  Arbeits- 
ordnungen systematisch  und  statistisch  zusammengestellt; 
man  ersieht  hieraus  die  ungeheure  Reichhaltigkeit  des  Straf- 
gesetzbuches für  Fabriken,  welches  die  Unternehmer  „durch 
freie  Vereinbarung“  eingeführt  haben.  Die  Mehrzahl  dieser 
älteren  Arbeitsordnungen  enthält  Strafbestimmungen,  viel- 
fach überschreitet  die  Höhe  der  festgesetzten  Geldstrafen 
das  nunmehr  zulässige  Mass,  und  durchaus  nicht  immer  war  der 
Verwendungszweck  der  Strafgelder  angegeben.  Der\  ertassei 
dürfte  Recht  haben,  wenn  er  sagt,  dass  „alle  bestehenden 
Arbeitsordnungen  mit  ganz  wenigen  Ausnahmen,  eine  Ab- 
änderung erfahren  müssen.“  Aber  er  hat  sich  durch  das 
Detailstudium  dazu  verleiten  lassen,  immer  noch  auf  die 
Ausführlichkeit  der  Arbeitsordnung  einen  gewissen  Werth 
zu  legen,  und  seine  „Muster“  sind  in  der  Hauptsache  viel 
zu  weitschweifig  und  polizeimässig.  In  einem  dieser  „Muster“ 
findet  sich  z.  B.  folgende  Vorschrift,  welche  den  Geist  des 
Verfassers  verräth:  § 49.  „Während  der  Lohnauszahlung  ist 
die  grösste  Ruhe  und  Ordnung  geboten.  Den  Anordnungen 
der  auszahlenden  Beamten  ist  streng  Folge  zu  leisten.  Die 
Auszahlung  des  Lohnes  erfolgt  nur  an  den  empfangsberech- 
tigten Arbeiter  selbst.  Wer  sich  beim  Namensaufruf  unbe- 
fugt zur  Empfangnahme  der  Löhne  meldet,  . . . hat  eine 
Geldstrafe  zu  gewärtigen.“  Das  möchte  von  recht  wenig 
Fabriken  nachgeahmt  werden!  Aehnlich  breit  und  ausführ- 
lich gehalten  ist  das  in  der  zweiten  uns  vorliegenden 
Schrift  mitgetheilte  Muster:  „Normal- Arbeitsordnung  etc. 

Festgestellt  vom  Linksrheinischen  Verein  für  Gemeinwohl. 
Mit  Einleitung  und  Erläuterungen  von  Fr.  Hitze  (Köln  1892, 
Bachem).“  Aber  hier  geht  die  Breite  nach  einer  anderen 
Richtung:  ein  grosser  Abschnitt  enthält  allgemeine  (sittliche) 
Bestimmungen,  die  sich  u.  A.  gegen  die  Absingung  anstössiger 


182 


SOZI ALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  14. 


Lieder  und  die  öffentliche  Verhöhnung  von  Religion  und  guter 
Sitte  im  Betriebe  wenden,  unverheirathete  minderjährige 
Arbeiter,  die  ausserhalb  des  elterlichen  Hauses  Wohnung 
nehmen,  mit  Kündigung  bedrohen  u.  s.  w.  Weit  den  Vor- 
zug vor  diesen  Schriften  scheint  uns  folgende  Dritte  zu 
verdienen:  „Wegweiser  zur  Aufstellung  von  Arbeitsord- 

nungen. Zum  Gebrauche  für  Behörden,  Arbeitgeber  und 
Arbeiter.  Von  Dr.  von  Rüdiger,  Regierungs-  und  Ge- 
werberath (Berlin,  C.  Heymann).“  Die  hier  an  letzter  Stelle 
mitgetheilte  Arbeitsordnung  für  eine  Maschinenfabrik,  die 
immer  noch  etwas  gekürzt  werden  kann,  entspricht  billigen 
Anforderungen  an  die  gerechte  Formulirung  bis  auf  den  Ab- 
schnitt über  Strafen  noch  am  meisten,  soweit  dies  nach  Lage 
der  Sache  überhaupt  möglich  ist.  Der  Verfasser  sagt  u.  A.: 
„Ueberhaupt  hatten  alle  bisherigen  Arbeitsordnungen  mehr 
oder  weniger  den  Charakter  von  einseitigen,  durch  die  Will- 
kür des  Arbeitgebers  diktirten  Dienstordnungen  und  waren 
weit  entfernt  von  einem  aus  freier  Uebereinkunft  ge- 
schlossenen Arbeitsvertrage.“  Er  bemüht  sich,  durch  seine 
Winke  diesen  hässlichen  Charakter  der  Arbeitsordnungen 
zu  beseitigen,  und  sein  „Rathgeber“  wird  hoffentlich  im  Inter- 
esse des  elementarsten  sozialen  Friedens  häutig  praktisch 
benutzt. 

So  ist  ein  ungeheurer  behördlicher  und  privater  Appa- 
rat in  Thätigkeit,  um  in  diesen  Tagen  die  an  sich  so  gering- 
fügigen Neuerungen  der  revidirten  deutschen  Gewerbeord- 
nung in  die  Praxis  überführen  zu  helfen.  Vielleicht  ergiebt 
sich  aus  der  Bewegung  dieses  grossen  Apparates  zu  so 
kleinem  Zwecke  wenigstens  sehr  bald  auch  für  diejenigen, 
welche  sich  ihr  bisher  verschlossen,  die  Ueberzeugung,  dass 
die  aufgewandte  Mühe  doch  eigentlich  eines  höheren  Zieles 
werth  wäre,  und  dass  die  jetzige  Reform  nur  eine  kleine 
Abschlagszahlung  auf  einen  grossen  Schuldrest  bildet. 


Die  achtstündige  Schicht  für  Bergarbeiter  im 
englischen  Parlament. 

Am  23.  März  fand  im  englischen  Unterhause  eine 
Verhandlung  statt,  die,  obwohl  sie  keine  praktischen  Resul- 
tate zeitigte,  doch  von  grösster  Bedeutung  für  die  soziale 
Entwickelung  des  vereinigten  Königreiches  sein  wird.  Es 
handelte  sich  um  einen  Antrag,  die  achtstündige  Schicht 
für  alle  unter  Tage  beschäftigten  Bergarbeiter  durch  Ge- 
setz einzuführen.  Es  ist  dies  ein  alter  Wunsch  des  über- 
wiegenden Theils  der  englischen  Bergleute. 

Seit  1887  kehrt  der  Antrag,  die  Arbeitszeit  der  Berg- 
arbeiter zu  beschränken,  im  Hause  der  Gemeinen  wieder. 
(Vgl.  hierüber  Sidney  Webb  und  Plarold  Cox,  The  eight 
hours  day,  p.  221.)  Aber  noch  niemals  hatte  der  Antrag 
eine  so  starke  Unterstützung  gefunden,  als  bei  der  letzten 
Verhandlung.  Der  Vorschlag,  zur  zweiten  Lesung  zu 
schreiten,  fiel  mit  272  gegen  160  Stimmen. 

Die  Debatte  bot  sehr  interessante  Momente,  ohne  dass 
man  behaupten  kann,  dass  die  Frage  erschöpfend  behandelt 
wurde.  Hätte  es  sich  um  eine  endgültige  Entscheidung, 
nicht  um  ein  Schaugericht  für  die  bevorstehenden  Wahlen 
gehandelt,  so  wären  von  beiden  Seiten  wuchtigere  Argu- 
mente in’s  Feld  geführt  worden.  So  kämpften  die  Gegner 
der  gesetzlichen  Beschränkung  der  Schichtdauer  mit  all- 
gemeinen Redensarten,  mit  Behauptungen,  dass  ein  der- 
artiger Eingriff  ökonomisch  „ungesund“  sei,  dass  er  zum 
Sozialismus  führe  und  ähnlichen,  leicht  zurückzuweisenden 
Einwänden.  Andere  Mitglieder  des  Hauses  verhielten  sich 
aus  Opportunitätsgründen  ablehnend.  So  erklärte  der  be- 
kannte Mr.  Mundella.,  dass  er  als  Mitglied  der  königlichen 
Untersuchungskommission  über  die  Arbeiterverhältnisse  es 
nicht  für  angezeigt  halte,  ein  Votum  abzugeben,  bevor  die 
Resultate  der  grossen  Enquete  vorlägen.  Was  sonst  seitens 
der  Unternehmer  vorgebracht  wurde,  beschränkte  sich  auf 
die  Befürchtung,  dass  die  Produktion  durch  die  vorgeschla- 
gene Massregel  vertheuert  und  die  auswärtige  Konkurrenz 
begünstigt  würde.  Dem  gegenüber  konnte  der  Hauptredner 
des  Tages,  Josef  Chamberlain,  darauf  hinweisen,  dass  die 
bisherigen  Beschränkungen  der  Arbeitszeit  niemals  zu  einer 
entsprechenden  Verringerung  der  Produktion  geführt  hätten. 
Aus  seiner  eigenen  Erfahrung  als  Industrieller  konnte 
er  Illustrationen  hierfür  anführen.  Das  Hauptinteresse  er- 
regte die  Haltung  der  Vertreter  der  Bergarbeiter  selbst. 
W ährend  William  Abraham,  der  Vertreter  der  wallisischen 
Bergleute,  den  Antrag  warm  befürwortete  und  daran  er- 


innerte, dass  1880  in  Northumberland,  1889  in  Südwales  die 
Bergarbeiter  vergeblich  gesucht  hätten,  den  Achtstundentag 
von  den  Unternehmern  durch  freie  Vereinbarung  zu  er- 
langen, sprachen  Thomas  Burt,  Mr.  Fenwick  und  Mr.  Wilson, 
die  Vertreter  für  Northumberland  und  Durham  aufs  ent- 
schiedenste gegen  jeden  Versuch,  die  gesetzliche  Acht- 
stundenschicht durchzuführen.  Die  Opposition  dieser 
Arbeiterführer,  die  sich  aus  den  besonderen  Verhältnissen 
der  nordöstlichen  Grafschaften,  wo  ein  Theil  der  Bergleute 
weniger  als  8 Stunden  arbeitet,  erklärt,  wird  von  einfluss- 
reichen Stimmen  aus  der  Mitte  der  Bergarbeiter  gemiss- 
billigt.  Die  „Labour  Tribüne“  greift  den  „ehrlichen  Tom“ 
scharf  an  und  Mr.  Woods,  der  stellvertretende  Vorsitzende 
der  „Miners  Federation  of  Great  Britain“  erhebt  ernste 
Vorwürfe  in  einer  Zuschrift  an  das  „Daily  Chronicle“.  Er 
findet  die  Rolle,  die  Mr.  Fenwick  gespielt,  um  so  unbe- 
greiflicher, als  dieser  als  Sekretär  des  Trade  Unions  Con- 
gresses  den  direkten  Auftrag  erhalten,  für  eine  Achtstunden- 
bill einzutreten. 

Von  allen  Gründen,  die  gegen  eine  derartige  Mass- 
regel geltend  gemacht  werden  können,  war  die  Bemerkung 
eines  Redners,  dass  es  sich  nicht  empfehle,  ein  Spezial- 
gesetz  für  Bergleute,  sondern  ein  allgemeines  Gesetz  für 
alle  Arbeiter  zu  erlassen,  der  stichhaltigste.  Wenn  man  die 
besondere  Gesundheitsgefährlichkeit  des  Bergbaues  betont, 
so  scheint  dieser  Hinweis  nicht  völlig  am  Platze  zu  sein, 
wenigstens  soll  es  wie  Mr.  Fenwick  behauptete,  55  Industrie- 
zweige geben,  deren  Mortalitätsziffer  höher  ist,  als  die  des 
Berg-baues. 

Wenige  Tage,  nachdem  das  englische  Parlament  die 
Achtstundenbill  zurückgewiesen,  wurde  in  der  Kommission 
des  preussischen  Abgeordnetenhauses  für  Berathung  der 
Berggesetznovelle  ein  ähnlicher  Antrag  verworfen.  Es  ist 
zweifellos,  dass  in  nicht  ferner  Zeit  die  Gesetzgebung 
beider  Länder  sich  mit  der  gleichen  Frage  neuerdings  wird 
beschäftigen  müssen. 


Gewerbeinspektion. 

Die  Berichte  der  ungarischen  Fabrikinspektoren. 

In  früheren  Jahren  wurden  die  ungarischen  Inspektorats- 
berichte  ziemlich  ausführlich  in  den  jetzt  eingegangenen 
„Mittheilungen  des  ungarischen  Handelsministeriums“  in 
deutscher  Sprache  veröffentlicht  und  eine  Beurtheilung  der 
Einzelberichte  war  möglich,  weil  aus  den  Berichten  jedes 
Einzelnen,  sowie  aus  dem  summarischen  Berichte  des  Cen- 
tral-Inspektors  das  Wissenswertheste  mitgetheilt  wurde.  Jetzt 
müssen  wir  uns  mit  knapp  acht  Seiten  begnügen")  Und 
dabei  muss  man  überdies  berücksichtigen,  dass  es  sich  hier- 
bei um  einen  für  das  Ausland  zugestutzten  Bericht  handelt, 
von  dem  anzunehmen  ist,  dass  der  bei  den  ungarischen  Be- 
hörden beliebten  Schönfärberei  der  heimischen  Zustände 
hier  besonders  freies  Spiel  gelassen  wurde. 

Aus  dem  Berichte  heben  wir  folgendes  hervor:  Das 
Ungenügen  der  Fabrikinspektion  wird  anerkannt  und  eine 
Vermehrung  der  gewerblichen  Aufsichtsorgane  wie  eine 
gesetzliche  Regelung  der  Gewerbeinspektion  wird  in  Aus- 
sicht gestellt.  Ueber  die  Gewerbebehörden  erster  Instanz 
wird  Klage  geführt;  wie  es  in  dem  Berichte  wörtlich  heisst 
sind  sie  „bis  zum  heutigen  Tage  mit  den  einschlägigen  Be- 
stimmungen des  Gewerbegesetzes  nicht  im  Reinen.“  Nur 
ein  Theil  der  Fabriken  wurde  von  den  Inspektoren  besucht, 
und  ferner  werden  dieselben  vom  Minister  und  nicht  von 
den  Aufsichtsbeamten  ausgewählt,  deren  Machtbefugnisse 
überhaupt  geringer  sind  als  die  ihrer  Kollegen  in  anderen 
Ländern.  Im  Ganzen  wurden  besucht  942  Betriebe,  von  diesen 
arbeiteten  1 28  ohne  Motoren,  in  den  Motorenbetrieben  waren 
767  Dampfmaschinen  (36  273  Pferdekräfte ),  681  Wassermotoren 
(5580  Pferdekräfte),  78  Gasmotoren  (405  Pferdekräfte)  in 
Thätigkeit.  In  den  untersuchten  Fabriken  arbeiteten  59  941 
Personen  und  zwar  48  936  Fabrikarbeiter,  2776  Lehrlinge, 
8729  Taglöhner,  von  diesen  waren  46  766  Männer  und  13  175 
Frauen.  Hiervon  standen  zwischen  14 — 16  Jahren  3143, 

*)  Mandello,  Dr.  Karl.  Wirksamkeit  des  königl.  ungarischen 
Handelsministers  im  Jahre  1890.  (Offizielle  Ausgabe.)  Berlin  1892. 
S.  38-46. 


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No.  14. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBI .ATT. 


183 


zwischen  12 — 14  Jahren  497,  das  12.  Jahr  hatten  noch  nicht 
erreicht  33  der  in  diesen  Fabriken  beschäftigten  Personen. 

Die  obligatorischen  Arbeitsordnungen  sind  nunmehr 
in  allen  jenen  Fabriken  vorhanden,  die  schon  in  früheren 
Jahren  untersucht  wurden,  fehlen  dagegen  fast  in  allen 
jenen  Fabriken,  welche  zum  ersten  Male  untersucht  worden 
sind,  dasselbe  gilt  von  den  Arbeiterregistern,  wodurch  die 
Kontrolle  der  geschützen  Personen  sehr  erschwert  wird.  An 
Stelle  der  obligatorischen  Arbeitsbücher  fanden,  soweit 
solche  überhaupt  vorhanden  waren,  die  Inspektoren  häufig 
Dienstboten  bücher. 

Lehrlingsverträge  sollen  jetzt  nur  noch  selten  fehlen, 
wie  denn  die  Behandlung  der  Lehrlinge  immer  besser  wird, 
nur  in  zwei  (!)  Fällen  sah  sich  die  Behörde  wegen  der  Be- 
handlung der  Lehrlinge  zum  Einschreiten  genöthigt.  Die 
Bestimmungen  zum  Schutze  der  jugendlichen  Arbeiter  (unter 
16  Jahren)  werden  nach  dem  Berichte  mit  Ausnahme  ein- 
zelner Holzindustriebetriebe,  Glas-  und  Zuckerfabriken  in 
den  meisten  Fällen  eingehalten.  Gegenüber  den  in  früheren 
Jahren  häufig  konstatirten  Fällen,  dass  8 — 9jährige  Kinder 
für  Fabrikarbeit,  ja  selbst  für  Nachtarbeit  verwendet  wurden, 
wird  behauptet,  dass  im  vorigen  Jahre  nur  zwei  derartige 
Gesetzesübertretungen  vorgekommen  sind 

Als  durchschnittliche  Arbeitszeit  der  nicht  geschützten 
über  16  Jahre  alten  Arbeiter  werden  12  effectiv  1 0l/2  Stunden 
angegeben.  Aber  zahlreiche  Ausnahmen  kommen  vor,  so 
ist  in  manchen  Dampfmühlen  und  Sägewerken  eine  24stündige 
ununterbrochene  Arbeitszeit  eingeführt,  auf  welche  eine 
12 — 24stündige  Rastzeit  folgt,  bei  den  Wassermühlen  ist  an 
vielen  Orten  eine  36 ständige  Arbeitszeit  üblich.  Die  In- 
spektoren wurden  angewiesen,  in  solchen  Fällen  in  wohl- 
wollender Weise  die  LInternehmer  auf  die  üblen  Folgen 
dieser  übermässigen  Anspannung  der  Arbeitskraft  aufmerk- 
sam zu  machen,  „was  in  den  meisten  Fällen  auch  zu  einem 
günstigen  Resultate  führte“.  Die  Bestimmungen  über  die 
Arbeitspausen  werden  eingehalten. 

Die  Arbeitslöhne  sollen  mit  Ausnahme  der  Spiritus- 
und  Mühlenindustrie,  wo  die  Löhne  seit  Jahrzehnten  keine 
Aenderung  erfahren  haben,  im  Jahre  1890  um  5 — 8 Prozent 
gegen  das  Vorjahr  gestiegen  sein.  Kein  einziger  namhafter 
Strike  ereignete  sich  im  Jahre  1890  in  Ungarn,  was  „mit 
besonderer  Beruhigung“  berichtet  wird.  Truck  in  ver- 
schiedensten Formen  kommt  noch  häufig  vor,  so  erhalten 
die  Arbeiter  in  kleineren  Mühlen  einen  gewissen  Theil  der 
Mahlerträgnisse  und  kein  baares  Geld;  in  Glas-  und  Eisen- 
hütten, Sägewerken  und  anderen  noch  fern  von  Städten 
liegenden  Betrieben  werden  die  Arbeiter  veranlasst,  Lebens- 
mittel und  Kleider  von  den  Unternehmern  zu  kaufen.  Strenge 
scheint  gegen  diese  Uebertretungen  der  § 118  der  ungari- 
schen Gewerbeordnung  (Bezahlung  der  Arbeiter  in  baarem 
Gelde)  nicht  vorgegangen  zu  werden,  denn  „der  Minister 
hofft“  nur,  „dass  diese  Unzukömmlichkeiten  nach  und  nach 
abnehmen  werden.“ 

Fälle  von  Decompte  kommen  häufig  vor , in  dem 
Berichte  wird  dies  nicht  gerügt,  sondern  blos  gefordert, 
dass  diese  Abzüge  im  Interesse  der  Arbeiter  zinstragend  an- 
gelegt werden. 

Ein  ziemlich  grosser  Theil  der  Arbeiter  ist  gegen 
Krankheit  nicht  versichert.  Die  Fälle,  dass  die  Arbeiter 
einen  Theil  des  Lohnes  in  Form  von  Wohnung,  Heizung 
und  Beleuchtung,  vereinzelt  auch  in  Nutzniessung  an  Boden 
erhalten,  mehren  sich,  wie  mit  Genugthuung  konstatirt  wird. 
„Indess  bleibt  auch  auf  diesem  Gebiete  noch  vieles  zu  thun 
übrig,  weil  in  den  meisten  Spiritus-,  Malz-,  Zucker-  und 
Ziegelfabriken  noch  sehr  verkehrte  Zustände  herrschen,  be- 
sonders an  solchen  Orten,  wo  das  sogenannte  Kasernen- 
system  herrscht.  In  den  Spiritus-  und  Malzfabriken,  ja  selbst 
in  einigen  Petroleumraffinerien  erhalten  die  Arbeiter  im 
Innern  der  Fabrik  Schlafstellen,  welche  aber  oft  die  primi- 
tivsten Ansprüche  nicht  befriedigen,  so  dass  in  mehreren 
Fällen  verfügt  werden  musste,  dass  den  Arbeitern  nicht 
gesundheitswidrige  Schlafräume  zur  Verfügung  gestellt 
werden.“ 

Der  Mangel  einer  obligatorischen  Unfallsanzeige  wird 
bedauert,  „umsomehr  als  die  meisten  Unfälle  verheimlicht 
werden.“  Ein  Gesetz  über  die  Unfallversicherung  der  in- 
dustriellen Arbeiter  wird  geplant.  Aus  dem  Berichte  ist  zu 
ersehen,  dass  so  nothwendige  Massregeln,  wie  stärkerer 
Schutz  der  Kinder,  Schutzbestimmungen  für  erwachsene 
Frauen  und  Männer  nicht  in  Aussicht  genommen  sind,  und 
dass  selbst  die  wenigen  gesetzlichen  Arbeiterschutzbestim- 
mungen nur  lax  durchgeführt  werden.  Man  meidet  Be- 


strafung der  Unternehmer  und  begnügt  sich  mit  wohl- 
wollendem Zureden. 

Die  Gewerbepolitik  Ungarns  hat  als  Ziel  die  Schaffung 
und  Förderung  der  Industrie,  grosse  Mittel  werden  zu  diesem 
Zwecke  verwandt,  man  sucht  den  Unternehmern  nach  jeder 
Richtung  entgegen  zu  kommen,  vergisst  aber,  dass  zu  einer 
blühenden  Industrie  nicht  nur  Unternehmer  mit  reichen 
Gewinnen,  sondern  auch  kräftige  und  gesunde  Ar- 
beiter gehören.  Hiefür  könnte  man  jetzt,  wo  die  Industrie 
noch  in  langsamer  Entwickelung  begriffen  ist,  leichter  und 
erfolgreicher  sorgen  als  nach  Jahren,  wenn  die  Degeneration 
der  Industriearbeiter  noch  stärkere  Fortschritte  gemacht 
haben  wird. 


Arbeiterversicherung. 

Geschäftsbericht  des  Reichs-Versicherungsamtes 
für  das  Jahr  i8gi. 

Der  knappe,  aber  inhaltreiche  Geschäftsbericht  des 
Reichs- Versicherungsamtes  für  1891  enthält  nähere  Mit- 
theilungen auch  über  das  erste  Jahr  der  durch  das  Gesetz 
vom  22.  Juni  1889  begründeten  Inval iditäts  - und  Alters- 
versicherung, für  die  eine  besondere  Abtheilung  im 
Reichs- Versicherungsamt  errichtet  ist.  Die  umfangreichen 
Arbeiten  dieser  Abtheilung  zur  Erleichterung  der  Durch- 
führung des  Gesetzes  werden  hier  übergangen;  nur  die 
Angaben  über  die  thatsächliche  Einwirkung  des  Gesetzes 
seien  kurz  berührt. 

Im  Ganzen  wurden  1891  im  Reiche  173  668  Ansprüche 
auf  Altersrente  erhoben;  davon  sind  7102  unerledigt  ge- 
blieben, 30  534  abgewiesen,  3115  anderweitig  erledigt  und 
132  917  von  den  Versicherungsanstalten  anerkannt  worden. 
Nach  den  Berechnungen  des  im  Reichs-Versicherungsamt 
gebildeten  Rechnungsbüreaus,  das  am  1.  April  1891  seine 
sehr  ausgedehnte  Thätigkeit  aufgenommen  hat,  haben  die 
anerkannten  Altersrentenansprüche  eine  Gesammtjahres- 
ausgabe  von  16  625  850  Mk.  (davon  als  Reichszuschuss 
6 645  850  Mk.)  zur  Folge.  Im  Durchschnitt  beträgt  jede 
Altersrente  125,08  Mk.  jährlich.  Dieser  Betrag  ist  in  so  fern 
bemerkenswert!!,  als  er  auf  ein  starkes  Ueberwiegen  der 
mittleren  Lohnsätze  hinweist.  Der  Normalbetrag  der  Alters- 
rente ist  in 

Lohnklasse  I (bis  350  Mk.  Jahreslohn)  106,40  Mk. 

„ II  (über  350—550  Mk.  „ ) 134,60  „ 

„ III  ( „ 550—850  „ „ ) 162,80  „ 

„ IV  ( „ 850  „ „ ) 191,00  „ 

Der  wirkliche  Betrag  bleibt  zwischen  der  Normalhöhe 
der  Lohnklasse  I und  II,  steht  aber  hinter  letzterer  nur  noch 
um  9,52  Mk.  zurück. 

An  Invalidenrenten  sind  27  mit  einem  jährlichen  Renten- 
betrage von  3064,80  Mk.  bewilligt. 

Im  Ganzen  wurden  1891  an  Renten  ausbezahlt  rund 
15,45  Millionen  Mark. 

Der  Kapitalwerth  der  ganzen  im  Jahre  1891  ent- 
standenen Rentenlast  stellt  sich  nach  versicherungstechni- 
schen Grundsätzen  auf  etwa  54,5  Millionen  Mark.  Durch 
die  Rücklagen  in  den  Reservefonds  und  durch  die  auf  rund 
1 Mk.  für  den  Kopf  der  Versicherten  angenommenen  Ver- 
waltungskosten erhöht  sich  die  Gesammtbelastung  auf  etwa 
76,4  Millionen  Mark.  Die  Einnahmen  aus  dem  Verkauf  der 
Beitrags-  und  Doppelmarken  sind  überschläglich  auf 
88,8  Millionen  Mark  berechnet. 

Die  631  Schiedsgerichte  für  die  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung sind  1891  bereits  in  16  581  Berufungsfällen  in 
Anspruch  genommen  wurden ; 1 6 1 23  dieser  Berufungen 

(~97,2  7u)  sind  von  den  Versicherten  oder  deren  Hinter- 
bliebenen ausgegangen,  457  von  den  Staatskommissaren. 
12  087  Berufungen  wurden  noch  1891  erledigt,  und  zwar 
4925  (=  40,7  (,/0)  durch  Bestätigung  und  3243  (=  26,8  °/0) 
durch  Abänderung  des  angefochtenen  Bescheides. 

Der  Thätigkeit  der  Schiedsgerichtsvorsitzenden  spendet 
der  Bericht  volle  Anerkennung;  auch  betont  er  die  wesent- 
liche Unterstützung,  die  der  Rechtsprechung  der  Schieds- 
gerichte durch  die  Sachkenntnis  der  Beisitzer  aus  den 
Kreisen  der  Arbeitgeber  und  der  Versicherten  zu  Theil 
geworden  ist. 


184 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  14. 


Als  Revisionsinstanz  für  die  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung eröffnete  das  Reichs -Versicherungsamt  am 
11.  Juni  1891  seine  Thätigkeit.  Im  Ganzen  wurden  1537 
Revisionen  (darunter  I in  Invaliditätsrentensachen)  einge- 
legt, und  zwar  von  den  Versicherten  632  (=  44,1  "/A,  von 
den  Versicherungsanstalten  und  den  zugelassenen  Kassen- 
einrichtungen 762  (=  48,9  %),  von  den  Staatskommissaren 
153  (=  9,9  "/„).  Unerledigt  blieben  944  Revisionen.  Unter 
den  593  erledigten  Revisionen  wurde  197  (=  33%)  stattee- 
geben.  275  (=  ca.  46 '/2%  unerledigter  Revisionen)  wurden 
3urch  Urtheil  nach  mündlicher  Verhandlung,  83  (=ca.  1 4"/0) 
durch  Urtheil  ohne  mündliche  Verhandlung  zurückgewiesen 
und  38  (=  ca.6l/2%)  auf  andere  Weise  (Zurücknahme,  Ver- 
gleich u.  s.  w ) erledigt. 

Ueber  die  Unfallversicherung  enthält  der  Bericht 
naturgemäss  reichhaltigere  Mittheilungen,  von  denen  hier 
nur  die  wichtigsten  berührt  werden  können. 

Nach  vorläufigen  Ermittelungen  sind  1891  224  028  Un- 
fälle angemeldet  und  51  437  Unlälle  (=  22,96  % der  ange- 
meldeten) entschädigt  worden.  Von  den  entschädigten  Un- 
fällen hatten  6296  den  Tod,  3258  eine  dauernde  völlige  Er- 
werbsunfähigkeit, 26  428  eine  dauernde  theilweise  Erwerbs- 
unfähigkeit und  15  455  eine  vorübergehende  Erwerbsunfähig- 
keit zur  Folge.  Die  Wohlthaten  der  Unfallversicherung 
flössen  1891  im  Ganzen  181  173  Personen  zu,  nämlich: 


116  936  Verletzten, 

16  006  Wittwen  Getödteter, 

32  502  Kindern  „ 

I 287  Ascendenten  „ 

o qoq  Eheb  aueu  ( von  im  Krankenhause 

\ inc  er,n  t I untergebrachten  Verletzten. 

142  Ascendenten ' s 

Die  Gesammtsumme  der  1891  verausgabten  Entschädi- 
gungen war  nach  vorläufigen  Ermittelungen  etwa  25918000 
Mark  gegen 

20  315  320  Mk.  im  Jahre  1890, 

14  464  303  „ „ „ 1889, 

9 681  447  „ „ „ 1888, 

5 932  930  „ „ „ 1887, 

1 915  366  „ „ „ 1886. 


In  der  Unfall-,  Invaliden-  und  Altersversicherung  zu- 
sammen sind  1891  an  etwa  314  000  Personen  ca.  41,4  Millionen 
Mark  ausgezahlt  worden. 

Dass  die  Unfallverhütung  nach  wie  vor  von  den  Be- 
rufsgenossenschatten eifrig  gepflegt  wird,  geht  daraus  her- 
vor, dass  sich  in  der  Zeit  vom  1.  Oktober  1890  bis  1.  Okto- 
ber 1891  die  Zahl  der  „Beauftragten“-Stellen  von  148  auf 
155,  die  der  Beauftragten  selbst  von  120  auf  146  erhöht  hat. 

Unter  den  ausschliesslich  vom  Reichs- Versicherungs- 
amt ressortirenden  gewerblichen  Berufsgenossenschaften 
hatten  Ende  1891  51  (d.  s.  86%)  Unfallverhütungsvor- 

schriften  erlassen.  Bei  den  landwirtschaftlichen  Berufs- 
genossenschaften ist  naturgemäss  die  entsprechende  Zahl 
noch  geringer. 

Erfreulich  ist  es,  dass  sich  die  Zahl  der  Berufungen 
verhältnissmässig  vermindert  hat.  Bei  den  1239  ausschliess- 
lich vom  Reichs- Versicherungsamt  ressortirenden  Schieds- 
gerichten sind  18  423  Berufungen  eingegangen,  denen 
106  423  berufsgenossenschaftliche  bezw.  ausführungsbehörd- 
liche Bescheide  gegenüberstehen;  also  nur  etwa  1/6  der 
Bescheide  wurde  angefochten,  während  im  Vorjahr  etwa  V5 
angefochten  wurde. 

Von  den  Berufungen  bezogen  sich  7158  aut  Bescheide, 
durch  welche  der  Entschädigungsanspruch  abgelehnt  wurde, 
und  1 1 265  auf  Bescheide,  durch  welche  Entschädigungen 
festgestellt  wurden.  17  617  Berufungen  betrafen  dauernde 
Renten. 

Aus  1890  wurden  noch  4191  Berulungen  übernommen, 
sodass  im  Ganzen  1891  Vorlagen:  22  614  Berufungen.  Davon 
wurden  erledigt  durch  Zurückweisung  seitens  des  Vor- 
sitzenden, durch  Zurücknahme,  Vergleich,  Anerkenntniss 
und  auf  sonstige  Weise  ohne  Entscheidung  des  Schiedsge- 
richts 3534;  durch  Entscheidung  des  Schiedsgerichts  ohne 
mündliche  Verhandlung  sind  24,  und  nach  mündlicher  Ver- 
handlung 14  228,  zusammen  14  252  Sachen  an  3666  Sitzungs- 
tagen erledigt.  Von  den  14  252  durch  Schiedsgerichtsent- 
scheidung erledigten  Berufungen  betrafen  2264  = 15,9%  die 
Frage,  ob  ein  Betriebsunfall  vorliegt,  ein  Beweis , wie 
schwer  es  ist,  eine  allgemeine  Richtschnur  in  dieser  Frage 
zu  geben.  9285  Berufungen  (=6  5,1  % der  durch  Schieds- 
gerichtsentscheidung erledigten)  bezogen  sich  aut  den  bei 
der  Entschädigungsfeststellung  angenommenen  Grund  der 
Erwerbsunfähigkeit,  ein  Punkt,  über  den  erklärlicher  Weise 


die  Ansichten  der  Beteiligten  oft  auseinander  gehen.  Die 
Schiedsgerichte  haben  den  angefochtenen  Bescheid  in  9265 
Fällen  bestätigt  und  in  4713  Fällen  abgeändert,  sodass  sich 
die  Zahl  der  bestätigten  zur  Zahl  der  abgeänderten  Be- 
scheide verhält  wie  1,97:1.  1890  standen  6631  bestätigte  1 

Bescheide  3807  abgeänderten  gegenüber;  das  Verhältnis  ; 
jener  zu  diesen  war  mithin  1,74:1.  Darnach  ist  das  Ver- 
hältnis zwischen  beiden  Kategorien  1891  günstiger  ge- 
worden. 

Von  den  14  252  Schiedsgerichtsurtheilen  waren  13  630 
rekursfähig.  Davon  sind  3378  = 24,8%  (1890  : 23,3%)  im 
Rekurswege  angefochten  worden.  Das  Verhältnis  ist  also 
1891  um  ein  geringes  ungünstiger  geworden.  Dass  sich  die 
Versicherten  ~ bei  reichlich  % der  rekursfähigen  Schieds- 
gerichtsurtheile  des  Rekurses  enthalten,  ist  eine  Thatsache, 
die  der  Thätigkeit  der  Schiedsgerichte  ein  günstiges  Zeug- 
nis ausstellt.  Mit  den  unerledigt  übernommenen  Rekursen 
waren  1891  im  Ganzen  4566  zu  bearbeiten,  von  denen  1234 
unerledigt  blieben  = 27  % . 1 890  blieben  36,5  %,  1 889 : 

34,5°/,  1888:  25,6%,  1887:  59,2°/,  1886:  63,3%  unerledigt, 
eine  Zahlenfolge,  die  das  energische  Streben  des  Reichs- 
Versicherungsamtes  nach  prompter  Erledigung  der  Rekurse  ) 
erkennen  lässt.  Von  den  genannten  4566  Rekursen  sind 
eingelegt  von 


den 

Versicherten 


den  Berufsgenossen- 
schaften bzw. 
Ausführungsbehörden 


beiden 

Theilen 


77,2  o/o 

21,5  0/o 

l,3o/o 

dagegen 

1890 

77,9  % 

21,0% 

1,1% 

1889 

77,5  % 

20,7% 

1 ,8  % 

1888 

75,7  o o 

22,4  0/o 

1,9% 

1887 

74,8  o/n 

23,8  o/0 

1,4% 

>5 

1886 

65,6  % . 

32,6  o/o 

1,9% 

Gegen  1886  haben  sich  die  Rekurse  der  Berufsge- 
nossenschaften und  Ausführungsbehörden  vermindert,  die 
der  Versicherten  vermehrt;  in  den  letzten  3 Jahren  sind  die 
Antheile  beider  Gruppen  nahezu  unverändert  geblieben.. 
Durch  Urtheil  wurden  1891  2888  Rekurse  (=63,3%  der  an- 
hängigen Rekurse)  erledigt  und  zwar  2074  (=  45,4  % der. 
anhängigen  Rekurse)  durch  Bestätigung  des  Schiedsgerichts-: 
urtheiles.  ,■ 

Zu  Gunsten  der  Versicherten  bezw.  gegen  die  Berufs- 
genossenschatten  und  Ausführungsbehörden  wurden  ent- 
schieden von  den  Rekursen 


. . , der  Berufsgenossenschaften 

der  Versicherten  uncj  Ausführungsbehörden 

1891  23,5%  56,6  % 

1890  23,5%  64,4% 

1889  25,4%  61,2% 

1888  22,5%  56,8  % 

1887  37,3%  52,5% 

1886  27,9%  74,1  % 

Der  Prozentsatz  der  ungenügend  begründeten  Rekurse 
ist  mithin  auf  beiden  Seiten  sehr  gross,  auf  Seiten  der  Ver- 
sicherten  freilich  noch  grösser  als  aut  Seiten  der  Berufs- 1 
genossenschaften.  Gegen  die  Antangsjahre  hat  sich  dieser 
Prozentsatz  bei  den  Rekursen  der  Versicherten  erhöht.  Bei  i 
den  Berufsgenossenschaften  ist  der  Prozentsatz  seit  1887 
niedriger  als  1886,  aber  von  sehr  ungleicher  Höhe  in  den 
einzelnen  Jahren. 

Von  den  1891  durch  Urtheil  erledigten  2888  Rekursen  I 
bezogen  sich  nicht  weniger  als  1647,  also  57%  auf  den 
Grad  der  Erwerbsunfähigkeit  (1890:  55,5%,  1889:  52,4%), 
und  467  = 16,2  % auf  die  Frage,  ob  ein  Betriebsunfall  vor- 
lag (1890:  27%,  1889:  21,2%).  Die  letztere  Frage  spielt 
mithin  hier  noch  eine  grössere  Rolle  als  bei  den  Berufungen. 
Solange  diese  für  die  Entschädigungsansprüche  grundsätz- 
lich wichtige  Frage  von  den  Versicherungsorganen  geprtut 
werden  muss,  wird  sie  auch  immer  zu  vielen  und  sehr 
schwer  zu  schlichtenden  Streitfällen  Anlass  geben.  Da?' 
könnte  sich  nur  ändern,  wenn  es  möglich  würde,  die  ver- 
schiedenen Gebiete  der  Arbeiterversicherung  in  eine  ye~ 
sammtorganisation  zusammen  zu  lassen.  Alsdann  würden 
auch  die  Fragen,  welche  Genossenschaft  einzutreten  hat, 
ob  der  Unfall  eine  versicherte  Person  betroffen  hat,  ob  ein 
ursächlicher  Zusammenhang  zwischen  Unfall-  und  Erwerbs- 1 
Unfähigkeit  bezw.  Tod  vorliegt  etc.,  weniger  zu  Streitig-  ■ 
keiten  führen.  . 

Eine  solche  Reform  der  gesammten  Arbeiterversiche- 
rung ist  freilich  erst  nach  einer  viel  längeren  Erfahrung, 
als  sie  heute  vorhanden  ist,  in  gesunder  Weise  durchführ- 
bar. Sie  sollte  aber  als  Ziel  festgehalten  werden,  weniger 
wegen  der  unnöthig  aufgebauschten  Frage  der  Verwaltungs- 


No.  14. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


185 


kosten,  als  wegen  der  Nothwendigkeit,  dem  Versicherten  so 
[schnell  als  möglich  die  gesetzlich  geordnete  Hilfe  zu  ver- 
schaffen. Jeder  Streitfall  der  besprochenen  Art  bedingt 
trotz  der  anerkennenswerthen  Promptheit  der  Schiedsge- 
richte und  des  Reichs-Versicherungsamtes  eine  Verzögerung, 
!die  für  den  betheiligten  Arbeiter  oft  die  bittersten  Ent- 
behrungen nach  sich  zieht. 

Köln.  R.  van  d;er  Borght. 


Zur  Wirksamkeit  (1er  deutschen  Unfallversicherung-.  Als 

Ergänzung  des  Artikels  über  die  deutsche  Unfallversicherung 
in  No.  12  dieses  Blattes  kann  eine  Aeusserung  der  badischen 
Fabrikinspektion  im  mehrfach  besprochenen  Berichte  derselben 
für  1891  gelten.  Es  heisst  dort:  „Die  Unfallverhütungsvorschriften 
der  Berufsgenossenschaften  werden  seitens  der  Beauftragten, 
soweit  solche  überhaupt  in  T Tätigkeit  getreten  sind, 
und  je  nach  dem  die  Funktionen  derselben  durch  Ingenieure 
oder  durch  sachverständige  Personen  des  betreffenden 
Industriezweiges  wahrgenommen  oder  je  nachdem  dies 
nicht  der  Fall  ist,  in  sehr  verschiedener  Weise  durch- 
geführt. Wo  es  sich  um  einheitliche  Betriebsweise  handelt,  und 
wo  ganz  bestimmte  und  unbestrittene  Gefahrenquellen  vor- 
handen sind,  wie  z.  B.  bei  der  Holzindustrie,  ist  durch  die 
Thätigkeit  der  Berufsgenossenschaft  für  eine  gleichmässige 
Beseitigung  der  Gefahren  und  für  die  Sicherung  Her  betreffen- 
den Maschinen  Durchgreifendes  geschehen,  wobei  besonders 
auf  die  auch  schon  früher  in  dieser  Beziehung  genannte  Süd- 
westdeutsche Holzberufsgenossenschaft  hingewiesen  werden  soll. 
Wohlthätig  hat  es  auch  gewirkt,  dass  die  Einwirkung  solcher 
Berufsgenossenschaften  sich  weiter  erstreckte,  als  aut  die  der 
Fabrikinspektion  unterstellten  Anlagen.  Wo  die  Verhältnisse 
mannichfaltiger  sind,  gehen  die  Beauftragten  aber  auch  manch- 
mal gegen  nur  mögliche,  wenn  auch  durchaus  nicht  naheliegende 
Gefährdungen  mit  einer  schablonenhaften  Gleichmässigkeit  und 
mitunter  auch  mit  einer  Pedanterie  zu  Wege,  über  welche  sich 
einzelne  Gewerbetreibende  zwar  gelegentlich  beklagen,  die  aber 
doch  leichter  ertragen  wird,  als  wenn  staatliche  Orgfane  in 
gleicher  Weise  vorgehen  würden.  Aber  auch  gegen  Berufs- 
genossenschaften,  die  auf  dem  Gebiete  der  Unfallverhütung 
besonders  Tüchtiges  geleistet  haben,  werden  solche  Beschwer- 
den laut.  So  werden  z.  B.  häufige  Beschwerden  wegen  der 
obengenannten  Berufsgenossenschaft  darüber  geführt,  dass  bei 
Ausserachtlassung  auch  von  solchen  Unfallverhütungsvorschriften, 
welche  für  die  Sicherung  der  Arbeiter  weniger  wichtig  sind, 

| sofort  eine  namhafte  prozentuale  Erhöhung  der  Beiträge  verfügt 
wird,  was  unter  Hervorhebung  des  LTmstandes,  dass  der  Beauf- 
tragte der  Berufsgenossenschaft  kein  Sachverständiger, 
sondern  ein  Kaufmann  sei,  um  so  lebhafter  empfunden 
wurde.  Gegen  schwierig  zu  beseitigende  Mängel  in 
den  industriellen  Anlagen,  und  gegen  solche,  bei 
denen  man  den  gleichmässigen  Widerstand  ganzer 
Industriezweige,  oder  mehrere  derselben  zu  über- 
winden hätte,  geht  man  aber  auch  seitens  der  Berufs- 
genossenschaft in  der  Regel  nicht  energisch  genug 
vor,  was  zunächst  durch  entsprechende  Bestimmungen  in  den 
Unfallverhütungsvorschriften  zu  geschehen  hätte.  Solche,  etwas 
heiklere  Dinge  überlässt  man  den  staatlichen  Aufsichtsorganen, 
welche  im  Uebrigen  durch  die  Thätigkeit  einer  Anzahl  von 
Berufsgenossenschaften  bezüglich  der  Unfallverhütung  merklich 
entlastet  sind.  Bei  vielen  Berufsgenossenschalten  merkt 
man  aber  beim  Besuche  der  Fabriken  von  der  Thätig- 
keit der  Beauftragten  überhaupt  kaum  etwas.  Wo 
anderseits  während  längerer  Zeit  auf  diesem  Gebiete  eine  ge- 
nügende Thätigkeit  stattfand,  kann  es  zweckmässig  sein,  wenn 
die  äussere  Thätigkeit  der  Beauftragten,  nach  Erreichung  eines 
bestimmten  vorgesteckten  Zieles  einstweilen  eingestellt 
wird.  So  hat  die  Sektion  II  (Baden)  der  südwestdeutschen  Holz- 
berufsgenossenschaft  vom  Anfang  ihres  Berichtsjahres  an  die 
Stelle  eines  Beauftragten  eingehen  lassen,  nachdem  die 
in  ihren  Unfallverhütungsvorschriften  vorgeschriebenen  Siche- 
rungen durchgeführt  waren.“  Diese  Mittheilungen  illustriren  in 
treffender  Weise  die  Behauptung  unseres  ausführlichen  Artikels 
in  No.  12,  dass  man  bei  der  deutschen  Unfallversicherung  den 
Bock  zum  Gärtner  gemacht  habe,  nämlich  die  Unternehmer  zu 
ihren  eigenen  Aufsehern.  Wie  sehr  dieser  F'ehlgrift  zur  Ver- 
wirrung der  Begriffe  über  die  Möglichkeit  der  Unfallver- 
hütung und  die  Ursachen  der  Betriebsunfälle  führt,  geht 
auch  aus  einer  Kundgebung  der  Knappschaftsberufsge- 
nossenschaft hervor,  welche  dieser  Tage  erfolgte.  Dort  wird 
behauptet,  dass  sich  „seit  dem  grossen  Bergarbeiterausstande 
des  Jahres  1889  in  den  Belegschaften  vielfach  ein  Geist  der 
I Unbotmässigkeit  entwickelt  habe,  welcher  in  den  vermehrten 
Unfällen  einen  betrübenden  Ausdruck  erhalte.  In  den  Bergbau- 
bezirken, welche  von  den  Aufwiegeleien  mehr  oder  weniger 
verschont  geblieben  sind,  ist  theils  eine  nur  unwesentliche  Ver- 
mehrung eingetreten,  theils  sogar  eine  Abnahme  der  Unfälle  zu 
verzeichnen.  Allein  im  Bereiche  der  Sektion  II,  den  Oberberg- 
amtsbezirk Dortmund  umfassend,  sind  innerhalb  Jahresfrist  in 


Folge  Zuwiderhandlungen  der  Arbeiter  gegen  bestehende  Ver- 
bote zur  Verhütung  von  Entzündung  schlagender  Wetter  124 
Bergleute  verletzt,  darunter  71  getödtet  worden.  In  Folge  Zu- 
widerhandlungen der  Arbeiter  gegen  sonstige  Vorschriften  er- 
eigneten sich  141  Unfälle  mit  145  Verletzten,  darunter  62Todten. 
Durch  Nichtanwendung  der  vorgeschriebenen  Sicherheitsvor- 
richtungen  kamen  37  Unfälle  vor,  bei  welchen  37  Personen  ver- 
letzt wurden,  von  denen  17  das  Leben  einbüssten.“  Diese  Ar- 
gumentation ist  nur  vom  einseitigsten  Unternehmerstandpunkte 
aus  möglich.  Der  Unterschied  in  der  Unfallvermehrung  zwischen 
den  Bezirken,  wo  „Aufwiegeleien“  stattfanden  und  wo  dies  nicht 
der  Fall  war,  ist  wohl  einfach  auf  die  Thatsache  zurückzuführen, 
dass  selbstverständlich  in  den  verkehrsreichsten  und  blühendsten 
Distrikten  die  Strikebewegung  am  lebhaftesten  war;  und  in 
verkehrsreicheren  und  intensiver  produzirenden  Bezirken  muss 
natürlich  jedes  Mal  bei  den  jetzigen  Verhältnissen  auch  die 
Unfallhäuligkeit  stärker  zunehmen,  als  in  den  entlegeneren 
Distrikten.  In  der  Hauptsache  aber  liegt  das  Tendenziöse  der 
berufsgenossenschaftlichen  Darstellung  darin,  dass  die  Frage 
ganz  unerörtert  bleibt,  ob  die  „bestehenden  Verbote“  und  ihre 
Befolgung  allein  hinreichende  Sicherheit  für  die  Arbeiter  boten, 
oder  ob  vielmehr  nicht  noch  neben  den  bestehenden  Verboten 
sehr  viel  mehr  (z.  B.  durch  bessere  Lüftung,  bessere  Lampen, 
bessere  Schiessstoffe)  für  die  Betriebssicherheit  seitens  der 
Unternehmer  hätte  gethan  werden  müssen,  und  ob  ausserdem 
die  Uebertretung  der  „bestehenden  Verbote“  nicht  vielfach  ver- 
ursacht war  durch  den  Zwang  wirthschaftlicher  Verhältnisse, 
durch  unzureichende  Bezahlung  für  bestimmte  Gedinge  z.  B., 
bei  denen  der  Arbeiter  unter  Beobachtung  der  „bestehenden 
Verbote“  zu  wenig  verdient  hätte.  Solche  Aeusserungen,  wie 
diejenige  der  Knappschafts-Berufsgenossenschaft,  tragen  den 
Stempel  der  Einseitigkeit  so  stark  auf  der  Stirn,  dass  der  Rück- 
schluss auf  die  gesammte  Praxis  der  staatlichen  organisirten 
Unfallversicherung  in  Deutschland  leider  kein  günstiger  sein 
kann. 

Strengere  Handhabung  des  Unfallversicherung- 
gesetzes  in  Deutschland.  Das  Reichsversicherungsamt 
hat  die  Berufsgenossenschaften  aufgefordert  die  wichtige 
Frage  der  Betriebsunfälle  der  Arbeiter  nicht  nur  fort- 
dauernd im  Auge  zu  behalten,  sondern  sich  auch  die  Er- 
mittelung der  in  dem  Arbeiterstande  über  die  Sache  her- 
vortretenden Ansichten  durch  entsprechende  Anhörung 
der  Vertreter  der  Arbeiter  nach  Möglichkeit  angelegen 
sein  zu  lassen.  Damit  ist  ein  Wunsch  in  Erfüllung  ge- 
gangen, der  im  „Sozialpol.  Centralbl.“  erst  ganz  kürzlich 
bei  Besprechung  der  amtlichen  Berichte  über  die  deutsche 
Unfallversicherung  geäussert  wurde. 

Der  Reichstag  beschloss  noch  vor  Schluss  der  Session 
die  Ausfüllung  einer  Lücke  im  § 87  Abs.  4 des  Unfallver- 
sicherunggesetzes und  im  § 95  Abs  5 des  Gesetzes  betr. 
die  Unfall-  und  Krankenversicherung  der  in  land-  und  forst- 
wirthschaftlichen  Betrieben  beschäftigten  Arbeiter.  An  den 
betreffenden  Stellen  wird  jetzt  folgende  am  1.  Oktober  d.  J. 
in  Kraft  tretende  Stelle  eingefügt  werden:  für  nichtständige 
Mitglieder  des  Reichsversicherungsamtes  sind  nach  Be- 
dürfnis (vom  Bundesrathe)  Stellvertreter  zu  bestellen, 
welche  die  Mitglieder  in  Verhinderungsfällen  zu  vertreten 
haben. 

Die  Einberufung  eines  Kongresses  der  freien  Hilfs- 
kassen wird  von  einem  parlamentarischen  Mitarbeiter  des 
„Vorwärts“  vorgeschlagen.  Derselbe  warnt  die  Kassenleitun- 
gen vor  überstürztem  Vorgehen,  der  Auflösung  der  Kassen 
oder  Umwandlung  derselben  in  Zuschusskassen.  Nur  bei 
gleichmässigem  und  einigem  Vorgehen  der  Kassen  sei  eine 
allzuschwere  Schädigung  derselben  zu  verhüten.  In  dem 
„Was  ist  zu  thun“  überschriebenen  Artikel  wird  empfohlen, 
dass  die  Vorstände  aller  grösseren  Hilfskassen  eine  Vertreter- 
Konferenz  zusammen  berufen,  von  welcher  die  Grundlagen 
für  ein  gemeinsames  Vorgehen  aller  Hilfskassen  in  den 
speziellen-  Generalversammlungen  derselben  geschaffen 
werden  sollen. 

Die  Frage,  ob  man  die  freien  Kassen  dann  ihres  jetzigen 
Charakters  entkleiden,  oder  ob  man  den  Kampf  mit  den 
widrigen  Verhältnissen,  vielleicht  durch  Gründung  grosser 
Medizinalverbände,  durch  Aufhebung  der  ganz  kleinen 
Zahlstellen  u.s.w.  aufnehmen,  und  so  die  Möglichkeit  weiterer 
Existenz  suchen  will,  diese  Fragen  mögen  dann  der  Ent- 
scheidung der  mit  praktischer  Sachkenntnis  ausgestatteten 
Berufenen  anheim  gegeben  werden. 


186 


SOZI  AI  .POLITISCHES  CENTRA I /RI , ATT. 


No.  14. 


Wohnungszustände. 


Nürnberger  Wohnungsznstände.  Ueber  Nürnberger 
Arbeiterwohnungen  hat  Herr  Dr.  Hess  eine  kleine  Enquete 
veranstaltet  und  zu  diesem  Zweck  500  Fragebogen  ver- 
theilt. Nur  für  150  Wohnungen  wurden  die  gestellten 
Fragen  beantwortet ; von  diesen  sind  75,  darunter  29  dunkle 
Räume,  dicht  bewohnt.  Ein  Abort  wird  durchschnittlich 
von  19  Personen,  in  einem  Fall  von  23  Parteien  benützt. 
Ueber  Flächenraum  und  Miethspreis  giebt  nachfolgende 


Tabelle  einigermassen 

Aufschluss: 

Wohnungen 

Durchschnittl. 
Miethspreis  per 

Zahl  der  einen 
Abort  benutzenden 

Quadratmeter 

Quadratmeter 

Personen 

unter  25 

7,70  M. 
5,79  „ 

27 

von  25 — 36 

20 

„ 36 — 50 

4,72  „ 

16 

über  50 

4,36  „ 

13 

Es  beträgt  somit  der  Miethspreis  der  kleinen  Wohnun- 
gen, nach  dem  Quadratinhalt  berechnet,  nahezu  nochmal 
soviel  als  der,  der  grösseren  Wohnungen.  Nach  der  Kopf- 
zahl berechnet,  wird  pro  Kopf  in  einer  Wohnung  unter 
25  Quadratmeter  für  den  Quadratmeter  I NI.  88  Pf.,  in 
einer  Wohnung  über  50  Quadratmeter,  74  Pf.  bezahlt.  Der 
sanitäre  Zustand  der  kleinen  Wohnungen  ist  nichts  weniger 
als  günstig.  Von  einer  in  der  Winklerstrasse  gelegenen 
Wohnung  wird  berichtet,  dass  von  den  Wänden  das  Wasser 
herabträufelt  und  der  Ofen  nicht  benützbar  ist.  Eine 
Wohnung  in  der  Vorstadt  Wöhrd  liegt  unter  dem  Strassen- 
niveau,  hat  einen  Gesammtflächeninhalt  von  1 7 m2  und  eine 
Höhe  von  2 Metern;  die  Fenster  zusammen  machen 
noch  keinen  Quadratmeter  aus.  Als  besonders  gesundheits- 
schädlich werden  die  von  der  Gemeinde  vermietheten 
Thurm-  und  Mauerwohnungen  bezeichnet.  Als  Hilfsmittel 
werden  befürwortet,  die  Niederlegung  der  Stadtmauer,  um 
Luft  und  Licht  zu  gewinnen;  die  Erbauung  von  Arbeiter- 
häusern bezw.  die  Abgabe  von  Grund  undBoden  hierzu  seitens 
der  Gemeinde,  sowie  die  Aufstellung  von  Wohnungsinspek- 
toren. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Der  Gesetzentwurf,  betreffend  die  Prud'homiues-Ge- 
richte  in  Frankreich  ist  von  der  Abgeordnetenkammer 
einstimmig  angenommen  worden,  ein  Fall,  den  man 
in  der  Geschichte  der  Sozialgesetzgebung  bisher  wohl 
vergeblich  suchen  dürfte.  Die  hauptsächlichsten  Be- 
stimmungen dieses  Gesetzes,  die  es  von  den  bestehenden 
einschlägigen  Gesetzen  Frankreichs  wie  der  übrigen  Länder 
so  vortheilhaft  unterscheidet,  haben  wir  bereits  in  einer 
frühem  Nummer  besprochen;  es  erübrigt  somit  nur  noch  auf 
einige  wichtige  Bestimmungen  hinzuweisen.  Da  ist  in  erster 
Reihe  anzuführen,  dass  die  Prud’hommes-Gerichte,  die  gegen- 
wärtig nur  über  Forderungen  bis  zum  Betrage  von  200  Frcs. 
endgiltig  urtheilen,  künftighin  dieselbe  Kompetenz  bei  For- 
derungen bis  zum  Betrage  von  500  Frcs.  haben  werden, 
und  dass,  während  jetzt  die  Handelsgerichte  als  Appell- 
gericht bei  allen  über  200  Frcs.  hinausgehende  Forderungen 
fungiren,  nach  Inslebentreten  dieses  Gesetzes  das  Civil- 
tribunal  die  Stelle  der  Handelsgerichte  einnehmen  wird, 
nur  mit  dem  Unterschied,  dass  es  erst  bei  Forderungen 
von  mehr  als  500  Frcs.  zu  richten  haben  wird.  Die 
Vorlage  bestimmte,  dass  die  Prud’hommes  auch  in 
zweiter  Instanz  urtheilen  sollen,  was  jedoch  abgelehnt 
wurde;  ebenso  ein  Antrag,  dass  die  höhere  Instanz  aus  ehe- 
maligen Prud’hommes  oder  Arbeitern  und  Unternehmern 
im  Alter  von  mehr  als  35  Jahren,  unter  Vorsitz  eines  Frie- 
densrichters, gebildet  werden  soll.  So  wünschenswerth  es 
nun  auch  wäre,  dass  bei  allen  aus  dem  Arbeitsvertrag  ent- 
springenden Streitigkeiten,  um  welchen  Betrag  es  sich  da- 
bei auch  immer  handeln  möge,  die  Prud’hommes-Gerichte 
die  höchste  Instanz  bilden,  ist  auf  die  getroffene  Bestim- 
mung kein  besonderes  Gewicht  zu  legen,  da  Streitigkeiten 
über  Forderungen  von  mehr  als  500  Frcs.  wohl  selten  zum 
Austrag  gebracht  werden  und  nach  der  bisherigen  Praxis 
zu  urtheilen,  wohl  noch  seltener  zu  einer  Berufung  Anlass 
geben  dürften.  So  sind  in  den  Jahren  1879  bis  inklusive  1888 
d.  i.  in  einem  Zeitraum  von  zehn  Jahren,  von  410  280  den, 
Prud’hommes-Gerichten  unterbreiteten  Streitangelegenheiten 


nur  2445  den  Richtern  zweiter  Instanz  vorgelegt  worden, 
also  nicht  einmal  ein  Prozent,  obgleich  die  Prud’hommes 
nur  bei  Beträgen  bis  zu  200  Frcs.  endgiltig  richten  konnten. 
Solche  Berufungen  dürften  also  künftighin  verhältnissmässig 
noch  viel  weniger  Vorkommen. 

Viel  mehr  Gewicht,  weil  prinzipieller  Natur,  wäre 
darauf  zu  legen,  dass  der  Entwurf  keine  Bestimmung  ent- 
hält, die  den  Prud’hommes-Räthen  eine  Entlohnung  für  ihre 
Mühewaltung  zuspricht.  Ein  dahin  gehender  Antrag  wurde 
mit  239  gegen  238  Stimmen,  also  mit  nur  einer  Stimme  Ma- 
jorität verworfen.  Damit  ist  allerdings  nicht  gesagt,  dass  die 
Beisitzer  ihr  Amt  unentgeltlich  zu  verrichten  haben,  sondern 
dass  die  Bezahlung,  wie  bisher,  den  Gemeinden  überlassen 
bleibt,  in  welchen  Prud’hommes  - Gerichte  bestehen,  ln 
Paris  z.  B.  erhalten  die  Beisitzer,  sowohl  Arbeiter  wie  Unter- 
nehmer, 1200  Frcs.  jährlich,  und  gedenkt  der  Gemeinderath 
diese  Summe  auf  1800  Frcs.  zu  erhöhen.  In  minder  grossen 
Gemeinden  erhalten  sie  Präsenzgelder  oder  es  werden  bloss 
die  Arbeiter-Prud’hommes  für  ihre  Mühewaltung  entlohnt. 
Dass  die  Gemeinden  auch  weiterhin  ihren  diesbezüglichen 
Pflichten  nachkommen  werden,  darüber  kann  kein  Zweifel 
sein,  aber  richtiger  und  zugleich  demokratischer  wäre  es 
gewesen,  die  Entlohnung  im  Gesetze  auszusprechen,  anstatt 
sie  von  dem  guten  Willen  der  Gemeinderäthe  abhängen  zu 
lassen. 

Nichtsdestoweniger  bedeutet  dieses  Gesetz  nach  vielen 
Richtungen  hin  und  besonders  dadurch,  dass  es  die  Wirk- 
samkeit der  Prud’hommes-Gerichte  auf  Industrie,  Handel, 
Verkehr  zu  Lande  und  zu  Wasser,  sowie  auf  die  Land- 
wirtschaft ausdehnt,  einen  ungemeinen  Fortschritt  auf 
diesem  Gebiete.  Dies  hat  auch  der  sozialistische  Abgeord- 
nete Antide  Boyer,  der  mit  mehreren  seiner  Kollegen  viel- 
fach in  die  Debatte  eingriff,  dadurch  zu  erkennen  gegeben, 
dass  er  am  Schlüsse  derselben  erklärte:  „Ich,  sowie  viele 

meiner  Kollegen  sind  von  verschiedenen  im  Gesetze  einge- 
führten Verfügungen  sicherlich  nicht  sehr  befriedigt,  nichts- 
destoweniger werden  wir,  indem  wir  uns  für  die  Folge  weitere ; 
Vorschläge  behufs  Durchführung  einzelner  Verbesserungen  ' 
Vorbehalten,  welche  die  Erfahrung  als  gut  und  nützlich 
erkennen  lassen  wird,  für  den  gegenwärtigen  Entwurf, 
stimmen  und  bitten  die  Kammer  das  Gleiche  zu  thun.“ 

Zu  wünschen  bliebe  jetzt  nur  noch,  dass  auch  der  Senat 
dem  vorliegenden  Gesetzentwurf  seine  Zustimmung  gebe. 

Arbeiter  PnuVlioninies  uiul  Imperativmandate.  Die 

wegen  Annullirung  von  vier  Wahlen  erfolgte  Massende- 
mission der  Pariser  Arbeiter-  Prud’hommes,  worüber  wir 
bereits  in  No.  9 des  „S.  C.“  berichtet  haben,  ist  auch 
vor  dem  Munizipalrath  zu  Sprache  gelangt  und  damit; 
zugleich  die  Frage  der  Imperativmandate.  Auf  einei 
Anfrage,  wann  der  Seinepräfekt  die  durch  Demissionirung 
sowie  Annullirung  nothwendig  gewordenen  Prud’hommes- 
wahlen  ausschreiben  werde,  antwortete  dieser  nämlich,  dass 
die  Wahlen  im  Monat  Mai  stattfinden  sollen,  aber  nur  be- 
hufs Ersatzes  jener  Beiräthe,  deren  Wahl  annullirt  wurde 
oder  die  mit  Tod  abgegangen  sind,  nicht  aber  der  De- 
missionäre, da  er  deren  Demission,  die  zum  grössten  Theil 
nicht  von  ihnen  selbst,  sondern  von  einem  Komitee,  das  sich 
Ueberwachungskomitee  nenne,  eingeschickt  wurde,  nicht 
anerkennen  könne,  und  zwar  um  so  weniger,  als  er  durch 
die  Entscheidung  des  Staatsraths  in  Bezug  auf  die  Imperativ- 
mandate in  seiner  Auffassung  nur  bestärkt  werde.  Darauf- 
hin wurde  dem  Präfekten  u.  A.  erwidert,  dass  wenn  das 
Gesetz  auch  nicht  das  Imperativmandat  schütze,  so  doch 
auch  kein  Gesetz  dasselbe  verbiete.  Es  stehe  jedem  Kan- 
didaten frei,  seine  Demission  im  vorhinein  zu  unterzeichnen 
oder  diese  Forderung  zurückzuweisen;  habe  er  sie  aber 
unterzeichnet  und  damit  seinen  Wählern  gegenüber  eine 
Verbindlichkeit  übernommen,  dann  dürfe  die  Unterschritt 
unter  keinem  Vorwand  verleugnet  werden.  Es  sei  sehr  be-  , 
dauerlich,  ja  selbst  wenig  moralisch,  wenn  ein  Beamter  der 
Republik  sich  weigere,  eine  unter  solchen  Umständen  ge- 
gebene Demission  anzunehmen.  Dem  Rechte  der  Gewählten 
stehe  das  Recht  der  Wähler  gegenüber.  Schliesslich  nahm 
der  Gemeinderath  einen  Antrag  an,  der  dahin  ging,  dass 
die  Arbeiterwähler  jener  Prud’hommesgerichte,  deren  Sitze 
sei  es  durch  Wahlannullirung,  sei  es  durch  Demissionirung 
frei  geworden  sind,  unverzüglich  einzuberufen  seien  Der 
Antrag  ging  von  dem  bekannten  Munizipalrath  Ed.  Vaillant 
aus  und  war  von  seinen  Kollegen  Chauviere,  Longuet  — 
einem  Schwiegersohn  von  Karl  Marx  — , Faillet,  Bertliaut, 
Prudent-DerviTlers  und  Rouanet  unterzeichnet,  die  den  ver- 
schiedenen, im  Pariser  Gemeinderath  vertretenen  sozialisti- 
schen Fraktionen  angehören. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  l)r.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  11.  April  1892 


Nummer  15. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber : 


Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostamter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf, 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


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INHALT. 


Die  neueste  sächsische  Fabrik- 
arbeit  er  auf  nähme  und  ihre 
sozialstatistischen  Ergeb- 
nisse. Von  Dr.  Max  Quarck. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  11. 
Wirthschaftsstatistik : 

Statistik  der  in  deutschen  Fabriken 
beschäftigten  Arbeiterinnen. 

Maschinelle  Vervollkommnung  in 
Folge  von  Lohnbewegungen. 

Arbeiterzustände: 

Die  Kinderarbeit  in  der  russischen 
Fabrikindustrie.  Von  Dr.Sophie 
Daszynska. 

Vertreter  des  Hundesraths  in  der 
Kommission  für  Arbeiterstatistik. 

Arbeitslöhne  in  der  preussischen 
Staatseisenbahnverwaltung. 

Zur  Lage  der  Flisenbahnbedienste- 
ten  in  den  Vereinigten  Staaten. 

Statistische  Erhebungen  aus  dem 
Steinmetzgewerbe  von  Dresden 
und  L'mgegeml. 

Arbeiterzustände  in  Ziegeleien. 

Der  Nothstand  unter  den  ost- 
schweizerischen Stickern. 

Lohnverhältnisse  in  der  ostindi- 
schen Eisen-  und  Stahlindustrie. 
Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Ausstands  - Versicherungs  - Vereine 
in  Preusscn. 

Unternehmerverbände : 

Der  Deutsche  Schienenverband. 

Die  Gesetzgebung  gegen  die  Trusts 
und  der  Standard  Oil  Trust. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

l eher  die  Beschäftigung  jugend- 
licher Arbeiter  in  Hechelräumen. 


Sonntagsruhe  im  Cigarrenhandel. 

Zur  Beseitigung  der  Nachtarbeit  in 
den  Kammgarnspinnereien. 

Arbeiterversicherung: 

Die  statistischen  Ergebnisse  der  Ar- 
beiter-Unfallversicherung in  Oes- 
terreich. Von  I )r.  Er nst  Fürs ch- 
berg. 

Knappschaftsvereine  deutscher 
Bergleute. 

Wohnungszustände  und  Woli- 
nungsgesetzgebung  : 

Wohnungsgesetzgebung  in  Braun- 
schweig. 

Wohnungsverhältnisse  der  ober- 
schlesischen I ndustriearbeiter. 

Geschlechtsvermischung  in  Ar- 
beiterwohnungen. 

Arbeiterwohnungeil  in  Russland. 

Soziale  Hygiene: 

I )ie  Trunksucht  als  Todesursache 
in  den  15  grösseren  städtischen 
Gemeinden  der  Schweiz. 

Kriminalität: 

Arbeitsverdienst  der  Gefangenen. 

Litteratur: 

L a u t e n s c h 1 a g e r , Ernst,  Er- 
hebungen für  die  Sonntagsruhe 
in  Stuttgart. 

Somogyi,  Email.,  Die  Lage  der 
Arbeiter  in  Ungarn  vom  hygie- 
nischen Standpunkt. 

Biirkli,  Karl,  der  Ursprung  der 
Eidgenossenschaft  aus  der  Mark- 
genossenschaft und  die  Schlacht 
am  Moorgarten. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  neueste  sächsische  Fabrikarbeiteraufnahme 
und  ihre  sozialstatistischen  Ergebnisse. 


Bin  bundesstaatliches  Unikum  ist  es,  dass  im  Deutschen 
Reiche  die  regelmässige  jährliche  Arbeiterstatistik,  welche 
sich  aut  alle  Arbeiterkategorien  erstreckt,  abgesehen  von 
ein  paar  kleinen  Fabrikinspektionsbezirken  und  dem  bayeri- 
schen Bergbau,  der  eine  solche  Statistik  besitzt1),  nur  in 
einem  einzigen  Bundestaate  gepflegt  wird:  im  Königreich 
Sachsen,  das  gewissermassen  eine  sozialstatistische  Oase  in 
der  preussischen  und  bayerischen  Wüste  bildet,  von  der  es 


) Aergl.  meine  Abhandlung:  „Die  Entwicklung  der  bayeri- 
schen Bergwerksindustrie  in  den  letzen  acht  Jahren“  (Bayerische 
Handelszeitung,  München,  XXII.  Jahrgang,  No.  7 bis  9). 


umgeben  ist.  Die  soeben  erschienenen  „Jahresberichte 
der  Königlich  Sächsischen  Gewerbeinspektoren 
für  1891.  Zusammengestellt  im  Königl.  Sächs.  Ministerium 
des  Innern“  (Dresden,  F.  Lomatzsch,  1892,  232  Seiten)  mit 
ihrer  Fortsetzung  der  sächsischen  Arbeiterstatistik  für  das 
verflossene  Jahr  geben  erneuten  Anlass,  diese  Thatsache 
hervorzuheben;  und  sie  laden  auf  der  anderen  Seite  zu  dem 
unseres  Wissens  noch  von  keiner  Seite  in  Angriff  ge- 
nommenen \ ersuch  ein,  die  wichtigen  und  aktuellen  Er- 
hebungsresultate einmal  sozialstatistisch  zu  bearbeiten. 
Doppelt  interessant  ist  diese  Aufgabe  jetzt,  wo  die  Behör- 
den im  gesammten  Deutschen  Reich  an  der  Ausführung 
der  neuen  Gewerbeordnung  sind,  ohne  sich  ausserhalb 
Sachsens  von  der  Ausdehnung  der  in  Betracht  kommenden 
Kreise  irgend  eine  genaue  Vorstellung  machen  zu  können. 
Und  doch  ist  die  Kenntniss  von  den  merkwürdigen  Ver- 
schiebungen,  die  sich  innerhalb  der  Arbeiterbevölkerung 
der  verschiedensten  Industriezweige  in  wenigen  Jahren  voll- 
ziehen, nahezu  unentbehrlich  für  die  Anpassung  gewerbe- 
rechtlicher  Vorschriften  an  die  praktische  Entwicklung,  wie 
unsere  Betrachtung  zeigen  wird,  ganz  abgesehen  von  dem 
Werth  dieser  Kenntniss  für  die  gesetzgeberische  Arbeit. 

Geht  man  in  diesem  Sinne  und  im  Hinblick  auf  sozial- 
politische Verwendungszwecke  an  eine  Bearbeitung  der 
neuesten  und  früheren  sächsischen  Arbeiterstatistik,  so  er- 
giebt  sich  freilich  auch  gleich  eine  Beschränkung  des  an- 
scheinend reichhaltig  vorliegenden  Materials.  Die  sächsische 
Gewerbeinspektion  macht  seit  1883  regelmässige  jährliche 
arbeitsstatische  Massnahmen;  aber  erst  die  Ergebnisse  seit 
1888  sind  wissenschaftlich  verwerth-  und  vergleichbar.  Von 
1883  bis  1887  befand  sich  die  Arbeiterstatistik  der  sächsi- 
schen Gewerbeinspektion  in  der  Versuchsperiode.  Die 
Ministerial Verordnung  vom  4.  Dezember  1882  führte  unter 
Zifter  3 die  jährliche  Fabrikarbeiterzählung  so  ein,  dass  sie 
die  Gewerbepolizeibehörden  anwies,  vorgeschriebene  Zähl- 
formulare  „denjenigen  Gewerbeunternehmern,  welche  Fabrik- 
arbeiter im  Sinne  der  Gewerbeordnung  beschäftigen,  mit 
der  Veranlassung  zuzufertigen,  die  Formulare  am  1.  Mai  . . . 
auszufüllen.  Die  ausgefüllten  Formulare  sind  ungesäumt 
an  die  Behörden  zurückzugeben  und  von  Letzterer  im  Laufe 
des  Monat  Mai  bei  der  Kreishauptmannschaft  einzureichen, 
welche  sodann  die  gesammelten  Listen  der  Fabriken-Inspek- 
tion  zutertigt.“  Eine  weitere  Ministerialverordnung  vom 
6.  Dezember  1883  sagt  in  ihrer  Einleitung,  dass  bei  der 
ersten  Zählung  vom  Mai  1883  „die  Gewerbepolizeibehörden 
im  Mangel  einer  Begriffsdefinition  der  Fabriken  bei  Aus- 
theilung  der  Zählformulare  von  sehr  verschiedenen  Gesichts- 
punkten ausgegangen“  seien.  „Um  für  die  Folge  gleich- 
artige Ergebnisse  zu  gewinnen,“  werden  in  dieser  Verord- 
nung vier  Merkmale  für  den  Begriff  „Fabrik“  gegeben  (min- 


188 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRA1  .BLATT. 


Nu.  15. 


destens  10  Arbeiter,  Dampfkessel,  sonstige  Motoren,  Ge- 
nehmigungspflicht nach  § 16  der  G.  O.).  Aber  eine  Ver- 
ordnung vom  1.  Juni  1886  stellt  von  Neuem  fest,  dass  die 
Ergebnisse  der  Zählung  „noch  nicht  die  befriedigende  Voll- 
ständigkeit gewonnen  haben“.  Sie  vertilgt  deshalb,  dass 
die  Gewerbepolizeibehörden  bereits  im  März  jeden  Jahres 
ein  Verzeichniss  der  Fabriken  aufstellen  sollen;  dieses  Ver- 
zeichniss ist  der  Gewerbeinspektion  zur  Durchsicht  und 
Berichtigung  einzureichen,  und  erst  aut  Grund  des  berich- 
tigten Verzeichnisses  ist  die  Vertheilung  der  Zählformulare 
für  den  1.  Mai  vorzunehmen.  Jedoch  führte  auch  diese 
Massnahme  noch  nicht  zu  einwandsfreien  Ergebnissen.  In 
der  „Vorbemerkung“  zu  den  Jahresberichten  der  sächsischen 
Gewerbeinspektion  für  1888  heisst  es  nämlich,  dass  auch  bei 
dem  Berichtigungsverfahren  noch  „seitens  der  Gewerbe- 
inspektionen verschiedene  Grundsätze  eingehalten“  worden 
seien.  Man  habe  deshalb  zu  einer  Massregel  gegriffen,  die 
sich  in  der  umgekehrten  Richtung  bewegte,  als  die  bisher 
getroffenen.  Man  habe  gewisse  Betriebskategorien  (folgt 
unter  a)  bis  i)  eine  Liste)  als  Nichtfabriken  von  der  Zählung 
bezw.  Zusammenstellung  ausgeschlossen,  also  die  Begriffs- 
detinition  von  der  negativen  Seite  vervollständigt.  Die 
amtliche  „Vorbemerkung“  schliesst:  „hierdurch,  wie  durch 
Einhaltung  bestimmter  Grundsätze  bei  der  Verarbeitung 
der  Zählergebnisse  wurde  eine  für  den  Vergleich  dieser 
Zählergebnisse  mit  dem  künftigen  Berichtsjahre  möglichst 
zuverlässige  Unterlage  erlangt“,  und  damit  ist  die  Versuchs- 
periode der  sächsischen  Arbeiterstatistik,  deren  Lehren 
hoffentlich  von  der  neugeschaffenen  Reichskommission 
für  Arbeitsstatistik  beachtet  werden,  abgeschlossen.  ; 
Vom  Jahre  1888  ab  dürfen  die  Resultate  der  einzigen  fort- 
laufenden Arbeiterstatistik  in  Deutschland,  eben  die  sächsi- 
schen, sozialstatistisch  und  sozialpolitisch  benutzt  werden, 
und  das  geschieht  in  den  nachfolgenden  Zeilen  unter  Ver- 
werthung  des  neuesten,  oben  zitirten  Berichtsbandes: 

Beginnen  wir  mit  der  Uebersicht  der  Fabrikanlagen. 
Die  Zahl  derselben  betrug: 


Davon  wurden  betrieben 


im  Jahre 


ms- 

gesammt 


1888 

1889 

1890 

1891 


12  931 

12  963 

13  386 
13  706 


mit  mit 


ugendlich. 
Aibeitern  I 


Dampf 


5 495  4 571 

5 641  4 750 

6 042  5 039 

6 069  5 222 


mit 

sonstigen 

Motoren 


4 784 
4 757 
4 855 
4 980 


ohne 

Motoren 


3 576 
3 456 
3 492 
3 504 


Schon  diese  Tabelle  zeigt  uns  die  kapitalistische  Ent- 
wickelung auf  dem  Gebiete  der  Fabrikindustrie  mit  grosser 
Deutlichkeit.  Während  die  Fabrikanlagen  überhaupt  in 
den  4 Jahren  nur  um  ca.  6"/0  Zunahmen,  vermehrten  sich 
die  Etablissements  mit  Dampfbetrieb  um  14,  diejenigen  mit 
jugendlichen  Arbeitern  um  10%,  und  die  Anlagen  mit  sonsti- 
gen Motoren  blieben  entsprechend  in  der  Vermehrung  zu- 
rück, während  sich  diejenigen  ohne  Motoren  sogar  ver- 
minderten. Dem  entspricht  die  ziffermässige  Entwicklung 
der  verschiedenen,  in  den  sächsischen  Fabriken  beschäf- 
tigten Arbeiterkategorien.  Dieselbe  giebt  für  die  Jahre 
1888  bis  1891  folgendes  Bild: 


Jahr 

Erwachsene 

Arbeiter 

Jugendliche 

Arbeiter 

Kindliche 

Arbeiter 

mann-  j 
lieh  | 

weih-  zusam- 

lich  men 

m ä n n - ! 
lieh  | 

weih-  zusam- 
lich  men 

männ- 

lich 

weib- 
1 lieh 

zusam- 

men 

1888 

191  434 

92  134  283  568 

15141 

1 1 91 1 27  052 

6 865 

4 144 

11  009 

1889 

204  108 

97  878  301  986 

15  391 

1 1 752  27  143 

7 203 

4 166 

1 1 369 

1890 

220  706 

105  492  326  198 

17  344 

13  268  30  612 

7 846 

i 4 602 

12  448 

1891 

222  716 

107  756  330  472 

17  568 

12  833  30  401 

6 770 

3 898 

10  668 

Diese  Uebersicht  lehrt  Folgendes:  Die  Gesammtzahl 

aller  Arbeiter  wuchs  in  unserer  Berichtsperiode  von  321  629 


auf  371  541  Köpfe,  also  um  rund  1 5 %.  I )iese  t lesammt- 
zunahme  vertheilt  sich  aber  durchaus  nicht  gleichmässig 
auf  alle  Arbeiter kategorien.  Bei  den  einzelnen  Klassen 
fanden  vielmehr  die  mannigfaltigsten  Verschiebungen  statt. 
Am  stärksten  nahm  die  Ziffer  der  erwachsenen  weiblichen 
Arbeiter  zu,  nämlich  von  1888  auf  1889  um  17  "/n;  dann 
folgen  die  erwachsenen  und  die  jugendlichen  männlichen 
Arbeiter  mit  einer  Vermehrung  um  16n/oi  die  weiblichen 
jugendlichen  Arbeiter  dagegen  zeigen  insgesammt  nur  eine 
Zunahme  um  rund  8%,  zwischen  den  Jahren  1890  und  1891 
sogar  eine  kleine  Abnahme,  und  die  kindlichen  Arbeiter 
verminderten  sich,  nachdem  sie  bis  1890  eine  13prozentige 
Vermehrung  aufzuweisen  hatten,  im  Laufe  des  Krisenjahres 
1891  sogar  unter  ihren  Stand  von  1888.  Man  könnte  in  den 
letztgenannten  Ziffern,  wenn  sie  nicht  hauptsächlich  eine 
Wirkung  der  Produktionsstockung  und  der  antizipirten 
Anpassung  an  die  neuen  Vorschriften  der  Gewerbeordnung 
wären,  vielleicht  gesunde  Symptome  erblicken.  Aber 
Zweierlei  belehrt  uns  eines  Anderen:  die  ganz  anormale 
Zunahme  der  Beschäftigung  weiblicher  erwachsener  Ar- 
beiter, die  der  Bericht  für  1891  an  verschiedenen  Stellen 
ausdrücklich  mit  der  kapitalistischen,  schonungslos  über  das 
Familienleben  hinwegschreitenden  Rücksicht  auf  die  grössere 
Billigkeit  dieser  Kräfte  erklärt,  und  weiter  die  Sprache  der 
Statistik,  wenn  man  sie  in  die  einzelnen  Industriezweige 
hinein  verfolgt.  An  dieser  Stelle  können  nicht  sämmtliche 
Gewerbegruppen  Sachsens  in  der  Entwickelung  ihrer  Ar- 
beiterbevölkerung vorgeführt  werden;  wir  greifen  deshalb 
die  industriell  am  meisten  entwickelten  und  die  durch  ihre  . 
Arbeiterzahl  numerisch  überwiegenden  heraus,  indem  wir  , 
ihre  Ziffern  aus  den  neuesten  und  früheren  Berichtsbänden 
herausschälen.  An  der  Spitze  steht  die  Textilindustrie.  ; 
Dieselbe  beschäftigte:  , 


im 

Erwachsene 

Arbeiter 

J ugendliche 
Arbeiter 

Kindliche 

Arbeiter 

Jahre 

mann-  weib-  zusam- 

lich  lieh  | men 

mä  n n- 
lich 

weib- 

lich 

zusam- 

men 

männ-  weib-  zusara-  f 
lieh  , lieh  men  >,  ■ 

i 

1888 

53  218  59  160  112  370 

4 778 

8 171 

12  949 

■1  ! 

2 998  2 764  5 762  j 

1889 

60  696  68  120  128  816 

4 840 

8 452 

13  292 

2 782  2 499  5 281  < 
6 

\ 

Hier  kommt  noch  eine  ähnliche  Erscheinung  zum  | 
Durchbruch,  wie  in  der  Hauptübersicht.  Ein  Nachlassen 
der  Kinderarbeit  und  eine  relativ  geringe  Zunahme  der 
jugendlichen  Arbeit,  welches  ebenfalls  aut  die  ausschliess- 
liche Rechnung  des  Krisenjahres  1890  zu  setzen  ist  Aber 
eine  Zusatzziffer  zeigt  bereits,  dass  die  Ausnutzung  jugend- 
licher Arbeitskräfte  daneben  doch  in  die  Breite  ging.  Die 
Zunahme  der  Anlagen  mit  jugendlichen  Arbeitern  von  1732 
im  Jahre  1888  auf  1852  im  Jahre  1891,  und  die  Abnahme  der 
Textiletablissements  ohne  Motoren  von  546  auf  492.  Ausser- 
dem schreitet  die  Exploitation  der  Frau  unaufhaltsam  vor- 
wärts. Das  weibliche  Geschlecht  stellt  1888  erst  52,  1891 
trotz  der  Krise  bereits  53  Prozent  aller  erwachsenen  Ar- 
beiter, aber  noch  tiefer  in  die  kapitalistische  Entwicklung 
lassen  folgende  Zahlenreihen  blicken.  In  der  sächsischen 
Industrie  der  Maschinen  und  Werkzeuge  wurden  gezählt 
Arbeiter: 


im  Jahre 

Erwachsene 
männl.  weibl. 

Jugendliche 
männl.  weibl 

Kindliche 
männl.  weibl. 

1888 

33  127  907 

2 524  128 

224  26 

1890 

41  414  1 236 

3 741  189 

367  1 43 

1891 

38  929  1 335 

3 734  169 

308  22 

1 

Hier  hat  gerade  im  Krisenjahre  die  Exploitation  der 
Frau  diejenige  des  Mannes  geschlagen.  Das  Heer  der 
männlichen  erwachsenen  Kräfte  wurde  vermindert,  das- 


No.  15. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


160 


jenige  der  weiblichen  vermehrt,  und  dies  in  der  Maschinen- 
industrie mit  ihren  schweren  Verrichtungen.  Freilich 
. zeigen  die  Zahlen  von  1888  und  1890,  dass  die  schweren 
Verrichtungen  nicht  einmal  das  Vordringen  der  Kinder- 
j arbeit  hindere.  Die  Maschine  hilft  eben  nach,  und  die 
j »Billigkeit«  geht  über  Alles.  Und  noch  ausgesprochener 
weisen  folgende  Gewerbegruppen  die  Heranziehung  jugend- 
licher, sowie  erwachsener  weiblicher  Kräfte  aui  Unkosten 
der  erwachsenen  männlichen  auf: 


Mepall  v era  r b e i tu  n g 


im  Jahre 

Erwachs. 

männl. 

Arbeiter 

weibl. 

J ugendl. 
männl. 

Arbeiter 

weibl 

Kindl. 

männl. 

Arbeiter 

weibl. 

1888 

12  930 

1 635 

1 411 

242 

432 

43 

1891 

15  035 

2 408 

1 890 

380 

483 

71 

Papier-  u n 

d L e d e r i n d u s t r 

ie: 

1888 

14  970 

6 177 

931 

602 

412 

159 

1891 

16615 

6 966 

1 075 

664 

459 

161 

Holz- 

und  Sc 

hnitzstoffindustrie: 

1888 

12  875 

1 764 

965 

198 

421 

103 

1891 

17  990 

2 232 

1 207 

235 

596 

120 

Be 

k 1 e i d u n g und  R e i n i g u r 

g: 

1888 

5 540 

8 054 

239 

1 161 

255 

341 

1891 

7 173 

10  308 

399 

1 442 

309 

429 

Gewiss  diese  Gruppen  sind  herausgesucht,  und  es 
fehlt  daneben  der  kleine  Rest  derjenigen  in  welchen  sich 
die  kapitalistische  Entwicklung  entweder  überhaupt  noch 
weniger ‘ausgesprochen  äussert,  oder  deren  Natur  vorläufig 
die  Verwendung  billiger  Kräfte  verbietet,  oder  bei  denen 
das  Krisenjahr  wirksam  mit  der  »billigen«  Arbeit  aufräumte. 
Aber  es  war  einmal  nothwendig,  die  Kehrseite  besonders 
stark  zu  beleuchten,  nachdem  mit  den  grossen,  verallge- 
meinerten Ziffern  der  Frauen-  und  Kinderbeschäftigung  aus 
den  Berichten  der  sächsischen  Fabrikinspektoren  schon  so 
oft  schönfärberischer  Missbrauch  getrieben  worden  ist  und 
sicher  auch  jetzt  wieder  getrieben  werden  wird,  da  sich 
eine  kleine  Abnahme  der  Frauen-  und  Kinderausnutzung, 
aber  lediglich  gegen  1890  und  lediglich  in  vereinzelten  Ge- 
werbegruppen zeigt.  Demgegenüber  kann  der  kapitalistische 
Zug  der  sächsischen  Industrieentwicklung  in  den  Haupt- 
branchen nicht  entschieden  genug  betont  werden  an  der 
Hand  der  Einzelheiten  aus  den  neuesten  Inspektoren- 
berichten und  ihrer  in  Deutschland  einzig  dastehenden 
Arbeiterstatistik. 

Vielleicht  trägt  die  häufigere  Hervorhebung  des  Vor- 
sprungs, den  das  Königreich  Sachsen  in  Sachen  dieser 
: Sozialstatistik  vor  allen  anderen  deutschen  Staaten  hat, 
doch  nach  und  nach  dazu  bei,  ein  lebhafteres  Gefühl  der 
Beschämung  und  die  noth wendigen  Folgen  desselben  an 
denjenigen  Stellen  hervorzurufen,  die  es  angeht.  Alle 
sonstigen  deutschen  Inspektionsberichte  ohne  fortlaufende 
Arbeiterstatistik  sind  bedauerliches  Stückwerk. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
statistik. 


haft  erscheinen,  ob  auch  diejenigen  Arbeitgeber  verpflichtet 
sind,  der  Ortspolizeibehörde  eine  schriftliche  Anzeige  über 
die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  über  16  Jahre  zu  er- 
statten, welche  bereits  vor  dem  1.  April  1892  solche  Ar- 
beiterinnen in  Fabriken  und  die  gleichstehenden  Anlagen 
(§§  154  Absatz  2 und  154  a)  beschäftigt  haben.  Hiervon  ab- 
gesehen, bezieht  sich  aber  auch  diese  Verpflichtung  ledig- 
lich auf  die  Mittheilung,  dass  Arbeiterinnen  überhaupt  be- 
schäftigt werden,  dagegen  nicht  auf  die  Angabe  ihrer  Zahl. 
Für  die  Durchführung  des  Gesetzes  und  die  Beurtheilung 
seiner  Wirkung  dürfte  indessen  die  Kenntniss  dieser  Zahlen 
unerlässlich  sein.  Einen  besonderen  Werth  würden  dieselben 
erhalten,  wenn  dabei  die  minderjährigen  und  die  gross- 
jährigen  Arbeiterinnen  unterschieden  würden.  Hiernach 
wird  es  sich,  wie  eine  dem  Bundesrath  zugegangene  Denk- 
schrift ausführt,  empfehlen,  zum  Zweck  der  Ermittelung 
dieser  Zahlen  von  der  im  § 139b  Absatz  5 der  Novelle  vor- 
gesehenen Bestimmung  Gebrauch  zu  machen,  wonach  die 
Arbeitgeber  verpflichtet  sind,  der  Polizeibehörde  diejenigen 
statistischen  Mittheilungen  über  die  Verhältnisse  ihrer  Ar- 
beiter zu  machen,  welche  vom  Bundesrath  oder  von  der 
Landeszentralbehörde  unter  Festsetzung  der  dabei  zu  beob- 
achtenden Fristen  und  Formen  vorgeschrieben  werden. 
Die  hier  in  Frage  stehenden  Ermittelungen  werden  ihrem 
Zweck  gemäss  für  das  ganze  Reichsgebiet  angestellt  werden 
müssen.  Es  ist  deshalb  soeben  dem  Bundesrath  der  Ent- 
wurf einer  Verordnung,  betreffend  die  Verpflichtung  der 
Arbeitgeber  zur  Mittheilung  der  Zahl  der  in  Fabriken  und 
diesen  gleichstehenden  Anlagen  am  1.  April  1892  beschäf- 
tigten Arbeiterinnen,  zur  schleunigen  Beschlussfassung  zu- 
»■egangen. 

o o o 

Maschinelle  Vervollkommnung  in  Folge  von  Lohnbewe- 
gungen. Eine  der  interessantesten  Stellen  in  dem  soeben  er- 
schienenen Jahresberichte  der  Königlich  sächsischen  Gewerbe- 
inspektion für  1891  ist  folgende  Mittheilung  des  Aufsichtsbeamten 
für  den  Bezirk  Leipzig,  die  den  unmittelbaren  Einfluss  der 
Lohnbewegungen  vielleicht  etwas  überschätzt,  im  Fiebrigen  aber 
ein  anschauliches  Bild  der  in  Folge  vervollkommneter  Technik 
sich  zuspitzenden  industriellen  Gegensätze  bietet.  Sie  lautet 
(S.88a.a.O.):„  Die  fortwährende  Beunruhigung  der  Industrie  durch 
Lohnbewegungen  in  neuerer  Zeit,  wo  der  Geschäftsgang  ein 
unbefriedigender  ist,  zwingt  die  Arbeitgeber,  ihre  Interessen 
thunlichst  gemeinsam  nach  allen  Seiten  hin  zu  wahren,  wodurch 
sich  aber  die  Gegensätze  zum  Nachtheil  der  Arbeiter  in  bekla- 
genswerther  Weise  verschärfen.  Man  darf  sich  nicht  wundern, 
wenn  der  Unternehmer  sein  Augenmerk  auf  die  Beschaffung 
von  Einrichtungen  lenkt,  welche  ihn  in  die  Lage  bringen,  der 
drückend  werdenden  Begehrlichkeit  und  Massregelung  durch 
die  Arbeiterschaft  möglichst  entgegen  zu  treten.  In  dieser  Be- 
ziehung sind  als  neue  Erscheinung  die  automatisch  arbeitenden 
Spezialmaschinen  einer  Maschinenfabrik  zu  erwähnen,  von  denen 
eine  ganze  Reihe  bei  fortwährendem  Gange  nur  von  einer  Per- 
son bedient  zu  werden  braucht.  Weiter  hat  sich  der  Besitzer 
einer  Feilenhauerei  in  Folge  der  wiederholten  Ausstände  der 
Feilenhauer  veranlasst  gesehen,  eine  nur  von  einem  Tagelöhner 
bediente  Feilenhau-Maschine  zu  beschaffen,  welche  die  Arbeit 
von  vier  bis  sechs  gelernten  Feilenhauern  ersetzt  und  dabei 
angeblich  noch  sorgfältiger  arbeitet,  als  es  mit  der  Hand  möglich 
ist.  Es  wird  beabsichtigt,  noch  mehr  dergleichen  Maschinen  in 
Betrieb  zu  setzen,  um  auf  diese  Weise  noch  mehr  gelernte  Ar- 
beiter entbehrlich  zu  machen.  Hierbei  ist  hervorzuheben,  dass 
sich  die  in  der  fraglichen  Feilenhauerei  unausgesetzt  beschäf- 
tigten Schleifer  und  Schmiede  niemals  dem  Vorgehen  der  Feilen- 
hauer angeschlossen  haben.  In  einer  grösseren  Maschinenfabrik, 
deren  Arbeiterstand  rund  600  Köpfe  zählt  und  in  welcher  sich 
der  höchste  Jahresverdienst  der  Arbeiter  auf  1600  bis  1800  M., 
der  Durchschnittsverdienst  eines  Arbeiters  aber  auf  38  Pf.  für 
die  Stunde  stellt,  erklärten  die  Schmiede,  nicht  mehr  im  Akkord, 
sondern  nur  im  Tagelohn  mit  einem  Lohnsatz  von  60  Pf.  für  die 
Stunde  arbeiten  zu  wollen.  Die  nicht  erfüllbare  Forderung  hatte 
zur  Folge,  dass  die  bisher  in  der  Fabrik  geschmiedeten  Arbeits- 
stücke zum  grössten  Theil  von  auswärtigen  Stahlschmiedereien 
bezogen  würden,  welche  die  Gewichtseinheit  des  verarbeiteten 
Stahles  bei  gleicher  Güte  der  Arbeit  nahezu  zu  demselben  Preise 
abgeben,  zu  welchem  sich  bisher  der  Bezug  des  zu  verarbeitenden 
Stahles  gestellt  hat.“  Der  richtige  Kapitalist  wird  hierzu  sagen: 
merkwürdig  genug,  dass  der  betreffende  Unternehmer  erst  durch 
die  Lohnbewegung  auf  den  neuen  Vortheil  in  der  Produktion 
aufmerksam  wurde.  Die  Produktionsverschiebung  zuungunsten 
der  Arbeiter  hätte  sich  über  Kurz  oder  Lang  doch  ohnedies 
vollzogen. 


Statistik  der  in  deutschen  Fabriken  beschäftigten  Ar- 
beiterinnen. Auf  einem  merkwürdigen  Umwege  will  man 
i jetzt  im  Deutschen  Reiche  zum  Bruchtheil  einer  Arbeiter- 
statistik kommen.  Der  Wortlaut  des  § 138  Absatz  I der 
( u:\verbeordnungsnovelle  vom  I.  |uni  1891  lässt  es  zweitel- 


190 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  15. 


Arbeiterzustände. 

Die  Kinderarbeit  in  der  russischen  Fabrikindustrie. 

Es  ist  den  Lesern  des  Sozialpolitischen  (_  entralblattes 
(vergl.  No.  6 S.  83  ff.)  bekannt,  dass  auch  die  russische  Fabrik- 
gesetzgebung von  dem  Schutze  der  Kinderarbeit  ausge- 
gangen ist.  In  den  barbarischen  Zuständen  einer  sich 
selbst  überlassenen  Industrie  war  die  Regelung  der  Zustände 
erwachsener  Arbeiter  eine  Sisyphusarbeit,  welche  bei  dei 
enormen  Ausdehnung  des  Reiches  und  dem  Mangel  an 
statistischen  Angaben  fast  nicht  zu  ermessen  war.  Man 
überliess  also  zunächst  die  erwachsenen  Arbeiter  ihrem  frühe- 
ren Schicksale,  und  beschränkte  sich  darauf,  das  heran- 
wachsende  Geschlecht  vor  übermässiger  Ausbeutung  in 
den  ersten  zwölf  Lebensjahren  zu  schützen. 

Das  Gesetz  betreffend  die  Arbeit  Minderjähriger,  wel- 
ches schon  im  Jahre  1882  erlassen  worden  war,  wurde  jedoch 
bis  zu  seiner  Vervollständigung  im  Jahrs  1884  kaum  be- 
achtet, ja  es  blieb  fast  unbekannt.  Die  meisten  L nter- 
nehmer  erklärten  den  Fabrikinspektoren,  dass  sie  allerdings 
ein  gedrucktes  Exemplar  des  Gesetzes  über  die  Arbeit  der 
Minderjährigen  erhalten  haben,  aber  sie  hätten  immer  darauf 
gewartet,  dass  man  es  erkläre  und  vervollständige.  Die  L n- 
vollständigkeit  des  Gesetzes  benutzend , Hessen  sie  die 
Kinder,  gleich  den  Erwachsenen  12—15  Stunden  lang 
arbeiten,  und  beachteten  das  vorgeschriebene  Alter  bei  der 
Annahme  ihrer  kleinen  Arbeiter  nicht.  Ja  manche,  sagt 
der  Fabrikinspektor  des  Moskauer  Kreises  (Prof.  Janschul), 
haben  sich  sogar  nicht  die  Mühe  gegeben,  das  Schriftstück 
zu  lesen  und  sich  irgend  welche  Meinung  darüber  zu  bilden. 
Die  fernere  Nichtbeachtung  des  Gesetzes  wurde  durch  die 
Aufsicht  der  Fabrikinspektion  unmöglich  gemacht.  Die 
Arbeit  der  Kinder  wurde  auf  8 oder  sogar  6 Stunden  redu- 
zirt  und  Kinder  unter  zwölf  Jahren  entlassen.  Nur  ganz 
ausnahmsweise  durften  Kinder  im  Alter  von  10  — 12  Jahren, 
die  schon  in  der  Fabrik  thätig  waren,  als  das  Gesetz  er- 
schien, ihre  Arbeit  fortsetzen,  die  Annahme  anderer  in 
diesem  Alter  stehender  Kinder  war  nunmehr  untersagt 
Allerdings  sucht  man  auf  jede  Weise,  insbesondere  durch 
Fälschung  der  Geburtszeugnisse  der  Strenge  des  Gesetzes 
sich  zu  entziehen.  Die  Inspektion  klagt  oft  vergebens,  dass 
zu  junge  Kinder  zur  Arbeit  herangezogen  werden.  Eine 
Abhülfe  ist  hier  schwer  möglich,  da  die  Eltern  selbst  um 
die  Annahme  ihrer  Kinder  flehen  und  irrige  Angaben  über 
ihr  Alter  machen. 

Die  Zahl  der  in  der  Fabrikindustrie  arbeitenden 
Kinder  ist  nicht  bekannt,  da  die  Berichte  der  Fabrikinspek- 
toren nur  bis  in  das  Jahr  1886  reichen  und  bis  dahin  nur 
18,9  70  aller  Betriebe  von  der  Fabrikinspektion  untersucht 
werden  konnten.  Da  die  Fabrikinspektion  in  Russland  ihre 
Aufmerksamkeit  in  erster  Linie  den  grössten  Betrieben  zu- 
wandte, besitzen  wir  dennochAngaben  über  486370 Arbeiter ’). 
Von  diesen  waren  minderjährige,  also  Arbeiter  bis  zum 
17.  fahre,  26  896  oder  5,53%. 

Der  Zahl  nach  wäre  also  die  Arbeit  der  Kinder  (von 
12resp.  10 — I5jahren)  und  junger  Leute  (von  15  17Jahren) 
verhältnissmässig  geringer  vertreten,  als  in  anderen  Ländern, 
jedoch  ist  die  angeführte  Zahl,  die  dem  Berichte  des 
Hauptinspektors  entnommen  ist,  eine  so  niedrige,  weil  es 
sich  nur  um  grosse  Betriebe  dabei  handelt.  Die  Anwendung 
des  Gesetzes  hat  sehr  viele  Industrielle  veranlasst,  auf  die 
Arbeit  der  Kinder  zu  verzichten.  Da  das  Gesetz  zur  Zeit 
eines  Rückganges  in  der  Textilindustrie  eingeführt  wurde, 
konnten  die  Industriellen  einen  Theil  ihrer  Arbeiter  leicht 
entbehren.  Ueberdies  galten,  wie  schon  erwähnt,  die  ersten 
Besuche  der  Fabrikinspektoren  den  grössten  Betrieben,  und 
in  diesen  ist  die  verhältnissmässige  Zahl  der  arbeitenden 
Kinder  geringer,  als  in  den  mittleren  und  kleineren  Be- 
trieben. Die  grösste  Verwendung  der  Kinderarbeit  findet 
nicht  in  der  Fabrikindustrie,  sondern  im  Handwerk  und  der 
Kleinindustrie  statt,  also  in  denjenigen  Zweigen  über  die 

i)  Nach  Ürlow  betrug;  die  Zahl  der  Fabrikarbeiter  in  Russ- 
land 1 1884i  826  794,  im  Königreich  Polen  139  652. 


I man  für  Russland  keine  allgemeinen  Angaben  besitzt.  Der 
Unterschied  in  der  Verwendung  der  Kinderarbeit  in  den 
grossen  Fabriken  und  den  kleineren  Betrieben  erhellt  schon 
aus  dem  Umstande,  dass  im  Moskauer  Kreise  in  den  450 
| von  Prof.  Janschul  besuchten  grössten  Betrieben  dies 
I Verhältnis  der  Minderjährigen  zur  Gesammtarbeiterzahl 
I sich  wie  3,2  zu  Hundert  stellte,  während  in  den  kleineren 
(vom  Gehilfen  des  Fabrikinspektors  besuchten)  5,3  /,, 
Minderjährige  sich  befanden.  Die  \ erminderung  der  Zahl 
der  arbeitenden  Kinder  nach  der  Einführung  des  Gesetzes 
vom  fahre  1882  konstatiren  die  Berichte  aus  allen  Kreisen. 

So  waren  in  der  Textilindustrie  des  Moskauei  Kreises  im 
Jahre  1882/83  9,6  "/0  Minderjährige,  im  Jahre  1885,  7 Monate 
nachdem  die  Beachtung  des  Gesetzes  durchgesetzt  worden 
war,  nur  2,3  %.  In  25  Spinnereien  des  Warschauer  Kreises 
wurden  die  Kinder  vollständig  entlassen,  von  ^en 
15  Webereien  desselben  Kreises  entliessen  9 alle  Kinder. 
Der  Bericht  des  Hauptinspektors  spricht  es  direkt  aus,  dass 
die  Zahl  der  Kinder  in  den  ersten  Monaten  des  Jahres  1885 
sich  auf  den  dritten  Theil  der  früheren  Zahl  reduzirte  Aut 
diese  Weise  hätte  also  das  Gesetz  die  Kinderarbeit  nicht 
blos  beschränkt,  sondern  beinahe  beseitigt,  was  keineswegs 
beabsichtigt  war. 

Diese  Erscheinung  war  jedoch  nur  eine  momentane. 
Spätere  Nachrichten  lauten,  dass  die  Kinder  wieder  im  er- 
höhten Maasse  zur  Fabrikarbeit  verwendet  wurden,  dass 
sich  die  Industriellen  den  Bestimmungen  über  die  verminderte 
Stundenzahl  angepasst  haben.  Die  Arbeit  der  Kinder  be- 
trägt also  8 Stunden  .mit  einer  Unterbrechung,  oder 
6 Stunden  ohne  Pausen.  Letzterer  Modus  hat  sich  für  die 
Kinder  viel  praktischer  erwiesen,  da  der  ganze  Nachmittag 
für  die  Schule  und  Schularbeit  frei  bleibt.  Daneben  er- 
laubt die  ununterbrochene  Arbeit  keine  Missbräuche, 
während  bei  der  achtstündigen  Arbeitszeit  diese  sich  aut  : 
den  ganzen  l ag  von  5 Uhr  früh  bis  aut  7 Uhr  Abends  aus- 
dehnen Hess.  Die  Methode  besteht  darin,  dass  man  die  Zahl  ^ 
von  8 Stunden  in  vier  Arbeitszeiten  von  je  2 Stunden 
theilt,  und  auf  diese  Weise  die  Kinder  den  ganzen  Tag  in 
der  Fabrik  behält. 

Abgesehen  von  solchen  Ausschreitungen,  die  von  der 
Fabrikinspektion  nicht  übersehen  werden,  hat  das  Gesetz 
über  die  Kinderarbeit  die  besten  Folgen  nach  sich  gezogen.  ' 
Die  Löhne  der  Minderjährigen  sind  um  nicht  mehr  als  1 
'/•<  gefallen;  dort  wo  Stücklohn  eingeführt  ist,  verdienen  . 
die  Kinder  nicht  weniger  als  die  jungen  Leute.  In  den 
Fabriken,  wo  der  Frage  der  Kinderarbeit  eine  grössere  j 
Aufmerksamkeit  gewidmet  wurde,  also  z.  B.  in  der  Lein- 
wandfabrik Zyrardow  in  der  Nähe  von  V arschau  und  in 
der  Maschinenfabrik  Struve  in  Südosten  der  Provinz  Moskau 
wurde  statistisch  nachgewiesen,  dass  die  \ erkürzung  der 
Arbeitszeit  fast  keine  Verminderung  der  Leistungen  herbei- 
geführt hat.  Bei  Struve,  wo  Stücklohn  gezahlt  wird,  erwies 
sich,  dass  beim  Vergleich  desselben  Monats,  in  Jahren  vor 
und  nach  der  Einführung  des  Gesetzes  die  Lohnsummen, 
also  auch  die  Leistungen  gleich  waren.  In  Zyrardow  hei 
der  Lohn  nur  um  20  %.  Der  Erwerb  der  Kinder,  der  heute 
in  den  meisten  Arbeiterfamilien  nicht  zu  entbehren  wäre, 
ist  daher  beinahe  derselbe  geblieben,  und  die  Gesundheit 
der  Kinder  dabei  einigermassen  geschont  worden. 

Die  allergrösste  Zahl  der  Kinder,  absolut  gerechnet, 
ist  in  der  Textilindustrie  thätig,  im  Verhältnisse  aber  zu 
der  in  einem  Industriezweige  überhaupt  beschäftigten 
Arbeiterzahl  variirt  die  Zahl  der  Kinder  je  nach  der  in 
dem  betreffenden  Fabrikinspektionskreise  herrschenden  Sitte. 
So  war  im  Kreise  Wilno  die  Beschäftigung  von  Kindern 
am  Häufigsten  in  der  Zündholz-1)  und  Holzindustrie  (27 
und  25%).  Im  Moskauer  Kreise  in  den  Glas-,  Möbel-, 
Tabak-  und  Tapetenfabriken.  Dort  jedoch,  wo  die  Industrie 
sich  ähnlich  wie  im  Westen  entwickelt,  absorbirt  die  Textil- 
industrie die  Hauptmasse  der  Kinderkräfte,  so  waren  im 
Warschauer  Kreise  80,7%  aller  Kinder  in  der  Textilindustrie 

i)  Jetzt  ist  die  Kinderarbeit  in  dieser  Industrie  verboten 
der  Bericht  für  den  Kreis  Wilno  ist  vom  Jahre  1886. 


No.  15. 


SOZI  Al  ,l'OI  ITISC1  u:s  CENTRALK1  ,A  TT. 


191 


thätig  (9,2  °/n  der  in  dieser  Industrie  beschäftigten  Er- 
wachsenen). 

Nach  den  Angaben  des  Hauptinspektors  vertheilten 
sich  die  im  fahre  1886  beobachteten  26  896  Kinder  in 
folgender  Weise  auf  die  einzelnen  Produktionszweige: 

Textilindustrie 14828  5,1  % aller  Arbeiter 

Bearbeitung  von  Holz  ...  • . 482  4,6  % » v 

Metallindustrie  . . . ...  . 1 54J  3,6%  „ „ 

Industrie  der  mineralischen  Produkte  3 587  10  2'’/o  » » 

Industrie  der  Nahrungs-  und  Genuss- 
mittel   4 584  5,5  "/n  „ „ 

Industrie  der  animalischen  Produkte  258  2,3n(]  „ „ 

Uebrige  Industrien  ......  1616  14,1%  „ „ 

Von  den  4897  von  den  Fabrikinspektoren  besuchten 
Betrieben  haben  nur  1976  Kinder  beschäftigt  Im  Durch- 
schnitte entfielen  Minderjährige  auf  eine  Fabrik: 

In  der  Textilindustrie 29% 

Industrie  der  Mineralien ■ 18% 

Industrie  der  Nahrungs-  und  Genussmittel  1 1 % 

Holzindustrie 7,6% 

Metallindustrie ■ • 7 % 

Uebrige  Industrien  ....  5% 

Wenn  diese  Ziffern  sich  auch  in  den  letzten  6 Jahren 
geändert  haben  können,  so  behalten  sie  doch  ihre  relative 
Gültigkeit. 

Bei  der  Beschränkung  der  Stundenzahl  für  die  Arbeit 
der  Minderjährigen  waren  Rücksichten  aut  Gesundheit  und 
Schulbesuch  bestimmend.  Es  ist  den  Fabrikbesitzern  zur 
Pflicht  gemacht  worden,  entweder  selbst  Schulen  zu  gründen 
oder  für  die  schulmässige  Ausbildung  der  Minderjährigen 
in  anderer  Weise  zu  sorgen.  Fabrikschulen  sind  allerdings 
eine  seltene  Erscheinung  und  der  schon  erwähnte  Betrieb 
Zyrardow,  in  dem  bei  einer  Arbeiterzahl  von  circa  12  000, 
8 Schulen  bestehen,  wird  von  den  Fabrikinspektoren  als 
ein  seltener  Fall  zitirt.  Die  städtischen  Schulen  wurden 
bis  zur  Einführung  des  Gesetzes  nur  von  wenig  minder- 
jährigen Fabrikarbeitern  besucht  und  sogar  die  niedrigen 
Anforderungen  des  Gesetzes:  lesen  und  schreiben  zu  können, 
oder  das  Vorweisen  eines  Zeugnisses  einer  einklassigen 
Normalschule,  werden  nur  von  einem  kleinen  Theil  erfüllt. 
Von  den  ca.  15  000  Kindern,  welche  bis  zum  Jahre  1886  von 
der  Fabrikinspektion  geprüft  wurden,  konnten  nur  34,4% 
lesen  und  schreiben  und  von  diesen  hatten  nur  9,4  % Schul- 
zeugnisse. 

Die  meisten  Analphabeten  sind  unter  den  in  Fabriken 
beschäftigten  Bauernkindern  zu  suchen,  die  wenigsten 
dort,  w'O  das  nicht-russische  Element  überwiegt  und  der 
Stand  der  Bildung  ein  weit  höherer  ist  als  im  übrigen 
Russland. 

Ueberhaupt  darf  man  von  der  Fabrikinspektion  eine 
weitgehende  Regelung  der  Kinderarbeit  erwarten,  weil  die 
Vorschriften  des  Gesetzes  streng  zur  Durchführung  gebracht 
werden.  So  wurden  z.  B.  in  der  Provinz  Czernigow 
600  Kinder  aus  den  Zündholzfabriken  entlassen,  als  das 
Gesetz  die  Kinderarbeit  in  diesem  Fabrikationszweige  ver- 
bot. Auch  ist  hier  das  Eingreifen  viel  leichter,  weil  es 
weniger  Widerstand  hervorruft  wie  die  Regelung  der  Arbeit 
Erwachsener. 

Warschau.  Sophie  Daszynska. 


Zu  Vertretern  cles  Bundesraths  in  der  Kommission  für 
Arbeiterstatistik  sind  folgende  Beamte  gewählt  worden:  Der 

Ministerialdirektor  im  preussischen  Ministerium  für  Handel  und 
Gewerbe  Loh  mann,  der  Regierungsrath  im  bayerischen  Mi- 
nisterium des  Innern  und  Vorstand  des  K.  Statistischen  Bureaus  in 
München  Rasp,  der  Regierungsrath  im  sächsichen  Ministerium 
des  Innern  Morgenstern,  der  Ober-Regierungsrath  im  württem- 
bergischen  Ministerium  des  Innern  v.  Schicker  und  der  badi- 
sche Regierungsrath  Dr.  Wörishoffer,  Vorstand  der  badischen 
Fabrikinspektion 

Arbeitslöhne  in  der  preussischen  Staatseisenbahuver- 

waltung.  Nach  einer  der  Rechnungskommission  des  Abge- 
ordnetenhauses mitgetheilten  Uebersicht  über  die  Erhöhung 
der  Durchschnittslöhne  der  Arbeiter  der  Staatseisenbahn- 
verwaltung von  1885/86  bis  1890/91  ergeben  sich  folgende 
Erhöhungen  des  täglichen  Lohnsatzes  innerhalb  des  genann- 


ten Zeitraums  von  5 Jahren:  Hilfsbilletdrucker  von  2,35  auf 
2,60  M.,  Hilfsbureau-  und  Hilfskassendiener  von  2,30  auf 
2,51  M.,  Hilfstelegraphisten  von  2,14  auf  2,38  M.,  Frauen  im 
Telegraphendienste  von  2,74  auf  3,04  M.,  Hilfsrangirmeister 
von  2,25  auf  2,29  M.,  Hilfswagenmeister  von  2,54  auf  2,86  M , 
Hilfsweichensteller  von  1,93  auf  2,18  M.,  Hilfskrahnmeister 
von  3,19  auf  3,60  M.,  Hilfsportiers  und  Hilfsbilletschaffner 
von  1,98  auf  2,32  M.,  Hilf.sbahnwärter  von  1,72  auf  1,78  M. 
und  von  2,63  auf  3,25  M.,  Wegeschrankenwärterinnen 
von  0,56  auf  0,73  M.,  Hilfsnachtwächter  von  1,76  auf 
2,00  M.,  Hilfslademeister  von  2,22  auf  2,55  M.,  Hilfsheizer 
von  2,19  auf  2,33  M.,  Hilfsmaschinenwärter  von  2,27  aut 

2.57  M.,  Hilfsbremser  von  1,68  auf  1,83  M.,  Hilfsmagazin- 
aufseher von  2,29  auf  2,70  M.,  Arbeiter  der  Allgemeinen 
Verwaltung  von  2,13  auf  2,32  M.,  Bahnhofsarbeiter  von  1,81 
auf  1,99  M.,  Kohlenlader  von  2,15  auf  2,54  M.,  Rangirarbeiter 
von  2,08  auf  2,33  M.,  Güterbodenarbeiter  von  2,01  auf  2,19  M., 
Gepäckträger  von  0,99  auf  1,15  M.,  Wagenputzer  von  1,89 
auf  2,19  M.j  Magazinarbeiter  von  2,16  auf  2,31  M.,  Scheuer- 
frauen von  1,31  auf  1,58  M.,  Bahnunterhaltungsarbeiter  von 

1.58  auf  1,87  M.,  Werkstättenarbeiter  von  2,58  auf  3,38  M. 
Dagegen  ist  der  tägliche  Durchschnittslohn  der  Wasser- 
pumper für  den  oben  genannten  Zeitraum  von  1,76  auf 
1,73  M.  und  der  Hilfsbrückenwärter  von  2,31  auf  2,30  M. 
zurückgegangen. 

Die  Niedrigkeit  dieser  Lohnsätze  ist  in  die  Augen 
springend.  Sie  würde  noch  augenfälliger  sein,  wenn  das 
Gesammtbild  der  Lage  der  Arbeiter  in  der  Staatseisen- 
bahnverwaltung vor  Augen  getiihrt  werden  könnte:  Ar- 

beitszeit, Arbeitspausen,  Üeberarbeit,  Nachtarbeit,  häufiges 
Schlafen  und  Essen  ausser  Hause,  militärische  Disziplin, 
Unmöglichkeit  der  gewerkschaftlichen  Organisation  u.  dgl. 
Und  all’  diesen  Nachtheilen  steht  nur  bei  einem  sehr  kleinen 
Bruchtheile  dieser  Arbeiter  die  Aussicht  auf  kärgliche  Pen- 
sion gegenüber. 

Zur  Lage  (1er  Eisenbahnbeiliensteten  in  den  Ver- 
einigten Staaten.  60  Eisenbahngesellschaften  beschäftigen 
circa  241  000  Personen,  von  denen  17  330  im  Akkord-,  die 
anderen  im  Monats-  und  Taglohne  stehen.  Letztere  arbeiten 
im  Durchschnitte  nur  147  Tage  im  Jahre.  Unter  einem 
Dollar  im  Tage  verdienen  16271  (7,22%),  1 — 2 Dollar  177  351 
(78,987  ),  2—3  Dollars  35  892  (11,54%),  3—4  Dollars  4 265 
(1,91%),  4—5  Dollars  674  (0,3%,),  5—9,60  Dollars  157  Per- 
sonen (0,05  %). 

Statistische  Erhebungen  aus  dem  Steinmetzgewerbe 
von  Dresden  und  Umgebung  Seit  einer  Reihe  von  Jahren 
nehmen  die  Steinmetzen  von  Dresden  und  Umgebung 
statistische  Erhebungen  vor.  Die  letzte  Erhebung  wurde 
im  Oktober  1891  für  das  dem  30.  September  1891  voran- 
gegangene Jahr  veröffentlicht.  Dem  „Bauhandwerker“  ent- 
nehmen wir  hierüber  die  folgenden  Angaben: 

Die  im  Oktober  1891  ausgegebenen  statistischen  Frage- 
bogen sind  von  356  Mann  benützt  worden.  (1889  wurden 
dieselben  von  376  Mann  und  1890  von  438  Mann  benützt.) 
Von  obigen  356  Mann  sind  234  Mann  verheirathet  und  122 
Mann  unverheirathet.  305  Mann  gehören  dem  Verein  der 
Steinmetzen  und  Berufsgenossen  von  Dresden  und  Um- 
gegend an;  es  fehlen  51,  davon  sind  43  minderjährig. 
58  Mann  sind  nicht  Mitglieder  des  Verbandes  der  deutschen 
Steinmetzen. 

Das  Durchschnittsalter  der  Steinmetzen  war  für  die  drei 
Jahre  1889—1891  berechnet  29  Jahre  10  Monate  12  Tage. 
Im  Jahre  1891  standen  im  Alter 


bis  zu  20  Jahren 

40 

Mann  oder 

1 1,23  % 

von  20 — 25 

j) 

76 

5)  55 

21,67  % 

„ 25—30 

)) 

81 

55 

22,75  % 
19,10% 
9,55% 

„ 30—35 

68 

55  55 

„ 35—40 

5) 

34 

55  55 

„ 40—45 

29 

55  55 

8,14  % 

„ 45  50 

55 

17 

55  55 

4,75  % 

,,  über  50 

55 

11 

55  ’5 

3 % 

älteste  Steinmetze 

war  57  Jahre 

alt. 

Entsprechend  seiner  kurzen  Lebensdauer  kann  ein 
Steinmetz  auch  nur  wenige  Jahre  seinem  Berufe  nach- 
gehen. Die  Krankheits-  und  Sterbestatistik  beweist,  dass 
die  Mehrzahl  der  Steinmetzen  3,  4 bis  5 Jahre  langsam  an 
der  Berufskrankheit,  der  Lungenschwindsucht,  dahin  siechen 
und  in  der  letzten  Zeit  ihres  Lebens  ihrem  Berufe  bei 
weitem  nicht  vollständig  genügen  können. 

337  Mann  haben  angegeben,  wie  lange  sie  in  ihrem 
Berufe  thätig  sind. 


192 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  15. 


Die  Aufzeichnungen 

ergeben, 

dass  gegenwärtig  in 

hrem  Berufe  thätig  sind: 

Bis  zu  5 fahren 

48  Mann 

oder  14,25% 

„ „ 10  ‘ „ 

87 

..  25,80% 

..  „15  ., 

74 

••  22,-% 

.,  „ 20  „ 

70 

..  20,80% 

„ „ 25  „ 

25 

7,45  % 

„ „ 30  „ 

24 

„ 0,15% 

Ueber  30—36  ,. 

9 

2, o/o. 

Arbeiterzustände  in  Ziegeleien. 

Dass  die  soziale  Lage 

der  Ziegeleiarbeiter  eine  ganz  besonders  schlimme  und  schutz- 
bedürftige  ist,  bestätigen  wieder  die  neuesten,  an  anderer  Stelle 
dieses  Blattes  ausführlich  zitirten  Berichte  der  sächsischen  Ge- 
werbeinspektoren, sowie  die  „Jahresberichte  der  Kgl.  Bayerischen 
Fabrikeninspektoren  für  das  Jahr  1891"  (München,  lh.  Acker- 
mann) So  schreibt  der  Aufsichtsbeamte  des  Bezirkes  Dresden : 
„Durch  Aufnahme  der  Ziegeleien  in  die  Klasse  der  gewerblichen 
Anlagen,  auf  welche  in  Zukunft  die  Bestimmungen  über  die 
Beschäftigung  der  jugendlichen  Arbeiter  Anwendung  finden 
sollen,  wird  einem  für  die  Dauer  unhaltbaren  Zustande  ein  Ende 
gemacht.  Verschiedene  Gerichte  haben  es  bisher  abgelehnt,  die 
fraglichen  Bestimmungen  auf  die  ohne  Dampfkraft  arbeitenden 
Ziegeleien  auszudehnen,  und  doch  ist  vielleicht  in  keinem 
anderen  I n d ust  r iez  w e ige  gegen  die  gedachten  Bestimmungen 
so  arg  gefehlt  worden,  als  gerade  in  den  ohne  Damptkraft 
arbeitenden  Ziegeleien.  Tagesschichten  oft  von  Sonnen- 
a ufgang  bis  Sonnenuntergang,  selten  unter  13  bis  14  Stunden, 
unterbrochen  durch  je  eine  Pause  von  10—  15  Minuten  am  Vor- 
mittag und  Nachmittag  und  eine  im  günstigsten  Falle  einstün- 
dige  Mittagspause  sind  nichts  Seltenes  in  den  Ziegeleien  mit 
Handbetrieb.  Und  auf  derartige  Vorgänge  blickten  neidisch  die 
Ziegeleien,  die  ihre  jugendlichen  Arbeiter  nur  10  Stunden  be- 
schäftigen durften,  weil  sie  mit  Dampfkraft  arbeiteten.  Für  viele 
der  Handziegeleien  dürfte  das  augenblickliche  Darniederliegen 
des  Geschäftes  den  Uebergang  zu  manchen  der  neueren  Be- 
stimmungen weniger  schwierig  machen,  als  dies  bei  gutem 
Geschäftsgang  der  Fall  wäre."  Diese  Erfahrung  sollte  den 
Gesetzgebern  zeigen,  dass  man  auch  allzu  zaghaft  in  der  Ein- 
beziehung neuer  Betriebskategorien  unter  den  Arbeiterschutz 
sein  kann  Wie  die  Frauenarbeit  in  den  Ziegeleien  ausgenutzt 
wird,  zeigt  folgende  Notiz  desselben  Beamten:  „In  einer  Ziegelei 
war  die  Beschäftigungsweise  weiblicher  Arbeitskräfte  zu  ver- 
bieten. Daselbst  befinden  sich  auf  und  über  dem  Ziegelofen 
sehr  hohe  Trockenhorden,  in  welche  die  Arbeiterinnen  die  an- 
gefahrenen nassen  Ziegel  einzusetzen  hatten  und  aus  Mangel  an 
Setztreppen  zu  den  oberen  Fächern  dergestalt  hinaufstiegen, 
dass  sie  die  unteren  Fächer  zweier  benachbarter  Horden  als 
Leitersprossen  benutzten,  während  unten  Männer  und  jugend- 
liche Arbeiter  die  frischgepressten  Steine  anfuhren  und  hinauf- 
reichten.11 Hier  wie  bei  der  folgenden  Mittheilung  des  Dresdener 
Inspektors  ist  nicht  ersichtlich,  ob  es  sich  um  Dampf-  oder 
Handziegeleien  handelt:  „Bei  Revision  der  Ziegeleien  des  Bezirks 
war  mehrfach  zu  bemerken,  dass  auf  dem  Brennofen  Steine 
gestrichen  wurden.  Die  Besitzer  derartiger  Anlagen  sind  auf 
das  Unstatthafte  dieses  Gebahrens  aufmerksam  gemacht  und 
zur  Unterlassung  dieser  auf  dem  Ofen  stattfindenden  Arbeit  an- 
gehalten worden.  Die  aus  dem  Ofen  austretenden  Gase,  welche 
zwar  eine  angenehme  Temperaturerhöhung  veranlassen,  führen 
viel  Stickluft  mit  sich,  welche  stark  betäubend  und  ausserdem 
nachtheilig  auf  die  Athmungsorgane  wirkt.  Auch  die  LUiter- 
kunftsräume  für  Ziegeleiarbeiter  gaben  mehrfach  zu  Anord- 
nungen Veranlassung.  So  bestanden  die  Schlafräume  lippischer 
Arbeiter  einer  Ziegelei  aus  einem  Bretter  sc  huppen  ohne 
jedwede  Dielung  Es  war  nur  eine  Strohschicht  auf  dem 
Erdboden  ausgebreitet,  worauf  die  Leute  Nachts  schliefen; 
Waschgelegenheiten  und  Aborte  kannte  man  überhaupt  in  der 
fraglichen  Ziegelei  nicht.  Die  bessere  Unterbringung  der  Leute 
wurde  hier  durchgesetzt  und  die  Beschaffung  von  Abortanlagen, 
die  den  sittlichen  Ansprüchen  genügen,  verlangt.  Soll  das  „hier 
durchgesetzt"  heissen,  dass  anderswo  nicht  der  gleiche  Erfolg 
erzielt  werden  konnte?  Ergänzendes  berichtet  der  Inspektor 
des  Bezirkes  Bautzen:  „In  einem  Falle  war  die  Entfernung  einer 
Schlafstelle  von  dem  Ziegelofen  anzuordnen,  in  einem  anderen 
Falle  die  sofortige  Räumung  eines  mit  16  Arbeitern  belegten,  in 
unmittelbarer  Verbindung  mit  der  Ofenoberfläche  stehenden  und 
auch  sonst  gänzlich  ungeeigneten  Schlafraumes  zu  verfügen.“ 
Soweit  sächsische  Berichtsstellen  aus  den  neuesten  amtlichen 
Referaten;  stellen  wir  nunmehr  einige  Notizen  aus  dem  neuen 
Jahresbericht  für  Bayern  zusammen.  Von  einem  krassen  Truck- 
untug, demUebel,  das  sich  besonders  hartnäckig  in  den  Ziegeleien 
auch  preussischer  Bezirke  hält,  weiss  der  Fabrikinspektor  für 
Mittel-  und  Oberfranken  zu  erzählen.  Erbemerkt  (S.80a  a.O.u 
„Die  Wirthschaften,  welche  auf  den  in  der  Nähe  der  Stadt 
Fürth  gelegenen  Ziegeleien  bestehen,  und  von  welchen  schon 
im  vorjährigen  Berichte  gesprochen  wurde,  gaben  neuerdings 
Veranlassung,  sich  mit  ihnen  zu  beschäftigen  ; dort  ist,  nachdem 
im  vorigen  Jahre  die  meisten  Wirthschaftsinhaber,  welche 
mit  wenigen  Ausnahmen  gleichzeitig  die  Ziegelmeister 
sind,  wegen  Abgabe  von  Speise  und  Trank  gegen  Zahlungs- 
'marken  gestraft  worden  waren,  die  Sitte  eingerissen,  dass  den 
Arbeitern  täglich,  so  oft  sie  wünschen,  banrer  Vorschuss  zur 
Entnahme  von  Speise  und  Trank  aus  der  Wirthschaft  verabfolgt 


wird.  Da  nun  Wirth  und  Vorschussgeber  eine  und  dieselbe 
Person  sind,  so  ist  klar,  dass  dadurch  der  Lüderlichkeit  jener 
Arbeiter,  welche  zum  Trünke  geneigt  sind,  der  grösste  Vorschub 
geleistet  wird;  Aenderung  scheint  nur  durch  Aufhebung  der  1 
sämmtlichen  Wirthschaften  auf  den  einzelnen  Ziegeleien  er 
reichbar;  ob  dieselbe  durchführbar  ist,  wird  die  Zukunft  lehren.“ 
Neben  der  Verleitung  zur  „Liederlichkeit“  kommt  hier  doch, 
was  der  Aufsichtsbeamte  nicht  hervorhebt,  vor  Allem  die  Lohn- 
schmälerung in  Betracht;  die  wenig  zuversichtliche  Aeusserung 
am  Schlüsse  der  Notiz  entspricht  der  beklagenswerthen  Macht- 
losigkeit deutscher  Inspektoren.  Der  Beamte  für  die  Pfalz,  1 
Lmferfranken  und  Aschaffenburg  theilt  mit  (S.  100  a a.  O ):  Jn  ] 
einer  Ziegelei  wurde  ein  1 1jähriges  Mädchen  mit  Steinetragen 
beschäftigt.  1 Damit  ist  jedenfalls  nur  ein  kleiner  Zipfel  von  der 
schändlichen  Kinderausnützung  aufgehoben,  die  in  den  Ziegeleien 
betrieben  wird.  Davon  geben  folgende  weitere  Berichtsstellen  I 
desselben  Beamten  einen  Begriff  (S.  101  a.  a O.  : ..Eine  zu  bean-  I 
standende  Beschäftigung  eines  Mädchens  fand  sich  in  einer 
Ziegelei;  dasselbe  wurde  zur  Bedienung  der  Ringofenfeuerung 
stundenlang  an  Stelle  des  Brenners  verwendet.  In  2 Ziegeleien 
fanden  sich  einige  Knaben  und  Mädchen  in  den  Ringöfen  mit 
Steinzulangen  beschäftigt,  auf  deren  Ersetzung  durch  ältere  I 
männliche  Arbeiter  hingewirkt  wurde.“  Nach  alledem  ist  zu 
wünschen,  dass  sich  die  Aufmerksamkeit  der  Inspektoren  wie  I 
der  Geset-geber  immer  intensiver  den  Ziegeleien  und  der  Lage  j 
ihrer  Arbeiterbevölkerung  zuwendet,  bei  der  rohe  Veranlagung  | 
und  verrohende  Wirkung  der  Betriebszustände  vorläufig  in  | 
trauriger  Wechselwirkung  stehen. 

Der  Notlistaml  unter  den  ostscliweizerischen  Stickern. 

Einem  Aufrufe  des  Hilfskomitees  des  Stickereiverbandes  ent- 
nehmen wir,  „dass  im  Ganzen  ca.  3000  Sticker  mit  9 - 10  000 
Kindern  Hilfe  beanspruchen.  Und  in  diesen  Zahlen  sind  nur  j 
die  Aermsten  der  Armen  eingeschlossen.“ 

Wie  gross  die  Noth,  mag  am  besten  ein  einziger  amtlich  1 
beglaubigter  Sektionsbericht  zeigen.  Nach  diesem  Bericht  ver- 
dienten seit  Neujahr  4 Familien  mit  22  Personen  überhaupt 
nichts,  11  Familien  mit  59  Personen  15 — 40  Rp.  iiff  Tag,  II  Fa- 
milien mit  49  Personen  50  Rp.,  4 Familien  mit  23  Personen  70  Rp.. 

10  Familien  mit  44  Personen  80  Rp.  und  7 Familien  mit  31  Per- 
sonen 90  Rp.  im  Tag!  LTnter  diesen  Familien  finden  sich  solche 
mit  7,  8,  9,  eine  sogar  mit  11  Kindern.  „Die  eingegangenen : 
Frageschema  für  Einzelsticker  entrollen  aller  Orten  ein  so 
trauriges,  so  düsteres  Bild,  dass  man  sich  Vorwürfe  machen 
muss,  der  Noth  nicht  eher  gesteuert  zu  haben.  Hunderte  klagen? 
dass  sie  wochenlang  arbeitslos  waren,  dass  sie  keine  Lebensmittel1 
mehr  bekommen,  weil  sie  zu  viel  schuldig  seien,  und  doch  bitten 
die  hungernden  Kleinen  täglich  um  Brod.  In  einem  Sektions- 
bericht finden  wir  in  19  Familien  9 kranke  oder  kränkliche  Per- 
sonen. und  an  einem  anderen  Ort  lesen  wir  die  traurige  Klage: 
überhaupt  habe  ich  bald  keine  Kraft  mehr  zum  Sticken.  Meh- 
rere Wöchnerinnen,  darunter  eine  mit  Zwillingen,  liegen  sozu-j 
sagen  ohne  Pflege  im  Bett;  doch  genug  hiervon!  Es  zersprengt; 
Einem  schier  das  Herz,  wenn  man  alle  die  Eingaben  durch-t 1 
geht.“ 

Lohn  Verhältnisse  in  (1er  ostindischen  Eisen-  und  Stahl- 
industrie. Der  Ingenieur  Cecil  Ritter  von  Schwarz,  der 
jahrelang  in  Indien  thätig  war,  hielt  im  Oesterreichischen 
Ingenieur-  und  Architektenverein  einen  Vortrag  über  die 
Eisen-  und  Stahlindustrie  Ostindiens,  in  dem  er  über  die 
indischen  Arbeiter  folgendes  mittheilte:  „Dieselben  sind 

schwächlich  aber  sonst  gelehrig,  nüchtern  und  ungemein 
billig.  Ein  gewöhnlicher  Tagelöhner  kostet  ungefähr  30  Pf. 
per  Tag,  eine  Frau  20  Pf,  ein  Junge  10 — 15  Pf.,  während 
jeder  Schichtmeister  25  Mk.  Monatslohn,  einen  weissen  An- 
zug, ein  Paar  Schuhe  und  eine  rothe  Mütze  erhält.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Ausstands-Versiclierungs-Vereine  in  Preussen.  Die 

Minister  für  Handel  und  Gewerbe  und  des  Innern  haben  in 
einem  vom  14.  März  d.J.  datirten  Erlasse  an  den  Oberpräsiden- 
ten der  Rheinprovinz  aus  Anlass  des  Genehmigungsgesuches 
des  Ausstandsversicherungsvereins  der  niederrheinisch-west- 
fälischen  Zechen  die  grundsätzliche  Stellung  der  Staatsbe- 
hörden Ausstandsversicherungsvereinen  gegenüber  präzisirt. 
Wir  heben  aus  diesem  bedeutsamen  Erlasse  Folgendes  hervor: 
Die  staatliche  Genehmigung  des  genannten  Versicherungs- 
verbandes  erscheint  so  lange  nicht  unbedenklich,  als  die  Ent- 
scheidung über  die  Anerkennung  der  Entschädigungsansprüche 
lediglich  einem  Organe  des  Verbandes  überlassen  bleibt,  um  so 
mehr  als  die  ursprünglichen  Satzungen  des  Verbandes  infolge 
der  Nachgiebigkeit  einer  Zeche  während  des  Ausstandes  im 


No.  15. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


103 


Frühjahr  1890  späterhin  durch  Absatz  4 im  Art.  2 eine  Ergänzung 
gefunden  haben,  durch  welche  der  Anspruch  auf  Schaden- 
ersatz für  den  Fall  ausgeschlossen  wird,  dass  die  Zeche 
die  Forderungen  der  Belegschaft,  deren  Ablehnung  den  Aus- 
stand veranlasste,  nachträglich  bewilligt  oder  die  Beendi- 
gung des  Ausstandes  durch  Massnahmen  herbeigeführt,  welche 
im  regelmässigen  Betriebe  nicht  stattgefunden  haben  würden. 
Durch  diese  Bestimmung  soll  ein  übereinstimmendes  Verhalten 
der  Zechen  in  der  Richtung  gesichert  werden,  dass  bei  Aus- 
ständen  die  Nachgiebigkeit  gegen  die  Forderungen  der  Arbeiter 
erschwert  wird.  Haben  die  Yerhanclsorgane  einmal  den  gegen 
den  Ausstand  geleisteten  Widerstand  als  berechtigt  anerkannt, 
so  sollen  die  ausständigen  Zechen  verpflichtet  sein,  bei  ihrem 
Widerstand  zu  beharren  und  im  Falle  der  Nachgiebigkeit  durch 
Verlust  ihrer  Ansprüche  auf  Schadensersatz  für  die  ganze  Aus- 
standszeit bestraft  werden.  Dieses  Abkommen  befördert  also 
nicht  die  Beendigung,  sondern  die  Fortdauer  des  Ausstandes 
und  widerspricht  zwar  nicht  dem  Wortlaut  und  Sinne  des  § 152 
Abs.  2 der  Gewerbeordnung,  wohl  aber  der  Absicht  dieser 
Gesetzesbestimmung,  welche  den  Rücktritt  von  solchen 
Verabredungen  möglichst  erleichtern  will  Die  Gefahren 
einer  solchen  Vereinbarung  wie  überhaupt  einer  Ausstandsunter- 
stützung, deren  Eintritt  ausschliesslich  in  das  Ermessen  der 
Yerbandsorgane  gestellt  wird,  mögen  von  geringerer  Bedeutung 
sein,  wenn  es  sich  um  Ausstandsversicherungen  der  Arbeitgeber 
als  wenn  es  sich  um  Versicherungs-  oder  Strikekassen  der  Arbeiter 
handelt.  Nichtsdestoweniger  führt  die  Nothwendigkeit, 
Arbeitgeber  und  Arbeiter  nach  gleichen  Grundsätzen 
zu  behandeln,  dahin,  dass  einem  Ausstandsversicherungs- 
verbande  von  Arbeitgebern  die  staatliche  Genehmigung  nicht 
unter  Bedingungen  ertheilt  werden  kann,  unter  denen  einem 
gleichartigen  Vereine  von  Arbeitern  diese  Genehmigung  würde 
versagt  werden  müssen. 

Die  staatliche  Genehmigung  von  Ausstandsversicherungs- 
kassen ist  gleichmässig  gegenüber  Arbeitgebern  und  Arbeitern 
an  folgende  Bedingungen  zu  knüpfen: 

a)  Die  Satzungen  müssen  Fürsorge  treffen,  dass  Entschä- 
digungen oder  Unterstützungen  nur  an  solche  Theilnehmer  ge- 
zahlt werden,  welche  nachweisen,  dass  sie  über  die  Streitig- 
keiten, durch  welche  der  Ausstand  veranlasst  worden  ist,  ein 
Einigungsverfahren  vor  dem  zuständigen  Gewerbegericht  bean- 
tragt haben,  dieses  Verfahren  aber  infolge  der  Weigerung  des 
Gegners  nicht  zu  Stande  gekommen  ist  oder  ohne  Verschulden 
des  den  Anspruch  Erhebenden  zur  Beilegung  des  Strikes  nicht 
geführt  hat.  In  Fällen,  in  denen  ein  zuständiges  Gewerbegericht 
nicht  vorhanden  ist,  muss  der  Nachweis  geführt  werden,  dass 
der  Versuch,  ein  Einigungsverfahren  auf  einem  anderen,  näher 
zu  bezeichnenden  Wege  herbeizuführen,  gemacht  worden  und 
ohne  Verschulden  des  den  Anspruch  Erhebenden  erfolglos  ge- 
blieben ist; 

b)  der  Aufsichtsbehörde  muss  die  Befugniss  eingeräumt 
werden,  von  allen  Verhandlungen,  Büchern  und  Rechnungen 
der  Kasse  selbst  oder  durch  einen  Kommissar  Einsicht  zju 
nehmen.  Die  Kasse  hat  jährlich  einen  Rechnungsabschluss  vor- 
zulegen, aus  welchem  die  Zahl  der  Mitglieder,  die  vereinnahmten 
Beiträge  und  die  geleisteten  Unterstützungen  zu  ersehen  sind. 

Dem  Ausstands  versieh  erungsverbande  zu  Essen  kann  daher 
und  mit  Rücksicht  darauf,  dass  die  Errichtung  eines  Berggewerbe- 
gerichts für  die  Steinkohlenzechen  des  Oberbergamtsbezirks 
Dortmund  in  nächster  Zeit  erfolgen  wird,  die  staatliche  Ge- 
nehmigung erst  ertheilt  werden,  wenn  in  seinen  Satzungen  nach- 
folgende Bestimmungen  Aufnahme  gefunden  haben. 

1.  Ein  Entschädigungsanspruch  darf  nur  anerkannt  werden 
(Art.  7 und  9),  wenn  die  ihn  erhebende  Zechenverwaltung  nach- 
weist entweder,  dass  sie  zur  Beseitigung  der  Streitigkeiten, 
welche  den  Ausstand  herbeigeführt  haben,  das  Berggewerbe- 
gericht als  Einigungsamt  angerufen,  ein  Einigungsverfahren  vor 
diesem  aber  in  Folge  der  Ablehnung  der  Arbeiter  nicht  statt- 
gefunden hat  (§§  61  und  62  des  Reichsgesetzes,  betreffend  die 
Gewerbegerichte  vom  29.  Juli  1890)  — oder,  dass  ein  Einigungs- 
verfahren zwar  stattgefunden,  aber  weder  zu  einer  Einigung 
(§  66  a a.  O.)  noch  zu  einem  Schiedsspruch  (§  67  a.  a.  O ) ge- 
führt habe  — oder,  dass  die  Unterwerfung  unter  einen  von  dem 
Einigungsamte  abgegebenen  Schiedsspruch  nicht  von  der  Zechen- 
verwaltung verweigert  worden  sei  (§  68  a.  a.  O.). 

2.  Der  Verband  muss  dem  Oberpräsidenten  jährlich  einen 
Rechnungsabschluss  vorlegen,  aus  welchem  die  Mitglieder,  die 
vereinnahmten  Beträge  und  die  geleisteten  Unterstützungen  zu 
ersehen  sind.  Der  Oberpräsident  ist  befugt,  selbst  oder  durch 
einen  Kommissar  von  den  Verhandlungen,  Büchern  und 
Rechnungen  des  Verbandes  Kenntniss  und  Einsicht  zu  nehmen. 

Die  Bedeutung  dieses  Erlasses  liegt  vorzüglich  in  der 
Anweisung  der  Unterbehörden,  Arbeitgeber  und  Arbeiter 
nach  gleichen  Grundsätzen  zu  behandeln,  wogegen  bisnun 
in  nicht  seltenen  Fällen  gefehlt  wurde,  ferner  in  der  Siche- 
rung einiger  Kontrolle  der  gegen  die  Ausübung  des  Koali- 
tionsrechtes der  Arbeiter  gerichteten  Bestrebungen  der 
Unternehmer  und  in  der  Anweisung,  die  Gewerbegerichte 
als  Einigungsämter  zu  verwenden.  Die  §§  61  —69  des  Reichs- 
gesetzes betreffend  die  Gewerbegerichte,  die  bis  jetzt  viel- 
fach lediglich  als  Dekoration  des  Gesetzes  betrachtet  wur- 


den, gewinnen  durch  den  preussischen  Erlass  erhöhte  Be- 
deutung. Es  entsteht  nun  die  Frage,  ob  durch  den  Erlass 
den  Arbeitern  eine  neue  Möglichkeit  der  Organisation  von 
Ausständen  geboten  wird.  Die  Antwort  darauf  kann  nur 
die  Praxis  geben. 


Unternehmer  verbände. 


Der  deutsche  Schienenverband,  eines  der  ältesten  und 
kapitalkräftigsten  Kartelle  scheint  einer  Krisis  entgegen- 
zu  gehen,  ln  der  letzten  am  2.  April  stattgefundenen  Ver- 
sammlung der  Betheiligten,  in  der  die  Bedingungen 
des  neuen  Verbandsvertrages  behufs  Verlängerung  des 
Kartells  auf  weitere  5 Jahre  festgesetzt  werden  sollten, 
ergaben  sich  derartige  Differenzen  mit  einigen  Werken, 
welche  neu  hinzutreten  sollten,  dass  die  Versammlung  nach 
dem  Berichte  der  »Kölnischen  Volks-Zeitung«  ohne  Ergeb- 
niss  aus  einander  gehen  musste.  Auf  den  21.  April  wurde 
eine  neue  Versammlung  anberaumt,  jedoch  wird  die  Mög- 
lichkeit einer  Verständigung  von  den  betheiligten  Firmen 
für  fraglich  gehalten. 

Die  Gesetzgebung  gegen  die  Trusts  und  der  Standard 
Oil  Trust.  Der  bekannteste  und  wohl  auch  mächtigste 
Trust  der  Standard  Oil  Trust  wurde  vom  obersten  Gerichts- 
höfe des  Staates  Ohio  für  ungesetzlich  erklärt.  In  Folge 
dessen  löste  man  den  Trust  formell  auf,  und  vertheilte  sein 
Vermögen  unter  die  Inhaber  der  Trust-Zertificate.  Ueber 
die  Grösse  des  Trustvermögens  gehen  die  Schätzungen 
weit  auseinander  Dem  Gerüchte  gegenüber,  dass  vor  der 
Vertheilung  26,000  000  Dollars  in  baarem  Gelde  und  Staats- 
papieren vorhanden  waren,  erklärte  der  Sachwalter  des 
Standard  Oil  Trust,  dass  sich  nur  ein  Ueberschuss  von 
2,000,000  Dollars  in  den  Kassen  befand.  Dass  die  Bethei- 
ligten an  eine  faktische  Auflösung  dieses  übermächtigen 
Unternehmerverbandes  nicht  denken,  geht  daraus  hervor, 
dass  erklärt  wurde,  die  Interessen  der  Besitzer  der  Certi- 
ficate würden  dieselben  bleiben  wie  bisher,  indem  die  ver- 
schiedenen zum  Trust  gehörenden  Korporationen  ihre  Ge- 
schäfte in  der  gleichen  Weise  fortsetzen  und  die  Zertificats- 
Besitzer  als  Aktionäre  ihren  Antheil  an  dem  Gewinne  der 
Korporationen  erhalten  würden.  Wie  es  heisst,  werden  die 
dreissig  Korporationen  aus  denen  der  Trust  besteht,  auf 
18  bis  20  reduzirt  werden,  während  das  Kapital  der  übrig 
bleibenden  vergrössert  werden  soll.  Die  riesige  Korporation 
wird  nach  der  New-Yorker  Handels  Zeitung  unter  anderem 
Namen  fortbestehen,  und  damit  die  Wirkungslosigkeit  der 
Antitrustgesetzgebung  auf’s  Klarste  beweisen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


lieber  die  Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter  in 
Hechelräumen  ist  dem  Bundesrath  der  Entwurf  einer  Ver- 
ordnung zugegangen,  welcher  die  bisherige  Verordnung  über 
die  Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter  in  Spinnereien  er- 
setzen soll.  Die  hauptsächlichste  Aenderung,  welche  der 
Entwurf  bezweckt,  ist  die,  dass  das  Verbot  der  Beschäfti- 
gung und  des  Aufenthaltes  jugendlicher  Arbeiter  in  Hechel- 
räumen (statt  wie  bisher  Hechelsälen)  und  in  Räumen,  in 
welchen  Reisswölfe  im  Betriebe  sind,  nicht  blos  für  Spinne- 
reien, sondern  für  alle  Fabriken  gelten  soll,  in  welchen  sich 
derartige  Räume  befinden.  Sodann  wird  das  Verbot  auch 
auf  andere  Räume  ausgedehnt,  sodass  von  ihm  nunmehr 
alle  Diejenigen  betroffen  sind,  in  welchen  Maschinen  zum 
Oelfnen,  Lockern,  Zerkleinern,  Entstäuben,  Anfetten  oder 
Mengen  von  rohen  oder  abgenutzten  Faserstoffen,  von  Ab- 
fällen oder  Lumpen  im  Betriebe  sind-  Nach  dem  gegen- 
wärtigen Stande  der  Technik  sind  als  solche  Maschinen  ins- 
besondere anzusehen:  die  sogenannten  „Oeffner“,  Ballen- 
brecher, Willows,  die  Schlagmaschinen,  Britingmaschinen, 
die  Reisswölfe,  Klettenwölfe,  Endenreisser,  Expresskarden, 
Lumpenschneider,  W'hipper,  Handreiben,  die  Staubwölfe, 
Klopfwölfe,  Shaker,  Lumpendrescher,  Filzfachmaschinen, 
Haar-Sortirmaschinen,  die  Del-  und  Fettwölfe  und  die  Meng- 


194 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAT, BI, ATT. 


wölfe.  Die  Karden  (Krempel)  für  Wolle  und  Baumwolle 
sind  jedoch  ausgenommen.  Mit  diesen  Aenderungen  haben 
sich,  wie  die  „Nordd.  Allg.  Ztg.“  mittheilt,  die  befragten 
Unternehmer  und  Arbeiter  der  Textilindustrie  einverstanden 
erklärt.  Die  neuen  Bestimmungen  sollen  am  1.  Oktober  1892 
in  Kraft  treten  und  auf  10  Jahre  Giltigkeit  haben. 

Sonntagsruhe  i m Cigarrenhandel.  Der  „Verein  deut- 
scher Tabakfabrikanten  und  Cigarrenhändler“  bat  in  einer  an 
den  Bundesrath  gerichteten  Petition,  ihren  Geschäften  auch 
am  Sonntage  das  Offenhalten  der  Läden  bis  zum  Abend  zu 
gestatten.  Im  Aufträge  der  „freien  Vereinigung  der  Kauf- 
leute“ richtete  der  Vorsitzende  derselben  ebenfalls  eine  Ein- 
gabe an  den  Bundesrath  mit  der  Bitte  um  Abweisung  der 
Petition  der  Tabakfabrikanten  und  Cigarrenhändler.  Aus 
der  vom  „Vorwärts“  veröffentlichen  Antwort  des  Unter- 
Staatssekretärs  von  Rottenburg  geht  hervor,  dass  der  Bundes- 
rath Ausnahmebestimmungen  für  den  Cigarrenhandel  nicht 
für  gut  fand,  so  dass  vom"  1 . Juli  ab  höchstens  fünf  Stunden 
Cigarrenläden  offen  gehalten  werden  dürfen. 

Zur  Beseitigung  »lei1  Nachtarbeit  in  den  Kammgarn- 
spinnereien geht  dem  „Wochenberichte  der  Leipziger  Mo- 
natsschrift für  Textilindustrie“  eine  Zuschrift  zu,  der  wir 
folgende  bemerkenswerthe  Stellen  entnehmen: 

„Es  hat  in  den  Kreisen  der  Kammgarnspinnerei  auf 
das  Allerpeinlichste  berührt,  dass,  wie  neuerdings  behauptet 
wird,  einigen  wenigen  Kammgarnspinnereien  Deutschlands 
die  Erlaubnisl  ertheilt  worden  ist,  auch  nach  dem  1.  April 
d.  J.  weibliche  Arbeiter  über  16  Jahren  während  der  Nacht 
zu  beschäftigen. 

Seit  Jahren  schon  bemüht  sich  die  Gesammtheit  der 
Kammgarnspinnerei,  diesen  Krebsschaden  ihrer  Industrie 
zu  beseitigen.  In  wiederholten  Versammlungen  ist  die  Er- 
wartung ausgesprochen  worden,  der  Einzelne  möge  die 
Nachtarbeit  endlich  aufgeben,  und  nachdem  dies  nicht  all- 
seitig durchgeführt  wurde,  hoffte  man  mit  aller  Zuversicht, 
der  1.  April  d.  J.  werde  nun  endlich  den  Abschluss  der 
Nachtarbeit  durch  Gesetz  herbeiführen,  und  dies  um  so 
zuversichtlicher,  als  bei  dem  bestehenden  trostlosen  Ge- 
schäftsgang, wie  ihn  die  Kammgarnspinnerei  in  solcher 
Erbärmlichkeit  noch  niemals  aufzuweisen  hatte,  fast  alle 
Spinnereien  Deutschlands  zu  den  aller  weitgehendsten  Ein- 
schränkungen der  Tages- Arbeitszeit  bereits  verschritten 
sind;  in  sehr  vielen  Spinnereien  wird  nur  noch  5 Tage 
wöchentlich  und  vielfach  nur  8 -9  Stunden  täglich  gear- 
beitet. 

Alle  diejenigen  Spinnereien  muss  es  naturgemäss  auf 
das  Allerpeinlichste  berühren,  solchen  eigenen  Einschrän- 
kungen gegenüber  zu  sehen,  wie  einzelnen  Wenigen  Aus- 
nahmen eingeräumt  und  bewusst  oder  unbewusst  Bevor- 
zugungen und  Begünstigungen  gestattet  werden,  die  sich 
nicht  rechtfertigen  lassen,  zumal  die  sichere  Aussicht  der 
baldigen  gesetzlichen  Regelung  dieser  Frage  den  hier  in 
Betracht  kommenden  Etablissements  mehr  als  ausreichende 
Zeit  liess,  sich  in  aller  Ruhe  auf  diese  allseitig  wahrhaft 
herbeigesehnte  Beendigung  jener  Nachtarbeit  einrichten  zu 
können.“ 


Arbeiterversicherung. 

Die  statistischen  Ergebnisse  der  Arbeiter-Unfall- 
versicherung in  Oesterreich. 

Die  amtlichen  Nachrichten  des  österreichischen  Mi- 
nisteriums des  Innern  über  die  Unfallversicherung  und  die 
Krankenversicherung  der  Arbeiter  vom  I.  Februar  1892 
(No.  3)  publiziren  die  Resultate  der  Unfallversicherungs- 
statistik, zum  ersten  Male  für  ein  ganzes  Jahr,  für  1890. 

Die  Uebersichten  zeichnen  sich  vor  denen  des  Deut- 
schen Reichs  dadurch  aus,  dass  sie  in  einer  längeren  Ein- 
leitung die  hauptsächlichsten  Zahlen  des  Tabellenwerkes 
nach  statistischen  Grundsätzen  zusammenstellen  und  die 
Tabellen  nach  weiteren,  nicht  nur  durch  die  engen  Grenzen 
der  Spezialverwaltung  gegebenen  Gesichtspunkten  auf- 
bauen. Man  wird  diesen  Umstand  vor  Allem  anerkennen 


No.  15. 


Die  österreichische  Arbeiter-Unfallversicherung  unter- 
scheidet sich  u.  a.  materiell  dadurch  von  der  deutschen, 
dass  die  Entschädigungspflicht  dort  von  einer  vierwöchent- 
lichen, hier  von  einer  dreizehnwöchentlichen  durch  die 
Krankenversicherung  zu  entschädigenden  Karenzzeit  ah- 
hängt,  formell  dadurch,  dass  dort  die  ganze  Versicherung 
in  8 Anstalten  (zu  Wien,  Salzburg,  Prag,  Brünn,  Graz, 
Triest,  Lemberg  und  der  berufsgenossenschaftlichen  Anstalt 
der  Eisenbahnen)  erfolgt,  hier  durch  eine  grosse  Zahl  von 
berufsgenossenschaftlich  gegliederten  Anstalten  mit  nicht 
bestimmt  geregelter  territorialer  Begrenzung. 

Jedoch  hat  die  österreichische  Statistik  keineswegs  aut 
die  beruflichen  Unterscheidungen  Verzicht  geleistet,  da  die 
Zuweisung  jedes  einzelnen  Betrieb.es  zu  einer  bestimmten 
Gefahrenklasse  gesetzliches  Erforderniss  ist,  und  dies  hin- 
wiederum von  der  Betriebsgattung  abhängt. 

So  ist  die  statistische  Unterscheidung  der  Betriebe 
und  der  Versicherten  nach  der  Betriebsgattung  von  Inter- 
esse und  in  der  hier  beigefügten  Tabelle  mitgetheilt.  Dar- 


Art des  Betriebes 

triebe 

Ver- 
sicherte 
Beamte 
und  Ar- 
beiter 

Von  iooo 
Arbeitern 

jugend-  weib- 
lich lieh 

Mühlen .... 

12  173 

23  194 

101 

16 

Eisenbahnbau  

475 

20  373 

16 

4 

Nebenanlagen  der  Eisenbahnen  . . 

893 

5 354 

2 

2 

Hüttenwerke 

110 

15  684 

60 

33 

Steinbrüche  

26  562 

35 

58 

Gruben  

594 

4 323 

28 

145 

Verarbeitung  von  Steinen 

717 

4 965 

170 

56 

Verarbeitung  von  Erden 

3 910 

48  955 

78 

247 

Erzeugung  und  Verarbeitung  von  Glas 

66b 

18  791 

162 

187 

Edelmetall  Verarbeitung 

67 

1 938 

222 

251 

Verarbeitung  von  Eisen  und  Stahl  . 

1 462 

30  083 

100 

86 

Unedle  Metalle  und  Legirungen  . . 

Erzeugung  von  Maschinen,  Werk- 

406 

13  897 

115 

341 

zeug  etc 

631 

35  710 

126 

11 

Transportmittelerzeugung 

116 

9 976 

74 

11  r 
3 

Erzeugung  von  Schusswaffen  . . . 

Erzeugung  von  phvsik. -chirurgischen 

32 

10  698 

6 

Apparaten  etc 

137 

5 308 

94 

104 

Erzeugung  von  Musikinstrumenten  . 
Betrieb  von  Motoren  für  Transport- 

40 

975 

119 

40 

zwecke  etc.  . 

91 

880 

51 

118 

Chemische  Grossindustrie 

Erzeugung  von  ehern,  und  pharmac. 

73 

4 188 

14 

75 

Präparaten 

58 

1 084 

17 

117 

Erzeugung  von  Farben  etc 

131 

2 093 

28 

399 

Erzeugung  von  Theer  und  Harzen  . 

54 

841 

38 

156 

Erzeugung  von  Explosionsstoffen  . . 

127 

6 113 

18 

569 

Verarbeitung  von  Abfällen,  Dünger  . 

92 

1 893 

4 

235 

Erzeugungvon  Heiz-und  Leuchtstoffen 

277 

7 432 

6 

123 

Erzeugung  von  Oelen  und  Fetten 

207 

2 896 

24 

223 

Betrieb  für  Beheizung  u.  Beleuchtung 

92 

617 

9 

94 

Seidenindustrie  

Verarbeitung  von  Schafwolle  und 

131 

16  287 

75 

707 

Thierhaaren 

Verarbeitung  von  Flachs,  Hanf, 

615 

51  271 

54 

455 

Werg  etc 

Verarbeitung  von  Baumwolle  und 

233 

30  624 

47 

570 

Halbwolle 

595 

86  773 

60 

564 

Bleichereien,  Färbereien  etc 

Erzeugung  von  Wirk-,  Klöppel- 

722 

22  618 

35 

268 

waaren  etc 

182 

9 525 

51 

b33 

Papier-  und  Pappenfabrikation  . . . 

384 

22  296 

35 

337 

Sonstige  Papierverarbeitung  .... 

125 

6 152 

64- 

632 

Leder-  u.  Ledersurrogatenfabrikation 

770 

9 730 

52 

105 

Verarbeitung  von  Leder  und  Surrogat 
Erzeugung  von  Gummi,  Gutta- 

19 

629 

99 

204 

percha  etc 

20 

1 419 

51 

427 

Holzverarbeitung 

Erzeugung  von  Flechtwaaren  und 

5 644 

32  646 

42 

140 

Bürsten 

24 

471 

109 

350 

Bearbeitung  von  Horn  u.  Meerschaum 

78 

4 409 

154 

377 

Erzeugung  von  Genussmitteln  . • . 

771 

51  151 

42 

218 

Erzeugung  von  Getränken  .... 

2 727 

33  564 

25 

43 

Tabakfabriken 

28 

33  141 

9 

896 

Erzeugung  von  Bekleidungsstücken  . 

183 

16  020 

49 

51 1 

Reinigungsanstalten 

191 

1 247 

8 

526 

Bauunternehmungen 

2 184 

102  464 

60 

126 

Baugewerbe  

4 956 

32  890 

132 

61 

Bauliche  Nebengewerbe 

5 428 

9 143 

226 

ii 

Polygraphische  Gewerbe 

409 

14  031 

166 

220 

Zusammen  . . . 

53  193 

893  324 

66 

266 

in  iissen. 


No.  15. 


SOZIA I l'<  M.ITTSCHKS  ( ICNTR ALBL ATT. 


195 


nach  ragt  das  Baugewerbe  durch  die  Zahl  der  Personen 
hervor,  welche  es  beschäftigt,  194  497  Personen  von  893  324 
im  Gewerbe  überhaupt,  ein  ähnliches  Verhältniss  wie  im 
Deutschen  Reich,  wo  von  den  4 888  790  Versicherten  der 
gewerblichen  Berufsgenossenschaften  I 016  584  aut  das  Bau- 
gewerbe entfielen. 

Von  Wichtigkeit  sind  auch  die  Nachrichten  über  die 
Betheiligung  der  jugendlichen  und  weiblichen  Arbeiter. 
Die  Verwendung  der  ersteren  war  besonders  zahlreich  in 
.len  baulichen  Nebengewerben  und  der  Kdehnetall  Ver- 
arbeitung mit  226  bis  222  von  1000  versicherten  Arbeitern 
gegenüber  von  nur  66  im  Durchschnitt.  Das  Vorkommen  weib- 
licher Artpitskräfte  war  weitaus  am  stärksten  in  der  Tabak- 
industrie mit  896  pro  Mille  aller  Arbeiter,  dann  in  der 
Seidenindustrie  (707  pro*  Mille),  ferner  bei  der  Papierver- 
irbeitung  (632),  in  der  weiblichen  Handarbeit  wie  Wirkerei, 
Klöppelei  u.  s.  w.,  der  Verarbeitung  von  Flachs,  Baum- 
wolle u.  s.  w.  Aber  auch  in  der  chemischen  Industrie 
kommt  die  Verwendung  von  Frauen  häufig  vor,  so  bei  den 
Explosivstoffen  mit  569  pro  Mille  aller  Arbeiter,  bei  den 
Farbstoffen,  Metallen,  Papierfabriken  u.  s.  w. 

Von  besonderem  Interesse  ist  auch  die  statistische 
Gliederung  der  Betriebe  nach  der  Verwendung  von  Motoren 
and  die  prozentuale  Angabe  der  Personen,  welche  an  den 
Motoren,  bei  Arbeitsmaschinen,  im  Handbetrieb,  im  Magazin 
beschäftigt  oder  einer  Explosionsgefahr  ausgesetzt  waren ; 
lies  ist  für  jede  der  mitgetheilten  Betriebsgattungen  ange- 
l'ührt.  Im  Allgemeinen  waren  von  sämmtliehen  53  193  ge- 
werblichen Betrieben  28  679  mit  Motoren  versehen;  und 
zwar  wurden  verwendet: 

12  745  Dampfmotoren, 

890  Gasmotoren, 

30  646  Wasserkraftmotoren, 

987  Thierkraftmotoren, 

583  andere  Motoren, 

2 451  Dampfkessel  ohne  Motoren, 

342  Elektrizität, 

I 421  explodirende  Stoffe  (Verwendung  oder  Erzeugung). 

Die  Zahl  der  Pferdekräfte  dieser  Motoren  beziffert  sich 

uff  556  778. 

In  den  78  133  land-  und  forstwirthschaftlichen  Betrieben 
wurden  nur  102  ohne  Motoren  betrieben,  71  690  mit  Thier- 
kraft,  5280  mit  Dampf-  und  1536  mit  Wasserkraft.  Die  Zahl 
ler  verwendeten  Pferdekräfte  belief  sich  hier  auf  158  302. 

Nach  Angabe  des  Betriebsunternehmers  waren  von  je 
1000  versicherten  Arbeitern  ausgesetzt  den 


Gefahren 

im 

Gewerbe 

in  der  Land- 
und  Forst- 
wirthschaft 

des  Motors 

24 

228 

der  Arbeitsmaschinen  . . 

326 

340 

der  Explosion 

11 

0 

der  Handbetriebe  .... 

599 

425 

des  Transport-  u.  Magazin- 
wesens   

40 

7 

Der  Explosionsgefahr  waren  hiernach  im  Durchschnitt 
1 1 Arbeiter  unter  1000  besonders  ausgesetzt,  dies  Verhält- 
uiss  betrug  bei  der  Industrie  der  Steine  und  Erden  54,  der 
Heiz-  und  Leuchtstoffe  41,  der  chemischen  Industrie  34. 

Hinsichtlich  der  weiter  mitgetheilten  Tabelle  nach 
ler  Betriebszeit  der  Betriebe  wird  angeführt,  dass  die- 
selbe noch  nicht  zuverlässig  ermittelt  und  daher  nur  aus- 
zugsweise veröffentlicht  sei.  Bei  korrekten  Zahlen  wird 
fiese  Tabelle  von  hohem  Werthe  sein.  Es  sind  Klassen 
luach  der  Betriebszeit  im  Rechnungsjahre  nach  Tagen 
bis  12,  13/25,  26/50  u.  s.  w.)  aufgeführt  und  gleichzeitig  die 
furchschnittliche  Dauer  nach  Monaten.  Die  letztere  ist  bei 
len  Steinbrüchen  auf  8,4  Monate,  bei  der  Eisgewinnung  auf 
|i,7,  beim  Hochbau  auf  8,5,  bei  den  Dachdeckern  6,1,  den 
Maurern  6,3,  den  Zimmerern  6,9  u.  s.  w.  angegeben. 

Dass  diese  Zahlen  von  unendlichem  Werthe  sein 
können,  bedarf  kaum  des  Beweises,  namentlich  wenn  es 
gelingen  sollte,  die  Lohnstatistik  hier  mit  hinzuzuziehen. 
Dies  scheint  allerdings  noch  nicht  ins  Auge  gefasst  zu  sein. 


Einstweilen  ist  in  dieser  Hinsicht  die  österreichische 
Statistik  ebenso  werthlos  wie  die  deutsche,  indem  die  an- 
geführten Lohnbeträge  nur  den  zur  Anrechnung  kommenden 
Lohn  in  Rücksicht  ziehen.  Vielleicht  entschliesst  man 
sich  auch  hierin,  über  die  Bedürfnisse  der  unmittelbaren 
Verwaltungsstatistik  hinausgehend,  den  Versuch  einer  Lohn- 
statistik zu  unternehmen. 

Mehr  dem  eigentlichen  Zwecke  des  Gesetzes  ent- 
sprechen die  Daten  über  die  Unfälle,  welche  ebenfalls  be- 
ruflich gegliedert  sind.  Im  Ganzen  wurden  15  508  Unfälle 
zur  Anzeige  gebracht,  das  sind  174  auf  10  000  Versicherte. 
Die  Maxima  lagen  bei  der  Transportmittelerzeugung  (665 
auf  10  000),  den  Hüttenwerken  (608),  der  Maschinenindustrie 
(554).  Die  kleinste  Unfallgefahr  wiesen  mit  4 auf  10  000  die 
Tabak-  und  mit  14  die  Seidenfabriken  auf.  ‘Die  Ver- 
schiedenheit der  Betriebsdauer,  welche  natürlich  von  wesent- 
lichem Einfluss  auf  die  Unfallgefahr  ist,  konnte  noch  nicht 
mit  in  Rücksicht  gezogen  werden. 

Für  die  Unfall  Versicherungsanstalten  in  Betracht 
kamen  nur  die  entschädigungspflichtigen  mit  mehr  als 
4 Wochen  Erwerbsunfähigkeit  oder  Tod  verbundenen 
Unfälle. 

Es  entfielen  auf  je  10  000  Versicherte: 
männl.  weibl. 

7,7  1,3  Unfälle,  mit  tödtlichem  Ausgang, 

64,5  14,4  Unfälle  mit  vorübergehender  Erwerbsunfähigkeit 

von  mehr  als  4 Wochen, 

20,1 6,6  Unfälle- mit  dauernder  Erwerbsunfähigkeit, 

92.3  22,3  entschädigungspflichtige  Unfälle  überhaupt. 

Von  1000  Unfällen  hatten  81  Tod,  682  vorübergehende 
und  237  dauernde  Erwerbsunfähigkeit  zur  Folge  und  es 
wurden  von  1000  31  I durch  Arbeitsmaschinen,  140  durch 
Fallen  von  Gegenständen,  133  durch  herabfallen  von 
Leitern  u.  dergl.  veranlasst.  In  den  meisten  Fällen  (33  %) 
wurden  die  Finger,  bei  22  % Beine  und  Füsse,  bei  17% 
Arme  und  Hände  verletzt. 

Die  Gesammtausgaben  der  österreichischen  Unfallver- 
sicherungsanstalten betrugen  vom  I.  November  1889  bis 
Ende  des  Jahres  1890:  3 854  832  fl.,  von  welchen  2 874  510  fl. 
auf  Entschädigungen,  Deckungskapitalien  für  Renten,  Prämien 
an  Privat-Unfallversicherungen  und  solche  eigentlich  im 
Sinne  des  Gesetzes  liegende  Zwecke  entfielen;  21  186  fl 
entfielen  auf  die  Kosten  der  Unfallerhebung. 

Wir  haben  uns  begnügt,  aus  dem  reichhaltigen  Detail 
des  Berichtes  nur  wichtigere  Thatsachen  hervorzuheben. 
Nach  der  ganzen  Anlage  desselben,  welche  die  ent- 
sprechenden U ebersich ten  des  Deutschen  Reichs  an  statisti- 
schem Werth  und  Inhalt  weitaus  übertrifft,  ist  eine 
Quelle  wichtiger  sozialer  Kenntnisse  erschlossen  worden. 

Berlin.  Ernst  Hirschberg. 

Knappschaftsverelhe  deutscher  Bergleute.  Im  Jahre 
1890  waren  in  Preussen,  wie  eine  Zusammenstellung  im 
„Compass“  ergibt,  77  Knappschafts  vereine  thätig;  nach  Ver- 
schmelzung der  Märkischen  Knappschaftskasse  mit  der 
Essener  und  Mühlheimer  sowie  nach  Auflösung  des  Oeseder 
Vereins  blieben  noch  74.  Die  Vereine  umfassten  2036  Berg-, 
Hütten-  und  Salzwerke  mit  208  628  ständigen  und  180  407 
unständigen  Mitgliedern.  Es  wurden  invalide  3340  Mit- 
glieder, 10  070  schieden  aus  und  3347  starben.  Durch  Un- 
fälle starben  780,  durch  andere  Todesursachen  2567.  Das 
Durchschnittsalter  der  Ganzinvaliden  war  49,6  Jahre,  gegen 
47,7  Jahre  in  1889,  der  Halbinvaliden  46,3  Jahre  gegen  43,6 
Jahre  in  1889.  Unterstützungsberechtigt  waren  3o  805  In- 
validen, 33  929  Wittwen  und  56  447  Waisen.  Unfallrenten 
bezogen  10597  Invalide,  Wittwen  und  Waisen.  Schulgeld  wurde 
für  32  390  Kinder  bezahlt.  Im  Laufe  des  Jahres  wurden  krank 
212  756  beitragende  Mitglieder.  Krankengelder  erhielten 
179  587  Mitglieder  auf  2 458  482  Tage  oder  durchschnittlich 
ein  Kranker  auf  13,7  Tage.  Das  schuldenfreie  Vermögen 
der  Knappschaftsvereine  belief  sich  am  Schlüsse  des  Jahres 
1890  auf  38  000  000  Mk.  gegen  34  000  000  Mk.  am  Anfänge 
des  Jahres.  Die  Einnahmen  beliefen  sich  auf  25,6,  die  Aus- 
gaben auf  21,9  Millionen  Mark. 


1% 


SOZIALPOLITISCHES  CKNTRALHLATT. 


Vo.  15. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 


W»liuungsgesetz$pebutig  in  Bi*aiiuschweig.  Das  Staats- 
ministerium hat,  wie  wir  den  „Veröffentlichungen  des  König- 
lichen Gesundheitsamtes“  vom  6.  April  entnehmen,  unter 
dem  29.  Januar  der  Landesversammlung'  zwei  Gesetzent- 
würfe, betr.  das  Halten  von  Schlafgängern  und  die  Unter- 
bringung von  Arbeitern  in  Arbeiterkasernen  und  sonstigen 
zur  Aufnahme  einer  grösseren  Anzahl  von  Arbeitern  be- 
stimmten Räumlichkeiten,  zur  verfassungsmässigenBeschluss- 
nahme  übersandt.  Es  wird  beabsichtigt,  das  Halten  von 
Schlafgängern  von  einer  ortspolizeilichen  Erlaubniss  ab- 
hängig zu  machen,  welche  unter  Berücksichtigung  der  zu 
verwendenden  Räumlichkeiten  hinsichtlich  ihrer  Grösse  und 
Tauglichkeit  zu  genanntem  Zwecke  ertheilt  werden  soll. 
Zur  Kontrolle  des  Wechsels  der  Schlafgänger  ist  die  Melde- 
pflicht seitens  der  Vermiether  in  Aussicht  genommen.  Dies 
gilt  auch  für  die  Aufnahme  von  Arbeitern  in  Arbeiter- 
kasernen oder  anderen  derartigen  Räumlichkeiten.  In 
beiden  letzteren  dürfen  Familien  nur  dann  aufgenommen 
werden,  wenn  ihnen  besondere  Wohn-  und  Schlafräume 
gewährt  werden;  die  übrigen  Bewohner  sollen  nach  Ge- 
schlechtern getrennt  gehalten  werden.  Die  Grösse  und 
Brauchbarkeit  der  Wohn-  und  Schlafräume  untersteht  der 
polizeibehördlichen  Begutachtung.  Behufs  Aufrechterhal- 
tung der  Ordnung  etc.  ist  in  Anwesen,  in  welchem  mehr 
als  20  Arbeiter  zusammenwohnen,  die  Bestellung  eines  be- 
sonderen Aufsehers  in  Aussicht  genommen. 

Wohnnngs  Verhältnisse  der  oberschlesisehen  Industrie- 
arbeiter. Bergrath  Dr  Sättig  in  Beuthen  hat  in  der  Zeitschrift 
des  „Oberschlesisehen  Berg-  und  Hütten  Vereins“  Bericht  über 
die  von  der  dortigen  „Arbeiterwohlfahrtskommission“  über  die 
Wohnungsverhältnisse  angestellten  Erhebungen  erstattet  Im 
äusseren,  dem  Centrum  der  Industrie  ferner  liegenden  Bezirk, 
namentlich  im  Kreise  Tarnowitz,  in  welchem  vorzugsweise  Erz- 
bergbau getrieben  wird  und  der  Bergmann  gleichzeitig  Acker- 
bauer ist  habe  ein  „grosser  Theil“  der  Arbeiter  von  Alters  her 
sein  eigenes  Besitzthum.  Infolge  der  Gewährung  von  freiem 
oder  billigem  Baugrund,  von  Bauprämien,  von  Baumaterialien 
zum  Selbstkostenpreise,  von  zinsfreien  oder  billigen  Darlehen 
seitens  der  Gewerkschaften  habe  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten 
eine  „grosse  Zahl“  von  Arbeitern,  namentlich  auch  im  inneren 
Bezirk,  eigene  Häuser  errichtet.  Damit  stimmt  freilich  nicht 
recht  die  nachfolgende  zahlenmässige  Angabe.  Im  ganzen 
wohnten  1890  nacli  den  Angaben  der  Magistrate  und  Amtsvor- 
steher in  dem  Untersuchungsbezirk  in  eigenen  Häusern 
8 830  männliche  Arbeiter  oder  nur  12,4  "/0  aller  der  berg-  und 
hüttenmännischen  Bevölkerung  angehörigen  männlichen  Arbeiter. 
Mit  Beihilfe  der  Werke  wurden  von  Arbeitern  I 769  Häuser  mit 
zusammen  1 1 135  Familienwohnungen  (im  Durchschnitt  6,3)  er- 
baut. Die  Bedeutung  und  der  Werth  der  Gewährung  von  Haus- 
baubeihilfen für  die  Ansiedelung  von  Arbeitern  sei  nicht  zu 
verkennen.  Die  in  grossem  Massstabe  erfolgte  Herrichtung 
gewerkschaftlicher  Familienhäuser  habe  sich  indessen  als  weit 
segensreicher  herausgestellt.  Sie  seien  zumeist  besser  gebaut, 
die  Wohnungen  selbst  seien  geräumiger  und  gesünder,  auch  die 
von  den  Gewerkschaften  geforderten “Miethen  erheblich  geringer, 
als  die  von  den  Besitzern  der  Beihilfehäuser.  Der  durchschnitt- 
liche Rauminhalt  einer  Arbeiterwohnung  beträgt  in  den  Kreisen 
Tarnowitz,  Gleiwitz,  Pless  und  Rybnik  im  grossen  Durchschnitt 
40  bis  54,  in  den  nördlichen  Theilen  der  Kreise  Kattowitz  und 
Zabrze,  sowie  im  Kreise  Beuthen  (Land  75  cbm.  Der  Prozent- 
satz derjenigen  Arbeiter,  welche  in  Häusern  wohnen,  die  weder 
einem  Werke  noch  industriellen  Arbeitern  gehören,  ist  sehr 
mässig.  Er  wäre  noch  geringer,  wenn  nicht  ein  Theil  der  Bei- 
hilfehäuser in  fremde  Hände  übergegangen  wäre.  Der  monat- 
liche Miethzins  der  gewerkschaftlichen  Wohnungen  schwankt 
zwischen  0 (Friedenshütte)  und  10  M.  (Borsigwerk),  der  nicht 
gewerkschaftlichen  zwischen  1,5  und  12  M.  Am  geringsten  (1,5 
bis  2 M.)  ist  er  in  den  kleinen,  an  der  Peripherie  des  Industrie- 
bezirks gelegenen  Ortschaften,  am  höchsten  in  Rossberg,  Königs- 
hütte, Lipine,  Dorotheendorf,  Ruda,  Zabrze,  Laurahütte,  Hohen- 
lohehütte, Zalenze,  Rosdzin,  Schoppinitz,  Gleiwitz,  Petersdorl 
(bis  10  M.)  und  namentlich  in  Beuthen  und  Kattowitz  (bis  12. M.) 
Die  Miethzinse  im  inneren  Industriebezirke  sind  im  allgemeinen 
zwei  bis  drei  Mal  so  hoch  als  die  im  äusseren.  Der  durch- 
schnittliche Miethzins  der  Wohnung  eines  industriellen  Arbeiters 
wird  im  inneren  Bezirk  zur  Zeit  etwa  80  M.  betragen.  Unter 
dieser  Annahme  sei  von  dem  „durchschnittlichen“  reinen  Jahres- 
arbeitsverdienst der  sämmtlichen  Häuer,  Maschinenwärter, 
Maurer  und  Anschläger  auf  den  Steinkohlengruben  des  Beuthener 
Bergreviers  (33,5%  der  Gesammtbelegschaft  auf  denselben), 
welcher  im  Jahre  1888:  706  M.,  1889:  770  M.,  1890:  926  M.  betrug, 
daher  gegenwärtig  8,6%  für  die  Wohnung  zu  zahlen. 


Geschlechtsvenniscluing  in  Arbeiterwohnungen.  Aus 

einem  Berichte  des  Komitee  de  patronage  der  belgischen 
Kantone  Mons,  Lens  und  eines  Theiles  des  Kantons  de 
Paturages  theilt  „la  Flandre  liberale“  folgende  Daten  mit. 
Auf  dem  kleinen  Orte  Masnuy-St.-Jean,  der  kaum  1500 
Seelen  zählt,  kommen  255  Arbeiterwohnungen,  in  70  der- 
selben schlafen  Raummangels  wegen  junge  Burschen  und 
Mädchen  im  selben  Raume,  in  Maisieres  ist  dies  in  65  von 
192  Arbeiterwohnungen,  demnach  in  34  u/o  derselben  der 
Fall,  ln  Flenn  kommt  dies  in  50  von  500  Arbeiterwohnungen 
vor,  ja  in  10  derselben  schlafen  Burschen  und  Mädchen  ( 
im  gleichen  Bette.  Tn  dem  kleinen  Flecken  Nouvelles, 
der  kaum  64  Arbeiterwohnungen  zählt,  wurde  in  vier  Fällen 
das  gleiche  konstatirt  und  in  Mons  hatte  man  in  21  Familien 
das  Zusammenschlafen  von  B rschen  und  Mädchen  in 
mannbarem  Alter  angetroffen. 

Arbeiterwohnungeil  in  Russland,  ln  den  Zuständen 
der  russischen  Fabrikarbeiter  waren  bis  auf  die  Gegenwart 
Verhältnisse  zu  beobachten,  die  uns  lebhaft  an  die  Natural- 
wirthschaft,  welcher  dieses  Land  kaum  entwachsen  ist,  er- 
innern konnten.  Allmählich  weichen  die  Ueberreste  des 
persönlichen  Dienstverhältnisses  vor  Einrichtungen  im  west- 
europäischen Sinne.  Die  Idee  des  Arbeiter-Cottage,  welche 
vornehmlich  dazu  bestimmt  ist,  die  Arbeiter  in  ein  an- 
sässiges Element  und  ein  gefügiges  Werkzeug  zu  Gunsten 
der  nächst  liegenden  Fabrik  zu  verwandeln  und  die  sporadisch 
in  allen  westeuropäischen  Ländern  auftaucht,  wird  auch  in  1 
Russland  ventilirt.  L'nter  den  Summen,  welche  für  öffent- 
liche Arbeiten  zu  Gunsten  der  nothleiclenden  Bevölkerung 
ausgeschrieben  worden  sind,  wurden  50  000  Rubel  vom 
Generaldirektor  dieser  Arbeiten,  General  Annenkow,  für 
Arbeiterhäuser  bestimmt.  Solche  Arbeiterhäuser,  die  ersten 
in  Russland,  sind  an  der  neu  gebauten  Eisenbahnlinie  im 
Kaukasus  errichtet  worden;  jedes  besteht  aus  zwei  Zimmern, 
nebst  Küche  und  Kammer.  Das  Haus  ist  mit  einem  Hofe  j 
und  einem  Wirtschaftsgebäude  versehen  und  für  Arbeiter- 
familien bestimmt,  die  es  für  den  Preis  von  550  Rubel  im 
Laufe  von  zehn  Jahren  erwerben  sollen.  Das  ausgelegte,  1 
Kapital  soll  mit  10%  verzinst  werden.  Die  Gründung  von 
Arbeiterhäusern  wäre  also  keine  üble  kapitalistische  Anlage. 
Zurückgezahlt,  soll  das  Kapital  wieder  zum  Bau  von  Arbeiter- 
häusern dienen.  Zu  diesem  Zwecke  will  General  Annenkow 
mit  den  Industriellen  in  Beziehungen  treten,  um  von  ihrer 
Seite  Grund  und  Boden  und  den  Beistand  der  Arbeiter- 
kassen zu  erlangen. 

Die  Noth  der  Bevölkerung  bringt  auf  diese  Weise  die 
Regierung  zu  Neuerungen,  die  ein  Symptom  dafür  sind,; 
dass  Russland  der  kapitalistischen  Aera  mit  grossen  Schrit- 
ten zustrebt. 


Soziale  Hygiene. 


Die  Trunksucht  als  Todesursache  in  den  15  grösseren 
städtischen  Gemeinden  der  Schweiz.  Das  „Schweizerische 
Bundesblatt“  veröffentlicht  eine  Statistik  der  Sterbefälle  im 
letzten  Quartale  des  Jahres  1891  für  die  15  grösseren  Städte 
des  Landes,  bei  denen  die  Trunksucht  als  Grund  oder  als 
mitw'irkende  Ursache  angegeben  war.  Bei  einer  Gesammt- 
zahl  von  1633  Sterbefällen  von  Personen  von  20  und  mehr 
Jahren  (811  männliche  und  822  weibliche)  wurde  bei  27 
(22  männl.  und  5 weibl.)  die  Trunksucht  als  primäre,  bei  69 
(64  männl.  und  5 weibl.)  die  Trunksucht  als  mitwirkende 
Ursache  angegeben.  Nach  dem  Alter  vertheilen  sich  diese 
Todesfälle  folgendermassen : 20 — 30  Jahre  22  (20  männl.  und 
2 weibl.),  40— 59  Jahre  51  (44  männl.  und  7 weibl.),  60  und 
mehr  Jahr  23  (22  männl.  und  I weibl.).  Hiervon  waren  15 
ledig  (15  männl.),  62  verheirathet  (60  männl.  und  2 weibl.), 
13  verwittwet  (1 1 männl.  und  2 weibl.),  3 geschieden  (2  männl. 
und  I weibl.),  3 unbekannten  Civilstandes  (2  männl.  und  I 
weibl.).  Unter  den  86  verstorbenen  Männern  waren  40  Hand- 
werker und  Fabrikarbeiter,  15  Handelsleute,  12  Wirthe,  je 
4 Rentiers,  Dienstboten  und  Tagelöhner,  je  2 gehörten  den 
Gruppen  der  liberalen  Berufsarten,  der  Studenten,  Land- 
wirthe,  Fuhr-  und  Schiffsleute  und  der  Weibel,  Wächter  und 
Kirchendiener  an;  bei  einem  fehlt  die  Angabe  des  Berutes. 


! 


| Ko.  15.  SOZIALPOLITISCH! 

Die  Todesfälle  infolge  Säuferwahnsinns  betragen  2,7  % der 
Todesfälle  überhaupt;  die  Todesfälle,  bei  denen  Trunksucht 
als  primäre  oder  mitwirkende  Ursache  angegeben  war,  be- 
tragen 10,6%  der  Todesfälle  in  den  15  grösseren  schwei- 
zerischen Städten  überhaupt. 


Kriminalität. 

Arbeitsverdienst  der  Gefangenen  in  LTenssen.  Nach 
einer  der  Rechnungskommission  des  Abgeordnetenhauses  mit- 
o-etheilten  Uebersicht  betrug  die  Tagesdurchschnittszahl  der 
gerichtlichen  Gefangenen  im  Jahre  1890/91  29  498.  Es  waren  nicht- 
beschäftigt 6244,  mit  Hausarbeit  beschäftigt  2280,  und  für  Dritte 
gegen  Lohn  20  974.  An  Arbeitsverdienst  sind  aufgekommen  im 
Ganzen  2 461,347  M.  Das  macht  auf  den  Kopf  der  für  Dritte  gegen 
Lohn  beschäftigten  Gefangenen  112,58  M.  oder  38% Pf.  pro  dag, 
das  Jahr  zu  300  Arbeitstagen  gerechnet.  Dass  da  Unternehmer  und 
Arbeiter  über  die  Konkurrenz  der  Gefängnissarbeit  klagen,  ist  wohl 
berechtigt.  Der  Kampf  gegen  die  heutige  Form  der  Gefängniss- 
arbeit gewinnt  an  Berechtigung,  wenn  man  erwägt,  dass  von  den 
38%,  Pf  . per  Tag  den  Gefangenen  nur  knapp  12%}  Pt.  direkt  zu  Gute 
kommen.  Von  der  Einnahme  aus  dem  Arbeitsverdienst  wurden 
nämlich  den  Gefangenen  bewilligt  nur  744  746  M.  und  zur  Ge- 
richtskasse abgeliefert  1716  601  M.  Hiervon  sind  der  Staatskasse 
verblieben  82ÖA49  M , als  Remuneration  der  Beamten  348  742  M. 
und  an  den  Provinzial-Waisenfond  überwiesen  547  410  M Im 
Ressort  des  Ministers  des  Innern  betrug  in  zusammen  60  An- 
stalten die  Einnahme  aus  dem  Arbeitsverdienst  der  Gefangenen 
3 776  415  M. 


Litteratur. 


IS  CENTRALBLATT.  197 


Vergleiche  herangezogen  worden  wäre  und  an  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Organisation  und  an  die  thatsächlichen  Lei- 
stungen der  Inspektoren  vom  Verfasser  der  kritische  Mass- 
stab  gelegt  worden  wäre.  Der  Verfasser  scheint,  und  hierbei 
müssen  wir  ihm  widersprechen,  zu  glauben,  dass  in  Ungarn 
von  sozialer  Pathologie  und  von  der  Nothwendigkeit  sozialer 
Therapie  noch  nicht  gesprochen  werden  muss,  denn  seine 
Arbeit  klingt  in  dem  Wunsche  nach  einer  sozialen  Prophy- 
laxis aus.  Doch  wir  wollen  uns  nicht  um  Worte  streiten. 
Mag  das,  was  der  Verfasser  will,  soziale  Prophylaxis  oder 
soziale  Therapie  genannt  werden,  sicher  ist,  dass  die  De- 
generirung  der  ungarischen  Arbeiter  nur  durch  eine  ehr- 
liche, energische  und  einschneidende  Arbeiterschutzpolitik 
aufgehalten  werden  kann,,  und  dass  das  ungarische  Arbeiter- 
schutzgesetz nach  keiner  Richtung  den  Bedürfnissen  auch 
nur  einigermassen  entspricht. 

Biirkli,  Karl.  Der  Ursprung  der  Eidgenossenschaft  aus  der 

Markgenossenschaft  und  die  Schlacht  am  Morgarten.  Zur 

600jährigen  Feier  des  Bundes  vom  1.  August  1291  (Erweiterter 
■ Sonderabdruck  aus  der  Züricher  Post).  Zürich,  Buchhandlung 

des  Griitli Vereins. 

Das  Schriftchen  zerfällt  in  sechs  Abschnitte,  von  denen 
fünf  in  erster  Linie  den  Historiker  interessiren  werden,  während 
das  dritte,  aus  technischen  Gründen  den  Schluss  bildende  Kapitel 
(S.  54 — 69)  den  Wirthschaftshistorikern  und  Interessenten  für  die 
Fragen  der  schweizerischen  Agrarpolitik  so  manches  Neue  und 
vieles  thatsächlich  schon  Bekannte  in  neuer  Beleuchtung  bietet. 
Vor  Allem  finden  wir  die  Beziehungen  der  schweizerischen  Mark- 
genossenschaft zu  der  von  Morgan  entdeckten  Form  der  ursprüng- 
lichen Gentilverfassung  dargelegt;  der  Verfasser  vertritt  die  An- 
schauung, dass  die  Schweiz  geschlechterweise  besiedelt  wurde, 
und  bringt  hierfür  einleuchtende  Beweise  bei.  Wer  die  Bedeu- 
tung des  Gemeineigenthums  für  einzelne  Theile  der  Schweiz, 
insbesondere  für  die  Innerschweiz  kennt,  wird  mit  Interesse  den 
besprochenen  Abschnitt  lesen  und  vielleicht  auch  Lust  bekom- 
men, die  übrigen  Kapitel  sich  näher  anzusehen.  Durch  den 
eigenartigen,  mit  Dialekt-  und  Kraftausdrücken  vermischten  Styl 
soll  man  sich  bei  der  Lektüre  nicht  stören  lassen. 


Ernst  Lantensclilagev,  Erhebungen  für  die  Sonntagsruhe  in 
Stuttgart.  Stuttgart,  Stähle  & Friedei. 

Der  eifrige  und  sachkundige  Vorsitzende  des  Stuttgarter 
Gewerbegerichts  veröffentlicht  in  dieser  kleinen  Schrift  die  sehr 
interessanten  Erhebungen  über  die  Sonntagsruhe  in  Stuttgart. 
Die  Verarbeitung  des  Materials  wird  in  übersichtlicher,  durch 
zahlreiche  Tabellen  illustrirter  Form  vorgelegt.  Man  lernt  aus 
der  Schrift  den  thatsächlichen  Zustand  bezüglich  der  Sonntags- 
ruhe und  die  Wünsche  der  Betheiligten  kennen.  Neben  direkter 
Befragung  der  Unternehmer  wurden  auch  kontrollirende  polizei- 
liche Recherchen  gepflogen,  die  Stimmen  der  Arbeiter  und  der 
an  der  Sonntagsruhe  interessirten  kirchlichen  Behörden  sowie 
der  Aerzte  werden  wiedergegeben.  Das  Schriftchen  ist  für  die 
Frage  der  Sonntagsruhe  von  bleibendem  Werthe  und  kann  als 
Muster  für  ähnliche  Erhebungen  wohl  empfohlen  werden. 

Somogyi,  Emanuel,  Dr.  der  Staatswissenschaften,  Die 
Lage  der  Arbeiter  in  Ungarn  vom  hygienischen  Stand- 
punkte. (Sonderabdruck  aus  der  „Buclapester  hygieni- 
schen Zeitung1.)  Budapest  1891,  J.  Schlesinger. 

Da  die  Fabrikinspektorenberichte  Ungarns  nicht  mehr 
wie  früher  in  deutscher  und  ungarischer  Sprache,  sondern 
nur  in  letzterer,  die  in  Westeuropa  ausser  Sprachforschern 
Niemand  versteht,  veröffentlicht  werden,  müssen  wir  dem 
Verfasser  für  seine  kleine  Schrift,  welche  eine  systematische 
Zusammenstellung  aus  den  ungarischen  Fabrikinspektoren- 
berichten enthält,  dankbar  sein.  Der  Verfasser  besitzt  sozial- 
politisches Verständniss  und  ist  auch  im  Gegensätze  zu  vielen 
seiner  Landsleute  nicht  blind  für  die  sozialen  Schäden  in 
seinem  Vaterlande.  Am  besten  wird  man  den  Werth  des 
Schriftchens  aus  den  Kapitelüberschriften  erkennen.  Einer 
kurzen  Einleitung  folgen  Abschnitte  über  die  Arbeitszeit, 
die  Arbeitspausen,  die  Sonntags-,  Kinder-  und  Frauenarbeit, 
über  Luft,  Licht,  Wasser,  Ankleide-  und  Speiseräume,  die 
Ernährungsverhältnisse,  Wohnungszustände,  Schutzvorrich- 
tungen und  Unfälle.  Eine  Reihe  von  Vergleichen  mit  den 
Arbeiterverhältnissen  anderer  Länder  macht  das  Schriftchen 
auch  dem  magyarischen  Leser  nützlich.  Für  diese  Leser 
wäre  der  Werth  der  Arbeit  noch  gestiegen,  wenn  auch  die 
Arbeiterschutzgesetzgebung  der  anderen  Länder  mehr  zum 
1 ■ 


Eingesendete  Schritten. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

A Democratic  Budget,  Published  by  the  Fabian  Society  (Fabian 
Tracts  No.  39).  London  1892,  Selbstverlag.  8°.  15  S. 

Blodig-  jun.,  Dr.  Hermann,  Der  Wucher  und  seine  Gesetz- 
gebung historisch  und  dogmatisch  bearbeitet.  Eine 
sozialpolitische  Studie.  Wien  1892,  Alfred  Holder.  8°.  VI 
und  79  S. 

Fehling,  Professor  Dr.  H.,  z.  Z.  Rector  der  Universität,  Die 
Bestimmung  der  Frau.  Ihre  Stellung  zu  Familie 
und  Beruf.  Rektoratsrede,  gehalten  am  Jahresfeste  der 
Universität  Basel  den  12  November  1891.  Zweite  unver- 
änderte Auflage.  Stuttgart  1892,  Ferd.  Enke.  8°.  31  S. 

Hellen,  Dr.  Eduard  von  der,  Das  rothe  Programm.  Leitfaden 
für  Agitatoren  sowie  zum  Selbstunterricht  in  der  Sozial- 
demokratie. Weimar  1892,  H.  Weissbach.  8".  64  S. 

Llix,  Dr.  H.  Die  Prostitution,  ihre  Ursachen,  ihre 
Folgen  und  ihre  Bekämpfung.  (Schippel’s  Berliner 
Arbeiterbibliothek,  III.  Serie,  4.  Hett.)  Berlin  1892,  Verlag 
des  Vorwärts.  8°.  38  S. 

Mandello,  Dr.  Karl,  Wirksamkeit  des  Königlich-un- 
garischen Handelsministers  im  Jahre  1890.  (Handel, 
Industrie,  Verkehrswesen.)  Amtlich  überprüfter  Auszug  aus 
dem  jahresberichte  des  Handelsministers.  Berlin  1892, 
Puttkammer  & Mühlbrecht,  gr.  8".  VIII  und  171  S. 

Neumann.  Hermann,  Die  Ursachen  der  gedrückten  Lage 
der  Scheibenarbeiter  im  Töpfergewerbe  und  Vor- 
schläge zu  deren  Abhilfe.  Herausgegeben  im  Aufträge 
des  General-Ausschusses  und  der  Vertrauensmänner  der 
Töpfer  Deutschlands  von  Ferd.  Kaulich.  Giebichenstein, 
Ferd.  Kaulich.  8°.  62  S. 

Rossmann,  Dr.  jur.  Wilhelm.  Ist  die  Aufforderung  zum 
Streik  strafbar?  Zur  Auslegung  des  § 110  des  deutschen 
Strafgesetzbuchs.  München,  J.  Schweitzer,  1892.  8°.  87  S. 

Schloss,  David  F.,  Methods  of  Industrial  Remuneration. 
London  und  Edinburgh  1892,  Williams  and  Norgate.  8r'. 
XX  und  287  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin 


198 


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bie  2tfbeitö«eri)ättitiffe  fotiber  unb  bauertjafter  \ 
311  geftatteu  unb  Ijierburd)  jur  .perfteUinig  be$  , 
foaiaten  griebettö  beantragen 

ebnarb  «oljl’ö  «erlag  tu  2>lüwf)e». 

3.  ©uffEltfag,  «evlagsbudfljanblung  in  «erlitt. 

(Das  Steidjsgefelj 

betreffen  b 

Mk' 

«out  29-  3«n  1890. 

2ep=2tue'gabe  mit  2(nmerfttngeit  unb  ©adjjregifter 

1*011 

i*co  SOfugbau, 

9. > f 0 g t f t v n t « 0 f f c f f 0 v unb  diedjtsanmalt  311  23cvtin. 


«erlag  «an  «iemenratl)  & «Sormb  in  «crltn,  äßilfjelmftv.  129 
2Bir  empfehlen  311111  Slbaniieiuent: 

J»ie  21  r beit  er = «er  f argutig. 

tÜrntral-Briian  für  bas  gefammtr  Kranken-,  Mnfall-,  Ünnalibttäfs- 

Klters-BerJuijmingsniEfi'n  int  Bcntfrlren  mEtcfjE.  ©efeh  über  bie  2lu$bef)nung  ber  Unfalls 

.peraudgegebeit  mm  Dr.  jur.  Xfuttigntann.  ünb  $ranfenucfftd)erung 

IX.  3«t)rgang.  fütonatlid)  3 9htmineru  J — 1‘/2  «ogett  ftarf.  igreiö  balbjätjrlid)  6 SDlarf.  uont  28.  3)tai  1885. 

91 11  c '«oftiimtcv  mtb  sBudiijaiibluitgctt  nehmen  'iicftcUungeit  an.  2vjt=2lu3gabe  mit  9(utnevfuttgett 

3mbalt:  2tb£)anblungeu  nnb  «efpred)uitgeu  midjtiger  fragen  au3  allen  ©ebieten  ber  ge=  ^ tion'wBebthr, 

fammten  2lrbeiter=«erficherung,  (Sntfcbeibungen  mtb  Verfügungen  ber  oberen  uttb  unteren  23er=  Äfli{CV(.  06er.:«egicvungdvatt),  oortra«.  iRatfi  im  9?eid)«= 

n»altungebe!)ßrben,  ber  Cieridjte  beb  9teid)b=  1111b  ber  8anbebüerfid)eriiugeämter  u.  f.  1«.,  23eant=  amt  bcf.  Smtcvn. 

Wartung  mm  Anfragen  im  «rieffafteu.  su«cvtc9litflttgc. 

HG“  ^rabenuuintcnt  portofrei,  £afd)enforntat;  cart.  2 ÜJt. 


.{tucitc  norittelH'le  'Uttggabe. 

S£afd)eiifürntat;  cart.  1 93h  25  «f. 

lt  itfa  l in  i' vluh  mut  11 0 atfRh 

mmi  6.  3»d  1884 

nnb  »nb 


Verantwortlich  fiir  den  Anzeigentheil:  O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  8.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  18.  April  1892. 


Nummer  16. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  freien  H i 1 f s k a s s e n und 
ihre  Au  f gab  e gegenüber 
dem  Kranken  - Versiche- 
rungsgesetz. Von  Dr.  Adolf 
B raun. 

Soziale  Wirtlischaftspolitik  u. 
Wirthscliaftsstatistik : 

Zur  Frage  des  Wasserrechts.  Von 
Dr.  Leo  Arons. 

Kommunale  Arbeitsnachweis- 
bureaus. 

I >ie  überseeische  Auswanderung 
aus  der  Schweiz  im  Jahre  1891. 

Arbeiterzustände : 

Frauenarbeit  in  der  Maschinen- 
industrie. 

Statistische  Erhebungen  aus  dem 
Steinmetzgewerbe  von  Dresden 
und  Umgegend. 

Haushalt  einer  Arbeiterfamilie  in 
Bayern. 

Gewerk  s cha  f tl  i cli  e A rb  e i ter- 

bewegung: 

Folgen  des  Durhamer  Kohlen- 
arbei terausstandes. 

Französisches  Arbeitersekretariat. 

Die  ungarische  Regierung  und  die 
gewerkschaftliche  Organisation 
der  Arbeiter. 

Die  Einführung  der  Arbeiterschutz- 
marke für  die  Cigarrenindustrie. 

Unternehmerverbände: 

Organisation  der  ländlichen  Unter- 
nehmer in  Braunschweig  und 
Thüringen. 

Kohlenkartelle  und  Eisenwerke. 


Kartell  der  bayerischen  Spiegel- 
glasschleif- und  Polierwerke. 
Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Die  preussische  Berggesetznovelle. 
Von  Dr.  Leo  Verkauf. 

Die  Bergarbeiter  und  die  preussi- 
sche Berggesetznovelle. 

Kinderschutz  in  Baden. 

Festtage  im  Sinne  des  Arbeiter- 
schutzgesetzes. 

Sonntagsruhe  der  Automaten. 

Trucksystem  in  Belgien. 
Gewerbeinspektion : 

Der  Ausbau  der  preussischen  Ge- 
werbeinspektion. 

Arbeiterversicherung: 

Krankenkassennovelle  und  die 
Hirsch-Duncker'sehen  Hilfskassen. 

Konferenz  der  Vorstände  der  ein- 
geschriebenen Hilfskassen. 

Aus  der  Praxis  der  deutschen  Un- 
fallversicherung. 

Gewerbegerichte , Einigungs- 
ämter u.  Arbeiterausscnüsse: 

1 )ie  deutschen  Gewerbegerichts- 
wahlen. 

Der  belgische  conseil  superieur 
du  travail  (Oberster  Arbeitsrath). 

Londoner  Versöhnungsrath. 

Litteratur: 

Das  Mühlhauser  Arbeiterviertel, 
seine  Badeanstalten  und  Wasch- 
küchen. (FI.  FI  er  kn  er.) 

Lux,  Dr.  FL  Die  Prostitution,  ihre 
Ursachen,  ihre  Folgen  und  ihre 
Bekämpfung. 

Eingesemlete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  freien  Hilfskassen  und  ihre  Aufgabe 
gegenüber  dem  Krankenversicherungsgesetz. 

Eine  tiefgehende  Erregung  hat  sich  der  Mitglieder 
-der  freien  Hilfskassen  in  Folge  der  Umänderung  des  § 75 
des  Krankenkassengesetzes  bemächtigt,  und  einen  Augen- 
blick schien  die  Fortexistenz  dieser  Kassen  und  damit  des 
letzten  Stückes  sozialer  Selbstverwaltung  Hei  der  Arbeiter- 
Versicherung  in  Frage  gestellt.  Der  Untergang  dieser 
Kassen  oder  ihre  Umwandlung  in  Zuschusskassen  wäre 
nicht  blos  eine  Angelegenheit  der  Mitglieder  der  freien  Hilfs- 
kassen, sondern  ein  sozialpolitisches  Ereigniss  ersten  Ranges. 
Das  lehrt  schon  die  Thatsache,  dass  es  sich  hierbei  um 
fast  eine  Million  Arbeiter  und  um  den  siebenten  Theil  aller 
1 dem  Krankenkassengesetze  unterstellten  Personen  handelt; 


waren  doch  im  Jahre  1890  810  455  Arbeiter  Mitglieder  ein. 
geschriebener  und  144  668  Mitglieder  landesrechtlicher  Hilfs- 
kassen demnach  955  1 23  Arbeiter  in  ausschliesslich  von  Ar- 
beitern verwalteten  Kassen  gegen  Krankheit  versichert. 

Der  grosse  Prinzipienstreit  zwischen  Zwangskassen 
und  Kassenzwang,  der  seit  Erlass  der  kaiserlichen  Bot- 
schaft vom  17.  November  1881  die  weitesten  Kreise  des 
deutschen  Volkes  und  keineswegs  nur  die  nationalökono- 
mischen Fachkreise  beschäftigte,  sollte  durch  die  letzte 
Novelle  zum  Krankenkassengesetz,  wenn  auch  nicht  formell, 
so  doch  thatsächlich  zu  Gunsten  der  Zwangskassen  ent- 
schieden werden:  dies  geht  unbestreitbar  aus  dem  ersten 
Entwürfe  der  Regierung  hervor.  Dass  die  Absichten  der 
Reichsregierung  vorerst  wenigstens  nicht  vollkommen  zur 
Ausführung  gebracht  werden  konnten,  ist  erfreulich,  wenn 
auch  die  Hindernisse,  welche  die  Novelle  der  Fortexistenz 
der  eingeschriebenen  Hilfskassen  bereitet,  alle  Gegner  der 
Zwangskassen,  die  gleichzeitig  Freunde  des  Kassenzwanges 
sind,  mit  grosser  Besorgniss  erfüllen  muss. 

Als  an  der  Annahme  des  neugefassten  § 75  des  Kran- 
kenkassengesetzes nicht  mehr  gezweifelt  werden  konnte, 
wurde  die  Auflösung  der  freien  Kassen  bezw.  ihre  Um- 
wandlung in  Zuschusskassen,  welche  der  Bestimmung  des 
Krankenversicherungsgesetzes  in  seiner  Fassung  von  1892 
nicht  mehr  unterstellt  wären,  in  Erwägung  gezogen.  Es 
ist  lebhaft  zu  begrüssen,  dass  die  Muthlosigkeit  bei  den 
massgebenden  Personen  in  der  Verwaltung  der  freien 
Hilfskassen  wieder  gewichen  ist,  und  nun  statt  an  den 
Abbruch  der  durch  fast  ein  Dezennium  unter  den  schwierig- 
sten Verhältnissen  und  mit  grössten  Opfern  auferbauten 
Kassen,  an  die  Erhaltung  und  die  Neueinrichtung  der- 
selben den  geänderten  Gesetzesbestimungen  gemäss  ge- 
dacht  wird. 

Bekanntlich  waren  die  freien  Hilfskassen  auch  schon 
durch  die  Bestimmungen  des  Krankenversicherungsgesetzes 
in  seiner  ursprünglichen  Fassung  gegen  die  übrigen  Kassen 
in  Nachtheil  gesetzt,  so  u.  A.  durch  den  Fortfall  der  Unter- 
nehmerbeiträge, die  Tragung  der  Kosten  der  Selbst- 
verwaltung seitens  der  Mitglieder,  den  Verlust  ihrer 
Rechte  bei  der  Wahl  der  Arbeiter  Vertreter  in  die  Aus- 
schüsse der  Invaliditäts-  und  Alfersversicherungsanstalten 
und  der  Berufsgenossenschaften  und  bei  den  für  die  Unfall-, 
Invaliditäts-  und  Altersversicherung  eingerichteten  Schieds- 
gerichten. Dem  standen  Vortheile  gegenüber  in  der  Selbst- 
verwaltung der  Kassen,  in  dem  Bewusstsein,  den  Rückhalt 
für  die  Tage  der  Noth  der  eigenen  Kraft  zu  verdanken  U, 


l)  Schmoller,  Ueber  die  Entwicklung  des  Grossbetriebs 
und  die  soziale  Klassenbildung  in  den  „Preussischen  Jahrbüchern“, 
69.  Band,  Seite  479. 


200 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  16. 


ferner  in  der  Ausdehnung  der  Kassen  über  das  ganze  Reich, 
in  den  grösseren  Leistungen  derselben,  in  der  Freiheit 
der  Wahl  des  Arztes  und  der  Art  der  ärztlichen  Behand- 
lung. All’  dies  sollte  in  Frage  gestellt  werden  durch  die 
gänzliche  Umgestaltung  des  § 75.  Nach  demselben  müssen 
die  freien  Flilfskassen  vom  1.  Januar  1893  ab  ihren  Mit- 
gliedern freie  ärztliche  Behandlung  und  Arznei  in  natura 
gewähren,  während  sie  früher  an  Stelle  dessen  ein  erhöhtes 
Krankengeld  zahlen  konnten,  ferner  dürfen  sie  das  Kranken- 
geld nicht  mehr  nach  dem  ortsüblichen  Tagelohn  ihres 
Kassensitzes,  sondern  sie  müssen  dasselbe  nach  dem  ortsüb- 
lichen Tagelohn  derjenigen  verschiedenen  Orte,  an  denen 
ihre  einzelnen  Mitglieder  beschäftigt  sind,  bemessen. 

Die  Folgen  dieser  Bestimmungen  sind  schon  so  oft 
und  auch  im  Sozialpolitischen  Centralblatte  (vgl.  Nr.  13) 
besprochen  worden,  dass  wir  sie  nicht  des  Breiteren  zu  er- 
örtern brauchen.  Es  sei  nur  bemerkt,  dass  die  Bestellung 
von  Aerzten  selbst  in  grossen  Städten  bei  der  Zerstreutheit 
des  Wohnens  der  Mitglieder  mit  erheblichen  Schwierig- 
keiten verknüpft  sein  wird,  dass  diese  Schwierigkeiten  in 
Orten  mit  wenigen  Mitgliedern  in  umgekehrter  Progression 
zur  Mitgliederzahl  sich  steigern  werden,  besonders  da  die 
Aerzte  die  Zwangslage  der  Kassen  wohl  auszunützen  ver- 
stehen werden,  wie  die  schon  jetzt  sich  bildenden  Kartelle 
der  Aerzte  den  Kassen  gegenüber  aufs  unzweifelhafteste 
beweisen.  Endlich  werden  die  Kassen  zu  einer  bedeutend 
komplizirteren  Geschäftsführung  durch  die  Schäftung  einer 
grösseren  Zahl  von  Mitgliederkategorien  mit  verschiedenen 
Beitrittsquoten  gezwungen  sein. 

Wenn  sich  nun  die  eingeschriebenen  Hiltskassen  ent- 
schliessen,  die  Flinte  nicht  ins  Korn  zu  werfen,  so  müssen 
sie  ihre  Organisationen  den  neuen  gesetzlichen  Bestim- 
mungen anpassen. 

Bis  jetzt  ist  blos  der  Vorschlag  gemacht  worden,  die 
kleinen  Mitgliedschaften  aufzugeben  und  die  grösseren  Mit- 
gliedschaften der  verschiedenen  Kassen  an  einem  Orte  zu 
Sanitätsverbänden  zum  Zwecke  gemeinsamer  Anstellung 
von  Aerzten  etc.  zu  verbinden.  Wir  wollen  uns  gestatten, 
einen  anderen  Weg  zur  Erwägung  zu  stellen,  und  zwar 
die  Vereinigung  sämmtlicher  oder  einer  möglichst 
grossen  Zahl  von  eingeschriebenen  Hilfskassen 
auf  Grund  des  § 35  des  Hilfskassengesetzes. 
Würden  nur  die  Kassen,  welche  in  Hamburg  ihre  Central- 
verwaltung haben,  diesen  Vorschlag  acceptiren,  so  würden 
am  Verwaltungssitze  den  Kassen  alle  Vorzüge  und  Erspar- 
nisse des  Grossbetriebes  zu  Gute  kommen,  ln  den  grossen 
Städten  könnten  und  müssten  mehrere  Aerzte  angestellt  wer- 
den, wodurch  die  Folgen  des  zerstreuten  Wohnens  der  Mit- 
glieder einer  Kasse  wegfielen  und  in  den  mittelgrossen  wie 
mittleren  Städten  und  in  nicht  wenigen  der  kleineren  Orte 
wären  so  viele  Mitglieder  aller  verbundenen  Kassen  vorhanden, 
dass  die  Schwierigkeiten  der  Bestellung  von  ärztlicher 
Behandlung  und  Arznei  sehr  vermindert  würden.  Bei  einer 
so  grossen,  gegen  eine  Million  Mitglieder  umfassenden  Or- 
ganisation liessen  sich  die  lokalen  Verwaltungsstellen  viel 
besser  einrichten,  das  Schreibwerk  würde  in  denselben 
wesentlich  vereinfacht,  eine  Reihe  grosser  für  einzelne 
Kassen  unerschwinglicher  Vortheile  für  die  Mitglieder,  wie 
Schaffung  von  Badegelegenheit,  Stätten  für  Rekonvales- 
centen  etc.  etc.  würden  geschaffen  werden  können. 

Mit  Unrecht  würde  man  gegen  diesen  Vorschlag  den 
Einwand  erheben,  dass  der  „Berufsdünkel  der  Arbeiter“,  | 
von  dem  auf  dem  Halberstädter  Kongresse  so  viel  die  Rede 
war,  einer  solchen  Zusammenfassung  der  eingeschriebenen 
Hilfskassen  entgegenstehe.  Dies  war  bei  letzteren  nie  der 
Fall,  und  es  wäre  ein  Irrthum,  zu  glauben,  dass  etwa  der 
Centralkranken-  und  Sterbekasse  der  Tischler  nur  Tischler 


und  verwandte  Berufsgenossen  angehören;  in  München  z.  B. 
gehören  dieser  Kasse  fast  sämmtliche  Handschuhmacher  an. 
Die  Berufsscheidung  verliert  bei  den  Krankenkassen  an 
Bedeutung,  weil  in  denselben  keine  Berufsinteressen  auf 
dem  Spiele  stehen.  Wohl  aber  lag  für  die  Scheidung  bisher 
ein  triftiger  Grund  vor,  weil  die  verschiedenen  Lohnstufen 
der  Arbeiter  die  Schaffung  von  Krankenkassen  mit  verschie- 
denen Beitrags-  und  Leistungssätzen  zur  nothwendigen  Folge 
hatten.  Jetzt  ist  dagegen  den  Krankenkassen  die  Abstufung 
der  Leistungen  und  damit  auch  der  Beiträge  aufgenöthigt, 
infolgedessen  würde  einer  allgemeinen  Kasse  aller  deutschen 
Arbeiter  bezw.  einem  Verbände  der  eingeschriebenen  Hilfs- 
kassen die  Möglichkeit  geboten  sein,  die  verschiedenen  Lolm- 
stufen  mehr  als  bisnun  zu  berücksichtigen.  Ein  ernsthafterer 
Einwand  wäre  der,  dass  die  verschiedene  Krankheitshäufig- 
keit und  Krankheitsdauer  in  den  verschiedenen  Berufen  es 
von  Vortheil  erscheinen  lasse,  dass  die  Versicherung  gegen 
Krankheit  weiter  im  Wesentlichen  nach  Berufen  innerhalb 
der  eingeschriebenen  Hilfskassen  geschieden  bleibe.  Dies 
war  auch  bis  jetzt  bei  der  Gemeindekrankenversicherung 
und,  von  den  grossen  Städten  abgesehen,  auch  bei  den 
Ortskrankenkassen  nicht  der  Fall.  Indessen  könnte  die 
Morbidität  in  den  einzelnen  Berufen  durch  das  Statut,  das 
ja  ohnedies  verschiedene  Stufen  vorsieht,  berücksichtigt 
werden  z.  B.  in  der  Weise,  dass  Berufe  mit  häufiger  und 
langer  Erkrankung  ihrer  Mitglieder  zur  Erlangung  der 
Leistungen  einer  Stufe,  die  Beiträge  der  nächst  höheren 
Stufe  zu  zahlen  hätten.  Endlich  könnte  noch  der  Einwand 
gemacht  werden,  dass  die  Vorstände  der  einzelnen  Kassen 
der  Zusammenfassung  derselben  sich  entgegenstellen  ' 
könnten.  Dem  ist  nicht  allzuviel  Bedeutung  beizumessen,  | 
denn,  angenommen  dieser  Widerstand  würde  thatsächlich 
vorhanden  sein,  so  entscheiden  doch  über  die  Zukunft  der  , 
Kassen  nicht  die  Beamten,  sondern  die  Interessen  der  Mit-  ' 
glieder  der  Kassen. 

Wir  glauben,  dass  unserem  Plane  alle  V ortheile  des 
von  anderer  Seite  ausgehenden  V orschlages  auf  allge- 
meine Errichtung  von  Medizinalverbänden  und  Aufgabe  der  1 
kleinen  Mitgliedschaften  innewohnen,  dass  er  aber  vor? 
jenem  wegen  der  Vereinfachung  der  Verwaltung  und  der  j 
daraus  entspringenden  grossen  Kraft-  und  Zeitersparniss ; 
einen  weiteren  Vorzug  gewinnt.  Durch  die  Centralisirung 
der  einen  Versicherungsform  giebt  er  vielleicht  auch  den  r 
Anstoss  zu  der  von  vielen  Seiten  gewünschten  Vereinheit- 
lichung des  Krankenkassen-  und  Versicherungswesens  über- 
haupt und  durch  die  vielen  Vortheile,  die  er  im  Gefolge 
hat,  scheint  er  uns  im  Stande  zu  sein,  möglicherweise  alle  aus 
der  Umgestaltung  des  § 75  des  Krankenkassengesetzes  den 
freien  Hilfskassen  erwachsenden  Nachtheile  wett  zu  machen. 

Wir  wissen  wohl,  dass,  ganz  abgesehen  von  der 
nicht  ins  Gewicht  fallenden  gegenseitigen  Abneigung  der 
Hirsch-Duncker'schen  und  aller  übrigen  Hilfskassen  sich 
miteinander  zu  vereinigen,  eine  Zusammenfassung  aller 
eingeschriebenen  Hilfskassen  nicht  über  Nacht  möglich 
sein  wird.  Vielleicht  wird  man  zuerst  Medizinalverbände  in 
einzelnen  Orten  gründen  und  damit  bei  Erhaltung  der 
Eigenart  der  Kassen  und  freilich  unausbleiblichen  Verlusten 
an  Mitgliedern  in  kleineren  und  mittleren  Orten  dem  Ge- 
setze genügen  wollen.  Wählt  man  aber  auch  diesen  \\  eg, 
so  wird  sich,  wie  wir  glauben,  gerade  hieraus  erst  recht 
die  Noth wendigkeit  der  Annahme  unseres  Vorschlages  er- 
geben. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


No.  16 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAL  BLATT. 


201 


Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Zur  Frage  des  Wasserrechts. 

Im  Jahr  1879  schloss  Werner  Siemens  einen  Vortrag 
auf  der  deutschen  Naturforscherversammlung  in  Baden- 
Baden  mit  den  Worten: 

„Es  gehört  sogar  kein  allzu  kühner  Flug  der  Phantasie 
dazu,  um  sich  eine  Zukunft  auszumalen,  in  der  die  Mensch- 
heit die  lebendige  Kraft,  welche  die  Sonnenstrahlen  der  Erde 
in  ungemessenem  Betrage  zuführen,  und  die  sich  uns  zum 
Theil  im  Wind  und  in  den  Wasserfällen  zur  Verfügung 
stellt,  mit  Hilfe  des  elektrischen  Stromes  zur  Herstellung 
alles  nöthigen  Brennstoffes  verwendet  und  die  für  ihre 
Kindheit  von  der  Natur  vorsichtig  aufgestapelten  Kohlen- 
lager ohne  Nachtheil  zu  entbehren  lehrt.“ 

Ein  grosses  Wort,  welches  unser  hochentwickeltes 
Zeitalter  der  Kohle  als  in  die  Kindheit  des  Menschenge- 
schlechts fallend  betrachtet,  und  doch  beweisen  die  ge- 
waltigen Fortschritte  der  Elektrotechnik,  dass  seine  Ver- 
wirklichung in  absehbarer  Zeit  zu  erwarten  ist! 

Siemens  dachte  bei  seinen  Ausführungen  wesentlich 
an  die  auf  elektrischem  Wege  mögliche  Zerlegung  des 
Wassers  in  Wasserstoff  und  Sauerstoff;  der  auf  diese  Weise 
gewonnene  Wasserstoff  würde  das  Brennmaterial  der  Zukunft 
bilden.  In  der  That  ist  es  bereits  in  den  sog.  Akkumulatoren 
gelungen,  elektrochemische  Vorgänge  von  ähnlicher  Art 
wie  die  Wasserzersetzung  technischen  Zwecken  dienstbar 
zu  machen.  Während  aber  auf  diesem  Wege  die  Entwick- 
lung erst  beginnt  und  mit  bedeutenden  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen  hat,  ist  in  ganz  unmittelbarer  Weise  die  Aus- 
nutzung der  Wasserkräfte  für  alle  Zwecke  der  Industrie 
und  des  gewerblichen  Lebens  durch  die  elektrische  Kraft- 
übertragung ermöglicht  worden.  Schon  bisher  benutzte 
man  ja  die  Wasserläufe  für  industrielle  Zwecke  in  Mühlen, 
Spinnereien  etc.  etc.,  aber  selbst  in  der  an  starken  Wasser- 
gefällen reichen  Schweiz,  die  andrerseits  mit  ihrem  Kohlen- 
konsum völlig  auf  das  Ausland  angewiesen  ist,  betrug  die 
Zahl  der  durch  Wasser  gewonnenen  Pferdekräfte  nur 
wenige  Prozent  der  in  der  Industrie  verwendeten.  Die 
Ursache  dieser  Erscheinung  ist  leicht  einzusehen:  die  aus- 
giebigsten Wasserkräfte  finden  sich  in  Gegenden,  die  aus 
den  mannigfachsten  Gründen  der  Anlage  industrieller 
Unternehmungen  ungünstig  sind.  Durch  die  Fortschritte 
der  Elektrotechnik  ist  es  jetzt  ermöglicht,  die  Wasserkraft 
an  Ort  und  Stelle  mittelst  verhältnissmässig  einfacher  An- 
lagen in  elektrischen  Strom  zu  verwandeln,  diesen  ohne 
namhaften  Verlust  auf  viele  Meilen  hin  nach  einem  Platz 
industrieller  Thätigkeit  zu  leiten,  und  hier  von  einer  Cen- 
trale aus  durch  ein  vielverzweigtes  Netz  vertheilt  je  nach 
Bedarf  zu  Beleuchtungszwecken,  zur  Bewegung  der  gewal- 
tigen Arbeitsmaschinen  der  Grossindustrie  oder  der  Dreh- 
bänke etc.  des  Kleingewerbes,  oder  zum  Betriebe  von 
Strassenbahnen  zu  verwerthen. 

Die  letztjährige  elektrotechnische  Ausstellung  in  Frank- 
furt a/M.  hat  die  Ausführbarkeit  derartiger  Unternehmungen 
durgethan. 

Noch  vor  25  Jahren  galt  es  fast  als  unumstössliche 
Wahrheit,  dass  die  Elektrizität  nur  die  feine  Arbeit  der 
Telegraphie,  des  Signalwesens  etc.  zu  leisten  im  Stande 
wäre.  Seit  jener  Zeit  haben  sich  die  elektrischen  Maschinen 
mächtig  entwickelt,  namentlich  im  Anschluss  an  die  elek- 
trische Beleuchtung,  die  ihren  Siegeszug  begann.  Noch 
auf  der  Pariser  Ausstellung  im  Jahre  1881  wurde  die 
80  pferdige  elektrische  Maschine,  die  Edison  für  Beleuch- 
tungszwecke verwerthete,  als  ein  Koloss  angestaunt.  Auf 
der  Frankfurter  Ausstellung  im  Jahre  1891  dagegen  hatten 
neben  einer  Unzahl  lOOpferdiger  Maschinen  solche  von 
300,  500  und  600  Pferdekräften  Aufstellung  und  Verwerthung 
gefunden. 

Die  Münchener  Ausstellung  im  Jahre  1882  hatte  zum 
ersten  Mal  eine  elektrische  Kraftübertragung  vorgeführt; 
die  Kostspieligkeit  der  Anlage  und  der  geringe  Nutzeffekt 
Hessen  dieselbe  noch  wenig  praktisch  erscheinen.  Die 
Frankfurter  Ausstellung  brachte  die  Ausführung  einer  elek- 
trischen Kraftübertragung  auf  175  Kilometer,  von  Lauffen 
am  Neckar  nach  Frankfurt  a/M.  Mittelst  dreier  Kupfer- 
drähte von  der  Stärke  gewöhnlicher  Telegraphendrähte 
wurde  ohne  wesentlichen  Verlust  die  Kraft  übertragen, 
| welche  in  Frankfurt  1000  Glühlichtlampen  erglänzen  Hess 

1 


und  gleichzeitig  das  Wasser  für  einen  mächtigen,  10  Meter 
hohen  Wasserfall  in  die  Höhe  schaffte.  Der  Beweis  war 
erbracht,  dass  man  nunmehr  an  die  Ausbeutung  der  Wasser- 
läufe für  die  Industrie  gehen  könne.  Und  der  Beweis  wurde 
als  vollgültig  anerkannt:  auf  allen  Seiten  hörte  und  hört 
man  von  Plänen  einzelner  Kapitalisten  und  Aktiengesell- 
schaften, Wasserläufe  resp.  das  Nutzungsrecht  an  denselben 
aufzukaufen 1). 

Es  erhebt  sich  die  Frage:  Sollen  die  Wasser- 

läufe2) als  Kraftquellen  ein  Ausbeutungsobjekt  für 
das  Grosskapital  werden  oder  soll  man  alsbald 
durch  staatliche  Enteignung  der  bisherigen  Rechte 
an  ihnen  den  durch  die  Fortschritte  von  Wissen- 
schaft und  Technik  geschaffenen  Gewinn  der 
Allgemeinheit  erhalten?  Im  letzteren  Fall  sollte  der 
Staat  (resp.  unter  seiner  Oberleitung  die  Gemeinden)  die 
Gewinnung  der  Wasserkräfte  selbst  in  die  Hand  nehmen 
und  die  Kraft  gegen  mässige  Gebühren  zu  Beleuchtungs- 
oder industriellen  Zwecken  abgeben,  wie  es  heute  in  der 
Mehrzahl  der  Gemeinden  mit  dem  Gas  geschieht.  Die 
obige  Frage  stellen,  heisst  sie  beantworten  — wenigstens 
für  den  Sozialpolitiker.  Mit  ängstlichem  Blick  folgt  die 
Industrie  heutzutage  den  Vorgängen  in  den  Kohlenbezirken; 
ruht  die  Arbeit  in  den  Kohlenbergwerken,  so  wird  ein 
Zweig  der  Industrie  nach  dem  andern  zum  Feiern  ge- 
zwungen. Sehr  treffend  sagte  die  „Workmen  Times“  ge- 
legentlich des  jüngsten  englischen  Kohlenarbeiterausstandes: 
Hunderttausende'  Heissiger  Arbeiter  sind  gewillt  für  den 
nicht  unbescheidenen  Lohn  von  25  sh.  die  Woche  Kohlen 
zu  fördern,  Millionen  von  Konsumenten  sind  bereit  ihnen 
denselben  zu  bewilligen.  Wer  hindert  das  Zustandekommen? 
Jene  Männer,  welchen  das  öffentliche  Recht  erlaubt  sich 
„Besitzer  der  Kohlen  unter  der  Erde“  zu  nennen.  — Soll 
eine  ähnliche  Abhängigkeit  der  Industrie  von  den  Besitzern 
der  Wasserkräfte  Platz  greifen? 

Auch  rein  technische  Gründe  sprechen  gegen  die 
Ausbeutung  der  Wasserkräfte  durch  Private..  Bedenken 
wir,  dass  die  in  Frankfurt  vorgeführte  Kraftübertragung 
auf  175  Kilometer  durchaus  nicht  die  Grenze  auch  nur  des 
bisher  möglichen  ist,  so  ergiebt  sich  sofort,  dass  auch  die 
mächtigsten  Aktiengesellschaften  nicht  ein  so  grosses  Gebiet 
beherrschen  können,  dass  eine  rationelle  Ausbeutung  und 
Verwerthung  der  Kraft  gesichert  wäre.  Andererseits  wären 
derartige  Gesellschaften  wieder  durch  ihre  Monopolmacht 
bedenklich.  Dazu  kommt,  dass  die  Starkstromleitungen,  de- 
ren die  Kraftübertragungsanlagen  bedürfen,  einen  störenden 
Einfluss  auf  die  Telegraphenleitungen  ausüben  können.  In 
der  That  ist  die  Reichspostverwaltung  schon  jetzt  darauf 
bedacht3)  generelle  Garantien  zu  schaffen,  durch  welche 
Interessenten  an  Starkstromleitungen  erheblich  gehemmt 
werden  könnten.  Auch  von  dieser  Seite  ist  eine  gedeih- 
liche Entwicklung,  eine  dauernde  gerechte  Berücksichtigung 
der  beiderseitigen  Interessen  nur  denkbar,  wenn  auch  die 
Kraftübertragungsanlagen  sich  in  den  Händen  des  Staates 
befinden.  Schliesslich  ist  das  eminente  Interesse  der  Land- 
wirthschaft  an  den  Wasser läufen  zu  berücksichtigen.  Bei 
einer  einheitlichen  Anlage  braucht  das  zur  Kraftgewinnung 
benutzte  Wasser  seinen  landwirtschaftlichen  Zwecken 
nicht  entzogen  zu  werden.  Im  Fall  der  privaten  Aus- 

1)  Selbstverständlich  werden  diese  grosskapitalistischen 

Pläne  nicht  an  die  grosse  Glocke  gehängt;  das  Publikum  ver- 
nimmt von  denselben  bis  kurz  vor  der  Ausführung  nur  durch 
Gerüchte.  Schon  während  der  Frankfurter  Ausstellung  wusste, 
um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  ein  Korrespondent  der  „Strass- 
burger Post“  zu  melden,  „dass  eine  Gesellschaft  sich  gebildet 
hat,  im  Badischen  möglichst  alle  Wasserkräfte  zu  ermitteln  und 
aufzukaufen,  die  für  die  elektrische  Kraftübertragung  der  nahen 
Zukunft  verwendbar  wären.  So  werden  mir  namentlich  in 
Seitenthälern  des  Kinzigthaies  bestimmte,  bereits  angekaufte 
Wasserkräfte  bezeichnet.  Unser  Hochgebirge  bietet  eine  Menge 
von  Sturzbächen,  die  dem  grossen  Publikum  so  unbekannt  sind, 
wie  z.  B.  die  s'o  schnell  berühmt  gewordenen  Gertelbachfälle 
beim  Bühlerthal,  die  bis  vor  3 — 4 Jahren  nur  dem  Forstmanne 
bekannt  waren Solche  Seitenbäche,  die  dutzendweise  be- 

zeichnet werden  könnten,  durchlaufen  lange  Strecken  mit  Gefall 
von  30—50  Prozent.  . .“  . 

2)  Die  nicht  schiffbaren  Flüsse,  wozu  auch  die  Oberläufe 
der  weiter  unterhalb  schiffbaren  Flüsse  gehören,  sind  nach  dem 
Wasserrecht  der  meisten  deutschen  Staaten  im  Privatbesitz. 
Grade  diese  Wasserläufe  aber  sind  wegen  ihres  meist  starken 
Gefälles  für  die  Industrie  von  der  grössten  Bedeutung. 

3)  Vergl.  die  Verhandlungen  des  Reichstags  über_  den 
Gesetzentwurf  betr.  das  Telegraphenwesen.  Sitzung  vom  25.  Fe- 
bruar 1892. 


202 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  16. 


beutung  dürfte  es  an  beständigen  Konflikten  nicht  fehlen. 
Selbstverständlich  ist,  wenn  überhaupt  etwas  geleistet 
werden  soll,  ein  rasches  Vorgehen  der  Gesetzgebung  er- 
forderlich; in  der  Schweiz,  wo  das  Interesse  aus  den  oben 
erwähnten  Gründen  ein  noch  grösseres  ist,  als  wenigstens 
im  Augenblick  noch  in  Deutschland,  macht  sich  denn  auch 
eine  Agitation  bemerklich,  welche  auf  die  gesetzgebenden 
Faktoren  einzuwirken  sucht.  Dieselbe  geht  vom  schwei- 
zerischen Bund  für  Bodenbesitzreform  aus;  ein  frisch 
geschriebener  Aufruf  dieses  Bundes  fand  in  der  schweizer 
Presse  aller  Parteirichtungen  Aufnahme  und  eine  günstige 
Besprechung.  Der  Vorstand  wendete  sich  darauf  mit  einer 
ausführlich  begründeten  Petition  an  den  Schweizer  Bundes- 
rath. Die  Petition  gipfelt  in  dem  Gesetzvorschlag:  „Sämmt- 
liche  noch  unbenutzte  Wasserkräfte  der  Schweiz  sind  Eigen- 
thum des  Bundes.  Die  Gewinnung  und  Ausbeutung  der- 
selben, sowie  deren  Fortleitung  durch  Elektrizität,  Druck- 
luft u.  s.  w.  sind  Bundessache.  Ueber  die  Durchführung 
dieses  Monopols,  sowie  über  die  Verthei lung  des  Reinertrags 
aus  demselben  wird  ein  Bundesgesetz  das  Nöthige  be- 
stimmen.“ Wird,  so  führen  die  Petenten  aus,  die  Aus- 
beutung der  Wasserkräfte  der  privaten  Spekulation  über- 
lassen, so  kann  der  durch  die  neuesten  technischen  Er- 
rungenschaften bedingte  Unterschied  gegen  jetzt  nur  sein, 
„dass  der  Gewerbetreibende  per  Pferdekraft,  welche  er  in 
seiner  Fabrik  oder  Werkstätte  benützt,  eine  Kleinigkeit 
weniger  bezahlen  müsste,  als  jetzt  bei  Dampfbetrieb,  und 
dass  die  gewaltigen  Summen,  welche  wir  heute  für  Stein- 
kohlen ins  Ausland  schicken,  am  Ende  des  Jahres  nur  in 
Form  von  Aktiendividenden  nach  Berlin,  Frankfurt,  Paris 
und  London  flössen.“ 

Der  schweizerische  Bundesrath  hat  nicht  versäumt, 
dieser  Anregung  Rechnung  zu  tragen,  zunächst  durch  Ver- 
anlassung einer  Enquete,  indem  er  an  die  einzelnen  Kantöns- 
regierungen  folgendes  Frageschema  erliess: 

„1.  Wem  kommt  das  unbeschränkte  Eigenthumsrecht 
über  die  in  Ihrem  Kanton  vorhandenen  Wasserkräfte  zu? 
(Dem  Kanton,  den  Gemeinden  oder  einzelnen  Privaten?) 

2.  Bestehen  Vorschriften,  betreffend  industrielle  Nutz- 
machung  von  Gewässern?  Wenn  ja,  worin  bestehen  diese 
Vorschriften?  Wenn  nein,  welches  ist  das  in  solchen  Fällen 
eintretende  thatsächliche  Verfahren? 

3.  Wie  viele  Wasserkräfte  sind  auf  dem  Wege  der 
Konzession  oder  anderswie  an  Privatunternehmer  über- 
gegangen? 

4.  Ist  zu  befürchten,  dass  bei  dem  bestehenden  Zu- 
stande eine  volle  und  rationelle  Nutzbarmachung  unserer 
Gewässer  nicht  möglich  sei,  oder,  namentlich  mit  Rücksicht 
auf  die  Fortleitung  gewonnener  elektrischer  Kräfte  über 
die  Kantonsgrenzen  hinaus,  grossen  Schwierigkeiten  be- 
gegne? oder  auch,  dass  der  durch  die  neuesten  technischen 
Erfindungen  erhöhte  Werth  der  Wasserkräfte  auf  Kosten 
der  allgemeinen  Wohlfahrt  und  deren  Förderung  der  pri- 
vaten Spekulation  und  Bereicherung  anheimfalle? 

5.  Würde  die  Nutzbarmachung  der  Wasserkräfte  er- 
folgreicher sein  und  für  das  Allgemeinwohl  bessere  Resul- 
tate zu  Tage  fördern,  wenn  sie  gleichmässig  für  die  ganze 
Schweiz  im  Sinne  der  Monopolisirung  durchgeführt  würde? 

6.  Stellungnahme  des  Kantons  zur  Frage  der  Ab- 
tretung seiner  Rechte  an  den  Bund  und  Bedingungen  (recht- 
liche, finanzielle  u.  s.  w.),  unter  welchen  letztere  eventuell 
zugestanden  wird. 

7.  Ist  für  den  Fall  der  Verneinung  der  Monopolfrage 
eine  einheitliche  Regelung  der  Materie  durch  Bundesgesetz 
anzustreben? 

8.  Welches  sollen  die  leitenden  Gesichtspunkte  des 
letzteren  sein?“ 

Es  ist  im  höchsten  Grade  wünschenswerth,  dass  auch 
bei  uns  in  Deutschland  die  öffentliche  Meinung  zu  diesen 
wichtigen  Fragen  Stellung  nehme.  Selten  geschieht  der 
technische  Fortschritt  so  zielbewusst  und  mit  solchen  Riesen- 
schritten, wie  augenblicklich  auf  dem  Gebiet  der  Elektro- 
technik. Und  gerade  dieser  Umstand  ermöglicht  bei  einiger- 
massen  gutem  Willen  ein  sachgemässes  sozialpolitisches 
Vorgehen,  ehe  ein  allmäliges  Hineinwachsen  in  neue  privat- 
rechtliche Verhältnisse  wenigstens  den  Vorwand  allzu 
grosser  Schwierigkeit  durch  Eingriffe  in  bestehende  Rechte 
zulässt. 

Dazu  kommt,  dass  die  Entscheidung  über  den  einzu- 
schlagenden Weg  in  Deutschland  nahe  bevorsteht.  Noch 
für  den  Verlauf  dieses  Jahres  hat  der  preussische  Land- 
wirthschaftsminister  die  Vorlage  eines  Gesetzentwurfes  be- 
treffs des  Wasserrechts  im  deutschen  Reichstag  angekündigt; 


gleichzeitig  beschäftigt  sich  nach  Angaben  vom  Bundes- 
rathstisch die  Reichsregierung  mit  der  Ausarbeitung  eines 
Gesetzentwurfes  betreffs  elektrischer  Anlagen,  dem  schon 
jetzt  viel  berufenen  „Elektrizitätsgesetz“. 

Bisher  freilich  scheint  man  in  Deutschland  die  grosse 
Tragweite  unserer  Frage  zu  ignoriren.  Um  so  dringender 
wäre  es  deshalb,  dass  unsere  Gesetzgeber  sich  in  ähnlicher 
Richtung  informiren,  wie  es  der  Schweizer  Bundesrath  ver- 
sucht hat;  aber  auch  die  Industriellen  im  Gross-  und  Klein- 
betrieb sollten  als  Nächstbetheiligte  nicht  verfehlen,  sich 
eine  Meinung  zu  bilden  und  auszusprechen.  Sie  dürfen  bei 
der  grossen  Masse  der  Bevölkerung  um  so  eher  auf  Unter- 
stützung rechnen,  als  diese  in  ihrem  Interesse  als  Steuer- 
zahler stark  mitengagirt  ist. 

Berlin.  Leo  Arons. 


Koimmmale  Arbeitsnachweisbureaus.  Für  die  Er- 
richtung kommunaler  Arbeitsnachweisbureaus,  die  unter 
Aufsicht  einer  unter  der  Leitung  des  Vorsitzenden  des 
Gewerbegerichts  stehenden  zu  gleichen  Theilen  aus  Unter- 
nehmern und  Arbeiter  zusammengesetzten  Arbeitsnachweis- 
Commission,  treten  die  Gewerkschaften  Stuttgarts  ein. 
Dieselben  haben  einen  Entwurf  für  einen  gewerblichen 
städtischen  Arbeitsnachweis  ausgearbeitet.  In  demselben 
wird  als  Aufgabe  des  Institutes  angegeben,  Stellensuchenden 
Arbeit  zu  vermitteln  und  wenn  möglich  allmonatlich  eine 
Arbeitslosen-Statistik  aufzunehmen.  Die  Stellenvermittlung 
soll  unentgeltlich  sein,  das  Bureau  für  den  Arbeitsnachweis 
soll  von  der  Gemeindeverwaltung  zur  Verfügung  gestellt 
werden.  Die  Geschäfte  sollen  von  zwei  von  der  Gemeinde- 
behörde besoldeten  Verwaltern  geführt  werden,  welche  der 
Arbeitsnachweis-Kommission  unterstellt  sein  sollen.  Im 
Vergleich  zu  den  Arbeitsbörsen  der  französischen  Arbeiter  ' 
sind  diese  Forderungen  höchst  bescheidene  zu  nennen.  Es 
würde  sich  empfehlen,  dass  auch  ausserhalb  Stuttgarts, 
ähnliche  Anregungen  gemacht  bez.  wiederholt  werden,  da 
man  in  Stuttgart  wohl  mit  dem  Hinweis  auf  das  Bureau 
für  Arbeitsnachweis  (s.  Sozialpolitisches  Centralblatt,  No.  14) 
das  Project  begraben  wird.  In  Berlin  und  München  wurden 
übrigens,  bisher  leider  erfolglos,  ähnliche  Anregungen  auch 
schon  gemacht. 

Die  überseeische  Auswanderung  ans  der  Schweiz  im 
Jahre  1891.  Auf  Grund  der  Mittheilungen  der  schweizerischen; 
Auswanderungsagenturen  veröffentlicht  das  eidgenössische  sta- , 
tistische  Bureau  vier  Tabellen,  denen  wir  die  folgenden  Daten 
entnehmen. 

Im  Jahre  1891  war  die  überseeische  Auswanderung  aus 
der  Schweiz  etwas  geringer,  als  in  den  vorausgegangenen 
Jahren.  Es  wanderten  nach  anderen  Welttheilen  aus:  7516  Per- 
sonen (1890:  7712;  1889:  8430;  1888:  8346;  1887:  7558).  Nur  in 
5 Kantonen  überstieg  die  Auswandererzahl  des  Jahres  1891  alle 
vier  vorangegangenen  Jahre,  und  zwar  war  dies  der  Fall  in 
St.  Gallen  und  den  beiden  Appenzell,  den  Hauptsitzen  der 
Stickereiindustrie,  und  in  wenig  erheblicher  Weise  in  den  Kan- 
tonen Luzern  und  Nidwalden.  Von  den  Auswanderern  des 
Jahres  1891  waren  6521  Schweizerbürger  und  995  Ausländer. 
Das  Reiseziel  des  überwiegenden  Theiles  waren  die  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika,  in  denen  sich  fest  zusammen  haltende 
Schweizerkolonien  befinden.  Von  den  6920  nach  der  nord- 
amerikanischen Union  Auswandernden  schifften  sich  6841  in 
Newyork  aus.  Als  Reiseziel  der  aus  der  Schweiz  Auswan- 
dernden kommen  noch  in  Betracht  Argentinien  mit  282,  Brasilien 
mit  184,  Australien  mit  47  schweizer  Einwanderern.  Nach 
anderen  amerikanischen  Staaten  und  Colonien  wanderten  nur 
58,  nach  Afrika  nur  17  und  nach  Asien  nur  8 Personen  aus  der 
Schweiz  aus.  5599  schweizer  Auswanderer  schifften  sich  in 
Havre,  413  in  anderen  französischen  Häfen,  1201  in  Antwerpen, 
78  in  niederländischen,  74  in  englischen,  42  in  italienischen  und 
nur  9 in  deutschen  Häfen  ein. 

Die  Auswanderung  wechselt  sehr  nach  der  Jahreszeit. 
Sie  war  am  schwächsten  im  December  (316)  und  Januar  (325). 
am  stärksten  im  März  (1032),  April  (990),  Oktober  (988)  und 
Mai  (846).  In  den  übrigen  Monaten  schwankte  sie  zwischen 
431  und  569. 

4564  der  Auswanderer  waren  männlichen  ( 3675  ledig, 
812  verh.,  62  verw.,  15  geschieden)  und  2952  weiblichen  (2110 
ledig,  698  verh.,  122  verw.,  22  geschieden)  Geschlechtes. 

Die  Altersgruppe  20—29  Jahre  stellte  die  meisten  Aus- 
wanderer: 1861  Männer  und  1084  Weiber,  hieran  schliessen  sich 
die  Gruppen  15 — 19  Jahre:  929  Männer  und  455  Frauen  und 
30 — 39  Jahre:  614  Männer  und  381  Frauen.  Im  Alter  von  40  bis 
60  Jahren  standen  409  Männer  und  304  Frauen,  im  Alter  von  60 


No.  16. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


203 


| bis  79  Jahren  55  Männer  und  47  Frauen.  Das  15  Jahr  hatten 
noch  nicht  erreicht  696  Knaben  und  682  Mädchen. 

Von  den  Auswanderern  waren  3858  männliche  und  1869 
I weibliche  Erwerbende,  1298  Kinder  unter  15  Jahren  und  371  weib- 
liche, nicht  erwerbende  Angehörige 

Dem  Berufe  nach  wanderten  am  meisten  aus  3406  der 
Land-,  Vieh-  und  Milchwirthschaft  angehörige  Personen,  zu  denen 
noch  60  in  anderen  Zweigen  der  Urproduktion  thätige  Personen 
und  Angehörige  hinzukommen.  Aus  den  Industriegruppen  der 
Nahrungs-  und  Genussmittel  wanderten  345,  aus  der  Bekleidungs- 
industrie 297,  aus  der  Bau-  und  verwandten  Industrien  474,  aus 
den  graphischen  Gewerben  16,  aus  der  Textilindustrie  227 
(Stickerei  136),  aus  der  Uhren-,  Maschinen-  und  verwandten 
Industrien  284  (Uhrmacherei  133)  aus.  Die  Gruppe  der  Handels- 
berufe stellte  368,  die  des  Gastwirthschaftswesens  134,  die  des 
Verkehrswesens  56,  die  liberalen  Berufe  140,  die  persönlichen 
Dienstleistungen,  Arbeiter  und  Taglöhner  ohne  nähere  Bezeich- 
nung 1026  (häusliche  und  persönliche  Bedienung  908).  Ausserdem 
wanderten  304  Rentner,  5 Studenten,  120  Personen  ohne  Berufs- 
angabe, darunter  79  Kinder  und  221  Personen  anderer  Berufe  aus. 


Arbeiterzustände. 


Frauenarbeit  in  der  Maschineiiindustrie.  Eine  höchst 
bemerkenswerthe  Erscheinung,  das  Vordringen  der  Frauen- 
arbeit in  die  Maschinenindustrie  und  die  technischen  Gründe 
dieser  Erscheinung  werden  in  den„Jahresberichten  der  bayri- 
schen Fabrikinspektoren  für  das  Jahr  1891u  klargestellt.  Schon 
aus  den  früheren  Referaten  sächsischer  Beamten  wusste 

Iman  von  einer  steigenden  Verwendung  der  Frauen  bei  der 
Blechwaarenfabrikation,  und  der  Gewerbeinspektor  für  den 
Bezirk  Meissen  bemerkt  auch  für  1891  wieder,  dass  „die 
Verwendung  billigerer  weiblicher  Arbeitskräfte  ...  in  Blech- 
waarenfabriken  gegenüber  der  Annahme  männlicher  Ar- 
beitskräfte andauernd  zunimmt.“  Aus  Bayern  erhält  man 
jedoch  noch  interessantere  Belege.  Es  ist  von  hohem 
sozialpolitischen  Werth  durch  den  Beamten  für  Mittel-  und 
Oberfranken  (S.  68  seines  Berichtes)  zu  erfahren,  dass  „die 
zunehmende  Einführung  kleiner  Spezialmaschinchen  in  die 
Metallverarbeitung  zum  Drehen,  Schraubenschneiden,  Pressen 
u.  s.  w.  die  Beschäftigung  weiblicher  Arbeitskräfte  in  diesen 
Betrieben  mehr  und  mehr  begünstigt  und  ermöglicht.“  Und 
ganz  dasselbe  traf  der  Beamte  für  die  Pfalz  (S.  104  seines 
Berichtes):  „Ausserdem  fanden  sich,  als  neue  Erscheinung, 
einige  weibliche  Arbeiter  an  Spezialmaschinen  für  kleine 
Fraisearbeit  in  einer  Maschinenfabrik.  Dieselben  sollen 
wegen  Mangel  an  geeigneten  jugendlichen  männlichen  Ar- 
beitern eingestellt  worden  sein  und  sich  hiefür  sehr  brauchbar 
erweisen.  Der  Direktor  erklärte  jedoch  in  der  bezüglichen 
Besprechung,  für  diese  wohl  nicht  gefährliche  noch  an- 
strengende, doch  für  Mädchen  nicht  zu  billigende  Beschäf- 
tigung fernerhin  wieder  männliche  Arbeiter  verwenden  zu 
wollen  “ Wir  glauben,  die  kapitalistischen  Gründe  für  die 
Beibehaltung  dieser  Frauenarbeit  werden  stärker  wirken, 
als  die  humanitären  für  deren  Abschaffung.  Dann  erhält 
aber  die  industrielle  Reservearmee  in  Folge  der  technischen 
Entwickelung  und  deren  kapitalistischer  Ausnutzung  neuen 
mächtigen  Zuwachs  aus  dem  Heer  der  männlichenMaschinen- 
arbeiter. 

Statistische  Erhebungen  aus  dem  Stemmetzgewerbe  von 
Dresden  und  Umgebung.  Der  „Bauhandwerker11  veröffentlicht  in 
seiner  letzten  Nummer  weitere  Daten  über  diese  Erhebung,  denen 
wir  zur  Ergänzung  des  von  uns  in  No.  15  des  Sozialpolitischen 
Centralblattes  mitgetheilten  noch  folgendes  entnehmen.  Das  Ak- 
kordsystem ist  vorherrschend,  im  Tagelohn  wird  nur  ganz  aus- 
nahmsweise gearbeitet.  Der  Stundenlohn  ist  auf  55—60  Pf.  fest- 
gesetzt, was  einem  Tagesverdienste  von  M.  4,95—5,40  entsprechen 
würde.  251  Arbeiter  (174  verheirathet,  77  ledig)  gaben  im  Jahre 
1891  (1890  : 266;  1889:  97)  gewissenhaft  ihren  Lohn  an.  Diese  ver- 
dienten im  Durchschnitte  M.  1 135,82  (1890:  M 1187,12),  was  einem 
Tagesverdienste  von  M.  3,64  entspricht.  Der  Durchschnittsver- 
dienst der  Verheiratheten  betrug  M.  1214,41  (1890:  M.  1243,93), 
das  ist  pro  Tag  M 3,89  Im  Winterhalbjahr  (1.  X.  1890  bis  31.  III. 
1891)  betrug  der  Durchschnittsverdienst  der  Verheiratheten 
M.  419,98  = M.  2,67  pro  Arbeitstag,  im  Sommerhalbjahr  M.  774,42 
= M.  5,09  pro  Arbeitstag.  Der  Durchschnittsverdienst  der 
Ledigen  betrug  M.  956,3  pro  Jahr  (1890:  M.  1069)  = M.  18,39  pro 
Woche  und  zwar  im  Winterhalbjahr  M.  319,78  = M.  2,05  pro  Tag 
und  im  Sommerhalbjahr  M.  636,52  = M.  4,06  pro  Arbeitstag. 

Das  Lohneinkommen  von  62%  (44  % im  Jahre  1890)  "der 


Dresdner  Steinmetze  erreicht  den  Durchschnittsverdienst  nicht. 
In  27  Fällen  muss  die  Frau  durch  Waschen,  Handel  u.  s w.  zum 
Unterhalt  der  Familie  beitragen. 

Im  Winterhalbjahr  waren  222  Steinmetze  durchschnittlich 
5P/2  Tage  (1890  : 20,8,  1889  : 24,33)  arbeitslos.  Auf  die  149  ver- 
heiratheten entfielen  im  Durchschnitte  47'%  Tage  (1890:  17Vs, 
1889:  16,0)  der  Arbeitslosigkeit.  Die  unverheiratheten  hatten 
607g  (1890:  20,  1889:  39)  Tage  der  Arbeitslosigkeit  aufzuweisen. 
Im  Sommerhai bj ahr  hatten  129  Steinmetze  12,6  (1890:  11%,  1889: 
5,5)  arbeitslose ‘Tage,  die  83  verheiratheten  hatten  1276  (1890: 

1 1 1/3,  1889:  5),  die  46  unverheiratheten  13%  (1890:  11,  1889:  9) 
arbeitslose  Tage  im  Durchschnitte.  Nur  77  (59  verheirathet, 
18  ledig)  von  den  356  Steinmetzen,  die  sich  an  der  Statistik 
betheiligten,  hatten  über  Arbeitslosigkeit  nicht  zu  klagen,  da 
aber  von  diesen  10  längere  Zeit  krank  waren,  verblieben  nur 
67  oder  18,8%,  welche  stets  Arbeit  hatten;  bis  zu  einem  Monat 
waren  ca.  40%,  ein  bis  zwei  Monate  ca.  34%,  über  2 — 3 Monate 
ca.  13%,  3—4  Monate  über  8%  arbeitslos 

24,5%  der  356  Steinmetze  erkrankten  im  Berichtsjahre. 
57%  aller  Krankheitstage  verursachten  die  Berufskrankheiten 
Lungenschwindsucht  und  Rheumatismus,  sowie  Verletzungen 
im  Berufe.  23  Mitglieder  starben,  das  Durchschnittsalter  der- 
selben war  37  Jahre  3 Monate  und  19  Tage,  die  Verstorbenen 
waren  durchschnittlich  20  Jahre  (12—20:  12,  20 — 30:  8,  30 — 34:  3) 
in  ihrem  Berufe  thätig. 

Auf  den  16  Dresdner  Werkplätzen  waren  auch  104  Lehr- 
linge, demnach  auf  100  Gehilfen  29  Lehrlinge  thätig,  27  der- 
selben standen  im  Tagelohn  mit  372— 9 M.  Wochenverdienst,  66 
arbeiteten  im  Akkord,  der  um  20—30%  gegen  den  der  Gehilfen 
gekürzt  wurde.  70  Lehrlinge  standen  im  Alter  von  14—19,  17 
im  Alter  von  20—23,  8 im  Alter  von  24—30  Jahren,  2 waren  31, 
einer  41  Jahre  alt. 

Haushalt  einer  Arbeiterfamilie  in  Bayern.  Ueber  die 
noth wendigsten  Ausgaben  einer  Arbeiterfamilie  in  seinem  Be- 
zirk hat  der  Fabrikinspektor  in  Oberbayern  in  seinem  neuesten 
Bericht  (Seite  16  ff.)  besondere  Erhebungen  gemacht.  Nachdem 
er  die  blossen  Ernährungskosten  einer  Münchener  Arbeiter- 
familie mit  16  M.  92  Pf.  pro  Woche  beziffert  hat,  fährt  er  fort: 
„Zum  Vergleiche  mögen  die  Ernährungskosten  einer  normal 
ländlichen  Arbeiterfamilie  im  südlichen  Oberbayern,  bestehend 
aus  Mann,  Frau  und  drei  1 bis  3 Jahre  alten  Kindern,  Aufnahme 
finden,  wie  sie  sich  nach  eigens  für  den  vorliegenden  Zweck 
während  längerer  Zeit  vorgenommenen  Aufzeichnungen  ergeben 
haben.  Das  erste  Frühstück  besteht  bei  derselben  aus  Brenn- 
suppe (aus  Wasser,  Mehl,  sog.  Rollfett,  Brod  und  Salz),  hin  und 
wieder  aus  Kaffee  und  Brod.  Das  zweite  Frühstück  für  den 
Mann  aus  7 2 1 Bier  mit  Brod,  für  die  übrige  Familie  aus  Ueber- 
bleibseln  vom  ersten  Frühstück.  Das  Mittagessen  hie  und  da 
Sonntags  aus  7 2 kg  Rindfleisch  mit  Kraut  oder  Kartoffeln,  sonst 
ausschliesslich  aus  Mehlspeisen  wie  Suppe  und  Nudeln  (aus 
Mehl,  Schmalz,  Hefe,  Wasser)  oder  Kraut  und  Eierschmarrn  u s w.; 
das  Vesperbrot  für  den  Mann  im  Winter  aus  Brod,  im  Sommer 
aus  7 2 1 bis  1 1 Bier  mit  Brod,  für  die  übrige  Familie  aus  Ueber- 
bleibseln  vom  Frühstück  oder  Mittagessen;  endlich  das  Abend- 
essen aus  Suppe  (Brennsuppe,  verschiedene  Einlagen  u.  s.  w.) 
oder  Kaffee  mit  Brod.  Bier  wird,  vom  zweiten  Frühstück  und 
Vesperbrod  des  Mannes  abgesehen,  nur  am  Sonntage  getrunken. 
Gebraucht  werden  durchschnittlich  in  der  Woche  115  g Kaffee 
(dazu  noch  Mandel-  und  Feigenkaffee),  14  1 Milch,  1,6  kg  Zucker, 
2,9  kg  Mehl,  circa  72  kg  Rindfleisch,  115  g Erbsen,  575  g Roll- 
gerste (oder  entsprechend  Kartoffeln  u.  s.  w.),  115  g Gries,  230  g 
Salz,  920  g Butter,  345  g Rollfett,  18  bis  14  1 Bier  (im  Sommer), 
um  2,26  M.  Schwarz-  und  Weissbrod,  0,23  M.  Eier,  circa  1 M. 
Sonstiges. 

Nach  den  ortsüblichen  Preisen  berechnen  sich  die  wöchent- 
lichen Ernährungskosten  dieser  Familie  im  Jahre  1891  auf  14,47  M. 
gegenüber  14,25' M.  im  Jahre  1890,  mithin  um  etwa  1°/o  im  Be- 
richtsjahre „höher“.  Das  Dürftige  und  Unrationelle  dieser  Er- 
nährung sticht  zu  sehr  ins  Auge,  als  dass  es  besonders  hervor- 
gehoben zu  werden  brauchte.  Die  stickstoffhaltigen  Speisen 
überwiegen  ausserordentlich,  und  jede  Abwechslung  fehlt.  Wenn 
man  bedenkt,  dass  auch  drei  1- 3jährige  Kinder  von  dieser 
Kost  jahraus,  jahrein  leben,  so  braucht  man  sich  über  eine 
Degeneration  der  Arbeiterbevölkerung  nicht  zu  wundern.  W ie- 
viel  Mehr  und  Besseres  und  relativ  Billigeres  durch  eine  Zube- 
reitung der  Speisen  im  Grossen  erreicht  werden  kann,  geht  aus 
einer  anderen  Stelle  desselben  amtlichen  Berichtes  hervor.  Da- 
nach  konnte  eine  Münchener  Fabrik  ihren  Arbeitern  pro  Kopf 
und  Tag  ein  gutes  Frühstück  (Kaffee  mit  Weissbrod),  sowie  em 
Mittagessen,  "bestehend  Wochentags  aus  Suppe,  Rindfleisch 
(450  g:)  und  Gemüse,  Sonntags  aus  Braten  u.  s.  w für  89  Pf. 
liefern.  Das  macht  die  Woche  6 M.  23  Pf.,  bei  einer  Doppel- 
portion  12  M.  46  Pf*,  und  es  ist  sicher,  dass  die  oben  beschrie- 
bene  ländliche  Arbeiterfamilie  von  einer  solchen  Doppelportion 
für  12  M.  46  Pf.  besser  leben  würde,  als  von  ihrer  erbärmlichen 
Hauskost  für  14  M.  25  Pf. 


204 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  16. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Folgen  des  Durhamer  Kolilenarbeiteraiisstandes.  Die 

bedeutende  Clevelander  Eisenindustrie  ist  in  Folge  des 
Durhamer  Kolilenarbeiteraiisstandes  völlig  zum  Stillstand 
ekommen.  70  Hochöfen  sind  ausgeblasen,  und  es  heisst, 
ass  vor  Ende  der  Woche  die  Liste  um  weitere  sechs  ver- 
grössert  werden  wird.  Was  dies  sagen  will,  lässt  sich  am 
besten  ermessen,  wenn  man  bedenkt,  dass  an  einem  einzigen 
Hochofen  durchschnittlich  gegen  300  Mann  in  Thätigkeit 
sind.  Von  den  6000  Bergleuten  in  den  Eisenminen  Cleve- 
lands sind  5000  miissig.  In  Eston  wurden  die  grössten 
Stahlwerke  Englands  geschlossen  und  mehr  als  2000  Arbeiter, 
welche  in  den  letzten  zwei  Jahren  nur  halbe  Zeit  zu  thun 
hatten,  sind  jetzt  gänzlich  mittel-  und  brotlos.  Andere  grosse 
Fabriken  befinden  sich  in  der  gleichen  Lage.  In  Middles- 
borough  und  Cleveland  allein  sind  mindestens  1 2 000  in  der 
Eisen-  und  Stahlindustrie  thätige  Männer  ausser  Arbeit. 
Mit  dem  Tee-Gebiet  steigt  diese  Zahl  auf  das  Doppelte, 
ohne  die  ausständischen  Grubenarbeiter  einzuschliessen. 

Französisches  Arbeitersekretariat.  Endlich  scheint  das 
französische  Arbeitersekretariat  auch  eine  ernste  Thätigkeit 
entfalten  zu  wollen.  Während  es  bis  nun  lediglich  interne  An- 
gelegenheiten erledigt  hat,  soll  in  der  nächsten  Sitzung  zur 
Wahl  einer  statistischen  Kommission  geschritten  werden. 

Die  ungarische  Regierung  und  die  gewerkschaftliche 
Organisation  der  Arbeiter.  Obgleich  alle  ungarischen  Ver- 
waltungsrechtslehrer erklären,  dass  den  Staatsbürgern  Ungarns 
das  Vereinigungs-  und  Versammlungsrecht  gewährleistet  ist 
und  kein  Gesetz  existirt,  welches  ihnen  dasselbe  versagen 
würde,  wird  die  Genehmigung  von  Statuten  gewerkschaft- 
licher Vereinigungen  von  den  Behörden  nicht  nur  hmausgezogen, 
sondern  häufig  überhaupt  verweigert.  Kennzeichnend  für  die 
Politik  der  ungarischen  Regierung  gegenüber  den  Arbeiter- 
organisationen ist  folgender  Erlass  des  königlich-ungarischen 
Ministeriums,  der  soeben  zur  allgemeinen  Kenntniss  gelangt: 

„Die  unter  Z.  47790  am  18.  Dezember  v.J.  durch  den  städt. 
Magistrat  eingereichten  Statuten  des  in  Gründung  begriffenen 
Vereines  der  Werkmeister  in  Ungarn  versehe  ich  nicht  mit 
der  Genehmigungs-Klausel:  weil  ich  es  nicht  für  zulässig  er- 
achte, dass  Fachvereinigungen  ausschliesslich  für 
Arbeiter,  die  sich  auf  das  ganze  Land  ausdehnen 
sollen,  zustande  kommen,  nachdem  solche  Organi- 
sationen erfahrungsgemäss  nicht  zur  Förderung  der 
Interessen  ihrer  Mitglieder  benützt  werden 

Hiervon  wird  der  hauptstädtische  Magistrat  unter  Bei- 
schluss und  Zurücksendung  der  betr.  Schriftstücke  mit  dem 
Bemerken  verständigt,  dass  bis  zum  Inslebentreten  des  G.-A. 
XIV.  1891  die  Einreichung  ähnlicher  Statuten  nicht  berücksichtigt 
werden. 

Budapest,  16.  Jänner  1892.  Für  den  Minister: 

Georg  Lukacs,  Staatssekretär.“ 


Die  Einführung  der  Arbeiterschutzmarke  für  die 
Cigarrenindustrie  wird  auf  der  nächsten  Generalversammlung 
des  Unterstützungsvereins  deutscher  Tabakarbeiter  von  den 
Berliner  Cigarrenmachern  beantragt  werden.  Die  Einführung, 
Leitung  und  Kontrolle  der  Schutzmarke  (=  Kontrollmarke, 
Union  Label)  soll  dem  Vorstande  obliegen.  Das  Nähere  soll  eine 
spezielle  Geschäftsordnung  bestimmen.  Dieselbe  liegt  nun  auch 
in  einem  Entwürfe  vor.  Wir  entnehmen  derselben  folgendes: 
Nur  diejenigen  Fabrikanten  sollen  die  Schutzmarke  erhalten 
dürfen,  welche  ausschiesslich  Mitglieder  des  Unterstützungs- 
vereins der  Tabakarbeiter  Deutschlands  beschäftigen,  die  vom 
Vereine  festgesetzen  Arbeitslöhne  bezahlen,  keine  Hausarbeit 
ausgeben  und  deren  Fabrikräume  mindestens  den  bundesräth- 
lichen  Bestimmungen  entsprechen. 


Unternehmerverbände. 


Organisation  der  ländlichen  Unternehmer  in  Braun- 
schweig und  Thüringen.  Anlässlich  des  bevorstehenden 
offiziellen  Anschlusses  der  Braunschweioer  Landwirthe  an 
den  „Verband  zur  Besserung  der  ländlichen  Arbeiterver- 
hältnisse in  der  Provinz  Sachsen“  beginnt  der  Vorstand  des 


landwirthschaftlichen  Centralvereins  auch  in  Braunschweig 
selbst  mit  der  Organisation  derjenigen  Gutsbesitzer,  welche 
dem  Verein  beitreten  wollen.  Es  ist  in  Aussicht  genommen, 
für  jeden  Kreis  einen  Bezirksvorsteher  nebst  Stellvertreter 
später  durch  Wahl  zu  ernennen,  zuvörderst  aber  für  jeden 
Amtsgerichtsbezirk  die  Vorsitzenden  der  Amtsvereine  als 
Vertrauensmänner  zu  wählen,  welchen  die  Gewinnung  von 
Mitgliedern  zufallen  würde.  Der  Verband  selbst  tagte  am 
27.  v.  M.  in  Weimar.  In  den  Kreis  der  Berathungen  wurden, 
abgesehen  von  organisatorischen  Angelegenheiten,  nament- 
lich Massnahmen  gegen  die  sozialdemokratische  Agitation 
auf  dem  Lande  und  Vorschläge  über  weitere  Mittel  und 
Wege  zur  Hebung  des  Verbandes  gezogen. 

Kohlenkartelle  und  Eisenwerke.  Der  Gedanke  der 
Unternehmervereinigungen  gewinnt  immer  grössere  Aus- 
dehnung. Nachdem  in  Rheinland -Westfalen  die  meisten 
Kohlenzechen  unter  einheitlicher  Leitung  organisirt  sind, 
wird  in  verwandten  Gewerben  immer  wieder  der  Plan  eines  ; 
Anschlusses  an  jene  Organisation  zur  Diskussion  gestellt. 
So  schreibt  ein  Vertreter  der  Interessen  der  Kleineisenzeug- 
fabrikanten an  die  „Köln.  Ztg.“:  „Wir  möchten  wiederholen, 
dass  der  nächste  Schritt  zu  einer  Besserung  der  gesammten 
wirthschaftlichen  Lage  in  einer  Anlehnung  an  die  j 
Kohlen  Vereinigungen  gesucht  werden  muss;  dieselben  i 
werden  vernünftigen  Vorschlägen  gewiss  Rechnung  tragen,  j 
besonders  bei  heutiger  Lage  <Jer  Dinge.  Wird  die  Kohlen-  j 
Vereinigung  heute  gelockert,  wozu  schon  Anzeichen  vor- 
handen sind  (?  ) und  verlieren  wir  den  einzigen  noch  einiger-  J 
massen  festen  Punkt,  den  wir  im  wirthschaftlichen  Leben 
noch  haben,  dann  ist  nicht  abzusehen,  wohin  wir  kommen 
werden.  Es  mag  möglich  sein,  dass  der  Preis  des  Eisens  : 
auf  dem  Weltmarkt  durch  eine  Ermässigung  der  deutschen 
Kohlenpreise  nicht  weiter  sinken  wird,  sicher  ist  das  keines- 
wegs, wohl  aber  dass  der  Preis  im  Inlande  in  solchem 
Falle  weiter  sinken  wird,  und  dadurch  kann  die  allgemeine 
Lage  nur  verschlechtert  werden.  Es  ist  gewiss  schwer,  dem  , 
Gedanken  Geltung  zu  verschaffen,  dass  das  Interesse  Aller 
das  Interesse  des  Einzelnen  ist,  um  so  weniger  ist  es  4 
gerathen,  für  den  Kampf  Aller  gegen  Alle  einzu- t 
treten.  Kann  die  Industrie  sich  zu  dem  Gedanken  einer- 
Interessengemeinschaft  aufschwingen  und  diesen  Ge- 
danken nach  und  nach  verwirklichen,  so  wird  sie  auch  nicht 
länger  nöthig  haben,  die  Kastanien  für  den  Zwischenhandel 
aus  dem  Feuer  zu  holen.“  So  arbeiten  die  Industriellen 
selbst  einer  gemeinschaftlichen  Neuregelung  der  Produk- , 
tion  vor. 

1 

Kartell  der  bayerischen  Spiegelglasschleif-  und  Polir- 

werke.  Die  Regelung  der  Produktion  durch  Unternehmer-  ! 
verbände  erstreckt  sich  bereits  bis  herunter  auf  die  Versorgung  ; 
der  Arbeiter  im  Falle  einer  zeitweisen  Betriebseinstellung.  So 
berichtet  der  bayerische  Fabrikinspektor  für  Mittel-  und  Ober- 
franken S.  36  und  44  seines  Referates  für  1891  folgende  inter- 
essante Einzelheiten:  „Die  Spiegelglasindustrie  allein  hatte 

andere  weniger  günstige  Verhältnisse  im  abgelaufenen  Jahre 
durchzumachen.  Durch  den  günstigen  Geschäftsgang  der  Vor- 
jahre und  den  besonders  günstigen  Wasserstand  des  Jahres  1890 
wurde  auf  den  Spiegelglasschleif-  und  Polirwerken  zu  viel  pro-  [ 
duzirt.  Die  Vereinigung  bayerischer  Spiegelglasindustriellen 
musste  sich  entschliessen,  alle  Schleif-  und  Polirwerke  von  | 
Dienstag,  den  19.  Mai,  an  beginnend,  bis  Montag,  den  29.  Juni  1891, 
ausser  Thätigkeit  zu  setzen  und  auf  allen  Spiegelglashütten  den 
Betrieb  14  Tage  lang  zu  unterbrechen  Während  dieser  Betriebs- 
einstellung wurden  Polirmeister  mit  10  bis  15  Mk,  Schleif- 
meister mit  8 Mk.,  Schleif-  und  P olirgesellen  mit  je  5 Mk 
und  Doucirerinnen  mit  3 Mk.  per  Woche  entschädigt. 
Ausserdem  wurde  noch  von  den  einzelnen  Werkbesitzern  Sorge  j 
getragen,  dass  Reparaturen  am  Werke,  an  den  Radanlagen,  G e- 
rinnen  u.  s.  w.  in  dieser  Feierzeit  zur  Ausführung  kamen,  wobei 
die  Arbeiter  Verwendung  fanden  und  extra  hierfür  entlohnt 
wurden.  Leider  sind  durch  diese  Betriebseinstellung  der  Werke 
die  Verhältnisse  bis  zum  Jahresschluss  nicht  gebessert  worden, 
die  Produktion  von  Ende  Juni  bis  Ende  Dezember  stand  in  ! 
keinem  Verhältnisse  zum  Absatz  in  Amerika.  Die  Genossen- 
schaft musste  noch  vor  Jahresschluss  eine  abermalige,  sechs- 
wöchige Betriebseinstellung  mit  denselben  Entschädigungs- 
gebtinren  und  mit  Beginn  am  7.  Januar  1892  in’s  Auge  fassen.1. 
Und  an  einer  späteren  Stelle  seines  Jahresberichtes  führt  der 
Fabrikinspektor  noch  Näheres  über  die  Arbeiterentschädigung 
aus.  Er  schreibt:  „Zu  der  in  Kapitel  I besprochenen  zeitweisen 
Betriebseinstellung  der  Spiegelglasschleif-  und  Polirwerke  ist 
noch  anzuführen,  dass  die  den  Meistern  und  Arbeitern  gezahlten 
wöchentlichen  Entschädigungen  ziemlich  genau,  bei  Schleif- 
meistern und  Schleifgesellen  sogar  etwas  mehr  als  die  Hälfte 
eines  durchschnittlichen  Wochenverdienstes  betrugen.  Die  Mit- 
hülfe bei  Reparaturen,  Wasserbauten  u.  s.  w.  wurde  per  Tag 


No.  16. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


205 


mit  1 Mk  bis  1,50  Mk.  gelohnt,  wodurch  sich  der  Ausfall  für 
jene  Arbeiter,  die  sich  gerne  diesen  Arbeiten  unterzogen,  sehr 
[verringerte.  Da  alle  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  freie  Woh- 
nuno-  auf  den  Werken  haben,  was  bei  Eintritt  solcher,  durch 
ungünstigen  Geschäftsgang  veranlassten  Betriebsunterbrechungen 
besonders  hoch  zu  schätzen  ist,  so  war  für  die  Arbeiter  dieser 
Werke  doch  im  grossen  Ganzen  ziemlich  gut  gesorgt.  Arbeiter, 
welche  freiwillig  während  der  Betriebsein  st  el  lung  das 
Werk  verliessen,  erhielten  keine  Entschädigung;  es 
wurde  dies  Allen  vorher  bekannt  gegeben;  nur  einige  Wenige 
waren  so  unklug,  während  der  Feierzeit  vom  Werke  abzu- 
ziehen, wodurch  sie  ihren  Anspruch  auf  Entschädigung  ver- 
wirkten.“ In  diesen  Sätzen  treten  die  Schattenseiten  der 
kapitalistischen  Art  und  Weise  dieser  Produktionsregulirung 
scharf  hervor. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Die  preussische  Berggesetznovelle. 

Mit  ungewöhnlicher  Raschheit  ist  die  Regierungsvor- 
lage betreffend  die  Abänderung  einzelner  Bestimmungen 
des  Allgemeinen  Berggesetzes  vom  24.  Juni  1865  in  der 
Kommission  des  Abgeordnetenhauses  zur  Durchberathung 
und  Annahme  gelangt.  Das  Ergebniss  lässt  sich  dahin  zu- 
sammenfassen, dass  die  vereinzelten  Verbesserungsvor- 
schläge verworfen  worden  sind,  dass  dagegen  die  Ver- 
schlechterungsanträge eine  Majorität  gefunden  haben. 

Nach  der  heutigen  Sachlage  scheint  es  ausgeschlossen, 
dass  eine  Kritik  auf  die  Berathungen  des  Abgeordneten- 
hauses auch  nur  den  geringsten  Einfluss  ausüben  wird:  der 
Gesetzentwurf  wird  in  der  von  der  Kommission  vorge- 
ischlagenen  Gestalt  Gesetz  werden.  Trotzdem  darf  und  soll 
mit  der  Erörterung  der  Mängel  der  V orlage  nicht  innege- 
halten werden.  Die  Bewegung,  welche  zur  Novelle  geführt 
hat,  wird  einen  Stillstand  durch  dieselbe  gewiss  nicht  er- 
fahren. So  wenig  die  Gewerbeordnung  auch  nur  für  längere 
Zeit  von  weiteren  Abänderungen  bewahrt  bleiben  wird,  so 
wenig  wird  dies  mit  der  Regierungsvorlage,  die  jetzt  das 
Abgeordnetenhaus  beschäftigt,  der  Fall  sein.  Im  Nachfol- 
genden soll  deshalb,  zur  Ergänzung  des  in  Nummer  13  des 
Sozialpolitischen  Centralblattes  Vorgebrachten,  in  eine  wei- 
tere Prüfung  der  einzelnen  Bestimmungen  des  Gesetzent- 
wurfes eingegangen  und  dabei  auf  die  Aenderungen  in  der 
Kommission  Bedacht  genommen  worden. 

Die  amtliche  „Denkschrift  über  die  Untersuchung  der 
Arbeiter-  und  Betriebsverhältnisse  in  den  Steinkohlenbe- 
zirken“ bezeichnet  als  „nicht  übertrieben“  die  Wünsche  der 
Arbeiter,  „dass  das  Gedinge  von  vornherein  endgiltig  (von 
besonderen  Ausnahmen  abgesehen)  festgestellt  werde,  dass 
: sie  vom  Anfang  bis  zum  Ende  des  Monats  genau  übersehen 
können,  was  sie  verdienen,  dass  ein  immerhin  mögliches 
ispäteres  Abbrechen  bei  günstiger  Gestaltung  der  Arbeit 
ausgeschlossen  werde“  (Seite  1 1). 

Wie  sucht  die  Vorlage  diesen  „nicht  übertriebenen“ 
Wünschen  der  Bergleute  gerecht  zu  werden? 

Wollte  man  jede  Verschleppung  bei  Feststellung  des 
Gedinges  verhüten,  dann  musste  gesetzlich  normirt  wer- 
den, dass  in  Gruben  mit  einer  grösseren  Belegschaft  der 
Abtheilungssteiger  als  ermächtigt  gilt,  den  Gedingesatz  zu 
vereinbaren.  Es  musste  ferner  die  Frist  genau  bestimmt 
werden,  innerhalb  welcher  der  Abschluss  des  Gedinges  zu 
erfolgen  habe.  Statt  dessen  überlässt  es  § 80  b dem  Be- 
triebsunternehmer, nicht  nur  die  Art  der  Gedingestellung, 
! sondern  auch  die  zum  Abschluss  des  Gedinges  ermächtigten 
Personen  sowie  den  Zeitpunkt  zu  fixiren,  bis  zu  welchem 
nach  Uebernahme  der  Arbeit  das  Gedinge  abgeschlossen 
sein  müsse. 

Wer  kann  nun  den  Bergwerksbesitzer  daran  hindern, 
auch  in  Zukunft  von  der  Ansicht  auszugehen,  und  dieselbe 


rechtsgiltig  in  der  Arbeitsordnung  feslzulegen,  dass  nur  der 
Betriebsführer  zur  Vertretung  des  Unternehmers  befugt  sei 
und  dass  die  Vereinbarungen  der  Abtheilungsteiger  mit 
den  Bergleuten  bloss  eine  vorläufige  Regelung  des  Ge- 
dinges bezwecken?  Wer  vermag  auf  das  Werk  einen 
Zwang  auszuüben,  dass  der  Zeitpunkt,  bis  zu  welchem  das 
Gedinge  festgestellt  wird,  sich  innerhalb  angemessener 
Grenzen  bewege?  Dem  Ermessen  der  Unternehmer  ist 
Alles  überlassen,  den  Behörden  steht  das  Recht  der  Ein- 
mischung nicht  zu  und  so  bleibt  einer  der  „nicht  über- 
triebenen“ Wünsche  der  Bergleute  unerfüllt. 

Dem  Verlangen,  dass  ein  Abbrechen  vom  Gedinge  bei 
günstiger  Gestaltung  der  Arbeit  ausgeschlossen  werde,  hätte 
man  durch  die  Bestimmung  entsprochen,  dass  das  „Ab- 
reissen“  unzulässig  ist,  sobald  die  Verhältnisse,  wie  sie  bei 
der  Gedingestellung  waren,  eine  Veränderung  nicht  erfah- 
ren haben.  Statt  dessen  begnügt  man  sich  wieder  mit  der 
Arbeitsordnung  und  überlässt  es  dem  Unternehmer,  festzu- 
setzen, unter  welchen  Voraussetzungen  eine  Veränderung 
oder  Aufhebung  des  Gedinges  von  dem  einen  oder  anderen 
Vertragstheile  gefordert  werden  könne.  Wenn  nun  auch 
die  „Begründung“  auf  Seite  26  erklärt:  „die  fraglichen  Vor- 
aussetzungen dürften  vorhanden  sein,  wenn  die  örtlichen 
Verhältnisse  der  verdungenen  Arbeit  sich  wesentlich  ändern, 
und  wenn  Wasser-,  Wetter-  oder  sonstige  Gefahren  der 
Fortsetzung  der  Arbeit  in  dem  bisherigen  Umfange  ent- 
gegenstehen,“ so  gewährt  die  Novelle  keinerlei  Handhabe, 
um  dieser  Auffassung  zum  Durchbruche  zu  verhelfen. 

Die  Unklarheit  der  Lohnwirthschaft  wird  in  nicht  un- 
bedeutendem Maasse  durch  das  „Nullen“  verursacht.  Nach 
der  Denkschrift  klagten  die  Arbeiter  vornehmlich  darüber: 
„1.  dass  zu  viel  genullt  werde,  beziehungsweise  die  Strafe 
für  die  unreine  Ladung  zu  gross  sei;  2.  dass  auf  einzelnen 
Gruben  die  genullten  Wagen  lediglich  im  Interesse  des 
Arbeitgebers  Verwendung  finden,  ohne  dass  derselbe  die 
Arbeitsleistung  bezahlt;  3.  dass  den  Arbeitern  jede  Gelegen- 
heit fehle,  sich  zu  überzeugen,  ob  auch  wirklich  nur  unreine 
Wagen  genullt  werden“  (Seite  27). 

Das  Nullen  erfolgt  entweder  wegen  ungenügender 
Füllung  der  Wagenkasten  oder  wegen  Verunreinigung  der 
Förderung.  Bei  letzterer  ist  es  schwerer  zu  entbehren, 
wohl  aber  im  erstgedachten  Falle.  Es  bedarf  dazu  nur  des 
Ueberganges  von  der  Berechnung  des  Gedinges  nach 
Rauminhalt  zur  Festsetzung  desselben  nach  dem  Gewichte 
der  Förderung.  Dieser  Schritt  ist  schon  vor  Jahren  mit 
bestem  Erfolge  in  England  erfolgt.  Der  Widerspruch  der 
Bergwerksbesitzer  genügt,  um  ihn  in  Preussen  zu  verhindern. 
Nach  der  Regierungsvorlage  sollte  statt  dessen  die  Arbeits- 
ordnung die  Voraussetzungen  festsetzen,  unter  welchen 
Abzüge  wegen  ungenügender  oder  vorschriftswidriger  Ar- 
beit gemacht  werden  dürfen.  Die  Unternehmer  hätten  so 
die  Möglichkeit  behalten,  ganz  nach  ihrem  Gutdünken  An- 
ordnungen über  das  Nullen  zu  treffen.  Aber  selbst  dies 
scheint  den  Bergwerksbesitzern  schon  zu  weit  zu  gehen. 
Wenigstens  ist  nicht  zu  ersehen,  aus  welchem  Grunde  sonst 
die  Kommission  die  zahme  Bestimmung  des  § 80b  Ziffer  3 
gestrichen  hat.  Der  Unternehmer  braucht  also  nicht  einmal 
bekannt m zu  geben,  ob  er  nach  bestimmten  Grundsätzen  und 
nach  welchen  er  beim  Nullen  vorgeht,  oder  ob  von  Fall  zu 
Fall  und  nach  der  Konjunktur  sein  Verhalten  wechselt. 

Der  Beschwerde,  betreffend  die  Art  der  Verwendung 
der  genullten  Fördergefässe  wird  § 80  d Abs.  2 in  der 
Fassung  der  Kommission  gerecht.  Die  wegen  ungenügender 
oder  vorschriftswidriger  Beladung  der  Fördergefässe  der 
Arbeiter  abgezogenen  Lohnbeträge  sollen  der  Knapp- 
schafts- oder  der  Unterstützungskasse  des  Bergwerkes  über- 
wiesen werden.  Einem  weiteren  Uebelstande  sucht  § 80c 
theilweise  abzuhelfen,  indem  er  die  Ueberwachung  des 
Vorgehens  beim  Nullen  den  Arbeitern  ermöglichen  will. 
Sollen  die  Vertreter  der  Arbeiter,  die  § 80c  vorsieht,  auch 
das  Vertrauen  ihrer  Mandanten  besitzen  und  behaupten,  so 
muss  die  Verquickung  mit  den  Arbeiterausschüssen  beseitigt 
werden.  Es  ist  nur  Selbsttäuschung,  wenn  man  meint, 
dass  die  Arbeiterausschüsse  das  Vertrauen  ihrer  Genossen 


206 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  16. 


überall  besitzen.  Wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  untergräbt 
man  von  vornherein  die  Stellung  des  Arbeiterdelegirten, 
wenn  man  ihn  nicht  durch  Wahl  aus  der  Mitte  der  Arbeiter 
hervorgehen  lässt. 

Wenn  irgendwo,  dann  konnte  in  der  Frage  der  Kün- 
digung ohne  Beeinträchtigung  der  Interessen  der  Werk- 
besitzer der  Schein  der  Gleichberechtigung  gewahrt 
werden.  Nicht  einmal  dies  thut  die  Vorlage.  Die  Zahl  der 
Gründe,  aus  welchen  die  sofortige  Entlassung  eines  Ar- 
beiters erfolgen  kann,  ist  doppelt  so  gross,  als  jene,  welche 
den  Bergmann  zum  sofortigen  Austritte  aus  der  Arbeit 
berechtigen.  Und  nicht  nur  die  Quantität  ist  es,  die  unsere 
Behauptung  rechtfertigt.  Gewiss  hat  Jedermann  ein  Inter- 
esse daran,  thunlichst  mit  rechtlich  unbescholtenen  Men- 
schen in  einem  Vertragsverhältniss  zu  stehen.  Sehen  wir 
davon  ab,  dass  die  strenge  Durchführung  dieses  Grund- 
satzes zu  zahlreichen  Calamitäten,  zur  Brotlosigkeit  Vieler 
führen  musste,  die  gerichtlich  wegen  bestimmter  Delikte 
bestraft  worden  sind.  Aber  das  Eine  wird  nicht  geleugnet 
werden  können,  dass  bei  Unternehmern  und  Arbeitern  das 
Interesse  ein  gleichartiges  ist:  wie  dem  erstem,  so  muss 
auch  dem  letztem  daran  liegen,  einen  ehrlichen  Menschen 
zum  Gegenkontrahenten  zu  haben.  Die  Vorlage  ist  jedoch, 
ganz  analog  der  Gewerbeordnung,  abweichender  Ansicht. 
Dem  Werkbesitzer  bleibt  es  unbenommen,  sich  einem  un- 
angenehmen Vertragsverhältnisse  zu  entziehen,  der  Arbeiter, 
der  sich  eines  Diebstahls,  einer  Entwendung,  einer  Unter- 
schlagung oder  eines  Betruges  schuldig  macht,  kann  sofoit 
entlassen  werden.  Ihm  steht  jedoch  das  Recht  des  Aus- 
trittes im  analogen  Falle  nicht  zu,  trotzdem  dasselbe  eine 
recht  feste  materielle  Unterlage  unter  Umständen  besitzen 
kann. 

Dasselbe  was  von  gemeinen  Delikten,  gilt  vom  Falle 
des  liederlichen  Lebenswandels.  Hier  ist  in  erster  Reihe 
hervorzuheben,  dass  das  Verhalten  ausserhalb  der  Arbeit 
mit  dem  Lohnvertrage  nichts  zu  schaffen  hat.  Will  man 
aber  um  jeden  Preis  einen  Zusammenhang  herstellen,  dann 
ist  Einseitigkeit  unter  keinen  Umständen  zu  rechtfertigen. 
Ist  der  liederliche  Lebenswandel  des  Arbeiters  Grund  zur 
vorzeitigen  Auflösung  des  Vertrages,  dann  muss  es  auch 
der  des  Unternehmers  sein. 

Es  ist  einer  der  primitivsten  Rechtsgrundsätze,  dass 
die  Vertragsbedingungen  von  beiden  Vertragstheilen  genau 
eingehalten  werden  müssen  und  dass  die  Nichteinhaltung 
derselben  gewisse  Folgen  nach  sich  zieht.  Im  vorliegenden 
Falle  berechtigt  sie  den  Unternehmer  zur  sofortigen  Auf- 
lösung des  Vertrages.  Anders  den  Arbeiter,  der  nur  in  be- 
stimmten Fällen  des  Vertragsbruches  seitens  des  Gegners  zum 
Austritte  befugt  ist  und  zwar  bei  vertragswidriger  Art  der 
Lohnzahlung,  widerrechtlicher  Uebervortheilung  u.  s.  w. 
Gerade  die  wichtigsten  Vertragsbestimmungen  dürfen  vom 
Werksbesitzer  ungestraft  verletzt  werden.  Der  Sachlage 
entsprechend  wäre  es,  wenn  den  Bergleuten  der  sofortige 
Austritt  in  jedem  Falle  gestattet  würde,  in  welchem  die 
Unternehmer  „den  nach  dem  Arbeitsvertrage  ihnen  oblie- 
genden Verpflichtungen  nachzukommen  beharrlich  ver- 
weigern.“ Was  dem  Einen  recht,  ist  dem  Andern  billig! 

Auch  die  Uebertretung  einer  sicherheitspolizeilichen 
Vorschrift  kann  Grund  zur  sofortigen  Entlassung  eines  Ar- 
beiters werden,  eine  Bestimmung  die  uns  überaus  hart  zu 
sein  dünkt.  Wird  sie  einmal  aufgestellt,  dann  muss  sie  noth- 
gedrungen  ein  Analogon  im  § 83  der  Novelle  finden.  Für 
den  Fall,  dass  der  Werkbesitzer  im  Gesetzes-  oder  Verord- 
nungswege erlassene  Vorschriften  zum  Schutze  der  Arbeiter 
unausgeführt  lässt,  muss  es  den  letztem  zustehen,  ohne  Kün- 
digung die  Arbeit  zu  verlassen.  Es  geht  nicht  an,  die  Ar- 
beiter dem  Leichtsinn  und  der  Habsucht  der  Unternehmer 
wehrlos  preiszugeben.  Wenigstens  die  Möglichkeit  muss 
ihnen  gewahrt  bleiben,  bei  offenkundiger  Gesetzes  Verletzung 
und  hiedurch  herbeigeführter  Gefährdung  von  Leben  und 
Gesundheit  das  Vertragsverhältniss  als  aufgelöst  zu  be- 
trachten. Die  Regierung  hat  ebensowenig  als  die  Kom- 
mission daran  gedacht,  diesen  Grundsätzen  zur  Wirksam- 
keit zu  verhelfen. 

Vielleicht  wird  es  wenigstens  im  Abgeordneten- 


hause gelingen,  eine  sehr  gefährliche  Unklarheit  und  Un- 
bestimmtheit im  § 82  zu  beseitigen.  Es  heisst  unter  Ziffer  2 
und  6,  dass  die  Entlassung  erfolgen  kann,  wenn  sich  Jemand 
der  daselbst  erwähnten  Delikte  „schuldig  mache“.  Hier  ist 
nicht  einmal  eine  gerichtliche  Aburtheilung  zur  Voraus-  I 
Setzung  gemacht.  Durch  einseitiges  Erkenntniss  des  Berg- 
werksbesitzers oder  seiner  Beamten  kann  man  zum  Diel),  j 
Betrüger  etc.  gestempelt  werden.  Das  Eine  wenigstens 
kann  wohl  gefordert  werden,  dass  ohne  vorausgegangenes  i 
richterliches  Urtheil  die  Bedingungen  von  Ziffer  2 und  6 
des  § 82  nicht  als  erfüllt  betrachtet  werden  sollen. 

In  einer  früheren  Besprechung  der  Vorlage  wurde  be- 
reits auf  die  vollständige  Werthlosigkeit  des  Art.  V hinge- 
wiesen. Die  Kommission  des  Abgeordnetenhauses  hat  das 
ihre  dazu  beigetragen,  um  die  Situation  vollständig  zu 
klären.  In  der  bekannten  Denkschrift  fordert  der  Verein 
für  die  bergbaulichen  Interessen  im  Oberbergamtsbezirke 1 
Dortmund  gleiche  Behandlung  für  den  Bergbau  wie  für  die  I 
andern  Industriezweige.  In  sonderbarer  Inkonsequenz  wird  j 
gleichzeitig  gegen  die  Ergänzung  des  § 197  des  Berggesetzes 
Stellung  genommen,  der  ein  Analogon  im  § 120  c G.-O.  be- 
sitzt. In  diesem  Sinne  wurde  an  der  Regierungsvorlage  in 
der  Kommission  eine  Aenderung  vorgenommen,  die  nun- 
mehr jeden  Zweifel  über  Bedeutung  und  Tragweite  der 
Vorschrift  beseitigt.  Nicht  für  den  ganzen  Amtsbezirk  oder 
für  einzelne  Reviere,  sondern  nur  für  bestimmte  Betriebe 
können  Dauer,  Beginn  und  Ende  der  täglichen  Arbeitszeit 
und  die  zu  gewährenden  Pausen  vorgeschrieben  werden, 
wenn  durch  übermässige  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit 
die  Gesundheit  der  Arbeiter  gefährdet  wird.  Dies  ist  eine 
vollständige  Beiseiteschiebung  des  kaiserlichen  Erlasses 
vom  4.  Februar  1890,  in  dem  es  noch  hiess,  „dass  es  eine 
der  Aufgaben  der  Staatsgewalt  ist,  die  Zeit,  die  Dauer  und 
die  Art  der  Arbeit  so  zu  regeln,  dass  die  Erhaltung  der  Ge-!  i 
sundheit,  die  Gebote  der  Sittlichkeit,  die  wirthschaftlichen 
Bedürfnisse  der  Arbeiter  und  ihr  Anspruch  aut  gesetzlich^ 
Gleichberechtigung  gewahrt  bleiben.“  < 

Eine  der  unbegreiflichsten  Bestimmungen  ist  die  des 
Art.  III,  wonach  die  Revierbeamten  für  den  Bergbau  die 
Aufgaben  der  Inspektoren  zu  übernehmen  haben.  Die  Er- 
fahrungen eines  halben  Jahrhunderts  werden  damit  kühl 
bei  Seite  geschoben,  welche  überall  gelehrt  haben,  dass  die 
Vereinigung  von  Verwaltungs-  und  Inspektionsthätigkei', 
insbesondere  die  letztere  gefährdet  und  damit  die  Durch' 
führung  der  Arbeiterschutzbestimmungen  vom  Willen  de; 
Unternehmer  abhängig  macht.  Welche  Gründe  gegen  die 
Einrichtung  eines  besonderen  Berginspektorates  vorliegen 
ist  unerfindlich,  es  sei  denn,  dass  das  Widerstreben  der 
Bergwerksbesitzer  als  Argument  aufgefasst  werden  kann 
Was  wir  in  No.  13  des  Sozialpolitischen  Centralblatte." 
von  der  Vorlage  gesagt  haben,  müssen  wir  auch  nach  dei 
heutigen  Prüfung  wiederholen.  Die  Enttäuschung  über  den 
Gesetzentwurf  wird  überall  platzgreifen,  wo  man  von  dem-' 
selben  eine  Besserung  der  Lage  der  Bergarbeiter  erwartet 
hat.  Er  bringt  eine  solche  nicht.  „Dem  alten  Zustande  sol 
bloss  ein  neuer  Name  gegeben,  der  Willkür  der  Bergwerks- 
besitzer ein  juristisch-formelles  Gewand  umgehängt  werden.' 

Leo  Verkauf. 


Die  Bergarbeiter  und  die  preussische  Berggesetz 
novelle.  Sonntag,  den  10.  d.  M,  fanden  im  rheinisch-west I 
fälischen  Kohlenrevier  eine  grosse  Anzahl  von  Bergarbeiterl 
Versammlungen  statt,  in  welchen  diese  Betheiligten  nun. 
mehr  auch  Stellung  zu  dem  Regierungsentwurfe  eines  neuei1 
preussischen  Berggesetzes  nahmen.  Die  von  dem  sogenannter 
„alten“  Verbände,  d.  h.  von  der  grossen,  zirka  25  000  Mit 
glieder  umfassenden  und  sozialistisch  angehauchten  Bern 
arbeitervereinigung  veranstalteten  Versammlungen  nahmen  nacl 
eingehender  Besprechung  der  Novelle  nachstehende  Resolution 
an:  „In  Anbetracht  der  Thatsache,  dass  durch  die  maschi 
nelle  oder  technische  Verbesserung  des  Arbeitsprozesses  zahl 
reiche  Menschenkräfte  überflüssig  gemacht  worden,  in  weiteren 
Betracht,  dass  bei  beschleunigtem  Herstellungsprozess  an  siel 
eine  Abkürzung  der  Arbeitszeit  bedingt  sein  sollte,  und  in  end 
lichem  Anbetracht,  dass  die  Verkürzung  der  Arbeitszeit  ii 


No.  16. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


207 


gesundheitlicher,  sittlicher  und  anderer  Beziehung  eine  Hebung 
t!es  Arbeiterstandes  bedeutet,  erklärt  sich  die  heutige  Bergarbeiter- 
versammlung für  eine  mit  Ein-  und  Ausfahrt  acht  Stunden  be- 
tragende Schicht  und  ersucht  den  preussischen  Landtag,  bei 
Berathung  des  Berggesetzes  eine  diesbezügliche  Bestimmung  in 
dasselbe  aufzunehmen.“  Der  sogenannte  ,, neue“  Verband, 
d h.  die  weit  kleinere,  von  Mitgliedern  der  Centrumspartei  ge- 
gründete Bergarbeitervereinigung  brachte  in  ihren  Versamm- 
lungen, die  oft  an  demselben  Orte  tagten  wie  diejenigen  des 
grossen  Verbandes  folgende  Resolution  zur  Annahme:  ,,Die 
heutige  Versammlung  schliesst  sich  den  Bestrebungen  des 
christlich -patriotischen  Bergarbeiterverbandes  an,  spricht  dem 
Herrn  Minister  v.  Berlepsch  iür  sein  mannhaftes  Eintreten  für 
die  berechtigten  Interessen  des  Bergarbeiterverbandes  den  besten 
Dank  aus  und  bedauert  auf  das  Tiefste,  dass  durch  die  aus 
Nationalliberalen,  Freikonservativen  und  Konserv  tiven  gebildete 
Mehrheit  der  Berggesetzkommission  die  wohlwo  nden  Reform- 
vorschläge der  Regierung  in  den  wichtigsten  Punkten  eine 
Aenderung  erfahren  haben,  welche  den  so  sehnlichst  erwünschten 
sozialen  Frieden  auf  das  Bedenklichste  gefährden.  Wir  halten 
die  in  dem  Gesetzentwurf  niedergelegten  Zugeständnisse,  um 
deren  Einführung  wir  wiederholt  dringend  gebeten,  für  das 
Mindeste  von  dem,  was  die  Bergleute  beanspruchen  müssen  und 
hegen  die  bestimmte  Erwartung,  dass  das  hohe  Haus  der  Ab- 
geordneten die  Vorlage  der  Regierung  wieder  hersteilen  und 
annehmen  wird.  Sollte  wider  alles  Erwarten  letzteres  nicht  der 
Fall  sein,  so  richten  wir  die  Bitte  an  das  Herrenhaus,  einem 
Gesetzentwurf  die  Zustimmung  zu  versagen,  der  unsere  als 
berechtigt  anerkannten  Beschwerden  ignorirt  und  keinem 
dauernden  Frieden  dient.“ 

Kiinlersclmtz  in  Baden.  Die  zweite  badische  Kammer 
hat  in  der  letzten  Woche  den  Regierungsentwurf  eines 
Volksschulgesetzes  in  einer  wichtigen  Beziehung  abgeändert, 
die  nicht  ohne  ungünstigen  Einfluss  auf  den  Schutz  der  Kinder 
vor  gewerblicher  Ausnützung  wäre.  § 2 des  Gesetzes  wurde 
nach  dem  Regierungsentwurf  wie  folgt  umgeändert:  „Das 
schulpflichtige  Alter  dauert  vom  sechsten  bis  zum  vierzehnten 
Jahre.  Es  beginnt  und  endigt  um  Ostern,  gleichzeitig  mit 
dem  Anfang,  bezw.  Schluss  des  Schuljahres,  für  Knaben, 
wenn  sie  bis  zum  nächstfolgenden  30.  Juni  (einschliesslich), 
für  Mädchen,  wenn  sie  bis  zum  nächstfolgenden  31.  Dezem- 
ber (einschliesslich)  ihr  sechstes,  bezw.  vierzehntes  Lebens- 
jahr zurücklegen.  Für  Kinder,  welche  schwächlich  oder  in 
ihrer  Entwicklung  zurückgeblieben  sind,  kann  hinsichtlich 
des  Anfangtermins  ihrer  Schulpflicht  Nachsicht  ertheilt  wer- 
den. Durch  die  Bestimmung,  dass  Mädchen  schon  dann 
die  Schule  verlassen  dürfen,  wenn  sie  erst  am  Schluss  des- 
selben Kalenderjahres  ihr  14.  Lebensjahr  erreichen,  sind 
vielfach  schon  1 3 ’/j-jährige  Mädchen  nicht  mehr  schulpflichtig 
und  fallen  dann  der  Ausnützung  in  Gewerbe  und  Landwirth- 
j Schaft  frühzeitiger  anheim,  als  bisher. 

Festtage  im  Sinne  des  Arbeiterschutzgesetzes.  Das 
königlich  sächsiche  Ministerium  des  Innern  hat  in  einer,  die 
Ausführung  der  Bestimmungen  der  neuen  Gewerbeordnung 
betreffenden  Verordnung  diejenigen  Tage  bestimmt,  welche 
als  Festtage  im  Sinne  des  Gesetzes  anzusehen  sind.  Es  sind 
dies:  1.  der  Neujahrstag,  1.  Januar;  2.  das  sog.  Hohe  Neujahr, 
6.  Januar;  3.  die  Busstage  der  evangelisch-lutherischen  Lan- 
deskirche; 4.  der  Charfreitag;  5.  das  Osterfest  mit  Einschluss 
des  2.  Feiertages;  6.  das  Fest  der  Himmelfahrt;  7.  das  Pfingst- 
fest mit  Einschluss  des  2.  Feiertages;  8.  das  Reformations- 
test, 31.  Oktober;  9.  das  Weihnachtsfest,  25.  und  26.  De- 
zember. 

Sonntagsruhe  der  Automaten.  In  der  „Freisinnigen 
Zeitung“  wird  angeregt,  die  neuen  Bestimmungen  der  Sonntags- 
ruhe auf  die  Handhabung  und  Selbsthätigkeit  der  Automaten 
auzuwenden.  § 41  a der  G -O.  kann  hierbei  herangezogen  werden. 
Darnach  darf,  soweit  Gehilfen,  Lehrlinge  und  Arbeiter  im 
Handelsgewerbe  an  Sonn-  und  Festtagen  im  Handelsgewerbe 
nicht  beschäftigt  werden  dürfen,  in  offenen  Verkaufsstellen,  auch 
ein  Gewerbebetrieb  an  diesen  Tagen  nicht  stattfinden.  Auto- 
maten aber  stellen  einen  Gewerbebetrieb  in  offenen  Verkaufs- 
: stellen  dar. 

Da  die  Automaten  den  zur  Schliessung  gezwungenen  Ge- 
schäften unzweifelhaft,  wenn  auch  bisher  in  geringem  Umfange 
Konkurrenz  machen,  kann  es  im  Interesse  der  dem  Gesetze 
unterstellten  Ladeninhaber  liegen,  auch  die  Unterstellung  der 
Automaten  unter  § 41a  der  G -O.  zu  fordern. 

Trucksystem  in  Belgien.  In  Belgien  wurde  bekannt- 
lich erst  durch  Gesetz  vom  16.  August  1887,  das  am  31.  De- 
zember 1887  in  Kraft  trat,  jede  andere  Bezahlung  der  in- 
dustriellen Arbeiter  als  in  landesüblichem  Gelde  unter 
^Strafe  gestellt.  Obgleich  das  Gesetz  nun  schon  über  vier 
|Jahre  in  Kraft  ist,  so  ist  die  Bezahlung  der  Arbeiter  in 


Waaren  noch  lange  nicht  beseitigt,  das  beweisen  die  an 
einem  der  letzten  Gerichtstage  vorgekommenen  Verurthei- 
lungen  wegen  Trucks  durch  den  Strafgerichtshof  von  Ter- 
monde;  derselbe  verurtheilte  20  Fabrikanten  der  kleinen 
Stadt  Zele  zu  Geldstrafen  von  50 — 800  Frcs.  und  gleich- 
zeitig eine  grössere  Anzahl  von  Fabrikanten  von  .St.  Nicolas 
zu  Strafen  von  50  - -500  Francs. 


Gewerbeinspektion. 


Der  Ausbau  der  preussischen  Gewerbeinspektion. 

Nachdem  im  verflossenen  Etatsjahre  gemäss  der  in  dem  Dreus- 
sischen  Etat  für  das  Rechnungsjahr  1891/92  beigegebenen  Denk- 
schrift, betreffend  die  künftige  Regelung  der  Gewerbeinspek- 
tion in  der . Bezirksinstanz  17  Regierungs-  und  Gewerberäthe 
angestellt  worden  sind  und  an  einer  Anzahl  anderer  Bezirks- 
regierungen Gewerbeinspektoren  mit  der  vertretungsweisen 
Wahrnehmung  der  Stellung  der  Regierungs-  und  Gewerberäthe 
beauftragt  wurden,  hat  mit  dem  1 . April  d.  J.  die  Reorganisation 
der  Gewerbeinspektion  wiederum  einen  grossen  Schritt  vorwärts 
gethan.  Dieselbe  ist  in  der  Rheinprovinz,  den  Provinzen  West- 
falen und  Hessen-Nassau,  dem  Regierungsbezirk  Potsdam  und 
der  Stadt  Berlin  im  Wesentlichen  zur  Durchführung  gelangt. 
Alle  diese  Verwaltungsbezirke  sind  in  Gewerbe-Inspektionen 
getheilt  worden,  deren  Besetzung  mit  Gewerbeinspektoren  und 
Assistenten  am  1.  April  erfolgt  ist.  Das  Nähere  ergiebt  die 
nachstehende  Uebersicht,  in  welcher  die  bei  den  Bezfrksregie- 
rungen  angestellten  Regierungs-  und  Gewerberäthe  und  Ge- 
werbeinspektoren nicht  berücksichtigt  sind:  Die  Rheinprovinz 
hat  14  Gewerbeinspektionen  erhalten;  davon  sind  mit  je  einem 
Gewerbeinspektor  und  je  einem  Assistenten  besetzt  die  Gewerbe- 
inspektionen Koblenz,  Düsseldorf,  Duisburg,  Barmen,  Solingen, 
M -Gladbach,  Krefeld,  Köln,  Saarbrücken  und  Aachen;  nur  einen 
Gewerbeinspektor  erhielten  die  Inspektionen  Bonn,  Mülheima.  Rh., 
Trier  und  Düren.  — Auf  Westfalen  fallen  neun  Gewerbeinspek- 
tionen: mit  je  einem  Inspektor  und  je  zwei  Assistenten  die  In- 
soektionen  Iserlohn  und  Hagen,  mit  je  einem  Inspektor  und  je 
einem  Assistenten  Münster,  Bielefeld,  Bochum  und  Dortmund, 
mit  je  einem  Inspektor  Dorsten,  Minden  und  Unna.  Hessen- 
Nassau  ist  in  4 Gewerbeinspektionen  getheilt:  Kassel;  Fulda  und 
Frankfurt  a.  M.  mit  je  einem  Inspektor,  Wiesbaden  hingegen  mit 
einem  Inspektor  und  einem  Assistenten.  Der  Regierungsbezirk 
Potsdam  theilt  sich  in  4 Inspektionen.  Zwei  davon  haben  ihren 
Sitz  in  Berlin;  die  Gewerbeinspektion  zu  Berlin  I für  die  Kreise 
Teltow,  Beeskow  und  Jüterbock,  die  zu  Berlin  II  für  die  Kreise 
Ober-  und  Nieder-Barnim,  Angermünde,  Prenzlau  und  Templin, 
beide  mit  je  einem  Inspektor  und  je  einem  Assistenten.  Die 
Gewerbeinspektion  in  Potsdam,  die  sich  über  die  Stadtkreise 
Potsdam,  Brandenburg,  Spandau  und  die  Landkreise  Zauch- 
Belzig,  Ost-  und  Westhavelland  erstreckt,  hat  einen  Inspektor 
und  zwei  Assistenten;  die  vierte  Gewerbeinspektion  zu  Pritz- 
walk,  die  die  Kreise  Ruppin,  West-  und  Ost-Priegnitz  umfasst, 
verwaltet  ein  Inspektor  allein.  Die  Stadt  Berlin  endlich  ist  nach 
Polizeihauptmannschaften  in  drei  Gewerbeinspektionen,  Berlin  I., 
II.  und  III.  zerlegt,  mit  je  einem  Inspektor  und  je  einem  Assi- 
stenten. Der  den  westlichen  Theil  der  Stadt  umfassenden 
Gewerbeinspektion  Berlin  III.  ist  die  Stadt  Charlottenburg  an- 
geschlossen. Die  Weiterführung  der  Reorganisation  der  Ge- 
werbeaufsicht wird  mit  dem  nächsten  Etatsjahre  erfolgen,  in 
welchem  das  Inspektorenpersonal  um  3 Regierungsgewerberäthe, 
25  Inspektoren  und  9 Assistenten  vermehrt  werden  soll,  für  das 
Jahr  1894/95  ist  die  Ernennung  von  3 weiteren  Regierungs- 
gewerberäthen  und  27  Gewerbeinspektoren  in  Aussicht  genommen, 
so  dass  dann  Preussen  163  der  Gewerbeinspektion  sich  widmende 
Beamte  im  Dienste  haben  wird.  So  erfreulich  dieser  Ausbau  der 
Gewerbeinspektion  ist,  dem,  indess  nur  was  die  Ausdehnung 
anlangt,  kein  anderer  Staat  Gleiches  an  die  Seite  setzen  kann, 
so  sehr  ist  es  zu  bedauern,  dass  den  Inspektoren  nicht  lediglich 
die  dem  Amte  zukommende  Kontrolle  der  Durchführung  der 
Arbeiterschutzbestimmungen  und  damit  in  Beziehung  ste- 
hende sozialstatistische  Aufnahmen  übertragen,  sondern  ihnen 
auch  die  Dampfkesselkontrolle  überwiesen  wurde.  Dadurch 
wird  ihren  eigentlichen  Aufgaben  nicht  nur  viel  Zeit  und  Kraft 
geraubt,  und  die  Auswahl  der  Inspektoren  fast  ausschliesslich 
auf  Techniker  beschränkt  werden,  und,  was  nicht  unwesentlich  ist, 
die  technischen  Beamten  werden  von  der  richtigen  Auffassung 
ihres  Berufes  abgelenkt,  jedenfalls  nicht  vollständig  durch- 
drungen. So  manche  werden  die  Unfallsverhütung  als  ihre 
Hauptaufgabe  betrachten  lernen,  für  die  die  Unfallberufsgenossen- 
schaften im  eigenen  Interesse  schon  genügend  Sorge  tragen. 
Dies  gilt  vor  Allem  von  dem  Nachwuchse  der  Inspektoren,  den 
Gewerbeinspektoren  und  ihren  Assistenten,  denen  die  Dampf- 
kesselkontrolle übertragen  wird,  während  die  Regierungs-  und 
Gewerberäthe  durch  ihre  Bureauarbeiten  mehr,  als  es  gut  sein 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  16. 


208 


wird,  dem  direkten  Verkehre  mit  den  Unternehmern  und  Ar- 
beitern und  den  eigentlichen  Aufgaben  der  Inspektoren  ent- 
zogen werden  dürften.  Die  soeben  publizirte  vom  23.  März 
datirte  neue  Dienstanweisung  für  die  Gewerbeaufsichtsbeamten 
reorganisirt  die  Gewerbeaufsicht  von  Grund  aus;  neben  einer 
Reihe  von  Verbesserungen  muss  das  Verbleiben  vieler  Mängel 
konstatirt  werden.  Wir  werden  demnächst  in  eingehender  Weise 
diese  Reorganisation  beleuchten  und  dabei  zeigen  müssen,  dass 
mit  der  Vermehrung  des  Gewerbeaufsichtspersonals  allein  noch 
lange  nicht  Alles  gethan  ist,  was  die  Durchführung  der  Arbeiter- 
schutzbestimmungen zu  garantiren  vermag,  ganz  abgesehen  von 
den  anderen  Aufgaben,  die  dem  Fabrikaufsichtspersonale  ob- 
liegen. 


Arbeiterversicherung. 


Krankenkasseniiovelle  und  Hirsch-Duncker’sclie  Hilfs- 
kassen. Anfangs  ds.  Mts.  tagte  in  Berlin  eine  Versammlung 
der  Vertreter  fast  sämmtlicher  Hirsch-Duncker’scher  Ge- 
werkvereins-Hilfskassen.  Nicht  vertreten  waren  nur 
die  Hilfskassen  der  Gewerkvereine  der  Maschinenbau-  und 
Metallarbeiter,  der  Bildhauer,  der  Bergarbeiter  und  der 
Schiffszimmerer.  Den  Bericht  über  die  durch  die  neue 
Novelle  zum  Reichs  - Krankenversicherungsgesetz  vom 
15.  Juni  1883  geschaffene  Lage  der  freien  Hilfskassen  hatte 
der  Verbandsanwalt,  Reichstagsabgeordneter  Dr.  Max  Hirsch, 
übernommen.  Dieser  führte  aus,  dass  die  neue  Novelle 
schwere  Schädigungen  für  die  freien  Hilfskassen  mit  sich 
bringe,  trotzdem  habe  die  dritte  Lesung  der  Novelle  die 
Möglichkeit  des  Weiterbestehens  der  freien  Hilfskassen  mit 
der  Unterstellung  unter  § 75  des  Krankenkassengesetzes 
gegeben.  Die  Pflichten  der  freien  Kassen,  Arzt  und  Medizin 
in  natura  zu  liefern,  sei  auch  in  der  dritten  Lesung  beibe- 
halten worden.  Dagegen  wurden  den  freien  Kassen  jetzt 
auch  dieselben  Rechte  gewährt,  die  bisher  nur  die  Ge- 
meinde-Krankenkassen (§  6'a)  besessen  hätten.  Auch  liege 
eine  wesentliche  Besserung  darin,  dass  Mitgliedern,  die 
neben  der  freien  Hilfskasse  noch  einer  Zwangskasse  ange- 
hören, statt  Arzt  und  Medizin,  die  dann  von  der  Zwangs- 
kasse geliefert  werde,  wie  bisher  ein  erhöhtes  Krankengeld 
gewährt  werden  könne.  Die  Leistung  von  Arzt  und  Medizin 
würde  auch  den  freien  Kassen  nicht  unmöglich  sein.  Das 
von  der  Hilfskasse  des  Gewerkvereins  der  deutschen 
Schneider  eingeholte  Gutachten  des  praktischen  Arztes 
Dr.  Neumann  in  Potsdam  halte  einen  Satz  von  3 M.  auf 
das  Mitglied  und  Jahr  für  Arzt  und  Medizin  für  ausreichend. 
Die  Reichsstatistik  habe  ein  ähnliches  Ergebniss  gehabt; 
nach  diesem  hätten  die  Ortskrankenkassen  von  ganz  Deutsch- 
land 4,40  M.  für  Arzt  und  Medizin  auf  das  Mitglied  und 
Jahr  verbraucht.  Auch  die  Medizinalverbände  der  Gewerk- 
vereine gewährten  für  8 — 10  Pf.  wöchentlichen  Beitrag 
(4 — 5 M.  jährlich)  freien  Arzt  und  freie  Medizin.  An  diesen 
Vortrag  knüpfte  sich  eine  lebhafte  Besprechung,  in  der  die 
Ansichten  über  die  Möglichkeit  des  Weiterbestehens  der 
Kassen  auseinandergingen.  Für  Beibehaltung  der  Hilfs- 
kassen als  gleichberechtigte  Kassen  traten  namentlich  die 
Vertreter  der  Gewerkvereine  der  Schneider,  der  Fabrik- 
und  Handarbeiter,  der  Cigarren-  und  Tabakarbeiter,  der 
Tischler,  der  Kaufleute  ein,  während  die  Vertreter  der 
Hilfskassen  der  Gewerkvereine  der  Schuhmacher  und 
Lederarbeiter  und  der  Stuhlarbeiter  sich  für  Umwandlung 
der  Kassen  in  Zuschuss-Kranken-  und  Begräbnisskassen 
aussprachen.  Ein  förmlicher  Beschluss  wurde,  soweit  die 
Berichte  ersehen  lassen,  nicht  gefasst. 

Konferenz  der  Vorstände  der  eingeschriebenen 
Hilfskassen.  Die  Vorstände  der  eingeschriebenen  Hilfs- 
kassen Hamburg-Altonas  einigten  sich  in  einer  Sitzung,  die 
Kassen  als  dem  § 75  des  Gesetzes  entsprechend  aufrecht- 
zuerhalten, ein  der  Novelle  zum  Gesetze  Rechnung  tragen- 
des Statut  auszuarbeiten  und  eine  Konferenz  der  Vorstände 
der  centralisirten  Kassen  auf  den  19.  d.  M.  nach  Hamburg 
einzuberufen. 

Aus  der  Praxis  der  deutschen  Unfallversicherung.  Ein 
höchst  merkwürdiger  Bescheid  des  bayerischen  Landes-Ver- 
sicherungsamtes  wird  durch  die  Tagesblätter  bekannt.  Danach 
hat  eine  Berufsgenossenschaft  für  die  Kosten  der  Anschaffung 
einer  künstlichen  Hand  nicht  aufzukommen,  „es  kann  in  einer 


solchen  nicht  ein  Heilmittel,  sondern  nur  eine  selbstständige 
Vorrichtung  zum  Ersätze  der  dauernd  fehlenden  Hand  erblickt 
werden,  durch  welche  der  Arm  nicht  geheilt  und  sein  Zustand 
nicht  gebessert  wird,  sondern  ihm  nur  im  Interesse  des  besseren 
Aussehens  oder  der  Unterstützung  der  anderen  Hand  eine 
andere  Gestaltung  gegeben  wird.“  Durch  solche  juridische 
Tüfteleien,  die  dein  Geist  und  Zweck  sozialreformatorischer  Ge-  j 
setze  sicher  nicht  entsprechen,  können  die  letzteren  an  Sym- 
pathien bei  der  arbeitenden  Bevölkerung  wahrlich  nicht  ge- 
winnen. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Die  deutschen  Gewerbegerichtswahlen  haben  nun  fast 
überall  dort,  wo  Gewerbegerichte  eingeführt  wurden,  statt- 
gefunden. Mit  ganz  verschwindenden  Ausnahmen  sind  bei  der 
Wahl  der  Arbeitnehmer  die  Kandidaten  der  Sozialdemokratie 
durchgedrungen,  auffallenderweise  auch  in  denjenigen  Orten, 
wo  die  Arbeiter  konfessionell  organisirt  sind  und  die  Sozial- 
demokratie bei  den  Reichstagswahlen  noch  auf  starke  Gegner- 
schaft in  der  Arbeiterbevölkerung  stiess,  so  in  Aachen, 
Mühlheim  a.  Rh.,  Freiburg  in  Baden,  Passau  a.  D.  und  vielen 
anderen  Orten  Bayerns.  Selbst  in  der  Klasse  der  Arbeit- 
geber drangen  mehrfach  die  sozialdemokratischen  Listen 
durch,  so  in  Nürnberg,.  Hamburg  und  Bremen,  ausserdem 
waren  die  überaus  starken  Minoritäten  der  sozialdemokra- 
tischen Kandidaten  bei  den  Arbeitgeberwahlen,  wie  z.  B.  in 
Frankfurt  a.  M.,  sehr  bemerkenswerth,  was  auf  eine  starke 
Zuneigung  der  kleingewerblichen  Meister  zur  Sozialdemo- 
kratie schliessen  lässt. 

Der  belgische  conseil  superieur  du  truvail  (Oberster 
Arbeitsrath),  ist  durch  königliche  Erlasse,  welche  im  „Mo-, 
niteur“  vom  10.  April  veröffentlicht  wurden,  organisirt. 
worden.  Er  hat  die  Leistungen  der  verschiedenen  Sektionen 
des  conseil  de  l’industrie  et  du  travail  zusammenzufassen 
und  die  Vorarbeiten  zu  treffen  für  die  Fragen,  die  ihnen 
unterbreitet  werden  sollen.  Die  Aufgaben  der  conseils  de 
l’industrie  et  du  travail  (Gesetz  vom  16.  August  1887)  sind 
in  al.  2 des  Art.  1 folgendermassen  bestimmt:  Ihnen  fällt 

die  Aufgabe  zu,  über  die  gemeinschaftlichen  Interessen  der 
Arbeitgeber  und  Arbeiter  zu  berathen,  entstehenden  Diffe-', 
renzen  vorzubeugen  und,  wo  es  nöthig  ist,  solche  zu 
schlichten.  Geleistet  haben  diese  conseils  bis  nun  noch, 
nichts;  nach  der  Zusammensetzung  des  conseils  superieur 
ist  auch  für  die  Zukunft  kaum  viel  von  dieser  Institution  zu 
erwarten,  die  übrigens  nichts  weiteres  zu  leisten  hat,  als 
das  was  unseren  Gewerbegerichten  in  den  §§  61 — 70  facul- 
tativ  zusteht.  Ueber  die  Zusammensetzung  des  conseil  su- 
perieur  wird  in  den  königlichen  Verordnungen  bestimmt, 
dass  derselbe  aus  48  Mitgliedern  mit  vierjähriger  Mandats- 
dauer zusammengesetzt  sein  soll;  durch  je  16  von  der 
Regierung  ernannte  Mitglieder  sollen  die  Unternehmer,  die 
Arbeiter  und  die  Autoritäten  in  den  sozialen  Fragen  ver- 
treten werden.  Nach  Ablauf  der  vierjährigen  Mandatsdauer 
beabsichtigt  die  Regierung  die  Vertreter  der  Unternehmer 
und  Arbeiter  nicht  mehr  zu  ernennen,  sondern  direkt  von 
den  Interessenten  wählen  zu  lassen.  Unter  den  Vertretern 
der  Arbeiter  finden  wTir  auffallenderweise  auch  einige  Werk- 
führer, unter  den  „Autoritäten  in  den  sozialen  Fragen“ 
sehr  viele  Vertreter  der  Manchestertheorie  und  Staats- 
beamte, welche  den  Staat  in  seiner  Eigenschaft  als  Unter- 
nehmer zu  vertreten  haben.  Es  kann  somit  kaum  viel  Nütz- 
liches für  die  Entwicklung  der  Sozialreform  von  dem 
belgischen  conseil  superieur  du  travail  erhofft  werden. 

Londoner  Versöhnungsratli.  Im  Gebäude  der  Londoner 
Handelskammer  pflog  am  6.  April  der  von  derselben  gegründete 
Versöhnungsrath  eine  Berathung  mit  Vertretern  der  Gewerk- 
vereine. Die  „Allg.  Ztg.“  berichtet  hierüber:  70  Gewerkvereine 
haben  bis  jetzt  erklärt,  die  guten  Dienste  des  Rathes  bei  Lohn- 
streitigkeiten zu  benützen.  Während  des  einjährigen  Bestehens 
des  Rathes  ist  es  ihm  gelungen,  eine  stattliche  Anzahl  von 
Streitigkeiten  zu  verhüten  und  zu  schlichten.  Der  Vorsitzende, 
Boulton,  meinte  gestern  Abend,  dass  es  hoffentlich  in  Zukunft 
weder  von  Arbeitgebern  noch  von  Arbeitern  als  Zeichen  der 
Schwäche  angesehen  werde,  sich  an  den  V ersöhnungsrath  zu 
wenden.  Gut  wäre  es  jedenfalls,  wenn  der  Rath  die  Befugniss 


No.  16. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


209 


erhielte,  eidlieh  Zeugen  zu  vernehmen,  und  wenn  die  Ent- 
scheidungen nach  der  Annahme  seitens  beider  Parteien  lür 
gesetzlich  bindend  erklärt  würden.  Sir  John  Lubbock  glaubte 
dem  Rath  aus  dem  Grunde  eine  gedeihliche  Wirksamkeit  pro- 
phezeien zu  können,  weil  ebenso  viel  Arbeiter,  wie  Arbeitgeber, 
m denselben  sitzen. 


Litteratur. 


Das  Mülhauser  Arbeiterviertel,  seine  Badeanstalten  und  Wasc  h- 
küchen. Historischer  Ueberblick.  Auszug  aus  dem  Jahres- 
berichte 1891.  Industrielle  Gesellschaft  von  Mülhausen. 
Kommissionsverlag  von  C.  Detloff’s  Buchhandlung.  Mül- 
hausen i.  E.  1891.  39  S.  Tafel  1 — III  Preis  1,60  M. 

Würde  die  vorliegende  Broschüre  nichts  als  die  bis  zum 
Ueberdrusse  wiederholte,  einseitig  dargestellte  Entstehungs- 
geschichte des  Mülhauser  Arbeiterquartieres  enthalten,  fürwahr, 
wir  würden  es  dann  nicht  auf  uns  nehmen,  an  dieser  Stelle  eine 
über  den  Spruch  Ben  Akiba’s  hinausgehende  Anzeige  derselben 
zu  liefern.  Neben  der  herkömmlichen  Erzählung  bietet  sie  indess 
auch  das  offene  Geständniss,  dass  die  mit  der  Cite  ouvriere  ver- 
suchte Lösung  der  Arbeiterwohnungsfrage  missglückt  ist.  Die 
diesbezüglichen  Ausführungen,  die  übrigens  wörtlich  aus  der 
„Zehnjährigen  Erhebung  über  die  gemeinnützigen  Einrichtungen 
des  Ober-Elsass,  der  Industriellen  Gesellschaft  durch  ihr  Komitee 
für  gemeinnützige  Zwecke  vorgelegt“  Mülhausen  1890,  S.  45  u.  ff. 
herübergenommen  worden  sind,  stimmen  nun  ganz  mit  dem 
überein,  was  ich  vor  Jahren  in  meinem  Buche  über  die  ober- 
elsässische  Baumwollindustrie  ausgeführt  habe.  Es  wird  zuge- 
geben, dass  die  Arbeiter,  welche  Eigenthümer  der  Häuser  ge- 
worden sind,  das  Eigenthum  nicht  so  sehr  durch  Lohnersparnisse, 
als  durch  Aftervermiethung  und  somit  durch  Ausbeutung  der 
Mülhauser  Wohnungsnoth  errungen  haben.  Es  wird  zugegeben, 
dass  die  Häuser  nunmehr  bereits  vielfach  in  den  Besitz  von 
Spekulanten  gerathen  sind.  Es  wird  zugegeben,  dass  die  Woh- 
nungsdichtigkeit im  Arbeiterquartiere  um  50%  zu  hoch  ist.  Es 
wird  zugegeben,  dass  auch  die  bautechnische  Anlage  nicht  ent- 
sprochen  hat,  und  daher  die  ursprüngliche  Form  des  Citehauses 
durch  alle  möglichen  und  unmöglichen  Zubauten  verunstaltet 
worden  ist.  „Aber  die  Käufer,  welche  immer  eilig  sind,  sich 
ihrer  Schuld  zu  entledigen,  strebten  zu  oft,  durch  Vermiethen 
j eines  Zimmers  oder  einer  kleinen  Wohnung  sich  Einkünfte  zu 
verschaffen;  daher  rühren  alle  diese  verschrobenen  Anbauten, 
welche  die  Gesellschaft  nicht  zu  verhindern  vermochte,  und  dem 
aus  Häusern  ohne  Stockwerk  bestehenden  Theile  der  Arbeiter- 
stadt ein  so  wunderliches  und  oft  unästhetisches  Aussehen  ver- 
leihen. Als  der  Arbeiter  einmal  diesen  Weg  eingeschlagen  hatte, 
j sah  er  ein,  dass  das  Haus  mit  Stockwerk  sich  zu  seinem  Han- 
del (!)  besser  eignete  und  verlangte  nur  noch  solche  Häuser.  Es 
wurde  die  Genugthuung  verschafft  etc.“  Es  wird  weiter  zuge- 
geben, dass  die  Gesellschaft  die  „grosse  Idee“,  welche  sie  zur 
Ausführung  bringen  wollte,  besser  erreicht  hätte,  wenn  sie  Eigen- 
thümerin  der  Häuser  geblieben  wäre  und  letztere  blos  vermiethet 
hätte.  Zur  Entschuldigung  der  immer  noch  weiter  befolgten 
alten  Methode  werden  nur  die  Fragen  aufgeworfen:  „Wie  kann 
man  aber  zur  Liquidation  einer  Gesellschaft  schreiten,  die  nicht 
realisirt?  Und  womit  dieses  moralisch  anregende  Mittel  zur 
Sparsamkeit,  welches  jeden  Besitzer  des  kleinsten  Erdfleckens 
beseelt,  ersetzen?  Auf  dem  Lande  besitzt  Jeder,  in  Ermangelung 
eines  Hauses  einen  Acker,  den  er  ausnutzt,  eine  Kuh,  eine  Ziege”, 
Hühner,  welche  ihm  eigen  sind  und  an  welchen  er  seine  Freude 
hat,  nehmt  in  der  Stadt  dem  Arbeiter  sein  Haus,  so  bleibt  ihm 
Nichts  übrig,  als  das  Wirthshaus  und  die  Vergnügungslust.“ 

Wirklich?  Ist  das  der  schliessliche  Erfolg  der  berühmten 
„Wohlfahrtseinrichtungen“  Mülhausens  und  der  Lösung  der  Ar- 
beiterfrage durch  die  'Arbeitgeber  ? Uebrigens  liegen  die  Dinge 
nach  unserer  Kenntniss  der  Verhältnisse  denn  doch  nicht  ganz 
so  schlimm.  Auch  in  Mülhausen  gibt  es  Arbeiter  — und  ihre 
Zahl  ist  in  erfreulicher  Zunahme  begriffen  — welche  ihre  paar 
überschüssigen  Groschen,  auch  wenn  sie  keine  Hausraten  zu 
zahlen  haben  oder  Ziegen  und  Hühner  besitzen,  noch  lange  nicht 
im  Wirthshause  oder  für  niedrige  Vergnügungen  vergeuden, 
sondern  dieselben  vielmehr  zur  Förderung  ihrer  Bildung,  zur 
geistigen  und  wirthschaftlichen  Emancipation  ihrer  Klasse  be- 
stimmen.— Bemerkenswerth  sind  die  der  Broschüre  beigefügten 
sehr  genauen  Pläne  der  Arbeiterhäuser  und  der  Arbeiterstaclt. 
Freiburg  i.  B.  H.  Herkner. 

Lux,  Dr.  H.,  Die  Prostitution,  ihre  Ursachen,  ihre  Folgen  und 
ihre  Bekämpfung.  (Berliner  Arbeiter-Bibliothek,  herausge- 
| geben  von  Max  Schippel.  III.  Serie,  4.  Heft.)  Berlin  1892. 
Verlagsbuchhandlung  des  „Vorwärts“. 

Wer  den  Standpunkt  der  Sozialdemokratie  in  der  Prosti- 
I tutionsfrage  kennen  lernen  will,  muss  dieses  Schriftchen  lesen, 

Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Brau 

I 


in  dem  in  geschickter  Weise  die  leicht  zugängliche  Literatur 
verarbeitet  wird.  Die  Brochure  zeichnet  sich  durch  frischen 
Ton  und  geschickten  Aufbau  aus.  Die  Unmasse  zum  Theil  leicht 
vermeidlicher  Fremdwörter  berührt  auch  den  Leser  unangenehm, 
der  das  Fremdwörterverzeichniss,  das  dem  Schriftchen  vorgesetzt 
ist,  nicht  benöthigt. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Men  ger,  Dr.  Anton,  Professor  an  der  Universität  Wien,  Das 
Recht  auf  den  vollen  Arbeitsertrag  in  geschicht- 
licher Darstellung.  Zweite  verbesserte  Auflage.  Stutt- 
gart, 1891,  J.  G.  Cotta’s  Nachfolger.  8°.  X und  178  S. 

Morf.  Rudolf,  Adjunkt  des  schweizerischen  Arbeitersekretariats, 
Die  Verkürzung  der  täglichen  Arbeitszeit.  Ihre 
Ursachen,  Wirkungen  und  Folgen.  Erfahrungen  und  Ur- 
theile  von  Geschäftsleuten.  Populäre  Darstellung.  Zürich 
1892,  Buchhandlung  des  schweizerischen  Grütlivereins.  8°. 
32  S. 

Pliilippovich.  Dr.  Eugen  von,  Professor  an  der  Universität  Frei- 
burg, Wirthschaftlicher  Fortschritt  und  Kulturent- 
wicklung. Freiburg  i.  B.,  1892,  J.  C.  B.  Mohr  8°.  56  S. 

Preussisclie  Ausführungs-Anweisung  zum  Reichs-Gesetz  vom 

I.  Juni  1891  betreffend  Abänderung  der  Gewerbeordnung. 
Charlottenburg,  Fr.  Kortkampf  gr.  8°.  52  S. 

Sassen,  Armand  P.  Th.,  Directeur  der  Bank.  Rijkspostspaarbank. 
Statistisch-Historisch  Overzicht,  betrekkelijk  het 
eerste  tienjarig  tijdvak  van  haar  bestaan  (1.  April 
1881  bis  1.  April”  1891).  Franeker  F.  Kosma  ohne  Jahr. 
Folio.  IV,  Tabellen  A-V,  23  S.  und  ein  Diagramm. 

Extrait  du  rapport  ä la  reine-regente  concernant 

le  Service  de  la  caisse  d’epargne  postale  des  pays- 
bas  en  1890.  Franeker  F.  Kosma  ohne  Jahr  4°.  9 S. 

Schiffner,  Dr.  Ludwig,  Professor  an  der  Universität  Innsbruck, 
Die  geplanten  Höfebücher  für  Deutschtirol.  Berlin 
1892,  C.  Heymanns  Verlag.  81.  VIII  und  76  S. 

Schmollet’.  Gustav,  Lieber  die  Entwicklung  des  Gross- 
betriebes und  die  soziale  K lass enbil düng  (S.-A.  aus 
den  „Preussischen  Jahrbüchern“  Band  69  Heft  4 :.  Berlin, 
Georg  Reimer,  1892.  8".  457—480  S. 

Scott,  Jean  Thomson  B.  A.  The  conditio  ns  of  female 
Labotir  in  Ontario.  (Toronto  University  Studies  in  Poli- 
tical Science  W J.  Ashley,  Editor.  First  Series  No.  III.) 
Toronto,  Warwick  & Sons  1891.  4°.  31  S. 

Steinert,  D,  Hamburgischer  Fabrik-Inspektor,  Neue  Normen 
zur  Benutzung  b e i A u f s t e 1 1 u n g v o n Arbeitsordnun- 
gen (Fabrik- Ordnungen)  in  Gemäss  heit  des  Ge- 
setzes vom  I.Juni  1891  betreffend  Abänderung  der 
Gewerbeordnung  (Arbeiterschutzgesetz).  Hamburg 
1892,  L.  Friedrichsen  & Co.  8n.  48  S. 

Verslagen  aan  de  Konigin-Weduwe,  Regentes  van  het  Konin- 
krijk  bet  rekkelijk  den  dienst  der  Posterijen,  der  Ryks- 
postspaai  bank  en  der  Telegraphen  in  Nederland,  iS90. 

II.  Rijkspostspaarbank,  ’S-Gravenhage,  1889,  Gebroders 
van  Cleet.  4".  89  S.  und  7 Diagramme. 

Voltz,  Dr.  H.,  Statistik  der  Ober.schlesischen  Berg-  und 
Hüttenwerke  für  das  Jahr  1891.  Herausgegeben  vom 
Oberschlesischen  berg-  und  hüttenmännischen  Verein.  Zu- 
sammengestellt und  bearbeitet  von  dem  Geschäftsführer  des 
Vereins.  Kattowitz  1892,  Selbstverlag.  4".  84  S. 

Wagner,  Adolf,  Grundbesitz.  (Sonderabdruck  aus  dem  Hand- 
wörterbuch der  Staatswissenschaften,  herausgegeben  von 
Conrad,  Elster,  Lexis,  Loening.  IV.  Band.)  Jena  1892j  G.  Fischer. 
80.  S.  112—139. 

Zacharias,  Dr.  Otto,  Die  Bevölkerungsfrage  in  ihrer  Be- 
ziehung zu  den  sozialen  Nothständen  der  Gegen- 
wart. Fünfte  vom  Verfasser  revidirte  Auflage.  Jena  1892. 
Ferd.  Mauke’s  Verlag.  VI  und  76  S. 

Zweigert,  Erich.  Einkommensteuer-Gesetz  vom  24.  Juni 
1891  nebst  Ausführungsanweisung  des  Finanz- 
ministers vom  5.  August  1891.  Textausgabe  mit  Ein- 
leitung, Anmerkungen,  Sachregister  und  einem  Anhang,  ent- 
haltend die  Gesetze  betr.  Erwerbung  und  Verlust  der 
Bundes-  und  Staatsangehörigkeit,  das  Nothkommunalsteuer- 
Gesetz,  das  Wahlgesetz  und  der  Steuertarif.  Zweite  umge- 
arbeitete und  vervollständigte  Auflage.  Essen,  Bädecker 
1892.  80.  12  und  460  S. 


n in  Berlin.  — Druck  von  II.  S.  Hermann  in  Berlin. 


i 


210 


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No.  16. 


Verlag  von  Leonhard  Simion,  Berlin  SW.,  W ilhelmstrasse  121 

Volkswirtschaftliche  Zeitfragen, 

Vorträge  und  Abhandlungen 

herausgegeben  von 

der  Volkswirtschaftlichen  Gesellschaft  in  Berlin 

und 

der  ständigen  Deputation  des  Kongresses  Deutscher  Volkswirte. 

Jährlich  erscheinen  8 Hefte  stim  Abonnententspreise  von  6 Mark. 
Einzelpreis  für  jedes  Heft  i Mark. 

Demnächst  erscheinen: 

Die  amtliche  Statistik 

und 

die  Arbeiterfrage  im  Deutschen  Reich. 

Von 

Dr.  E.  Hirschberg. 


Der  gegenwärtige  Stand  der  Elektrotechnik 

und 


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im 

bcutfdjen  pt'cdjölct*-(öcn»n*iic. 

(Sine  gutamuieitftellung  ftatiftif djei-  (Srljebmiqen 
aus  83  (Stabten  ©eiitfdjianbS,  über  bie  ßüljue, 
Slrbeitöjeit,  Sitter,  Ä'ranftjeit,  SlrbeitSIofigfeit 
bev  Arbeiter,  ob  biefelben  (Sotbnt  waren,  wie 
bie  Strbeitöräume,  2Berf3enqe  befdjasjfen,  welche 
Skalieren  oertreten  tinb  itfro. 

s4$rct$  50  ^ffj.  pro  (fircntplar. 

Siertac;  non  21).  Seipart  ,,gadBtg.  f.  laecfielcr" 
£amburg=St.  ©corg,  Stil  ber  .(toppet  79. 

^Utgufi  (Tvnmvdmautt, 

IfPas  I;at  ber  lanbmamt  uon  ber 
^ojialbcmokralie  jtt  erwarten? 

tßreiö  25  SJJf.,  20  (S^cmplarc  für  5 SM«,  lOOßjrpl. 
für  15  3JL,  100t)  6jpl.  für  10J  3«. 

£cr  2bctüogiid)c  eitcvntur=ilci«d)t  Mjreibt:  ,,©tc 
allgemeine  Verbreitung  Öicfcr  iBrufduirc  ift 
llödn't  luitlifdicnsiucrt.  fVI)  vntc  bcn  Herren  Slmts- 
briiberu,  fie  m läiitoltiijcu  äJcviammlmiflcn  3111-  Slerlepuui 
1111b  Söefprcdjiuig  311  bringen  mi®  »evfpvcdjc  bcnioit  guten  I 
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ihre  Bedeutung  für  das  Wirtlischaftsleben. 

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Meyer,  l>r.  lluclolf.  Oer  Emancipationskampf  des  Vierten  Standes,  l’d.  I.  2.  Aufl.  1882.  532  S.  gr.  8 

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land. — Schulze.  — Lassale.  — Marx.  — Die  Gewerkvereine.  — Die  Socialconservativen.  — Die  Arbeiter- 
presse. — Stellung  der  Regierungen  zu  den  socialen  Parteien.  — 

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handlungen von  Dr.  Rudolf  Meyer.  1883.  632  S.  gr.  s°.  16  Mark. 

A.  Sartorius  Frlir.  v.  H’altershausen.  Die  nordamerikan.  Gewerkschaften  unter  d.  Einilus»  der 
fortschreitenden  Productionstechnik.  1886.  352  S.  gr.  8°.  7 Mark  60  Pf. 

Derselbe.  Der  moderne  Socialismus  in  den  Vereinigten  Staaten  v.  Amerika.  1890.  422  s gr.  8°.  8 Mark. 
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Andrassy,  Geza  und  Imre  Szechenyi,  Ernst  Hoyos,  Baron  G.  Gudenus  und  Dr.  Rudolf  Meyer 
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Rodbertus-Jagetzow.  Zur  Erklärung  und  Abhilfe  der  heutigen  Creditnoth  des  Grundbesitzes. 
2 Thle.  1868.  544  S.  kl.  8°.  6 Mark. 

Zeller,  .T.  Zur  Erkenntniss  unserer  staatswirtlisehaftlichen  Zustände.  2-  Aufl.  mit  Anhg. : Rodhertus- 
Jagetzow.  Die  soziale  Bedeutung  der  Staatsvirthschaft.  Erster  sozialer  Brief  an  von  Kirchmann.  Der 
Normalarbeitstag.  1885.  305  S.  gr.  8°.  6 Mark. 

Knies,  C.  O.  Ad.  Die  Statistik  als  selbstständige  Wissenschaft.  1850.  175  S.  kl.  8°.  2 Mark  25  Pf. 

(Parthieartikel.  Vorräthe  nur  noch  gering.) 


TI,  (ButtEnlag,  3)erlaqsbud)I)anblitng  in  ^Berlin. 

Unmittelbar  und)  (Smanatiou  bev  Sonette  31111t  $ranfenoerfid)erung§gefel$  erfdjeint  bie  oolfftnnbig 
umgearbeitete  9fu§gabc  uoit: 

Ärnnfcuunftdinuupgcfc^ 

lumt  15.  Hunt  1888, 
in  bev  ftaffuttg  ber  92  o Helle  Hon  1892. 

2 e jt-StiiSg ab e mit  2tnnterf  ungen 

non 

(£.  xunt  IDdrMUc, 

Mai).  6>ef).  Dber'DlegieniitgSdftatf),  uortv.  Staff)  int  9(eid)§amt  beo  gniievtt. 

liierte  günjlid)  umgearbeitete  2luflage. 

Safdjenfonnat  rarlomttrt 
tyret*  cn.  2 mt 


Sie  ieitbeiii  biefed  (Sntiuurfed  ift  noruefpm 
lid)  batjin  gerietet,  bie  ©treitigfeiteu  3ioifd)eit 
Slrbeitgebern  imb  älrbeitnetjmevu  311  uertjüteu, : 
bie  2lrbeit<3uerl)ältmffe  fatiber  imb  bauerljaftev 
311  geftalten  imb  tjierburd)  3111:  .(peiftetimig  bes 
fo^iafeu  griebeitd  beantragen. 

©bnarb  ^Joljl'd  Verlag  in  SDiündjcit. 


y).  j|.  Btth’l'die  ©etlagsbuddianMnng 
' (Dshav  Brri?)  in  Ulümfitn. 

3u  nuferem  Verlage  ift  erfdjieuen: 

Bdtnltl;ess\,-,c,fl?^rc.: 

Piene  golge.  Siebente"?  3al)rqamv 
1891.  (©er  gangen  9iei()e  XXXII.  SÖaitb.n 
^erauägegebeit  Lioit  §an»  ©elbriitf,  a.  u.  ißro»' 
feffor  an  ber  Uuiöevfität  Serlitt  1111b  9JIit= 
glieb  bed  3ieid)‘Jtagd.  22  Sogen,  ©eljeftet 
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©clbritcfö  (V>  c i d > i ch  t ü f a 1 c n f c r mir®  bis  auf  mciterco 
,u  ®cnt  ermäßigten  "p  reife  »on  80  9Mf.  geliefert. 

genier: 

Dr.  ID.  Getier, 

groiit).  tjeff.  SRegievmtgävat:  Rn; |tdjCnUHIW 

aElVi;,  iwiit  22.  Juni  188ÜK  Bmeite 
h o 1 1 ft  ä it  b i g umgearbeitete  Sluflagei 
mit  einem  §liil)ang,  bie  fßollsugdbefaiutt«  I 
liiadjungen  bei  SuitbeöratS  entljaltenb. 
Mart,  l 93f.  80 

B-tg  BrhEttEvldtnhm-'h'l;!  f ü r bas 
beutfepe  dfetd)  uom  1.  Suni  1891  (DiüUelle 
3u  Sit.  VII  ber  ©emerbeorbititng).  iept= 
audgabe  mit  (Einleitung,  erläuternbeu  Slii= 
merfitngen  imb  Sliegifter.  8V2  Sog.  itnrt. 

1 3)1.  20  5ßf. 


Hugo  Frankel, 

Antiquariat  fürRechts-u. Staatswissenschaft, 

Berlin  N.  24,  Elsasserstr.  36, 

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I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  25.  April  1892. 


Nummer  17. 


SOZIALPOLITISCHES 


C E NTRALBL 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
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in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltenc 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Eine  moderne  Arbeiter-Pro- 
d 11  ktivgenosse  n schaft.  Von 
Prof.  Dr.  Heinrich  II  er  kn  er. 
Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik : 

Der  3. evangelisch-soziale  Kongress. 

Die  deutsche  Kommission  für 
Arbeiterstatistik. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Schweizerischer  Gewerkschafts- 
Kongress. 

Die  schweizerische  Reservekasse. 

Zahl  der  Lohnkämpfe  in  der 
Schweiz. 

Der  Pariser  Gemeinderath  und  die 
neue  Arbeitsbörse. 

Die  Pariser  Omnibusgesellschaft. 
Unternehmerverbände: 

Westphälisches  Kokessyndikat. 

Produktionskartelle  der  Brtixer 
Kohlenwerke. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Der  französische  Senat  und  die 
Beschränkung  der  Arbeitszeit. 
Von  Leo  Frankel. 

Möglichkeit  des  Maximalarbeits- 
tages in  der  deutschen  Industrie. 

Preussische  Polizeiverordnung  über  j 


die  äussere  Heilighaltung  der 
Sonn-  und  Festtage. 

Sonntagsruhe  für  deutsche  Bahn- 
arbeiter. 

Arbeiterschutz  für  diePIausindustrie. 

Arbeiterversicherung: 

Die  Konferenz  der  eingeschriebenen 
Hilfskassen. 

Infektiöse  Krankheiten  und  die 
österreichische  Krankenversiche- 
rung. 

Zur  organisatorischen  Reform  der 
deutschen  Arbeiter  Versicherung. 

Krankenversicherung  der  Dienst- 
boten in  Baden. 

Bestrebungen  zur  Abschaffung  des 
Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rungsgesetzes. 

Gewerbegerichte : 

Rechtsmittel  gegen  die  Entschei- 
dungen der  Gewerbegerichte. 
Wohnungszustände  und  W0I1- 
mmgsgesetzgebung : 

Wohnungs-  und  Haushaltsverhält- 
nisse der  Stadt  Plalle  a.  S. 

Wohnungszustände  in  Worms. 

Litteratur: 

Allgemeiner  Schweiz.er  Gewerk- 
schaftsbund. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 

f Bpr  \ v 

Eine  moderne  Arbeiter-Produktiv- 
genossenschaft. 

Am  5.  Februar  d.  J.  sind  vor  der  Königlichen  Arbeits- 
kommission in  London  über  die  Verhältnisse  einer  Schuh- 
waaren-Produktivgenossenschaft  von  deren  Geschäftsführer 
Aussagen1)  abgegeben  worden,  die  uns  der  Beachtung 
weiterer  Kreise  werth  zu  sein  scheinen. 

Die  Antheile  der  genannten  Genossenschaft,  der 
»Kettering  Cooperative  Boot  and  Shoe  Manufacturers’ 
Society“,  lauten  aut  1 Lstr.  Jeder  von  der  Genossenschaft 
beschäftigte  Arbeiter  muss  mindestens  5 Antheile  erwerben. 
Niemand  darf  mehr  als  25  besitzen.  Das  gesammte  Antheils- 
kapital  beträgt  2582  Lstr.  Hiervon  gehören  ungefähr 
1500  Lstr.  den  100  von  der  Genossenschaft  beschäftigten 
Arbeitern.  Im  Ganzen  giebt  es  300  Antheilseigner.  Es 
arbeitet  also  nur  ein  Drittel  in  der  Genossenschaft.  Da 

Labour  Commission.  Minutes  of  Evidence.  Group  C. 
Lighteenth  day.  London.  Eyre  and  Spottiswoode.  1892. 


aber  die  200  nicht  in  der  Genossenschaft  arbeitenden  An- 
theilseigner insgesammt  nur  über  etwas  mehr  als  1000  Lstr. 
verfügen,  ergiebt  sich,  dass  die  arbeitenden  Genossen- 
schafter öfters  den  erlaubten  Maximalbetrag  der  Antheile 
erreichen  mögen,  während  die  nicht  für  die  Genossenschaft 
arbeitenden  Mitglieder  sich  mit  dem  Minimalbetrage  be- 
gnügen. Indess  auch  die  nicht  von  der  Genossenschaft  be- 
schäftigten Mitglieder  gehören  der  Arbeiterklasse  an. 

Die  arbeitenden  Genossenschafter  erhalten  den  von 
dem  Gewerkverein  festgestellten  Lohnsatz.  Ist  man  bezüg- 
lich eines  neuen  Artikels  über  denselben  im  Zweifel,  so 
giebt  der  Präsident  des  Gewerkvereins  den  Ausschlag. 
Die  Arbeitszeit  beträgt  54  Stunden  pro  Woche.  Jeder 
Arbeiter  muss,  wie  bereits  bemerkt,  auch  Antheilseigner 
sein.  Um  nun  auch  Arbeitern  den  Eintritt  zu  ermöglichen, 
welche  noch  nicht  5 Lstr.  besitzen,  wird  von  eintretenden 
Arbeitern  zunächst  nur  ein  Eintrittsgeld  von  1 sh.  6 d.  ver- 
langt. Dieselben  müssen  sich  aber  für  5 Lstr.  der  Genossen- 
schaft gegenüber  verpflichten.  Der  Betrag  wird  allmählig 
durch  die  auf  die  Arbeiter  entfallende  und  später  noch  ein- 
gehender zu  besprechende  Gewinnbetheiligung  angesammelt. 
Die  Arbeiter  arbeiten  tbeils  in  der  Genossenschaftsfabrik, 
theils  in  ihrer  eigenen  Wohnung.  Auch  Arbeiterinnen  ge- 
hören mit  völlig  gleichen  Rechten  der  Unternehmung  an. 

Die  Leitung  der  Genossenschaft  ist  einem  Präsidenten, 
einem  Geschäftsführer  und  Sekretär,  einem  Schatzmeister 
und  12  Ausschussmitgliedern  übertragen.  Alle  Direktions- 
mitglieder werden  jährlich  von  den  Antheilseignern  neu 
gewählt  und  erhalten  mit  Ausnahme  des  Geschäftsführers, 
keinen  festen  Gehalt,  sondern  nur  eine  überaus  niedrig  be- 
messene Tantieme  (5%)  vom  Reingewinne,  d.  h.  nicht  jedes 
Direktionsmitglied  erhält  5 %i  sondern  insgesammt  unter  die 
ganze  Direktion  werden  nur  5 % des  Reingewinnes  ver- 
theilt. Die  eigentliche  Seele  des  Geschäftes  dürfte  der  Ge- 
schäftsführer sein.  Er  war  früher  selbst  Schuhwaaren- 
arbeiter  und  hatte  mit  kaufmännischen  Angelegenheiten 
nichts  zu  schaffen.  Trotzdem  scheint  ihm  die  Geschäfts- 
führung keinerlei  Schwierigkeiten  zu  bereiten.  Jedenfalls 
sind  die  Erfolge  glänzende.  So  hatte  die  Genossenschaft, 
die  erst  vor  2 '/2  Jahren  begründet  worden  ist,  im  ersten 
Halbjahre  einen  Lfmsatz  von  1 700  Lstr.,  im  letzten  bereits 
einen  solchen  von  7222  Lstr.  Der  erzielte  Gewinn  belief 
sich  auf  33  % des  eingezahlten  Kapitales.  Der  Grund  dieses 
auffallenden  Gedeihens  dürfte,  abgesehen  von  der  augen- 
scheinlich grossen  moralischen  Tüchtigkeit  dieser  Genossen- 
schafter, in  folgenden  Umständen  zu  suchen  sein.  Die  Ge- 
nossenschaft verkauft  ihre  Produkte  nicht  auf  offenem 
Markte,  sondern  sie  liefert  lediglich  an  Arbeiterkonsumver- 
eine; besitzt  also  durchaus  sichere,  zahlungsfähige  Kunden 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


mit  ziemlich  normalen  Bedürfnissen.  Der  ganze  Geschäfts- 
verkehr erfolgt  ferner  gegen  unmittelbare  Baarzahlung. 
Regeln  die  Abnehmer  nicht  innerhalb  zwei  Wochen  ihre 
Rechnung,  so  verlieren  sie  die  sonst  nach  Massgabe  der 
Einkäufe  zu  gewährende,  ansehnliche  Prämie.  Diese  Ge- 
pflogenheit setzt  dann  auch  die  Genossenschaft  in  den  Stand, 
immer  gegen  baar  einzukaufen  und  der  damit  verknüpften 
Vortheile  theilhaftig  zu  werden.  Die  Genossenschaft  hält 
für  den  Verkehr  mit  den  Kunden  auch  zwei  Reisende,  eben- 
falls Arbeiter.  Die  Reisespesen  sind  ziemlich  niedrig: 

78  Lstr.  in  einem  Halbjahre  für  beide. 

Besonderes  Interesse  verdient  die  Art  und  Weise,  in 
welcher  der  Gewinn  vertheilt  wird.  Zunächst  erhalten  die 
Antheilseigner  eine  5 prozentige  Verzinsung  ihres  einge- 
zahlten Kapitals.  Sodann  werden  die  nothwendigen  Air- 
schreibungen für  Abnutzung  der  Gebäude,  der  Maschinen 
u.  s.  w.  vorgenommen.  Von  dem  noch  verbleibenden  Reste 
erhalten  40  % die  Arbeiter  nach  Massgabe  des  verdienten 
Lohnes,  40  % die  Kunden  nach  Massgabe  ihrer  Einkäufe. 
So  empfingen  die  Arbeiter  pro  I Lstr.  Lohn  1 sh.  6 d.,  die 
Kunden  pro  1 Lstr.  Einkäufe  4 d.  Es  verbleiben  also  noch 
20  % des  Reingewinnes.  Diese  werden  in  der  Weise  ver- 
theilt, dass  7 1/2  % dem  Antheilskapital,  2'/2  % der  Propa- 
ganda für  Genossenschaftswesen  und  gemeinnützige  Zwecke, 
5%  einem  Unterstützungsfond  für  Mitglieder  und  5%  als 
Tantieme  an  die  Direktion  zugewendet  werden. 

Schwierigkeiten  und  Zwistigkeiten  zwischen  der 
Leitung  und  den  Arbeitern  haben  sich  bis  jetzt  nicht  er- 
geben. Es  herrscht  das  beste  Einvernehmen.  Wohl  aber 
sind  die  Arbeiter  sehr  darauf  bedacht,  nur  durchaus 
tüchtige  und  bewährte  Genossen  in  den  Vorstand  zu 
wählen.  Bei  dem  grossen  Interesse,  das  namentlich  die 
arbeitenden  Mitglieder  der  Genossenschaft  an  deren  Ge- 
deihen haben,  wird  die  Arbeit  vorzüglich  ausgeführt.  Bei 
der  Aufnahme  werden  Mitglieder  des  Gewerkvereins  be- 
vorzugt. Insofern  Genossenschafter  dem  Gewerkverein 
noch  nicht  angehören,  werden  sie  vom  Vorstände  zum  Ein- 
tritt in  denselben  aufgefordert. 

Eine  der  hier  geschilderten  ganz  ähnliche  Produktiv- 
genossenschaft besteht  auch  und  zwar  schon  seit  6 Jahren 
in  Leicester  mit  demselben  Erfolge.  Die  Ketteringgenossen- 
schaft arbeitet  nur  Herrenschuhe,  die  letztere  ausschliess- 
lich Damenschuhe. 

Was  diesen  modernen  Typus  der  englischen  Pro- 
duktivgenossenschaft von  den  älteren  Gründungen  unter- 
scheidet, das  ist  die  Sorgfalt,  mit  welcher  hier  darnach  ge- 
strebt wird,  eine  kapitalistische  Entartung  des  Unternehmens 
hintan  zu  halten.  Das  Kapital  erhält  zwar  eine  feste  Ver- 
zinsung, aber  nur  eine  sehr  mässige  Gewinnbetheiligung, 
der  Gewinn  kommt  hauptsächlich  den  Arbeitern  und  den 
Konsumenten,  die  ja  auch  Arbeiter  sind,  zu  statten,  kein 
Mitglied  darf  mehr  wie  25  Antheile  besitzen,  und  jeder 
Arbeiter,  der  von  der  Genossenschaft  beschäftigt  v'ird,  muss 
Antheile  erwerben. 

Der  Geschäftsführer  der  Genossenschaft  erklärte  vor 
der  Untersuchungskommission,  dass  dieses  System  einer 
weiten  Verbreitung  fähig  sei  und  schliesslich  zur  Lösung 
des  Arbeitsproblems  führen  müsse. 

Wir  sind  in  Bezug  auf  den  letztgenannten  Punkt 
skeptischer  gestimmt.  Glauben  wir  also  auch  nicht  daran, 
dass  diese  Entwicklung  den  Weg  schlechthin  bedeute, 
so  halten  wir  es  doch  für  einen  der  Wege,  auf  denen  die 
allmälige  Befreiung  der  Arbeit  gefördert  werden  kann. 
Abgesehen  von  den  nicht  zu  unterschätzenden  wirthschaft- 
lichen  Vortheilen  gewähren  Vereinigungen  wie  die  genannte 
dem  Arbeiter  volle  Unabhängigkeit,  sie  fördern  seine 
Intelligenz  und  seine  Einsicht  in  das  Wirthschaftsleben,  sie 
erhöhen  sein  Solidaritätsbewusstsein  und  trainiren  ihn,  wenn 


wir  so  sagen  dürfen,  überhaupt  für  höhere  Ziele.  Be- 
merkenswerth bleibt  ferner,  wie  die  grossartige  Organi- 
sation, welche  der  Arbeiterkonsum  durch  die  über  eine 
Million  Mitglieder  zählenden  Konsumvereine  in  England  er- 
halten hat,  nun  auch  für  die  Entwicklung  von  Arbeiter- 
Produktivvereinen  eine  solide  Grundlage  abgiebt.  Mag  der 
Geschäftsführer  der  Genossenschaft  immerhin  versichern, 
dass  seiner  Ansicht  nach  dieselbe  auch  im  vollständig  freien 
Wettbewerbe  sich  bewähren  würde,  so  giebt  er  doch  offen 
zu,  dass  die  sichere  Kundschaft,  die  sie  an  den  Konsum- 
vereinen besitzt,  die  Geschäftsführung  ungemein  erleichtert. 
Man  sieht  so  deutlich,  welch  beträchtlichen  Einfluss  die 
Arbeiter  auf  die  Besserung  der  sozialen  Zustände  auch  da- 
durch auszuüben  befähigt  sind,  dass  sie  für  dieses  Ziel  ihre 
Macht  als  organisirte  Konsumenten  in  die  Wagschale  werfen. 
Und  wir  glauben  in  der  That,  dass  eine  bessere  Organi- 
sation der  Produktion  sich  nur  wird  aufbauen  können  aut 
einer  vollkommeneren  Organisation  des  Konsums.  Letztere 
ist  in  England  im  erfreulichsten  Wachsthume  begriffen. 
Hoffen  wir,  dass  eine  den  Konsumvereinen  entsprechende 
Organisation  von  Produktivereinen  sich  bald  ebenbürtig 
entwickeln  möge,  und  dass  diese  Entwicklung,  welche  unter 
fortschreitendem  Ausschlüsse  des  kapitalistischen  Unter-  , 
nehmers  und  Händlers  den  Arbeiter  produzenten  dem  Aibeiter- 
konsumenten  die  Hand  reichen  lässt,  nicht  auf  England  be- 
schränkt bleibe! 

Freiburg  i.  B.  Heinrich  Herkner.  . 


Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- : 

Statistik. 


Der  dritte  Evangelisch-Soziale  Kongress. 

Am  20.  und  21.  d.  M.  fanden  im  Berliner  Stadtmissions-  : 
hause  die  Verhandlungen  des  Evangelisch-Sozialen  Kon- 
gresses  statt.  Nach  den  Berichten  der  Tagespresse,.; 
der  wir  hier  folgen,  war  die  Theilnahme  an  dem-, 
selben  eine  geringere,  als  gegenüber  den  beiden  vor- 
hergehenden Kongressen.  Aus  dem  Bericht  des  General- 
sekretärs Göhre  war  Folgendes  zu  entnehmen.  Der 
Kongress  zählt  350  ständige  Mitglieder,  die  einen  festen 
Beitrag  von  je  15-200  M.  zahlen;  an  regelmässigen  Bei- 
t rügen5 sind  im  vergangenen  Jahre  2 500  M.  und  ein  minder 
hoher  Beitrag  an  einmaligen  Beiträgen  eingegangen.  Durch 
den  Druck  der  Kongressverhandlungen  ist  im  \ orjahr  ein 
ziemlich  beträchtliches  Deficit  entstanden:  die  Ausgabe  der 
Broschüren-Sammlung  „Evangelisch-soziale  Zeittragen  is 
bis  zum  15.  Heft  gediehen,  ein  neues  literarisches  Unter- 
nehmen bilden  die  „Mittheilungen  des  evangelisch-sozialen 
Kongresses“,  von  dem  bisher  vier  Nummern  erschienen  sind. 
Die  neu  eingerichtete  Auskunftsstelle  für  evangelisch-soziale 
Angelegenheiten  ist  zahlreich  benutzt  worden. 

Nach  dem  Berichte  des  General-Sekretärs  folgte  als 
1.  Gegenstand  der  Tagesordnung  das  Referat  Pastor  Nau- 
manns (Frankfurt  a/M.)  über  Christenthum  und  Familie.  Dei 
Redner  entwarf  zunächst  ein  geschichtliches  Bild  von  der 
Entwickelung  des  Familienlebens  und  führte  aus,  dass  es 
durchaus  kein  christlicher  Grundsatz  sei:  es  müsse  im  Harne 
gewaschen  und  gekocht  werden.  Die  Kirche  wolle  die  in- 
dustrielle Entwickelung  nicht  aufhalten  und  sage:  die  Frau 
habe  dasselbe  Recht  wie  der  Mann.  „Die  Frau  gehör  ins 
Haus“  sei  keineswegs  ein  Dogma  der  christlichen  Kn  che, 
und  es  müsse  ausgesprochen  werden,  dass  die  evangelisc  i 
Kirche  es  durchaus  für  berechtigt  halte,  wenn  die  1 i au  an 
der  Industriearbeit  theilnehme.  Der  Hauptzweck  der  um 
sei  die  Kindererziehung.  Die  Ehe  sei  eine  Gottesstittung, 
sie  solle  Glaubens-  und  Himmelserben,  nicht  aber,  wie  BeDei 
meine,  Gelderben  schaffen.  Es  sei  nothwendig,  offen  un 
volksthümlich  über  das  Eheleben  zu  sprechen  und  zu  be- 
tonen, dass  der  Hauptzweck  der  Ehe  die  christliche  Kinae  ' 
erziehung  sei.  Voraussetzung  sei,  dass  jeder  junge  Mann 


17. 


Sozialpolitisches  centralblatt. 


213 


und  jedes  junge  Mädchen  bis  zum  achtzehnten  Lebensjahre 
einen  Erzieher  habe.  Ausserdem  könne  die  Gemeinschalt 
verlangen,  dass  die  Eltern  die  nothwendigen  geistigen  und 
sittlichen  Eigenschaften  zur  Kindererziehung  besitzen  Dazu 
Gehöre  vor  allem,  dass  die  Eltern  selbst  erzogen  seien.  Viel 
i könne  hierbei  die  Kirche  helfen,  die  etwas  mehr  thun  müsse, 
als  Predigten  halten.  Geistige  und  sittliche  Erziehung  habe 
aber  viele  Bedingungen  zur  Voraussetzung.  Es  müsse  dahin 
gestrebt  werden,  dass  den  Eltern  genügend  Zeit  übrig  bleibe 
zur  Kindererziehung.  Es  sei  ferner  dahin  zu  streben,  dass 
i allgemein  gute,  gesunde  und  geräumige  Wohnungen  ge- 
schaffen werden.  Diese  Forderung  grenze  an  die  Verstaat- 
lichung des  Wohnungswesens.  Die  Erhaltung  der  christ- 
lichen Familie  sei  das  Fundament  des  christlichen  Staats, 
und  es  gehe  deshalb  in  dieser  Beziehung  keine  Forderung 
zu  weit.  Es  müssten  dann  aber  auch  den  Eltern  die  nöthi- 
gen  ökonomischen  Mittel  zur  Seite  stehen.  Es  könne  nicht 
gebilligt  werden,  dass  infolge  einer  verkehrten  \V  irthschafts- 
ordnung  die  Sorge  des  Vaters  mit  der  Zunahme  der  Kinder 
wachse.  Er  schliesse  daher  mit  einem  Appell  an  das  christ- 
liche Volk,  in  dieser  Beziehung  mitzuarbeiten  und  sobald 
als  möglich  Wandel  zu  schaffen. 

An  den  Vortrag  des  Referenten  knüpfte  sich  eine 
längere  Verhandlung,  an  welcher  sich  Licentiat  Weber,  Plof- 
prediger  a.  D.  Stöcker  und  Professor  Dr.  Adolph  Wagner 
zustimmend  betheiligten.  Auf  das  Referat  des  Pastors 
Naumann  folgte  der  Vortrag  des  Regierungsraths  Dr.  Wollt 
über  die  „erziehliche  Bedeutung  des  Ärbeiterschutzge- 
setzes“.  Das  Arbeiterschutzgesetz  — so  führte  der  Redner 
aus  — rufe  alle  Wohlmeinenden  zur  Hilfe  aut,  und  das  sei 
einer  seiner  wesentlichsten  Vorzüge;  der  Schwerpunkt  aber 
liege  bei  den  unteren  Behörden  und  bei  den  Betheiligten 
selbst.  Die  ethische  Seite  des  Arbeitsvertrags  und  des 
Gewerbebetriebs  müsse  nach  diesem  Gesetze  in  höherem 
Masse  zur  Geltung  kommen.  Die  sittlichen  Ziele  des  Ge- 
setzes seien  von  grosser  Bedeutung;  wer  sechs  läge  hart 
gearbeitet  habe,  bedürfe  der  Erholung  und  der  Freude  an 
seiner  Familie,  des  Genusses  von  Gottes  Natur.  Aut 
gleicher  Höhe,  wie  die  Bestimmungen  über  die  Sonntags- 
ruhe ständen  die  Bestimmungen  über  den  Schutz  der  Ar- 
beiter gegen  Gefahr  für  Leben  und  Gesundheit  und  die 
der  Sittlichkeit  dienenden  Vorschriften.  Die  Durchführung 
dieser  Aufgaben  aber  sei  nur  möglich  durch  die  Mit- 
wirkung hochstehender  sittlicher  Werkmeister,  Aerzte, 
Geistlicher  und  Behörden.  Ein  weiteres  Mittel  zur  Er- 
ziehung der  Arbeiter  sei  den  Arbeitgebern  an  die  Hand 
gegeben  durch  die  Betheiligung  der  Arbeiter^  an  Wohl- 
thätigkeitseinrichtungen  Leider  aber  seien  die  Vorschriften 
darüber  nicht  recht  klar,  sodass  sie  weder  von  den  Arbeit- 
gebern noch  von  den  Arbeitern  richtig  verstanden  würden. 
Durch  die  Vorschriften  über  die  Arbeitsbücher  tür  die 
jugendlichen  Arbeiter  und  über  die  Lohnzahlung  an  diese 
werde  der  Unternehmer  der  Familie  seines  Arbeiters  näher 
geführt.  Der  darin  enthaltene  grosse  Gedanke  sei  geeignet, 
das  Familienleben  zu  erhalten  und  die  sozialen  Zustände 
zu  verbessern.  Die  Arbeitgeber  müssten  auch  in  der  zu- 
nehmenden Erkenntniss  ihrer  Verpflichtungen  gegen  ihre 
Arbeiter  bemüht  sein,  die  Ausbildung  ihrer  Arbeiter  durch 
Förderung  der  Haushaltungsschulen  für  Mädchen  zu  unter- 
stützen. Das  Verbot  der  Nachtarbeit  für  die  Frauen  und 
der  dadurch  verhinderte  zerstörende  Einfluss  aut  die  Fami- 
lien müsse  in  sittlicher  Beziehung  wohlthätig  wirken,  und 
auch  in  dieser  Beziehung  trete  die  sittliche  Erziehungs- 
absicht des  Gesetzes  klar  hervor,  welche  nur  dankbar  an- 
erkannt werden  könne.  Ganz  besondere  erziehliche  Grund- 
sätze habe  die  Novelle  aufgestellt  für  Fabriken  mit  min- 
destens zwanzig  Arbeitern  durch  die  Bestimmungen  über 
die  Arbeitsordnungen.  Diese  Bestimmungen  enthalten  er- 
hebliche Einschränkungen  des  früheren  Uebergewichts  des 
Arbeitgebers.  Nun  regeln  diese  Bestimmungen  die  ein- 
schlägigen Verhältnisse  nicht  vollständig,  allein  trotzdem 
müssten  sie  als  ein  grosser  Fortschritt  bezeichnet  werden. 
Eine  wesentliche  Mitwirkung  sei  von  der  Novelle  für  die 
von  ihr  gestellten  Aufgaben  den  Aufsichtsbeamten  zuge- 
wiesen; diese  würden  indessen  ihre  Aufgabe  in  weit  höherem 
Masse  erfüllen  können,  wenn  die  Arbeiter  mehr  von  ihrer 
Thätigkeit  erführen.  Dies  werde  bei  weiterer  Ausbildung 
der  Arbeiterausschüsse  möglich  sein.  Der  Referent  empfahl 
schliesslich  folgende  Thesen:  1.  Die  Gewerbenovelle  steht 
dem  von  ihr  beherrschten  Erwerbsleben  gegenüber  aut  dem 
Standpunkt  des  Erziehers;  2.  ihre  Erziehungsgrundsätze 
entsprechen  der  christlichen  Ethik;  3.  ihr  Erziehungsziel 
ist  weit  gesteckt,  aber  nur  theilweise  ausgesprochen;  4.  ihre 


Erziehungsmittel  bedürfen  der  Ausgestaltung.  Die  auf- 
gestellten Thesen  wurden  einstimmig  angenommen. 

Der  übrige  Theil  des  ersten  Sitzungstages  wurde  zu 
Spezialkonferenzen  verwendet. 

Vor  Eintritt  in  die  Tagesordnung  des  2.  Verhandlungs- 
tao-es  berichteten  die  Leiter  der  Spezialkonferenzen  über  die 
gestrigen  Verhandlungen  der  letzteren.  Pastor  Warth  theilt 
aus  der  1.  Konferenz  mit,  dass  die  Zahl  der  evangelischen 
Arbeitervereine  1 73  beträgt  und  diese  zusammen  50  000  Mit- 
plieder  haben.  In  einer  2.  Konferenz  hat  Prof.  Baumgarten- 
Jena  über  die  Erziehung  der  gewerblichen  Jugend  ge- 
sprochen. Es  ist  zur  Sprache  gekommen  und  bedauert 
worden,  dass  Vieles  im  Wege  ist,  was  der  Arbeiterschutz- 
Gesetzgebung  ihre  Wirkung  rauben  möchte.  Besondere 
Aufmerksamkeit  will  man  der  Frage  der  Sonntagsruhe  der 
jugendlichen  Arbeiter,  der  Erziehung  der  Lehrlinge,  der 
Fabrikordnung  bezüglich  der  gewerblichen  Jugend,  der 
Erholung  derselben  und  ihrer  Beaufsichtigung  zuwenden. 
Eine  3.  Konferenz,  über  die  der  General-Sekretär  Göhre 
referirte,  ventilirte  die  Frage  der  volkswirthschaftlichen 
Studien  der  Geistlichen,  die  diese  in  ihrer  Gemeinde  machen 
sollen.  Zu  bestimmten  Entschliessungen  ist  man  nicht  ge- 
kommen, doch  sind  „Viele  gefestigt  worden  in  dem  Gedan- 
ken, diese  Bestrebungen  weiter  zu  verfolgen;  dabei  wurden 
die  Schwierigkeiten,  die  vorhanden  sind,  nicht  verkannt. 

Sodann  nahm  Prof.  Dr.  Adolph  Wagner  das  Wort  zu 
einem  Vortrage  über  das  neue  sozialdemokratische  Programm 
und  führte  im  Wesentlichen  Folgendes  aus:  Das  neue  sozial- 
demokratische Programm  sei  in  seinem  theoretischen 
und  prinzipiellen  Theile  nach  Form  und  Inhalt  nur  eine 
knappe  Zusammenfassung  der  Marx’schen  I heorie.  Das 
Programm  leide  daher  an  dein  wissenschaftlichen  Grund- 
fehler der  genannten  Theorie,  welche  das  verwickelte 
Problem  der  Entwickelung  der  Volkswirtschaft  und  Ge- 
sellschaft nach  einer  mechanischen,  a priori  konstruirten 
Formel  lösen  wolle.  Hiernach  wäre  diese  Entwickelung  im 
Wesentlichen  — streng  genommen  allein  — abhängig  von 
der  Entwickelung  der  Technik  in  der  materiellen  Produktion 
und  von  der  Gestaltung  der  Rechtsordnung  für  die  sach- 
lichen Produktionsmittel;  demnach  sei  die  gegenwärtige 
Entwickelung  lediglich  abhängig  von  dem  Prinzip  des 
Privateigenthums  an  diesen  Produktionsmitteln.  Da.s  sei 
indessen  in  dieser  Allgemeinheit  weder  von  Marx,  noch  von 
einem  anderen  wissenschaftlichen  Sozialisten,  noch  in  dem 
Programm  bewiesen  und  auch  nicht  beweisbar.  Es  sei  eine 
These,  eine  Behauptung,  die  als  Glaubenssatz  verkündigt 
und  angenommen  werde.  Durch  die  blosse  These,  welche 
die  Socialdemokratie  in  ihrem  Programm  aufstelle,  und 
durch  die  einseitige  Kritik,  welche  sie  am  Bestehenden  und 
an  dem  daraus  weiter  sich  Entwickelnden  übe,  werde  dahei 
auch  der  praktische  Schluss  des  Programms,  die  unbedingte 
und  allgemeine  Nothwendigkeit  der  Umwandlung  des  Pn- 
vateigenthums  an  den  sachlichen  Produktionsmitteln  in  gesell  - 
schaftliches ( Gemein-)  Eigenthum,  derW  aarenproduktion  m so- 
cialistische  Produktionsweise  nicht  begründet.  Jede  nüchterne, 
nur  etwas  tiefer  gehende  Untersuchung  des  Problems  ei  - 
o-ebe  aber  nicht  nur  die  ungeheuren  technischen  Schwierig- 
keiten einer  Erfüllung  des  sozialistischen  Postulats,  sondem 
lasse  auch  mit  grösster  psychologischer  Wahrscheinlichkeit 
diese  Erfüllung  als  unmöglich  erscheinen.  Wenn  sie  aber 
gleichwohl  selbst  möglich  sein  sollte:  die  wirtschaftlichen, 
sozialen,  sittlichen  Folgen  einer  solchen  Erfüllung  würden 
sich  wahrscheinlich  im  höchsten  Masse  für  die  ganze  Ge- 
sellschaft, die  bisherige  Arbeiterklasse  selbst  in  ihrer  heu- 
tigen Lage  inbegriffen,  überaus  unheilvoll  erweisen.  Dies 
folge  aus  jeder  unbefangenen  Betrachtung  der  menschlichen 
Natur,  ihrer  Triebe,  ihrer  Motive,  mit  psychologischer  Noth- 
wendigkeit, möge  man  auch  den  Einfluss  äusserer  Umstände, 
der  Erziehung  u.  s.  w.,  den  der  Sozialismus  immer  betone, 
für  noch  so  bedeutsam  halten.  Indem  der  Sozialismus 
der  Sozialdemokratie  nicht  einmal  die  Anforderung  zur 
eigenen  sittlichen  Selbstzucht  eines  jeden  stelle,  den  Ein- 
fluss von  Religion  und  christlichem  Glauben  nicht  würdige, 
ja  ihn  zurückzudrängen  oder  ganz  zu  verdrängen  suche, 
die  sittlichen  Faktoren  vernachlässige,  verzichte  er  auch 
noch  auf  die  einzigen  Mittel,  durch  welche  die  Menschen 
für  das  sozialistische  Wirthschaftssystem  zwar  auch  noch 
lanoe  nicht  geeignet,  aber  vielleicht  um  ein  Kleines  wenigei 
ungeeignet  würden,  für  dieses  Wirthschaftssystem  ein  pas- 
sendes Personal  zu  bilden.  Die  Erfüllung  der  sozialistischen 
Forderungen  des  Programms  könnte  nur  zur  unendlichen 
Zerrüttung  der  Gesellschaft  führen,  ohne  die  letztere  der 
Erreichung  der  sozialistischen  Ziele  näher  zu  führen.  Die 


214 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  17, 


einzelnen  positiven  „nächsten“  Forderungen  stehen  auf  dem 
Boden  der  heutigen  Wirthschafts-  und  Gesellschaftsord- 
nung und  seien  in  so  fern  alle  diskutabel.  In  den  „nächsten“ 
Forderungen  sei  manches  einer  Prüfung  werth.  Diese 
Forderungen  sollten  um  der  materiellen  Opfer,  die  sie  den 
besitzenden  Klassen  auf  legen,  nicht  ohne  Weiteres  abge- 
lehnt werden.  Vielmehr  trete  gerade  hier  an  diese  Klassen 
und  an  alle  Höherstehenden  die  sittliche  Anforderung  heran, 
ihr  eigenes  materielles  Interesse  zurückzustellen  und  auch 
gesetzgeberische  Massnahmen  zu  Gunsten  der  unteren  ar- 
beitenden Klassen  zu  erleichtern,  aber  auch  vom  sittlichen, 
religiösen  und  christlichen  Standpunkte  aus  eine  Verbesse- 
rung der  wirtschaftlichen  Zustände  auf  das  Ernstlichste 
zu  erstreben.  Festzuhalten  sei  vor  allem:  die  soziale  Frage 
ist  nicht  allein,  aber  zumeist  und  zuerst  eine  sittliche  Frage. 
Als  solche  sei  sie  von  Staat,  Gesellschaft,  Klasse,  Familie, 
Einzelnen  und  auch  von  der  Kirche  zu  behandeln.  Daher 
bleibe  die  Hauptaufgabe:  sittliche  Selbstzucht  des  Einzelnen 
und  Förderung  eines  Jeden  dabei  durch  die  Liebe  unter- 
einander und  durch  Religion  und  christlichen  Glauben,  um 
auch  im  wirtschaftlichen  Leben  die  schlechteren  Motive 
leichter  zu  überwinden,  die  besseren  zu  grösserer  Wirk- 
samkeit bringen  zu  können. 

Den  letzten  Gegenstand  der  Verhandlungen  bildet 
das  Referat  des  Pastor  Baltzer  über  moderne  Wirthschafts- 
genossenschaften.  Nach  Erledigung  dieses  Gegenstandes 
wurde  der  Kongress  mit  Gesang  und  einem  vom  Hof- 
prediger a.  D.  Stöcker  gesprochenen  Gebet  geschlossen. 


Die  deutsche  Kommission  für  Arbeiterstatistik  kann 
sich  nunmehr  konstituiren,  da  der  Reichskanzler,  Bundesrath 
und  Reichstag  die  von  ihnen  zu  ernennenden  bez.  zu  wählen- 
den Mitglieder  bestimmt  haben.  Als  Vorsitzender  wird  der 
Unterstaatssecretär  im  Reichsamte  des  Jnnern,  Dr.  von  Rot- 
tenburg fungiren,  ausserdem  wurde  vom  Reichskanzler  der 
Director  des  Kaiserlichen  Statistischen  Amtes,  Geheime  Ober- 
regierungsrath Prof.  Dr.  v.  Scheel  zum  Mitglied  designirt. 
Vom  Bundesrath  wurden,  wie  wir  bereits  mitgetheiit  haben, 
gewählt:  der  Director  im  königlich  preussischen  Ministe- 
rium für  Handel  und  Gewerbe,  Wirkliche  Geheime  Ober- 
Regierungsrath  Lohmann,  der  Regierungsrath  im  königlich 
bayrischen  Ministerium  des  Innern  und  Vorstand  des  Statis- 
tischen Büreaus  in  München  Rasp,  der  Regierungsrath  im 
königlich  sächsischen  Ministerium  des  Innern  Morgenstern, 
der  Oberregierungsrath  im  königlich  württembergischen 
Ministerium  des  Innern  von  Schicker  und  der  Vorstand  der 
Grossherzoglich  badischen  Fabrikinspektion,  Ober-Regie- 
rungsrath Dr.  Wörishoffer;  vom  Reichstag:  die  Mitglieder 
des  Reichstags  Dr. Hartmann,  Biehl,  Hitze,  Siegle,  Dr.  Hirsch, 
Schippel. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Schweizerischer  Gewerkschafts-Kongress.  Zu  dem 
am  17.  und  18.  d.  M.  stattgefundenen  Kongress  des  schwei- 
zerischen Gewerkschaftbundes  in  Aarau  fanden  sich,  wie 
wir  dem  „Grütlianer“  entnehmen,  105  Delegirte  ein.  Conzett 
wurde  zum  ersten,  Beck  von  Zürich  zum  zweiten  Vor- 
sitzenden ernannt.  Nach  Erledigung  einer  Geschäftsord- 
nungsvorlage wurden  zunächst  zwei  Vorträge  von  Arbeiter- 
sekretär Greulich  über  die  Frage  der  obligatorischen  Berufs- 
genossenschaften und  über  Arbeitsstatistik  angehört. 

Die  erstere  Frage  ist  auch  für  Herrn  Greulich  noch 
zu  wenig  abgeklärt  und  er  beschränkte  sich  deshalb  auf 
eine  orientirende  Beleuchtung  der  Sache.  Werthvolle  An- 
fänge zur  gesetzlichen  Ordnung  der  Berufsorganisationen 
werden  zunächst  das  Kranken-  und  Unfallversicherungs- 
gesetz bringen;  zu  sorgen  habe,  wie  Greulich  hervorhob, 
die  Arbeiterschaft  dabei  nur,  dass  sie  in  den  gemischten 
Verwaltungsbehörden  etc.  den  ihr  gebührenden  Einfluss 
erlange.  Was  die  Arbeitsstatistik  angeht,  so  zeigte  Greulich 
den  hohen  Werth  einer  solchen,  die  aber,  wenn  sie  gut  und 
praktisch  sein  soll,  von  den  Arbeitern  selbst,  d.  h.  von  den 
Gewerkschaften  an  die  Hand  genommen  werden  muss.  Sie 
müssen  der  Wissenschaft  durch  Beschaffung  von  gutem 
Material  an  die  Hand  gehen. 


Die  Berufsorganisationen  gaben  keinen  Anlass  zu 
Beschlüssen.  Man  will  die  Frage  weiter  studiren  und  ab- 
warten,  was  die  Behandlung  des  Antrags  Favon  im  National- 
rath für  Vorschläge  zu  Tage  fördert.  In  Betreff  einer 
Arbeitsstatistik  dagegen  wurde  beschlossen,  in  allen  Ver- 
bänden eine  Statistik  über  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse 
aufzunehmen.  Das  Bundeskomitee  wird  mit  dem  Arbeiter- 
sekretariat ein  leichtfassliches,  kurzes  und  praktisches 
Schema  hierfür  ausarbeiten. 

Der  Jahresbericht  des  Bundeskomites  fand  seine  Wür- 
digung durch  den  Beschluss,  dass  derselbe,  ergänzt  durch 
das  Protokoll  über  den  Kongress,  in  5000  Exemplaren  ge- 
druckt werden  soll. 

Neben  dem  allgemeinen  Kongress  haben  in  Aarau 
noch  eine  Reihe  von  Delegirtenkonferenzen  der  centralen 
Fachverbände  stattgefunden.  Der  Holzarbeiter  verband 
beschloss  die  Einberufung  eines  internationalen  Holz- 
arbeiterkongresses nach  Zürich  und  auch  der  Malerverband 
will  auf  nächsten  Sommer  eine  internationale  Konferenz 
nach  Zürich  einberufen.  Die  Delegirtenversammlung  der 
schweizerischen  Arbeiterinnen  beschloss,  eine  Enquete 
über  die  Lage  der  Arbeiterinnen  einzuleiten  und  der  Metall- 
arbeiterverband will  die  obligatorische  Wanderunterstützung 
eintühren.  Die  Buchbinder  und  die  Zigarren-  und  Tabak- 
arbeiter endlich  beschlossen  die  Gründung  von  Central- 
verbänden. 

Die  schweizerische  Reservekasse.  Seit  ihrer  orga- 
nischen Eingliederung  in  den  schweizerischen  Gewerk- 
schaftsbund flat  sich  die  Reservekasse  gekräftigt.  Ueber 
ihre  Bedeutung  äussert  sich  der  Jahresbericht  des  schweize- 
rischen Gewerkschaftsbundes  folgendermassen:  „Ihre  Macht 
besteht  absolut  nicht  in  dem  Gelde  allein;  sobald  dieses 
angegriffen  werden  muss,  erlahmt  dieselbe,  sie  besteht  in- 
dem festeren  Zusammenhalt,  den  eine  gefüllte  Kasse  der 
Arbeiterbewegung  gibt,  im  Gefühle  der  Kraft,  die  dieselbe, 
der  Organisation  verleiht  und  im  Eindruck,  den  sie  auf  den 
Gegner  macht.  Stark  ist  die  Reservekasse  nur,  wenn  man 
ihr  Geld  nicht  braucht;  in  grossen  Kämpfen  würde  dieser 
Fonds  noch  ungenügend  sein,  wie  die  Ereignisse  der  letzten! 
Jahre  im  In-  und  Auslande  lehrten.“ 

Bei  der  am  1.  April  1891  erfolgten  Uebergabe  der 
Reservekasse  an  den  Gewerkschaftsbund  betrug  der  Fonds 
Frcs.  14  166,92  und  am  I.  April  1892  ca.  Frcs.  22  000.  In 
den  drei  letzten  Quartalen  des  Jahres  1891  wurden  für 
Unterstützungen  Frcs.  1 933,95,  für  Delegationen  in  Strike- 
angelegenheiten,  wodurch  viele  kassenschädigende  Strikes 
vermieden  wurden,  Frcs.  473,50,  für  die  Verwaltung  und 
Diverses  Frcs.  193,80  verausgabt. 

Ausser  der  Reservekasse  besitzt  der  schweizerische 
Gewerkschaftsbund  eine  Verwaltung^-  und  Agitations-, 
kasse,  dieselbe  vereinnahmte  im  Jahre  1891  Frcs.  3 841,04, 
denen  fast  gleich  hohe  Ausgaben  gegenüberstehen.  Aus 
, denselben  heben  wir  folgende  Posten  hervor:  Frcs.  993,96 
für  Agitation  und  Delegation,  Frcs.  861  für  Verwaltung  und 
dergl.,  Frcs.  252,60  für  Unterstützungen  und  Frcs.  62,50  für 
Gerichtskosten. 

Zahl  der  Lohukämpfe  in  der  Schweiz.  Von  Juli  1890 
bis  Ende  Februar  1892  wurden  50  Strikes  gezählt.  Die 
meisten  ( 18)  kamen  bei  den  Bauhandwerkern  und  verwandten 
Berufsarten  vor;  hieran  reihten  sich  die  Textilarbeiter  (9), 
Metallarbeiter  (6),  Schneider  und  Cigarrenmacher  (je  4), 
Schuhmacher  und  Uhrenarbeiter  (je  3),  die  Schmiede  und 
Wagner,  Gärtner,  Sattler  (je  1).  Verursacht  wurden  die 
Arbeitseinstellungen  durch  die  Forderung  kürzerer  Arbeits- 
zeit (28),  von  Lohnerhöhungen  (16),  in  Folge  Verletzung  des 
Vereinsrechtes  (2),  in  Folge  anderer  Ursachen  (4);  durch 
Strikes  kamen  18,  durch  Vermittlung  32  zum  Austrag;  34 
Arbeitseinstellungen  verliefen  günstig  für  die  Arbeiter,  16 
günstig  für  die  Unternehmer. 

Der  Pariser  Gemeinderath  und  die  neue  Arbeitsbörse. 

Dem  Vorgehen  anderer  Verwaltungsorgane  gegenüber  ist 
es  erfreulich,  zu  konstatiren,  mit  welcher  Fürsorge  der 
Pariser  Gemeinderath  die  soziale  Frage  behandelt  und 
welchen  Antheil  er  an  den  Emanzipationsbestrebungen  der 
Arbeiterklasse  nimmt.  So  hat  er  bekanntlich  nicht  nur  die 
bestehende  Arbeitsbörse  errichtet  und  ihr  eine  jährliche 
Subvention  von  20  000  Frcs.  gewährt,  sondern  auch  die 
neue  „Central-Arbeitsbörse“  mit  einem  Kostenaufwand  von 
rund  3 Millionen  erbauen  lassen.  Nicht  genug  an  dem  hat 
er  nun  in  einer  seiner  jüngsten  Sitzungen,  in  Voraussicht 


No.  17. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


215 


einer  baldigen  Eröffnung  der  Centralbörse,  auf  Antrag  seiner 
Arbeitskommission  beschlossen:  1.  der  Arbeitsbörse  eine 

Jahressubvention  von  50  000Frcs.  zu  gewähren;  2 die  Kosten 
für  das  Aufsichts-,  Ueberwachungs-  und  Reinigungspersonal, 
die  auf  63  400  Frcs.  veranschlagt  worden  sind,  zu  sichern; 

3.  die  für  Beleuchtung,  Heizung  und  Erhaltung  des  Ge- 
bäudes erforderliche  Summe  von  55  000  Frcs.,  im  Ganzen 
jährlich  168  400  Frcs.  auszuwerfen.  Indem  der  Gemeinde- 
rath dieses  Arbeitsbörsen-Budget  votirte,  ist  er  übrigens 
nur  seiner  bisherigen  Anschauungsweise  treu  geblieben. 
Der  Berichterstatter  seiner  Arbeitskommission,  Herr  Cham- 
poudry,  konnte  eingangs  seines  Referats  mit  Recht  sagen: 
,,Der  'Pariser  Gemeinderath  hat  nicht  erst  gewartet,  bis 
der  Sozialismus  in  Mode  kam  und  die  Regierungen  der 
ganzen  Welt  mehr  oder  minder  aufrichtig  beschäftigte,  um 
sein  Interesse  für  Diejenigen  zu  bekunden,  welche  die 
Reichthümer  schaffen,  ohne  jemals  eine  andere  Hoffnung 
zu  haben,  als  ein  Spitalbett  für  ihre  alten  Tage  oder  die  ; 
mageren  Unterstützungen  der  Wohlthätigkeitsbureaux.“ 
Und  indem  der  Gemeinderath  den  Anträgen  seiner  Arbeits- 
kommission beigestimmt  hat,  hat  er  nicht  nur  seine  Für- 
sorge um  die  Arbeiterklasse  aufs  Neue  bekundet,  sondern 
ist  auch  den  übrigen  Stadtvertretungen  mit  gutem  Beispiel 
vorangegangen. 

Die  Pariser  Omnibnsgesellschaft  ist,  wie  der  Leser 
dieser  Zeitschrift  aus  früheren  Mittheilungen  weiss,  vom 
Handelsgerichte  verhalten  worden,  ihre  Bediensteten,  nach 
Ablauf  eines  Monats  vom  Tage  der  Urtheilszustellung, 
nicht  länger  als  12  Stunden  täglich  zu  beschäftigen  und 
für  jeden  Tag  Verspätung  100  Frcs.  an  das  Syndikat  der 
Omnibusbediensteten  zu  zahlen.  Da  nun  die  Frist  ab- 
gelaufen war,  ohne  dass  die  Gesellschaft  ihren  Verpflich- 
tungen in  der  einen  oder  andern  Weise  nachgekommen 
wäre,  hat  das  Syndikat  eine  Pfändung  vornehmen  lassen, 
doch  weniger  der  ihm  zugesprochenen  Entschädigung 
halber,  als  um  zu  erfahren,  ob  die  Gesellschaft  den  zwölf- 
stiindigen  Arbeitstag  durchzuführen  oder  gegen  das  Urtheil 
zu  appelliren  gedenke.  Die  Direktion  wollte  die  Ent- 
scheidung der  Generalversammlung  überlassen,  die  denn 
nun,  wenn  auch  nichts  weniger  als  einhellig,  beschlossen 
hat,  nicht  zu  appelliren,  sondern  alle  Vorkehrungen  zur 
Durchführung  des  zwölfstündigen  Arbeitstages  zu  treffen 
und  bis  dahin  die  dem  Syndikat  zugesprochene  Entschädi- 
gung zu  zahlen.  Damit  dürfte  wohl  der  lange  Streit  zwi- 
schen der  Omnibusgesellschaft  und  ihren  Bediensteten  end- 
gültig beigelegt  sein. 


Unternehmerverbände. 


Westphälisches  Kokessyndikat.  ZudemWestphälischen 
Kokessyndikat  gehören  jetzt  54  Kokereien.  Der  auf  die  Beein- 
flussung der  Preise  bezügliche  § 3 des  Vertrages  bestimmt, 
dass  die  Preise  sowie  die  Lieferungsbedingungen  in  der  Ver- 
sammlung der  Zechen-  und  Kokereibesitzer  festgesetzt  werden 
und  zwar  bestimmt  dieselbe  die  Mindestpreise.  Diese  dürfen 
beim  Verkaufe  im  Inlande  nicht  unterschritten  werden. 
Ausnahmsfälle  in  Folge  Auftretens  einer  fremden  Konkur- 
renz oder  seitens  nicht  syndicierter  Werke,  durch  welche 
das  Geschäft  für  das  Syndicat  verloren  gehen  könnte,  sind 
vorgesehen,  das  Kokessyndikat  kann  dann  auf  das  Risiko 
der  einzelnen  Kokerei  den  Verkauf  zu  niedrigeren  Preisen 
gestatten.  Bei  Erzielung  höherer  als  der  festgesetzten 
Mindestpreise  wird  der  Extragewinn  zur  Hälfte  zwischen 
der  liefernden  Zeche  und  dem  Syndicat  getheilt. 

Produktionskartell  der  Brüxer  Kohlenwerke.  Seit  einiger 
Zeit  schweben  im  Brüxer  Braunkohlenrevier  (Böhmen)  Verhand- 
lungen über  den  Abschluss  einer  Förder-Convention,  welche  alle 
Werke  dieses  Reviers  verpflichten  soll,  für  eine  bestimmte  Zeit 
eine  gleichmässige  Reduction  der  Förderung  eintreten  zu  lassen, 
um  auf  diese  Weise  der  Ueberproduction  und  dem  daraus  ent- 
springenden Preisrückgänge  vorzubeugen.  Unter  den  mass- 
gebenden Unternehmungen  des  Reviers  befindet  sich  auch  das 
Äckerbauministerium,  beziehungsweise  die  k.  k.  Bergdirektion  in 
Brüx,  mit  einer  Jahresproduktion  von  mehr  als  4,5  Millionen 
Meterzentnern.  Obenan  mit  der  Förderung  steht  die  Brüxer 
Kohlenbergbaugesellschaft,  welche  13V2  Millionen  Meterzentner 
erzeugt,  sodann  folgen  die  Nordböhmische  Kohlenwerksgesell- 


schaft mit  8,6  Millionen,  der  Duxer  Kohlenverein  mit  rund 
6 Millionen,  die  Juliusschächte  des  Staates  mit  4,5  Millionen,  die 
Tiefbaugewerkschaft  , Viktoria“  mit  4,2  Millionen,  endlich  die 
Dux-Bodenbacher  Bahn  mit  3 Millionen  Meterzentner,  das  Brüxer 
Revier,  dessen  gesammte  Produktion  sich  auf  74  Millionen  Meter- 
zentner beläuft,  zählt  aber  noch  eine  lange  Reihe  kleinerer  Werke, 
und  an  der  Unmöglichkeit,  alle  diese  Werke  unter  einen  Hut  zu 
bringen,  sind  die  Versuche,  welche  schon  zu  wiederholten  Malen 
unternommen  wurden,  bisher  immer  gescheitert.  Diesmal  ist  der 
Abschluss  der  Convention  zwar  nicht  an  die  Bedingung  geknüpft, 
dass  alle  Werke  beitreten,  es  ist  aber  doch  vorausgesetzt  dass 
mindestens  90  Prozent  der  Jahresproduktion  vertreten  seien.  Vor 
Allem  wurde  aber  die  Bedingung  gesetzt,  dass  auch  die  staatlichen 
Werke  sich  anschliessen.  Das  Zustandekommen  der  Convention 
hängt  daher  on  der  Haltung  des  Ackerbauministeriums  ab,  über 
welche  noch  nichts  Sicheres  bekannt  ist. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Der  französische  Senat  und  die  Beschränkung  der 
Arbeitszeit. 

Seit  mehr  denn  einem  Jahrzehnt  ist  die  französische 
Abgeordnetenkammer  bemüht,  den  in  der  Industrie  be- 
schäftigten Frauen  und  Kindern  einen  grösseren  Schutz  zu 
gewähren,  als  er  ihnen  durch  die  Fabrikgesetze  vom 
9.  September  1848  und  19.  Mai  1874  zugesichert  wird,  ohne 
indess  bisher  zu  einem  Resultate  gelangt  zu  sein,  weil  der 
Senat  nur  widerwillig  folgte  und  stets  neue  Konzessionen 
verlangte.  Endlich  hat  derselbe,  wenigstens  im  Prinzipe,  in 
allen  Stücken  nachgegeben,  jedoch  in  einer  Weise,  dass, 
wenn  die  Vorlage,  so  wie  sie  aus  den  jüngsten  Verhand- 
lungen des  Senats  hervorgegangen  ist,  zum  Gesetz  erhoben 
wird,  dieses  nicht  nur  weit  hinter  dem  Kommissionsentwurf 
der  Kammer  vom  Jahre  1880  zurückbliebe,  sondern  auch 
hinter  dem  am  19.  Dezember  v.  J.  von  der  Kammer  votirten 
Entwurf,  welcher  dem  Senate  bereits  mehr  als  zweckdienlich 
entgegen  kam.  Die  Kammer  hatte  nämlich  dem  Amende- 
ment des  Senats  beigestimmt,  das  die  Arbeitszeit  von 
! 4 PThr  Morgens  bis  10  Uhr  Abends,  d.  i.  volle  achtzehn 
Stunden  gestattet,  wenn  zwei  Arbeiterschichten  ver- 
wendet werden,  von  denen  jede  nicht  länger  als  neun 
! Stunden  beschäftigt  würde.  Dieses  Zugeständnis  ist  umso 
' beklagenswerther,  als  dadurch  die  Bestimmung,  wonach 
| Personen  unter  achtzehn  Jahren  sowie  die  minderjährigen 
Mädchen  und  die  Frauen  nicht  zur  Nachtarbeit  zugelassen 
werden  dürfen,  zum  grossen  Theil  wieder  aufgehoben  wird. 
Dies  war  umso  unnöthiger,  als  ein  Theil  der  Textilfabri- 
kanten — die  einzigen  Unternehmer,  die  bei  dieser  Frage 
in  Betracht  kommen  — sich  bereits  mit  der  gänzlichen  Ab- 
schaffung der  Nachtarbeit  vertraut  gemacht  und  ent- 
sprechende Vorkehrungen,  wie  Erweiterung  der  Fabriks- 
anlagen etc.  getroffen  hatte.  Viele  Fabrikanten  wollen  über- 
haupt nichts  von  einer  Nachtarbeit  wissen.  Wird  nun  die- 
selbe aber  in  irgend  einer  Weise  vom  Staate  geschützt, 
dann  werden  sie  sich,  wohl  oder  übel,  durch  die  Konkurrenz 
gezwungen  sehen,  von  ihrer  bisherigen  Gepflogenheit  ab- 
I zugehen. 

Dies  ergiebt  sich  wenigstens  ganz  deutlich  aus  der 
vor  zwei  Jahren  veranstalteten  parlamentarischen  Enquete 
über  die  Nachtarbeit,  in  der  vielfach  auf  die  Vortheile  hin- 
gewiesen wird,  welche  die  Fabrikanten,  die  Tag  und  Nacht 
arbeiten  lassen,  den  anderen  Unternehmern  gegenüber 
haben,  nämlich:  verhältnissmässig  geringere  Steuern  und 
Generalunkosten,  sowie  raschere  Amortisation  der  in  Ge- 
bäuden, Maschinen  und  sonstigen  Produktionsmitteln  ange- 
legten Kapitalien.  Es  sei  hier  auf  eine,  auch  in  sonstiger 
Beziehung  interessante  Erklärung  hingewiesen,  die  ein  in 
Roubaix  etablirter  Textilfabrikant  abgegeben  hat.  „Habe 
es  nicht  den  Anschein,  führte  er  aus,  als  ob  die  Ent- 
deckungen der  modernen  Wissenschaft  und  die  wunderbaren 
Fortschritte  der  Mechanik  eine  bessere,  angenehmere  Lage 
der  industriellen  Arbeiter  zur  Folge  haben  müssten.’'  Stehen 


216 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  17. 


wir  nun  aber  nicht  einer  ganz  entgegengesetzten  sozialen 
Erscheinung  gegenüber?  Nie  war  die  Lage  des  Arbeiters 
eine  peinlichere!  . . . Die  Nachtarbeit  mit  ihren  beklagens- 
werthen  Folgen  ist  eine  gerechte  Beschwerde  der  Arbeiter 
gegen  die  Gesellschaft;  sie  verallgemeinern,  hiesse  eine  neue 
soziale  Gefahr  schaffen.  . . Möge  der  Staat  auf  seiner  Hut 
sein!  Wenn  die  Nachtarbeit  nicht  unverzüglich  abgeschabt 
wird,  dann  wird  sie  sich  unvermeidlich  zum  Schaden  Aller, 
der  Fabrikanten  wie  der  Arbeiter,  sowie  zum  Schaden  des 
Fiskus  verallgemeinern,  der  ihr  eine  wahre  Anspornung  und 
Prämie  giebt,  indem  er  zwei  gleiche  Fabriken,  von  denen 
die  eine  nur  tagsüber  und  die  andere  1 ag  und  Nacht 
arbeitet,  dieselben  Steuern  zahlen  lässt.  Wie  soll  es  einem 
Fabrikanten,  der  nur  tagüber  arbeiten  lassen  möchte,  mög- 
lich sein,  die  Konkurrenz  gegen  den  zu  behaupten,  dem 
das  Loos  seiner  Arbeiter  weniger  Bedenken  macht  und  der 
Tag  und  Nacht  arbeiten  lässt?  Ausser  der  Steuerprämie, 
die  dieser  vom  Staate  erhält,  macht  er  nicht  noch  die  für 
grosse  Unternehmungen  ungeheure  Ersparnis?  der  Hälfte 
der  Zinsen  des  angewandten  Kapitals  und  des  Amortisations- 
fonds? Mehr  noch;  wohin  werden  die  Aufträge  gehen? 
Augenscheinlich  dorthin,  wo  sie  in  um  die  Hältte  kürzerer 
Zeit  ausgeführt  werden.  Folglich  Ruin  für  den  Einen,  Reich- 
thum für  den  Andern,  d.  h.  die  Nachtarbeit  verallgemeinert. . . 
Bei  dem  Gedanken,  dass  ich  selber,  bei  Strafe  des  Unter- 
gangs für  mich  und  meine  Arbeiter,  gezwungen  werden 
könnte,  Tag  und  Nacht  arbeiten  zu  lassen,  fühle  ich  mich 
von  einer  tiefen  Trauer  erfüllt.“1) 

Es  braucht  hier  wohl  nicht  erst  einer  besondern  Aus- 
führung, um  darzulegen,  dass  dieselben  Gründe,  die  gegen 
die  Nachtarbeit  ins  Feld  geführt  werden,  auch  gegen  das 
oberwähnte  Amendement  sprechen , wie  dies  übrigens 
bereits  die  Handelskammern  von  Tourcoing,  Lille,  Amiens* 
St.  Quentin  und  Reims  selbst  dargethan  haben.  So  erklärt 
die  erstere,  dass  sie  nicht  all  die  kräftigen  Argumente,  die 
für  eine  vollständige  Beseitigung  der  Nachtarbeit  sprechen, 
anführe,  jedoch  müsse  sie  gegen  das  Amendement  pro- 
testiren,  da  ihres  Dafürhaltens  die  Gestattung  einer  Ver- 
längerung der  Arbeitszeit  ebenso  verderblich  vom  wirth- 
schaftlichen  wie  vom  humanitären  Standpunkt  aus  sei.  Ge- 
statte man  achtzehn  Stunden  zu  arbeiten,  dann  landen  die 
Fabrikanten  in  Zeiten  flotteren  Geschäftsganges  alles  Inter- 
esse daran,  eine  zweite  Arbeiterschicht  einzustellen.  Nun 
sei  es  aber  klar,  dass  wenn  die  Arbeiter  eine  Verkürzung 
der  Arbeitszeit  verlangen,  ihr  Streben  dahin  gehe,  die 
Arbeit  gleiclnnässiger  zu  vertheilen  und  die  Arbeits- 
stockungen zu  vermindern.  „Was  nützt  es  uns,  sagen  sie, 
sieben  oder  acht  Monate  im  Jahre  Löhne  zu  erhalten,  die 
hoch  erscheinen,  wenn  die  vollständige  oder  theilweise 
Arbeitslosigkeit  während  der  vier  oder  fünf  folgenden 
Monate  den  vordem  empfangenen  Lohn  derart  vermindert, 
dass  nur  ein  ungenügendes  Auskommen  auf  das  Jahr  ent- 
fällt?“ 

Hält  man  sich  dabei  noch  vor  Augen,  dass  die  Arbeiter 
nicht  selten  eine  Stunde  und  oft  noch  weiter  von  der 
Fabrik  entfernt  wohnen,  dass  also  eine  Arbeiterin,  deren 
Tagwerk  um  4 Uhr  beginnt,  mindestens  schon  um  3 Uhr 
aufstehen  muss  oder  falls  sie  zur  Nachmittagsschicht  zählt, 
erst  um  1 1 Uhr  Nachts  nach  Hause  gelangt,  dann  ergiebt 
sich  von  selbst,  dass  bei  Aufrechterhaltung  solcher  Arbeits- 
verhältnisse die  von  Kammer  und  Senat  beschlossene  Ab- 
schaffung der  Nachtarbeit  einen  sehr  problematischen 
Werth  besitzt.  Ja  man  muss  sich  selbst  fragen,  ob  es  ins- 
besondere für  Mädchen  und  Frauen  in  gewisser  Hinsicht 
nicht  noch  besser  sei,  sich  während  derNacht  in  der  Fabrik  als 
um  3 Uhr  oder  1 1 Uhr  Nachts  auf  der  Strasse  zu  befinden. 

Wenn  indess  die  Kammer  diesem  Amendement  ihre 
Zustimmung  gab,  so  hat  sie  doch  wenigstens  an  der  Be- 
stimmung festgehalten,  dass  Kinder,  junge  Personen  und 
Frauen  nicht  länger  als  10  Stunden  täglich  beschäftigt 
werden  dürfen.  Welcher  Milderungsgrund  spricht  aber  für 


*■)  Enquete  sur  le  travail  des  femmes  et  notamment  le  tra- 
vail  de  nuit  (No.  649  der  Drucksachen  der  Abgeordnetenkammer), 
S.  82—84. 


den  Senat?  Es  hat  schon  einen  heftigen  Kampf  gekostet 
ehe  man  ihn  dazu  brachte,  die  Arbeitszeit  der  Frauen  über- 
haupt gesetzlich  regeln  zu  wollen.  Wie  er  dies  bisher  ab- 
gelehnt hatte,  wollte  er  es  auch  jetzt  wieder,  und  natürlich 
im  Namen  der  Freiheit  und  im  Interesse  der  Arbeiter, 
wie  dies  ja  überall  üblich  ist,  wenn  es  sich  um  den 
Schutz  der  Arbeiter  handelt.  Wer  die  Parlamentsberichte 
auch  nur  eines  Landes  über  diesen  Gegenstand  kennt,  kennt 
auch  gleichzeitig  die  aller  anderen  Länder.  Ueberall  die- 
selben Argumente,  dieselben  Trugschlüsse,  dieselbe  Heuche- 
lei und  dieselben  manchesterlichen  Phrasen,  gleichgiltig,  ob 
man  nun  die  belgischen,  deutschen,  englischen,  öster- 
reichischen oder  andere  Verhandlungen  vor  sich  habe,  i 
Auch  die  Verhandlungen  des  Senats  unterscheiden  sich  in 
nichts  darin.  Hier  nur  in  Kürze  einige  Sätze  zur  Beleuch- 
tung des  Ganzen.  Wenn  die  Beschränkung  der  Arbeitszeit 
in  einem  Lande  eingeführt  werde,  ohne  dass  sie  es  in  den 
konkurrirenden  Ländern  sei,  zieht  sie  die  Schliessung  von 
Fabriken,  die  Herabsetzung  der  Löhne  nach  sich,  erklärte  j 
der  eine  Senator,  um  dann  weiter  zu  folgern,  dass  wenn  ! 
der  Arbeitstag  gesetzlich  fixirt  werde,  man  dann  auch  einen  j 
gesetzlich  bestimmten  Minimallohn  verlangen  werde.  Er  j 
wäre  der  Erste,  der  geplanten  Reform  beizustimmen,  sagte 
wieder  ein  anderer  Senator,  wenn  er  hinter  ihr  nicht  die 
Verkürzung  der  Arbeitslöhne  sähe,  um  darauf  zu  dem  ^ 
Schlüsse  zu  gelangen,  dass  er  keine  geheiligtere  Freiheit 
als  die  der  Arbeit  kenne,  welche  die  höchste  Freiheit  des 
Armen,  desjenigen  sei,  der  nichts  als  seine  Hände  zum 
Leben  habe,  denn  sie' sei  das  Recht,  arbeitend  zu  leben. 
Ein  Dritter  wieder,  dass  man  den  Frauen  alle  Freiheiten  ! 
lasse;  sie  könnten  sich  der  Ausschweifung,  der  Trunkenheit, 
der  Faulheit,  dem  Vergessen  aller  ihrer  Pflichten  hingeben, 
nur  die  eine  Freiheit  wolle  man  ihr  nehmen,  sich  den, 
Ihrigen  zu  opfern  und  ihre  Pflicht  nach  ihrer  Einsicht  zu 
erfüllen  etc.  Alle  stimmten  Lobgesänge  auf  die  Freiheit 
der  Arbeit  an  und  gaben  wiederholt  der  Befürchtung  einer 1 
Lohn  Verminderung  Ausdruck,  aber  die  Doppelschichten,  [ 
von  denen  jede  nur  neun  Stunden  täglich  beschäftigt  ; 
werden  dürfe,  Hessen  sie  sich  gefallen ; da  vergassen  sie  Alle 
über  die  Lohnverminderung  zu  jammern. 

Wenn  der  Senat  schliesslich  dennoch  der  Beschrän- 
kung der  Arbeitszeit  der  Frauen  seine  Zustimmung  gab,  so1' 
dürfte  dies  zu  nicht  geringem  Theile  dem  Handelsminister j I 
zu  danken  sein,  der,  wie  dies  unverhohlen  anerkannt'  I 
werden  soll,  in  einer  höchst  beachtenswerthen  Weise  in  die 
Debatte  eingriff.  Gestützt  auf  ein  reiches  Material,  das  siclv 
insbesondere  auf  die  englische  Fabrikgesetzgebung  bezog, 
von  der  er  ein  anschauliches  Bild  entwarf,  hat  er 
seine  Gegner  glänzend  ad  absurdum  geführt.  „Dieselben 
Einwürfe,  die  von  den  Gegnern  des  Gesetzes  hier  erhoben 
wurden“,  sagte  er  unter  Anderem,  "„sind  auch  in  England 
gemacht  worden  und  wenn  auch  in  weniger  beredter 
Weise,  so  doch  aus  denselben  Motiven,  mit  denselben  Un- 
glücks- und  Katastrophen-Prophezeiungen  für  die  Arbeit- 
geber, die  man  dem  Ruin  entgegentreibe,  und  für  die 
Arbeiter,  die  man  zur  Arbeitslosigkeit,  zur  Hungersnoth 
verurtheile.  Die  englische  Ausfuhr,  hiess  es,  sei  verloren, 
der  Kampf  der  englischen  Industrie  gegen  die  konkurrirenden 
Industrien  des  Auslandes  werde  unmöglich.  Wie  wollen 
Sie,  sagte  man,  dass  England  Ländern  gegenüber,  die  nicht 
der  strengen  Gesetzgebung  unterworfen  sein  werden,  die 
man  Ihnen  heute  - 1 833  und  1 844  — vorschlägt,  dass  Eng- 

land mit  den  rivalisirenden  Nationen,  Frankreich,  Deutsch- 
land, Belgien,  der  Schweiz  auf  dem  Weltmärkte  kämpfe,! 
wenn  solche  Gesetze  votirt  werden?  Ihr,  Mitglieder  des 
Unterhauses,  und  Ihr,  Mitglieder  des  Oberhauses,  begreitt 
Ihr  nicht,  dass  Ihr  Euren  Rivalen  ein  unstreitiges  in- 
dustrielles Uebergewicht  verleiht  und  den  Ruin  Gross- 
britanniens beschliesst?  Die  Arbeitslosigkeit,  Herabsetzung 
der  Löhne  sei  da  unausbleiblich  und  folglich  müsst  Ihr  Ge- 
setze zurückweisen,  deren  Resultate  verderblich  wären  und 
die,  ohne  der  Lage  der  arbeitenden  Klassen  irgend  welche 
Verbesserung  zu  bringen,  den  Untergang  der  englischen 
Industrie  unvermeidlich  nach  sich  ziehen  würden.“  Gleich- 
zeitig wies  er  nach,  dass  das  gerade  Gegentheil  von  all 


No.  17. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


217 


diesen  düsteren  Prophezeiungen  eingetreten  war  und  dass  ! 
von  1830  bis  1878  der  Fortschritt  der  Produktion  gleichen 
Schritt  mit  den  legislativen  Abänderungen  gehalten  hatte. 
Hätte  übrigens  die  Erfahrung  die  Fabrikgesetze  von  1833, 
1844,  1850  und  1867  verurtheilt,  dann  hätte  man  diese  Ge- 
setzgebung sicherlich  nicht  weiter  ausgebaut. 

Es  würde  zu  weit  führen,  wollte  man  hier  auf  all'  die 
trefflichen  Argumente  hinweisen,  die  der  Handelsminister 
für  die  so  sehr  bekämpfte  Bestimmung  des  Gesetzentwurfes 
ins  Feld  führte,  so  beispielsweise  darauf,  dass  in  den  Staats- 
fabriken, in  welchen  der  Arbeitstag  nur  zehn  Stunden  be- 
trägt, die  Produktion  gleich  geblieben,  wenn  nicht  gestiegen 
sei,  während  die  Qualität  des  Produkts  sich  gleichzeitig 
verbessert  habe.  Nur  auf  Eines,  auf  das,  was  er  gegen 
die  so  viel  erwähnte  Freiheit  der  Arbeit  vorbrachte,  sei 
hier  noch  aufmerksam  gemacht.  „Die  Freiheit  der  Arbeit!“ 
rief  er;  „Ich  möchte  wissen,  ob  es  im  Einklang  mit  der 
wahren  Natur  der  Dinge  stehe,  sie  unter  den  gegenwärtigen 
Existenzbedingungen  der  Industrie,  in  Mitte  der  jeden  Tag 
sich  vergrössernden  Errungenschaften  der  Wissenschaft  an- 
zurufen. Muss  man  nicht  nothwendiger  Weise  auf  jene 
riesenhaften  Werkstätten  Rücksicht  nehmen,  die  durch 
die  Massen  Jener,  welche  an  der  für  die  Bedürfnisse 
der  Menschheit  nöthigen  Produktion  mitwirken,  Städten 
gleichen  ? Der  Stoff  wird  da  bewältigt,  umgestaltet  von 
neuen  Kräften,  die  unsere  Väter  — sie,  welche  die  Prin- 
zipien von  1789  proklamirt  haben  — nicht  einmal  geahnt 
haben  und  die  sie  heute  als  fürchterliche  Mysterien  be- 
trachten würden.  Diese  Arbeitermasse  ist  diesem  mächtigen 
Mechanismus  so  sehr  unterworfen,  dass  die  Arbeiter  nicht 
einmal  mehr  der  Mitarbeiter  der  Maschine,  sondern  bloss 
dessen  Werkzeug  ist.  Er  scheint  einzig  geschaffen  zu  sein, 
das  Werk  zu  betrachten,  das  sie  verrichtet,  und  er  ist  der 
Sklave  des  Dampfes,  der  Elektrizität,  der  Triebkraft,  welche 
die  Welt  umgestaltet  und  die  ihre  Macht  selbst  auf  die 
Seelen,  auf  das  Gewissen,  auf  all’  das  ausübt,  was  ehemals 
dem  Bereiche  der  individuellen  Freiheit  angehörte.“ 

Aber  all’  dies  nützte  nichts.  Konnte  der  Minister  den 
Senat  auch  bewegen,  die  Frauen  mit  Bezug  auf  deren 
Arbeitszeit  nicht  ausserhalb  des  Schutzgesetzes  zu  stellen, 
so  vermochte  er  doch  nicht,  ihn  zur  Annahme  des  zehn- 
stündigen Arbeitstages  zu  bringen,  trotzdem  er  auch  darauf 
hinwies,  dass  man,  als  es  sich  um  die  Erhöhung  der  In- 
dustriezölle handelte,  besonders  den  vorliegenden  Gesetz- 
entwurf in’s  Feld  führte,  den  man  als  schon  angenommen 
betrachtete.  Die  einzige  Konzession,  zu  der  sich  der  Senat 
herbeiliess,  war,  für  die  Frauen  den  elfstündigen  Arbeitstag 
zu  votiren.  h reilich  darf  man  annehmen,  dass  wenn  der 
Minister  sein  Portefeuille  an  den  zehnstündigen  Arbeitstag 
geknüpft  hätte,  auch  dieser  durchgedrungen  wäre,  weil  der 
Senat  unter  solchen  Umständen  wohl  schwerlich  die  Ver- 
antwortlichkeit für  eine  Ministerkrise  übernommen  hätte. 
Er  hat  dies  jedoch  nicht  gethan,  und  so  wird  denn  der 
Kampf  der  Arbeiterschaft  um  eine  Verkürzung  der  Arbeits- 
zeit in  der  alten  Stärke  fortgeführt  werden  müssen. 

Paris-  Leo  Frankel. 


Möglichkeit  des  Maximalarbeitstages  für  die  deutsche 

Industrie.  Immer  mehr  häufen  sich  auch  die  Stimmen  aus 
Unternehmerkreisen,  die  für  eine  gesetzliche  Beschränkung  der 
Arbeitszeit  in  den  Fabriken  plaidiren.  So  theilt  der  württem- 
bergische  Fabrikinspektor  für  den  Donau-  und  Schwarzwald- 
kreis in  seinem  neuen  Jahresbericht  für  1891  Folgendes  mit: 
„Von  Interesse  dürfte  auch  die  mir  von  einigen  einsichtsvollen 
und  tüchtigen  Fabrikanten  mitgetheilte  Beobachtung  sein,  dass 
bei  verkürzter  Arbeitszeit,  besonders  bei  Akkordarbeit,  verhält- 
nissmässig  mehr  und  keineswegs  geringere  Waare  gefertigt 
wurde,  als  bei  der  früheren  längeren;  nach  deren  Ansicht  wäre 
z.  B.  bei  Baumwollwebereien  eine  lOstündige  Arbeitszeit  nicht 
von  so  nachtheiligen  Einfluss  auf  die  Produktion,  wie  von  vielen 
Fabrikanten  befürchtet  wird.  Bemerkenswerthe  Aeusserungen 
über  die  Arbeitszeit  enthält  u.  a.  auch  der  V.  Jahresbericht 
1 (1890/91)  des  Wohlfahrts-Vereins  der  Württembergischen  Metall - 
waarenfabrik  Geislingen.  Diese  Fabrik  beschäftigt  gegenwärtig 
ca.  1750  Personen,  worunter  ca.  1430  männliche  und  ca.  320  weib- 
liche, und  hat  genannten  Verein  zum  Wohl  ihrer  Arbeiter  vor 


5 Jahren  in’s  Leben  gerufen.  Da  in  dem  aus  20  Mitgliedern 
bestehenden  Vorstand  5 Vertreter  der  Firma,  darunter  2 Pro- 
kuristen, sich  befinden,  so  darf  diesen  Aeusserungen  Gewicht 
beigelegt  werden,  weshalb  von  dem  auf  die  Arbeitsverhältnisse 
sich  beziehenden  Inhalt  derselben  Nachstehendes  angeführt 
wird:  „Unsere  gewöhnliche  Arbeitszeit  ist  von  Morgens  7 bis 
Abends  f/47  Uhr  mit  einer  Pause  von  ;7412  Uhr  bis  1 Uhr.  Die 
durchschnittliche  Arbeitszeit  in  der  Glashütte  ist  8 Stunden. 
Eine  eigentliche  Vesperzeit  haben  wir  nicht,  aber  es  steht  Jedem 
frei,  während  der  Arbeitszeit  ein  Vesperbrot  einzunehmen.  Nur 
in  einzelnen  Betrieben,  wie  in  der  Metall-  und  Glasschleiferei, 
wird  Vormittags  3 49  Uhr  und  Nachmittags  3/44  Uhr  eine  viertel- 
stündige Pause  gemacht.  Die  Arbeitszeit  wechselt  mit  der 
Jahres^  bezw.  Geschäftszeit.  Im  Anfang  des  Jahres  1890  bis 
Mitte  Februar  war  die  Arbeitszeit  9*/2  .Stunden,  dann  bis  Ende 
Juni  10  Stunden,  vom  Juli  bis  September  11  Stunden,  Oktober 
und  November  IIV2  Stunden  und  im  Dezember  10 '/2  Stunden. 
Es  ist  in  unserem  Betriebe  nicht  möglich,  alle  Werkstätten  stets 
gleich  lang  zu  beschäftigen.  Einerseits  technische  Umstände, 
andererseits  der  wechselnde  Geschmack  und  die  Mode  führen 
Schwankungen  im  Bedarf  herbei,  welche  man  hin  und  wieder  aus- 
gleichen  muss  durch  Abkürzungen  und  Verlängerungen  der  Ar- 
beitszeit einzelner  Werkstätten.  Schon  aus  dieser  Erfahrung  und 
Nothwendigkeit  in  einem  einzelnen  Geschäftsbetrieb  ergiebt  sich, 
dass  die  Forderung  eines  allgemeinen  und  gleichen  gesetzlichen 
Normalarbeitstages  undurchführbar  ist.  Wenn  z.  B.  unsere 
Flaschnerei  und  Gürtlerei  ausnahmsweise  nicht  länger  arbeiten 
dürfte,  dann  müsste  die  Arbeitszeit  der  Versilberung  und  des 
Polirsaales  je  nach  Umständen  um  mehrere  Stunden  verkürzt 
werden.  Dagegen  halten  wir  es  in  Uebereinstimmung  mit 
unserer  Geschäftsleitung  in  Anbetracht  der  in  vielen  In- 
dustriezweigen herrschenden  Ueberproduktion  und  des 
Ueberflusses  an  Arbeitskräften  wie  auch  gesundheit- 
licher und  sittlicher  Verpflichtungen  für  ein  dringendes 
Gebot  der  Zeit,  dass  eine  gesetzliche  Regelung  der  Arbeits- 
zeit angestrebt  werde.  Nach  den  Bedürfnissen  der  einzelnen 
Arbeitszweige  sollte  die  Tagesarbeit  begrenzt  werden  (Maxi- 
malarbeitstag) derart,  dass  z B.  Gruben-  und  schwere 
Feuerarbeit  nicht  über  8 u.  s.  w.,  leichtere  Arbeit  nicht 
über  10  und  11  Stunden  in  der  Regel  dauern  darf.  Aus- 
nahmen müssten  in  begrenzter  Weise  behördlich  gestattet  wer- 
den können.“  Bekanntlich  hat  aber  die  preussische  Berggesetz- 
novelle noch  nicht  einmal  für  Bergleute  einen  Maximalarbeitstag 
vorgesehen.  Hier  zeigen  sich  Privatunternehmer  einsichtsvoller 
als  der  Staat. 

Preussische  Polizeiverordnung  über  die  äussere  Hei- 
lighaltung der  Sonn-  und  Festtage.  Betreffs  der  Heilig- 
haltung der  Sonn-  und  Festtage  veröffentlicht  der  „Reichs- 
anzeiger“ einen  Erlass  des  Handelsministers  an  die  Ober- 
präsidenten, den  Polizeipräsidenten  zu  Berlin,  und  den  Re- 
gierungspräsidenten von  Hohenzollern. 

Dem  Erlass  ist  gleichzeitig  ein  „vorläufiger  Ent- 
wurf“ zur  Prüfung  und  Begutachtung  beigelegt.  Abgesehen 
von  den  durch  die  reichsgesetzliche  Regelung  der  gewerb- 
lichen Sonntagsarbeit  bedingten  Aenderungen  enthält  der 
Entwurf  im  wesentlichen  nur  eine  Kodification  der  bis- 
herigen Bestimmungen.  Die  Milderungen  einiger  in  der 
Praxis  hervorgetretenen  Härten  ist,  so  heisst  es  im  „Reichs- 
anzeiger“, erfolgt,  um  die  Vorschriften  der  äusseren  Heilig- 
haltung  der  Sonn-  und  Festtage  mit  den  Anforderungen 
des  täglichen  Lebens  besser  in  Einklang  zu  bringen  und 
ihre  völlige  Durchführung  zu  sichern.  Erfreulich  ist,  dass 
auch  der  Land-  und  Forstwirthschaftsb  etrieb  in  diese 
Verordnung  einbegriffen  ist,  leider  dürfte  aber  praktischer 
Nutzen  sich  hieraus  nicht  ziehen  lassen,  da  von  dem  Ver- 
bote aller  öffentlich  bemerkbaren  und  geräuschvollen  Ar- 
beiten ausgenommen  sind:  „diejenigen  Arbeiten,  welche  zur 
Fortsetzung  des  häuslichen  Lebens  und  des  Landwirth- 
schaftsbetriebes  erforderlich  sind  und  keinen  Aufschub 
erleiden  können“. 

Erläuternd  bemerkt  der  Handelsminister  in  dem  Erlass, 
dass  die  fünf  Stunden,  an  welchen  die  Beschäftigung  und 
der  Betrieb  im  Handelsgewerbe  an  Sonn-  und  Festtagen 
stattlinden  darf,  durchweg  voraussichtlich  so  werden  gelegt 
werden,  dass  sie  um  7 Uhr  Vormittags  (eventuell  im  Sommer 
um  6 Uhr)  beginnen  und  um  2 Uhr  (eventuell  1 Uhr)  schliessen 
und  dass  eine  zweistündige  Unterbrechung  für  den  Haupt- 
gottesdienst und  die  Vorbereitung  zu  demselben  stattfindet. 
Die  Prüfung  des  Entwurfs  ist  darauf  zu  richten,  ob  ein- 
zelne seiner  Bestimmungen  zu  Bedenken  namentlich  auch 
wirtschaftlicher  Art  Anlass  geben,  und  inwieweit  Be- 
sonderheiten der  Provinz  eine  Abänderung  oder  Ergänzung 
des  Entwurfs  erfordern.  In  dem  Entwurf  sind  auch  alle 
gesetzlichen  Festtage  aufzunehmen.  Den  Berichten  der 
Oberpräsidenten  mit  den  Aeusserungen  des  Provinzialraths 
und  der  kirchlichen  Behörden  sieht  der  Minister  bis  zum 
15.  Mai  d.  Js.  entgegen. 


218 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  17. 


Sonntagsruhe  für  deutsche  Bahnarbeiter.  In  „einzelnen 
Direktionsbezirken“  der  preussischen  Staatsbahnen  sollte  vom 
1 April  ab  der  Güterverkehr  versuchsweise  an  Sonntagen 
eingestellt  werden.  Aus  den  Erfahrungen,  die  man  bei 
dieser  Einschränkung  des  Verkehrs  machen  wird,  will  man 
später  beurtheilen,  ob  sich  diese  neue  Einrichtung  ohne 
Nachtheil  für  den  Handel  und  die  Industrie  auf  den  ge- 
sammten  Eisenbahnverkehr  wird  ausdehnen  lassen. 

Die  erste  praktische  Anwendung  dieser  Massregel  wird 
letzt  in  folgender  Form  bekannt:  „Um  dem  Lokomotiv- und 
Zugbegleitungs-Personal  so  viel  Sonntagsruhe  wie  irgend 
möglich  zu  gewähren,  hat  die  Eisenbahndirektion  Köln, 
linksrheinisch,  durch  Verfügung  vom  9.  d.  M.  angeordnet, 
an  Sonntagen  den  Güterzugverkehr  thunlichst  einzuschran- 
ken: diese  Einschränkung  findet  besonders  auf  Leerzüge 
und  Massengüterzüge  Anwendung,  während  der  Stuckguter- 
verkehr  nur  insoweit  aufrecht  erhalten  werden  soll,  als  dies 
unbedingt  nothwendig  ist.“  Auf  diesem  Gebiete  muss  noch 
weit  energischer  vorgegangen  werden,  wenn  nur  halbwegs 
befriedigende  Arbeiterzustände  geschaffen  werden  sollen. 
Wie  gut  dies  möglich  ist,  beweist  folgende  Aeusserung  einer 
württembergischen  Fabrik,  die  einen  sehr  grossen  Ein- 
bahnverkehr hat  und  die  nach  dem  neuesten  Bericht  der 
Stuttgarter  Handels-  und  Gewerbekammer  wörtlich  schrieb . 

Wir  sind  für  gänzliche  Abschaffung  des  Güterverkehres 
auf  der  Bahn  an  Sonntagen,  und  zwar  zunächst  aus  huma- 
nen Gründen;  denn  bei  dem  ohnehin  sehr  anstrengenden 
Dienst  darf  dem  Eisenbahnpersonal  eine  regelmassige  Sonn- 
tagsruhe so  gut  wie  anderen  Arbeitern,  für  welche  das 
Gesetz  in  so  weitgehendem  Maasse  Sorge  trägt,  wohl  ge- 
gönnt werden.  Die  Abschaffung  empfiehlt  sich  aber  auch 
aus  geschäftlichen  Gründen.  Wir  haben  die  Wahr- 
nehmung gemacht,  dass  der  Schwerpunkt  des  Güten  ei  e irs 
an  Sonntagen  hauptsächlich  auf  die  Spedition  ganzer  Wag- 
gons gelegt  wird,  naturgemäss,  weil  der  Eilgüterverkehr  an 
Sen  Sonntagen  eingestellt  ist.  Aus  dem  letzteien  Grün  e 
kommt  es  nicht  selten  vor,  und  diese  Beobachtung  machen 
wir  nicht  nur  in  unserem  Geschäft,  sondern  auch  bei  den 
Güterbestellern,  dass  am  Montag  jeweils  eine  doppelte,  ja 
dreifache  und  oft  noch  grössere  Anzahl  von  ganzen  W agen- 
ladungen  zur  Entlastung  gebracht  werden  soll.  Danach,  ob 
oder  wie  dies,  wenn  das  nöthige  vermehrte  Personal  nie  i 
immer  zur  Hand  ist,  rechtzeitig  geschehen  kann,  tragt  die 
Bahnverwaltung  nicht,  und  „Strafezahlen“  ist  jeweils  das 
Ende  vom  Lied.  Warum  sollte  nun,  wie  auch  uns  das 
Ausladen  der  Güter  an  Sonntagen  verboten  ist,  nicht  auch 
der  Bahn  die  Spedition  derselben  untersagt  werden  können. 
Abhilfe  Hesse  sich  gewiss  treffen,  vielleicht  m der  Art,  dass 
die  Güterzüge  an  einem  beliebigen  Orte  24  Stunden  stehen 
bleiben.  Durch  diese  Pause  würde  zugleich  dem  Personal 
die  ihm  nöthige  Erholung  verschafft  und  vermittelt.  Dass 
eine  derartige  Aenderung  der  bestehenden  \ erhaltmsse  mit 
nicht  unerheblichen  Opfern  verknüpft  wäre,  ist  uns  ebenso 
klar,  wie  uns  andererseits  der  Gegenstand  auch  des 
Ojifers  würdig  erscheint.“  . 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  erwähnt,  dass  ein  treilich 
sehr  kleiner  Theil  der  deutschen  Staatseisenbahnbediensteten 
unter  einem  Eisenbahnarbeiterschutzgesetze,  dem  schweize- 
rischen, steht.  Dies  gilt  für  die  Beamten  der  elsass-loth- 
ringischen  und  badischen  Staatseisenbahnen,  soweit  deren 
Linien  auf  schweizer  Gebiete  liegen.  So  kurz  diese  Strec  en 
sind,  so  fallen  sie  bez.  der  Zahl  der  diesem  Gesetze  unter- 
stellten Personen  doch  nicht  ganz  ausser  Betracht.  m 
klein  wenig  wird  auch  der  Sonntagsgüterdienst  dieser  Hahnen 
auf  deutschem  Gebiete  beeinflusst,  da  von  ihren  wichtigsten 
südlichen  Kopfstationen  Basel  Centralbahnhot  und  Base 
badischer  Bahnhot  Güterzüge  am  Sonntag  nicht  abgehen 
und  dieselben  nicht  erreichen  dürlen.  Dem  Personal  dieser 
Bahnen,  soweit  sich  deren  Dienst  auf  schweizerischem  Ge- 
biete ganz  vollzieht,  ist  ein  Maximaiarbeitstag,  52  Kuhetage 
im  Tahre,  darunter  13  Freisonntage,  bestimmte  Arbeitspausen 
etc',  garantirt.  Die  Möglichkeit,  in  der  Schweiz  und  m einem 

\s0  wichtigen  internationalen  Verkehrsknotenpunkte  wie  Hasel 
Arbeiterschutzbestimmungen  für  das  Verkehrspersonal  an- 
zuwenden, wird  hoffentlich  die  Uebertragung  des  schweize- 
rischen Gesetzes  auf  deutschen  Boden  beschleunigen,  was 
ebenso  im  Interesse  des  Personals,  als  der  sozialen  Pflichten 
des  Staates  als  Arbeitgeber  und  der  \ erkehrssicherheit 
liegen  würde. 

Arbeiterschutz  für  die  Hausindustrie.  Die  Dringlich- 
keit dieser  alten  Forderung  der  fortgeschrittenen  Sozial- 
politik wird  von  Neuem  stark  betont  durch  den  kgl.  Le- 


werbeinspektor für  den  Bezirk  Plauen  i.  W in  seinem 
jahresberichte  für  1891.  Dort  heisst  es:  „Der  durch  die  ab- 
geänderte Gewerbeordnung  bedingte  Wegfall  der  Beschäf- 
tigung von  schul jiflichtigen  Kindern  in  den  Fabriken  wird 
im  Königreich  Sachsen  und  insbesondere  im  Voigtlande 
wegen  der  hier  vorherrschenden  Textil-lndustrie  mehr  als 
in  solchen  Industrie-Bezirken,  in  denen  die  schuljiflichtige 
Zeit  der  Kinder  eine  kürzere  ist  als  in  Sachsen,  nachtheilig 
empfunden  werden  und  an  der  böhmischen  Grenze,  be- 
sonders in  der  Musikinstrumenten-Industrie,  zur  stärkeren 
Heranziehung  fremder  Kinder  führen.  Diese  Einschränkung 
der  Kinderarbeit  wird  schon  jetzt  sowohl  von  Arbeitgebern, 
insbesondere  Stickerei-Fabrikanten,  welche  der  Meinung 
sind,  dass  die  deutsche  Stickerei  gegenüber  der  schweize- 
rischen nicht  konkurrenzfähig  bleiben  wird,  sowie  von  vielen 
Familienvätern  beklagt,  die  eine  Schmälerung  ihrer  Ein- 
nahmen befürchten.  Sie  wird  ferner  bewürben,  dass  manche 
fabrikmässig  betriebenen  Stickereien  mit  Handstickmaschinen 
in  kleinere,  in  denen  die  Beschäftigung  von  Kindern  ge- 
stattet ist,  übergehen,  dass  die  Kinder  in  diesem  Industrie- 
zweige, ebenso  wie  auch  in  der  Harmonika-Fabrikation,  in 
die  Hausindustrie  gedrängt  und  dort  unter  ungünsti- 
geren Verhältnissen  als  in  den  Fabriken  ausgenutzt 
werden.“  An  Mahnungen  zur  Ergänzung  der  Gewerbe- 
ordnung fehlt  es  also  nicht. 


Arbeiterversicherung. 


Die  Konferenz  der  eingeschriebenen  Hilfskassen. 

Am  19.  und  20.  April  fand  in  Hamburg  eine  von  dem 
Vorstande  der  Tischlerkrankenkasse  einberufene  Konferenz 
statt,  um  über  die  Stellung  der  eingeschriebenen  Hilfskassen  , 
zu  den  durch  die  Umänderung  des  § 75  des  Krankenkassen- 
gesetzes wesentlich  veränderten  Grundlagen  ihrer  Existenz 
schlüssig  zu  werden. 

Im  allgemeinen  trat  die  pessimistische  Stimmung,  die 
dem  Entwürfe  des  Gesetzes  und  den  Beschlüssen  des 
Reichstags  gegenüber  in  der  Arbeiterpresse  zum  Ausdruck  . 
kam,  wenig  zu  Tage.  Die  grosse  Majorität  sprach  sich  für 
die  Erhaltung  der  Kassen  trotz  der  veränderten  Grundlagen ; 
derselben  aus,  einzelne  Redner,  z.  B.  der  Vertreter  der  Tape- 
ziererkasse, meinten  sogar,  dass  die  Lage  der  freien  Kassen 
o-erade  durch  die  Novelle  zum  Krankenkassengesetze  besser 
geworden  wäre.  Diesen  Anschauungen  stand  eine  Minorität 
gegenüber,  welche  von  der  Ansicht  ausging,  dass  die  No- 
velle zum  Krankenkassengesetze  nur  der  Anfang,  nicht  aber 
der  Abschluss  einer  auf  die  Umgestaltung  der  Arbeiterver- 
sicherung hinzielenden  Politik  der  Reichsregierung  sei,  als 
deren  Ziel  ihr  eine  einheitliche  Organisation  des  gesammten 
Arbeiterversicherungswesens  erschiene,  die  durch  die  Existenz 
der  freien  Hilfskassen  naturgemäss  behindert  werde. 

Die  Vertreter  dieser  Richtung  konstatirten,  dass  nun 
nach  Ablauf  des  Sozialistengesetzes  die  Arbeiter  als  Partei 
kein  nennenswerthes  Interesse  an  der  Existenz  der  freien 
Hilfskassen  hätten,  wofür  mannigfache  Momente  sprechen, 
so  der  schlechte  Besuch  aller  seitens  der  Kassenverwal- 
tungen einberufenen  Versammlungen,  der  Mangel  fast  jeder 
Stellungnahme  der  Arbeiter  selbst  zur  Krankenkassen- 
novelle, der  in  Anbetracht  des  entschiedenen  Eintretens  der 
Arbeiterabgeordneten  für  die  freien  Kassen  im  Reichstage 
und  der  schroffen  Stellungnahme  der  Arbeiterpresse  gegen 
das  Gesetz  doppelt  auffällig  sei.  Diese  Minorität  bedauerte 
es  auch  lebhaft,  dass  die  organisirten  Arbeiter  durch  ihren 
Beitritt  zu  den  freien  Hilfskassen  sich  jeder  Einflussnahme 
auf  die  Vertretung  der  Arbeiterinteressen  bei  der  Unfall-, 
Invaliditäts-  und  Altersversicherung  begeben.  Die  Vertreter 
dieser  Anschauungen  traten  deshalb  im  Prinzipe  für  die 
Auflösung  der  freien  Hilfskassen,  ihre  Umgestaltung  in  Zu- 
schusskassen und  den  Eintritt  sämmtlicher  Mitglieder  in  die 
Ortskrankenkassen  ein,  auf  deren  Verwaltung  sie  dann 
leicht  den  massgebenden  Einfluss  nehmen  könnten.  Die 
Minorität  warnte  vor  jedem  Experimentiren  mit  dem  neuen 
Gesetze,  das  ohne  Aussicht  auf  endgiltigen  Erfolg  doch  zur 
Aufgabe  der  Kassen  nach  grossen  Geldverlusten  führen 
müsse.  Würde  man  aber  vor  Inkrafttreten  des  Kranken- 
kassengesetzes die  Umwandlung  der  freien  Hilfskassen  in 


No.  17. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


219 


Zuschusskassen  vornehmen,  so  erzielte  man  ausgezeichnet 
fundirte,  sehr  leistungsfähige  Kassen  dieser  Art,  was  später 
nach  grossen  Verlusten  dieser  Kassen  jedenfalls  nicht  mehr 
in  gleich  vortheilhafter  Weise  möglich  sein  dürfte.  Hier- 
gegen wurde  eingewandt,  dass  bei  Auflösung  der  Kassen 
viele  alte  Mitglieder  ihrer  wohlerworbenen  Rechte  verlustig 
gehen  würden,  dass  vielen  damit  die  Möglichkeit  jeder  Ver- 
sicherung gegen  Krankheit  genommen  werden  würde,  so 
der  grossen  Anzahl  von  Handwerksmeistern  und  den  vielen 
im  Berufe  nicht  mehr  thätigen  Arbeitern.  Die  strengen 
Bestimmungen  der  Ortskrankenkassen  hätten  zur  Folge, 
dass  in  Zeiten  der  Arbeitslosigkeit  Zehntausende  von  Ar- 
beitern, die  ihr  Krankengeld  länger  als  drei  Wochen  nicht 
bezahlten,  der  Vortheile  der  Krankenversicherung  verlustig 
gehen,  die  ihnen  bisnun  in  liberaler  Weise  von  den  freien 
Hilfskassen  gewährleistet  wurden.  Bei  Auflösung  der  freien 
Hilfskassen  würden  die  Ortskrankenkassen  die  vorwärts- 
treibende Konkurrenz  der  höhere  Leistungen  bietenden 
freien  Hilfskassen  verlieren. 

Von  mehreren  Seiten  wurde  ein  Antrag  vertreten,  der 
im  Wesentlichen  dem  in  Nr.  16  des  Sozialpolitischen  Cen- 
tralblattes gemachten  entspricht,  sämmtliche  Kassen  zu 
Gunsten  einer  einzigen  aufzulösen,  demselben  trat  aber  die 
Majorität  des  Kongresses  nicht  bei.  Ferner  wurde  gewünscht, 
die  zu  bildenden  Zuschusskassen  den  gewerkschaftlichen 
Organisationen  einzugliedern.  Dieser  Vorschlag,  der  die 
Unterordnung  der  Gewerkschaften  unter  die  Versicherungs- 
gesetzgebnng  und  die  Erschwerung  der  freien  Bewegung 
der  Gewerkschaften  wegen  der  nothwendigen  Rücksicht- 
nahme auf  die  Kassen  zur  Folge  gehabt  hätte,  fand  auch 
nicht  den  Beifall  des  Kongresses. 

Gegen  den  Vorschlag  des  Zusammenschlusses  einzelner 
Kassen  wurde  eingewandt,  dass  die  schlecht  arbeitenden 
Kassen  ohne  oder  mit  ungenügendem  Reservefond  wohl,  die 
besser  situirten  aber  kaum  hiezu  bereit  sein  würden. 

Einen  Vermittiungsvorschlag  zwischen  den  Richtungen 
der  Centralisirung  aller  Kassen  und  der  weiteren  Berufs- 
scheidung der  Kassen  machte,  nachdem  der  auch  von  ihm 
vertretene  Vorschlag  der  Centralisirung  abgelehnt  war,  Herr 
Legien  in  folgender  Resolution: 

„Die  Konferenz  der  Vorstände  der  freien  Hilfskassen 
erkennt  an,  dass  die  neuen  gesetzlichen  Bestimmungen  die 
Centralkassen  mehr  belasten  werden,  als  dieses  bisher  der 
Fall  war.  Diese  Mehrbelastung  kann  jedoch  dadurch  auf- 
gehoben werden,  dass  die  einzelnen  Kassen  mit  einander 
m nähere  Beziehung  treten  und  in  Form  eines  Verbandes 
oder  von  Kartellverträgen  gemeinsame  Einrichtungen  treffen. 
Diese  Kartellverträge  sind  dahin  abzuschliessen,  dass 

I)  die  Mitglieder  der  freien  Kassen  an  einem  Orte  den 
Vertrauensarzt  gemeinsam  wählen,  resp.  Vereinbarungen 
mit  den  Apotheken  treffen. 

2J  allmählich  eine  gleiche  Verwaltung  und  eine 
gleiche  Einrichtung  der  Verwaltungsmaterialien  herbeigeführt 
werden; 

3 ) die  Beiträge  und  Leistungen  der  Kasse  nach  gleichen 
Grundsätzen  bemessen  werden; 

4)  die  Mitglieder  der  einen  Kasse  bei  Ortswechsel  in 
eine  andere  Kasse  eintreten  können,  ohne  dass  es  weiterer 
Formalitäten  bedarf. 

Die  Ausarbeitung  von  Bestimmungen  in  diesem  Sinne 
ist  unverzüglich  von  der  vom  Kongress  gewählten  Kom- 
mission zu  besorgen  und  den  einzelnen  Kassen  zu  unterbreiten. 

Die  anwesenden  Vertreter  verpflichten  sich,  auf  den 
Generalversammlungen  der  resp.  Kassen  für  Durchführung 
dieser  Kartellverträge  einzutreten.“ 

Nachdem  auch  dieser  Vorschlag  abgelehnt  war,  wurde 
ein  Antrag  des  Vertreters  der  Tapezirerkrankenkasse,  Grün- 
waldt,  angenommen,  dass  ein  Verbandsstatut  der  freien 
Hiltskassen  ausgearbeitet  werde,  welches  vor  Allem  den 
Zweck  verfolgen  soll,  dass  für  Arzt  und  Medicamente  von 
allen  Kassen  gemeinsam  für  alle  Mitglieder  gesorgt  wer- 
den soll. 

Nach  Annahme  dieses  Antrages  hielt  man  eine  Be- 
sprechung des  vorgelegten  Statutenentwurfes  nicht  mehr 
für  noth wendig  und  schloss  die  Verhandlungen,  welche  wohl 
in  der  Folge  zu  einem  stärkeren  Aneinanderschliessen  der 
Ireien  Hilfskassen  führen  dürften.  Eine  Besprechung  dieses 
Statutes  scheint  vorerst  nicht  nöthig,  da  demnächst  schon 
Statutenentwürfe  der  grossen  Krankenkassen  publizirt 
werden  dürften,  deren  Besprechung  dann  nicht  bloss  von 
theoretischem,  sondern  von  wesentlich  praktischem  Interesse 
sein  wird. 


Infektiöse  Krankheiten  und  die  österreichische 
Krankenversicherung. 

An  die  niederösterreichischen  Krankenkassen  erging 
kürzlich  der  nachfolgende  amtliche  Erlass: 

„Das  Auftreten  von  Trachom  unter  den  Arbeitern 
einer  der  grössten  Spinnfabriken  Niederösterreichs,  in 
welche  diese  Krankheit  nachweislich  durch  auswärtige  (sic.!) 
Arbeiter  zu  wiederholten  Malen  eingeschleppt  worden  war, 
hat  die  k.  k.  Statthalterei  verlasst,  der  betreffenden  politi- 
schen Behörde  die  Einführung  einer  regelmässigen  ärzt- 
lichen Untersuchung  der  zur  Fabriksarbeit  sich  meldenden 
Individuen  auf  Trachom,  Syphilis,  Krätze  und  andere  über- 
tragbare Krankheiten  zu  empfehlen. 

Bei  der  Erhebung  der  bezüglichen  Verhältnisse  hat 
sich  nun  gezeigt,  dass  diese  Einrichtung  bei  mehreren 
Fabriken  zum  Schutze  ihrer  Arbeiterschaft  gegen  eine  Ein- 
schleppung infektiöser  Krankheiten  durch  auswärtige  (!) 
Elemente  schon  seit  längerer  Zeit  besteht  und  derart 
durchgeführt  wird,  dass  Arbeiter  nur  dann  in  die  betreffen- 
den Etablissements  aufgenommen  werden,  wenn  sie  vorher 
vom  Fabriksarzte  untersucht  und  gesund  befunden  worden 
sind.  Ferner  hat  sich  ergeben,  dass  von  einer  grossen 
Zahl  der  ein  vernommenen  Fabriksleitungen  die  ärztliche 
Untersuchung  neu  aufzunehmender  Arbeiter  schon  mit 
Rücksicht  auf  die  gesetzliche  Krankenversicherung  (!)  für 
nothwendig  und  im  Interesse  der  Krankenkassen  gelegen 
erklärt  würde,  so  dass  angenommen  werden  darf,  dass  eine 
solche  Massregel,  deren  Wichtigkeit  für  die  Unterdrückung 
der  übertragbaren  Krankheiten  sich  von  selbst  ergiebt,  weder 
bei  den  Fabriksbesitzern  noch  bei  den  Arbeitern  aut 
Schwierigkeiten  stossen  diirlte  . . . .“ 

Die  Kassenleitungen  werden  nun  aufgefordert,  sich 
über  die  Durchführbarkeit  der  angeführten  Massregel  zu 
äussern.  Die  zahlreichen  Bedenken,  welche  gegen  dieselbe 
sprechen,  finden  wir  in  einem  vom  Verbände  der  Ge- 
nossenschaftskrankenkassen in  Wien,  der  Allgemeinen  Ar- 
beiterkranken-Kasse  etc.  erstatteten  Gutachten  so  glücklich 
zusammengefasst,  dass  wir  uns  damit  begnügen  können, 
dasselbe  hier  auszugsweise  wiederzugeben. 

Es  unterliege  keinem  Zweifel,  dass  durch  den  Eintritt 
von  mit  infektiösen  Krankheiten  behatteten  Individuen  in 
Werkstätten  und  Fabriken  die  Gesundheit  anderer  xVrbeiter 
stark  gefährdet  werde.  Die  gleiche  Gefahr  werde  aber 
auch  durch  die  Erkrankung  von  in  Arbeit  stehenden  Perso- 
nen hervorgerufen,  welche  die  Geringfügigkeit  der  Kranken- 
unterstützung nöthige,  bei  der  Arbeit  so  lange  als  möglich 
auszuharren.  Die  Konsequenz  würde  deshalb  fordern, 
nicht  nur  „auswärtige“  Arbeiter  auf  übertragbare  Krank- 
heiten zu  untersuchen,  sondern  regelmässig  wiederkehrende 
ärztliche  Untersuchungen  in  allen  Arbeitsstätten  und  für 
das  gesammte  Personal  einzuführen. 

Was  bedeutet  nun  der  Ausschluss  aller  an  infektiösen 
Krankheiten  Leidenden  von  der  Arbeit?  Die  statistischen 
Daten  des  Verbandes  der  Genossenschaftskrankenkassen  in 
Wien  zeigen  folgendes  Bild.  Im  Jahre  1890  wurden  von 
den  rund  70  000  Mitgliedern  behandelt  an 

1.  infektiösen  Krankheiten  und  bezogen 

Unterstützung 4 195 

infektiösen  Krankheiten  und  bezogen 
keine  Unterstützung  . . . . • • • 

2.  venerischen  und  syphilitischen  Leiden 

und  bezogen  Unterstützung  . . . . 

venerischen  und  syphilitischen  Leiden 
und  bezogen  keine  Unterstützung  . . 

3.  Kranheiten  der  Haut  und  bezogen 

Unterstützung 

Krankheiten  der  Haut  und  bezogen 
keine  Unterstützung 


426 


909 


038 


808 


I 164 

zusammen  5 530  und  3 010 
Personen.  Dabei  bleiben  übertragbare  Krankheiten  des 
Auges  und  anderer  Organe  ausser  Betracht.  Zu  den 
3000  Kranken,  um  welche  sich  die  Zahl  der  Unterstützten 
durch  die  Bekämpfung  der  infektiösen  Leiden  vermehren 
würden,  kommt  jene  weit  grössere  Masse  von  Personen,  die 
heute  nicht  einmal  die  Hilte  des  Arztes  anzurufen  pflegt. 
Gering  angeschlagen,  würde  die  Zahl  der  unterstützten 
Kranken,  erklärt  das  Gutachten,  sich  um  50  % erhöhen. 
Wer  aber  soll  die  dadurch  enorm  gesteigerten  Lasten  auf- 
bringen? Weder  die  arbeitende  Bevölkerung  noch  die 
Kleingewerbetreibenden  wären  dazu  im  Stande.  „Die  hohe 
Statthalterei  muss,  wenn  sie  die  Durchführung  ihres  ausser- 
ordentlich glücklichen  Gedankens  ernst  nimmt,  der  hohen 
Regierung  den  Antrag  unterbreiten,  die  zur  Durchführung 


220 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  17. 


der  Massregel  erforderlichen,  mit  wenigen  Millionen  zu  be- 
ziffernden Mittel,  aus  dem  Staatsfonde  eventuell  mit  Unter- 
stützung von  Land  und  Gemeinde  aufzubringen.“ 

Perhorrescirt  man  einen  solchen  \\  eg,  „dann  dürfen 
wir  uns  die  bescheidene  Frage  erlauben,  was  denn  mit 
jenen  Tausenden  geschehen  soll,  die  durch  die  angeregte 
Massreo-el  von  aller  Arbeit  entfernt  werden.  Insolange  ein- 
zelne Fabriken  den  Vorgang  befolgen,  dass  sie  die  schlech- 
testen Risken  von  den  Petri ebskrankenkassen  ab-  und  aut 
die  Bezirks-  und  Genossenschaftskrankenkassen  übersalzen, 
ist  ja  die  Sachlage  noch  nicht  bedenklich.  Das  wird  sie 
aber,  sobald  Personen,  die  mit  übertragbaren  Krankheiten 
behaftet  sind,  aus  allen  Werkstätten  und  Fabriken  zuiiick- 
gewiesen  werden.  Dann  tritt  die  Nothwendigkeit  ein,  für 
diese  aus  höhern  Rücksichten  um  ihr  Brod  Gebrachten 
Sorge  zu  tragen  . . .“ 

Die  vorgeschlagene  Massregel  sei  übrigens  repressiver 
Natur.  Der  Staat  könne  aber  auf  dem  Wege  der  Arbeiter- 
schutzoesetzgebung  durch  Verhütung  von  Ueberanstren- 
o-ung  vorbeugend  wirken.  ja  selbst  durch  anscheinend 
belanglose  Anordnungen  könne  der  Verbreitung  infektiöser 
Leiden  vorgebaut  werden.  So  sei  z.  B.  bekannt,  dass  che 
Krätze  bei  der  Schuhmacherei  durch  das  Schlafen  und  Zu- 
sammenschlafen in  den  Werkstätten  verbreitet  werde.  Die 
Gehilfen  kämpfen  seit  Jahren  für  die  Beseitigung  der  Na- 
turalwohnungen, ohne  bisher  die  Unterstützung  der  Be- 
hörden gefunden  zu  haben.  Die  Statthaltern  möge  es  doch 
versuchen,  die  Krätze  dadurch  zu  beseitigen,  dass  strenge 
auf  Beistellung  gesunder  Schlafstätten  gesehen  oder  die 
Gewährung  von  Naturalwohnungen  gänzlich  verboten  | 

werde.  . 

Ueberdies  werde  besonders  im  Kleingewerbe  der  An- 
und  Abmeldepflicht  nur  wenig  genügt.  Bekannt  sei  auch,  ; 
dass  in  zahlreichen  Gewerben  die  Fluktuation  dei  Ai  beiter 
eine  riesi°re  genannt  werden  müsse.  „V  ie  soll  nun  eine 
Krankenkasse  rechtzeitig  zur  Kenntniss  gelangen,  dass 
ein  „auswärtiger“  Arbeiter  eingetreten  ist?  Erfährt  sie  das 
aber  nicht,  ja  erfährt  sie  das  auch  nur  nicht  rechtzeitig, 
so  ist  sie  ausser  Stande  eine  Untersuchung  anzuordnen  und 
das  erstrebte  Resultat  bleibt  aus.“ 

Auf  Grund  dieser  Ausführungen  gelangen  die  begut- 
achtenden Kassen  zu  der  Konklusion,  dass  die  vorgeschla- 
o-ene  Massregel  sehr  human  sei,  aber  eine  weitgehende 
Inanspruchnahme  staatlicher  Mittel,  ein  entschiedenes  \ or- 
gehen  auf  dem  Gebiete  der  Arbeiterschutzgesetzgebung 
und  Hygiene  und  endlich  eine  strengere  Durchführung  des 
Krankenversicherungsgesetzes  erfordere. 

„Ist  die  hohe  Staatsverwaltung  ernstlich  gewillt,  diese 
Wege  zu  besehreiten,  dann  Würden  die  gefertigten  Kranken- 
kassen, eingedenk  der  Aufgaben,  die  ihnen  die  Gesetz- 
gebung und  die  Natur  der  Sache  auferlegt,  mit  aller  Energie 
die  hohen  Behörden  in  ihren  Bemühungen  zu  unterstützen 
trachten.“ 


Zur  organisatorischen  Reform  der  deutschen  Arbeiter- 
Versicherung.  Wie  dem  Jahresberichte  der  Stuttgaiter 
Handels-  und  Gewerbekammer  zu  entnehmen  ist,  äussert 
sich  eine  Stuttgarter  Fabrik  tolgendermassen  über  die  Ar- 
beiterversicherung:  „Wir  bezahlen  unseren  Arbeitern  den 
oesammten  Versicherungsbeitrag;  das  Abziehen  eines  1 heiles 
desselben  macht  die  Leute  gegen  die  staatliche  Fürsorge 
so  erbittert  und  für  ihre  Vortheile  so  unempfindlich,  dass 
es  den  ganzen  Segen  dieses  Gesetzes  auf  hebt.  Nachdem  ja 
jetzt  genügendes  statistisches  Material  vorliegt,  sollten  die 
drei  bestehenden  Versicherungen  in  eine  zusam- 
mengezogen werden;  bei  der  derzeitigen  Zersplitterung 
verschlingen  die  Betriebskosten  den  grössten  i heil  der 
Einnahmen.“  Das  ist  ganz  der  Standpunkt,  welcher  auch 
an  dieser  Stelle  bezüglich  einer  Reorganisation  der  deut- 
schen Arbeiterversicherung  vertreten  wurde. 


Krankenversicherung  der  Dienstboten  in  Baden.  Als 

im  Jahre  1888  die  landesgesetzliche  Krankenversicherung 
der  häuslichen  Dienstboten  in  Baden  eingeführt  wurde, 
wirkte  für  die  Trennung  dieser  Versicherung  von  der  allge- 
meinen Versicherungspflicht  namentlich  der  Zweifel,  ob  die 
Unterordnung  der  Dienstboten  unter  diese  allgemeine  1 flicht 
o'esetzlich  zulässig  sei.  Diese  Zweifel  sind  durch  die  Be- 
rathuno-en  der  Novelle  zum  Krankenversicherungsgesetz 
o-ehoben  worden  und  dies  war  der  Anlass,  dass  neuer- 
dings das  Ministerium  des  Innern  zur  Einbringung  einei 


entsprechenden  Vorlage  schritt,  nachdem  auch  praktische 
Gründe  die  Aufhebung  dieser  besonderen  Versiche- 
rung rathsam  erscheinen  dessen.  Mit  der  Genehmigung 
der  Vorlage  wird  eine  Entlastung  der  Verwaltungsorgane 
eintreten ; einzelne  Städte  machen  übrigens  darauf  auf- 
merksam, dass  in  ihren  Anstalten  jetzt  die  Versicherung 
wesentlich  billiger  ist,  als  bei  der  allgemeinen  reichsgesetz- 
lichen  Krankenversicherung.  Am  Schluss  des  Jahres  1890 
bestanden  im  Grossherzogthum  62  Versicherungen  dieser 
Art  mit  einem  Durchschnittsbestand  von  31  934  Versicherten, 
einer  Gesammteinnahme  von  rund  291  000  M.  und  einer 
Ausgabe  von  269  000  M.,  darunter  152  600  M.  für  Kranken- 
hauspflege. 


Bestrebungen  zur  Abschaffung  des  Invaliditäts-  und 
Alters  Versicherungsgesetzes.  Die  deutsch-freisinnige  Partei 

Bayerns  hat  bekanntlich  eine  Petitionsbewegung  gegen  das  In- 
validitäts- und  Altersversicherungsgesetz  inscenirt,  die  bayrische 
Centrumspartei  nahm  dieser  Bewegung  gegenüber  eine  wohl- 
wollend neutrale  Stellung  ein,  während  die  Sozialdemokraten 
für  die  Aufrechterhaltung"  des  Gesetzes  bei  Betonung  der  Noth- 
wendigkeit seiner  Amendirung  eintraten.  Ueber  das  Ergebniss 
der  anscheinend  jetzt  abgeschlossenen  Petitionsbewegung  liegen 
jetzt  Angaben  vor. 

Danach  beträgt  die  Gesammtzahl  der  bis  zum  6.  April 
eingelaufenen  Unterschriften  245  745  und  zwrar  aus  Oberbayern 
51861,  Niederbayern  32  146,  Oberpfalz  18  450,  Oberfranken  25  124, 
Mittelfranken  64  496,  Unterfranken  24  618,  Schwaben  24  240,  aus 
ausserbayrischen  Ortschaften  und  aus  solchen  bayrischen,  von 
denen  nicht  mit  Bestimmtheit  festgestellt  werden  konnte,  zu 
welchem  Bezirksamte  sie  gehören,  4810  Unterschriften. 


Gewerbegerichte. 


Rechtsmittel  gegen  Entscheidungen  der  Gewerbe- 
gerichtc.  Eine  allgemeine  Verfügung  des  preussischen 
justizministers  vom  II.  April  d.  J.  ordnet  die  geschäftliche 
Behandlung  der  gegen  Entscheidungen  der  Gewerbegerichte 
eingelegten  Rechtsmittel.  Danach  unterliegen  Berufungen 
und  Beschwerden  in  Rechtsstreitigkeiten,  welche  in  erster 
Instanz  zur  Zuständigkeit  der  Gewerbegerichte  gehören, 
derselben  geschäftlichen  Behandlung  wie  die  entsprechen- 
den Rechtsmittel  in  den  zur  Zuständigkeit  der  Amtsgerichte: 
gehörten  bürgerlichen  Rechtsstreitigkeiten  und  werden 
auch  m die  für  die  letzteren  bestimmten  Register  einge- 
tragen. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 


Wohnungs-  und  Haushaltungsverhältnisse  der  Stadt 
Halle  a S.  bei  der  Volkszählung  des  Jahres  1S90.  Nach  15 

verschiedenen  Kategorien  wurden  die  Wohnungen  der  Stadt 
Halle  a.  S.  gelegentlich  der  Aufnahme  im  Jahre  1890  gruppirt, 
wodurch  man  ein  anschauliches  Bild  der  Wohnungszustände 
dieser  Stadt  erhält.  22  081  Wohnungen  wurden  bewohnt,  von 
diesen  lagen  im  Keller  oder  Souterrain  905  (mit  3827  Bewohnern), 
Erdgeschosse  3854  (16  954  Bewohner),  im  Zwischenstocke 


im 


(Entresöl)  1025  (4824  Bewohner),  im  1.  Stocke  6667  (28  82 1 Be- ' 


WuimcTT  iiTT  u.  otuvxCC  ^i,. 

(10  448  Bewohner),  im  4.  Stocke  191  (7o8  Bewohner),  im  5.  Stocke 
6 (31  Bewohner),  13-16  (8708  Bewohner)  Wohnungen  lagen  m 


ohner),  im  2.  Stocke  5558  (23  088  Bewohner),  im  3.  Stocke  -o  19 

_ . „ , • 4 -1-  im  /HZ  O 13  A„ml-mQr  \ vrr»  S StflPCP 


mehreren  Stockwerken,  10  (71  Bewohner)  umfassten  das  ganze 
Haus.  Bedauerlich  ist,  dass  nicht  auch  angegeben  war,  wie 
viele  Wohnungen  unter  dem  Dache  waren. 

Es  kamen  auf  die  Wohnung 


im 

Keller 

4,23 

Bewohner 

Paterre 

4,39 

r> 

Entresöl 

U7 

1.  Stocke 

4,32 

55 

2.  Stocke 

4,15 

>> 

3.  Stocke 

4,15 

55 

4.  Stocke  . . 

3,97 

5? 

5.  Stocke 

5,17 

in 

verschiedenen  Stockwerken 

6,47 

55 

>) 

ganzes  Haus  

7,1 

5) 

Xo.  17. 


SO/,1  Al  .POLITISCHES  CENTRAEBLATT. 


Wären  die  Wohnungen  in  allen  Stockwerken  gleich  gross, 
so  wäre  das  Verhältnis!  ein  recht  günstiges,  da  aber  in  der 
Re"-el  in  den  höheren  Stockwerken  mehr  Wohnungen  sind,  als 
in  'clen  niedrigeren  des  gleichen  Hauses,  so  stellt  sich  das  Ver- 
hältniss  natürlich  für  die  höheren  Stockwerke  bedeutend  un- 
günstiger. Es  wurden  22  081  bewohnte  Wohnungen  gezählt, 
hiervon  waren  ohne  heizbare  Zimmer  28  (68  Bewohner),  es  be- 
standen aus  einem  Zimmer  ohne  Zubehör  1914  Wohnungen  mit 
5323  Bewohnern,  aus  einem  Zimmer  mit  Zubehör  9149  Wohnungen 
bewohnt  von  36  753  Personen,  in  den  4936  Wohnungen  mit  zwei 
heizbaren  Zimmern  wohnten  22  854,  in  den  2624  Wohnungen 
mit  drei  heizbaren  Zimmern  12  727,  in  den  1367  Wohnungen  mit 
vier  heizbaren  Zimmern  7207,  in  den  895  Wohnungen  mit  füllt 
heizbaren  Zimmern  4763,  in  den  471  Wohnungen  mit  sechs  heiz- 
baren Zimmern  2676,  in  den  282  Wohnungen  mit  sieben  heiz- 
baren Zimmern  1820  Personen  und  in  den  415  Wohnungen  mit 
acht  und  mehr  Zimmern  3339  Personen. 


Auf  je  ein  Zimmer  der  Wohnungen 

mit  0 heizbaren  Zimmern 

„ I heizbarem  Zimmer  ohne  Zubehör 

„1  „ . » mit 

„ 2 heizbaren  Zimmern 

5!  3 ,,  ,, 

))  f !)  >’ 

V ^ 55  ” 

55  6 ,,  55 

” 8 und  mehr  (angenommener  Durch- 
schnitt 9)  heizbaren  Zimmern  . . 


kamen  2,43  Bewohner, 
2 78 

5,  "5/0  55 

4 02 

5)  ,, 

„ 2,32 

!>  1,62  „ 

„ 1,32 

„ 1,06 

„ 0,95 

,.  0,92 

0,90 


Diese  Tabelle  belegt  nur  die  allgemeine  Annahme,  dass 
die  Grösse  der  Wohnungen  keineswegs  mit  der  Bewohnerzahl 
steigt,  dies  ist  nur  der  Fall  bis  und  ausschliesslich  der  Wohnun- 
gen mit  2 heizbaren  Zimmern,  von  da  an  zeigt  sich  eine  ganz 
auffallend  regelmässige  Gleichmässigkeit  der  Abnahme  der  Be- 
wohnerzahl mit  dem  Grösserwerden  der  Wohnungen. 

Es  wurden  gezählt  1727  Wohnungen  mit  1,  3431  mit  2,  3955 
mit  3,  3688  mit  4,  3105  mit  5,  2328  mit  6,  1528  mit  7,  1006  mit  8, 
531  mit  9,  322  mit  10  und  460  mit  mehr  als  10  Bewohnern.  Da 
die  durchschnittliche  Bewohnerzahl  der  Wohnungen  der  Stadt 
Halle  4,42  war,  so  waren  unter  dem  Durchschnitte  12  801  und 
über  dem  Durchschnitte  9280  Wohnungen  bewohnt.  Als 
übervölkerte  Wohnungen  wurden  die  Wohnungen  von  weniger 
als  2 heizbaren  Zimmern  mit  6 und  mehr  und  die  zwei- 
zimmrigen  Wohnungen  mit  11  und  mehr  Bewohnern  betrachtet. 
Nach  diesem  Massstabe  waren  2 Wohnungen  ohne  heizbares 
Zimmer,  104  lediglich  einzimmrige,  und  2079  Wohnungen  mit 
einem  Zimmer  und  Zubehör,  ferner  86  zweizimmrige  Wohnungen 
übervölkert,  in  4 Wohnungen  hausten  2 Haushaltungen.  Von 
den  22C81  bewohnten  Wohnungen  hatten  blos  17  387  Kochküchen 
und  15  380  Wasserleitung.  1138  besassen  Badezimmer.  Auf  die 
Vorderwohnungen  kamen  im  Durchschnitte  4,40,  auf  die  Hinter- 
wohnungen 4,21,  und  auf  die  Vorder-  und  Hinterwohnungen 
6,39  Bewohner.  Der  Durchschnittsmiethpreis  einer  Mieth- 
wohnung  betrug  M.  283,  der  der  Mietwohnungen  mit  gewerb- 
licher Nebenbenutzung  M.  503,  und  der  ohne  derartige  Neben- 
benützung M.  251.  In  der  letzteren  Kategorie  war  der  Miet- 
preis eines  Zimmers  am  höchsten  im  5. (!)  Stockwerke  (M.  149). 
Hierauf  folgen  Zimmer  im  Zwischenstocke  (M.  143),  im  I.  (M.  141), 
II.  (M.  131),  IV.  (M.  113),  III.  (M.  112)  Stocke  und  im  Keller 
; (M.  92). 

Nach  Miethzinsstufen  gruppiren  sich  die  Wohnungen  in 
folgender  Regelmässigkeit: 


hatten  3684  Dienstboten,  1407  Gewerbsgehilfen,  718  Pensionäre 
oder  Pfleglinge,  1946  Altermiether  und  1654  Schlafleute. 


Der  Grösse  nach  gruppirten  sich 
olgendermassen : 

die  Haushaltungen 

mit  1 Mitgliede 

1750 

• 2 

j)  ^ )5  

3444 

„3  „ 

3966 

„4  „ 

3701 

„5  „ 

3108 

„6  „ 

2331 

„7  „ 

1523 

„8 

999 

„9  „ 

527 

„ 10  „ ...... 

322 

„ 10  und  mehr  Mitgliedern  . 

462. 

Wohnungszustände  in  Worms.  In 

dem  V erwaltungs- 

bericht  für  1891  der  Grossherzogi.  Bürgermeisterei  Worms  wird 
j auf  Grund  umfangreicher  Erhebungen  der  Polizeiverwaltung 
1 Folgendes  mitgetheilt:  „Unter  Berücksichtigung  des  Umstandes, 
dass  14%  aller  Wohnungen  als  feucht  und  ungesund  ermittelt 
i und  4%  derselben  als  in  hohem  Maasse  überfüllt  erscheinen, 
muss  man  zu  'dem  Schlüsse  kommen,  dass  gesetzliche  Mass- 
nahmen unbedingt  geboten  erscheinen,  um  hier  Abhilfe  zu 
schaffen.“  Die  Erhebungen  erstreckten  sich  auf  1604  vor- 
handene Arbeiterwohnungen,  die  von  ca.  10  400  Personen  be- 
wohnt waren.  Zu  der  Frage  der  Regierung,  ob  sich  für  die 
hiesigen  Verhältnisse  der  Erlass  von  Bestimmungen  über  Ab- 
stellung der  Wohnungsmissstände  empfehle,  hat  man  sich,  wie 
in  dem  Berichte  hervorgehoben  wird,  wie  folgt  aussprechen  zu 
j müssen  geglaubt:  „Die  allgemeine  Bauordnung  giebt  nur  Vor- 
j Schriften,  welche  die  Neuerrichtung  von  ungesunden  Bauten 
und  Wohnungen  verhindern,  dagegen  bietet  die  Bauordnung 
| auch  gar  keine  Handhabe,  um  gegen  bestehende  missständige 
| Wohnungen  einschreiten  zu  können.  Es  darf  wohl  kein  An- 
stand genommen  werden,  auszusprechen,  dass  in  keiner  Form 
; der  Wucher  die  Nothlage  seiner  Opfer  so  schonungslos  aus- 
i beutet,  als  der  Wohnungswucher.“  Wenn  auch  zugestanden 
werden  müsse,  dass  weder  Staat  noch  Gemeinde  im  Stande 
seien,  auf  die  Preisgestaltung  der  Wohnungen  dauernd  wirksam 
einzuwirken,  so  dürfte  es  umsomehr  als  eine  Pflicht  der  Gesetz- 
gebung anerkannt  werden,  dagegen  Massregeln  zu  treffen,  dass 
i Unbemittelte,  welche  kein  Unterkommen  finden  können,  ge- 
radezu gezwungen  sind,  Wohnungen  zu  beziehen  und  zu  be- 
zahlen, die  das  körperliche  und  sittliche  Wohl  der  Bewohner 
untergraben.  Denn  die  Gesundheit  der  Bewohner  der  14% 
feuchten  und  ungesunden  Arbeiterwohnungen  in  Worms  werde 
| schwer  geschädigt  und  der  skrophulose  und  rachitische  Kinder- 
nachwuchs, der  uns  leider  überall  entgegentrete,  gebe  dafür 
lautes  Zeugniss.  Der  Schluss  des  betreffenden  Berichtes  lautet 
wörtlich:  „Wohnungen,  die  auf  den  Wohnraum  rund  5 Per- 

sonen über  6 Jahre,  also  mit  den  kleinen  Kindern  mindestens 
8 Seelen  beherbergen,  zerstören  durch  die  mit  dieser  Menschen- 
anhäufung unvermeidlich  verbundene  Unreinlichkeit  und 
schlechte  Luft  nicht  allein  die  Gesundheit,  sondern  auch  alle 
Scham  und  Sitte,  ganz  abgesehen  davon,  dass  ein  Familienleben 
in  solchen  Wohnungen  undenkbar  ist.  Es  muss  deshalb  der 
Erlass  von  Bestimmungen  zur  Verhütung  ungesunden  Wohnens 
als  ein  unerlässliches  Bedürfhiss  angesehen  werden.“ 


Preis 

Wohnungen 

0 250  ...  . 

12  230 

251  500  ...  ■ 

3814 

501  1000  . . . . 

1 738 

1001  1500  . . . 

444 

1501—2000  . 

2001  2500  . . ■ 

33 

2501-3000  . . . 

20 

über  3000  . • . 

38 

Die  Sesshaftigkeit  ist  in  Halle  a.  S.  verhältnissmässig  gross, 
was  folgende  Zusammenstellung  zeigt: 


Bezugdauer 
0 — 6 Monate 


7—12 


3—  4 

4—  5 

5— 10 


über  10 


55 

Jahre 

55 

55 

55 

55 

55 


Zahl  der  Wohnungen 

4023 

2611 

3586 

2337 

1467 

982 

3025 

2206 


Bewohnt  wurden  die  Wohnungen  von  1750  Einzelhaus- 
haltungen, 12  676  aus  Familienangehörigen  und  Verwandten  zu- 
sammengesetzten Haushaltungen  und  aus  7707  aus  Familienan- 
gehörigen und  Fremden  bestehenden  Haushaltungen,  und  zwar 


Litteratur. 


Allgemeiner  Schweizer  Gewerkschaftsbund.  Jahresbericht  des 
Bundeskomitees  an  die  Sektionen,  umfassend  den  Zeitraum 
vom  1.  Januar  1891  bis  1 März  1892,  erstattet  an  den  in  Aarau 
am  17.  und  18.  April  1892  stattfindenden  Gewerkschafts- 
kongress. Zürich  1892.  Buchdruckerei  des  Schweizer  Griitli- 
vereines. 

Dieses  kleine  Schriftchen  wird  für  jeden  unentbehrlich 
sein,  der  die  Gewerkschaftsbewegung  der  Schweiz  verfolgen 
will.  Man  lernt  aus  derselben  die  Tendenzen  der  Organisationen, 
die  Wichtigkeit  des  Bundeskomitees,  die  finanziellen  Leistungen 
des  Gewerkschaftsbundes  kennen  und  erhält  eine  Uebersicht 
über  sämmtliche  in  der  besprochenen  Zeit  stattgefundenen  Lohn- 
kämpfe. Da  fast  stets  die  Forderungen  der  Arbeiter  bez. 
anderweitige  Ursachen  der  Arbeitseinstellung  angegeben  werden, 
so  kann  das  Schriftchen  auch  dem  Sozialstatistiker  manches 
nützliche  bieten. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin 


222 


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No.  17. 


Verlag  von  Leonhard  Simion,  Berlin  SW.,  Wilhelmstrasse  121 

Volkswirtschaftliche  Zeitfragen, 

Vorträge  und  Abhandlungen 

herausgegeben  von 

der  Volkswirtschaftlichen  Gesellschaft  in  Berlin 

und 

der  ständigen  Deputation  des  Kongresses  Deutscher  Volkswirte. 


Jährlich  erscheinen  S Hefte  sunt  Abonncmentspreise  von  6 Mark. 
Einseipreis  für  jedes  Heft  l Mark. 


Demnächst  erscheinen: 

Die  amtliche  Statistik 

und 

die  Arbeiterfrage  im  Deutschen  Reich. 

Von 

Dr.  E.  Hirschberg. 


Der  gegenwärtige  Stand  der  Elektrotechnik 

und 

ihre  Bedeutung  für  das  Wirtschaftsleben. 

Von 

F.  Uppenborn. 


X (gm! fgntag,  Dtrlagalntdüianblmtg  in  Berlin. 

(Buffctttag'J'dic  Sammlung 
Br.  20.  Brutfrijcv  Kr t djsiu'i'rbr.  Br.  20. 


«Soeben  evf d}ien : 


ftanknii)ctfid)etunp0efc§ 

turnt  15.  dntti  188B, 

IPF“  in  ber  gnffunß  ber  9t  ob  eite  botn  10.  Steril  189*2. 


fol]ii-  tiitü  Irtrits-ilerlinltiiillt 


int 

bentfdjcn  $h*cdj5ler-©eniedir. 

(Sine  $ufaiumenftellung  ftntiftifdjer  (Sri)  eb  tut  gen 
aus*  83  ©teibten  $eutfd)tanb3,  über  bie  ößlpte, 
Slvbeitöäeit,  Sllter,  $ranff)eit,  2lrbeitßtofigfeit 
ber  airbeiter,  ob  biefelben  ©otbat  waren,  wie 
bie  2lrl>eit3räuine,  SBerl^enge  befd)affeu,  welche 
23rattd)en  bertreteh  finb  uftu. 


flirciS  50  fpfg.  pro  (^jrmplav. 
Sßerlag  «on  Jfj-  Scipart  „jSrfldjjtß.  f.  ^recfj^Iet" 
£nmbttrß=2t.  ©eorjj,  2ln  ber  Doppel  79. 

jfrei  llanö  j 

podjenlitjrift  jur  prümmn  riner  frieölidjen ! 

Supatofurm. 

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bErttjrefovm. 

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23ei  alten  tßoftanftalteii  (9tr.  2272 
ber  fßofbteitungälifte)  .... 

23ei  birefter  Äreujltaubfenbung: 

in  2)eutfd)Ianb  unb  Oefterreiclj . 

im  2Bettpoftüerein 

Sn  ISerlin  bet  freier  gufenbung  . . 

Bie  ffixpEbifirm 

K.  luadtö,  SfaUfct|mhrr|fr.  55. 


ÜJlf.  0,80 

„ 1 ,20  ■ 

„ 1,50 

„ ; 


Auguft  (nnmpclmiinu, 

Ittfkts  fjaf  ber  Eanbntanrt  non  bpr 
^opat^rint1hEaltE  |u  ErroarlEn? 


IJJreiö  25  fj}f.,  20  (fpetnplarc  für  5 5Dt.,  lüOgrpl. 
für  15  3R.,  1009  6jpl.  für  10J  Söt. 

2er  Sficologtfcfje  £itcratur=23erid)t  fd)veibt:  ,,2ic 
allgemeine  Hcrbreitung  Sieter  törofcfnire  ift 
Itudttt  tuunfebenemert.  3dj  rate  Sen  Werren  ilintä-; 
brübern,  fie  in  tänbtietjen  SSerfammlimgcit  jur  älertejiMifl' 
nnb  Sejprejung  ju  bringen  mib  Dertpredjc  barcat  guten! 
Crfotg. 

SSerlrtci  ooit  ütfctiiljolh  2ßertl)er  in  SfeipjigJ 


®ic  öffeutlidje  ^ürforge 

für  bie 


muierrdjulbrteit  Arbcitslofeit. 

©rnnbtinien  eitteb  ©efetjeutiöitrfs. 


Hireiö  1 2Wf. 


S)ie  Senbett^  biefes  (SntumrfeS  ift  tumtefjm* 
tid)  balfin  gerietet,  bie  ©treitigfeiten  jroifdien 
2trbeitgebern  unb  2trbeitnelpnern  311  uerljiiten, 
bie  2trbeitsüert)ültniffe  foliber  unb  bauerbafter 
311  geftatten  unb  Ifierburd)  3111*  ^erftetluug  bee 
f Opiaten  griebend  behutragen. 

(Jbuarb  Sctlag  in  ililündien. 


% e z t = 21  lt  § g a b e mit  21  it  nt  e r ! lt  tt  g e n 11  it  b e a d)  r e g i ft  e r 

Kon 

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Hugo  Frankel, 

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Tausch  sind  stets  willkommen. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  2.  Mai  1892. 


Nummer  18. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


alle 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 

Die  Umgestaltung  der  Ge-  ! Centralverband  der  österreichi- 
werbe-Inspektion  in  Preus-  scheu  Grossindustrie, 

sen.  Von  Dr. Heinrich  Braun.  Handwerkerfragen: 
Arbeiterzustände:  Untergang  des  Kleingewerbes  in 

Die  Arbeitslöhne  in  der  ober-  Württemberg. 

schlesischen  Montanindustrie.  I landwerkerorganisationen  für  die 

Von  Prof.  Dr.  Werner  Sombart.  Gewerbefreiheit. 

Statistik  der  Lohn-  und  Arbeits-  Arbeiterschntzgesetzgebung : 
Verhältnisse  der  Maurer  von  Zur  preussischen  Berggesetznovelle. 

Lauenburg  a. Elbe  im  Jahre  1891.  Regelung  der  Sonntagsruhe  in  der 

Gewerkschaftliche  Arbeiter-  Industrie  Berlins, 

beweguilg:  Ruhezeiten  für  österreichische 

Die  Tarifgemeinschaft  im  Buch-  Staatsbeamte. 

druckerge werbe.  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes 

Verband  deutscher  Textilarbeiter.  in  Oesterreich. 

Hirsch- Duncker’sche  Gcwerkver-  Arbeiterschutz  in  Schweden. 

eine  in  Bayern.  Gewerbeinspektion: 

Eine  Gewerkschaft  der  Mühlen-  Vermehrung  der  Fabrikinspektoren 

arbeiter  Niederösterreichs.  im  Kgr.  Sachsen. 

Die  Forderungen  der  schweize-  Fabrikinspektion  in  den  Reichs- 
rischen Arbeiter.  landen. 

Unternehmer  verbände:  Arbeiterversicherung: 

Neues  Kartell  der  russischen  Organisation  der  staatlichen  Kran- 
Zuckerfabrikanten.  Von  E.  kenversicherung  in  Oesterreich. 
Sch.olko  w.  W ohlfahrtseinriclitungen : 

Ländlicher  Unternehmerverband  in  Konferenz  der  Centralstelle  für 

Schlesien.  Wohlfahrtseinrichtungen. 

I * 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 


wendung  eine  der  inneren  Bedingungen  jedes  Arbeiter- 
schutzgesetzes  ist,  und  dass  Einheitlichkeit  der  Massnahmen 
des  Inspektorats  zu  den  wesentlichen  Voraussetzungen  ge- 
deihlicher Wirksamkeit  des  letzteren  gehört.  .Allein  diese 
wohlbegründeten  Anschauungen  fanden  keine  Beachtung, 
und  wir  haben  zum  Nachtheil  des  Gesetzes  sowohl  wie  der 
davon  Betroffenen  eine  in  jedem  deutschen  Bundesstaate 
seinen  Eigentümlichkeiten  wechselnd  sich  anpassende,  in 
Folge  dessen  im  ganzen  Reiche  sehr  ungleichartige  Hand- 
habung des  Arbeiterschutzgesetzes  zu  konstatiren.  Diese 
Verhältnisse  sind  auch  durch  die  Novelle  zur  Gewerbe- 
ordnung, die  in  ihrem  weitaus  grössten  Theil  am  1.  April 
in  Kraft  getreten  ist,  nicht  geändert  worden. 

An  dem  Massstab  der  Garantien  seiner  Durchführung- 
gemessen,  lässt  sich  über  das  neue  Arbeiterschutzgesetz 
noch  kein  Urtheil  fällen,  weil  in  vielen  Bundesstaaten  die 
für  das  Inspektorat  angesichts  der  veränderten  Verhältnisse 
neu  zu  erlassenden  Verordnungen  noch  nicht  erschienen 
sind.  Für  Preussen , welches  auch  nach  dieser  Hin- 
sicht auf  die  übrigen  Bundesstaaten  bisher  schon  einen 
massgebenden  Einfluss  geübt  hat  und  vermuthlich  auch 
künftighin  üben  dürfte,  ist  eine  „Dienstanweisung  für  die 
Gewerbe-Aufsichtsbeamten“  unter  dem  23.  März  1892  seitens 
des  Ministers  für  Handel  und  Gewerbe  erlassen  worden.1) 


jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Umgestaltung  der  Gewerbe-Inspektion 
in  Preussen. 


Aus  dem  Gegensatz  der  gesellschaftlichen  Interessen 
hervorgegangen  und  von  dem  Konflikt  derselben  -unaus- 
gesetzt bedrängt,  kann  die  Arbeiterschutzgesetzgebung  zur 
Geltung  nur  gelangen,  wenn  ein  wohlorganisirtes  Inspektorat 
ihre  Verwirklichung  erzwingt.  Um  sich  über  den  Werth 
dieser  Gesetzgebung  ein  zutreffendes  Urtheil  zu  verschaffen, 
bedarf  es  darum  insbesondere  einer  sorgfältigen  Betrachtung 
der  zu  ihrer  Durchführung  geschaffenen  Garantien.  Wenn 
wir  daraufhin  die  deutsche  Gewerbe-Ordnung  in’s  Auge 
fassen,  so  tritt  uns  zunächst  die  Thatsache  entgegen,  dass 
dieses  für  das  ganze  Reich  einheitlich  geordnete  Gesetz  für 
die  Inspektion  nur  die  allgemeinsten  Grundzüge  festsetzt 
und  im  Uebrigen  eine  vpllkommen  zersplitterte,  nach  der 
Seite  ihrer  speziellen  Ausgestaltung  jedem  der  26  Bundes- 
staaten besonders  überlassene  Gewerbeaufsicht  gestattet. 
Der  partikularistische  Charakter  der  deutschen  Inspektion 
gehört  zu  ihren  schlimmsten  Gebrechen.  Es  ist  oft  genug 
hervorgehoben  worden,  dass  die  Gleichmässigkeit  der  An- 


Bis  zum  1.  April  d.  J.  beruhte  die  preussische  Ge- 
werbe-Inspektion, abgesehen  vom  § 139b  der  Gewerbe- 
ordnung auf  der  Dienstanweisung  für  die  Gewerberäthe  vom 
24.  Mai  1879  und  auf  den  für  die  Regierungsbezirke  Düsseldorf 
und  Arnsberg  erlassenen  Dienstanweisungen  für  die  Ge- 
werbe-Inspektoren vom  23.  Juni  1891.  Mit  den  erweiterten 
Aufgaben  des  neuen  Arbeiterschutzgesetzes  ergab  sich  die 
Nothwendigkeit  einer  Reorganisation,  und  die  preussische 
Regierung  musste  zum  Ersatz  der  alten  Dienstanweisung 
umso  eher  schreiten,  als  sie  den  neu  erwachsenen  Obliegen- 
heiten der  Inspektion  auch  noch  die  Kesselrevision  hinzu- 
fügte und  zum  Theil  mit  Rücksicht  auf  letztere  die  Zahl 
der  Beamten  bedeutend  vergrösserte. 

Nach  der  Dienstanweisung  vom  23.  März  1892  umfasst 
der  Wirkungskreis  der  Inspektionsbeamten  die  Aufsicht 
über  die  Durchführung  der  Vorschriften  betreffend  die 
Sonntagsruhe,  die  Einrichtung  der  Betriebsanlagen,  die 
Arbeitsordnungen,  die  Beschäftigung  der  Arbeiterinnen  und 


i)  Abgedruckt  u.  A.  in  der  „Ersten  Extra -Beilage  zum 
15.  Stück  des  Amtsblatts  der  K.  Regierung  zu  Potsdam  und  der 
Stadt  Berlin“  vom  8,  April  1892.  — Es  ist  schwer  verständlich, 
warum  für  eine  derartige  wichtige  Verordnung  nicht  der 
„Deutsche  Reichs-  und  Königlich  Preussische  Staatsanzeiger“ 
zur  Veröffentlichung  gewählt  wird,  und  man  in  Hinsicht  dieses 
wichtigen  Aktenstücks  auf  die  schwer  zugänglichen  Amtsblätter 
der  Regierungsbezirke  angewiesen  ist. 


224 


SOZI  AI  POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  18. 


jugendlichen  Arbeiter,  die  genehmigungspflichtigen  Anlagen, 
die  Arbeitsbücher,  Zeugnisse  und  die  Lohnzahlung.  End- 
lich wird,  wie  erwähnt,  den  Gewerbeaufsichtsbeamten  auch 
die  Kesselrevision  übertragen.  Die  Gewerbeaufsicht  wird 
durch  Regierungs-  und  Gewerberäthe,  durch  Gewerbe- 
Inspektoren  und  durch  Hilfsarbeiter  (Assistenten  ausgeübt. 
Zur  Durchführung  der  Gewerbe- Aufsicht  werden  Geweibe- 
Inspektionsbezirke  gebildet,  deren  Verwaltung  je  einem 
Gewerbe-Inspektor  übertragen  wird.  Die  Gewerbe-Inspek- 
toren unterstehen  den  Gewerberäthen.  Die  Aufgabe  der 
letzteren  besteht  wesentlich  in  ihrer  1 hätigkeit  als  tech- 
nische Mitglieder  der  Regierungen  und  in  ihrer  Ueber- 
wachung  der  Gewerbe-Inspektoren.  Die  Gewerbe-Aufsichts- 
beamten sollen  in  Ergänzung  der  den  ordentlichen  Polizei- 
behörden obliegenden  Aufgaben  zunächst  für  eine  möglichst 
vollständige  und  gleichmässige  Durchführung  der  Bestim- 
mungen  der  Gewerbeordnung  und  der  aut  Grund  ihrer  er- 
lassenen Vorschriften  Sorge  tragen.  „Dabei  sollen  sie“ 
iso  bestimmt  § 6 der  Dienstanweisung)  „ihre  Aufgabe  vor- 
nehmlich darin  suchen,  gestützt  auf  ihre  Vertrautheit  mit 
den  gesetzlichen  Bestimmungen,  ihre  technischen  Kennt- 
nisse und  amtlichen  Erfahrungen,  durch  sachverständige 
Berathung  und  wohlwollende  Vermittelung  eine  Regelung 
der  Betriebs-  und  Arbeitsverhältnisse  herbeizuführen,  welche 
ohne  dem  Gewerbeunternehmer  unnöthige  Opfer  oder  zweck- 
lose Beschränkungen  aufzuerlegen,  den  Arbeitern  den  vollen 
durch  das  Gesetz  ihnen  zugedachten  Schutz  gewährt  und 
das  Publikum  gegen  gefährdende  und  belästigende  Ein- 
wirkungen sicher  stellt.“  Wenn  sie  Gesetzwidrigkeiten  und 
Uebelstände  vorflnden,  sollen  sie  deren  Abstellung  durch 
gütliche  Vorstellungen  herbeizuführen  suchen  und  nur, 
wenn  dies  nicht  gelingt,  die  Hilfe  der  Polizeibehörden  in 
Anspruch  nehmen.  Nach  den  Bestimmungen  der  Gewerbe- 
ordnung haben  die  Gewerbe-Aufsichtsbeamten  zwar  selbst 
polizeiliche  Befugnisse.  Indessen  sind  sie  angewiesen  (§  8 
der  Dienstanweisung),  von  diesen  Befugnissen  keinen  Ge- 
brauch zu  machen,  ausgenommen  in  Fällen,  in  denen  Ge- 
fahr im  Verzüge  ist. 

Zur  Erfüllung  ihrer  Aufgaben  sollen  die  Aufsichts- 
beamten fortlaufend  die  industriellen  Betriebe  besuchen  und 
sich  ein  Urtheil  über  deren  Zustand  und  die  Frage,  ob  es 
des  Erlasses  neuer  Vorschriften  zur  Beseitigung  von  Miss- 
ständen bedürfe,  verschaffen.  Die  Inhaber  und  Leiter  der 
Anlagen  sind  verpflichtet,  die  Besichtigungen  zu  jeder  Zeit 
speziell  auch  des  Nachts  zu  gestatten. 

Die  Ortspolizeibehörden  haben  den  Gewerbeaufsichts- 
beamten bei  Ausübung  ihrer  Amtsthätigkeit  behilflich  zu 
sein.  Alljährlich  haben  die  Regierungs-  und  Gewerberäthe 
einen  Jahresbericht  über  ihre  amtliche  Thätigkeit  bis  zum 
1.  März  dem  Handelsminister,  einen  ebensolchen  die  Gewerbe- 
inspektoren bis  zum  I5.januar  dem  Regierungs-  und  Gewerbe- 
rath ihres  Bezirkes  vorzulegen. 

Was  die  Vermehrung  der  Aufsichtsbeamten  anlangt, 
so  soll  das  Personal  der  Inspektion  nach  der  dem  vorjährigen 
Etat  des  preussischen  Handelsministeriums  beigegebenen 
Denkschrift,  betr.  die  künftige  Regelung  der  Gewerbe- 
Inspektion  künftighin  aus  163  Beamten  bestehen,  und  zwar 
aus  26  Regierungs-  und  Gewerberäthen,  97  Gewerbeinspek- 
toren und  40  Assistenten.  Die  Vermehrung  des  Aufsichtsper- 
sonals soll  auf  vier  Jahre  vertheilt  werden.  Ueber  den  ersten 
Schritt  dieser  Reorganisation,  welche  in  der  Rheinprovinz, 
den  Provinzen  Westphalen  und  Hessen-Nassau,  dem  Regie- 
rungsbezirk Potsdam  und  der  Stadt  Berlin  im  Wesentlichen 
bereits  zur  Durchführung  gelangte,  ist  in  No.  16,  S.  207 
dieser  Zeitschrift  berichtet  worden. 

Wenn  wir  zur  Beurtheilung  der  Reorganisation  der 
Gewerbeaufsicht  in  Preussen  auf  die  hier  mitgetheilten 
wichtigsten  Züge  derselben  einen  Blick  werfen,  so  bietet 


sich  vor  Allem  die  Erhöhung  der  Zahl  der  Inspektions- 
beamten  als  ein  bestechendes  Moment  dar.  In  der 
That  wird  Preussen  in  wenigen  Jahren  einen  der  absoluten 
Zahl  nach  alle  anderen  Staaten  weit  übertreffenden 
Stab  von  gewerblichen  Aufsichtsbeamten  besitzen.  Bei 
näherer  Betrachtung  büsst  indessen  das  Bild  von  seiner 
glänzenden  Erscheinung  sehr  Vieles  ein.  Der  Umstand, 
dass  die  Kesselrevision  künftig  zu  den  Obliegenheiten  der 
preussischen  Aufsichtsbeamten  zählen  wird,  muss  zur  Folge 
haben,  dass  dieAufgaben  der  eigentlichen  Gewerbeinspektion 
trotz  der  scheinbar  ausserordentlichen  Vermehrung  der  Be- 
amten eine  noch  unzulänglichere  Besorgung  als  bisher  er- 
fahren werden.  Wie  jene  Denkschrift  berechnet,  wird  ein 
Beamter  im  Jahr  durchschnittlich  300  Revisionen  gewerblicher 
Anlagen  und  200  Kesselrevisionen  ausführen  können.  Im  Jahre 
1890  entfielen  dagegen  bei  dem  bisherigen  Beamtenstatus 
372  Revisionen  gewerblicher  Anlagen  im  Durchschnitt  auf 
einen  Inspektor  in  Preussen.  Künftighin  würde  diese  Ziffer 
für  die  gewerblichen  Revisionen  kaum  erreicht  werden. 
Dabei  ist  aber  zu  berücksichtigen,  dass  durch  die  Fortbil- 
dung der  Arbeiterschutz-Gesetzgebung  der  Inspektion  weit 
grössere  Aufgaben  zugefallen  sind,  und  unter  diesem  Ge- 
sichtspunkt die  Vermehrung  der  Inspektoren  sich  noch  un- 
genügender darstellt.  Nicht  weniger  unerfreulich  erscheint 
die  Situation,  wenn  man  die  nach  der  Reorganisation  vor- 
handene Zahl  der  preussischen  Aufsichtsbeamten  mit  der 
Anzahl  der  zu  revidirenden  Betriebe  vergleicht.  Nach  der, 
Berufszählung  von  1882  gab  es  in  Preussen  451  453  Betriebe, 
die  unter  die  Gewerbeinspektion  fallen.  Bei  der  Annahme 
von  163  Aufsichtsbeamten  mit  je  500  Inspektionen  im  Jahr, 
würde  daher  jeder  Betrieb  etwa  einmal  in  fünf  Jahren 
revidirt  werden  können. 

Man  sieht,  die  Verquickung  der  Dampfkesselrevision, 
mit  der  Fabrikinspektion  macht  den  Werth  der  Vermehrung 
der  Aufsichtsbeamten  zum  grossen  Theile  zu  nichte.  Es  em- 
pfiehlt sich  deshalb  auf  das  Dringendste,  die  Kesselrevision  von 
der  Gewerbeaufsicht  loszulösen  und  dieselbe  wie  bisher 
den  durchaus  befriedigend  fungirenden  staatlichen  Revi- 
soren und  freiwilligen  Revisionsvereinen  auch  ferner  zu,: 
überlassen.  < 

Zu  den  zahlreichen  Gründen,  welche  dies  wünschens-' 
werth  erscheinen  lassen,  gehört  auch  der,  dass  in  jenem' 
Fall  die  Wahl  der  Aufsichtsbeamten  nicht  wie  jetzt  vor- 
wiegend auf  den  Kreis  von  „geprüften  Baumeistern  des 
Maschinen-  und  Ingenieurfaches  und  der  Bergassessoren“ 
beschränkt  bleiben  müsste , (vergl.  Rede  des  Ministers 
v.  Berlepsch  in  der  Sitzung  des  preussischen  Abgeord- 
netenhauses vom  13.  März  1891,  Stenographisches  Protokoll, 
S.  1459).  Wenn  die  mannigfachen  und  immer  komplizirter 
sich  gestaltenden  Aufgaben  der  Gewerbe-Inspektion  glück- 
lich gelöst  werden  sollen , dann  können  sie  unmöglich 
vorzugsweise  Technikern  übertragen  werden,  die  über 
einen,  wenn  auch  sehr  wichtigen,  I heil  die  hygienischen, 
ökonomischen  und  sozialen  Seiten  der  Aufgabe  nothwendig 
vernachlässigen  müssen. 

Die  Uebertragung  der  Kesselrevision  auf  die  Inspek- 
toren ist  gewiss  ein  sehr  schlimmer  Fehler,  allein  noch  tief- 
greifender und  für  die  Institution  verderblicher  ist  die 
Stellung  und  Machtfülle,  die  einerseits  den  unteren  Polizei- 
behörden hinsichtlich  der  Gewerbeaufsicht  eingeräumt 
worden  ist,  andererseits  die  völlige  Einflusslosigkeit,  zu 
welcher  die  Aufsichtsbeamten  selbst  verurtheilt  sind. 

Der  § 139b  der  Gewerbeordnung  überträgt  den  In- 
spektionsbeamten „bei  Ausübung  dieser  Aufsicht  alle  amt- 
lichen Befugnisse  der  Ortspolizeibehörden“;  demgegenüber 
erklärt  die  Dienstanweisung  wie  wir  schon  oben  erwähnten: 
„von  dem  Rechte,  polizeiliche  Straffestsetzungen  zu  treffen, 
sollen  die  Gewerbe-Aufsichtsbeamten  keinen  Gebrauch 


No.  iß,  SOZIALPOLITISCHES  CKNTRALBLATT.  225 


machen“  und  von  dem  Rechte,  polizeiliche  Verfügungen 
zu  erlassen,  nur  ausnahmsweise,  wenn  Gefahr  im  Verzug 
ist.  Die  Gewerbc-Aufsichtsbeamten  werden  zur  Abstellung 
ihnen  begegnender  Gesetzwidrigkeiten  und  Uebelstände 
auf  den  Weg  „gütlicher  Vorstellungen  und  geeigneter 
Rathschläge“  verwiesen,  und  wenn  sie  auf  diesem  Wege 
die  Erfüllung  gesetzlicher  Anforderungen  nicht  erreichen, 
sollen  sie  sich  an  die  Polizeibehörden  wenden  und  diese 
zum  Einschreiten  veranlassen.  Während  den  englischen 
Fabrikinspektoren  das  Recht  zusteht,  selbständig  Anord- 
nungen zu  treffen  und  Uebertretungen  gerichtlich  zu 
verfolgen,  stehen  die  deutschen  Aufsichtsbeamten  dem 
renitenten  Unternehmer  mit  gelähmtem  Arm  gegen- 

Iüber  und  bedürfen,  um  dem  Gesetz  Achtung  zu  ver- 
schaffen eines,  — in  zahllosen  von  den  Inspektoren 
selbst  amtlich  konstatirten  Fällen  fruchtlosen,  — Appells  an 
die  Ortspolizeibehörden.  Es  bedarf  darnach  nicht  erst 
einer  näheren  Darlegung,  wie  sehr  unter  solchen  Verhält- 
nissen die  Autorität  des  Aufsichtsbeamten  aber  in  noch 
höherem  Mass  die  des  Arbeiterschutzgesetzes  leidet.  Die 
klägliche  Stellung,  welche  den  Gewerbe-Inspektoren  zuge- 
muthet  wird,  findet  u.  E.  ihre  Erklärung  in  der  offiziellen  Auf- 
fassung der  ganzen  Institution.  „Sachverständige  Berathung, 
wohlwollende  Vermittlung“  scheint  man  in  den  Kreisen  der 
Regierung  für  die  eigentliche  Aufgabe  der  Gewerbeinspek- 
tion zu  halten.  Demgegenüber  möchten  wir  an  das  Wort 
Lorenz  v.  Stein’s  erinnern,  welches  das  Wesen  des  In- 
spektorats  treffend  bezeichnet:  „Die  grosse  Mission  des 

Arbeitsinspektorats  ist  es,  der  Anwalt  aller  einzelnen  Ar- 
beiter zu  sein,  welche  als  solche  hilflos  den  Forderungen 
der  Unternehmer  gegenüberstehen  und  zwar  in  der  Weise, 
dass  es  die  Beobachtung  der  allgemeinen  Grundsätze  und 
Gesetze  des  Arbeiterrechts  von  jedem  Unternehmer  über- 
wacht und  dieselbe  nöthigenfalls  erzwingt.“  (Vgl.  Hand- 
buch der  Verwaltungslehre,  Stuttgart,  1888,  3.  Auf!.,  3.  Theil, 
S.  184).  Erst  wenn  diese  Auffassung  zur  Geltung  gelangt 
sein  wird,  werden  die  deutschen  Gewerbe-Inspektoren  das 
Ansehen  und  den  Einfluss  gewinnen,  welcher  dem  Ernst 
ihres  Berufes  entspricht. 

Am  schwersten  zu  begreifen  ist  die  Stellung,  welche 
den  Polizeibehörden  in  Bezug  auf  die  Durchführung  des 
Arbeiterschutzgesetzes  eingeräumt  worden  ist.  Auch  ohne 
dass  die  Untauglichkeit  und  Indolenz  dieser  Behörden  gegen- 
über der  Gewerbeaufsicht  von  den  Inspektoren  immer  und 
immer  wieder  aktenmässig  bekundet  worden  wäre,  müsste  man 
von  vornherein  annehmen,  dass  sie  der  schwierigen  Aufgabe 
nicht  gewachsen  sein  können.  Die  vieljährigen  Erfahrungen 
sind  aber  auf  die  Regierung  nicht  nur  ohne  Eindruck  ge- 
blieben, sondern  sie  hat  es  sogar  durchgesetzt,  dass  den 
Polizeibehörden  im  § 120d  der  Gewerbeordnung  noch  viel 
weiter  gehende  Rechte  verliehen  wurden.  Und  dies  fällt 
für  die  Durchführung  des  Gesetzes  um  so  mehr  ins  Ge- 
wicht, als  die  Erweiterung  der  Pflichten  der  Inspektion, 
wie  sie  sich  aus  der  Entwicklung  des  Arbeiterschutzes  er- 
gibt, noch  mit  der  ihr  übertragenen  Kesselrevision  zusam- 
mentrifft. Die  Folge  wird  sein,  dass  die  Geltendmachung 
der  Anforderungen  des  Gesetzes  mehr  noch  als  bisher 
von  den  Polizeibehörden  abhängen  wird.  Das  heisst  aber 
nichts  Anderes,  als  dass  der  Arbeiterschutz  im  deutschen 
Reich  zum  grossen  Theil  dazu  verurtheilt  sein  wird,  todter 
Buchstabe  zu  bleiben. 

Wir  haben  hier  die  wesentlichsten  Gebrechen,  die  sich 
aus  der  Neuorganisation  der  preussischen  Gewerbe-Inspektion 
ergeben,  gestreift.  Es  blieben  noch  eine  ganze  Reihe  kri- 
tischer Einwände  übrig,  beispielsweise  der  Mangel  der  Cen- 
tralisation,  die  sehr  wenig  glückliche  Art,  in  welcher  die  Be- 
richte der  Inspektoren  mehrere  Censurstellen  passiren,  ehe 
sie  zur  Veröffentlichung  gelangen  u.  A.  m.  Allein  diese 

| 


Mängel  treten  zurück  gegenüber  den  schwerer  wiegenden 
Fehlern,  welche  wir  erwähnt  haben,  und  die  geeignet  sind, 
die  Bedeutung  der  Institution  auf  das  schlimmste  zu  beein- 
trächtigen. 

Die  eigentliche  Gefahr,  welche  aus  der  Sachlage  sich 
ergiebt,  — und  was  für  Preussen  gilt,  dürfte  mit  wenigen  Aus- 
nahmen für  ganz  Deutschland  gelten  — , besteht  aber  darin, 
dass  selbst  die  dürftigen  Fortschritte,  welche  für  die  Ar- 
beiterschutzgesetzgebung nach  unendlichen  Anstrengungen 
erkämpft  worden  sind,  vollkommen  verloren  gehen  können. 
Soll  diese  Gefahr  beschworen  und  nicht  jeder  neue  Fort- 
schritt von  vornherein  zur  Unfruchtbarkeit  verdammt  sein, 
dann  bedarf  es  vor  Allem  eines  Gesetzes,  das  die  Ge- 
werbe-Inspektion nicht  nur  Preussens  sondern  des  Deut- 
schen Reiches  einheitlich  und  von  Grund  aus  neu  gestaltet: 
einer  Reform  an  Haupt  und  Gliedern. 

Berlin.  Heinrich  Braun. 


Arbeiterzustände. 

Arbeitslöhne  in  der  oberschlesischen  Montanindustrie. 

Die  unlängst  erschienene  „Statistik  der  oberschle- 
sischen Berg-  und  Hüttenwerke  für  das  Jahr  1891“1)  ent- 
hält wiederum  eine  grosse  Anzahl  auch  sozialpolitisch 
interessanter  Angaben,  deren  wichtigste  wir  im  Folgenden 
mittheilen.  Die  Statistik  bezieht  sich  auf  die  Steinkohlen- 
gruben, die  Eisengruben,  die  Zink-  und  Bleierzgruben,  die 
Hochöfen,  die  Eisengiessereien,  die  Walzwerke,  die  Frisch- 
hütten, die  Zinkhütten,  die  Blei-  und  Silberhütten,  die 
Koks-  und  Cinderfabriken,  die  Schwefelsäurefabriken  und 
die  Fabriken  schwefliger  Säuren. 

Was  die  Gesammtlage  der  Montanindustrie  im 
Berichtsjahre  anbetrifft,  so  erfreute  sich  der  Steinkohlen- 
bergbau am  ehesten  steigenden  Absatzes  und  guter  Preise ; 
die  übrigen  Zweige  der  Montanindustrie,  insbesondere  die 
Eisenhüttenindustrie  befanden  sich  in  weniger  günstiger 
Lage;  der  Absatz  liess  vielfach  zu  wünschen  übrig,  auch 
saidren  in  wichtigen  Branchen  die  Preise,  so  dass  die  Pro- 
duktion entsprechend  eingeschränkt  werden  musste.  Eine 
Zunahme  sowohl  des  erzeugten  Quantums  wie  des  erzielten 
Verkaufspreises  der  abgesetzten  Produkte  erfuhren  von 
wichtigeren  Betriebszweigen  nur:  der  Steinkohlenbergbau, 
die  Zink-  und  Bleierzgruben.  Die  Eisen-  und  Stahlt  abri- 
kation  steigerte  zwar  das  Quantum  der  Produktion  von 
387  290  auf  415  018  t;  der  Geldwerth  der  Produktion  sank 
jedoch  von  59,4  Mill.  M.  auf  51,5  Milk  M. 

Die  Anzahl  der  beschäftigten  Arbeiter,  wie  die  Be- 
wegung der  verdienten  Löhne  entspricht  nicht  überall  der 
eben  skizzirten  Geschäftslage;  in  einzelnen  Branchen  steigt 
die  Anzahl  der  beschäftigten  Arbeiter,  steigen  die  Arbeits- 
löhne, obwohl  die  Produktionsmenge  oder  der  Produktions- 
werth sinken.  In  diesen  Fällen  muss  also  eine  Verschie- 
bung des  Verhältnisses  zwischen  Arbeitslohn  und  Unter- 
nehmergewinn zu  Gunsten  des  ersteren  stattgefunden 
haben.  "Ein  ander  Mal  steigt  der  Verkaufswerth  der  Pro- 
dukte rascher  als  der  bezahlte  Arbeitslohn:  Verschiebung 
jenes  Verhältnisses  zu  Gunsten  des  Unternehmergewinns 
(Steinkohlenbergbau).  Die  Arbeitslöhne,  für  welche  die 
Statistik  besonders  reiches  Material  erhebt,  können,  wie 
soeben  schon  angedeutet  wurde,  in  verschiedener  B.eziehung 
betrachtet  werden:  in  ihrem  absoluten  Betrage,  in  ihrem 
Verhältnisse  zu  den  Arbeitslöhnen  früherer  Arbeitsperioden 
(Zunahme  oder  Abnahme),  in  ihrem  Verhältnisse  zum 
Verkaufspreise  des  Produkts,  zum  Quantum  des  Produkts, 
zur  Arbeitsleistung,  zum  Unternehmergewinn.  Wir  ver- 
suchen, das  statistische  Material  im  Folgenden  nach  diesen 
Gesichtspunkten  zu  gruppiren. 


i)  Herausgegeben  vom  Oberschlesischen  Berg- und  Hütten- 
männischen  Verein.  Zusammengestellt  und  bearbeitet  vom  Ge- 
schäftsführer  des  Vereins  Dr.  H.  Voltz.  Kattowitz,  1892. 


226 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


1.  Steinkohlengruben.  Die  Gesammtzahl  der  Ar- 
beiter betrug  54  746 , wovon  5 009  weibliche  Arbeiter.  Die  j 
Zunahme  gegenüber  dem  Vorjahre  beträgt  10,1  0 , , obwohl 
erst  im  Jahre  1890  gegenüber  1889  eine  Steigerung  um  12,5"/o 
stattgefunden  hatte;  im  Jahre  1886  waren  nur  40  586  Ar- 
beiter im  Steinkohlenbergbau  beschäftigt.  Der  Gesammt- 
jahresbetrag  der  auf  den  Steinkohlengruben  gezahlten 
Arbeitslöhne  belief  sich  im  Jahre  1891  auf  41  792  443  M. 
gegen  36,5  Mill.  M.  im  Vorjahre  und  28,0  Mill.  M.  im  Jahre 
1889.  Also  eine  beträchtliche  Steigerung  wiederum!  Und 
zwar  wie  ersichtlich  auch  pro  Kopf  des  Arbeiters.  Der 
Jahresdurchschnittslohn  eines  männlichen  Arbeiters  über 
16  Jahre  betrug  1891  = 821,1  M.  gegen  790,4  M.  im  Vor- 
jahre, was  eine  Steigerung  um  3,9 " n bedeutet.  Die  stei- 
fende Bewegung  der  Löhne,  wie  sie  seit  einer  Reihe  von 
Jahren  im  Steinkohlenbergbau  sich  bemerkbar  macht,  hat 
also  angehalten;  freilich  nicht  in  gleichem  Tempo  wie 
bisher.  Die  Jahre  1889,  1890  hatten  die  Löhne  in  viel 
energischerer  Weise  in  die  Höhe  getrieben,  um  10,7  bezw. 
16,1  1 1 /o ; der  Durchschnittslohn,  der  1888  erst  615,1  M.  be- 
tragen hatte,  war  1889  auf  680,7  M.,  1890  aut  790,4  M.  ge- 
stiegen. Verglichen  mit  den  Löhnen  der  Bergarbeiter  in 
den"  westlichen  Revieren  sind  diese  Beträge  absolut  freilich 
noch  gering;  aber  auch  die  Arbeiterschaft  steht  tiefer  und 
die  Lebensbedingungen  sind  wohlfeiler.  Dazu  kommt,  dass 
ein  Vergleich  zwischen  den  westlichen  und  den  oberschle- 
sischen durchschnittlichen  Bergarbeiterlöhnen  nicht  ohne 
Weiteres  angängig  ist  und  zwar  deshalb  nicht,  weil  in 
Oberschlesien  der  prozentuale  Antheil  der  Häuer,  als  der 
eigentlichen,  ausgelernten  Bergleute  an  der  Gesammt- 
arbeiterzahl  ein  viel  geringerer  ist  als  im  Westen:  bei  den 
günstigen  Abbauverhältnissen  der  oberschlesischen  Flötze 
entfallen  in  Oberschlesien  auf  I Häuer  bis  zu  2 Füller 
und  erste  Wagenstösser,  während  in  den  übrigen  Revieren 
umgekehrt  für  einen  dieser  Arbeiter  bis  zu  2 Häuer  nöthig 
sind.  Ganz  besonders  interessant  ist  ein  Vergleich  zwischen 
der  Bewegung  der  Arbeitslöhne  und  derjenigen  der  Pro- 
duktion und  ihres  Geldwerthes.  Er  zeigt  uns  wie  die  Ver- 
theuerung  des  Produkts  um  vieles  rascher  sich  vollzogen 
hat,  als  die  Steigerung  des  Arbeitslohnes,  wie  also  trotz 
dieser  der  Unternehmerantheil  am  Gesammtertrage  verhält- 
nissmässig  gestiegen  ist;  mit  andern  Worten:  wie  die 

Grubenbesitzer  die  Mehrausgabe  an  Arbeitslöhnen  und  mehr 
als  diese  auf  die  Konsumenten  abzuwälzen  im  Stande  ge- 
wesen sind.  Während  das  Produktionsquantum  ungefähr 
im  Verhältniss  zu  der  Vermehrung  der  Arbeiter  gestiegen 
ist,  die  Arbeitsleistung  also  dieselbe  geblieben  ist,  jetzt 
demnach  dieselbe  Leistung  besser  gelohnt  wird,  hat  sich 
der  Geldwerth  der  Produktion  seit  1886  mehr  als  verdoppelt; 
er  betrug  1886  47,4  Milk  M.,  1891  96,0  Milk  M.,  da  der  Durch- 
schnittspreis einer  Tonne  Kohlen  1886  = 3,6  M.,  1891  = 
5,4  M.  war  Die  Preissteigerung  gehört,  wie  bekannt,  vor- 
nehmlich den  letzten  3 Jahren  an:  Pro  Tonne  wurden  ge- 
zahlt: 1889  3,7,  1890  4,8,  1891  5,4  M.  So  bezifferte  sich 
denn  der  Antheil  der  gesammten  Arbeitslöhne  an  dem 
Gesammtwerth  der  Produktion  auf: 

1889  = 47,67  % 

1890  = 45,18% 

1891  = 43,53  n/0- 

Das  Jahr  1892  dürfte  eine  rückläufige  Bewegung  der  Kohlen- 
preise und  somit  eine  Abnahme  des  Produktionswerths 
bringen;  die  Arbeitslöhne  brauchen  jedoch  darunter  keines- 
wegs zu  leiden,  da,  wie  die  obigen  Zahlen  lehren,  der 
Spielraum  für  ihren  Antheil  am  Gesammtwerth  der  Pro- 
duktion beträchtlich  ist. 

2.  Eisen  zuck  er.  Hier  hat  entsprechend  der  Ab- 
nahme der  Produktion  (um  15%)  und  ihres  Werthes  (um 
17,3%)  gegenüber  dem  Vorjahre  eine  Verringerung  der 
Arbeiterzahl  von  4288  im  Jahre  1890  auf  3977  im  Jahre  1891 
stattgefunden.  Gleichwohl  ist  der  Gesannntbetrag  der  be- 
zahlten Arbeitslöhne  gestiegen  (von  1549  251  M.  auf 
1 612  054  M.J.  Der  absolut  tiefe  Stand  des  Arbeitsverdienstes 
lässt  eine  solche  Steigerung:  von  361,3  M.  pro  Kopf  auf 
405,3  M.,  des  Verdienstes  der  männlichen  Arbeiter  über 
16  Jahre  von  491,9  M.  auf  544,09  M.,  im  Interesse  des  Ar- 
beiters wohl  gerechtfertigt  erscheinen.  Auffallend  ist  es  je- 
doch, dass  parallel  mit  der  Erhöhung  des  Arbeitslohnes 
eine  Arbeitsleistung  des  einzelnen  Arbeiters  sich  nach- 
weisen  lässt.  Die  durchschnittliche  Leistung  pro  Arbeiter- 
kopf beträgt  nämlich  in  den  letzten  6 Jahren: 

1886  = 197  t,  1887  = 190  t,  1888  = 185  t,  1889  = 181  t, 
1890  = 176  t,  1891  = 162  t. 


No.  18. 


Diese  Abnahme,  die  mit  den  Abbauverhältnissen  im 
Zusammenhänge  stehen  wird,  war  für  den  Unternehmer  so 
lange  irrelevant,  als  die  Löhne  annähernd  gleich  niedrig 
bleiben,  die  Verkaufspreise  des  Erzes  aber;  stiegen:  bis 

1889  ungefähr,  jetzt  liegt  die  Sachlage  anders  und  die 
Arbeiterschaft  wird  nicht  ohne  schwere  Kämpfe  ihre  heute 
errungenen  Lohnsätze  vertheidigen  müssen. 

3.  Zink-  und  Bleierzgruben  7960  männliche, 
2883  weibliche  Arbeiter;  170  Dampfmaschinen  mit  7777 
Pferdekräften.  Lohnsätze  niedrig,  aber  langsam  steigend. 
Die  Löhne  der  männlichen  Arbeiter  über  16  jahre  be- 
trugen: 1887  505  M. , 1888  507  M. , 1889  549  M., 

1890  622  M.,  1881  655  M.  Viel  rascher  aber  als  die 
Steigerung  der  Löhne  hat  sich  die  Steigerung  der  Verkaufs- 
preise der  Gesammtprodukte  — Dank  der  Aufbesserung 
des  Zinkmarktes  — seit  1887  vollzogen.  Während  noch  im  : 
jahre  1886  einem  Gesammtwerth  der  gewonnenen  Pro- 
dukte von  6 399  142  M.  ein  Gesammtlohnbetrag  von 

4 148  405  M.  gegenüberstand,  ist  inzwischen  jener  Betrag  im  ; 
jahre  1891  auf  19  506  918  M.,  dieser  nur  auf  5 807  290  M.  ge-  J 
stiegen,  d.  h.  von  der  Vermehrung  der  Grubenerträgnisse 
während  der  letzten  5 Jahre  um  ca.  13  Milk  M.  ist  der  Ar- 
beiterschaft ein  Betrag  von  ca.  1,7  Milk  M.  zugetallen.  Mit  ; 
anderen  Worten:  Während  vor  5 Jahren  die  sämmtlichen  J 
Arbeitslöhne  von  dem  Gesammtwerth  der  gewonnenen 
Produkte  ca.  64°/,  ausmachten,  betragen  sie  jetzt  nur  ca. 
30%.  Halten  sich  die  Verkaufspreise  annähernd  auf  ihrer 
jetzigen  Höhe,  so  kann  die  zahlreiche  Arbeiterschaft  der 
oberschlesischen  Zink-  und  Bleierzgruben,  ohne  den  Lmter- 
nehmergewinn  allzusehr  einzuschränken,  noch  beträchtliche  | 
Lohnerhöhungen  durchsetzen,  was  ihr  zu  wünschen 
wäre. 

4.  Hochofenbetrieb.  Die  Roheisenproduktion  hat 
im  fahre  1891  einen  Rückgang  erlitten;  nachdem  die  Eisen-  i 
preise  bis  1890  wacker  in  die  Höhe  geklettert  waren,  trat- 

1891  im  Preise,  ebenso  dementsprechend  in  der  Produktion 

ein  Rückschlag  ein,  sodass  sich  der  Gesammtwerth  der  ge-, 
wonnenen  Produkte  auf  27,2  gegen  30,6  Milk  M.  im  Vor-  ! 
jahre  berechnete.  Gleichwohl  sind  die  Arbeitslöhne  ge- 
stiegen. Die  an  den  Hochöfen  beschäftigten  Arbeiter  sind  < i 
vorwiegend  männliche  (3186  gegen  961  weibliche);  ihr1 
Arbeitsverdienst  nimmt  der  . Höhe  nach  eine  mittlere 
Stellung  unter  den  Arbeitseinkommen  in  der  Montan- 
industrie ein;  es  betrug  1891  für  den  männlichen  Arbeiter  j 
über  16  fahre  durchschnittlich  pro  Jahr  763,72  M.  und  ist, 
gegen  das  Vorjahr  um  4%  gestiegen.  Das  bedeutsamste, 
Stück  haben  die  Löhne  der  Hochofenarbeiter  von  1889  zu; 
1890  vorwärts  gethan:  Die  Reflexbewegung  der  Berg-! 

arbeiterstrikes.  Während  1889  der  durchschnittliche  Jahres-  ; 
lohn  für  männliche  Arbeiter  über  16  Jahren  647,13  M.  be- 
trug, bezifferte  er  sich  1890  auf  735,08  M.;  das  bedeutet  eine;! 
Steigerung  um  13,6%.  Entsprechend  haben  sich  die  Löhne  I 
der  jugendlichen  und  weiblichen  Arbeiter  entwickelt.  Die  j 
Hochofenindustrie  wird  nie  ein  geeignetes  Gebiet  zur  Er- 
kämpfung  besserer  Arbeitsbedingungen  sein.  Sie  ist  zu 
wenig  selbstständig,  steht  zu  fest  eingekeilt  zwischen  den 
Rohstoff  liefernden  und  Roheisen  verbrauchenden  In- 
dustrien, um  führend  sein  zu  können;  mit  der  Industrie 
sind  aber  auch  ihre  Arbeiter  wesentlich  abhängig  von  den  j 
Vorgängen  unter  und  über  ihnen. 

5.  Die  Eisengiessereien  beschäftigten  1891  1819  last  j 
ausschliesslich  männliche  Arbeiter,  deren  Durchschnitts-  j 
verdienst  sich  seit  einer  Reihe  von  Jahren  bereits  auf  einer 
mittleren  Höhe  erhält,  langsam,  schrittweise  steigend,  er 
betrug  in  den  Jahren  seit  1886  bezw.  592,8,  604,0,  636,4,  696,4, 
722,7,  732,0  M.  Auch  in  der  Eisengiesserei  sind  die  Preise  i 
der  Produkte  und  somit  die  Löhne  allzusehr  bedingt  durch 
die  Gestaltung  der  Absatzverhältnisse,  als  dass  die  Arbeiter 
sehr  temperamentvoll  vorgehen  könnten,  selbst  wenn  sie  | 
dazu  entschlossen  wären.  Man  möchte  für  die  Gestaltung  | 
der  Arbeitsbedingungen,  insonderheit  der  Lohnverhältnisse  j 
primäre  und  sekundäre  Industrien  unterscheiden,  solche,  die 
die  Preise  selbst  gestalten  und  solche,  denen  sie  von  anderen 
gestaltet  werden.  Zu  ersteren  gehört  z.  B.  das  Baugewerbe, 
auch  der  Steinkohlenbergbau,  zu  letzteren  die  meisten 
Branchen  der  Eisenindustrie. 

6.  Walzwerksbetriebe  für  Eisen  und  Stahl.  Ver- 
glichen mit  den  bösen  Zeiten,  welche  die  Walzwerke  Ober- 
schlesiens und  ihre  Arbeiter  zu  Beginn  der  80iger  Jahre  zu 
überstehen  gehabt  haben,  erscheint  ihre  Lage  jetzt  fast 
günstig.  Freilich  war  das  Jahr  sonst  1882 — 86  allzu  trüb  ge- 
wesen, als  dass  es  in  gleicher  Weise  hätte  weitergehen  kön- 
nen. Die  Produktion  war  ganz  bedeutend  eingeschränkt,  die 


No.  18. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBI  ATT. 


227 


Preise  waren  gesunken  und  die  Löhne  bewegten  sich  in 
absteigender  Linie.  Während  in  der  Schweisseisenfabrika- 
tion  1 882  der  Durchschnittsjahreslohn  pro  Arbeiterkopf  noch 
679,59  M.  betragen  hatte,  war  er  1886  auf  613,59  M.  gesunken, 
in  der  Flusseisenfabrikation  gar  von  1127,91  auf  676,80  M. 
in  demselben  Zeitraum!  Seit  dem  Jahre  1887  beginnt  dann 
wieder  eine  langsame  Aufbesserung  sich  fühlbar  zu  machen, 
die  leider  im  letzten  Jahre  nicht  angehalten  hat.  Derjahres- 
durchschnittslohn  eines  männlichen  Arbeiters  über  16  Jahre 
(Schweiss-  und  Flusseisenfabrikation),  der  noch  1887  erst 
684,34  M.  betrug,  kletterte  in  1890  auf  811,46  M.  wieder 
hinauf.  Die  Steigerung  scheint  sich  jedoch  zu  rapid  voll- 
zogen zu  haben,  denn  es  ist  seit  dem  Vorjahre  ein  leiser 
Rückschlag  eingetreten;  der  Durchschnittslohn  ist  von 
811,46  M.  auf  786,99  M.  abermals  gesunken.  Die  Lohnbeträge 
sind  in  der  Walzwerkindustrie  von  besonderer  Wichtigkeit 
in  Anbetracht  der  grossen  Zahl  beschäftigter  Personen,  die 
sich  1891  auf  12  487  Männer  und  625  Weiber  bezifferten. 
Den  schwer  und  mühselig  Arbeitenden  in  dieser  Branche 
ist  ein  Hochhalten  und  Höherbringen  ihres,  im  Vergleich 
zu  Lohnsätzen  primärer  Industrien  gewiss  bescheidenen 
Verdienstes,  von  Herzen  zu  gönnen. 

7.  Zinkhüttenbetrieb.  Sowohl  die  Gewinnung  von 
Rohzink  wie  die  Zinkblechfabrikation  haben  in  den  letzten 
5—6  Jahren  sich  niedriger  Absatz-  und  Preisgestaltungen 
zu  erfreuen  gehabt.  Viel  haben  hierzu  die  Kartelle  ver- 
holten, welche  den  Zinkmarkt  beherrschten.  Die  Produktion 
von  Rohzink  ist  ausgedehnt  worden  (Gesammtproduktion 
an  Rohzink,  Cadmium  und  Blei  1886  = 83,383  t,  1891  = 
89,195  t);  entsprechend  ist  die  Arbeiterschaft  im  gleichen 
Zeitraum  von  6174  auf  7083  Köpfe  gestiegen;  von  diesen 
7083  sind  1906  Frauen;  das  Verhältniss  zwischen  männlichen 
und  weiblichen  Arbeitern  ist  sich  gleich  geblieben.  Vor 
allem  aber  sind  die  Preise  in  die  Höhe  getrieben  von  (1886) 
256,49  M.  pro  t auf  (1891)  441,37  M.,  was  einer  Erhöhung 
des  gesammten  Produktionswerthes  von  21,3  auf  39,3  Mill.  M. 
bedeutet.  Von  diesem  Goldregen  ist  ein  Theil,  aber  nur 
ein  bescheidener,  den  Arbeitern  in  den  Schoos  getallen. 
Der  Durchschnittslohn  des  männlichen  Arbeiters  über 
16  Jahre,  der  sich  1887  auf  677,45  M.  bezifferte,  ist  1891  er- 
freulicherweise bis  auf  841,18  M.,  also  auf  eine  für  Ober- 
schlesische Verhältnisse  ganz  respectable  Flöhe  gestiegen; 
die  Weiber-  und  Kinderlöhne  haben  versucht,  Schritt  zu 
halten.  Gleichwohl  machen  die  gesammten  Arbeiterlöhne 
vom  Gesammtwerthe  des  Produkts  1886  noch  ca.  17  /0,  1891 
nur  noch  ca.  12%  aus.  Ob  der  Mehrertrag  ausschliesslich 
der  Unternehmergewinn  in  dieser  oder  einer  früheren  Pro- 
duktionsphase oder  auch  den  Verdienst  der  Arbeiter  früherer 
Produktionsphasen  vergrössert  hat,  entzieht  sich  der  Be- 
urtheilung. Immerhin  dürfen  die  Zinkarbeiter  vertrauens- 
voll in  die  Zukunft  blicken. — Die  Zinkb  lechfabrikation 
mit  663  (davon  14  weiblichen)  Arbeitern  hat  geringer  Be- 
deutung. Die  Löhne  waren  hoch  und  sind  nocn  gestiegen; 
1890 — 91  von  797,24  auf  907,97  M.  für  die  erwachsenen  männ- 
lichen Arbeiter.  Bei  der  Hochwerthigkeit  des  Fabrikats 
lässt  sich  wohl  behaupten,  dass  die  Höhe  der  Arbeitslöhne 
fast  ohne  Einfluss  ist  auf  die  Gestaltung  des  Produkten- 
preises.  Wurden  doch  1891,  um  für  1 7,21 1 ,765  M.  Produkte 
berzustellen  nicht  mehr  als  493,319  M.  Arbeitslöhne  veraus- 
gabt. Und  während  seit  1886  die  Löhne  von  304,408  M.  nur 
auf  493,319  M.  gestiegen  sind,  hat  sich  der  Gesammtwerth 
der  Produktion  mehr  als  verdoppelt;  er  betrug  1886  = 
7,472,970  M.,  1891  = 17,211,765  M. 

8.  Der  Blei-  und  Silberhüttenbetrieb  Oberschle- 

siens ist  im  Rückgänge  begriffen.  Auch  im  Berichtsjahr  ist 
gegen  das  Vorjahr  die  Produktion  wiederum  gefallen;  an 
Blei  und  Glätte  um  8,0  %,  an  Silber  um  16,8  "J,  der  Ge- 
sammtwerth um  1,020,270  M.  oder  16,8 "/0.  Gleichwohl  haben 
sich  Arbeiterzahl  und  Arbeitsverdienst  einstweilen  noch  auf 
der  Höhe  gehalten.  Die  Anzahl  der  beschäftigten  Arbeiter 
ist  seit  1886  stabil  geblieben,  (662  M.,  7 W.  gegen  662  M., 
13  W.),  der  Jahresbetrag  sämmtlicher  Arbeiterlöhne  ist 
sogar  noch  ein  wenig  gestiegen:  von  435,930  M.  auf 

476,099  M. 

9.  Die  Koks-  und  Cinderfabrikation  dehnt  sich 
hingegen  merklich  aus,  wenn  auch  auf  die  Lage  des  Koks- 
geschäftes in  letzter  Zeit  die  gedrückte  Lage  der  Eisen- 
hütten-Industrie  nicht  ohne  Einfluss  geblieben  ist.  Immerhin 

S würde  die  Zahl  der  beschäftigten  Arbeiter  (ca.  Vs  Frauen) 
1886 — 1891  von  1832  auf  4108  erhöht  und  auch  die  Durch- 
| Schnittsarbeitslöhne  sind  in  diesem  Zeitraum  gestiegen;  für 
.männliche  Arbeiter  über  16  Jahre  1887 — 91  von  581,56  auf 


750,40  M.,  für  Frauen  von  267,48  M.  auf  291,32  M Karg 
genug  sind  die  Verdienste  freilich  noch. 

10.  Die  Schwefelsäurefabrikation  beschäftigte 
1891  = 515  Arbeiter  (wovon  65  weibliche)  mit  guten  Arbeits- 
verdiensten für  Männer:  983,98  M.  im  Jahresdurchschnitt. 
Das  etwa  lässt  sich  zur  Erkenntniss  und  Beurtheilung  der 
Lohnverhältnisse  in  der  oberschlesischen  Montanindustrie 
unserer  Statistik  entnehmen.  Mir  scheint,  als  ob  eine  Reihe 
wichtiger  Thatsachen  schon  aus  den  mitgetheilten  Zahlen 
sich  ergäbe;  sie  konnten  naturgemäss  nur  hie  und  da  ange- 
deutet werden. 

An  weiterem  sozial-politisch  interessantem  Material 
ertheilt  die  Statistik  dann  nur  noch  eine  Uebersicht  über 
die  Verunglückungen;  die  wichtigsten  darauf  bezüglichen 
Daten  sind  jedoch  aus  der  Unfallversicherungsstatistik  be- 
kannt. 

Um  unsere  Kenntniss  zu  vervollständigen  sind  wir  auf 
andere  Quellen  angewiesen.  Ich  hoffe  demnächst  einen 
oder  den  andern  weiteren  Beitrag  zur  Beurtheilung  ober- 
sclilesischer  Arbeiterverhältnisse  den  Lesern  dieser  Zeit- 
schrift mittheilen  zu  können. 

Breslau.  Werner  Sombart. 


Statist  ils  der  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Maurer 
von  Lauenburg  a.  Elbe  im  Jahre  1891.  An  dieser  Statistik  be- 
theiligten sich  23  Maurer,  von  welchen  20  verheirathet  und  3 
unverheirathet  waren.  Das  durchschnittliche  Lebensalter  war 
42%  Jahre.  Auf  20  Familien  kamen  53  Kinder,  in  7 Fällen  trug 
die  Frau  durch  gewerbliche  Arbeit  zum  Unterhalte  der  Familie 
! bei.  Gefeiert  wurde  im  Ganzen  wegen  Mangel  an  Arbeit, 
i Krankheit,  ungünstiger  Witterung  u.  s.  w.  7322'/2  Stunden  oder 
| durchschnittlich  318  Stunden  Das  gesammte  Jahreseinkommen 
| betrug  bei  einem  Stundenlohn  von  35  Pf.  18  130,75  M.  oder 
863,25  M durchschnittlich,  also  täglich  2,62  M.  Wegen  Arbeits- 
mangel mussten  13,  wegen  Krankheit  12  und  wegen  ungünstiger 
Witterung  18  Maurer  feiern.  Die  Wohnungsmiethe  betrug  im 
Jahre  1890  durchschnittlich  79,06  M.  im  Jahre  1891  dagegen 
80,64  M.  Der  Haushaltungsplan  eines  verheiratheten  Maurers 
mit  4 Kindern,  demnach  mit  einer  grösseren  als  der  durch- 
schnittlichen Zahl,  ergab  an  wöchentlichen  Ausgaben  für 
Nahrungsmittel,  Bier  (20  Pf.),  Schnaps  (70  Pf.),  Tabak  (10  Pf.), 
| Seife,  Schuhwichse  und  Schmiere  19,28  M.  und  an  jährlichen 
Ausgaben  461,66  M.,  so  dass  insgesammt  1424,24  M.  ausgegeben 
wurden.  Unrichtigerweise  ist  dieser  Ausgabensumme  die  durch- 
schnittliche Einnahme  der  23  Lauenburger  Maurer  entgegen- 
gestellt. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Die  Tarifgemeinschaft  im  Buchdruckergewerbe  wurde  im 
letzten  Strike  in  Frage  gestellt  Sämmtliche  Gehilfenvertreter  in 
der  Tarifkommission  haben  ihre  Mandate  niedergelegt.  Ueber 
die  Art  einer  Wahlausschreibung  in  einem  solchen  Falle  war 
in  den  Statuten  der  Kommission  keine  Vorsorge  getroffen  worden. 
Der  Vorsitzende  der  Kommission,  Buchdruckereibesitzer  Bruno 
Klinkhardt,  entschied  sich  dafür,  die  in  den  tarifzahlenden  Buch- 
druckereien Deutschlands  beschäftigten  Gehilfen  direct  zur  Wahl 
von  Vertretern  zur  Berathung  und  Beschlussfassung  über  die 
künftige  Gestaltung  der  Tarifverhältnisse  aufzufordern.  Der 
Vorstand  des  Unterstützungsvereins  deutscher  Buchdrucker 
( Gehilfenverein)  empfahl,  dort,  wo  von  Prinzipalen  oder  deren 
Vertrauensleuten  auf  diese  Wahl  bestanden  wird,  die  früheren 
Gehilfenvertreter  zu  wählen.  Dies  wurde  auch  vom  Vorsitzenden 
des  Vereins,  Herrn  Döblin,  in  einer  von  2000  Berliner  Buchdruckern 
besuchten  Versammlung  empfohlen.  Diese  Versammlung  lehnte 
aber  die  Wahl  von  Gehilfenvertretern  zum  Ersatz  der  Aus- 
geschiedenen ab  und  nahm  folgende  Resolution  an: 

,,In  Erwägung,  dass  die  Prinzipale  in  ihrer  Mehrheit  durch 
ihr  den  Gehilfen  gegenüber  gezeigtes  Verhalten  nach  dem  Strike 
bewiesen,  dass  sie  ein  friedliches  Zusammenarbeiten  nicht  wollen; 
in  fernerer  Erwägung,  dass  die  letzte  Tarifkommissionssitzung 
den  Beweis  geliefert,  dass  an  ein  Entgegenkommen  der  Prinzipale 
auf  Grund  der  von  den  Gehilfen  geforderten  Verkürzung  der 
Arbeitszeit  auf  neun  Stunden  nicht  zu  denken;  in  endlicher  Er- 
wägung, dass  die  bisher  bestehenden  Tarife  stets  nur  durch  die 
Gehilfenschaft  mit  schweren  Opfern  durchgeführt  werden  mussten, 
während  die  Prinzipalität  auch  nicht  die  geringste  Garantie  für 
die  Durchführung  resp.  Einhaltung  auch  nur  einer  Bestimmung 
des  Tarifs  zu  übernehmen  in  der  Lage  war,  erklärt  die  heute,  am 
24.  April  1892,  in  der  Berliner  Bockbrauerei  tagende  Allgemeine 


228 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  18. 


Buchdruckergehilfen  Versammlung,  dass  sie  es  ablehnt,  an  der 
von  Leipziger  Prinzipalen  ausgeschriebenen  Wahl  von  Vertretern 
zu  einer  angeblichen  Tarifkommission  sich  zu  betheiligen  und 
beschliesst  demgemäss:  keinen  Kandidaten  aufzustellen.  Gleich- 
zeitig erwartet  die  heutige  Versammlung  von  allen  Buchdrucker- 
gehilfen Berlins  und  der  Provinz  Brandenburg,  dass  sie  jede  ihnen 
von  Seiten  einer  gewissen  Prinzipalität  oder  ihren  Helfershelfern 
aufgedrungene  Wahl  entschieden  zurückweisen.“ 

Findet  das  Beispiel  der  Berliner  Buchdrucker  Nachahmung, 
und  dies  ist  nach  der  Haltung  des  „Correspondenten“  sehr  wahr- 
scheinlich, so  hat  vorerst  wenigstens  die  Tarifgemeinschatt  der 
deutschen  Buchdrucker  aufgehört  zu  existiren.  Möglicherweise 
werden  die  Buchdruckerprinzipale  die  dem  Vereine  nicht  an- 
gehörenden und  ihrem  Einflüsse  leicht  zugänglichen  Gehilfen  | 
veranlassen,  die  Wahl  von  Gehilfenvertretern  vorzunehmen.  Eine 
auf  diesem  Wege  zusammengesetzte  I aritkommission  würde  aber 
naturgemäss  einflusslos  bleiben,  da  die  auf  diese  Weise  erwählten 
Gehilfenvertreter  wohl  den  Unternehmern  zu  Willen  sein,  aber 
für  ihre  Abstimmungen  die  Danachachtung  der  Gehilien  nicht  er- 
zwingen könnten.  Eine  auf  diese  Art  zusammengesetzte  Tarifkom- 
mission wäre  nach  jeder  Richtung  bedeutungslos,  weil  sie  ausser 
Stande  wäre,  den  Aufgaben  der  früheren  Tarifkommissionen  zu 
entsprechen.  Sie  würde  nicht  einigend  wirken,  sondern  im 
Gegentheile  die  Kluft  zwischen  Unternehmern  und  Arbeitern  im 
Buchdruckergewerbe  vergrössern. 

Verband  der  deutschen  Textilarbeiter.  In  Elberfeld  wurde 
in  der  letzten  Woche  die  erste  Hauptversammlung  des  im  vorigen 
Jahre  gegründeten  Verbandes  der  Textilarbeiter  und-Arbeiterinnen 
Deutschlands  abgehalten.  Es  waren  41  Vertreter  aus  20  Orten 
erschienen.  Nach  dem  Rechenschaftsbericht,  den  der  Vorsitzende 
Petersdorf  aus  Berlin  erstattete,  beträgt  die  Mitgliederzahl  5000. 
Der  grösste  Zuwachs  war  in  Rheinland  und  Westfalen  zu  ver- 
zeichnen. Zum  Theil  gelang  es  auch,  Arbeiterinnen  heranzu- 
ziehen. „Der  Textilarbeiter“  wurde  als  Fachorgan  obligatorisch 
eingeführt.  Nach  dem  § 1 der  Satzungen,  deren  Berathung  die 
meiste  Zeit  in  Anspruch  nahm,  hat  der  Verband  den  Zweck,  durch 
eine  Vereinigung  aller  in  der  Textilindustrie  beschäftigten  Ar- 
beiter und  Arbeiterinnen  nach  Massgabe  des  §152  der  Gewerbe- 
ordnung möglichst  günstige  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  zu 
erzielen.  Zur  Förderung  dieses  Zweckes  dienen  eine  geregelte, 
der  modernen  Technik  entsprechende  Verkürzung  der  Arbeits- 
zeit, Abschaffung  der  Sonn-  und  Feiertag-  sowie  der  Ueberstunden- 
Arbeit,  Vornahme  statistischer  Ermittelungen  über  Lohn-  und 
Arbeitsverhältnisse  u.s.w.,  Regelung  des  Verkehrs-  und  Herbergs- 
wesens sowie  des  Arbeitsnachweises,  Anstrebung  gleicher  Löhne 
für  gleiche  Leistungen.  Ferner  können  die  Ortsverwaltungen  je 
nach  ihren  Mitteln  gewähren:  Reiseunterstützung,  unentgeltlichen 
Rechtschutz  bei  gewerblichen  Streitigkeiten.  Lebhaft  wurden 
die  Ausstände  besprochen.  Es  wurde  mehrfach  beantragt,  dass 
man  nicht  leichtsinnig  und  ohne  Rücksicht  auf  die  ganze  Ge- 
schäftslage in  einen  Ausstand  treten  solle.  Der  Ausstand  sei 
allerdings  eine  zweischneidige  Waffe:  aber  „wir  dürfen“,  wie  sich 
ein  Redner  ausdrückte,  „nicht  den  Knüppel  wegwerfen,  den  wir 
noch  haben,  wenn  man  mit  Säbeln  gegen  uns  kämpft“.  In  die 
Satzungen  wurde  folgender  Paragraph  für  den  Fall  von  Arbeits- 
einstellungen aufgenommen:  „Bei  einer  geplanten  Arbeitsein- 

stellung ist  ein  Ausschuss  aus  fünf  Personen  am  betreffenden 
Orte  zu  wählen,  der  die  Angelegenheit  zu  untersuchen  und  mit 
dem  Vorstand  und  Ausschuss  des  Verbandes  zu  prüfen  hat.  Erst 
nach  Zustimmung  des  Vorstandes  des  Verbandsausschusses  und 
des  Ortsausschusses  kann  die  geplante  Arbeitseinstellung  statt- 
finden.“ Zum  Sitz  des  Verbandes  und  des  Ausschusses  wurde 
wieder  Berlin  bestimmt. 

Hirsch  - Duncker'sclie  Gewerkvereine  in  Bayern.  Der 

zweite  Delegirtentag  dieser  Vereine  fand  am  18.  d.  M in  Augs- 
burg statt.  Vertreten  waren  die  Ortsvereine  der  Kaufleute,  der 
Tischler,  der  Maschinenarbeiter  von  Nürnberg,  der  Lederarbeiter 
von  Hot  und  Fürth,  der  Schreiner,  der  Fabrik-  und  Hand- 
arbeiter von  Fürth,  der  Bauhandwerker,  der  Tischler,  der  Stuhl- 
arbeiter von  Erlangen,  der  Stuhlarbeiter  von  Kirchenlamitz, 
ferner  die  Ortsverbände  von  Ansbach  und  Augsburg.  Im  Ganzen 
zählte  die  Versammlung  etwa  80  Theilnehmer.  Neue  Ortsvereine 
sind  im  vergangenen  Jahre  in  Ansbach,  Burgoberbach,  Leuters- 
ausen,  Erlangen,  Bayreuth,  Gunzenhausen,  Weissenburg,  Fürth 
und  Kempten  gegründet  worden,  womit  deren  Anzahl  im  rechts- 
rheinischen Bayern  auf  173  mit  1569  Mitgliedern  angewachsen 
ist.  Ein  Antrag  des  Fürther  Ortsvereins  der  Kaufleute,  den 
Delegirtentag  künftig  nur  alle  drei  Jahre  abzuhalten,  wurde  ab- 
gelehnt. Die  bisherige  in  Nürnberg  wohnhafte  Vorstandschaft 
wurde  wiedergewählt,  desgleichen  bleibt  Nürnberg  Vorort. 

Eine  Gewerkschaft  der  Mühlenarbeiter  Niederöster- 
reichs wurde  im  verflossenen  Monate  in  Wien  gegründet. 
Der  statutarische  Zweck  des  Verbandes  ist  die  Förderung 
uncl  Wahrung  der  geistigen  und  materiellen  Interessen  der 
Mitglieder,  Gewährung  von  Rechtsschutz  in  gewerblichen 
Streitfällen,  Arbeitsvermittlung  sowie  die  Unterstützung- 
arbeitsloser  und  reisender  Genossen. 

Damit  wurde  in  Oesterreich  die  erste  Organisation 
von  Arbeitern  geschaffen,  welche  mit  den  Landarbeitern  in 
steter  Fühlung  stehen. 


Die  Forderungen  der  schweizerischen  Arbeiter.  Den  Mai- 
versammlungen der  schweizerischen  Arbeiterschaft  wird  vom 
Centralkomite  der  Maifeier  folgende  Eingabe  an  die  Bundesver- 
sammlung vorgelegt:  „Die  unterfertigte  Volksversammlung  hat 
nach  angehörtem  Referate  beschlossen,  Sie  zu  ersuchen,  Sie 
möchten  auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung,  so  weit  möglich, 
Massnahmen  treffen:  _ _ 1 

1.  Für  die  Verkürzung  der  Arbeitszeit  bis  auf  acht  Stunden 
in  allen  Berufsarten,  besondere  zwingend  entstehende  Verhält- 
nisse Vorbehalten;  2.  für  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit  und 
Verhütung  ihrer  ökonomischen  Folgen  für  die  besitzlose  Arbeiter- 
klasse; 3.  für  gesetzliche  Förderung  der  gewerkschaftlichen 
Arbeiterorganisationen;  4.  für  wirksamen  Schutz  der  Vereins- 
freiheit der  im  Dienste  von  Unternehmern  jeder  Art  stehenden 
Lohnarbeiter  und  Lohnarbeiterinnen;  5.  für  Wiederaufhebung  der 
in  den  letzten  Jahren  eingeführten  politischen  Polizei. 

Zur  Begründung  dieser  unserer  Wünsche  berufen  wir  uns 
auf  Alles,  was  seit  Jahren  in  Wort  und  Schrift  im  Volke  und  in 
den  Behörden  dafür  angeführt  worden  und  Ihnen  bestens  bekannt 
ist.  Insbesondere  erlauben  wir  uns  hier  noch  darauf  hinzuweisen, 
dass  die  Erfüllung  dieser  Forderungen  im  höchsten  Maasse  im 
Interesse  unserer  schweizerischen  physischen  und  moralischen 
Volkskraft  liegt.  Das  Vaterland  verlangt  ein  gesundes,  starkes  I 
und  freies  Volk,  kein  gedrücktes  und  geknechtetes  Proletariat, 
soll  es  den  kommenden  Stürmen  des  heutigen  Völkerlebens  ge- 
wachsen sein. 

Wir  sind  aus  allen  Kräften  bestrebt,  an  dieser  hohen  Aufgabe 
in  jeder  uns  möglichen  Weise  zu  arbeiten  und  die  organisirte 
schweizerische  Arbeiterschaft  bringt  hiefür  Mann  iiir  Mann  tag- 
täglich ihre  ungezählten  Opfer.  Wir  hoffen  daher,  dass  auch  die 
Behörden  das  Ihrige  thun  und  uns  helfen  werden,  zum  Wohl  und  , 
Heil  des  ganzen  Schweizervolkes.“ 

Die  den  Versammlungen  vorzulegende  einheitlich  gefasste 
Resolution  verlangt: 

„1.  dass  mit  allen  gesetzlich  zu  Gebote  stehenden  Mitteln 
dahin  gewirkt  werde  dass  in  allen  Berufsarten,  besondere  Ver-  j 
hältnisse  Vorbehalten,  in  stufenweisem  Vorgehen  bis  auf  höchstens  ■ 
acht  Stunden  täglich  abgekürzt  werde;  2.  zu  diesem  Zwecke  i 
insbesondere  die  Organisation  der  Lohnarbeiterschaft  aller  Berufs- 
zweige und  deren  soziale  Reformbestrebungen  aus  allen  Kräften 
zu  fördern  und  zu  unterstützen;  3.  in  diesen  Bestrebungen  sich 
mit  der  Arbeiterschaft  aller  Länder  solidarisch  zu  erklären  und 
den  hieraus  entspringenden  internationalen  Verpflichtungen  je- 
weilen nach  besten  Kräften  freudig  gerecht  zu  werden“. 


Unternehmerverbände. 


Neues  Kartell  der  russischen  Zuckerfabrikanten. 

Schon  im  Jahre  1876  bemühten  sich  die  russischen 
Zuckerfabrikanten,  ein  allgemeines  Kartell  zu  Stande  zu 
bringen,  und  suchten  hierzu  die  Sanktion  und  Unterstützung 
der  russischen  Regierung.  Wenn  Letzteres  auch  ohne  Er- 
folg blieb,  so  gelang  es  doch  einem  Theile  der  Zucker- 
industriellen, nämlich  den  Farinzuckertabrikanten  im  Jahre 
1886  ein  Kartell  in  ihrer  Branche  zu  gründen.  Unter 
den  Raffinadefabrikanten  dagegen  war  die  Uneinigkeit  so 
gross,  dass  sie  bis  jetzt  ein  Kartell  nicht  zu  Stande  zu  bringen 
vermochten.  Aber  auch  für  die  Raffinadefabrikanten  bleibt 
die  Gründung  eines  solchen  das  Ziel  ihrer  ununterbrochenen 
Bemühungen. 

Die  in  Folge  der  jüngsten  Nothlage  hervorgerufene  | 
Abnahme  der  Konsumfähigkeit  der  Bevölkerung  Russlands 
musste  unbedingt  auch  auf  die  Zuckerindustrie  ihre  Wirkung 
ausüben.  Die  Zuckerkrisis  verschärfte  sich  während  des 
letzten  Jahres  noch  mehr,  als  es  früher  der  Fall  war.  Dieser 
Umstand  veranlasste  die  Zuckerfabrikanten,  alle  Hebel  in 
Bewegung  zu  setzen,  um  das  gewünschte  Kartell  ins  Leben 
zu  rufen;  für  dasselbe  wird  seit  dem  letzten  Jahre  in  allen  j 
Kreisen  der  Zuckerfabrikanten  lebhaft  agitirt  Verschiedene 
Gruppen  von  Zuckerfabrikanten  treiben  zwar  zur  Zeit  so  i 
scharfe  Konkurrenz,  dass  sie  in  ihrem  Bestreben,  sich  des  J 
inneren  Marktes  vollständig  zu  bemächtigen,  bis  jetzt  nicht 
zum  Ziel  gelangten.  Indess  ist  die  Beendigung  dieses  häus- 
lichen Streites  nur  noch  eine  Frage  der  Zeit.  Die  grossen 
Profite  der  Farinzuckerfabrikanten  reizen  die  Raffinade- 
fabrikanten zur  Nachahmung. 

Zur  Schöpfung  des  Kartells  ist  ein  neues  Projekt  aus- 
gearbeitet und  den  Zuckerindustriellen  unterbreitet  worden. 

Umdem  Leserein  klaresBild  von  der Lage  der  russischen 
Zuckerindustrie,  wie  auch  von  den  in  den  Kreisen  der 
russischen  Fabrikanten  herrschenden  Strömungen  zu  geben, 


No.  18. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


229 


müssen  wir,  bevor  wir  das  neue  Projekt  besprechen,  zwei 
andere  früher  in  Vorschlag  gebrachte  beleuchten. 

Das  erste  Projekt  stellt  sich  in  seinen  wesentlichen 
Zügen  folgendennassen  dar.  Von  der  Ansicht  ausgehend, 
dass  der  innere  Markt  Russlands  mit  Zucker  überschwemmt 
werde,  sollten  sich  die  Raffinadefabrikanten  verpflichten  ein 
entsprechend  grösseres  Quantum  Farinzucker  als  bisher  zu 
exportiren.  Gegenwärtig  besteht  unter  den  Raffinade-  und 
Farinfabrikanten  (oder  wie  sie  in  Russland  kurz  genannt 
werden:  „Raffinadlern“  und  „Farinirern“)  ein  Vertrag, 

durch  welchen  die  ersteren  verpflichtet  werden  bei  den 
letzteren  etwa  17  Millionen  Pud  Farin  zur  Raffinirung  an- 
zukaufen. Nun  hat  aber  die  Umarbeitung  dieser  ungeheuer 
grossen  Quantität  zur  Folge,  dass  von  Jahr  zu  Jahr  immer 
grössere  Mengen  von  Raffinaderesten  sich  anhäufen,  was 
selbstverständlich  ein  Fallen  des  Zuckerpreises  nach  sich 
ziehen  muss.  Da  nun  unter  solchen  Umständen  nicht  der 
Zuckerfabrikant  dem  Markte  seine  Bedingungen  diktirt, 
sondern  gerade  das  Entgegengesetzte  stattfindet,  so  muss 
man  dahin  wirken,  dass  der  Markt,  resp.  die  Festsetzung 
der  Preise  in  volle  Abhängigkeit  von  den  Zuckerfabrikanten 
gebracht  werde.  Zu  diesem  Behüte  empfiehlt  _ sich  vor 
Allem  eine  derartige  Umgestaltung  der  Produktions-  und 
Handelsbedingungen,  dass  nicht  nur  keinerlei  Raffinadereste 
auf  dem  Markte  verbleiben,  sondern  im  Gegentheil  Mangel  an 
Zucker  sich  fühlbar  macht.  Dies  lässt  sich  aber  lediglich 
durch  Einschränkung  der  Raffinadeproduktion  erreichen. 
Da  aber  die  Raffinadefabrikanten,  wie  schon  eingangs  er- 
wähnt wurde,  ihrer  Verpflichtung,  d.  h.  der  jährlichen  Er- 
werbung von  17  Millionen  Pud  Farin  bei  den  Farinfabri- 
kanten nachkommen  müssen,  so  bleibt  den  ersteren  nichts 
anderes  übrig,  als  ihrerseits  von  dem  bereits  angekauften 
Farin  so  viel  als  möglich  in  das  Ausland  zu  exportiren;  da- 
mit das  Raffinadeangebot  auf  dem  inneren  Markte  nach- 
lässt. Sobald  nun  die  Quantität  des  angebotenen  Zuckers 
kleiner  geworden,  verschwinden  nach  und  nach  diejenigen 
Raffinadereste,  welche  jetzt  auf  den  Preis  drücken,  und 
schliesslich  werden  sich  die  Ratfinadelabrikanten  vollständig 
des  inneren  Marktes  bemächtigen. 

Das  war  der  Inhalt  des  ersten  Projektes.  Das  zweite, 
das  für  eine  kurze  Zeit  realisirt  wurde,  hatte  der  kürzlich 
verstorbene  Zuckerfabrikant  Charitonenko  in  Vorschlag  ge- 
bracht. Nach  diesem  Projekte  sollte  die  Bestimmung  der 
jährlich  zu  produzirenden  Zuckermenge  dem  Syndikate 
übertragen  werden.  Statt  des  Zuckerexportes  nach  dem 
Auslande  sollte  nur  soviel  Zucker  verarbeitet  werden,  dass 
überhaupt  keine  Reste  ins  nächste  Produktionsjahr  verschleppt 
werden  könnten.  Das  in  jeder  Fabrik  zu  produzirende  Zucker- 
quantum sollte  von  dem  Syndikate  für  jede  einzelne  Fabrik 
entsprechend  ihrem  durchschnittlichen  Produktionsumfange 
fixirt  werden.  Sollte  aber  die  Menge  des  umgearbeiteten 
Zuckers  das  vomSyndikate  vorgeschriebene Mass  übersteigen, 
so  sollen  die  Fabrikanten  diesen  Ueberschuss  an  Zucker  in 
ihren  Lagerräumen  aufstapeln.  Der  Verkauf  dieser  Ueber- 
schüsse  sollte  nur  mit  Erlaubniss  des  Syndikats  vor  sich 
gehen. 

Das  zweite  der  von  uns  in  Kürze  skizzirten  Projekte 
wurde,  wie  schon  gesagt,  acceptirt.  Aber  die  Mitglieder 
des  neugegründeten  Syndikates  behielten  keineswegs  ihre 
Raffinadereste  auf  Lager,  sondern  beeilten  sich  dieselben 
auf  dem  Markte  loszuschlagen,  indem  sie  förmlich  unterein- 
ander wetteiferten,  die  Zuckerpreise  herabzudrücken.  Das 
zweite  Projekt  machte  somit  ein  glänzendes  Fiasco. 

In  Folge  dieses  Misserfolges  kehrte  man  in  letzterer 
Zeit  neuerdings  zum  ersten  der  von  uns  erwähnten  Ent- 
würfe, d.  h.  zu  dem  obligatorischen  Zuckerexport  nach  dem 
Auslande,  zurück.  Aber  in  seiner  neueren  Gestalt  ist  das 
Projekt  etwas  verändert.  Den  Zuckerfabrikanten  beider 
Gruppen  wird  nunmehr  zur  Pflicht  gemacht,  ausser  des 
seit  Jahren  von  den  „Farinirern“  exportirten  Zuckers  noch 
1 200  000  Pud  Farinzucker  zu  exportiren.  Zum  Export  der  einen 
Hälfte  dieser  Quantität  mussten  sich  die  „Raffinadler“  ver- 
pflichten, während  die  „Farinirer“  die  andere  Hälfte  ihrem 
zu  exportirenden  Farinzucker  beizufügen  haben.  Ein 
grösserer  Theil  der  Raffinadefabrikanten  hat  sich  diesem 
neuen  Projekte  bereits  angeschlossen,  und  es  steht  zu  er- 
warten, dass  auch  die  Uebrigen  dem  Projekte  beistimmen, 
wodurch  das  Kartell  der  Raffinadefabrikanten  sich  verwirk- 
lichen würde.  Sollte  dies  thatsächlich  geschehen,  so  müssen 
die  Zuckerpreise  in  Russland  bedeutend  steigen. 

Das  Kartell  der  Raffinadefabrikanten  wäre  schon 
gegenwärtig  eine  vollendete  Thatsache,  wenn  nur  die 
Zuckerfabrikanten  selbst  in  der  Durchführung  ihres  Projek- 


tes nicht  durch  ihren  Konkurrenzkampf  behindert  würden. 
Ein  häuslicher  Streit  spielt  sich  nämlich  zwischen  den 
Raffinade-  und  den  Farinfabrikanten  ab:  in  letzteren  findet 
das  zu  gründende  Kartell  die  ausgesprochensten  Gegner. 
Die  Farinzuckerfabrikanten  klagen  darüber,  dass  sie  zur 
Zeit  in  volle  Abhängigkeit  von  den  „Raffinadlern“  gerathen 
sind,  da  die  letzteren  bei  ihnen  den  Farin  nicht  nur  zu 
niedrigen,  sondern  für  sie  direct  nachtheiligen  Preisen  er- 
werben. Ferner  beklagen  sich  die  „Farinirer“,  dass  die 
seit  einigen  Jahren  von  den  „Raffinadlern“  eingeführte  Pro- 
duktionsweise für  die  letzteren  sehr  profitabel,  für  sie  selbst 
jedoch  mit  Nachtheilen  verbunden  sei.  Diese  neue  Produk- 
tionsweise besteht  darin,  dass  der  Farin  von  den  Raffinade- 
fabrikanten nicht  gekauft,  sondern  nur  zur  Umarbeitung 
übernommen  wird,  für  welch’  letztere  ihnen  von  den 
„Farinirern“  I Rubel  per  Pud  gezahlt  wird.  Nach  dieser 
Umarbeitung  wird  die  Raffinade  zum  Marktpreise  verkauft 
und  vom  erzielten  Betrag  bekommt  vor  allem  der  Raffinade- 
fabrikant seinen  Rubel  per  Pud.  Mit  dem  nun,  was  nach 
diesem  Abzüge  übrig  bleibt,  muss  sich  der  Farinzucker- 
fabrikant begnügen.  Da  aber  bei  einem  derartigen  Pro- 
duktions- und  Handelsverfahren  die  „Raffinadler“  gar  kein 
Interesse  an  der  Steigerung  der  Marktpreise  hegen,  so  er- 
gibt sich  in  der  That,  dass  nach  Abzug  des  für  die  Raffi- 
nirung  zu  entrichtenden  Betrages  den  Farinzuckerfabrikanten 
nicht  viel  verbleibt.  Da  nun  hauptsächlich  die  Raffinade- 
fabrikanten über  das  Kapital  verfügen,  so  falle  es  den 
„Farinirern“  sehr  schwer,  sich  vom  Einflüsse  der  Ersteren 
frei  zu  machen.  Auch  wäre  dies  nicht  rathsam;  vielmehr 
dürfte  es  sogar  angezeigt  sein,  die  Farinzucker-  mit  der 
Raffinadeindustrie  zu  verbinden.  Es  bedarf  hiebei  kaum 
der  Erwähnung,  dass,  wie  auch  das  Resultat  dieses  häus- 
lichen Streites  sich  gestalten  mag,  — d.  h.  ob  es  den  Farin- 
zuckerfabrikanten gelingen  wird,  sich  von  dem  Einflüsse 
der  Raffinadefabrikanten  zu  befreien,  oder  nicht,  — der 
russische  Konsument  davon  keinen  Nutzen  haben  dürfte. 
Bemerkt  muss  werden,  dass  die  Gründung  eines  Kartells 
nicht  bei  allen  russischen  Zuckerfabrikanten  Anklang  findet. 
In  Russland  existirt  nämlich  eine  kleine  Anzahl  von  babri- 
kanten,  die  sich  gegen  das  Kartell  in  jeder  Form  aus- 
sprechen, dieses  mit  allen  ihnen  zu  Gebote  stehenden 
Mitteln  bekämpfen  und  vor  Allem  „Produktionsfreiheit“ 
verlangen,  — selbstverständlich  nur  desshalb,  weil  diese 
„Freiheit“  in  ihrem  eigenen  Interesse  liegt.  Dies  sind  die 
wenigen  Zuckerfabrikanten,  welche  Zuckersiederei  mit 
Landwirthschaft  verbinden  und  für  ihren  Absatz  ausschliess- 
lich auf  den  inneren  Markt  angewiesen  sind.  Einer  dieser 
Landwirthe,  der  zugleich  Zuckerfabrikant  ist,  — ein  in 
Centralrussland  häufig  vorkommender  Fall  — Fürst  Schtsche- 
batow  legte  in  einer  Brochüre  die  Nachtheile  der  Kartelle 
dar.  Der  Verfasser  erlässt  einen  Mahnruf  an  die  Zucker- 
fabrikanten Centralrusslands,  in  welchem  hervorgehoben 
wird,  dass  „der  hauptsächliche  Beweggrund  _ der  Kartell- 
vertreter darin  liegt,  unter  dem  Anschein  einer  Heilung 
der  Krisis  den  Wohlstand  der  landwirthschaftlichen  Fabriken 
zu  vernichten  und  dadurch  nur  für  den  Vortheil  ihrer 
eigenen,  auf  Spekulation  basirenden  und  mit  der  Urproduk- 
tion in  keiner  Verbindung  stehenden  Fabriken  zu  sorgen“. 

Unter  diesen  beiden  Kategorien  von  Zuckerfabriken 
findet  nunmehr  ein  Kampf  ums  Dasein  statt  Mit  Bestimmt- 
heit kann  behauptet  werden,  dass  die  landwirthschaftlichen 
Fabrikanten  keineswegs  den  Sieg  davon  tragen  werden. 
Dafür  spricht,  dass  unter  den  Zuckerfabrikanten  199  An- 
hänger und  nur  27  Gegner  des  Kartells  sind  und  dass  ferner 
auch  unter  dieser  Minderzahl  die  Idee  des  Kartells  immer 
neue  Anhänger  findet.  Letzteres  nennt  Fürst  Schtschebatow 
„eine  beispiellose  Ignorirung  der  Lebensinteressen  der 
Zuckerfabrikanten“.  Er  irrt  aber  darin  gewaltig,  denn  das 
Kartell  steht  keineswegs  im  Widerspruche  mit  den  Inte- 
ressen der  nicht  Landwirthschaft  treibenden  Zuckerfabri- 
kanten; die  Tendenz  der  Kartellgründungen,  die  bereits 
überall  in  kapitalistischen  Staaten  Platz  greitt,  wird  sich 
nothwendigerweise  auch  auf  Russland  erstrecken. 

Obzwar  das  allgemeine  Kartell  bis  jetzt  noch  nicht 
zu  Stande  kam,  üben  die  lokalen  Syndikate  dennoch  bereits 
einen  gewaltigen  Einfluss  auf  die  Landwirthschaft  mit 
Zuckersiederei  verbindenden  Fabriken  aus.  Als  Illustration 
hiezu  möge  folgende  der  russischen  „Nowosti“  entnommene 
Notiz  dienen:  „Aus  Kalisch  wird  berichtet,  dass  im  Sep- 
tember des  Jahres  1891  die  Nachfolger  eines  Fabrikanten, 
Namens  Stemjokowsky,  ihre  Zuckerfabrik  einer  anderen 
Firma  verkauft  haben.  Die  Landwirthe,  deren  Anwesen 
diese  Fabrik  begrenzen,  waren  mit  diesem  Besitzwechsel 


230 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  18. 


sehr  zufrieden,  in  der  Vermuthung,  dass  die  Fabrik  ihre 
Produktionstätigkeit  ausdehnen  und  somit  die  Rübenkultur 
beträchtlich  heben  würde.  Aber  das  Syndikat  der  Zucker- 
fabrikanten verbot  vorläufig  das  Sieden  von  Zucker  in 
diesem  Etablissement,  so  dass  der  Betrieb  dieser  Fabrik  für 
diese  Saison  gänzlich  still  steht.  Diese  aus  gänzlich  zuver- 
lässiger Quelle  stammende  Mittheilung  stellt  die  Beziehungen 
des  Syndikates  zu  den  Interessen  der  Landwirthschalt  voll- 


ständig ms  Klare.“ 

Wenn  auch  die  russische  Presse  die  Nachricht  bringt, 
dass  in  den  Regierungssphären  das  neue  Kartell  der  Zucker- 
fabrikanten wenig  Anklang  findet,  so  ist  doch  anzunehmen, 
dass  die  Regierung,  die  so  viel  lür  die  Entwickelung  der 
russischen  Grossindustrie  schon  gethan  hat,  auch  jetzt  ihre 
Meinung  zu  Gunsten  der  Fabrikanten  behufs  staatlicher 
„Produktionsregulirung“  ändern  wird.  Sollte  dies  aber  nicht 
der  Fall  sein,  so  sind  die  Zuckerfabrikanten  gegenwärtig 
schon  kapitalkräftig  und  einflussreich  genug,  um  auch  ohne 
Regierungsimterstiitzung  das  geplante  Kartell  zu  Stande  zu 

brilien-  E.  Scholkow. 


Ländlicher  Unternehmerverband  in  Schlesien  Der 

Vorstand  des  landwirthschaftlichen  Zentralvereins  für  Schle- 
sien hat  an  die  landwirthschaftlichen  Vereine  der  Provinz 
ein  Rundschreiben  gerichtet,  worin  er  in  Ausführung  eines 
in  der  Jahressitzung  des  Centralkollegiums  am  7.  und 
8.  März  gefassten  Beschlusses  die  Vereine  auffordert,  der 
Gründung  eines  „Verbandes  zur  Besserung  der 
ländlichen  Arbeiterverhältnisse“  ihre  Unterstützung 
zu  Theil  werden  zu  lassen.  Das  Unternehmen  stellt  sich, 
wie  in  der  Provinz  und  im  Königreich  Sachsen,  sowohl  den 
Schutz  des  Arbeitgebers  gegen  dolosen  Kontraktbruch,  als 
auch  die  Förderung  des  Wohls  der  redlich  denkenden  Ar- 
beitnehmer auf  dem  Wege  der  Selbsthülfe  zur  Aufgabe. 
„Der  Kontraktbruch  der  Arbeiter“,  so  heisst  es  in  dem 
Rundschreiben,  „ist  ein  Uebel,  von  dem  jeder  Berufsgenosse, 
möge  er  eine  grössere  oder  kleinere  Scholle  bewirthschaf- 
ten,  in  gleicher  Weise  betroffen  wird;  möchten  deshalb 
alle  Landwirthe  zur  Bekämpfung  desselben  sich  die  Hände 
reichen  und  fest  zusammenstehen,  um  Recht  und  Sitte  zu 
schützen.  Der  zu  begründende  Verband  muss  seine  Auf- 
gaben damit  beginnen,  dass  er  durch  die  Satzungen  allen 
seinen  Mitgliedern  zur  unverbrüchlichen  Pflicht  macht,  Per- 
sonen, welche  bei  einem  anderen  Mitgliede  des  Verbandes 
ohne  ordnungsmässige  Entlassung  die  Arbeit  aufgegeben 
haben,  nicht  anzunehmen.  Damit  aber  die  Wirkung  dieser 
Bestimmung  eine  thunlichst  durchgreifende  werde,  damit 
die  Arbeiter  die  Folgen  des  Kontraktbruches 
fürchten  lernen,  ist  es  erforderlich,  dass  der  Verband 
sich  über  die  ganze  Provinz  erstreckt  und  die  Zahl  seiner 
Mitglieder  möglichst  gross  ist.  Was  in  dieser  Hinsicht  er- 
reicht werden  kann,  das  zeigt  der  erwähnte  sächsische 
Verband,  der  schon  in  seinem  ersten  Jahresbericht  hervor- 
heben konnte,  wie  die  Arbeitgeber  in  der  Provinz  Sachsen 
seine  Autorität  und  seine  Legitimation  auf  dem  in  Rede 
stehenden  Gebiete  ausnahmslos  anerkannt  haben.“  Die  An- 
forderungen, die  der  schlesische  Verband  hinsichtlich  des 
Beitrages  stellt,  werden  1 Pf  für  den  Morgen  landwirth- 
schaftlich  benutzter  Fläche  betragen.  Die  Vortheile  des 
Verbandes  sollen  namentlich  im  unentgeltlichen  Rechtsbei- 
stand und  in  dem  Anrecht  auf  die  Dienste  des  Arbeits- 
nachweises bestehen. 


Centralverband  der  österreichischen  Grossindustriellen. 
Die  Bildung  von  Kartellen  und  anderen  Unternehmerverbänden 
hat  in  den  letzten  Jahren  in  Oesterreich  starke  Fortschritte  ge- 
macht Ein  weiterer  Schritt  der  Entwicklung  geschah  unlängst, 
indem  an  die  Zusammenfassung  dieser  Organisationen  ge- 
schritten wurde.  Am  20.  April  fand  in  den  Räumen  des  öster- 
reichischen Handelsmuseums  in  Wien  der  erste  Verbandstag 
österreichischer  Industrieller  statt,  bei  welchem  die  gesammte 
Grossindustrie  Oesterreichs,  soweit  dieselbe  bereits  Fachver- 
bände gebildet  hat,  mit  Ausnahme  eines  einzigen  Vereins,  re- 
präsentirt  war.  Auf  diesem  Verbandstag  wurde  eine  ständige 
Organisation  der  österreichischen  Grossindustrie  angeregt  und 
einstimmig  der  vorgelegte  Entwurf  eines  „Statuts  für  den 
Centralverband  der  Industriellen  Oesterreichs“  provisorisch  an- 
genommen. Der  Verband  der  Baumwollindustrielien  wurde  in  ! 
Gemeinschaft  mit  dem  Verein  der  Montan-,  Eisen-  und  Maschinen- 
industriellen und  dem  Verein  der  österreichisch-ungarischen' 
Papierfabrikanten  damit  betraut,  die  behördliche  Genehmigung 
des  Statuts  zu  erwirken  und  die  definitive  Konstituirung  des 
Central verbandes  vorzubereiten. 


Handwerkerfragen. 


Untergang-  des  Kleingewerbes  in  Württemberg.  Der 

kürzlich  ausgegebene  Jahresbericht  der  Handels-  und  Gewerbe- 
kammer in  Stuttgart  für  189!  schreibt  in  seinem  allgemeinen 
Th  eile : „Noch  haben  wir  des  Kleingewerbes  und  der  Landwirt- 
schaft hier  zu  gedenken:  auf  dem  Lande  kehrte  auch  1891  eine 
Erfahrung  wieder,  die  man.  wenigstens  in  unserem  Handels- 
kammerbezirk,  seit  mehr  als  einem  Jahrzehnt  machen  kann:  all- 
jährlich wird  nämlich  durch  das  jeweilige  Ernteergebniss,  sowie 
durch  den  hohen  Stand  der  Viehpreise  und  der  landwirthschaft- 
lichen  Nebenprodukte  die  Hoftm  ng  auf  eine  Stärkung  der 
Kaufkraft  belebt,  und  dann  im  Herbst,  trotz  des  befriedigenden 
Ernteertrags,  wieder  enttäuscht  So  fehlt  es  dem  Handwerk 
überall  auf  dem  Lande  an  Aufträgen  bezw.  Absatz.  Für  manche 
Kleingewerbe  verschärft  sich  zudem  — als  Folge  der  allgemeinen 
Stockung — die  Konkurrenz  des  Grossbetriebs,  so  nament- 
lich für  die  Gerber,  Hutnracher,  Kleinbrauer,  Tuch-  und  Strumpf- 
weber. Färber,  Kupferschmiede,  Seiler,  Ziegeleien,  welche  Gewerbe 
in  der  Verdichtung  zum  Grossbetrieb  weiter  voranschreiten. 
Die  Schneider  und  Schuhmacher  sehen  sich  durch  die  fast  in 
allen  grösseren  Orten  errichteten  Fabrikniederlagen  mehr  und 
meljr  auf  die  blosse  Flickarbeit  zurückgedrängt.  Für  die  Kolonial- 
und  Kurzwaarengeschäfte  bildet  die  Konkurrenz  des  Hausier- 
handels, der  Detailreisenden  und  derauswärtigenVersandgeschäfte 
eine  steigende  Gefahr;  dieser  Existenzkampf  wird  noch  dadurch 
verschärft,  dass  immer  neue  Geschäfte  wie  Pilze  aus  dem 
Boden  schiessen,  welche,  um  gegen  die  älteren  Geschäfte 
aufzukommen,  schleudern  müssen.  Das  Anwachsen  einer  zer- 
splitterten vielköpfigen  Konkurrenz  welche  den  LImsatz  und  den 
Geschäftsgewinn  des  einzelnen  fortwährend  herabdrückt  ist  eine 
allgemeine  Erscheinung  und  für  den  Detaillistenstand  in  Stadt 
und  Land  seit  Jahren  eine  ernste  Gefahr;  (auch  in  Stuttgart 
z.  B-  konnte  man  in  den  letzten  Jahren  die  baldige  Einstellung 
neueröffneter  Geschäfte  seitens  solcher  Anfänger  verfolgen, 
welchen  die  nöthigen  Mittel  und  Kenntnisse  ermangelten,  um  . 
sich  auf  die  Dauer  halten  zu  könnenh  So  wird  für  die  grossen 
Magazine  der  Boden  bereitet.  y 

Hnndwerkerorganisationeii  für  die  Gewerbefreiheit. 

Der  Centralvorstand  des  schweizerischen  Bäcker-  und  Con-  ! 
ditorenvereins  petitionirt  bei  den  schweizerischen  gesetz-  ; 
gebenden  Körpern  um  Erlass  eines  Bundesgesetzes  über 
den  Brodverkauf.  Mannigfache  Klagen  werden  in  dieser 
Petition  erhoben  über  die  seitens  einzelner  Kantons- 
behörden zur  Einführung  gebrachten  Gewichtstaxen  für 
Brod,  welche  gemäss  der  Petition  in  Widerspruch  stehen 
„mit  der,  auch  unserem  Stande  gewährleisteten  Handels-  und 
Gewerbefreiheit.“ 

Der  Bundesrath  schlägt  dem  National-  und  Stände-  j 
rathe  vor,  falls  diese  dem  Begehren  der  Petenten  grund-  ' 
setzlich  beistimmen,  den  Bundesrath  einzuladen,  künftighin  , 
Beschwerden  gegen  kantonale  Verordnungen,  die  ein  be- 
stimmtes Brodgewicht  vorschreiben,  als  begründet  zu  er- 
klären. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Zur  preussischen  Berggesetznovelle.  Die  technischen 
Grubenbeamten  der  rheinisch-westfälischen  Zechen  haben 
eine  Petition  um  Abänderung  verschiedener  Bestimmungen 
der  Berggesetznovelle  an  den  Handelsminister  von  Berlepsch 
abgesandt.  In  derselben  heisst  es  u.  A.  „Eines  unserer 
Bedenken  bezieht  sich  auf  die  Bestimmung  des  § 89  Abs.  5, 
dass  die  Grubenbeamten  aus  ihrem  Dienstverhältniss  ent- 
lassen werden  können,  wenn  sie  durch  eine  längere  Ab- 
wesenheit an  der  Verrichtung  ihrer  Dienste  _ verhindert 
werden.“  Wir  nehmen  den  Fall  an,  dass  ein  Gruben- 
beamter zur  Erfüllung  der  Heerespflicht  aut  längere  Zeit, 
beispielsweise  4 Wochen  eingezogen  würde.  Nach  unserer 
Auffassung  würde  bei  einer  strikten  Auslegung  der  ange- 
zogenen Bestimmung  der  Bergwerksbesitzer  befugt  sein, 
den  Grubenbeamten  ohne  Kündigung  zu  entlassen.  V ir 
können  nicht  annehmen,  dass  der  Gesetzgeber  den  Be- 
amten so  unsicher  in  seinen  Dienstverhältnissen  stellen 
will,  dass  die  Erfüllung  einer  Staatspflicht  die  Veranlassung 
geben  könnte,  ihn  aus  seinem  Dienstverhältniss  zu  ent- 
lassen. Ausser  dem  obigen  Falle  lassen  sich  wohl  noch 
andere  aufstellen,  welche  zu  ähnlichen  Bedenken  \ eranlas- 


No.  18. 


SOZIALPOLITISCHES  CENT R A LBL  ATT. 


231 


sung  geben  (z.  B.  Berufung  als  Geschworene).“  Dann 
heisst  es  weiter:  „In  § 89  des  Entwurfs  ist  unter  Abs.  4 

die  Aufhebung  des  Dienstverhältnisses  ohne  Kündigung- 
vorgesehen,  wenn  der  Grubenbeamte  „eine  sicherheitspolizei- 
liche Vorschrift  bei  der  Leitung  oder  Beaufsichtigung  der 
Bergarbeit  Übertritt“.  Es  scheint  uns  sehr  hart,  dass  ein 
Grubenbeamter  ohne  Weiteres  von  dem  Bergwerksbesitzer 
entlassen  werden  kann,  wenn  er  eine  weniger  erhebliche 
Vorschrift  der  Sicherheitspolizei  Übertritt,  denn  zur  Sühnung 
dieser  Uebertretung  ist  zunächst  die  Polizeistrafe  vorge- 
sehen. Der  Grubenbeamte,  der  einer  solchen  Uebertretung 
beschuldigt  würde,  verwirkte  nicht  nur  die  Polizeistrafe, 
sondern  würde  auch  privatrechtlich  erheblich  geschädigt, 
was  wohl  nicht  Absicht  des  Gesetzgebers  sein  dürfte.  V ir 
meinen,  dass  der  Gesetzentwurf  eine  Abänderung  dahin  zu- 
lassen würde,  dass  die  Entlassung  nur  erfolgen  könnte, 
wenn  die  Uebertretung  der  polizeilichen  Vorschriften  eine 
gemeinschädliche  wäre.“  Der  letzte  Wunsch  ist  sehr  be- 
zeichnend. Eine  Streichung  derselben  Vorschrift  für  die 
Arbeiter  ward  nicht  beantragt,  ebensowenig  die  Aufnahme 
eines  Paragraphen,  die  den  Zechenbesitzern  spezielle  Vor- 
schriften über  Sicherheitsvorkehrungen  macht,  was  doch 
das  einzig  Richtige  sein  würde. 

Regelung  der  Sonntagsruhe  in  der  Industrie  Berlins.  Die 

Aeltesten  der  Berliner  Kaufmannschaft  haben  dem  Polizei- 
präsidenten mitgetheilt,  dass  sie,  abgesehen  vom  Handels- 
gewerbe, für  folgende  Gewerbe  eine  besondere  Regelung 
der  Sonntagsruhe  für  erforderlich  halten:  für  das  Bauge- 
werbe, die  Wasserwerke,  die  Fabrikation  von  Mineralwasser, 
die  Chokoladenfabrikation  und  verwandte  Industrien,  die 
chemischen  Industrien  und  andere  (im  Monat  Mai),  die  Fa- 
brikation von  Thonwaaren,  die  Gerberei,  die  Wäschefabri- 
kation (in  je  8 Wochen  vor  den  grossen  Festen),  die  Gärt- 
nerei, die  Maschinenfabrikation  (bei  den  Arbeiten  zur  In- 
standhaltung der  eigenen  und  fremden  Betriebe).  Ausser- 
dem wird  in  dem  Bericht  der  Aeltesten  auch  noch  die 
Zeitungsdruckerei  im  Interesse  der  Herstellung  von  Montags- 
blättern erwähnt.  Man  werde  nicht  umhin  können,  den 
ganzen  Nachmittag  des  Sonntags  zur  Arbeit  freizulassen.  - 
Es  ist  nicht  abzusehen,  warum  die  Aeltesten  der  Berliner 
Kaufmannschaft  nicht  die  völlige  Abschaffung  der  gesetz- 
lichen Bestimmungen  über  die  Sonntagsruhe  auf  dem  Ver- 
ordnungswege  empfohlen  haben. 

Ruhezeiten  für  österreichische  Staatsbeamte.  Dem 

österreichischen  Abgeordnetenhause  ging  eine  mit  20  000 
Unterschriften  versehene  Petition  zu,  in  welcher  neben  Ge- 
haltserhöhungen und  Regelungen  von  Fragen  des  Standes- 
interesses auch  Folgendes  erbeten  wurde: 

Einführung  der  allgemeinen  Sonntagsruhe  in  allen 
Aemtern  unter  Feststellung  eines  besonderen  Dienstturnus 
bei  jenen  Berufszweigen  im  Staatsdienste,  bei  welchen  die 
allgemeine  Sonntagsruhe  aus  öffentlichen  Rücksichten  un- 
thunlic.h  erscheint,  und  Normirung  eines  jährlich  einmal  zu 
ertheilenden  vierzehntägigen  und  nach  Massgabe  der  Dienst- 
jahre bis  zu  sechs  Wochen  steigenden  Urlaubes,  welcher 
nach  einem  für  jedes  Amt  besonders  festzustellenden  Urlaubs- 
turnus anzutreten  ist. 

Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Oesterreich.  Einer 
Anregung  der  organisirten  Bauarbeiterschaft  Wiens  folgend, 
stellte  der  Abgeordnete  Baernreither  Namens  der  deutsch-libe- 
ralen Partei  in  einer  Sitzung  des  zur  Berathung  der  Wiener 
Verkehrsanlagen  eingesetzten  Ausschusses  die  Einbringung  eines 
Gesetzentwurfes  in  Aussicht,  welcher  die  Frage  der  Ausdehnung 
der  Arbeiterschutzgesetzgebung  auf  die  Erdarbeiter  und  Hand- 
langer grundsätzlich  regeln  sollte  (s.  Sozialpolitisches  Central- 
blatt Nr.  11  S 142).  Bei  dem  eben  stattgefundenen  Zusammentritte 
des  österreichisches  Reichsrathes  kam  die  jungtschechische  Partei 
der  deutsch-liberalen  zuvor,  indem  sie  durch  Prof.  Kaizl  einen 
Gesetzentwurf,  betr.  die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes,  der 
Beschlussfassung  des  Hauses  unterbreitete.  Derselbe  lautet: 

§ 1.  Die  Bestimmungen  des  sechsten  Hauptstückes  der 
Gewerbeordnung  (Gesetz  vom  8.  März  1885,  Z.  22,  R.  G.  Bl., 
Arbeiterschutzgesetz)  haben  auch  Geltung  für  jene  Arbeits- 
personen, welche  beim  Gewerbe  zur  Lohnarbeit  der  gemeinsten 
Art  (Tagelöhnerarbeit  u.  s.  w.)  verwendet  werden. 

§ 2.  Die  politische  Landesbehörde  ist  ermächtigt,  nach 
Anhörung  der  zuständigen  Handels-  und  Gewerbekammer  die 
Bestimmungen  der  §§  96a  (11  ständiger  Maximalarbeitstag)  und 
96b  (Verbot  der  Arbeit  von  Kindern  unter  14  Jahren  in  Fabriken) 
der  Gewerbeordnung  (Gesetz  vom  8.  März  1885,  Z.  22,  R.  G.  Bl.) 
auf  die  Hilfsarbeiter  und  die  im  § 1 genannten  Arbeitspersonen 
I nicht  fabriksmässig  betriebener  Gewerbsunternehmungen,  bei 
I 


denen  mehr  als  20  Hilfsarbeiter  oder  Arbeitspersonen  beschäftigt 
werden,  auszudehnen. 

« Wird  dieser  Entwurf  Gesetz,  so  gelten  die  für  die  hand- 
werksmässigen  Betriebe  in  Kraft  stehenden  Arbeiterschutzbestim- 
mungen  auch  für  die  Taglöhnerarbeit  und  können  im  Verord- 
nungswege die  weiter  gehenden  für  die  Fabrikarbeiter  geltenden 
Bestimmungen  auf  diese  Arbeiterkategorien  angewandt  werden. 

Arbeiterschutz  in  Schweden.  Die  Arbeiterschutzgesetz- 
gebung Schwedens  soll  endlich  einer  Reform  unterzogen  werden. 
Am  13.  März  1891  hatte  der  König  die  Bildung  einer  Kommission 
angeordnet  mit  dem  Aufträge,  in  Erwägung  zu  ziehen,  inwie- 
weit die  von  der  Berliner  Arbeiterschutzkonferenz  angenommenen 
Grundsätze  in  Schweden  anzuwenden  seien,  und  zugleich  Vor- 
schläge zur  Aenderung  der  bestehenden  Gesetzgebung  zu 
machen.  Die  Kommission  hat,  wie  das  „Handels-Museum“  be- 
richtet, der  Regierung  nunmehr  einen  Bericht  über  ihre  Arbeiten 
und  einen  Gesetzesvorschlag  über  die  Verwendung  von  Minder- 
jährigen und  Frauen  zur  Arbeit  unterbreitet.  In  dem  Entwurf 
lässt  die  Kommission  die  Frage  der  Begrenzung  der  Arbeitszeit 
Erwachsener  unberührt.  Bezüglich  der  Sonntagsarbeit  hält  sie 
besondere  gesetzliche  Bestimmungen  unter  Hinweis  auf  die  Be- 
stimmungen des  Strafgesetzes  für  nicht  erforderlich.  Ferner 
beantragt  die  Kommission:  Minderjährige  dürfen  vor  vollende- 
tem 13.  Lebensjahre  nicht  beschäftigt  werden,  auch  dann  nicht, 
wenn  sie  vor  dem  Abgänge  aus  der  Volksschule  nicht  die  ge- 
ringsten gesetzlich  nothwendigen  Kenntnisse  erworben  haben, 
oder  wenn  sie  zu  der  fraglichen  Arbeit  körperlich  zu  schwach 
sind.  Die  Grenze  der  Minderjährigkeit  ist  das  18.  Lebensjahr. 
Minderjährige  unter  15  Jahren  dürfen  höchstens  6 Stunden  (jetzt 
10  Stunden)  und  solche  über  15  Jahre  höchstens  11  Stunden 
täglich  beschäftigt  werden.  Die  Arbeit  darf  nicht  vor  5 Uhr 
Morgens  beginnen  und  nicht  nach  9 Uhr  Abends  dauern.  Für 
Arbeiterinnen  wird  das  Verbot  der  Nachtarbeit  bis  zum 
21.  Lebensjahre  ausgedehnt.  Minderjährige  dürfen  zum  Warten 
von  Dampfkesseln,  zum  Reinigen  oder  Schmieren  von  im  Gange 
befindlichen  Transmissionen,  zur  Arbeit  unter  der  Erde  m 
Gruben  oder  Steinbrüchen  nicht  verwendet  werden;  männliche 
nicht  unter  15  Jahre  alt,  weibliche  nicht  unter  21  Jahre  alt. 
Arbeiterinnen  dürfen  im  Allgemeinen  erst  vier  Wochen  nach 
ihrer  Entbindung  in  Arbeit  treten.  Minderjährige  sollen  mit 
Arbeitsbüchern  versehen  sein,  in  welche  jeder  Arbeitgeber  die 
erforderlichen  Bescheinigungen  einzutragen  hat.  Die  Kontrolle 
soll  von  Staatsgewerbeinspektoren  ausgeübt  werden.  Zum 
Schluss  werden  noch  besondere  Bestimmungen  für  die  Be- 
schäftigung Minderjähriger  in  Phosphor-Zündholzfabriken  in 
Vorschlag  gebracht. 


Gewerbeinspektion. 


Vermehrung  der  Fabrikinspektoren  im  Königreich 
Sachsen.  Die  schon  seit  einiger  Zeit  vorbereitete  Vermeh- 
rung der  sächsischen  Gewerbe-Inspektions-Bezirke  von  7 
auf  13  gelangt,  wie  eine  Verordnung  des  Ministeriums  des 
Innern  besagt,  am  1.  Juli  d.  J.  zur  Verwirklichung.  Die  bis- 
herigen Aufsichtsbezirke  Dresden,  Chemnitz,  Zwickau, 
Leipzig,  Bautzen,  Meissen  und  Plauen  werden  auch  in  Zu- 
kunft, allerdings  in  wesentlich  geringerer  Ausdehnung  fort- 
bestehen,  während  die  Inspektions-Bezirke  Freiberg,  Anna- 
berg,  Aue,  Wurzen,  Döbeln  und  Zittau  neu  eingerichtet 
werden.  Jedem  Gewerbe-Inspektor  sind  auch  in  Zukunft 
ein  oder  mehrere  Assistenten  zur  Aushilfe  und  Stellver- 
tretung beigegeben. 

Fabrikinspektion  in  den  Reichslanden.  Mit  dem  In- 
krafttreten des  neuen  Arbeiterschutzgesetzes  soll  auch  die 
Fabrikinspektion  in  Eisass  - Lothringen  reorganisirt  oder 
richtiger  erweitert  werden.  Statt  dass  bisher  ein  einziger 
Inspektor  für  die  drei  Bezirke  Ober-  und  Untereisass  und 
Lothringen  angestellt  war,  sind  von  jetzt  ab  drei,  je  einer 
für  jeden  Bezirk,  in  Thätigkeit  getreten;  auch  soll  ihnen  die 
nöthigeZahl  von  Assistenten  beigegeben  werden.  Der  im  Lan- 
desausschuss ausgesprochene  Wunsch,  die  Jahresberichte 
dieser  Inspektoren  möchten  im  Sonderabdruck  ausgegeben 
werden,  dürfte  voraussichtlich  berücksichtigt  werden. 


232 


SOZIALE!  JÜTISCHES  CENTRALBLATT, 


No.  18. 


Arbeiterversicherung. 


Organisation  der  staatlichen  Krankenversicherung  in 
Oesterreich.  Der  Verband  der  niederösterreichischen  Bezirks- 
Krankenkassen  hielt  kürzlich  in  Wien  seine  (3  ) Delegirten-Ver- 
sammlung,  an  welcher  in  Vertretung  von  43  Bezirks-Kranken- 
kassen 57  Delegirte  theilnahmen  Den  Vorsitz  führte  der  Vor- 
stands-Obmann der  zur  Verwaltung  des  Verbandes  gesetzlich 
berufenen  Arbeiter-Unfall  Versicherungsanstalt  für  Niederöster- 
seich,  Direktor  Rudolph  Klang-Egger.  Dem  Rechenschaftsberichte 
der  Verbandsverwaltung  ist  zu  entnehmen,  dass  der  Verband 
seit  I.  Januar  1892  nach  erfolgter  Vereinigung  der  Vorortekassen 
mit  der  Wiener  Bezirks-Krankenkasse  44  Krankenkassen  — 41 
Bezirks-  und  3 Betriebs-Krankenkassen  — ■ umfasst.  Der  Verbands- 
fonds,  dessen  Zweck  statutarisch  in  der  Bedeckung  der  Verbands- 
auslagen und  insbesondere  in  Ertheilung  on  Vor-  und  Zuschüssen 
an  nuthleidende  Verbandsmitglieder  besteht,  hat  sich  im  Laufe 
des  verflossenen  Jahres  von  6 554  fl.  auf  24-387  fl.  erhöht;  die 
Kassen-Reservefonds  betrugen  Ende  1890  bei  einem  Stande  von 
98  605  versicherten  Arbeitern  zusammen  218  276  fl.,  womit  nach 
anderthalbjähriger  Thätigkeit  der  Verbandskassen  schon  ein 
Fünftel  der  statutarischen  Minimalhöhe  des  Reservefonds  erreicht 
erscheint.  Im  Jahre  1890  gaben  28  026  Erkrankungen  mit  458  306 
Krankheitstagen  zu  Unterstützüngen  Anlass;  im  Jahresdurch- 
schnitte waren  von  je  100  Kassenmitgliedern  25  erkrankt.  Mit  j 
Tod  gingen  796  Personen,  d.  i.s/io%  des  durchschnittlichen  Mit- 
o-liederstandes,  ab.  Für  die  Krankheits-  und  Sterbefälle  wurden 
msgesammt  443  573  fl.,  d.  i.  61  % der  Versicherungsbeiträge  als 
gesetzliche  Unterstützungen  verausgabt.  Die  'Verwaltungskosten 
haben  um  8,2%  der  Versicherungsbeiträge,  d.  i.  um  ein  Drittel 
abgenommen  Der  Bericht  wurde  zur  Kenntniss  genommen. 
Die  Beitragsleistung  der  Verbands-Krankenkassen  zu  dem  Ver- 
bandsfonds wurde  pro  1891  wie  für  das  Vorjahr  mit  10%  der 
Reservefonds-Vermehrung  bei  den  einzelnen  Verbands-Kranken- 
kassen festgesetzt.  Aus  Anlass  eines  bezüglichen  Antrages 
wurde  es  in' der  Versammlung  allseitig  als  wünschenswert!!  er- 
kannt, dass  eine  Lostrennung  des  Verbandes  von  der 
Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt  und  dessen  Verwal- 
tung durch  die  Verbands-Krankenkassen  durch  die  Legislative 
festgesetzt  werde,  und  betraute  die  Versammlung  ein  Komitee 
mit  der  Einleitung  der  erforderlichen  Schritte. 


W ohlfahrtseinrichtungen. 


Die  Berliner  Konferenz  der  Centralstelle  für  Wohlfahrts- 
einrichtungen. 

In  der  verflossenen  Woche  tagte  in  Berlin  unter  dem 
Vorsitze  des  Unterstaatssekretärs  Herzog  eine  Konferenz 
zur  Erörterung  des  Nutzens  von  Wohlfahrtseinrichtungen 
für  Arbeiter.  Ihr  Interesse  an  den  Verhandlungen  bezeigten 
durch  ihre  Anwesenheit  hohe  Staatsbeamte,  eine  grosse 
Anzahl  von  Unternehmern,  einige  Geistliche  und  National- 
ökonomen. 

Auf  der  Tagesordnung  der  Konferenz  standen  zwei 
Gegenstände:  1.  die  Verbesserung  der  Wohnungen  und 

2.  &die  zweckmässige  Verwendung  der  Sonntags-  und 
Feierzeit. 

Von  Beschlüssen  wurde  Abstand  genommen,  so  dass 
über  Anträge,  wie  z.  B.  den  Böhmert’s,  einen  „Volksbund 
zur  Förderung  der  Volkswohlfahrt“  zu  gründen,  ohne  Ab- 
stimmung zur  Tagesordnung  übergegangen  wurde  Mit  der 
Konferenz  war  im  Architektenhause  eine  Ausstellung  von 
Wohlfahrtseinrichtungen  verbunden.  Neben  einer  Reihe 
von  Mittheilungen  über  die  Arbeiterwohnungen  einzelner 
Fabriken  und  Werke  wurden  drei  allgemein  gehaltene  Vor- 
träge über  die  Arbeiterwohnungsfrage  gehalten  und  zwar 
vom  Fabriksbesitzer  F.  Kalle  (Wiesbaden)  über  „die  Für- 
sorge der  Arbeitgeber  für  die  Wohnungen  ihrer  Arbeiter“, 
voir’  Dr.  Albrecht  über  die  „Mitwirkung  der  Arbeitnehmer 
bei  der  Lösung  der  Wohnungsfrage“  und  vom  Dozenten 
an  der  technischen  Hochschule  in  Hannover  Nussbaum 
über  „allgemeine  Grundsätze  für  den  Bau  und  die  Errich- 
tung von  Arbeiterwohnungen“. 

Wesentlich  Neues,  was  nicht  schon  aus  der  stark  an- 
geschwollenen Litteratur  über  die  Arbeiterwohnungsfrage 
bekannt  wäre,  brachte  keiner  der  drei  Referenten  vor. 
Im  Allgemeinen  war  der  Standpunkt  der  Redner  der  opti- 
mistische der  Selbsthilfe.  Während,  wenn  auch  nicht  mit 
der  nöthigen  Schärfe,  die  Vortheile  der  Unternehmer  beim 
Baue  der  Arbeiterwohnungen  hervorgehoben  wurden,  unter- 


liess  man,  die  den  Arbeitern  aus  denselben  erwachsenen 
Nachtheile,  wie  grössere  Abhängigkeit  vom  Unternehmer, 
so  bezüglich  der  Kündigung,  der  Bedingungen  des  Arbeits- 
vertrages  und  der  Freizügigkeit  hervorzuheben.  Die  De- 
batten wären  erspriesslicher  geworden,  hätte  man  durch 
Korreferenten  auch  einen  entgegengesetzten  Standpunkt  zu 
Worte  kommen  lassen. 

Ein  Bediirfniss  nach  völliger  Aufhellung  der  Wohnungs- 
zustände durch  eine  Enquete  oder  allgemeine  Statistik,  die 
doch  die  erste  Grundlage  eines  planmässigen  Vorgehens  in 
der  Arbeiterwohnungsfrage  sein  müsste,  zeigte  sich  auf  der 
Konferenz  nicht,  ebensowenig  wurde  die  Nothwendigkeit 
einer  regelmässigen  Wohnungsinspektion  betont  und  auf 
die  Wohnungsverhältnisse  der  ländlichen  Arbeiter  ein- 
gegangen. 

Der  Standpunkt  der  Redner  war  im  Allgemeinen  der, 
dass  die  Arbeiter  bevormundet  werden  müssen  und  dass 
die  Regelung  der  Arbeiterwohnungsfrage  nicht  eine  Auf- 
gabe des  Staates  oder  der  Kommunen,  sondern  lediglich, 
zum  mindesten  vornehmlich  der  Unternehmer  sei,  wobei 
über  'die  Art  der  meist  nicht  freiwilligen  finanziellen 
Leistungen  der  Arbeiter  verschiedene  Vorschläge  gemacht 
wurden. 

Der  Standpunkt  Kalle’s,  des  ersten  Redners,  dessen 
Referat  am  breitesten  angelegt  war,  lässt  sich  folgender- 
massen  kennzeichnen:  Die  bedeutungsvollste  soziale  Auf- 

gabe des  Unternehmers  ist  die  Fürsorge  für  die  Wohnungen 
der  Arbeiter,  weil  durch  sie  die  Gesundung  des  Familien- 
lebens der  Arbeiter  und  damit  die  Zufriedenheit  der  Ar- 
beiter angebahnt  werde.  Die  Fürsorge  für  die  Wohnungen 
seiner  Arbeiter  gereicht  dem  Werkbesitzer,  wenn  auch 
nicht  unmittelbar,  so  doch  beinahe  immer  mittelbar  zu 
grossem  Vortheile.  Kalle  beklagt  es,  dass  die  Arbeiter  zu 
wenig  Sinn  für  gute  Wohnungen  haben  und  dass  sie  nicht 
gewillt  sind,  einer  guten  Wohnung  wegen  sich  irgend 
welche  Beschränkungen  in  ihren  sonstigen  Lebensanlor- 
derungen  aufzuerlegen.  Aus  der  Fürsorge  der  Arbeitgeber 
für  die  Arbeitnehmer,  aus  dem  Rechte  der  Arbeitgeber,  aut ! 
die  Arbeitnehmer  erziehlich  einzuwirken  und  der  damit 
verbundenen  persönlichen  Annäherung  an  Arbeiter  ergebe  1 
sich  die  Möglichkeit,  die  mehr  und  mehr  gewachsene, 
Spannung  zwischen  den  verschiedenen  Ständen  zu  be- 
seitigen und  die  Arbeiterschaft  mit  der  bestehenden  Ord- 
nung der  Dinge  auszusöhnen.  Und  dies  lasse  sich  nament- 
lich auch  auf  dem  Gebiete  des  Arbeiterwohnungswesens, 
erreichen.  Aufgabe  des  Arbeitgebers  sei  es  hier  allgemein, 
dafür  Sorge  zu  tragen,  dass  seine  Leute  zu  Preisen,  die  imi 
richtigen  Verhältniss  zum  Lohn  stehen,  Wohnungen  zu  finden, 
vermögen,  wie  sie  zu  einem  gesunden  glücklichen  Familien- j 
leben  erforderlich  sind.  Die  Frage  ist  nur,  wie  sich  diese* 
Aufgabe  im  Einzelnen  lösen  lässt.  Kalle  zieht  drei  Wege, 
in  Betracht:  I.  der  Arbeitgeber  hat  den  Bau  von  Woh- 

nungen durch  die  Arbeiter  zu  unterstützen;  2.  er  baut 
seinerseits  Arbeiterhäuser;  3.  er  erleichtert  den  etwa  in 
umliegenden  Ortschaften  wohnenden  Arbeitern  die  Bei- 
behaltung ihrer  guten  Wohnungen  durch  billigen  oder 
kostenlosen  Transport  der  Arbeiter  nach  und  von  der 
Werkstätte.  1 

Kalle  erörterte  hierauf  die  einzelnen  Wege,  und  schlug 
am  Schlüsse  seiner  Ausführungen  vor,  durch  ein  Prämien- 
system  die  gute  Instandhaltung  der  Wohnung  und  des 
Mobiliars  zu  erreichen.  • — 

Dr.  Albrecht  besprach  im  Anschlüsse  an  Kalle’s  Referat 
die  Frage  der  Mitwirkung  der  Arbeitnehmer  bei  der  Lösung 
der  Arbeiterwohnungsfrage.  Er  meint,  dass  in  den  Gross- 
städten die  Unternehmer  für  Arbeiterwohnungen  nicht  sorgen 
könnten,  dass  hier  die  Arbeiter  durch  Gründung  von  Woh- 
nungsgenossenschaften die  Lösung  der  Arbeiterwohnungs- 
frage in  die  Hand  zu  nehmen  hätten.  Erfolg  bei  derartigen 
Bestrebungen  versprach  auch  Referent  nur  dann,  wenn  die 
Unternehmer  die  Baugenossenschaften  der  Arbeiter  theilsj 
durch  Rath  theils  durch  Creditgewährimg  unterstützen  wiir- ! 
den.  In  eingehender  W7eise  besprach  der  Referent  die  Bau- 
genossenschaften Englands  (die  bekannten  Building  societies), 
Amerika’s,  Dänemarks  und  die  vereinzelten  deutschen  Be- 
strebungen gleicher  Alt.  Uns  scheint  es,  dass  gerade  die 
seit  einer  Reihe  von  Jahrzehnten  in  England  mit  den  Bau- 
genossenschaften gemachten  Erfahrungen  aufs  klarste  be- 
weisen, dass  auf  diesem  W’ege  niemals  eine  Lösung  der 
Arbeiterwohnungslrage  in  grossem  Stile  herbeigeführt  wer- 
den wird,  wenn  auch  vielleicht  einzelne  Arbeiter  aus  der 
Betheiligung  an  Baugenossenschaften  hie  und  da  Vortheile 
gezogen  haben  können. 


No.  18. 


SOZIALPOT .1  TISCHES  CENTRALBLATT. 


233 


Den  dritten  Vortrag  hielt  Herr  Clr r.  Mussbaum,  Docent 
an  der  Technischen  Hochschule  in  Hannover,  über  allge- 
meine Grundsätze  für  den  Bau  und  die  Einrichtung  von 
Arbeiterwohnungen;  als  solche  hob  er  hervor:  Raum  für 

ein  o-eniigendes  Quantum  Luft,  Trockenheit,  Wärmeregu- 
lirung und  Einrichtungen,  welche  die  Reinlichkeit  der  Woh- 
nungen fördern. 

Lieber  das  geringe  Interesse  der  Unternehmer  an  der 
Errichtung  von  Arbeiterhäusern  wurde  lebhaft  geklagt. 
Einer  der  Redner  bezeichnete  als  Grund  dafür  den  Egois- 
mus der  Unternehmer,  die,  wie  er  meint,  für  Arbeiterwoh- 
nungen  nur  da  etwas  thun,  wo  ihr  Vortheil  es  erheischt, 
siclTaber  um  die  Wohnungsverhältnisse  des  Arbeiters  nicht 
kümmern , wo  jenes  selbstsüchtige  Interesse  nicht  vor- 
handen ist.  In  Arbeiterkreisen  ist  man,  wie  die  „Frankf. 
Ztg.“  treffend  bemerkt,  bekanntlich  vielfach  der  gleichen 
Airsicht  und  hat  daher  für  die  Wohlfahrtsbestrebungen  der 
Unternehmer  auf  diesem  speziellen  Gebiete,  wie  überhaupt 
für  die  Wohlfahrtseinrichtungen  im  Allgemeinen  herzlich 
wenig  Sympathien.  Dass  ein  gewisses  Misstrauen  der  Ar- 
beiter auch  gegenüber  den  staatlichen  Wohlfahrtseinrich- 
tungen nicht  unberechtigt  ist,  dafür  legte  auch  der  Eisen- 
bahndirektor Thiele-Hannover  Zeugniss  ab,  der  in  seinen 
Mittheilungen  über  die  staatliche  Arbeiterkolonie  Leinhausen 
hervorhob,  dass  in  Hinsicht  auf  die  „Erziehung  der  Arbeiter 
zu  patriotischer  Gesinnung  die  günstigsten  Residtate  er- 
zielt“ worden  seien.  Die  weitere  Erklärung  desselben,  dass 
die  „meisten  Arbeiter,  um  den  Wünschen  nach  Verbesse- 
rung ihrer  materiellen  Lage  Ausdruck  zu  geben,  im  Sinne 
der  Sozialdemokratie  wählen“,  lässt  einen  Einblick  in  die 
Art  und  den  Werth  dieser  „Erziehung  zu  patriotischer  Ge- 
sinnung“ thun.  So  lange  die  „Wohlfahrtseinrichtungen“ 
mit  solchen  Nebenabsichten  verquickt  werden,  kann  man 
allerdings  nicht  erwarten,  dass  die  Arbeiter  dieselben  mit 
freundlichen  Augen  ansehen  sollen. 

Ueber  die  „zweckmässige  Verwendung  der 
Sonntags-  und  Feierzeit“  referirte  Prof.  V.  Böhmert. 
Von  grossem  Interesse  war  seine  Schilderung  der  Schick- 
sale, welche  der  von  ihm  verfasste  und  von  der  Centralstelle 
für  Wohlfahrtseinrichtungen  versandte  Fragebogen  bei  vielen 
Fabrikanten  hatte.  Der  Fragebogen  wünschte  Aufklärung 
darüber,  in  welcher  Weise  und  in  welchem  Maasse  die 
Fabrikanten  für  die  Erholung  ihrer  Arbeiter  Sorge  tragen. 
Herr  Prof.  Böhmert  bemerkte,  dass  ihm  die  Aufwerfung 
dieser  Frage  verschiedene  Grobheiten  eingetragen  habe,  ein 
Beweis,  dass  noch  viele  Fabrikanten  ihre  wirthschaftliche 
Aufgabe  ihren  Arbeitern  gegenüber  nicht  begreifen.  So 
sind  ihm  aus  Fabrikantenkreisen  anonyme  Postkarten  zuge- 
gangen, in  welchen  er  in  höhnischer  Weise  befragt  wird, 
ob  er  die  Badereisen  der  Arbeiter  aus  seiner  Tasche  be- 
zahlen wolle  und  wie  oft  denn  der  Fabrikant  nach  seiner 
(des  Referenten)  Ansicht  verpflichtet  sei,  seine  Equipage 
den  Arbeitern  zur  Verfügung  zu  stellen.  Diese  Grobheiten 
können  ihn  indessen  in  seiner  Ueberzeugung,  dass  es  Pflicht 
der  Fabrikanten  bezw.  Arbeitgeber  sei,  nach  Möglichkeit 
das  Wohl  ihrer  Arbeiter  zu  fördern,  nicht  irre  machen.  Die 
sozialdemokratische  Bewegung  unsere  Tage  drohe  ja  das 
gute  Einvernehmen  zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer 
zu  stören;  gleichwohl  dürfen  sich  die  Arbeitgeber  dadurch 
nicht  abhalten  lassen,  für  das  Wohl  ihrer  Arbeiter  einzu- 
treten. jeder  Unternehmer  sollte,  unbekümmert  um  Dank 
oder  Undank,  nicht  nur  das  materielle,  sondern  auch  das 
! geistige  und  sittliche  Wohl,  sowie  eine  edle  Geselligkeit  und 
gesunde  Lebensfreude  unter  seinen  Arbeitern  zu  fördern 
suchen.  Böhmert  will  nicht  Vermehrung,  sondern  Verede- 
lung der  Lmterhaltungen  anstreben.  Die  Arbeiter  wünschen 
in  erster  Linie  nicht  Unterhaltung,  sondern  Unterhalt.  Die 
Gewährung  ausreichenden  Lohnes  gelte  ihnen  als  die  nö- 
thigste  und  wirksamste  Gegenleistung  des  Arbeitgebers  für 
die  von  ihnen  gethane  Arbeit.  Es  seien  daher  alle  Ver- 
kürzungen des  Lohnes  zu  Gunsten  von  Wohlfahrtseinrich- 
tungen oder  Erholungen  der  Arbeiter  zu  vermeiden.  Bei 
den  Erholungen  der  Arbeiter  sei  jeder  Zwang  zu  vermeiden 
und  darauf  Bedacht  zu  nehmen,  dass  die  Arbeiter  durch 
eigene  Vertreter  für  ihre  Vergnügungen  sorgen.  Der  Lürter- 
nehmer  solle  an  den  Erholungen  seiner  Arbeiter  nicht  nur 
mit  Gaben,  sondern  mit  seiner  Person,  aber  nicht  als  Herr, 
sondern  als  Genosse  theilnehmen.  Bei  Fabrikfesten  seien 
Veranlassungen  vorzuziehen,  welche  die  Arbeiter  unmittelbar 
j berühren,  wie  Dienstjubiläen  von  Arbeitern.  Das  politische 
und  kirchliche  Parteiwesen  sollte  bei  den  Erstlingen  mög- 


lichst bei  Seite  gelassen  und  nur  die  Förderung  der  rein 
menschlichen  Beziehungen  und  eines  heiteren  Verkehrs  im 
Auge  behalten  werden.  Böhmert  befürwortete  schliesslich 
eine  Resolution,  welche  sich  für  die  Bildung  eines  Volks- 
bundes behufs  Schaffung  besserer  Arbeiterwohnungen  und 
edler  Arbeitervergnügungen  ausspricht. 

Als  nächster  Redner  sprach  Abg.  Kaplan  Hitze  (M.- 
Gladbach)  über  die  materielle  und  sittliche  Hebung,  Festigung 
und  Veredlung  des  Familienlebens.  Als  speziellere  Mittel, 
die  häusliche  Erholung  undUnterhaltung  zu  pflegen, empfiehlt 
der  Referent:  I.  die  Pflege  der  häuslichen  Lektüre  durch 

Anlegung  kleiner  Familienbibliotheken  und  gute  öffentliche 
Bibliotheken,  durch  Vereine,  Fabriken  u.  s.  w.,  Pflege  des 
Gesanges  und  der  Musik,  2.  Pflege  der  Handarbeit,  3.  Pflege 
der  Bienen-  und  Obstbaumzucht  und  der  Zimmerpflanzen, 

4.  Erholung  durch  Spaziergänge  in  Wald  und  Flur  zur 
Entwickelung  des  Sinnes  für  die  Natur-  und  ihre  Schönheit, 

5.  Jugend-  und  Familienspiele. 

Hiernach  berichtete  Abg.  von  Schenckendorff  über  die 
Ausbreitung  und  Nützlichkeit  der  Jugend-  und  Volksspiele. 
Dem  Referenten  erscheint  es  erforderlich: 

„1.  Dass  jeder  einzelne  Arbeitgeber  sich  strenge  der 
Pflicht  und  der  Verantwortung  bewusst  werde,  die  er  zugleich 
für  die  Erziehung  der  ihm  anvertrauten  Jugend  hat;  2.  dass 
Staat  und  Gemeinde  und  Gesellschaft  in  wesentlich  erwei- 
tertem Umfange  als  seither  dem  Bildungsbedürfnisse  der 
jugendlichen  Arbeiter  durch  Errichtung  von  Fortbildungs-, 
Fach-  und  Haushalts-  wie  Handfertigkeitsschulen  Rechnung 
tragen;  3.  dass  allerorts,  in  den  Städten  wie  auf  dem  Lande, 
gemeinnützige  Vereine  die  Aufgabe  übernehmen,  diesem 
jugendlichen  Kreise  durch  Pflege  der  Volksspiele,  durch 
turnerische  Uebungen  sowie  durch  belehrende  und  anre- 
gende Vorträge  an  den  Sonntag-Nachmittagen  und  Aben- 
den Gelegenheit  zu  guter  Unterhaltung  zu  geben,  um  diese 
Kreise  von  frühzeitigen  und  verderblichen  Genüssen  abzu- 
lenken und  volkserziehlich  auf  sie  einzuwirken;  4.  dass  die 
Centralstelle  für  Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen  a)  den- 
jenigen Stellen,  welche  diese  Bestrebungen  aufnehmen 
wollen,  berathend  zur  Seite  steht  und  b)  jährlich  eine  Sta- 
tistik aufnimmt  Tmd  veröffentlicht,  welche  die  Fortschritte 
und  den  Stand  dieser  Bestrebungen  darlegt.“  Von  den 
übrigen  Rednern  wollen  wir  nur  noch  Oberpfarrer  Schmitz- 
Crefeld  hervorheben.  Derselbe  verweist  auf  seine  Erfah- 
rungen in  den  katholischen  Arbeitervereinen.  Die  Arbeiter 
seien  sehr  auf  ihre  Selbstständigkeit  bedacht,  wolle  man 
dieselben  für  sich  gewinnen,  so  dürfe  man  durchaus  ihre 
Selbstständigkeit  nicht  antasten.  Es  sei  also  zweckmässig 
und  praktisch,  die  Arbeiter  sich  durch  sich  selbst  leiten  zu 
lassen.  Man  bilde  Fachvereine  unter  Leitung  der  Arbeiter 
und  schaffe  einen  auf  christlicher  Grundlage  ruhenden 
Stamm  als  Arbeiter  gegen  die  Einflüsse  der  Sozialdemo- 
kratie, welche  sich  in  jeden  Arbeiterverein  einschleichen. 
Auf  diese  Weise  könne  man  Erfolge  erreichen;  im  Westen 
seien  auf  diese  Weise  gegen  400  katholische  Arbeiterver- 
eine entstanden. 

Kenner  der  deutschen  Arbeiterbevölkerung  werden  an 
praktische  Folgen  der  Konferenz  für  Wohlfahrtseinrichtungen 
kaum  glauben  können  Die  Arbeiter  sehen  in  den  Wohlfahrts- 
bestrebungen keine  zum  Nutzen  der  Arbeiter  freiwillig  über- 
nommene Lasten  der  Unternehmer,  sondern  Mittel  um  sie  zu 
Gunsten  desUnternehmerthums  in  wirthschaftliche,  politische 
und  geistige  Abhängigkeit  zu  bringen.  Die  deutschen  Arbeiter 
sind  dem  Systeme  der  Bevormundung  entwachsen,  sie  fühlen 
sich  als  Klasse  und  deshalb  wird  man  ihnen  nur  als  Klasse 
nicht  aber  nach  Fabrikpersonalen  gesondert  nützen  können. 
Nur  unter  freier  Mitbethätigung  und  Selbstverwaltung  der  Ar- 
beiter werden  Wohlfahrtseinrichtungen  für  die  Arbeiter  von 
Nutzen  sein.  Verfolgt  man  aber  mit  ihnen  Nebenzwecke, 
wie  Entziehung  der  Freizügigkeit,  über  die  Arbeitszeit  hin- 
ausgehende  Beeinflussung  und  politische  Bekehrungsver- 
suche, so  werden  die  Wohlfahrtseinrichtungen  nicht  nur 
den  sozialen  Frieden  nicht  anbahnen,  sondern  steigende 
Verbitterung  und  Misstrauen  erzeugen.  Dies  wurde  auf  der 
Wohlfahrtskonferenz  zwar  nicht  vollständig  übersehen,  aber 
nicht  genug  entschieden  betont  und  die  warnenden  Bemer- 
kungen gingen  verloren  unter  den  optimistischen  Hoffnungen 
der  Freunde  des  Patronagesystems. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


234 


ANZEIGEN. 


No.  18. 


Verlag  der  Manz’schen  k.  und  k.  Hof- Verlags-  und  Universitäts-Buchhandlung  in  Wien.  }{J|J|  JWtU'itS " ElijitltlU|TC 


Das 

ÖSTERREICHISCHE  STAATSRECHT 

(Verfassungs-  und  Yerwaltungsrecht). 

Ein  Lehr-  und  Handbuch 

von 

Dr.  Ludwig  Gumplowicz, 

Professor  in  ( iraz. 

41  Bogen.  8U.  Preis  broschirt  10  Mark. 


Der  Mangel  einer  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes  hat  sich  in  den 
letzten  fahren  insbesondere  in  Folge  einschneidender  Umgestaltungen  und  Neubildungen  auf  dem 
Gebiete  des  österreichischen  Verwaltungsrechtes  nicht  nur  in  Kreisen  der  Studiienden,  sondern 
auch  aller  derjenigen,  die  am  öffentlichen  Leben  theilnehmen,  fühlbar  gemacht.  Es  sei  nur 
darauf  hingewiesen,  dass  seit  den  jüngsten  Neuregelungen  des  Militärrechtes,  des  Gewerberechtes, 
des  Arbeiterschutzrechtes  noch  keine  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes,  welche 
dieselben  berücksichtigen  würde,  erschienen  ist  und  dürfte  daher  obiges  Werk  den  interessirenden 
Kreisen  gewiss  willkommen  sein. 

sgerlag  0011  lemtlfavd  Bimum  in  Berlin  SW.,  Häitdelmftr.  121. 

Der  2lrbciterfi*eunb. 

J b i f f rfj  r i f f für  U i e H r b t i t b r f v a g b. 

©rgem 

des 

(Lmtrai-Bmins  für  bas  Wo\)i  brr  arbritrnbrn  klaffen. 

fterauägegeben 

001t 

ProfßpB  Dr.  Bi  kt  üb  in  Bresben 

in  SSerhtttbung  mit 

JBeüfeJloe  Dr.  Bubulf  timt  (lintcitf  in  Berlin, 

als  SSorfiöettbem  beS  GientralöereinS. 

XXX.  3aI)f(lail9-  4 dpefte. 

Blnmncntentspveis  fäfrrlidj  10  Biavk. 


int 

bcutfdjen  prcdj9ler-©cn»cvbc. 

©ne  ßuiammeiiftelliing  ftntiftifdjer  ©rbebungen 
aus  83  Stabten  Seiitfdjianbs,  über  bie  Sötjite, 
Slrbeitäjeit,  Stlter,  ffrauft)eit,  2lrbeitslofigfeit 
ber  Arbeiter,  ob  biefelbeu  ©olbat  toaren,  tote 
bie  Slrbeitöröume,  SBerfjeuge  befdjaffeit,  tuelriie 
SBrandjen  oertveteh  fittb  ufro. 

i^reiS  50  pro  ©j’einplar. 

SSerlag  oou  21).  Setpart  ,,$ad)jt0  f 2red)eiev" 
£>amburg--$t.  Cüeorg,  Stn  ber  Stoppel  79. 


frei  Xatiti 

pJort)enfü)rift  m ioröming  filier  fiieDltdjrn 

Supalrrtiu’m. 

.Organ  des  ©eulfdjrn  Bundes  für  Boden- 
beft^refonn. 

©rfdjeint  jeden  2Jlontag. 

21  b o n it  e m e n t 3 b e b i n g u u g e n : 


23ei  allen  Sßoftanftalten  (2fr.  2272 

der  SßofLeitungslifte')  ....  2)tf.  0,80 
23ei  Streiter  itreugbaubfenbung: 

in  $eutfd)lanb  nnb  Oefterreid) . „ 1,20 

im  äBeltpoftoerein „ 1,50. 

3n  23erlin  bei  freier  gufettbung  . . „ 1,— 


Bie  CE-xpcbition 

K.  üvebö,  li>taUfrijiTtlu'VÜi\  55. 

#-< 

J.03nffrntag,  aSerlagsbiu^Ijanblung  in  Serliit.- 

©nttrnfag’fdie  Bannnlmtg 
B e n t f d|  e v Hridjs  griene. 

Soeben  er  jd;  teil : 

Br.  20.  i 

froiiftnbtrii(I)trimgüfltfc$ 

ootu  15.  Sunt  1883, 

in  der Safimtg  der  91  o t>  e 1 1 e bom  10. 2lprtl  1892. 

£ejt=2lnlgabe  mit  Stumerfuiigen  mtb  ©adjregifter 

UOll 

<£.  Hott  Bhu'dtke, 

{tarier I.  Gel).  £5 b c v = t)i c u t e v u 1 1 u c. v a 1 1) , uortrag.  Statt;  im  Steidje* 
amt  boä  Sintern. 

'Hievte  garjlid;  untgcavheitetc  'lliiftagc. 
Safdjenformat  cartonnirt. 


©in  Pevbrcitetee,  bittiged  uub 

Umkl'amcö  3ufevtum*5-  Dvtian  == 

„ ßtt  fiflitiuuerkcK, 

tuet!  et  al§ 

Citfrtii  i>es  CE e it t r a l = u s? f d) it f i c 6 ber  üereiitigteit  ^mutm^^erbiütbe 

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Verantwortlich  für  den  Anzejgentheil : U.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  ili  Beiliü. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  9.  Mai  1892. 


Nummer  19. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

.alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostamter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 


Zur  Steuerreform  in  Preussen. 
Von  Prof.  Dr.  Eugen  v.  Phi- 
lippovich. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik : 

Der  Fall  Dankwardt  und  die 
preussische  Agrarpolitik.  Von 
Prof.  Dr.  C.  J.  Fuchs. 

Die  Errichtung  von  Rentengütern 
in  Ost-,  Westpreussen  und 
Posen. 

Zur  Frage  des  Wasserrechts. 

Der  berliner  Centralverein  für 
Arbeitsnachweis. 

Arbeitsnachweis  in  Freiburg  in 
Baden. 

Vergebung  von  Staatsarbeiten  in 
der  Schweiz. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Die  Maifeier. 


Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Der  Stickereiverband  der  Ost- 
schweiz und  des  Vorarlbergs. 

Kongress  der  französischen  Eisen- 
bahnarbeiter. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Ausführung  der  neuen  Gewerbe- 
ordnung für  das  Deutsche  Reich. 

Enquete  Uber  die  Sonntagsruhe  im 
Deutschen  Reich. 

Zweite  Berathung  der  Berggesetz- 
novelle im  preussischen  Abgeord- 
netenhause. 

Der  Maximalarbeitstag  für  Berg- 
arbeiter in  der  Berggesetzkom- 
mission des  preussischen  Ab- 
geordnetenhauses. 

Missbrauch  mit  Strafgeldern  im 
preussischen  Bergbau. 

Zechenverbände  und  Berggesetz- 
novelle in  Preussen. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zur  Steuerreform  in  Preussen. 


Unter  den  Steuerplänen  des  preussischenFinanzministers, 
welche  durch  den  Reichsanzeiger  der  öffentlichen  Be- 
sprechung unterbreitet  worden  sind,  ist  der  sozialpolitisch 
bedeutungsvollste  jedenfalls  der,  neben  der  Einkommen- 
steuer eine  Ergänzungssteuer  des  fundirten  Vermögens  ein- 
zuführen und  zwar  unter  Aufhebung  der  bestehenden 
Grund-  Gebäude-  und  Gewerbesteuer,  sowie  (eventuell)  der 
Bergwerkssteuer.  Das  grosse  Gewicht,  das  gerade  diesem 
Plane  zugeschrieben  wird,  ist  noch  besonders  daran  zu 
erkennen,  dass  im  Reichsanzeiger  eine  derartige  ergänzende 
Besteuerung  des  fundirten  Vermögens  geradezu  als  das 
letzte  Ziel  der  staatlichen  Steuerreform  bezeichnet  wurde. 
Die  bisherigen  staatlichen  Realsteuern,  bezw.  ihre  Objekte 
würden  dann  die  Grundlage  der  Kommunalbesteuerung 
bilden  und  es  wäre  damit  eine  klare  Scheidung  zwischen 
der  staatlichen  und  der  Gemeindebesteuerung  vorgenommen. 
Ueber  die  Art  und  Form  dieser  Vermögenssteuer  spricht 
sich  der  Reichsanzeiger  nicht  aus,  er  bezeichnet  sie  nur  als 
eine  Ergänzungssteuer,  „welche  Werthobjekte  nach  Abzug 


der  Schulden  mit  einer  im  Verhältniss  zum  ermittelten 
Werthe  nur  sehr  geringen  Quote  direkt  trifft.“  Es  wäre 
daher  an  eine  allgemeine  Vermögenssteuer  zu  denken,  die 
nicht  nach  den  Kategorien  des  Vermögens  scheidet,  sondern 
die  im  Besitze  des  einzelnen  Steuersubjekts  zusammen- 
treffenden, z.  B.  aus  Haus  und  Hot,  Grund  und  Boden, 
Werthpapieren,  und  Gebrauchsgegenständen  bestehenden 
Werthe  als  eine  Einheit  behandelt  und  belastet. 

Gegen  die  Durchführung  einer  solchen  Vermögens- 
steuer scheinen  mir  schwere  Bedenken  vorzuliegen.  Nicht 
als  ob  ich  in  das  Horn  derer  stossen  wollte,  die  sie  für  un- 
gerecht halten  oder  über  allzu  grosse  Belastung  der  Be- 
sitzenden klagen.  Ich  Hielte  es  im  Gegentheil  für  Preussens 
unwürdig,  wenn  es  in  dem  gegenwärtigen  halben  Zustande 
seiner  Steuerreform  stehen  bliebe.  Aber  die  hier  geplante 
Einheitlichkeit  der  Vermögenssteuer  wird  berechtigte 
Interessen  verletzen  und  auf  praktische  Schwierigkeiten 
stossen,  so  dass  sie  im  Interesse  einer  wirklich  erfolgreichen 
Vermögensbesteuerung  eine  andere  als  die  im  Reichsan- 
zeiger angedeutete  Form  wird  annehmen  müssen.  Der 
Reichsanzeiger  beruft  sich  merkwürdiger  Weise  auf  Amerika 
zum  Beweise,  dass  eine  solche  Vermögenssteuer  mit  sehr 
gutem  Erfolge  eingerichtet  werden  könne.  Gerade  die 
jüngsten  Schriften  über  amerikanische  Steuern  sprechen 
sich  aber  gegen  sie  aus.  „Eine  reine  Vermögenssteuer, 
welche  die  gleichmässige  Besteuerung  alles  Vermögens  be- 
zweckt, ist  unter  den  jetzigen  Verhältnissen  in  New- York 
undurchführbar,“  sagt  ein  Schriftsteller1)  „sie  (die  Ver- 
mögenssteuer) ist  die  Ursache  so  schreiender  Ungerechtig- 
keiten, dass  ihre  Abschaffung  der  Kriegsruf  jedes  Staats- 
mannes und  Reformers  werden  muss,2)“  schreibt  ein 
anderer.  Die  Einwendungen,  welche  in  Amerika  gegen  die 
allgemeine  Vermögenssteuer  erhoben  wurden,  liegen  theils 
auf  theoretischem  theils  auf  praktischem  Gebiet.  In  ersterer 
Hinsicht  wird  hervorgehoben,  dass  das  Vermögen  nicht 
mehr  ein  Kriterium  der  wirthschaftlichen  Leistungsfähigkeit 
des  Steuerzahlers  sei.  Nicht  der  Besitz,  sondern  der  Ertrag 
bezw.  das  Einkommen,  das  er  aus  dem  Besitze  durch  seine 
wirthschaftliche  Geschicklichkeit  zu  erzielen  vermag,  sei 
der  Massstab  der  Steuerfähigkeit.  Zudem  schaffe  der  moderne 
Verkehr  mit  seinen  verwickelten  Kreditverhältnissen  gerade 
bei  den  wirtschaftlich  leistungsfähigsten  Klassen  so  schwie- 
rige und  in  jeden  Augenblick  sich  verschiebende  Schuld- 
verhältnisse, dass  die  Konstruirung  eines  reinen,  für  die 


b folin  Christ.  Schwab,  Die  Entwicklung  der  Ver- 
mögenssteuer im  Staate  New-York,  Jena,  1890,  S.  40. 

2)  Edw.  R.  A.  Seligman,  The  General  Property  Tax  im 
Political  Science  Quarterly.  Vol.  V,  No.  1,  S.  62. 


236 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  19. 


Steuerleistung  massgebenden  Vermögens  theils  unmöglich, 
theils,  weil  nur  auf  die  Lage  eines  bestimmten  Zeitpunktes 
aufgebaut,  ungerecht  werden  müsse.  In  praktischer  Be- 
ziehung aber  sei  gegen  die  Thatsache  nicht  aufzukommen, 
dass  der  grösste  Theil  des  beweglichen  \ ermögens  sich 
dieser  Besteuerung  entziehen  könne.  In  New-York  soll  nach 
der  Schätzung  einer  Sachverständigen-Kommission  höchstens 
der  fünfte  Theil  des  beweglichen  Vermögens  versteuert  wer- 
den. Der  Staat  erreiche  daher  seinen  Zweck  nicht  und 
„setzt  eine  Prämie  auf  die  Unehrlichkeit,  verdirbt  das  öffent- 
liche Gewissen,  und  führt  dazu,  dass  die  Täuschung  System 
und  die  Hinterziehung  Wissenschaft  wird.“ 

Dem  praktischen  Theil  dieser  Einwendung  wird,  da 
er  sich  auf  Erfahrungen  gründet,  Bedeutung  nicht  abzu- 
sprechen sein.  Die  theoretischen  Argumente  sind  in  dieser 
Allgemeinheit  nicht  beweisend,  weil  es  sich  nicht  darum 
handelt,  ob  das  Vermögen  der  Ausdruck  der  wirtschaft- 
lichen Leistungsfähigkeit  ist,  sondern  ob  es  eines  der 
Momente  ist,  welche  die  Steuerkraft  bestimmen.  Darüber 
aber  kann  ein  Zweifel  nicht  bestehen.  Das  Vermögen 
stellt  eine  vom  Besitzenden  unabhängige  Steuerkratt  dar, 
weil  es  durch  Verpachtung,  Vermietung,  Darlehensge- 
währung, Verkauf  u.  s.  w.  ohne  Arbeit  des  Besitzers  Ein- 
kommen geben  kann,  weil  es  das  Leben  des  Besitzers 
überdauert,  weil  es  ihm  die  Kapitalbildung  erspart  bezw . 
erleichtert,  weil  es  ihm  wirtschaftliche  Macht  und  die 
Möglichkeit  der  selbständigen  Unternehmung  gewährt.  Die 
wirtschaftliche  Bedeutung  des  Vermögens  erschöpft  sich 
nicht  in  dem  Einkommen,  das  mit  seiner  Hilfe  gewonnen 
wird,  denn  es  überdauert  dieses  Einkommen,  ohne  sich  da- 
bei, wie  die  Arbeitskraft,  zu  verbrauchen  und  allmählich  zu 
Grunde  zu  gehen.  Der  Einwand  eines  mangelhaften  Aus- 
druckes der  wirtschaftlichen  Leistungsfähigkeit  ist  daher 
nicht  stichhaltig.  Es  handelt  sich  aber  für  die  Besteuerung 
nicht  darum,  überhaupt  einen  Ausdruck  wirtschaftlicher 
Leistungsfähigkeit  zu  finden , sondern  einen  solchen,  der 
messbar  ist  und  für  jeden  Steuerpflichtigen  nach  gleichem 
Masse  gemessen  wird.  Ist  dies  bei  der  allgemeinen  \ er- 
mögenssteuer  der  Fall?  Man  wird  zugeben  können,  dass 
die  hervorgehobene  selbständige  wirtschaftliche  Bedeutung 
des  Vermögens  annähernd  ihr  richtiges  Mass  in  seinem 
Geldwerte  findet,  da  dieser  für  alle  wirtschaftlichen 
Transaktionen  mit  dem  Vermögen  entscheidend  wird  und 
sich  ändert  mit  dem  Sinken  oder  Steigen  der  wirtschaft- 
lichen Bedeutung  des  zu  schätzenden  Gutes.  Aber  der 
Geldwerth  drückt  jeweils  nur  die  im  Augenblick  der 
Schätzung  gegebene  wirtschaftliche  Kraft  des  Vermögens 
aus  und  seine  Höhe  wird  schwanken,  je  nach  den  be- 
sonderen Umständen  und  Beziehungen  unter  welchen  das 
Vermögen  der  Schätzung  unterworfen  wird.  Durch  wen 
und  wie  soll  daher  bei  der  allgemeinen  Vermögenssteuer 
die  Werthgrösse  der  Vermögen  festgestellt  werden?  In 
Basel,  wo  die  allgemeine  Vermögenssteuer  seit  dem  Jahre 
1866  besteht,  hatte  man  bis  zum  Jahre  1887  Einschätzungen 
in  bestimmte  Vermögensklassen  durch  die  Steuerbehörde. 
Diese  konnte  bei  ihren  Schätzungen  keine  anderen  Anhalts- 
punkte benutzen,  als  die  Selbsttaxationen  bei  der  Ein- 
kommensteuer und  in  Folge  dessen  „war  eine  genaue  Fest- 
stellung ausgeschlossen.“1)  Von  vier  zu  vier  jahren  wurden 
Neueinschätzungen  vorgenommen.  „Allein  offenbar  war  es 
doch  eine  schier  verzweifelte  Aufgabe,  von  vier  zu  vier 
jahren  auch  den  Veränderungen  nachzugehen,  welche  im 
Vermögen  der  Pflichtigen  eingetreten  sein  konnten.  Bei 
der  Möglichkeit,  den  Vermögenszuwachs  einer  leicht  ver- 
bergbaren Anlageform  zuzuführen  und  ihn  so  der  steuer- 

i) Bücher,  Basels  Staatseinnahmen  und  Steuervertheilung, 
1878—1887.  Basel,  1888,  S.  38. 


liehen  Würdigung  zu  entziehen,  blieb  die  Zuweisung  eines 
Steuerpflichtigen  zu  einer  höheren  Klasse  immer  ein  Tast- 
versuch und  konnte  deshalb  nur  auf  einigermassen  sichere 
Indizien  hin  unternommen  werden.“1)  Im  Jahre  1887  wurde 
dann  auch  für  die  Vermögenssteuer  die  Selbsteinschätzung 
eingeführt,  und  in  der  That  schnellte  mit  einem  Schlage 
das  steuerbare  Vermögen  um  106  Millionen  Franken  (22,6  °/0 
der  bisherigen  Grösse)  in  die  Höhe.  Die  behördliche  Ein- 
schätzung ist  demnach  offenbar  unzureichend.  Wird  aber 
die  Selbsteinschätzung  auf  diesem  Gebiete  auch  in  einem 
grossen  Staate,  wo  die  nachbarliche  Kontrole  aller  Angaben 
nicht  in  dem  Masse  möglich  ist,  wie  in  einer  kleinen  Stadt, 
zu  einem  gleichen  Ergebniss  führen?  Und  wird  die  Er- 
ziehung des  Steuergewissens  in  Preussen  weit  genug  vor- 
geschritten sein,  um  das  Publikum  ruhig  der  Versuchung 
aussetzen  zu  können? 

Ich  wage  es  nicht,  diese  Frage  zu  bejahen.  Dazu 
kommt  aber  noch  Eines.  Die  einheitliche  Vermögenssteuer 
muss  einen  einheitlichen  Steuersatz  haben.  Sie  muss  daher  j 
den  im  Augenblicke  gleichen  Werth  von  landwirtschaft- 
lichen Gütern,  von  Häusern,  von  gewerblichen  Betriebs- 
kapitalien, von  Gebrauchsvermögen  auch  in  gleichem  Masse 
belasten.  Die  tatsächliche  wirthschaftliche  Bedeutung  des  | 
Vermögens  in  den  oben  gekennzeichneten  Richtungen  ist  J 
aber  trotz  des  in  einem  gegebenen  Zeitpunkte  gleichen  j 
Geldwertes  der  Vermögen  eine  verschiedene.  Ein  Posten 
argentinischer  Schuldverschreibungen,  ein  Lager  von  Mode- 
waaren,  ein  solches  von  einen  Stapelartikel,  etwa  von  Ge-  j 
treide  und  ein  Haus  sind  sehr  verschieden  zu  beurteilende  j 
Vermögen  von  weit  auseinandergehender  wirthschaftlicher 
Bedeutung,  wenn  auch  jedes  der  Objekte  im  Augenblick 
1 Million  Mark  wert  sein  d.  h.  unter  bestimmten  Bedingungen 
zu  diesem  Preise  verkäuflich  sein  mag.  Jede  Bank  weiss, 
das  und  setzt  daher  die  Belehnungsbedingungen  für  die  j 
einzelnen  Waaren  verschieden  an.  Und  solche  grundlegende 
Unterschiede,  die  den  wirtschaftlichen  Verkehr  beherrschen, 
sollte  die  Steuer  ignoriren?  Möglich  ist  es  ja  und  man 
wird  sich  damit  darüber  hinwegsetzen,  dass  man  den, 
Steuerfuss  der  Vermögenssteuer  recht  niedrig  ansetzt  und 
belässt,  damit  auch  das  unsicherste,  dem  grössten  Risiko! 
ausgesetzte  Vermögen  nicht  zu  schwer  belastet  ist.  Dann 
schafft  man  aber  nur  eine  Gelegenheitssteuer,  die  finanz-  i 
politisch  vielleicht  wichtig,  sozialpolitisch  aber  gleichgültig 
ist.  Soll  die  Vermögenssteuer  in  der  That  der  Schlussstein 
der  preussischen  Steuerreform  im  Sinne  der  gerechten 
Steuervertheilung  sein,  dann  wird  man  sie  nicht  von  vorn- 
herein zur  Entwicklungslosigkeit  verurtheilen  und  nicht  so 
organisiren  dürfen,  dass  die  Vermögensbesitzer  Grund 
haben  über  ungleichmässige  Belastung  zu  klagen,  weil  man 
Verschiedenes  mit  gleichem  Drucke  trifft.  Dass  dies  dann 
zu  einem  billigen  Vorwände  gegen  die  Einführung  einer 
Vermögenssteuer  überhaupt  genommen  werden  dürfte, 
ist  klar. 

Es  ist  aber  nicht  nothwendig,  die  Vermögenssteuer 
diesem  Angriff  und  diesem  Nachtheil  auszusetzen,  wenn 
man  nur  darauf  verzichtet,  eine  allgemeine  Vermögens- 
steuer als  einheitliche  Steuer  einzuführen.  Der  ange- 
strebte Zweck  einer  stärkeren  Belastung  des  fundirten  Ein- 
kommens kann  in  besserer  Weise  durch  Einrichtung  einer! 
Reihe  individualisirender  Vermögenssteuern  erreicht  werden. 
Es  handelt  sich  darum,  den  bestehenden  Realsteuern,  die  ja 
die  gegebene  Grundlage  dafür  bilden,  den  Charakter  reiner 
Vermögenssteuern  zu  geben  und  eine  Form  der  Besteue- 
rung des  Rentenkapitales  und  des  Gebrauchvermögens  — j 
soweit  letzteres  der  Vermögenssteuer  unterworfen  werden 
soll  — Zu  finden.  Dass  dies  durchführbar  ist,  beweist  die 

>)  Bücher  a.  a.  O. 


No.  19. 


sozialpolitisches  centralblatt. 


237 


Organisation  der  direkten  Stenern  in  Baden,  welche  neben 
einer  allgemeinen  Einkommensteuer  Grund-,  Gebäude-  und 
Gewerbesteuern  und  eine  Kapitalrentensteuer  aufweist,  die 
nichts  anderes  als  die  ergänzende  Belastung  des  fundirten 


' 


1 

; 


Vermögens  bezwecken.  Eine  Gebrauchsvermögenssteuer 
fehlt  allerdings.  Eine  erhebliche  Bedeutung  vermag  ich 
ihr  auch  nicht  zuzuerkennen.  Für  die  Belastung  des  immo- 
bilen Luxusbesitzes:  Villen,  Parks  u.  s.  w.  ist  durch  die 

Grund-  bezw.  Gebäudesteuer  gesorgt.  Will  man  auch  das 
bewegliche  Gebrauchsvermögen  treffen  und  nicht  etwa  be- 
sondere Luxussteuern,  wie  in  England  einführen,  so  mag 
immerhin  dafür  eine  eigene  Besitzsteuer  gerechtfertigt  sein. 
Das  Wesentliche  ist,  dass  die  wirklich  leistungsfähigen  Ver- 
mögen in  Baden  in  ihrer  besonderen  Form  erfasst  und  be- 
steuert  werden.  Das  Steuerkapital  ist  hier  für  den  Grund- 
und  Gebäudebesitz  nicht  der  Ertrag,  sondern  der  Werth 
des  Ackers,  des  Waldes,  des  Gebäudes  selbst.  Desgleichen 
wird  die  Gebäudesteuer  nicht  nach  einem  künstlich  be- 
rechneten Ertrag  des  Betriebes,  sondern  nach  dem  mittleren 
Jahreswerthe  des  Betriebskapitales,  also  des  im  Erwerbe 
angelegten  Vermögens  eingehoben.  Die  Steuer  beträgt 
z.  B.  für  Waldbesitz  10  Pf.  für  100  M.  Steuerkapital,  d.  h. 
ermittelten  Vermögenswerth  des  Waldes,  für  die  übrigen 
liegenden  Vermögensobjekte  bezw.  für  gewerbliches  Be- 
triebskapital 18,5  Pf.  für  dieselbe  Einheit.  Bei  der  Kapital- 
rentensteuer geht  die  Ermittlung  nicht  unmittelbar  auf  den 
Vermögenswerth  — der  gerade  hier  bekanntlich  äusserst 
schwierig  festzustellen  ist  — , sondern  auf  den  jährlichen 
Rentenertrag,  der  durch  Selbsteinschätzung  bekannt  ge-, 
geben  wird.  Dieser  wird  dann  für  die  Steuerhebung  ver- 
vielfacht und  zwar  in  den  meisten  Fällen  mit  zwanzig,  bei 
gewissen  Bezügen:  Leibrenten,  Wittwen-  und  Waisen- 

benefizien  mit  acht  bezw.  vier  und  von  dem  so  künstlich 
gebildeten  Vermögenswerth  werden  dann  pro  100  M.  11  Pt. 
eingehoben.  Man  sieht  leicht,  wie  sehr  es  dadurch  möglich 
ist,  in  der  Form  der  Vermögenssteuer  Individualisirungen 
eintreten  zu  lassen  und  wie  der  Verschiedenartigkeit  der 
Formen,  in  welchen  der  Vermögenswerth  auftritt,  durch 
die  Beibehaltung  verschiedener  Steuerarten  in  natürlicher 
Weise  Rechnung  getragen  wird.  Die  Werthe  landwirth- 
schaftlichen  Grund  und  Bodens  ändern  sich  in  längeren 
Perioden,  hier  ist  eine  alle  paar  Jahre  vor  sich  gehende 
Feststellung  nicht  nöthig.  Die  Häuserwerthe  ändern  sich 
rascher,  hier  wird  man  daher  öftere  Katastrirungen  vor- 
nehmen müssen.  Die  gewerblichen  Vermögen,  wie  die 
Kapitalrenten  abwerfenden  Vermögen  sind  dem  stärksten, 
oft  einem  jähen  Wechsel  unterworfen,  sie  werden  daher 
auch  in  jedem  Jahre  von  Neuem  aufgenommen.  Dieses 
badische  Steuersystem  mit  der  gesonderten  Besteuerung  der 
Hauptkategorien  des  Vermögens,  die  dann  alle  von  der  all- 
gemeinen Einkommensteuer  nochmals  umklammert  und  in 
ihrer  einkommenbildenden  Kraft  getroffen  sind,  stellt 
meiner  Ueberzeugung  nach  die  beste  Organisation  der 
direkten  Steuern  dar,  die  dem  Stande  unserer  Steuer- 
technik und  staatsbürgerlichen  Erziehung  entspricht.1) 

Eine  eingehendere  Darstellung  des  badischen  Steuer- 
systems und  die  Erörterung  einzelner  Fragen  über  die 
Stellung  der  erwähnten  gesonderten  Steuern  zu  dem  Ge- 
danken der  Vermögensbesteuerung  muss  hier  unterbleiben.2) 
Nur  das  Eine  möchte  ich  noch  hervorheben,  dass  auch  für 
eine  Regelung  des  Kommunalsteuerwesens  in  der  Weise, 

b Dass  eine  gewisse  Arten  und  Grössen  des  Gebrauchs- 
vermögens treffende  Besitzsteuer  noch  hinzugefügt  werden 
könnte,  habe  ich  schon  hervorgehoben.  Sie  würde  aber  bei  dem 
mittleren  Wohlstände  Badens  keine  grosse  Rolle  spielen. 

2)  Eine  eingehende  Darstellung  des  badischen  Steuer- 
systems findet  man  in  meinem  Buche  „Der  badische  Staatshaus- 
halt in  den  Jahren  1868—1889“.  Freiburg  1889,  insbesondere 
S.  187  ft.  und  236  ff. 


dass  dieses  sich  wesentlich  oder  vielleicht  auch  ausschliess- 
lich auf  die  Realsteuern  stütze,  die  badische  Ordnung  dem 
Steuern  durchaus  ausreicht.  Ein  Vergleich  zwischen  den 
Gemeindeabgaben  in  Preussen  und  Baden  mag  dies  in 
Kürze  darthun.1) 

V on  dem  Gesammtbetrage  der  Gemeindeabgaben  ent- 
fallen auf: 


die  Zuschläge 

in  Preussen 

M. 

% der 
Summe 

in  Baden 
M. 

% der 
Summe 

zur  Staats-,  Grund-  und 
Gebäudesteuer  . . . 

32  705  000 

28,3 

8 21 1 000 

65,5 

zur  Gewerbesteuer  . . . 

2 570  000 

2,2 

1 878  000 

15,1 

zur  Einkommensteuer  . 

80  074  000 

69,5 

2 429  000 

19,4 

Summa  . . . 

115  349  000 

12  518  000 

Wie  diese  Uebersicht  zeigt,  tragen  Grund  und  Boden 
und  Gebäude  in  Baden  gerade  in  demselben  Verhältnisse 
die  direkten  Gemeindeabgaben,  wie  in  Preussen  das  Ein- 
kommen. Und  diese  Umkehrung  ist  es  ja,  die  man  in 
Preussen  wünscht.  Führe  man  daher  doch  das  badische 
System  daselbst  ein!  Durch  die  Umwandlung  der  Grund-, 
Gebäude-  und  Gewerbesteuern  aus  unzulänglichen  Ertrags- 
steuern in  Vermögenssteuern,  durch  Eingliederung  einer 
Kapitalrentensteuer  in  das  direkte  Steuersystem  werden  die 
beiden  Ziele  der  Steuerreform,  der  sozialpolitische  der  Er- 
gänzungsbesteuerung des  fundirten  Einkommens  und  der 
finanzpolitische  der  zweckmässigen  Trennung  zwischen 
staatlichen  und  kommunalen  Lasten  mit  einem  Schlage  er- 
reicht werden  können.  Der  Staat  behielte  die  Steuer- 
quellen in  der  Hand,  könnte  aber  auf  eine  weitgehende 
Ausnützung  der  Besteuerung  der  realen  Objekte  zu  Gunsten 
der  Gemeinden  verzichten;  für  die  ergänzende  Vermögens- 
besteuerung wären  statt  unzureichender  allgemeiner  Ein- 
schätzungen oder  unzuverlässiger  Selbstbekenntnisse  sichere 
katastrale  Grundlagen  vorhanden;  diese  Steuer  könnte  der 
Art  der  Vermögensobjekte  nach  individualisirt  werden  und 
endlich  wäre  statt  der  zweifachen  Arbeit  der  Steuerver- 
waltung — Vermögensfeststellung  im  Staate,  Feststellung 
der  Grundlagen  der  Realbesteuerung  in  den  Gemeinden  - 
für  Staat  und  Gemeinden  das  gleiche  Substrat  benützbar. 
Dass  die  Gemeinden  den  wesentlichen  Theil  ihrer  direkten 
Steuereinnahmen  durch  eine  Vermögenssteuer  decken  sollen, 
wird  wohl  Niemanden  erschrecken,  da  es  ja  klar  ist,  dass 
diese  Steuer  wohl  nach  dem  Vermögen  — hier  nach  den 
Liegenschaften  und  Gebäuden  — bemessen,  aber  doch  aus 
dem  Einkommen  gezahlt  würde. 

Freiburg  i.  B.  Eugen  v.  Philippovich. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Der  Fall  Dankwardt  und  die  preussische  Agrarpolitik. 

Die  Agrargeschichte  des  nördlichen  Deutschland  und 
die  Agrarpolitik  der  preussischen  Könige  ist  in  den  letzten 
Jahren  Gegenstand  eingehender  wissenschaftlicher  For- 
schung gewesen.  Die  Resultate  derselben  sind  naturgemäss 
nur  langsam  in  weitere  Kreise  gedrungen,  aber  sie  haben 
nun  mit  einem  Mal  durch  die  Debatten  des  Abgeordneten- 
hauses vom  7.  und  27.  April  ein  aktuelles  Interesse  ge- 
wonnen, und  dies  giebt  den  Anlass,  sie  auch  hier  zur 
Sprache  zu  bringen.  Zunächst  ist  die  sogenannte  „Bauern- 

1 i Die  Angaben  für  Preussen  sind  dem  Statistischen  Hand- 

buch für  den  preussischen  Staat  Bd.  I entnommen  und  beziehen 
sich  auf  die  Jahre  1883/84,  die  für  Baden  giebt  das  Statistische 
Jahrbuch  1889  und  sie  entsprechen  dem  Voranschlag  für  1890. 


238 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  19. 


befreiung“,  d.  h.  die  Aufhebung  der  Erbunterthänkeit  und 
die  Verwandlung'  des  mit  ihr  so  vieliach  verbundenen 
„lassitischen“  Besitzrechtes,  d.  h.  eines  beschränkten  theils 
erblichen,  theils  unerblichen  Nutzungsrechtes  an  frem- 
dem Grund  und  Boden,  in  Eigenthum  — die  sogenannte 
„Regulirung  der  gutsherrlich-bäuerlichen  Verhältnisse“  — 
unparteiisch  nach  den  Akten  dargestellt  worden,  wodurch 
die  bisherigen  Ansichten  über  diese  That  der  preussischen 
Könige  vielfache  Berichtigung  erfuhren.1)  Es  hat  sich  zu- 
nächst gezeigt,  welch’  grosse  Bedeutung  dem  von  F riedrich 
dem  Grossen  durchgeführten  „Bauernschutz“  zukommt, 
d.  h.  dem  gesetzlichen  Verbot  des  Einziehens  der  Bauern- 
stellen ohne  Schutz  des  jeweiligen  Besitzers.  Dagegen 
zeigte  sich  weiterhin  zur  Evidenz,  dass  die  vielgerühmte 
Stein-Hardenbergische  Gesetzgebung  diesen  Ruhm  nur  zum 
Theil  verdient,  da  sie  die  Eigenthumsverleihung  nur  für 
einen  Theil  der  lassitischen  Bauern,  die  katastrirten  und 
spannfähigen  durchgeführt  hat  und  auch  hier  nur  gegen 
Landabtretung,  so  dass  sie  schon  dadurch  selbst  die  weitere 
Vergrösserung  der  herrschaftlichen  Güter  bewirkte,  wäh- 
rend sie  durch  die  theilweise  Aulhebung  des  Bauern- 
schutzes die  grosse  Masse  der  nicht  spannfähigen,  also 
der  kleinen  lassitischen  Bauern  den  Gutsherren  preisgab, 
welche  damals  eben  für  die  vergrösserten  Güter  mehr 
Arbeitskräfte  nöthig  hatten  und  dieselben  daher  zum 
grössten  Theil  in  besitzlose  Taglöhner  verwandelten.  Die 
abschliessende  Gesetzgebung  von  1850,  welche  diese  Lücken 
ausfüllen  sollte  und  auch  die  nicht  spannfähigen  und  nicht 
katastrirten  Bauern  für  regulirbar  erklärte,  fand  daher  nur 
noch  einen  kleinen  Theil  derselben  vor. 

So  hat  die  preussische  Bauernbefreiung  in  Folge  der 
1811  und  namentlich  1816  bewiesenen  Schwäche  gegen  die 
gutsherrlichen  Interessen  ihre  Aufgabe  nur  zum  Theil  ge- 
löst. Es  lag  nahe,  dass  nach  dieser  Erkenntniss  Unter- 
schätzung an  die  Stelle  der  bisherigen  Ueberschätzung 
treten  würde.  Davor  bewahrt  jedoch  die  Betrachtung 
eines  heute  preussischen  Landestheils,  welcher  in  Folge 
seiner  politischen  Geschichte  bei  einer  gleichen  geschicht- 
lichen Entwickelung  der  geschilderten  preussischen  Bauern- 
befreiung nicht  theilhaftig  geworden  ist.  Es  ist  dies  das 
heutige  Neuvorpommern  und  Rügen,  das  bekanntlich  bis 
1815  schwedisch  war.  Die  Geschichte  des  Bauernstandes 
in  diesem  Lande  zeigt,  wohin  es  auch  in  den  älteren 
Theilen  Preussens  ohne  die  Agrarpolitik  seiner  Könige  ge- 
kommen wäreA) 

Hier  war  in  Folge  der  Schwäche  der  schwedischen 
Regierung  — abgesehen  von  den  Domänen  und  den  so- 
genannten Tertialgütern  kein  Bauernschutz  zur  Durch- 

o ö 

führung  gekommen,  vielmehr  war  durch  die  pommersche 
Bauernordnung  von  1616,  welche  allerdings  auf  einen 
Theil  des  Landes,  das  frühere  Herzogthum  Pommern- 
Wolgast  von  der  schwedischen  Regierung  nur  irrthümlich 
und  aus  Versehen  ausgedehnt  wurde,  das  „Bauernlegen“, 
das  Einziehen  der  Bauernstellen  ausdrücklich  gestattet  und 
so  hier  gerade  in  dem  Zeitraum  der  Umgestaltung  der 
landwirthschaftlichen  Technik  in  der  zweiten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts,  welche  zum  Bauernlegen  antrieb,  der 
Bauernstand  den  Gutsherren  preisgegeben,  während  in 
Preussen  gerade  damals  der  Bauernschutz  einsetzte.  So 
begann  hier  damals  ein  systematisches  Bauernlegen  nament- 
lich auf  den  Gütern  der  Städte  und  Korporationen,  später 
des  Adels,  zum  Zweck  der  Steigerung  des  Ertrags  aus  dem 
Grund  und  Boden.  Ein  anderer  Theil  der  lassitischen 
Bauern  wurde  zu  demselben  Zweck  in  Zeitpächter  ver- 
wandelt. Die  noch  zu  schwedischer  Zeit  erfolgte  Auf- 
hebung der  Leibeigenschaft  ohne  gleichzeitige  Regelung 
der  Besitzverhältnisse  gab  diesem  Prozess  einen  weiteren 
Anstoss.  So  waren  die  lassitischen  Besitzverhältnisse,  als 
das  Land  an  Preussen  kam,  schon  sehr  zusammengeschmol- 
zen; aber  doch  hätte  ein  Eingreifen  damals  noch  viel  ge- 

x)  Vgl.  Knapp,  Die  Bauernbefreiung  und  der  Ursprung 
der  Landarbeiter  in  den  älteren  Theilen  Preussens.  Leipzig,  1887. 

2)  Vgl  Fuchs,  Der  Untergang  des  Bauernstandes  und  das 
Aufkommen  der  Gutsherrschalten,  nach  archivalischen  Quellen 
aus  Neuvorpommern  und  Rügen.  Strassburg,  1888. 


rettet.  Freilich  fehlte  hier  meist  das  rechtliche  Fundament 
der  Stein  - Hardenbergischen  Gesetzgebung,  der  Bauern- 
schutz, aber  theilweise  war  er  doch  auch  da,  und  dann 
zeigt  das  Beispiel  Posens,  wo  die  Regulirung  sogar  sehr 
streng  durchgeführt  wurde,  dass  man  darin  unter  anderen 
Umständen  kein  Flinderniss  erblickte.  Aber  hier  wurde 
von  der  damals  gegen  die  Interessen  deutscher  Guts- 
herren sehr  schwachen  Regierung  kein  solcher  Versuch 
gemacht. 

So  ging  das  Bauernlegen  ungestört  weiter  bis  zum 
Jahr  1850  und  als  man  nunmehr  auch  diese  Lücke  der 
früheren  Gesetzgebung  nachträglich  auszufüllen  gedachte, 
da  berichtete  die  königl.  Regierung  zu  Stralsund,  dass  es 
in  Neuvorpommern  und  Rügen  überhaupt  keine  lassitischen 
Besitzrechte  mehr  gebe.  Und  so  kam  es,  dass  von  dem 
Gesetz  vom  2.  März  1850  der  III.  Abschnitt,  betr.  die  Re- 
gulirung der  gutsherrlich  - bäuerlichen  Verhältnisse  auf 
Schwediseh-Pommern  nicht  ausgedehnt  wurde. 

Nach  einiger  Zeit  aber  zeigte  sich,  dass  dieser  Be- 
richt falsch  gewesen  war,  ob  bona  oder  mala  fide  wissen 
wir  nicht  und  ist  heute  auch  gleichgiltig.  Es  stellte  sich 
nämlich  Ende  der  50  er  Jahre  heraus,  dass  doch  noch  eine 
Anzahl  Lassiten  in  Neuvorpommern  und  Rügen  vorhanden 
waren,  auf  welche  die  Voraussetzungen  des  Abschnitts  III 
des  Gesetzes  von  1850  anwendbar  gewesen  wären.  Nach- 
dem sich  ein  Theil  von  diesen,  die  35  Bauern  der  Insel 
Ummanz  und  die  beiden  Kossäthen  Dober  und  Dank- 
wardt zu  Mönkwitz  auf  Rügen,  mit  Petitionen  an  das 
Abgeordnetenhaus  gewandt  hatten,  brachte  die  Regierung 
trotz  des  Widerstands  des  Landwirthschaftsministers  Grafen 
Plickler  einen  Gesetzentwurf  zur  Ausdehnung  des  Gesetzes 
von  1850  ein.  Das  Abgeordnetenhaus  nahm  denselben  an, 
das  Herrenhaus  beschloss,  zuerst  das  Gutachten  des  pom- 
merschen  Provinziallandtags  einzuholen,  und  lehnte  ein  : 
gleichzeitig  eingebrachtes  Sistirungsgesetz  zur  Erhaltung 
der  noch  bestehenden  Stellen  ab.  Der  Provinziallandtag'  , 
sprach  sich  in  seinem  Gutachten  vom  20.  August  1861  gegen  . 
die  Ausdehnung  aus,  und  daraufhin  liess  die  Regierung 
dieselbe  fallen. 

Inzwischen  aber  hatte  die  Gutsherrschaft  der  Um- 
manzer  Bauern,  das  Heiliggeistkloster  zu  Stralsund,  sich 
beeilt,  das  Rechtsverhältniss  derselben  in  reine  Zeitpacht 
ohne  alle  Merkmale  lassitischen  Besitzes  zu  verwandeln, 
und  beim  Ablauf  der  ersten  reinen  Zeitpachtkontrakte  24  ‘ 
derselben,  die  noch  auf  ihr  früheres  besseres  Besitzrecht 
sich  beriefen,  gewaltsam  exmittirt.  So  glaubte  ich  mich  ; 
1888  zu  der  Annahme  berechtigt,  dass  heute  keine  Reste 
lassitischen  Besitzes  mehr  vorhanden  seien. 

Aber  dem  war  nicht  so.  An  den  Rechtsverhältnissen 
der  beiden  Kossäthen  zu  Mönkwitz  hatte  sich  nichts  ge- 
ändert, und  der  eine  von  diesen,  August  Dankwardt,  ver- 
suchte nun  Ende  1889  noch  einmal  durch  eine  Petition  an 
beide  Häuser  des  Landtags,  die  nachträgliche  Ausdehnung 
von  Abschnitt  III  des  Gesetzes  von  1850  zu  erlangen.  Die 
Petition  wurde  im  Herrenhaus  durch  Uebergang  zur  Tages- 
ordnung erledigt,  vom  Abgeordnetenhaus  aber  der  Re- 
gierung zur  Berücksichtigung  überwiesen.  Hierauf  wurden 
durch  die  Generalkommission  Ermittelungen  über  die  Be- 
dürfnissfrage  angestellt,  welche  ergaben,  dass  ausser  den 
beiden  Stellen  zu  Mönkwitz  doch  noch  eine  kleine  Anzahl 
anderer  vorhanden  seien,  bei  welchen  die  Besitzverhältnisse 
zweifelhaft  und  möglicherweise  auch  Regulirbarkeit  vor- 
handen sei. 

Inzwischen  hatten  auch  die  früheren  Ummanzer 
Bauern  Bliese  und  Genossen  wieder  eine  Petition  an  den 
Landtag  gerichtet  und  Dankwardt  sich  auch  noch  mit  einer 
Immediatvorstellung  an  den  König  gewandt.  Diese  hatte 
zur  Folge,  dass  Anfang  dieses  Jahres  der  pommersche 
Provinziallandtag,  an  dessen  Widerstand  die  Ausdehnung 
1861  gescheitert  war,  aufs  Neue  darüber  befragt  wurde. 
Diesmal  sprach  sich  derselbe  nun  aber  mit  grosser  Ma- 
jorität für  die  Ausdehnung  aus,  nachdem  nur  der  Rechts- 
anwalt der  Gutsherrschaft  des  Dankwardt,  v.  Esbeck-Platen 
und  ein  Herr  v.  Koller  dagegen  gesprochen  hatten,  wäh- 
rend die  beiden  Referenten,  Stadtsyndikus  Dr.  Schultze 


No.  19. 


SOZIA I.I'OI TUSCHES  CENTRALBI .ATT. 


239 


und  Justizraih  v.  Vahl  aus  Greifswald,  unbedingt  dafür  ein- 
getreten waren,  mit  der  richtigen  Motivirung  dass  es  sich 
bei  Ausdehnung  des  Regulirungsgesetzes  auf  Neuvorpom- 
mern und  Rügen  ja  gar  nicht  um  Entscheidung  der  ein- 
zelnen streitigen  Fälle  handele,  welche  der  Generalkommis- 
sion obliegen  werden,  sondern  nur  darum,  den  betreffenden 
Leuten  endlich  einmal  diesen  Rechtsweg  zur  Klarstellung 
ihrer  zweifelhaften  Besitzverhältnisse  zu  eröffnen. 

Um  die  Tragik  seines  Schicksals  voll  zu  machen,  ist 
acht  Tage  vor  diesem  Beschluss  August  Dankwardt,  der 
unermüdliche  Kämpfer  für  sein  Recht,  im  Alter  von 
82  Jahren  gestorben,  und  daraufhin  hat  die  Gutsherrschaft, 
da  es  sich  hier  nur  um  lebenslänglichen,  nicht  um  erb- 
lichen Lassbesitz  handelt,  obwohl  der  Hof  thatsächlich  fast 
2 Jahrhunderte  im  Besitz  der  Familie  Dankwardt  war,  sofort 
den  Sohn  aufgefordert,  den  Hof  bis  zum  I.  Juli  d.  J.  zu 
räumen. 

Nun  wäre  es  wohl  an  der  Regierung  gewesen,  einen 
entsprechenden  Gesetzentwurf  wieder  vorzulegen.  Da  sie 
es  nicht  that,  erwarben  sich  die  freisinnigen  Abgeordneten 
Neukirch  und  Drawe  das  Verdienst,  einen  solchen  einzu- 
bringen, nebst  dem  eines  Sistirungsgesetzes  zur  Erhaltung 
der  Dankwardt’schen  Stelle.  In  der  ersten  am  7.  April  statt- 
gefundenen Lesung  der  beiden  Entwürfe,  welche  sich  eng 
an  die  von  1861  anschliessen,  wurden  von  dem  Abgeordneten 
v.  Rauchhaupt  Bedenken  geltend  gemacht  gegen  § 3,  wel- 
cher ebenso  wie  das  Gesetz  von  1861  den  früheren  lassi- 
tischen  Bauern  von  Lhumanz  ein  Vorzugsrecht  auf  Eigen- 
thumsverleihung  an  den  Stellen  gegenüber  den  jetzigen 
Pächtern  verleihen  würde  — nach  so  langer  Zeit  in  der 
That  vielleicht  nicht  ohne  Bedenken.  Sehr  eigenthümlich 
aber  war  das  Verhalten  des  Landwirthschaftsministers,  der, 
nur  in  seinem  Namen  sprechend,  zwar  die  Nothwendigkeit 
betonte,  eventuell  auch  nur  für  einen  Mann  das  Gesetz  zu 
erlassen,  aber  dieses  Bedtirfniss  bezweifelte  und  über  die 
Verhandlungen  des  Provinziallandtags  merkwürdig  schlecht 
unterrichtet  war.  In  der  zweiten  Lesung  des  Sistirungs- 
gesetzes am  27.  April  sprach  sich  derselbe  jedoch  namens 
der  Staatsregierung  wesentlich  anders  aus,  verlangte  zwar 
Verweisung  auch  dieses  Gesetzes  an  die  Justizkommission, 
verhiess  aber  thunlichste  Beschleunigung  und  Unterstützung 
der  Sache  durch  die  Regierung.  Die  Justizkommission  be- 
rieth  noch  an  demselben  Abend  über  beide  Gesetze  und 
nahm  sie  mit  kleineren  Verbesserungen  an  und  es  ist 
dringend  zu  wünschen,  dass  dies  nun  auch  durch  das  Ab- 
geordnetenhaus und  durch  das  Herrenhaus  rechtzeitig  und 
ohne  weitere  Schwierigkeiten  geschieht. 

Wenn  wir  die  geschilderte  Entwicklung  des  „Falls 
Dankw'ardt“  betrachten,  so  bildet  sie  allerdings  eine  traurige 
Kette  von  Missgriffen  und  Versäumnissen  seitens  der  Re- 
gierung wie  seitens  des  Parlaments;  und  daraus  ergiebt 
sich  für  beide  gleichmässig  die  Verpflichtung,  die  leidige 
Angelegenheit  so  rasch  und  glatt  wie  möglich  aus  der 
Welt  zu  schaffen  und  die  früheren  Fehler,  wenigstens  so- 
weit es  noch  angeht,  gutzumachen. 

Dagegen  ist  es  auf  der  anderen  Seite  meines  Er- 
achtens durchaus  miissig,  heute  darüber  zu  streiten,  wem 
die  Hauptschuld  an  den  früheren  Fehlgriffen  zuzuschreiben 
ist,  und  unangebracht,  diese  Angelegenheit  zu  einer  Prin- 
zipienfrage aufzubauschen.  Wer  damals  die  Haupt- 
schuld trug,  ist  heute  nicht  mehr  mit  Sicherheit  festzu- 
stellen. So  war  bei  der  Ablehnung  des  Ausdehnungs- 
gesetzes von  1861  durch  den  Provinziallandtag  offenbar  die 
Stadt  Stralsund  wegen  ihrer  Ummanzer  Bauern  am  meisten 
interessirt,  das  ablehnende  Gutachten  wurde  von  dem  da- 
maligen Bürgermeister  von  Greifswald  ausgearbeitet.  Es 
ist  ja  bekannt,  wie  überhaupt  in  diesem  Landestheil  die 
Städte  und  Korporationen  — so  namentlich  auch  die  Uni- 
versität Greifswald  — in  der  Ausbeutung  ihrer  unter- 
thänigen  Bauern  wie  im  Bauernlegen  den  adligen  Gutsherr- 
schaften nicht  nachgestanden  haben,  sondern  vielfach  voran- 
gegangen sind.  Also  lassen  wir  die  Todten  ruhen!  Heute 
besteht  auch  auf  agrarischer  Seite  der  gute  Wille,  das 
früher  Versäumte  soweit  möglich  nachzuholen,  und  es  ist 
| am  wenigsten  im  Interesse  der  Nächstbetheiligten  selbst 


gelegen,  wenn  dieser  gute  Wille  durch  eine  unangebrachte 
Polemik  beeinträchtigt  wird.  Phrasen,  wie  „ein  Stück 
Mittelalter  in  Deutschland“,  sind  im  Hinblicke  auf  die  prak- 
tische Bedeutung  der  Angelegenheit  lächerlich,  um  so 
lächerlicher,  wenn  man  weiss,  dass  die  fraglichen  Zu- 
stände gar  nicht  aus  dem  Mittelalter,  sondern  aus  viel  spä- 
terer Zeit  stammen. 

Die  ganze  Angelegenheit  ist,  im  Provinziallandtag 
wurde  dies  mit  Recht  betont,  keine  Parteifrage,  sondern 
eine  Frage  der  Gerechtigkeit.  Die  Ausdehnung  der  Regu- 
lirung auf  Neuvorpommern  und  Rügen  ist,  wie  ich  schon 
vor  vier  Jahren  schrieb,  einfach  eine  Forderung  der  Ge- 
rechtigkeit, der  Konsequenz,  der  staatlichen  Würde. 

Greifswald.  Carl  Johannes  Fuchs. 


Die  Errichtung  von  Rentengütern  in  Ost-,  Westpreussen 
und  Posen.  Der  Reichsanzeiger  veröffentlicht  einen  Bericht  der 
für  die  Provinzen  Ost-,  Westpreussen  und  Posen  zuständigen 
Generalkommission  über  die  Errichtung  von  Rentengütern  in 
diesen  drei  Provinzen.  Mit  den  Rentengütern  wird  bekanntlich 
ein  doppelter  Zweck  verfolgt:  die  Förderung  der  Germanisirung 
polnischer  Landestheile  und  die  Probe  darauf,  ob  sich  die  Wieder- 
einführung eines  Erbpachtsystems,  das  durch  das  Gesetz  vom 
2.  März  1850  für  unzulässig  erklärt  wurde,  empfehle.  Ferner 
sollten  durch  das  Gesetz  mit  der  Sesshaftmachung  landwirth- 
schaftlicher  Arbeiter  Versuche  gemacht  werden  und  die  Neu- 
bildung eines  Bauernstandes  in  den  Gebieten  des  Grossgrund- 
besitzes angebahnt  werden. 

Dabei  war  stets  die  Absicht,  nur  Güter  von  polnischen 
Besitzern  anzukaufen,  bezw.  solche,  welche  durch  Verkauf  in 
polnische  Hände  übergehen  könnten;  dieselben  sollten  aber  nur 
an  Deutsche  in  Form  von  Rentengütern  übergehen  können. 

Aus  dem  Reichsanzeiger  ersehen  wir,  dass  che  Nachfrage 
nach  Rentengütern  relativ  sehr  gross  war,  relativ  freilich  nur 
in  Hinsicht  auf  die  Möglichkeit  der  Befriedigung  der  Wünsche, 
nicht  aber  mit  Rücksicht  auf  die  national-populationistischen 
Ziele  des  Gesetzes. 

Es  sind  Anträge  auf  Errichtung  von  Rentengütern  gestellt 
worden : 

in  in  in  Summa 

Ostpreussen  Westpreussen  Posen 

A.  bis  zum  Schlüsse  des  Jahres  1891: 

105  92  64  261 

B.  im  Jahre  1892  bis  einschliesslich  15.  März: 

97 57  46_ 200 

zusammen  202  149  110  461. 

Die  Grundstücke,  welche  zufolge  dieser  Anträge  zu  Renten- 
gütern eingerichtet  werden  sollen,  umfassen  und  zwar: 

1.  soweit  die  Anträge  im  Jahre  1891  gestellt 

sind  57  883  ha 

2 soweit  solche  im  Jahre  1892  bis  15.  März 

gestellt  sind ■ ■ ■ 31  576  ha 

Summa  . . 89  459  ha 

Das  Verfahren  auf  Errichtung  von  Rentengütern  zufolge 
vorstehender  Anträge  hat  bisher  in  den  nachstehend  angegebenen 
Fällen  nicht  eingeleitet  werden  können,  weil  zunächst  die  Noth- 
wendigkeit der  Vervollständigung  der  Anträge  vorlag: 
in  Ostpreussen  in  Westpreussen  in  Posen 

Anträge  Fläche  Anträge  Fläche  Anträge  Fläche 

1.  bez.  der  im  Jahre  1891  gestellten  Anträge: 

45  9 718  ha  22  2 744  ha  18  2 554  ha 

2.  bez.  der  Anträge  aus  dem  Jahre  1892: 

33  3 092  ha  21  " 2 721  ha~  14  2 162  ha 

"Sa.  78  " 12  810  ha  ~ 43  5 495  ha  32  4 716  ha. 

Dagegen  ist  der  Auftrag  zur  Einleitung  des  Verfahrens 
den  Spezialkommissaren  ertheilt  worden: 

in  Ostpreussen  in  Westpreussen  in  Posen 

Anträge  Fläche  Anträge  Fläche  Anträge  Fläche 

1.  bez.  der  Anträge  aus  1891: 

60  9 539  ha  70  22  755  ha  46  10  543  ha 

2.  bez.  der  Anträge  aus  1892: 

64  7 683  ha  36  8 058  ha  32  7 860  ha 

" Sa.  124  17  222  ha  ~K)6  30  813  ha  78  18  403  ha. 

Nach  den  Anträgen  der  betheiligten  Gutsbesitzer,  soweit 
solche  nach  eingeleitetem  Verfahren  nicht  inzwischen  zurück- 
genommen oder  das  Verfahren  aus  anderen  Gründen  hat  ein- 
gestellt werden  müssen,  sollen  zu  Rentengütern  eingerichtet 
werden: 

I.  in  der  Provinz  Ostpreussen: 

ganze  Güter  Theile  von  Gütern 
Reg. -Bez.  Königsberg  ...  52  35 

„ Gumbinnen  . ._  . 26  12 

Summa  . 


78 


240 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  19. 


Reg.-Bez.  Danzig  . . . 
,,  Marienwerder 


II.  in  der  Provinz  Westpreussen: 

Ganze  Güter  Theile  von  Gütern 
19  23 

51  22 


Summa  . . 70 

III.  in  der  Provinz  Posen: 


45 

26 

21 


Reg.-Bez.  Posen 11 

„ Bromberg  . - ■ ■ 24 

Summa  . . 35  47. 

Das  Bedürfniss  und  Bestreben  der  Grundbesitzer,  ihren 
gesammten  Grundbesitz  zu  Rentengütern  einzurichten,  ist  hier- 
nach verhältnissmässig  am  dringendsten  in  dem  Regierungs- 
bezirk Königsberg  — hier  in  den  Kreisen  Wehlau  (11:3)  und 
Labiau  (16:2),  — Im  Regierungsbezirk  Gumbinnen  — hier  in' den 
Kreisen  Goldap  (4:1),  Lötzen  (5:0)  und  Lyck  (4:0)  — und  im 
Regierungsbezirk  Marienwerder  — hier  in  den  Kreisen  Stuhm 
(7:1),  Strasburg  (6:2),  Marienwerder  (6:1)  und  Graudenz  (5:0) 
hervorgetreten. 

Bei  der  überaus  grossen  Anzahl  der  Anträge  hat  in  den 
eingeleiteten  Sachen  das  Verfahren  mit  Rücksicht  auf  das  zur 
Verfügung  stehende  Beamtenpersonal  sowie  darauf,  dass  die 
erst  kurze  Geltungsdauer  des  Gesetzes  in  die  zur  Ausführung 
von  Messungsarbeiten  nicht  geeignete  Jahreszeit  fällt,  nur  in 
einer  verhältnissmässig  geringen  Anzahl  wesentlich  gefördert 
werden  können;  es  sind  aber  immerhin  schon  erfreuliche  Resul- 
tate erzielt. 

Die  örtliche  Eintheilung  der  Grundstücke  in  Rentengüter 
ist  nämlich  ausgeführt: 

I.  Provinz  Ostpreussen: 

Ganze 
Güter: 

Reg.-Bez.  Königsberg ....  2 mit  45  ha 
""  „ Gumbinnen ....  — 

II.  Provinz  Westpreussen: 

Reg.-Bez.  Danzig 3 mit  1198  ha 

„ Marienwerder . . . 6 „ 2198  „ 

III.  Provinz  Posen: 

Reg.-Bez.  Posen 3 mit  607  ha  3 mit  688  ha 

Bromberg  ....  2 „ 443  „ — 


Theile 

von  Gütern: 

3 mit  389  ha 
1 „ 56  „ 

5 
3 


mit  79 1 ha 
„ 335  „ 


16  mit  4491  ha  15  mit  2259  ha 
im  ganzen  31  Sachen  mit  6750  ha. 

Mit  der  Eintheilung  hat  dagegen  bisher  noch  nicht  be- 
gonnen werden  können: 

in  119  in  der  Provinz  Ostpreussen  anhängigen  Sachen, 
in  98  in  der  Provinz  Westpreussen  anhängigen  Sachen, 
in  74  in  der  Provinz  Posen  anhängigen  Sachen. 

An  Bewerbern  um  Rentengüter  aus  den  einzelnen  Pro- 
vinzen haben  sich  bei  der  Generalkommission  gemeldet: 

A.  aus  Ostpreussen:  1140  und  zwar  die  grösste  Anzahl  aus 
den  Kreisen  Orteisburg  (202),  Johannisburg  (178),  Lyck  (175), 
Sensburg  (142),  Allenstein  (106). 

B.  aus  Westpreussen:  33  und  zwar  der  grösste  Theil  aus 
dem  Kreise  Scblochau  (11). 

C.  aus  Posen:  56  und  zwar  der  grösste  Theil  aus  dem 
Kreise  Inowrazlaw  (24). 

Zur  Frage  des  Wasserrechts.  Der  Deutsche  Bund 
für  Bodenbesitzreform  hat  an  den  preussischen  Landwirth- 
schaftsminister  eine  Petition  (datirt  vom  25.  April)  betreffs 
Neuregelung  des  Wasserrechts  gerichtet.  Die  Petition 
wünscht,  dass  in  Anbetracht  der  hohen  Bedeutung;  welche 
die  Wasserläufe  durch  die  Fortschritte  der  Electrotechnik 
für  die  Industrie,  sowohl  im  Klein-  wie  im  Grossbetriebe 
erlangt  haben,  bei  der  bevorstehenden  Berathung  über  eine 
Neuregelung  des  Wasserrechtes  in  Erwägung  gezogen 
werde,  ob  es  sich  nicht  empfiehlt,  die  genannten  Wasser- 
läufe in  den  Besitz  des  Reiches  oder  doch  wenigstens  der 
Einzelstaaten  zu  nehmen,  um  auf  diese  Weise  eine  möglichst 
rationelle  Ausbeutung  derselben  zu  ermöglichen  und  den 
durch  die  Fortschritte  der  Technik  gewonnenen  Zuwachs 
des  Nationalreichthums  nicht  einzelnen  zufälligen  Besitzern 
oder  ohnehin  kapitalkräftigen  Personen,  sondern  der  Ge- 
sammtheit  der  Nation  zu  Gute  kommen  zu  lassen.“  Den 
begründenden  Ausführungen  ist  das  Frageschema  des 
Schweizer  Bundesrath  an  die  Cantonsregieruimen  bezüglich 
des  nämlichen  Gegenstandes  (vergl.  Sozialpolitisches  Cen- 
tralblatt No.  16)  beigefügt.  Gleichlautende  Petitionen  sollen 
den  parlamentarischen  Körperschaften  zugehen. 

Der  berliner  Centralverein  für  Arbeitsnachweis  hat  seinen 
Geschäftsbericht  für  1891  herausgegeben.  Nach  demselben  zählt 
der  Verein  jetzt  520  Mitglieder;  bei  einer  Einnahme  von  rund 
25  400  M.  und  einer  Ausgabe  von  22  800  M betrug  der  Kassen- 
bestand am  Jahresschlüsse  ca.  8000  M.  Die  dem  Verein  zuge- 
wandten Geschenke  belaufen  sich  auf  über  16  000  M.  Was  die 
Zahl  der  besetzten  Stellen  betrifft,  so  ist  ein  Aufschwung  des 


Unternehmens  zu  verzeichnen:  von  13  459  Stellensuchenden  er- 
hielten bei  8011  gemeldeten  Vakanzen  7376  Personen  Arbeit. 
Fast  die  Hälfte  der  Leute  bestand  aus  ungelernten  Arbeitern; 
das  grösste  Kontingent  stellten  junge  Leute  im  Alter  von  16  bis 
20  Jahren,  nach  ihnen  solche  von  21—25  und  dann  von  26  bis 
30  Jahren.  Der  Versuch,  Arbeiter  nach  ausserhalb  zu  senden, 
ist  als  wohlgelungen  zu  betrachten.  Interessant  ist  die  Fest- 
stellung, dass  von  25  nach  auswärts  gesandten  Arbeitern  nur 
zwei  in  Berlin  eine  Wohnung  hatten:  17  nächtigten  im  Asyl  für 
Obdachlose  und  6 waren  an  demselben  Tage  zugereist.  Das 
scheint  darauf  hinzudeuten,  dass  die  Bestrebungen  nach  Unter- 
bringung in  auswärtige  Arbeitsstellen  nur  bei  solchen  Arbeitern 
Erfolg  haben  werden,  welche  in  Berlin  noch  nicht  heimisch  ge- 
worden sind.  Auch  der  seit  Juni  v.  J.  eingerichtete  Arbeits- 
nachweis für  weibliche  Personen  weist  erfreuliche  Resultate  auf, 
von  888  sich  Meldenden  sind  596  junge  Mädchen  in  Stellungen 
gebracht  worden.  Ein  grosser  Prozentsatz  derselben  trat  in 
Buchdruckereien  ein,  nachdem  der  Bund  der  Buchdruckereibe- 
sitzer ein  dahingehendes  Abkommen  mit  dem  Arbeitsnachweise 
getroffen  hatte.  In  gleicher  Weise  haben  sich  auch  die  „Wärme- 
hallen“ bewährt,  von  denen  am  meisten  die  Centralwärmehalle 
am  Alexanderplatz  frequentirt  wurde.  Um  den  Ueberschuss  an 
Arbeitskräften  von  Berlin  abzulenken,  beabsichtigt  der  Verein 
eine  Verbindung  mit  den  Arbeitsnachweisen  in  der  Provinz. 

Arbeitsnachweis  in  Freiburg  i.  B.  In  Freiburg  i.  B. 
haben  14  Vereine,  an  deren  Spitze  der  Gewerbeverein  steht, 
(Arbeiterbildungsverein , Frauenverein,  Kaufmännischer 
Verein  u.  s.  w.)  unter  Mitwirkung  der  Stadt  ein  Bureau 
für  allgemeinen  Arbeitsnachweis  in’s  Leben  gerufen,  das 
in  den  nächsten  Tagen  seine  Thätigkeit  beginnt.  Vorerst 
in  beschränkten  Räumen  untergebracht,  steht  ein  besseres 
Lokal  durch  Vermittelung  der  Stadtverwaltung  in  Aussicht 
und  man  hat  zur  Leitung  eine  tüchtige  Kraft  gewonnen. 

Man  erhofft  von  dieser  Einrichtung  einen  günstigen 
Erfolg  für  die  arbeitende  Klasse  und  zwar  um  so  mehr 
als  man  Verbindungen  mit  den  ähnlichen  und  gleichen 
Veranstaltungen  in  Basel,  Mülhausen,  Kolmar,  Strassburg, 
Karlsruhe  und  Stuttgart  angeknüpft  hat  und  voraussichtlich 
die  anderen  grösseren  Städte  im  Südwesten  des  Reiches 
auch  bald  solche  Bureaus  in’s  Leben  rufen  dürften.  Einigen 
sich  diese  Arbeitsnachweisebureaus  zu  einem  Verbände,  so 
dürfte  derselbe  dem  Sozialpolitiker  und  dem  Statistiker,  der 
sich  mit  Arbeiterstatistik  befasst,  bald  brauchbares  Material 
beibringen  und  namentlich  ein  Bild  gewähren,  wie  es  im 
Südwesten  des  deutschen  Reiches  hinsichtlich  der  Arbeiter- 
reservearmee aussieht. 

Vergebung  von  Staatsarbeiten  in  der  Schweiz.  Die 

Abtheilung  Bekleidungswesen  des  eidgenössischen  Kriegs- 
kommissariats schreibt  die  Lieferung  von  200  000  Beutelchen 
für  die  „eiserne  Ration“  aus.  In  der  Konkurrenzausschrei- 
bung sind  folgende  Punkte  bemerkenswerth:  Die  Arbeit 
wird  nur  direkt  an  Arbeiterinnen  und  solche  Lieferanten 
vergeben,  die  Garantie  dafür  bieten,  dass  die  Arbeiter  ent- 
sprechend bezahlt  werden.  Werthvoller  als  die  eventuelle 
direkte  Vergebung  an  die  Arbeiterinnen  ist  die  gewünschte 
Garantie  der  entsprechenden  Bezahlung  der  Arbeiter,  da  wohl 
auch  nur  ausnahmsweise  einzelne  Arbeiterinnen  in  der  Lage 
sein  werden,  „die  Stoffe  und  Zuthaten  selbst  zu  liefern“.  So 
wenig  vorerst  diese  Art  der  Konkurrenzausschreibung 
praktischen  Werth  für  die  Arbeiterinnen  haben  mag,  so 
bedeutsam  ist  sie  für  die  in  letzter  Zeit  sich  vollständig 
ändernde  sozialpolitische  Auffassung  staatlicher  Verwal- 
tungsstellen in  der  Schweiz. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Die  Maifeier. 

Die  Maifeier  des  Jahres  1892  unterschied  sich  von  der 
Feier  im  vorangegangenen  Jahre  durch  die  Gleichzeitig- 
keit derselben  in  allen  Ländern.  Feierte  das  Gros  der 
deutschen  und  englischen  Arbeiter  im  Gegensätze  zu  den 
Arbeitern  der  anderen  Länder  im  Jahre  1891  den  3.  statt 
des  I.Mai,  so  fiel  in  diesem  Jahre  ganz  abgesehen  von  den 
Beschlüssen  des  internationalen  Sozialistenkongresses_  zu 
Brüssel  die  Maifeier  durchaus  einheitlich  auf  den  1.  Mai,  da 
derselbe  ein  Sonntag  war. 

Der  Zweck  der  Maifeier:  die  Bekundung  gleicher 

Ziele  seitens  der  organisirten  Arbeiter  aller  zivilisirten 


No.  19. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


241 


Länder  wurde  vollkommen  erreicht.  Aus  allen  europäi- 
schen Staaten,  von  Russland  und  der  Balkanhalbinsel  ab- 
gesehen, liegen  Berichte  über  grossartige  Manifestationen 
(ier  Arbeiter  für  die  Forderungen  des  Achtstundentages 
vor.  Auch  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  im 
Kapland  und  in  Australien  wurde  entsprechend  den  Be- 
schlüssen des  Pariser  Kongresses  demonstrirt.  Wenn  aus 
Russland  keine  Berichte  über  die  Maifeier  vorliegen,  so 
liegt  dies  an  den  dortigen  staatlichen  Verhältnissen,  nicht 
aber  an  der  Abwesenheit  einer  Arbeiterbewegung.  Erfuhr 
man  doch  jüngst  erst  aus  einer  Abhandlung  Paul  Axelrods 
in  der  „Neuen  Zeit“,  dass  im  vorigen  Jahre  auch  von 
Arbeitern  in  Russland  die  Maifeier  begangen  worden  war. 
Ebenso  wurde  im  vorigen  Jahre  in  Russisch-Polen  seitens 
vieler  Arbeiter  durch  Ruhenlassen  der  Arbeit  am  1.  Mai 
bewiesen,  dass  die  Ideen  der  sozialistischen  Arbeiterbewe- 
gung nicht  an  den  russischen  Grenzpfählen  Halt  gemacht 
haben.  Wenn  die  jährlich  wiederkehrenden  Maifeiern  auch 
kein  neues  Moment  aufweisen,  so  sind  sie  doch  als  Zeug- 
niss  für  die  Stärke  der  Arbeiterbewegung  beachtenswerth, 
bedeutsam  durch  die  Gleichartigkeit  der  Forderungen  und 
vor  Allem  durch  den  Beweis  des  Einflusses  der  inter- 
nationalen Arbeiterkongresse  auf  die  Arbeitermassen  in 
allen  Ländern. 

Wenn  auch  nicht  für  den  Kenner  der  Bewegung,  so 
doch  für  diejenigen,  welche  sich  ausschliesslich  aus  geg- 
nerischen Urtheilen  über  die  sozialistische  Arbeiterbewegung 
unterrichten,  war  die  entschiedene  Stellungnahme  der 
Sozialisten  gegen  den  Anarchismus  beachtenswerth.  Die 
Grundprinzipien,  die  Taktik,  die  Ziele  des  Sozialismus 
sind,  wie  mit  Recht  auf  vielen  Versammlungen  am  1.  Mai 
betont  wurde,  grundverschieden  von  jenem,  es  giebt  keine 
Gemeinsamkeit  dieser  Parteien.  Dies  sollte,  da  Selbsttäu- 
schung das  stärkste  Hinderniss  richtigen  politischen  Handelns 
ist,  von  den  herrschenden  Klassen  anerkannt  werden,  wenn 
auch  aus  keinem  anderen  Grunde,  als  weil  die  Sozialdemo- 
kratie nur  desto  grössere  Siegeszuversicht  gewinnen  muss, 
je  deutlicher  sie  erkennt,  dass  ihre  Gegner  sich  über  die 
inneren  Verhältnisse  und  die  Gedankenrichtungen  der  Ar- 
beiterpartei aufs  Gröblichste  täuschen. 

Ist  die  Maifeier  auch  kein  statistischer  Massstab  für 
die  Verbreitung  und  Intensität  der  sozialistischen  Arbeiter- 
bewegung, so  ist  doch  sicherlich  aus  der  Gesammtheit  der 
Berichte  zu  schliessen,  dass  die  Stärke  der  Arbeiterbewe- 
gung in  keiner  Weise  abgenommen  hat.  Berücksichtigt 
man  die  ungünstigen  äusseren  Verhältnisse  der  diesjährigen 
Maifeier,  die  derselben  vorangegangenen  Dynamitatten- 
tate, die  Spaltungsbestrebungen  innerhalb  der  deutschen, 
deutsch -österreichischen,  tschechischen  und  ungarischen 
Arbeiterbewegung,  das  allerorts  ungünstige  Wetter  und 
die  schwere  Krisis,  unter  der  keine  Bevölkerungsschicht 
mehr  leidet,  als  die  gewerblichen  Arbeiter,  so  muss  die 
gleiche  Stärke  der  Arbeiterdemonstration  in  diesem  und 
dem  vorangegangenen  Jahre  den  Schluss  nahelegen,  dass 
die  Entwicklung  der  Arbeiterbewegung  gegen  das  voran- 
gegangene  Jahr  eher  Fortschritte  als  Rückschritte  gemacht  hat. 

Noch  immer  scheint  man  sich  nicht  klar  zu  sein,  dass 
die  Erkenntniss  der  Stärke  dieser  Bewegung  eine  der  wich- 
tigsten Vorbedingungen  jeder  planmässigen  Politik  in  unseren 
Tagen  sein  muss,  welches  auch  das  Ziel  dieser  Politik  sein 
mag.  Vielfach  suchte  man  diese  Demonstration  zu  verhin- 
dern und  zu  stören,  so  im  deutschen  Reiche  durch  Verbot 
von  Aufzügen,  obgleich  doch  die  Aufzüge,  die  stattfinden 
konnten,  in  der  grössten  Ruhe  und  Ordnung  vor  sich  gingen, 
wie  in  Hamburg,  wo  die  Theilnehmerzahl  auf  über  120  000, 
wie  in  London,  wo  sie  auf  500  000,  und  in  Wien,  wo  sie 
auf  80000  geschätzt  wurde.  Man  kann  doch  nicht  annehmen, 
dass  durch  derartige  Verbote  die  Arbeitermassen  etwa  über 
ihre  Stärke  getäuscht  werden  können.  Das  Gegentheil  Hesse 
sich  eher  annehmen.  In  Deutschland  wurden  auch,  so  in 
Sachsen, *Hn®  der  Umgebung  Berlin’s  und  anderwärts  am 
1.  Mai  Tanzunterhaltungen  untersagt.  Da  wir  nicht  anneh- 
men wollen,  dass  man  dadurch  die  Erbitterung  der  Arbeiter- 
massen steigern  wollte,  glauben  wir  das  Verbot  so  auslegen 
zu  dürfen,  dass  die  betreffenden  Behörden  meinten,  die 
Arbeiter  betheiligen  sich  nur  wegen  der  mit  der  Demon- 
stration verbundenen  J LTnterhaltungen  an  derselben.  Die 
rosse  Zahl  der  Theilnehmer  an  der  Feier,  auch  dort,  wo 
er  Tanz  verboten  war,  werden  die  Behörden  eines  besseren 
belehrt  haben. 

In  Budapest  verbot  man- alle  Versammlungen  am 
1 . Mai  und  auch  sonst  ging  man  in  Massregelungen  gegen 
die  Demonstration  vor. 


Bei  Beurtheilung  dieser  polizeilichen  Massnahmen  darf 
nicht  ausser  Auge  gelassen  werden,  dass  die  Pariser  Con- 
gressbeschlüsse  durchaus  nicht  revolutionärer  Natur  sind, 
und  ihre  Durchführung  in  jedem  Staatswesen  möglich  ist. 
Würde  man  dies  prinzipiell  anerkennen,  und  kein  staat- 
liches Interesse  steht  dem  im  Wege,  so  würde  die  Maifeier 
ihren  ganzen  Schrecken  verlieren. 

Uns  erscheint  die  Maifeier  als  Beweis  des  Beharrens 
der  Arbeiter  auf  ihrer  Forderung  eines  weitgehenden  Ar- 
beiterschutzes. Die  stete  Verbreitung  dieser  Idee  sollte  die 
herrschenden  Klassen  dazu  ermuntern,  durch  vernünftiges 
Entgegenkommen  die  grosse  soziale  Bewegung  in  ruhigere 
Bahnen  zu  drängen,  statt  durch  polizeiliche  Massregelungen 
die  Arbeitermassen  zu  verbittern  und  ihnen  jede  Hoffnung 
auf  eine  Bessergestaltung  ihrer  Verhältnisse  in  der  heutigen 
Wirtschaftsordnung  zu  entziehen. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Der  Stickereiverband  der  Ostschweiz  und  des  Vorarl- 
bergs. Am  1.  Mai  wurde  eine  Urabstimmung  der  Mitglieder 
des  Stickereiverbandes  vorgenommen,  in  der  über  die  Fort- 
existenz dieser  eigenartigsten  Berufsorganisation  der  Gegenwart 
abgestimmt  werden  sollte.  9 555  Mitglieder  betheiligten  sich  an 
der  Abstimmung,  von  denen  sich  6502  für  die  Aufrechterhaltung 
der  Organisation  und  bloss  3053  sich  dagegen  aussprachen, 
die  Majorität  war  besonders  in  der  Ostschweiz  sehr  gross, 
während  im  Vorarlberg  sich  die  Maschinenbesitzer  mit  Drei- 
viertelmehrheit für  die  Auflösung  aussprachen. 

Somit  bleibt  für  einen  bedeutenden  Produktionszweig  die 
Möglichkeit  gewahrt,  die  Produktion  zu  regeln,  übermässige 
Arbeitszeit  zu  verhindern,  das  Lehrlingswesen  zu  beschränken, 
die  Ausbeutung  der  Hausindustriellen  durch  die  Faktore  zu 
verhindern,  die  Leistungen  des  die  Industrie  und  die  Lage  der 
Hausindustriellen  befördernden  Industriefonds  fortdauern  zu 
lassen  und  die  Arbeiter  in  der  Hausindustrie  zu  Organismen- 

Eine  Auflösung  des  Stickereiverbandes  hätte  die  Pro- 
duktionsanarchie und  damit  bald,  ganz  abgesehen  von  den 
vielen  anderen  sozialen  Schäden,  die  äusserste  Verschärfung,  ja 
vielleicht  die  Unheilbarkeit  der  Krisis  herbeigeführt. 

Kongress  der  französischen  Eisenbahnarbeiter.  In  der 

Osterwoche  hielt  der  Verband  der  französischen  Eisenbahn- 
arbeiter und  Angestellten,  der  über  30  000  Mitglieder  zählt, 
in  der  Pariser  Arbeitsbörse  einen  Kongress  ab,  dessen 
Sitzungen  drei  Tage  in  Anspruch  nahmen.  Einzelne  Eisen- 
bahnverwaltungen versagten  den  Delegirten  den  für  die 
Kongresszeit  nöthigen  Urlaub,  wohl  in  der  Hoffnung  den 
Kongress  unmöglich  zu  machen.  Dieses  Vorgehen  ist  ein 
Verstoss  gegen  aas  Syndikatsgesetz  vom  21.  März  1884,  das 
den  Arbeitern  das  Recht  giebt,  sowohl  Gewerkschaften  wie 
Gewerkschaftsverbände  zu  bilden,  denn  wie  sollten  sie  \ er- 
bände  bilden  können,  wenn  die  Delegirten  der  einzelnen 
Gewerkschaften  verhindert  werden,  zu  einer  Konferenz  oder 
einem  Kongress  zusammenzutreten?  Allerdings  sagten  die 
Verwaltungen  nicht,  dass  sie  den  Kongress  verhindern 
wollen,  sondern  gaben  als  Grund  der  Urlaubsverweigeruno- 
den  grossem  Verkehr  während  der  Osterwoche  an,  obwohl 
der  Kongress  erst  am  Donnerstag  den  21.  April,  d.  i.  drei 
Tage  nach  dem  Osterfeste,  begann.  Nun  abgesehen  davon, 
dass  es  für  Jeden  einleuchtend  ist,  dass  der  Dienst  einer 
Eisenbahngesellschaft  nicht  mehr  darunter  leiden  kann, 
wenn  ein  paar  Mann  einen  Kongress  besuchen  als  wenn 
ein  Dutzend  oder  mehr  krank  werden,  wie  dies  ja  so  oft 
der  Fall  ist,  haben  die  Verwaltungen,  indem  sie  den  Urlaub 
anderen  Delegirten  ertheilten,  die  ihn  nicht  des  Kongresses 
halber  verlangt  hatten,  selbst  den  Beweis  erbracht,  dass  ihr 
angegebener  Verweigerungsgrund  nur  ein  Vorwand  war, 
um  den  Kongress  unmöglich  zu  machen,  was  indessen  ver- 
eitelt wurde.  Nichtsdestoweniger  hat  der  Kongress  mit 
Recht  gegen  dieses  Vorgehen  protestirt  und  eine  Dele- 
gation an  den  Ministerpräsidenten  entsendet,  um  gegen  die 
Verletzung  des  Syndikatsgesetzes  Verwahrung  emzulegen. 

Von  den  auf  dem  Kongress  behandelten  Fragen,  die 
zum  grossen  Theil  Statutenänderungen  und  sonstige  innere 
Angelegenheiten  betrafen,  wären  für  auswärtige  Kreise  nur 
zwei  hervorzuheben:  1.  die  betreffs  einer  Pensionskasse, 

2.  die  betreffs  der  Eisenbahn-Konsumvereine.  In  Bezug 
auf  erstere  Frage  wurde , anschliessend  an  einen  vom 
Abgeordneten  Maurice  Faure  vor  Kurzem  eingebrachten 


242 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  19. 


Gesetzentwurf,  betreffend  die  Entlassung  und  Pensionirung 
von  Eisenbahnbediensteten,  ein  Entwurf  zum  Beschluss  er- 
hoben, wonach  die  Regierung  im  Verlaufe  eines  Jahres, 
nachdem  der  Entwurf  Gesetzeskraft  erhalten,  eine  Verord- 
nung zu  erlassen  hat,  welche  die  Zeit  bestimmt,  die  nie 
ein  Jahr  übersteigen  darf,  binnen  welcher  ein  Eisenbahn- 
bediensteter fix  angestellt  werden  muss,  und  die  Gründe, 
unter  welchen  dieselben  entlassen  oder  in  eine  niedrigere 
Klasse  versetzt  werden  dürfen.  Ob  nun  ein  Angestellter 
entlassen  wird  oder  ob  er  freiwillig  den  Dienst  verlässt, 
soll  er  ein  Anrecht  auf  eine  im  Verhältniss  zu  seinen 
Dienstjahren  berechnete  Pension  haben.  Nach  fünfund- 
zwanzigjährigem, an  einen  bestimmten  Ort  gebundenen 
Dienst  soll  jeder  Angestellte,  ohne  Rücksicht  auf  sein  Alter 
und  ohne  Gehaltsabzüge,  seine  volle  Pension  erhalten, 
während  alle  sonstigen  Bediensteten,  wie  Lokomotivführer, 
Heizer  etc.  diese  Pension  schon  nach  zwanzigjährigem 
Dienst  erhalten  sollen.  Im  Falle  eingetretener  Arbeitsun- 
tauglichkeit soll  die  Pension,  nach  den  zurückgelegten  Dienst- 
jahren berechnet,  allsogleich  ausgefolgt  werden,  unbeschadet 
der  Entschädigung,  auf  die  der  Angestellte  wegen  Arbeits- 
unfalls sonst  noch  Anspruch  hat;  und  träte  der  Tod  ein, 
soll  diese  Pension  seiner  Wittwe  wie  seinen  unmündigen 
Kindern  gebühren.  Der  Schlussparagraph  des  Entwurfes, 
der  nun  dem  Abgeordnetenhause  unterbreitet  werden  soll, 
besagt,  dass  die  Verwaltung  der  Pensionskassen  einer 
Kommission  anvertraut  werden,  die  zu  einer  Hälfte  von  den 
Eisenbahnverwaltungen,  zur  anderen  von  den  Bediensteten 
zu  ernennen  sei  und  dass  der  Staat  den  Kassenfonds  zu 
kontrolliren  und  zu  garantiren  habe. 

In  Bezug  auf  die  Konsummagazine  hatten  sich  die 
meisten  Redner  gegen  dieselben  ausgesprochen,  weil  die 
Waaren  daselbst  theurer  wären  als  anderwärts,  während 
die  Delegirten  der  Südbahn  behaupteten,  dass  sie  ihre  Be- 
darfsartikel dort  bis  zu  30%  billiger  als  anderwärts  be- 
zögen. Der  Verbandsausschuss  hinwieder  sprach  sich  da- 
für aus,  dass  es  am  besten  wäre,  wenn  in  jeder  Sektion 
ein  eigener  Konsumverein  gegründet  würde,  weil  dadurch 
der  Nutzen  allen  gleichmässig  zu  Theil  würde.  Er  befür- 
wortete indess  vorläufig  um  so  weniger  Stellung  gegen  die 
von  den  Eisenbahnverwaltungen  errichteten  Konsumver- 
eine zu  nehmen,  als  es  Jedem  freistehe,  denselben  beizu- 
treten oder  nicht,  in  welchem  Sinne  denn  auch  der  Kon- 
gress schliesslich  entschieden  hatte. 

Nicht  unbemerkt  bleibe,  dass  der  Verband,  der  sich 
sehr  rührig  zeigt,  seit  Kurzem  ein  eigenes  Organ  heraus- 
giebt:  „Le  Reveil  des  Travailleurs  de  la  Voie  ferree“, 

das  vorläufig  alle  vierzehn  Tage  erscheint,  aber  sobald  es 
die  Verhältnisse  gestatten,  in  ein  Wochenblatt  umgestaltet 
werden  soll. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Ausführung:  der  neuen  Gewerbe-Ordnung  für  das  deutsche 
Reich.  Die  Durchführung  der  G.-O.  ist  eben  im  vollen  Gange; 
interessant  zu  beobachten  ist  dabei  die  Bewährung  der  Arbeits- 
ordnungen in  der  Praxis.  Nachdem  am  28.  April  derjenige 
Termin  abgelaufen  ist.  bis  zu  welchem  nach  der  neuen  Gewerbe- 
ordnung Fabrik-  und  ihnen  gleichstehende  Betriebe  dem  Gesetz 
entsprechende  Arbeitsordnungen  „nach  Anhörung  der  Arbeiter“ 
erlassen  müssen,  dringen  bereits  Nachrichten  über  offene  oder 
versteckte  Differenzen  in  die  Oeffentlichkeit,  welche  zwischen 
Unternehmern  und  Arbeitern  aus  diesem  Anlass  entstanden 
sind.  So  in  Hanau  in  der  Schmucksachenbranche,  namentlich 
wegen  zu  kurz  bemessener  Arbeitspausen  und  wegen  einer 
Klausel,  welche  dem  Unternehmer  das  Recht  beliebiger  Arbeits- 
und Verdienstverkürzung  gegen  einen  gekündigten  Arbeiter 
sichern  soll;  in  Schloss-Chemnitz  wegen  überlanger  Arbeits- 
zeit (von  4 Uhr  Morg.  bis  7 Uhr  Ab.),  welche  sich  eine  Brauerei 
ausbedang;  in  Berlin  bei  der  Stockfabrikation  wegen  Aus- 
dehnung des  Arbeitstages  von  9 auf  10  Stunden,  und  in  einer 
Gewehrfabrik,  die  lange  Lohnfristen  und  lästige  Visitations- 
bestimmungen für  die  Arbeiter  einführen  will;  ferner  sind  in 
der  Porzellanfabrik  zu  Altwasser  Differenzen  entstanden,  in 
Folge  deren  ein  Theil  der  weiblichen  Kräfte  die  Arbeit  ein- 
stellte; sie  wurden  sämmtlich  entlassen;  in  Grossenhain,  weü 
sich  eine  Fabrik  die  sofortige  Entlassung  der  Arbeiter  vor- 
behielt, wenn  ein  Theil  derselben  oder  die  Arbeiterschaft 
anderer  Fabriken  strikt;  in  Döhlen  bei  Dresden,  weil  die  neue 
Arbeitsordnung  einer  Maschinenfabrik  die  Beschäftigten  zur 
Denunziation  ihrer  Kollegen  veranlassen  und  die  politische 
Bewegungsfreiheit  derselben  durch  die  Drohung  mit  der  Ent- 


lassung beeinträchtigen  will.  Nur  in  zwei  Fällen  kam  es  bis 
jetzt  zu  ernsten  Konflikten,  in  Aachen  und  in  Eupen  be- 
gannen Weber  ebenso  wie  die  Arbeiterinnen  in  Altwasser 
wegen  einer  neuen  Arbeitsordnung  einen  Ausstand  In  den 
meisten  übrigen  Fällen  appellirten  die  Arbeiter  vorläufig  an  die 
Behörden,  welchen  die  Prüfung  der  Arbeitsordnungen  obliegt 
und  von  denen  die  Streichung  der  ungesetzlichen  Vorschriften 
erwartet  wird  Aus  dieser  Prüfung  dürfte  den  Behörden  eine 
ganz  erkleckliche  Arbeit  erwachsen.  Das  ergiebt  sich  auch  aus 
einem  Bescheid  der  Aachener  Behörde,  der  bekannt  ge- 
worden ist.  Gegen  die  von  der  Handelskammer  für  Aachen 
und  Burtscheid  vorgeschlagene  „Normal- Arbeitsordnung“  hat 
nämlich  die  dortige  Polizeibehörde  folgende  Einwendungen  er- 
hoben: 1.  gegen  § 6.  Der  Absatz  2 verpflichtet  den  Arbeiter 

einseitig  zu  verdienstlosem  Verbleiben  im  Arbeitsverhältniss  für 
zwei  Tage  hinter  einander,  eventuell  drei  Tage  innerhalb  vier- 
zehntägiger Lohnperiode,  während  der  Arbeitgeber  den  Arbeiter 
unter  den  an  anderen  Orten  angegebenen  Voraussetzungen  so- 
fort ausser  Lohn  und  Arbeit  setzen  kann.  Nach  § 122  der  Ge- 
werbeordnung müssen  die  Aufkündigungsfristen  für  beide 
Theile  gleiche  sein.  2.  gegen  § 25.  Dieser  § 25  verletzt  inso- 
fern das  Ehrgefühl  der  Arbeiter  bezw.  die  guten  Sitten  (§  144b 
Abs  2 der  Gewerbeordnung),  als  er  das  Anzeigen  aller  Be- 
schädigungen, auch  der  unbeabsichtigten,  am  Eigenthum  der 
Fabrik  oder  der  Mitarbeiter  unter  Strafandrohung  fordert.  Die 
Behörde  schlägt  Streichung  des  § 25  oder  etwa  folgende  Fassung 
vor:  „Allen  Arbeitern  wird  es  strengstens  zur  Pflicht  gemacht, 
die  zu  ihrer  Kenntniss  gelangenden  Veruntreuungen,  Diebstähle 
und  böswilligen  Beschädigungen  am  Eigenthum  der  Fabrik  als- 
bald anzuzeigen.  Das  Gleiche  gilt  von  den  innerhalb  der  Fabrik 
verübten  Veruntreuungen,  Diebstählen  und  böswilligen  Be- 
schädigungen am  Eigenthum  der  Mitarbeiter“  u.  s.  w.  3 gegen 
§ 31  Abs.  2 und  Abs.  5 Bei  Absatz  2 Linie  4 wünscht  die  Be- 
hörde vor  Verstössen  das  Wort  „erheblichen“  eingeschaltet,  und 
bei  Absatz  5 soll  angegeben  werden,  ob  die  Geldstrafe  der 
Krankenkasse  oder  der  Unterstützungskasse  zufliessen  soll. 
Auch  soll  bestimmt  angegeben  werden,  für  welche  Zwecke  dje 
Strafgelder  Verwendung  finden.  Sonstige  Meldungen  über  die 
Durchführung  der  neuen  Gewerbeordnung  beziehen  sich  nament- 
lich auf  den  elfstündigen  Maximalarbeitstag  der 
Frauen,  die  dort,  wo  sich  Mann  und  Frau  in  die  Llände  ; 
arbeiten,  also  namentlich  in  Textilfabriken,  den  Arbeitstag  der 
Männer  direkt  beeinflusst.  So  werden  dem  Vernehmen  nach  in 
verschiedenen  Geraer  Fabriken  Frauen  seit  dem  1.  April  ( 
nicht  mehr  angenommen,  die  bisher  beschäftigten  nach  und  , 
nach  entlassen.  „Auch  eine  Folge  des  Arbeiterschutzgesetzes“, 
wie  aus  Gera,  die  Nachricht  erläuternd,  hinzugefügt  wird. 
Ferner  ist  in  mehreren  Grünberger  Tuchfabriken  den  nicht 
in  Akkordarbeit  stehenden  Arbeitern  auf  Grund  der  Verkürzung 
der  Arbeitszeit  durch  das  Arbeiterschutzgesetz  der  Wochenlohn 
herabgesetzt  worden  Eine  der  Bestätigung  bedürftige  Mel-  j 
düng,  welche  sich  auf  die  N a c h t a r b e i t der  Frauen  be- 
zieht, bringt  der  „Confektionär“.  Demnach  sei  eine  generelle  l 
Ausnahme  von  dem  Verbot  der  Nachtarbeit  sämmtlichen  Woll-  ; 
kämmereien  ertheilt  worden,  während  die  Spinnereien,  welche  ; 
daneben  Kämmereien  unterhalten,  für  die  fragliche  Abtheilung  . 
ihres  Betriebes  die  gleiche  Bevorzugung  nicht  erlangen  konnten. 
Die  Spinnereien,  deren  Bedürfnisse  durch  die  eigenen  Käm- 
mereien nicht  gedeckt  werden  können,  müssen,  da  ihnen  Nacht- 
arbeit nicht  gestattet  worden  ist,  ihren  Bedarf  von  den  Woll- 
kämmereien decken,  welche  die  Nachtarbeit  ruhig  fortführen 
dürfen.  In  der  letzten  Plenarsitzung  der  Handelskammer  von 
Lüdenscheid  endlich  wurde  über  die  gesetzlich  vor- 
geschriebene frühere  Entlassung  der  Arbeiterinnen  am  Samstag 
Abend  '5'2  Uhr)  verhandelt.  Diese  Vorschrift  werde  von  den 
Unternehmern  „übel  empfunden“.  Unter  Bezugnahme  auf  einen 
früheren  gutachtlichen  Bericht  hat  in  einer  Eingabe  an  den 
Reichskanzler  die  Kammer  gebeten,  für  die  dortige  Industrie, 
nach  Massgabe  des  § 139  der  Gewerbeordnung  Ausnahmen  zu 
gestatten  und  zwar  nicht  nur  im  Interesse  des  Betriebes,  „son- 
dern auch  der  Arbeiter“.  Der  Reichskanzler  erklärte,  dass  Aus- 
nahmen wohl  für  einzelne  Fabriken,  nicht  aber  für  ganze 
Fabrikationszweige  gestattet  werden  könnten,  womit  die  Sache  j 
ihre  Erledigung  gefunden  zu  haben  scheint  Jedenfalls  ist  es  i 
sehr  bezeichnend  für  die  deutschen  Unternehmer,  dass  die 
Durchführung  so  überaus  milder  Abeiterschutzvorschriften  be- 
reits so  viele  Umstände  macht. 

Enquete  über  die  Sonntagsruhe  im  Deutschen  Reiche.  Es 

giebt,  heisst  es  in  einer  offiziösen  Kundgebung  der  „Berliner  Politi- 
schen Nachrichten“,  eine  ganze  Anzahl  von  Gewerben,  in  denen 
die  verschiedensten  Arbeiten  nicht  unterbrochen  oder  aufge- 
schoben werden  können.  Für  diese  ist  der  § 105d  der  Ge- 
werbeordnungsnovelle geschaffen.  Es  kommt  nun  jedoch  da- 
rauf an,  die  Arbeiten,  welche  die  angegebene  Natur  haben,  im 
Einzelnen  festzustellen,  um  zu  übersehen,  welche  Ausnahmen 
seitens  des  Bundesrathes  gemacht  werden  müssen.  Zur  Prü- 
fung dieser  Angelegenheit  liegt  in  den  Eingaben  der  verschie- 
densten industriellen  und  gewerblichen  Vereinigungen,  die  bis- 
her an  den  Bundesrath  gelangt  sind,  umfassendes  Material  vor. 
Da  hierbei  jedoch  gerade  technische  Erwägungen  eine  grosse 
Rolle  spielen  werden  und  diese  sich  im  mündlichen  Gedanken- 
austausch besser  als  im  schriftlichen  Vorbringen  lassen,  so  hatte 


No.  19. 


SOZI  AI  .POLITISCHES  CENTRAT  .BLATT. 


243 


man  schon  vor  einiger  Zeit  die  Berufung  einer  Konferenz  von 
Vertretern  der  für  den  § 105  d in  Betracht  kommenden  Gewerbs- 
zweige  in  Aussicht  genommen  Die  Vorbereitungen  hierfür  sind 
im  Gange.  Erst  wenn  die  Arbeiten  nach  dieser  Richtung  zu 
einem  Abschluss  gediehen  sein  werden,  wird  man  übersehen 
können,  zu  welchem  Zeitpunkte  die  Festsetzung  des  Inkraft- 
tretens der  Sonntagsruhevorschriften  für  Industrie  und  Hand- 
werk ins  Auge  gefasst  werden  kann. 


Zweite  Berathung  der  Berggesetznovelle  im 
preussischen  Abgeordnetenhause. 

Die  sozialpolitische  Signatur  dieser  seit  dem  3.  Mai, 
gerade  drei  Jahre  nach  Ausbruch  des  grossen  rheinisch- 
westfälischen Bergarbeiterausstandes,  begonnenen  Berathung 
ist  genau  dieselbe,  wie  diejenige  der  Kommissionsberathun- 
gen, aus  welchen  wir  an  anderer  Stelle  zwei  Stichproben 
geben:  äusserste  Einschränkung  der  von  der  Regierung  vor- 
geschlagenen und  ohnedies  kärglich  genug  ausgefallenen  Berg- 
arbeiterschutzvorschriften. Die  zwei  ersten  Sitzungen  sind 
in  Folge  dieses  Bestrebens  der  zechenfreundlichen  Mehrheit, 
zu  welcher  die  Regierung  durchaus  keine  ablehnende  oder 
gegnerische  Haltung  einnahm,  fast  ausschliesslich  ausgefüllt 
worden  mit  langwierigen  Debatten  über  die  blosse  Beurkun- 
dung des  Arbeitsvertrages  zwischen  Zeche  und  Bergmann  in 
der  Arbeitsordnung.  Es  dreht  sich  dabei  zunächst  nirgends 
um  irgendwelche  materielle  Arbeiterschutzbestimmungen, 
sondern  nur  um  das  Ausmaass  dessen,  was  dem  Arbeiter  vom 
Grubenunternehmar  vor  Beginn  der  Arbeit  schriftlich  und  bin- 
dend als  Arbeitsbedingung  bekannt  gegeben  werden  soll. 
Einige  wenige  Abgeordnete  wollten  unter  Verzicht  auf  jeden 
anderen  Verbesserungsantrag  lediglich  jenes  Ausmaass  so  ge- 
stalten, wie  es  die  bescheidene  Regierungsvorlage  vorschlug, 
während  die  Mehrheit  der  Abgeordneten  dasselbe  so  viel  wie 
möglich  zu  beschränken  suchten,  und  zwar  meist  mit  Erfolg. 
Ohne  jede  Debatte  genehmigte  das  Plenum  zunächst  den  Zu- 
satz der  Kommission  zu  § 80b,  Ziffer  1,  dass  die  Bestimmung 
der  Arbeitsordnung  über  das  Maass  der  von  den  Arbeitern  zu 
leistenden  Ueberschichten  nicht  gilt  für  „Fälle  der  Aus- 
führung von  Nothar  beite  n“.  Diese  Abweichung  von  der 
Regierungsvorlage  wurde  gutgeheissen,  ohne  dass  der  Ausdruck 
„Notharbeiten“  irgendwie  gesetzlich  definirt  worden  wäre. 
Ziffer  2 desselben  Paragraphen  enthielt  in  der  Regierungs- 
vorlage die  Vorschrift,  dass  die  Arbeitsordnung  nicht  bloss  die 
zu  Lohnabmachungen  ermächtigten  Personen  und  die  Beurkun- 
dung und  Bekanntmachung  des  Lohnvertragsabschlusses  aus- 
drücklich bestimmen,  sondern  auch  die  Art  der  Lohnbemes- 
sung und  die  Maass-  oder  Gewichtseinheit,  welche  dem 
Vertrag  zu  Grunde  gelegt  wird,  angeben  sollte.  Letzteres  hatte 
die  Kommission  gestrichen.  Das  Plenum  bestätigte  diese  Strei- 
chung in  der  Hauptsache  und  beschloss  nur  eine  Vorschrift,  wo- 
nach die  Art  der  Lohnberechnung  für  den  besonderen  Fall  in 
der  Arbeitsordnung  angegeben  sein  muss,  in  welchem  eine 
Vereinbarung  nicht  zu  Stande  kam  und  doch  fortgearbeitet 
wurde  Der  Abgeordnete  Schmieding  wiederholte  in  der  De- 
batte den  bequemen  Grundsatz  der  Zechenvereinigungen,  alle 
diejenigen  Gesetzesneuerimgen  „gutzuheissen“,  welche  lediglich 
Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  nachgeschrieben  sind,  und 
hätte  von  diesem  Standpunkte  aus  folgerichtig  eigentlich  die 
Nothwendigkeit  eines  besonderen  Berggesetzes  überhaupt  ver- 
neinen müssen.  Deshalb  erklärte  der  Abgeordnete  Ritter,  Werk- 
direktor des  schlesischen  Fürsten  Pless,  die  ablehnende  Hal- 
tung wohl  richtiger  damit,  „dass  die  Autorität  der  Arbeitgeber 
und  Beamten  aufrecht  erhalten  bleiben  solle  zum  Wohle  (!'  der 
Arbeiter“,  wobei  er  freilich  wiederum  jeden  Nachweis  dafür 
schuldig  blieb,  dass  die  von  der  Regierung  für  den  Inhalt  der 
Arbeitsordnung  vorgeschlagene  Vorschrift  die  genannte  „Auto- 
rität“ erschüttere,  namentlich  erschüttere  „zum  Schaden  der 
Arbeiter“.  In  Ziffer  3 desselben  Paragraphen  wollte  die  Re- 
gierung vorschreiben,  dass  die  Arbeitsordnung  bestimmen  solle 
auch  über  die  Voraussetzungen,  unter  welchen  Ab- 
züge wegen  ungenügender  oder  unvorschriftsmässiger  Ar- 
beit gemacht  werden  dürfen,  sowie  über  die  Verwen- 
dung der  in  Folge  solcher  Anordnungen  bei  der  Ab- 
rechnung in  Abzug  gebrachten , unmittelbar  verwendbaren 
Produkte  oder  der  dafür  berechneten  Geldbeträge“.  Die  Be- 
gründung der  Regierungsvorlage  beruft  sich  hierfür  auf  die 
amtliche  Denkschrift  über  die  Bergarbeiterverhältnisse  etc.  von 
1889  (S.  26 — 30),  welche  dort  trotz  ihrer  grossen  Lückenhaftigkeit 
das  Misstrauen  der  Arbeiter  über  das  bis  jetzt  beliebte  Abzugs- 
verfahren für  sehr  begreiflich  erklärt  und  zu  dem  Schlüsse 
kommt,  „dass  zur  Vermeidung  jeglicher  Willkür  die  Voraus- 


setzungen des  Nullens,  sowie  dessen  Formen  in  den  Arbeits- 
ordnungen aufs  Genaueste  festgele gt  werden“  müssen.  Die 
Kommission  des  Abgeordnetenhauses  strich  diese  Bestimmungen 
völlig  aus  der  Novelle,  und  zwar  aus  vier  auf  den  ersten  Blick 
als  gänzlich  unstichhaltig  erscheinenden  Gründen:  weil  die 
Reichsgewerbeordnung  nichts  Aehnliches  enthalte,  obgleich  solche 
Abzüge  in  anderen  Gewerben  „in  noch  viel  härterer  Weise 
gemacht  würden“,  womit  sich  also  der  Bergbau  hinter  den 
Missbräuchen  anderer  Gewerbe  zu  verschanzen  nicht  verschmähte ; 
zweitens,  weil  damit  „ein  nicht  zu  rechtfertigendes  Misstrauen 
gegen  die  Ehrenhaftigkeit  der  Bergwerksbesitzer  und  ihrer  Ver- 
treter ausgesprochen  werde“,  als  ob  die  „Ehrenhaftigkeit“  irgend- 
welche bindende  Vorschrift  zu  scheuen  hätte;  drittens,  weil  die 
Novelle  dadurch  „mit  Einzelheiten  überlastet“  werde,  was  natür- 
lich gegen  die  materielle  Nothwendigkeit  der  Vorschrift  nicht 
das  Geringste  besagt;  und  viertens,  weil  es  ein  „fehlsames 
Bestreben  sei,  auf  der  zu  schmalen  Unterlage  der  Denkschrift- 
ergebnisse allgemein  verbindliche  Gesetzesvorschritten  aufzu- 
bauen“, was  der  Wahrheit  entsprechend  dahin  zu  berichtigen 
ist,  dass  die  Denkschrift  viel  zu  „schmale  Ergebnisse“  bezüglich 
des  Umfangs  der  vorhandenen  Missstände  lieferte,  so  dass  die 
wenigen,  welche  sie  feststellt,  ganz  sicher  im  weitesten  Maasse 
vorhanden  sind  und  empfunden  werden,  also  auch  sehr  gründ- 
licher Abhilfe  bedürften.  Von  diesen  zutreffenden  Gesichtspunkten 
liessen  sich  offenbar  auch  die  Abgeordneten  Hitze  und  Eberty 
leiten,  deren  Anträge  zusammengenommen  weiter  nichts  als  den 
Text  der  Regierungsvorlage  wieder  hergestellt  hätten;  freilich 
kompromittirte  der  Abg.  Hitze  von  vornherein  diese  Anträge 
dadurch,  dass  er  den  Antrag  Eberty  auf  Herstellung  des  letzten 
Theils  der  Ziffer  3 der  Regierungsvorlage  im  Streben  nach  einem 
Kompromiss  bekämpfte,  worauf  dieser  Antrag  zurückgezogen 
wurde.  Es  blieb  also  von  vornherein  nur  die  Entscheidung 
darüber  zu  treffen,  ob  die  „Voraussetzungen“  für  Abzüge  (Nullen) 
in  der  schriftlichen  Arbeitsordnung  angegeben  werden  sollen. 
Obgleich  nun  der  Abgeordnete  von  Bockeiberg  feststellte,  dass 
das  Nullen  bei  Weitem  nicht  in  allen  preussischen  Bergwerken 
geübt  wird,  also  keine  unbedingte  Nothwendigkeit  des  Betriebes 
sein  kann,  setzte  das  Plenum  in  die  von  der  Kommission  ge- 
schaffene Lücke  doch  lediglich  nach  Antrag  des  Abg.  Ham- 
macher  eine  halbe  Vorschrift  ein,  nach  welcher  statt  der  „Vor- 
aussetzungen“ für  das  Nullen,  wie  die  Regierungsvorlage  wollte, 
lediglich  „die  Fälle,  in  denen“  das  Nullen  vorgenommen  wird, 
in  der  schriftlichen  Arbeitsordnung  anzugeben  sind,  womit  die 
Feststellung  und  Kontrolle  des  Maasses  von  vorschriftswidriger 
und  Abzüge  rechtfertigender  Arbeit,  wie  sie  der  Abg.  Dasbach 
für  nothwendig  bezeichnete,  entgültig  abgelehnt  waren.  Und 
dieses  Amendement  wurde  aufs  Lebhafteste  unterstützt  vom 
preussischen  Handelsminister,  der  damit  nicht  einmal  an  den 
„schmalen“  Ergebnissen  der  Denkschrift  und  an  seiner  eigenen 
Vorlage  in  vollem  Umfange  festhielt.  Zu  § 80c  wurde  ein  An- 
trag Hitze  und  Genossen  mit  130  gegen  100  Stimmen  abgelehnt, 
der  die  Abschi üs se  über  bergmänrische  Akkordarbeiten  in 
einem  allen  Arbeitergruppen  zur  gegenseitigen  Kontrolle  zu- 
gänglichen Gedingebuch  verzeichnet  haben  wollte,  wobei 
der  Abg.  Stötzel,  der  bekanntlich  praktischer  Bergmann  war, 
vergeblich  hervorhob,  „dass  fast  in  jeder  kleinen  Fabrik  der 
Arbeiter  seinen  Akkordschein  bekommt,  und  so  genau  weiss, 
was  er  verdient“.  Die  Mehrheit  begründete  ihre  Ablehnung  da- 
mit, dass  die  mündliche  Vereinbarung  genüge  und  das  Ver- 
langen der  Schriftlichkeit  „zu  weit  ginge“;  der  Regierungsver- 
treter liess  sogar  die  eventuelle  Stempelpflichtigkeit  schriftlicher 
Abmachungen,  aus  welcher  „eine  unerwünschte  Belastung  ent- 
stehen“ würde,  als  Schreckgespenst  im  Hintergründe  aufsteigen. 
In  § 80d  hatte  die  Regierungsvorlage  die  eigentlich  selbstver- 
ständliche Vorschrift  gehabt,  dass  Strafgelder  und  Lohn- 
abzüge ausser  an  die  Knappschaftskassen  an  Unterstützungs- 
kassen der  einzelnen  Werke  nur  abgeführt  werden  dürften, 
„wenn  bei  ihrer  Verwaltung  die  Arbeiter  mitbetheiligt 
sind,  wenn  sie  dem  Oberbergamte  in  einer  von  diesem  vorge- 
schriebenen Form  eine  jährliche  Uebersicht  ihrer  Einnahmen, 
Ausgaben  und  des  Vermögensstandes  einreichen  und  dieselbe 
auch  zur  Kenntniss  der  Arbeiter  bringen“.  In  einer  besonderen 
Notiz  dieses  Blattes  sind  die  wenig  stichhaltigen  Gründe  mit- 
getheilt,  aus  welchem  die  Kommission  diese  durch  die  amtliche 
Denkschrift  wohlbegründeten  Vorschriften  streichen  zu  müssen 
glaubte.  Im  Plenum  wurde  von  dem  Abgeordneten  Hitze  und 
Genossen  nur  der  erste  Theil  der  gestrichenen  Vorschrift 
als  Antrag  wieder  aufgenommen,  die  oberbergamtliche  Auf- 
sicht aber  von  vornherein  fallen  gelassen.  Aber  selbst 
dieser  Antrag  fand  die  Genehmigung  der  Mehrheit  nicht, 
nachdem  wiederum  der  Handelsminister  seine  eigene  Vor- 
lage auch  in  diesem  Theile  preisgab,  „weil  die  Gewerbe- 
ordnung eine  solche  Bestimmung  nicht  enthält.“  Die  Debatte 


244 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  19. 


endigte  vielmehr  mit  der  Annahme  eines  Antrages  des  Abge- 
ordneten Hammacher,  nach  welchem  sowohl  Regierungsvorlage 
als  Kommissionsbeschlüsse  noch  ein  weiteres  Stück  dahin  ver- 
schlechtert werden,  dass  allein  die  Betriebskassen  der  Gruben,  nicht 
einmal  mehr  die  Knappschaftskassen  mit  ihren  Knappschaftsälte- 
sten, die  Strafgelder  erhalten,  und  zwar  ohne  dass  die  Gruben- 
verwaltungen den  Arbeitern  irgendwelches  Mitverwaltungsrecht 
einzuräumen  brauchen.  Danach  müsste  es  Wunder  nehmen,  dass 
die  folgenden  Paragraphen,  namentlich  § 80  f,  welcher  von  einer 
bestimmten  Frist  an  die  Anhörung  der  Arbeiter  bezüglich 
der  Arbeitsordnung  vorschreibt,  im  Plenum  unverändert  nach 
der  Regierungsvorlage  genehmigt  wurden,  wenn  man  nicht  wüsste, 
dass  die  meisten  Gruben  bereits  vor  dieser  Frist  mit  Umgehung 
der  Arbeiter  Arbeitsordnungen  erlassen  haben  bezw.  erlassen 
werden.  Zu  einer  längeren  Debatte  gab  dann  wieder  § 80  k 
Anlass,  der  in  der  Regierungsvorlage  u.  A.  vorgeschrieben  hatte, 
dass  gleiche  Fördergefässe  benutzt  werden  müssen,  wenn 
die  Arbeiterleistung  aus  Zahl  und  Rauminhalt  dieser  Gefässe  be- 
stimmt wird,  sowie  dass  die  letzteren  gleiche  Form  und  gleichen 
Inhalt  haben  müssen,  wenn  die  Förderungsleistung  nach  dem 
Gewicht  bestimmt  und  nicht  jedes  einzelne  Gefäss  gewogen  wird. 
Auch  diese  Bestimmungen  hatte  die  Kommission  gestrichen  und 
dies  mit  der  Gefahr  einer  „Erschütterung  des  Arbeitervertrauens“, 
mit  der  Misslichkeit  eines  „lästigen  Eindringens  in  die  Einzel- 
heiten des  Betriebes“  und  mit  der  technischen  Unmöglichkeit 
„begründet“,  bei  der  Verschiedenheit  der  Fördergänge  nur  einerlei 
Gefässe  zu  führen.  Im  Plenum  wurde  von  derselben  Seite  als 
vierter  „gewichtiger“  Grund  gegen  die  Vorschriften  vom  Abge- 
ordneten Ritter  die  „Entwerthung  des  in  die  verschiedenartigen 
Fördergefässe  hineingesteckten  Anlagekapitals“  erwähnt.  Es  ist 
schwer,  diese  „Gründe“  ernst  zu  nehmen.  Vom  einzigen  „Kapital“ 
des  Arbeiters  und  der  regelrechten  Bezahlung  seiner  Ausnutzung 
war  niemals  die  Rede.  Ausserdem  widerlegte  der  Abgeordnete 
Hammacher  denEinwand  der  „Entwerthung“  unfreiwillig  dadurch, 
dass  er  mittheilte,  die  Gruben  entschlössen  sich  häufig  dazu,  an 
Stelle  des  vorhandenen  Betriebsmateriales  neues  von  anderem 
Umfange  zu  setzen,  womit  er  bewies,  dass  es  den  Gruben  auf 
die  „Entwerthung“  garnicht  ankommt,  sobald  nur  ihr  Interesse 
allein  im  Spiele  ist.  Was  die  technische  Unmöglichkeit  betrifft, 
so  th eilte  Oberberghauptmann  Freund  unter  allgemeiner  Bewe- 
gung des  Hauses  mit,  dass  auf  den  staatlichen  Saarkohlengruben 
ohne  jeden  Anstand  im  Betriebe  stets  nur  Fördergefässe  von 
gleichem  Rauminhalt  verwendet  würden.  Aber  Handelsminister 
von  Berlepsch  betonte  das  unbegrenzte  Vertrauen,  welches  die 
Regierung  auf  die  Redlichkeit  im  Betriebe  der  preussischen 
Privatgruben  habe,  anlässlich  einer  Bemerkung  des  Abgeordneten 
Dr.  Meyer  so  stark  und  äusserte  dabei  ganz  im  Sinne  der  Unter- 
nehmereingaben gegen  das  Gesetz  so  lebhaft  seine  Ueberzeugung, 
dass  „Betrug  im  Handel  und  Gewerbe  an  anderen  Stellen  sehr 
viel  häufiger  vorkomme,  als  bei  den  Bergwerksbesitzern  gegen- 
über ihren  Arbeitern“,  dass  es  bei  der  Streichung  der  Regierungs- 
vorlage blieb  und  die  Anträge  der  Abgeordneten  Hitze  und 
Genossen  auf  Wiederherstellung  derselben  mit  179  gegen  99 
Stimmen  abgelehnt  wurden.  Der  Abgeordnete  Hitze  hatte  vorher 
erklärt,  dass  seine  Partei  (Centrum)  gegen  das  ganze  Gesetz 
stimmen  müsse,  wenn  diese  Anträge  nicht  angenommen 
würden.  Es  bleibt  also  nach  dem  Willen  der  Zechen  dabei, 
dass  die  verschiedenartigsten  Gefässe  benutzt  werden  und  nur 
ihr  Rauminhalt  bezw.  Leergewicht  ersichtlich  gemacht  werden 
muss.  In  den  §§  81  ff.  genehmigte  sodann  das  Plenum  unver- 
ändert den  Wortlaut  der  Regierungsvorlage,  welche  die  Gründe 
zur  sofortigen  Entlassung  bezw.  zum  sofortigen  Austritt 
in  einer  für  die  Arbeiter  höchst  unbilligen  Weise  regeln,  ebenso 
die  Beibehaltung  des  obligatorischen  Arbeitszeugnisses 
auch  für  erwachsene  Bergleute,  obgleich  der  einzige  für  diese 
Beibehaltung  ins  Feld  geführte  Grund,  die  technische  Sicherheit 
des  Betriebes,  die  durch  eine  Kontrolle  des  Vorlebens  der  Ar- 
beiter garantirt  werde,  in  der  Schlussdebatte  des  zweiten  Bera- 
thungstages  (4.  Mai)  gleich  wieder  preisgegeben  wurde.  Hier 
bemerkte  u.  A.  Handelsminister  von  Berlepsch  persönlich,  dass 
im  Oberbergamtsbezirk  Dortmund  allein  während  des  Jahres  1890 
nicht  weniger  als  10  800  Arbeiter  beim  Bergbau  neu  eingestellt 
worden  seien,  die  „dazu  in  keiner  Weise  angelernt  waren“,  die 
„aus  Provinzen  stammen,  wo  sie  Nichts  mit  Bergbau  zu  thun 
gehabt  haben“.  Aus  dieser  beredten  Thatsache  wollten  die  Ab- 
geordneten Hitze  und  Genossen  noch  einen  anderen  Schluss 
gezogen  haben,  indem  sie  beantragten:  „Bergwerksbesitzer  oder 
deren  Stellvertreter  dürfen  mit  der  selbständigen  Ausführung 
von  Arbeiten,  welche  Leben  und  Gesundheit  der  Mitarbeiter 
gefährden  können,  nur  solche  grossjährige  Arbeiter  betrauen, 
welche  den  Nachweis  erbringen,  dass  sie  für  die  bezüglichen 
Arbeiten  befähigt  sind.  In  Steinkohlen-Bergwerken  dürfen  als 
Vollhäuer  nur  solche  Bergarbeiter  beschäftigt  werden,  welche 


im  Steinkohlen-Bergbau  mindestens  drei  Jahre  als  Lehrhäuer 
thätig  sind.  Die  näheren  Vorschriften  erlässt  das  Oberbergamt.“ 
Unter  platonischen  Versicherungen  des  Wohlwollens  für  diesen 
Antrag  wurde  derselbe  als  nicht  genügend  vorbereitet  abgelehnt, 
obgleich  der  Abgeordnete  von  Erffa  seine  agrarische  Sympathie 
für  das  Amendement  deshalb  kundgab,  weil  dem  Gutsbesitzer 
„Nichts  damit  gedient  sei,  dass  die  westfälischen  Gruben- 
besitzer Arbeiter  aus  den  östlichen  ländlichen  Bezirken  heran- 
gezogen haben.“ 

In  der  Verhandlung  des  dritten  Berathungstages  (5.  Mai) 
wurden  die  §§  85a -h,  welche  das  Arbeitsbuch  betreffen,  sowie 
§ 86,  welcher  die  Verleitung  zur  unrechtmässigen  Aufgabe  der 
Arbeit,  § 87,  welcher  den  Besuch  der  Fortbildungsschulen 

betrifft,  und  §§  88—93,  welche  die  Verhältnisse  der  Aufsichts- 
beamten regeln  werden,  ohne  Debatte  angenommen,  ebenso  die  | 
Aenderung  der  §§  77,  189  und  196  des  Berggesetzes,  betreffend 
die  Befugnisse  der  Bergbehörden. 

Die  Debatte  bewegte  sich  hauptsächlich  um  § 197  und  die 
zu  demselben  beantragte  Resolution  der  Abgeordneten  Hitze  | 
und  Genossen.  § 197  soll  nach  dem  Anträge  der  Kommission 
folgende  Fassung  erhalten:  „Für  solche  Betriebe,  in  welchen 
durch  übermässige  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  die  Gesund- 
heit der  Arbeiter  gefährdet  wird,  können  die  Oberbergämter 
Dauer,  Beginn  und  Ende  der  täglichen  Arbeitszeit  und  der  zu 
gewährenden  Pausen  vorschreiben  und  die  zur  Durchführung 
dieser  Vorschriften  erforderlichen  Anordnungen  erlassen.“ 

Die  Vorlage  lautete:  „Insbesondere  können  die  Ober- 
Bergämter,  wenn  durch  übermässige  Dauer“  u.  s.  w.  wie  im 
Kommissionsbeschlusse. 

Die  Abgeordneten  Hitze  und  Genossen  beantragen:  a)  Die 
Regierungsvorlage  wieder  herzustellen;  b)  folgende  Resolution 
anzunehmen:  Die  Staatsregierung  zu  ersuchen,  möglichst  bald 
eine  eingehende  Untersuchung  darüber  anzustellen:  inwieweit 
eine  Herabsetzung  der  Arbeitszeit  in  den  Bergwerken  der  ver- 1 
schiedenen  Oberbergamtsbezirke  aus  Rücksicht  auf  Leben  und 
Gesundheit  der  Arbeiter  erforderlich  erscheint,  und  das  Resultat 
derselben,  sowie  die  auf  Grund  des  § 197  des  Allgemeinen  Berg- 
gesetzes getroffenen,  beziehungsweise  beabsichtigten  Massnahmen  ■ 
dem  Landtage  mitzutheilen. 

Der  § 197  der  Vorlage  und  die  Resolution  Hitze’s  ge-, 
wannen  nach  der  Ablehnung  eines  Maximalarbeitstags  für  die. 
Bergwerke  eine  erhöhte  Bedeutung,  allein  die  Fassung  der 
Vorlage  wurde  zu  Gunsten  des  Kommissionsbeschlusses  und 
ebenso  die  Resolution  gegen  die  Stimmen  des  Centrums,  der 
Polen  und  des  Abgeordneten  v.  Meyer- Arnswalde  abgelehnt 
und  darnach  der  Rest  des  Gesetzes  ohne  Debatte  angenommen. , 

Gegen  die  Resolution  Hitze’s  und  Genossen  wurde  ein- 
gewendet, dass  sie  in  die  Arbeiterkreise  Unruhe  zu  tragen  ge-, 
eignet  sei.  Uns  will  scheinen,  dass  diese  Resolution  zu  einem 
Mittel  der  Beruhigung  hätte  werden  können,  wenn  man  sie  zur* 
Handhabe  einer  unparteiischen  und  gründlichen  Untersuchung, 
der  thatsächlichen  Verhältnisse  und  zum  Ausgangspunkt  für 
entsprechende  Massnahmen  gemacht  hätte.  Dagegen  ist  es 
sicher,  dass  eine  auch  über  das  Mindestmaass  der  berechtigten 
Anforderungen  der  Bergarbeiter  sich  hinwegsetzende  gesetz- 
geberische Aktion,  als  welche  sich  die  des  preussischen  Ab- 
geordnetenhauses in  Betreff  der  Reform  des  Berggesetzes  dar- 
stellt, geeignet  ist,  die  tiefe  Verbitterung  der  Grubenarbeiter 
auf  das  Gefährlichste  zu  steigern  und  eine  nur  allzu  begründete 
Unruhe  in  den  weitesten  Kreisen  des  Volkes  zu  verbreiten. 

Der  Maximalarbeitstag  für  Bergarbeiter  in  der  Berg- 
gesetz-Kommission des  preussischen  Abgeordnetenhauses. 

Nach  dem  nunmehr  im  Druck  vorliegenden  Bericht  dieser 
Kommission  (No.  146  der  Drucksachen  des  Hauses  der  Ab- 
geordneten, 1 7.  Legislaturperiode,  IV.  Session  1 892,  S.  1 2 ff. j 
war  von  mehreren  Kommissionsmitgliedern  der  Antrag  ge- 
stellt worden,  einen  neuen  Paragraphen  einzuschieben^  wie 
folgt:  „Die  Dauer  der  Beschäftigung  unter  Tag  darf  8 Stun- 
den für  die  einzelne  Schicht,  48  Stunden  in  der  Woche  nicht 
überschreiten.  Soweit  aus  besonderen  Rücksichten  Aus- , 
nahmen  erforderlich  sind,  setzt  das  Oberbergamt  dieselben 
fest.“  Die  Begründung  dieses  Antrages  war,  wenn  sie  der 
Bericht  vollständig  wiedergiebt,  sehr  dürftig.  Der  Bergbau 
sei  wegen  seiner  grossen  Gefahren  und  vielen  Gesundheits- 
widrigkeiten ganz  besonders  zur  Feststellung  eines  Normal-(?) 
Arbeitstages  geeignet.  Thatsächlich  sei  diese  Feststellung 
auch  bereits  in  alten  Zeiten  und  Gesetzen  erfolgt;  von  der 
Ungebundenheit  in  der  Dauer  der  Arbeitszeit  loszukommen, 
werde  auf  keinem  Gebiete  lebhafter  angestrebt,  als  aut  dem 
des  Bergbaues.  Die  in  dem  Anträge  verlangte  Achtstunden- 
arbeit werde  durch  die  neue  Westphälische  Arbeitsordnung 
(vergl.  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  2,  S.  20)  den  Ar- 


No.  19. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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beitern  unter  Tage  bereits  gewährt,  stehe  also  für  den 
grössten  Theil  der  preussischen  Steinkohlenbergleute  schon 
in  unbestrittener  Geltung  (?).  Ueber  jene  Bestimmung 
wollten  die  Antragsteller  in  der  Hoffnung,  dass  auf  diesem 
Boden  eine  Mehrheit  sich  für  dieselbe  linden  werde,  nicht 
hinausgehen.  Nach  diesem  dürftigen  Resume  einer  anschei- 
nend dürftigen  Begründung  theilt  der  Kommissionsbericht 
alle  Einwendungen  sehr  breit  mit.  Der  Handelsminister 
widersprach  zuerst  dem  Anträge.  Der  Reichstag  habe  den 
Normalarbeitstag  verworfen,  es  sei  deshalb  schon  aus  staats- 
rechtlichen Gründen  nicht  unbedenklich,  wenn  ein  einzelner 
Bundesstaat  mit  dessen  Einführung  vorgehen  wolle.  Er 
müsse  bestreiten,  dass  der  preussische  Bergbau  hierzu  be- 
sonders geeignet  sei.  Die  Verhältnisse  der  einzelnen  Berg- 
reviere Preussens  seien  so  ausserordentlich  verschieden,  dass 
die  gesetzliche  Gleichstellung  der  Arbeitsdauer  in  ihnen  zum 
unnatürlichen  Zwange  werde.  Die  Arbeitsbedingungen  des 
Erz-,  Salz-  und  Kohlenbergbaus,  im  Kohlenbergbau  selbst 
wieder  des  Steinkohlen-  und  Braunkohlenbergbaus,  endlich 
beim  Steinkohlenbergbau  beispielshalber  diejenigen  des 
oberschlesischen  und  des  westphälischen  Revieres  wichen 
so  sehr  von  einander  ab,  dass  für  sie  einen,  natürlich  den 
auf  den  gefährlichsten  und  gesundheitsschädlichsten  Bergbau 
zurecht  geschnittenen  Normalarbeitstag  bestimmen,  nichts 
Anderes  hiesse,  als  viele  Bergwerke  wettbewerbsunfähig 
machen  und  zum  Erliegen  bringen.  Die  Verschiedenheit  in 
den  Bedingungen  der  Arbeit  und  des  Wettbewerbes  bestehe 
aber  auch  zwischen  den  Bergwerken  Preussens  und  des 
Auslandes.  So  lange  nicht  unter  den  Bergbau  treibenden 
Staaten  eine  Verständigung  über  den  Normalarbeitstag 
herbeigeführt  sei,  werde  sich  Preussen  wohl  hüten  müssen, 
ihn  gesetzlich  zu  machen,  um  so  mehr,  als  die  Wettbewerbs- 
Bedingungen  der  Bergwerke  Preussens  nicht  die  günstigsten 
seien  und  diesen  vorzugsweise  im  Interesse  ihrer  Arbeiter 
Lasten  auferlegt  seien,  welche  von  dem  Bergbau  anderer 
Länder  nicht  in  gleicher  Höhe  zu  tragen  wären.  Gegenüber 
dem  Drängen  der  Bergleute  auf  den  Achtstundenarbeitstag, 
welcher  übrigens  mit  eingerechneter  Ein-  und  Ausfahrtszeit 
gemeint  sei,  müsse  aut  die  Thatsache  hingewiesen  werden, 
dass  beim  Bergbau  bereits  überall  in  Preussen  eine  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  stattgefunden  habe  und  dass  die 
preussischen  Bergleute  dabei  trotz  ihrer  gesunkenen  Lei- 
stungen die  unverminderten  hohen  Löhne  verdienten.  End- 
lich sei  auch  nicht  zuzugeben,  dass  die  Bergarbeit  gegenüber 
allen  anderen  Fabrikbetrieben  so  aussergewöhnlich  gesund- 
heitswidrig einwirke,  dass  sich  hierdurch  ein  Abgehen  von 
dem  System  der  Gewerbeordnung  rechtfertigen  lasse.  — 
Die  Kommissionsmitglieder,  welche  den  Antrag  bekämpften, 
wiesen  darauf  hin,  dass  über  die  Gesundheitsschädlichkeiten 
der  Bergarbeit  irrige  und  übertriebene  Vorstellungen  be- 
ständen. Die  Bergarbeit  sei  besonders  gefährlich,  aber  nicht 
besonders  gesundheitswidrig,  das  werde  häufig  verwechselt. 
Insbesondere  die  Lüftungseinrichtungen  der  Bergwerke  seien 
derart  verbessert,  dass  der  Aufenthalt  in  der  Grube  nicht 
so  gesundheitswidrig  sei,  wie  derjenige  in  engen  dumpfigen 
Werkstätten.  Zahlenmässig  stehe  fest,  dass  in  verschiedenen 
Gewerben  mehr  oder  langwierigere  Erkrankungen  der  Ar- 
beiter aufträten,  als  im  Bergbau.  Auch  die  Gefahren  der 
Bergarbeit  würden  unter  dem  Eindrücke  der  schrecklichen 
Massenunglücke  vielfach  überschätzt,  die  Küstenschiffahrt 
und  die  Waldarbeit  fordere  beispielsweise  verhältnissmässig 
mehr  Opfer,  als  der  Bergbau.  Von  einem  Kommissionsmit- 
gliede  wurde  bemerkt,  dass  die  Entbehrung  des  Sonnen- 
lichtes bei  der  Bergarbeit  als  eine  dieser  eigenthümliche 
Gesundheitsschädlichkeit  nicht  verkannt  werden  könne,  das 
blasse  Aussehen  der  Bergleute  spreche  schon  dafür.  Zur 
Frage  des  Normalarbeitstages  übergehend,  erklärte  der 
Redner,  sie  sei  für  ihn  heute  zur  Entscheidung  noch  nicht 
reif,  obwohl  er  anerkenne,  dass  gerade  die  Bergarbeit  mit 
ihren  Gefahren  und  Gesundheitswidrigkeiten  am  ehesten 
und  meisten  die  gesetzliche  Beschränkung  ihrer  Dauer  ver- 
lange. — Der  Antrag  wurde  mit  grosser  Mehrheit  abgelehnt. 

Missbrauch  mit  Strafgeldern  im  preussischen  Bergbau. 

Aus  dem  Berichte  der  Commission  des  preussischen  Abgeord- 
netenhauses über  die  Berggesetznovelle  ist  auch  zu  ersehen, 
dass  die  allein  im  Jahre  1890  von  den  Zechen  an  die  Knappschafts 
hassen  abgelieferten  und  den  Bergleuten  vom  Lohne  abgezogenen 
Strafgelder  insgesammt  rund  89  000  Mk.  betrugen.  Dabei  kommt 
in  Betracht,  dass  eine  weitere  Summe  an  Strafgeldern  nicht  in 
diese  Quelle,  sondern  in  besondere  Werksunterstützungskassen 
einzelner  Zechen  fliesst.  Man  kann  also  sagen,  dass  den  preus- 
1 fischen  Bergleuten  alljährlich  mehr  als  100  000  M.  an  Strafgeldern 
vom  Lohne  abgezogen  werden.  In  der  Berggesetzkommission 
des  Abgeordnetenhauses  stellten  nun  mehrere  Kommissionsmit- 


glieder folgenden  Antrag:  „Alle  Strafgelder  müssen  einer  zu 
Gunsten  der  Arbeiter  des  Bergwerks  bestehenden  oder  zu 
bildenden  Unterstützungskasse  überwiesen  werden,  deren  Ver- 
waltung dem  ständigen  Arbeiterausschusse  oder  einem  in  der 
Majorität  von  den  Arbeitern  in  geheimer  Wahl  gewählten  Vor- 
stände obliegt.“  Dieser  Antrag  wollte  die  Ueberweisung  der 
Strafgelder  an  die  in  dem  Gesetzentwürfe  an  erster  Stelle 
genannte  Knappschaftskasse  beseitigen  und  abweichend  von 
dem  Entwürfe,  welcher  über  die  Verwaltung  der  Strafgelder 
keine  Bestimmung  enthält,  jene  vorzugsweise  in  die  Hände  der 
Arbeiter  bezw.  on  deren  Vertretern  gelegt  wissen.  Für  den 
Fall  der  Ablehnung  des  Antrages  wurde  beantragt,  in  § 80  d 
Abs.  2 nach  dem  ersten  Satze  einzuschieben:  „Soweit  sie  . . . 
die  Strafgelder  . . . der  Knappschaftskasse  überwiesen  werden, 
sind  entweder  die  Leistungen  der  Knappschaftskasse  um  den 
entsprechenden  Betrag  zu  erhöhen,  oder  die  Beiträge  der  Arbeiter 
entsprechend  herabzusetzen.  Zur  Begründung  wurde  ausgeführt: 
Es  sei  eine  Forderung  der  Gerechtigkeit,  dass  die  Strafgelder 
ausschliesslich  zum  Besten  der  Arbeiter  verwendet  würden 
Dieser  Zweck  würde  aber  nicht  erreicht,  wenn  die  Strafgelder 
ganz  oder  theilweise  den  Knappschaftskassen  zuflössen,  weil  in 
Folge  dieser  Einnahme  der  Knappschaftskasse  die  Beiträge  der 
Werksbesitzer  sich  verminderten.  Dass  eine  solche  gar  nicht 
berechtigte  Bereicherung  der  Werksbesitzer  nicht  unerheblich 
sei,  ergebe  sich  aus  den  hohen  Beträgen  der  an  die  Knappschafts- 
kassen abgelieferten  Strafgelder.  Könne  man  sich  nicht  ent- 
schliessen,  den  Knappschaftskassen  diese  Einnahmequelle  abzu- 
schneiden, so  müsse  man  doch  folgerichtig  ihre  Erträge  den 
Arbeitern  allein  zu  Gute  kommen  lassen,  was  im  Rahmen  der 
Knappschaft  nur  auf  den  durch  den  Eventualantrag  bezeichneten 
beiden  Wegen  geschehen  könne.  Ob  und  wie  die  Strafgelder 
aus  den  Unterstützungskassen  zu  Gunsten  und  im  Sinne  der 
Arbeiter  verwandt  würden,  sei  mit  Sicherheit  nur  festzustellen, 
wenn  ihre  Verwaltung  durch  die  Arbeiter  selbst  oder  deren  ohne 
Bedrückung  durch  die  Werksbesitzer,  also  geheim  gewählten 
Vertreter  erfolge.  Die  Regierungsvertreter  und  mehrere  Kom- 
missionsmitglieder widersprachen  diesen  Anträgen,  weil  sie 
ohne  einen  aus  der  Eigenart  des  Bergbaus  zu  entnehmenden 
Grund  über  die  einschlägigen  Bestimmungen  der  Reichsgewerbe- 
ordnung weit  hinausgingen  und  das  Misstrauen  gegen  die  Berg- 
werksbesitzer gewissermassen  gesetzlich  festlegen  würden,  für 
welches  doch  "jedes  thatsächliche  Anhalten  fehle;  als  solches 
könne  der  gelegentlich  der  Ausstandsuntersuchung  von  einigen 
Arbeitern  geäusserte  aber  in  keinem  Falle  bewahrheitete  Verdacht 
Unrechter  Verwendung  der  Strafgelder  füglich  nicht  betrachtet 
werden.  Die  Kommissionsmehrheit  pflichtete  dieser  Darlegung 
bei  und  verwarf  die  Anträge.  Zusammen  mit  der  Berichts- 
Stelle  über  den  Maximalarbeitstag  im  preussischen  Bergbau  dürfte 
diese  Episode  der  Commissionsverhandlungen  deutlich  erkennen 
lassen,  von  welchem  Geist  diese  gesetzgebende  Kommission  mit 
Bezug  auf  die  Bergarbeiterschutzreform  beseelt  war. 

Zeclienverbände  mul  Berggesetznovelle  in  Preussen.  Dem 

preussischen  Abgeordnetenhause  ist  eine  gemeinsame  Denk- 
schrift der  acht  Bergbauvereine  des  preussischen  Staats  zuge- 
stellt worden,  welche  die  hauptsächlichsten  Wünsche  der  be- 
theiligten Kohlen,  Braunkohlen-  und  Erzbergwerke  in  betreff 
der  Novelle  ausspricht.  Die  Denkschrift  geht  davon  aus,  dass 
vor  Einbringung  der  Vorlage  weder  in  offizieller  noch  in  in- 
offizieller Form  die  Interessenten  über  den  Entwurf  betragt 
worden  sind,  und  dass  dieselben  es  daher  ablehnen  müssen, 
dass  ihre  Zustimmung  zu  dem  Entwurf  oder  einzelnen  Bestim- 
mungen desselben  vorausgesetzt  wird.  Nichtsdestoweniger 
schliessen  sich  die  acht  Bergbauvereine,  der  für  den  Dort- 
munder, Aachener,  Siegener,  Lahn-  und  Dillbezirk,  der  deutsche 
Braunkohlenindustrieverein,  der  Magdeburger  Braunkohlenverein, 
der  nieder-  und  oberschlesische  Bergbauverein,  den  meisten 
Bestimmungen  des  Entwurfs  an,  die  lediglich  eine  Kopie  der 
jüngsten  Novelle  zur  Gewerbeordnung,  dem  sogenannten  Ai  beiter- 
schutzgesetz , sind.  Die  „über  die  Gewerbeordnung  hinaus- 
gehenden“ Bestimmungen  unterzieht  dagegen  die  Denkschrift 
einer  Kritik  und  behauptet,  dass  die  vorgeschlagenen  Ab- 
weichungen von  der  Gewerbeordnung  nicht  durch  die  besondere 
Eia-enart"des  Bergbaubetriebes  bedingt  sind,  dass  die  betreffen- 
den Paragraphen  überhaupt  besser  gestrichen  würden.  Die  Ab- 
änderungen der  vorliegenden  Novelle  gegen  die  Gewerbe- 
ordnung seien  fast  durchweg  in  den  Motiven  aut  „angebliche“ 
Erfahrungen  während  des  grossen  Bergarbeiterstrikes  von  1889 
zurückgeiührt,  obgleich  die  im  Aufträge  der  Minister  der  öffent- 
lichen Arbeiten  und  des  Innern  nach  Beendigung  des  Stnkes 
von  staatlichen  Untersuchungskommissionen  ausgearbeitete  Denk- 
schrift über  die  Untersuchung  der  Arbeitei  und  Betiiebsvertndt- 
nisse  in  den  Steinkohlenbergwerken  „nicht  das  geringste  Be- 
lastungsmaterial für  die  Zechenverwaltungen  vorzubringen  \ er- 
mocht“  habe.  In  Folge  der  Zuschneidung  der  Berggesetznovelle 
auf  „angebliche“  Zustände  im  Dortmunder  Steinkohlenrevier 
passten  ohnedies  mehrere  Bestimmungen  nicht  auf  die  Verhält- 
nisse in  den  übrigen  Steinkohlenbezirken,  noch  weniger  auf  den 
Braunkohlen-  und  Erzbergbau.  Es  wird  dabei  „anerkannt“,  dass 
die  Kommission  bereits  Wesentliches  gethan  hat,  den  Entwurf 
für  die  betheiligten  Industriezweige  „annehmbar“  zu  machen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


246 


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reichs zur  Bildung  einer  Zolleinigung  mit  dem  deutschen  Zollvereine  geschildert.  Das 
Werk  liefert  auch  für  die  Würdigung  der  österreichischen  Politik  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten manchen  Beitrag  und  dürfte  auch  in  weiteren  Kreisen  lebhaftes  Interesse  er- 
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Herausgegeben 

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Dr.  Paul  Hinneberg. 

XIII.  Jahrgang.  Preis  vierteljährlich  7 Mark.  Erscheint  jeden  Sonnabend. 

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Die  Deutsche  Litteraturzeitung  erblickt  ihren  eigenthümlichen  Beruf  darin, 
vom  Standpunkt  der  deutschen  Wissenschaft  aus  eine  kritische  Uebersicht  über 
das  gesammte  litterarische  Leben  der  Gegenwart  zu  bieten.  Sie  sucht  im 
Unterschied  von  den  Fachzeitschriften  allen  denen  entgegenzukommen,  welchen  es 
Bedürfniss  ist,  nicht  nur  mit  den  Fortschritten  ihres  Faches,  sondern  auch  mit  der 
Entwickelung  der  übrigen  Wissenschaften  und  mit  den  hervorragenden  Leistungen 
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haltigkeit sonst  nirgends  geboten  wird,  ferner  ständige  Berichte  über  die  Thätigkeit 
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rarische Unternehmungen,  Personalnotizen  und  Vorlesungsverzeichnisse. 

Durch  die  Unterzeichnung  aller  Besprechungen  mit  dem  vollen  Namen  des 
Referenten  bietet  die  Deutsche  Litteraturzeitung  die  Gewähr  einer  gediegenen 
und  würdigen  Kritik. 


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uoiti  15.  Hunt  1883, 

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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  16.  Mai  1892. 


Nummer  20 


SOZIALPOLITISCHES 

CENT  R A LBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


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Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 


Ar  beiter - Wohlfahrtseinrich- 
tungen. Von  Prof.  Dr.  Hein- 
rich Herkner 

Soziale  Wirthscliaftspolitik  u. 
Wirtliscliaftsstatistik : 

Untersuchung  der  Bodenverschul- 
dung in  der  Schweiz.  Von 
Kantonsstatistiker  E.  Naef. 

Die  Krisis,  in  der  schweizerischen 
Uhrenindustrie. 

Italienisches  ZündholzmonopoL 

Arbeiterzustände : 

Haushalt  einer  Arbeiterfamilie  in 
Bayern. 

Arbeiter  Wanderungen  innerhalb 

Deutschlands. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Die  letzten  englischen  Strikes.  V<  n 
Eleanor  Marx-Aveling. 

Zwei  neue  französische  Arbeits- 
börsen. 

In  der  Schweiz  für  Strikezwecke 
1 gesammelte  und  ausgegebene 
Gelder. 

Arbeiterscliutzgesetzgebung : 

Die  dritte  Lesung  der  Berggesetz- 
novelle. 

Arbeiterschutz  beim  Bau  der 
Wiener  Verkehranlagen. 

Ein  schweizerisches  Bundesgesetz 
über  die  Kündigungsfristen. 

Ruhetage  für  das  schweizerische 
I Grenzaufsichtspersonal. 


Arbeiterschutzgesetz  für  den  Kan- 
ton Glarus. 

St.  Gallischer  Arbeiterschutzgesetz- 
entwurf. 

Der  Arbeitstag  auf  den  französi- 
schen Eisenbahnen. 

Gewerbeinspektion : 

Aus  den  Jahresberichten  der  baye- 
rischen Fabrikinspektoren.  Von 
Dr.  Max  Quarck. 
Arbeiterversicherung: 

Die  Berufsgenossenschaften  als 
Organe  der  Unfallverhütung. 

Lieber  die  Wirksamkeit  der  deut- 
schen Invaliditäts-  und  Unfalls- 
versicherung. 

Unfallversicherung  der  Handwerker 
im  deutschen  Reich. 

Unfall-  und  Krankenversicherung 
in  der  Schweiz. 

Gewerbegerichte , Einigungs- 
ämter u.  Arbeiterausschüsse: 

Arbeits-  und  Industriekammern  in 
den  Niederlanden. 

Das  Wahlrecht  der  Frauen  in  den 
italienischen  Gewerbeschieds- 
gerichten. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Wohnungsverhältnisse  der  Kranken 
in  der  Schweiz. 

Bau  der  Arbeiterwohnungen  als 
geschäftliches  Unternehmen. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Arbeiter  - W ohlfahrtseinrichtungen. 


Vielleicht  ist  nichts  für  die  sozialpolitische  Entwick- 
lungsstufe eines  Landes  so  bezeichnend  als  das  Mass,  in 
dem  die  leitenden  Kreise  desselben  Arbeiter-  und  Armen- 
frage auseinanderhalten  oder  nicht.  Werden  die  Arbeiter 
wie  Waisenkinder,  wie  Kranke,  Alters-  oder  Geistesschwache 
angesehen,  die  auf  Schritt  und  Tritt  einer  mitleidigen  Für- 
sorge und  wohlwollenden  Bevormundung  bedürfen,  die  aus 
eigener  Kraft  nichts  vermögen  und  denen  nur  durch  Akte 
der  Wohlthätigkeit  zu  helfen  ist,  geht  man  weiter  von  der 
Auflassung  aus,  dass  für  die  Arbeiter  keine  wirkliche  Ur- 
sache zur  Unzufriedenheit  besteht,  solange  sie  eben  noch 
ihr  Leben  zu  fristen  vermögen,  dann  kann  auch  zwischen 
Armen-  und  Arbeiterfrage  nicht  unterschieden  werden. 

KL  Beide  fallen  zusammen.  Erst  nachdem  sich  die  Erkenntniss 


Bahn  gebrochen  hat,  dass  es  sich  bei  der  sozialen  Frage 
nicht  nur  darum  handelt,  der  Arbeiterbevölkerung  eine  zu 
deren  Unterhalte  ausreichende  physische  Ernährung  zu  ver- 
schaffen, dass  die  soziale  Reform  vielmehr  einen  gewaltigen 
welthistorischen  Prozess  darstellt,  dass  sie  das  Aufsteigen 
einer  neuen  und  zwar  der  zahlreichsten  Schicht  der  Ge- 
sellschait  bedeutet:  erst  dann  wird  der  tiefgehende  LTnter- 
schied  zwischen  beiden  Problemen  allgemein  und  klar  zum 
Bewusstsein  gelangen. 

o o 

Unter  welchen  Voraussetzungen  ist  die  Vermengung 
der  sozialen  Reform  mit  der  Armenpflege  begründet?  Unter 
welchen  nicht?  Die  Antwort  liegt  nahe  genug.  Sie  hängt 
von  den  thatsächlichen  Zuständen  ab,  in  denen  eine  Arbeiter- 
bevölkerung lebt.  Wenn  die  arbeitenden  Massen  des  Volkes 
unter  einem  Uebermasse  von  Elend  schmachten,  wenn  ihr 
Lohn  so  tief  gesunken  ist,  dass  er  eine  Erhaltung  der 
körperlichen  Kräfte  nicht  mehr  gewährleistet,  wenn  die 
physische  Entartung  die  wirthschaftliche  Leistungsfähigkeit 
untergraben  hat,  wenn  unter  dem  Drucke  der  Noth  die 
Familienbande  sich  lösen,  wenn  jede  wirthschaftliche  Vor- 
aussicht entschwunden,  das  Ehrgefühl  und  der  Sinn 
für  höhere  geistige  und  politische  Interessen  abgestumpft 
ist,  wenn  es  dem  Arbeiter  gleich  gilt,  ob  er  durch  Almosen 
oder  Arbeitslohn  sein  Leben  erhält,  wenn  er  kein  höheres 
Ziel  mehr  kennt  als  die  Triebe,  die  dem  Menschen  mit  dem 
I hiere  gemein  sind,  einmal  voll  zu  befriedigen,  sich  auszu- 
schlafen und  satt  zu  essen,  wenn  selbst  das  Bewusstsein 
dieser  Entwürdigung  verloren  gegangen,  und  so  es  doch 
einmal  wieder  aufflackert,  im  Branntweinrausche  erstickt 
wird,  nur  wenn  diese  entsetzlichen  Bedingungen  ganz 
oder  theilweise  zutreffen  — und  schrecklich  genug,  sie 
sind  in  der  That  kein  blosses  Gebilde  der  Phantasie 
wäre  es  vermessener  Optimismus,  noch  auf  eine  Er- 
hebung der  Arbeiter  aus  eigener  Kraft  rechnen  zu 
wollen.  Neben  der  staatlichen  Hilfe  wird  dann  auch 
eine  rein  caritative  Schutzthätigkeit,  eine  Patronage1  der 
besitzenden  und  gebildeten  Klassen  nicht  entbehrt  werden 
können.  Dann  müssen  dem  Arbeiter  an  Stelle  roher  sinn- 
licher Genüsse  erst  wieder  die  elementarsten  Bedürfnisse 
und  Gewohnheiten  menschlicher  Gesittung  auf  diesem 
Wege  vermittelt  werden.  Dann  sind  die  Badeeinrichtungen, 
die  vom  Arbeitgeber  geführten  Speiseanstalten,  die  von  ihm 
gebauten  Arbeiterwohnungen,  seine  Mädchenheime  und 
seine  Kinderasyle,  seine  als  Almosen  gewährten  Zuschüsse 
zum  Lohne,  wenn  dieser  zur  Erhaltung  der  Arbeiterfamilie 
nicht  ausreicht,  seine  Gesang-  und  Turnvereine  am  Platze, 


L)  Vergl.  über  das  Patronagesystem:  K.  Bücher,  Die  bel- 
gische Sozialgesetzgebung.  Braun’s  Archiv  für  soz.  Gesetz- 
gebung u.  Statistik.  IV.  S.  251  ff. 


248 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


Xo.  20. 


am  Platze  aber  freilich  nur  unter  der  Voraussetzung,  dass 
diese  Einrichtungen  in  einer  Weise  geleitet  werden,  welche 
den  Arbeiter  zu  wachsender  Selbständigkeit  erzieht  und 
endlich  zur  Selbstverwaltung  seiner  Angelegenheiten  be- 
fähigt. So  können  die  Wohlfahrtseinrichtungen  zu  einer 
unentbehrlichen  Stufe  in  der  aufsteigenden  Klassenbewegung 
der  Arbeiter  werden. 

Wir  haben  die  Voraussetzungen  geprüft,  unter  denen 
eine  Vermengung  der  Sozial-  und  Armenpolitik  sich  recht- 
fertigt, unter  welchen  man  die  Fürsorge  durch  Wohlfahrts- 
einrichtungen als  heilsam  und  segensreich  anerkennen  kann. 
Stellen  wir  nun  auch  die  Bedingungen  fest,  unter  denen 
das  Patronagesystem  sich  nicht  rechtfertigt,  und  schliesslich 
scheitern  muss.  Diese  Bedingungen  liegen  vor,  wenn  der 
Arbeiterbevölkerung  bereits  eine  heisse  Sehnsucht  nach 
grösserer  Achtung  und  Anerkennung  sich  bemächtigt  hat, 
wenn  sie  im  Gegensätze  zur  politisch  formellen  auch  nach 
grösserer  sozialpraktischer  Gleichberechtigung  strebt,  wenn 
der  Glaube  an  eine  mögliche  bessere  Ordnung  der  wirth- 
schaftlichen  Produktion  in  ihr  Wurzel  gefasst  hat,  wenn  sie 
die  dunkle  Ahnung  erfüllt,  dass  die  zur  Selbständigkeit  er- 
wachende Arbeiterklasse  am  ersten  berufen  sei,  diese  neue 
Ordnung  durch  den  demokratischen  Druck  der  Masse  her- 
beizuführen, wenn  die  Arbeiter  in  dieser  nahenden  Organi- 
sation der  Arbeit  nicht  bloss  mehr  die  stummen,  aus- 
führenden, gedankenlosen  Werkzeuge  eines  höheren  V illens, 
nicht  nur  gehorsame  Maschinen,  sondern  kraftvoll  und 
originell  mitwirkende  Menschen,  nicht  nur  Hände,  sondern 
auch  Köpfe  sein  sollen1).  Dann  ist  die  Zeit  der  Patronage 
vorbei,  unwiederbringlich  vorbei. 

Man  wird  die  soziale  Entwicklungsstufe  eines  Volkes 
nicht  hoch  veranschlagen,  in  dem  die  Voraussetzungen  für 
ein  von  den  herrschenden  Klassen  zu  übendes  Patronage- 
system vorhanden  sind.  Aber  — so  seltsam  es  auch  klingen 
mag  — noch  viel  betrübender  und  gefahrvoller  erscheint 
uns  die  Lage  eines  Landes,  dessen  leitende  Kreise  von  den 
Vorstellungen  des  Patronagesystemes  beherrscht  werden, 
trotzdem  seine  Arbeiterverhältnisse  die  Anwendung  des- 
selben im  Allgemeinen  nicht  mehr  begründen,  ja  in  dem  die 
Arbeitgeber  wohl  gar  versuchen,  mit  der  Politik  der 
„Wohlfahrtseinrichtungen“  Bestrebungen  von  höherer  sozial- 
politischer Tragweite  entgegen  zu  arbeiten. 

Leider  wird  in  der  That  bei  uns  seit  einiger  Zeit  der 
Verbreitung  und  den  Früchten  des  Patronagesystemes  von 
einflussreichen  Persönlichkeiten  eine  Aufmerksamkeit  ent- 
gegengebracht, welche  Deutschland  in  die  sozial  gewiss 
nicht  erfreuliche  Gesellschaft  Belgiens  versetzt.  Nun  be- 
finden sich  ja  allerdings  unsere  Arbeiter  in  gewissen 
Gegenden  und  Berufen  auf  einer  so  niedrigen  Stufe,  dass 
einer  von  freiem  und  edlem  Geiste  erfüllten  Patronage 
nicht  ohne  Weiteres  jede  Berechtigung  abgesprochen 
werden  könnte.  Auffallenderweise  ist  von  dieser  sozialen 
Hilfsthätigkeit  der  herrschenden  Klassen  aber  gerade  dort 
am  allerwenigsten  die  Rede,  wo  sie  noch  am  besten  ange- 
bracht wäre.  Am  eifrigsten  wird  sie  vielmehr  betrieben  in 
Gebieten,  deren  Arbeiter  ihr  bereits  zu  entwachsen  be- 
ginnen oder  schon  entwachsen  sind.  Wir  hören  viel  von 
den  Wohlfahrtseinrichtungen  der  rheinisch-westfälischen 
Eisenindustrie,  der  süd-  und  westdeutschen  Textilindusrie, 
so  gut  wie  nichts  von  denen  der  ostdeutschen  Grossgrund- 
besitzer. Soweit  man  aber  die  Arbeiter  der  industriellen 
Grossbetriebe  Deutschlands,  namentlich  der  städtischen,  ins 
Auge  fasst,  muss  man  sagen,  dass  für  sie  die  Politik  der 
Wohlfahrtseinrichtungen  um  einige  Jahrzehnte  zu  spät 
kommt.  Das  wird  von  allen  mit  dem  Empfindungsleben 

i)  P.  Göhre,  Drei  Monate  Fabrikarbeiter.  Leipzig,  Grunow, 
1891.  S.  218. 


der  modernen  Arbeiter  vertrauten  Sozialpolitikern  überein- 
stimmend bestätigt.  Und  gerade  die  Worte,  mit  denen  oben 
die  Voraussetzungen  gekennzeichnet  wurden,  welche  dem 
Patronagesystem  seine  innere  Berechtigung  entziehen,  sind 
der  Schilderung  entnommen,  die  Paul  Göhre  von  der 
Stimmung  der  Chemnitzer  Arbeiter  entwirft,  einer  Schilde- 
rung, die  unseres  Erachtens  die  geistigen  Strömungen 
unserer  gesamten  grossindustriellen  Arbeiterschaft  über- 
haupt glücklich  wiedergiebt.  Vergegenwärtigt  man  sich 
das  tiefe  Misstrauen,  welches  die  zur  Selbständigkeit  er- 
wachenden Arbeiter  Deutschlands  vielleicht  mehr  als  die 
Arbeiter  eines  anderen  Landes  gegen  die  bürgerliche  Ge- 
sellschaft erfüllt,  und  bedenkt  man,  dass  deutsche  Arbeiter 
in  Bezug  auf  die  theoretisch-kritische  Erkenntniss  der 
sozialen  Fragen  nicht  selten  die  Leute,  die  sich  zu  ihrer 
Bevormundung  berufen  glauben,  weit  überragen,  dann 
wird  man  in  der  geflissentlichen  Begünstigung  der  Wohl- 
fahrtseinrichtungen nur  eine  schwere  Gefahr  für  die  sozial- 
politische Zukunft  des  Deutschen  Reiches  erblicken  können. 
Diese  Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen,  meist  nicht  be- 
gründet, um  der  allmählichen  wirthschaftlichen,  sozialen 
und  politischen  Befreiung  der  Arbeiterklasse  vorzuarbeiten, 
sondern  um  die  Arbeiter  durch  diese  oktroyirte  Fürsorge 
zum  Verzichte  auf  die  von  ihnen  selbst  erhobenen  Forde- 
rungen zu  bewegen,  sind  zwar,  wie  die  Erfahrung  schlagend 
darthut,  nie  im  Stande  gewesen,  einen  aufrichtigen  sozialen 
Frieden  anzubahnen,  wohl  aber  vermögen  sie  das  sozial-1 
politische  Interesse,  das  bei  uns  noch  lange  keine  Zer- 
splitterung verträgt,  von  wichtigeren  Gegenständen  abzu- 
ziehen und  gründlichere  Reformbestrebungen  zu  lähmen.  ! 

Sie  können  nicht  einen  dauernden  sozialen  Frieden 
anbahnen,  denn  sie  übersehen  eines  der  wichtigsten  ethischen, 
Momente  der  Arbeiterfrage,  dass  heisse  Sehnen  unserer 
Arbeiterbevölkerung  nach  Selbstbestimmung.  Mit  Recht 
sagt  Göhre:  „Alles,  was  für  die  Arbeiter  geschieht,  muss 

heutzutage  durch  sie,  mit  ihrer  Hilfe  und  ihrem  Willen 
geschehen.  Wir  sind  über  die  Zeit  des  Patriarchenthums, 
hinaus:  auch  der  Einzelne  aus  der  grossen  Menge  ist  zur; 
Selbständigkeit  erwacht  und  will  mitrathen  und  mitthatenj 
wo  es  um  sein  eigen  Wohl  und  Wehe  geht.  Darum,  nur 
durch  eine  dauernde  ernsthafte  Mitbetheiligung  an  den 
sozialen  Neuformationen  der  Zukunft  wird  auch  die 
Arbeiterschaft  wieder  zu  einer  nüchternen,  besonnenen, 
praktischen  Haltung  erzogen1).“ 

Und  unter  diesen  Umständen  wird  die  Ausbreitung 
eines  Systemes  begünstigt,  welches  in  seiner  Vollendung 
dazu  führt,  dass  der  Arbeiter  nur  einer  vom  Arbeitgeber1 
errichteten  Kranken-  und  Unterstützungskasse  angehört, | 
dass  er  in  einem  dem  Arbeitgeber  gehörenden  Hause  wohnt, 
dass  er  in  einer  Speiseanstalt  des  Arbeitgebers  sich  ernährt, 
dass  er  seine  Ersparnisse  dem  Arbeitgeber  anzu vertrauen 
hat,  dass  er  vom  Arbeitgeber  die  Einwilligung  zur  Ver- 

heirathung  erbitten  muss,  dass  er  seine  Lektüre  aus  einer 

- .1,31 


vom 


Arbeitgeber  errichteten  und  ausgewählten  Bibliothek - 


L Wir  berufen  uns  hier  gern  auf  Göhre,  von  dem,  da  ei 
der  „Brentano’schen  Schule“  nicht  angehört,  wohl  Niemand 
wird  behaupten  können,  er  müsse  „a  priori  die  Wohlfahrtsem- 
richtungen  der  Arbeitgeber  mit  dem  grossen  Banne  belegen. 

2)  Der  Mühe  dieser  Auswahl  brauchen  sich  übrigens  _ du 
Arbeitgeber  gar  nicht  mehr  zu  unterziehen.  Eine  Berlinei 
Buchhandlung  hält  bereits  Arbeiterbibliotheken,  angeblich  nach 
Post’schem  Rezept  zusammengestellt,  in  verschiedenen  Preis- 
lagen vorräthig.  Dieselben  enthalten  neben  der  seichtester 
Unterhaltungslitteratur  namentlich  die  sattsam  bekannten  Er- 
zählungen für  die  „reifere  Jugend“  von  Hoffmann,  Höcker 
Horn,  Schmied  u.  's.  w.  Von  den  besseren  Erzeugnisser 
deutscher  Volkslitteratur  wie  den  Rosegger-,  Anzengruber-  ode' 
Hackländer’schen  Schriften  keine  Spur.  Ebenso  wenig  habet 
die  Werke  unserer  Klassiker  Aufnahme  gefunden.  Trotz  alle 
dem  giebt  es  sogar  Fabrikbibliotheken,  in  denen  die  Bibliothe 
kare  den  Arbeitern  die  Bücher  bestimmen,  die  sie  zu  lesei 
haben.  — Das  nennt  man  Volksbildung. 


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No.  20. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


bezieht  und  schliesslich  nur  noch  die  vom  Arbeitgeber  für 
seine  Arbeiter  herausgegebene  „Fabrikzeitung“  liest.  Man 
sollte  meinen,  man  brauche  dieses  Bild,  das  leider  keine 
phantastische  Karikatur  ist,  nur  zu  entwerfen,  um  für  jeder- 
mann die  Unvereinbarkeit  dieser  Politik  mit  dem  Selbst- 
bewusstsein, das  unsere  Arbeiterbevölkerung  zu  erfüllen 
beginnt,  ausreichend  darzuthun. 

Thatsächlich  scheinen  indess  nur  die  wenigsten  der 
verschiedenen  hochehrenwerthen  Geheimräthe,  Regierungs- 
räthe,  Oberlehrer,  Finanzräte  a.  D.  Pastoren,  Arbeitgeber 
und  Direktoren,  welche  kürzlich  zu  einer  Arbeiterwohl- 
fahrtskonferenz zusammen  gekommen  sind,  ein  Gefühl  für 
diesen  Widerspruch  besessen  zu  haben.  Und  diese  Ihat- 
sache  ist  wirklich  angethan,  jeden,  dem  die  sozialpolitische 
Zukunft  Deutschlands  am  Herzen  liegt,  sehr  ernst  zu  stimmen. 

So  erwähnt  Herr  Kalle,  dass  bei  den  von  Arbeitgebern 
errichteten  Wohnungen  beinahe  überall  der  Mieth  vertrag 
mit  dem  Austritte  aus  dem  Arbeitsverhältnisse  erlischt.  Es 
gilt  schon  als  ein  Zeichen  besonders  liberaler  Gesinnung, 
wenn  die  Firma  denjenigen  gegenüber,  welche  aus  ihren 
Diensten  treten  oder  wegen  Mangel  an  Arbeit  entlassen 
werden,  sich  an  eine  gewisse  Kündigungsfrist  bindet. 

Der  Berichterstatter  findet  an  diesen  Zuständen  nicht 
das  Mindeste  auszusetzen.  Die  Befragung  der  Arbeiter  über  ■ 
ihre  Wünsche  hinsichtlich  der  Bauart  der  Arbeiterwohnun- 
gen wird  von  demselben  Herrn  nur  in  einer  Anmerkung 
gestreift.  „Wo  man  es  mit  vernünftigen  Arbeitern  zu  thun 
hat,  empfiehlt  es  sich  deren  Ansichten  zu  hören,  ehe  man 
sich  über  die  zu  treffenden  Dispositionen  schlüssig  macht. 
So  hat  die  Verwaltung  der  militärischen  Werkstätte  in 
Spandau,  bevor  sie  baute,  bei  den  Leuten  angefragt,  ob  sie 
Häuser  in  der  Stadt  ohne  Gärten  und  Ackerland,  odei 
ausserhalb  mit  Gärten  und  Ackerland  vorzögen.“  Es  „lässt 
tief  blicken“,  wenn  einem  so  durchaus  selbstverständlichen 
Vorgänge  eine  besondere  Erwähnung  zu  1 heil  wird,  und 
wenn  selbst  dieses  doch  überaus  bescheidene  Mass  von 
Mitwirkung  nur  dort  empfohlen  wird,  wo  man  es  mit  „ver- 
nünftigen“ Arbeitern  zu  thun  hat. 

Indess,  wenn  die  W ohlfahrtseinrichtungen  wirklich 
ihren  Namen  verdienen,  wenn  sie  den  edelsten  und  selbst- 
losesten Motiven  entspringen,  wenn  sie  durchaus  vorwurfs- 
frei verwaltet  werden,  wenn  die  in  Bezug  aut  Ernährung 
und  Wohnung  geschaffenen  Verbesserungen  nicht  zu  Lohn- 
herabsetzungen oder  zu  der  Verweigerung  von  Lohnauf- 
besserungen führen,  selbst  dann  empfinden  die  Arbeiter 
über  dieselben  keine  besondere  Befriedigung.  Herr  Kalle 
bestreitet  das,  macht  sich  aber  die  Begründung  sehr  leicht. 
Ihm  genügt  schon  der  Widerstand,  welchen  die  Sozial- 
demokratie der  Errichtung  der  Arbeiterwohnungen  durch 
die  Werkbesitzer  entgegensetzt,  als  Beweis  dafür,  dass  die- 
selben die  Arbeiter  glücklich  und  zufrieden  machen.  Nach 
der  Logik  Kalle’s  müssen  dann  die  von  der  Sozialdemokratie 
so  warm  vertretenen  Verbesserungen  des  Arbeiterschutzes, 
der  beruflichen  Organisation,  des  Steuerwesens,  der  Armen- 
pflege u.  s.  w.  eine  ausserordentlich  aufreizende  und  be- 
unruhigende Wirkung  auf  die  Arbeiter  ausüben.  Sozial- 
politiker, welche  den  Wunsch  haben,  ernst  genommen  zu 
werden,  sollten  sich  denn  doch  allmählich  zu  etwas  sach- 
licheren Argumenten  verstehen. 

Die  Arbeiter  wollen  das,  was  heute  bereits  wirthschaft- 
lich  möglich  ist,  sich  selbst,  ihrer  eigenen  Tüchtigkeit  ver- 
danken. Sie  sagen  sich,  wie  ein  amtlicher  Bericht  Badens 
erfreulicher  Weise  anerkennt,  „dass  eine  Gesellschaftsklasse 
so  wenig  wie  der  Einzelne  lediglich  durch  die  Empfang- 
nahme von  Wohlthaten  auf  eine  höhere  Stufe  gehoben 
werden  kann,  und  dass  eine  dauerhafte  gesellschaftliche  Ab- 
wärtsbewegung sich  in  der  Hauptsache  nur  durch  ihre 
eigenen  Anstrengungen  erreichen  lässt.“ 


V ermögen  nun  auch  die  verschiedenen  kleinen  materiellen 
Vortheile  der  Wohlfahrtseinrichtungen  eine  wirkliche  Zu- 
friedenheit auf  Seiten  der  Arbeiter  nicht  zu  begründen,  so 
können  sie  im  Lauf  der  Zeit  doch  dadurch  gefährlich 
werden,  dass  sie  das  Ehrgefühl,  die  unabhängige,  selbst- 
ständige Sinnesart,  das  Streben  nach  höherer  Bildung  und 
sozialer  Bedeutung  in  der  Arbeiterklasse  abstumpfen,  ja  er- 
tödten.  Man  denke  an  die  lange  Zeit  geradezu  fossiler  Zu- 
stände Mülhausens  oder  Saltaire’s.  Immerhin  lebt  so  viel 
gesunde,  frische  Kraft  in  unserer  Arbeiterwelt,  dass  diese 
Gefahr  nicht  eben  die  schlimmste  ist.  Meist  sind  auch  die 
Nebenabsichten,  welche  mit  der  Errichtung  der  Wohlfahrts- 
einrichtungen verfolgt  werden,  so  deutlich,  die  schützende 
Hand  der  Fabrikpatriarchen  lastet  oft  so  schwer  auf  ihren 
„Kindern“,  dass  gerade  diese  Einrichtungen  nur  einen  um  so 
mächtigeren  Gegendruck  hervorrufen.  Man  erinnere  sich  z.  B. 
an  die  Essener  Reichstagswahl  von  1887! 

Weit  mehr  fällt  die  Gefahr  ins  Gewicht,  dass  in  folge 
dieses  Patronagesystemes  die  Arbeiterbewegung  von  offenen 
Bahnen  auf  geheime  übergeht,  und  dass  sozialpolitische 
Bestrebungen  grösserer  Tragweite,  wie  die  Entwicklung 
des  gesetzlichen  Arbeiterschutzes,  die  trotz  der  eben  er- 
folgten Reform  noch  so  viel  zu  wünschen  übrig  lässt,  die 
Entwicklung  der  freien  Berufsorganisationen,  der  Arbeiter- 
konsum- und  Produktivvereine,  der  Fürsorge  für  Arbeits- 
lose, der  sozialen  Steuerpolitik,  der  Wohnungsgesetzgebung 
u.  s.  w.  aus  dem  Brennpunkte  der  sozialpolitischen  Inter- 
essen der  massgebenden  Kreise  gedrängt  werden,  kurz,  dass 
so  die  Zeit  für  eine  grundlegende  Sozialreform  verabsäumt 
wird. 

Mit  diesen  Ausführungen  soll  übrigens  der  Kleinarbeit 
auf  sozialem  Gebiete  ebenso  wenig  entgegengetreten  werden 
wie  der  Betätigung  der  besitzenden  und  gebildeten  Klassen 
auf  dem  Boden  der  sozialen  Reform.  Erstere  kann  sicher 
fruchtbar  und  segensreich  wirken,  wenn  sie  sich  in  der 
Richtung  der  grossen  sozialen  Reformwerke  bewegt,  die- 
selben ergänzt,  fördert  oder  vorbereitet.  Und  was  die  An- 
gehörigen der  bürgerlichen  Gesellschaft  und  namentlich  der 
Arbeitgeber  betrifft,  so  sprechen  wir  ihnen  sogar  noch  weit 
höhere  Pflichten  zu  als  die,  Suppenanstalten,  Waschküchen, 
Fabrikspeisesäle,  Gesangvereine,  Fabrikfeuerwehren  und 
Jugendspielplätze  für  die  Arbeiter  zu  errichten.  Ihnen  fällt 
die  Aufgabe  zu,  die  Gleichberechtigung  des  Arbeiters  im 
wirthschaftlichen,  sozialen  und  politischen  Leben  praktisch 
anzuerkennen,  ihr  reiches  Wissen  und  ihre  Erfahrungen 
selbstlos,  ohne  die  Absicht,  dadurch  gewisse  politische  oder 
konfessionelle  Lieblingsideen  zu  fördern1),  in  den  Dienst 
der  sozialen  Reform  zu  stellen,  die  Kulturerrungenschaften 
der  Menschheit  unserem  schwer  arbeitendem  Volke  zu- 
gänglich zu  machen  und  so  gebend  — und  sicher  oft  auch 
empfangend  — die  Einheit  unserer  Kultur  und  Gesittung 
wieder  herzustellen.  Nicht  die  Salt,  Krupp,  Dollluss, 
Brands,  sondern  die  Fielden,  Mundella,  Dale,  Chamberlain, 
sind  es,  welche  als  Arbeitgeber  um  die  soziale  Reform  sich 
bleibende  Verdienste  erwerben  und  erworben  haben,  und 
nicht  einer  ministeriell  protegirten  Auskunftsstelle  für 
Arbeiter- Wohlfahrtseinrichtungen,  sondern  einer  Verwand- 
lung seiner  ganzen  Regierung  in  eine  Centralstelle  für 
Volkswohlfahrt  und  Volksbildung  bedarf  das  Deutsche  Reich. 

Freiburg  i B.  Heinrich  Herkner. 


i)  Nach  dieser  Hinsicht  enthält  das  kurze,  abei  inhalts- 
reiche Referat  des  Werkmeisters  Zander,  wohl  des  einzigen  aus 
dem  Arbeiterstande  hervorgegangenen  Theilnehmers  an  cler 
kürzlich  stattgehabten  „Arbeiter“  - Wohlfahrtskonferenz , _ eine 
Reihe  höchst  beachtenswerther  Mahnungen,  die  indess  bei  den 
übrigen  Herren  wenig  Verständniss  gefunden  zu  haben  scheinen. 
Vergl.  Vorberichte  für  die  Konferenz  am  25.  und  -6.  April  18.- 
Berlin,  C.  Heymanns  Verlag  1892.  S.  139  ft. 


250 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  20. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
statistik. 

Untersuchung  der  Bodenverschuldung  in  der  Schweiz. 

Die  vom  schweizerischen  Landwirthschaftsdeparte- 
ment  angeordnete  Erhebung  der  Bodenverschuldung  stösst 
auf  grosse  Schwierigkeiten.  In  den  meisten  Kantonen 
scheint  es  unmöglich  zu  sein,  den  vorzugsweise  landwirth- 
schaftlich  benützten  Grundbesitz  und  dessen  Verschuldung 
aus  dem  gesammten  Immobiliarbestand  auszuscheiden.  In 
sehr  vielen  Kantonen  könnte  zudem  die  relative  Höhe  der 
Verschuldung  nicht  bestimmt  werden,  weil  es  an  einer  amt- 
lichen Werthschätzung  des  Grundbesitzes  fehlt.  Um  nun 
wenigstens  tiir  die  Zukunft  eine  Grundlage  für  zuverlässi- 
gere Ermittlung  der  landwirthschaftlichen  Kreditverhält- 
nisse zu  schaffen,  hat  das  schweizerische  Landwirthschafts- 
departement  für  zweckmässig  erachtet,  die  ganze,  diese 
Enquete  betreffende  Frage  einer  Versammlung  kantonaler 
Abgeordneter  zur  Berathung  zu  unterbreiten. 

Die  Versammlung  fand  am  20.  April  statt.  Die  Abge- 
ordneten der  meisten  Kantone  erklärten,  dass  bei  der  lücken- 
haften Eintragung  der  Grundschulden  von  einer  rückwärts 
sich  erstreckenden  Ermittlung  sämmtlicher  eingetragenen 
Vorzugs-  und  Unterpfandrechte  in  allen  Gemeinden  des 
Landes  Umgang  genommen  werden  müsse,  namentlich  auch 
desswegen,  weil  in  den  Grundbüchern  eine  mehr  oder 
minder  grosse  Anzahl  Einträge  sich  befinden,  deren  Löschung 
zu  bewirken  die  Betheiligten  Steuerzwecke  wegen  gewöhn- 
lich lange  Zeit  unterlassen,  so  dass  mühevolle  Spezialunter- 
suchungen nothwendig  wären.  Die  Versammlung  glaubte 
aus  diesen  Gründen  dem  Bundesrath  empfehlen  zu  sollen, 
aut  diese  Erhebungen  zu  verzichten  und  sich  auf  die  Samm- 
lung der  Thatsachen  zu  beschränken,  durch  welche  diese 
Verschuldung  verursacht  wurde.  Ebenso  fand  die  Ver- 
sammlung, dass  von  einer  statistischen  Zusammenstellung 
von  Thatsachen  aus  dem  Gebiete  der  Schuldbetreibung  für 
die  Zeit  vor  Inkrafttreten  des  Bundesgesetzes  über  Schuld- 
betreibung und  Konkurs  (1.  Januar  1892)  gleichfalls  abzu- 
sehen sei,  weil  diese  Arbeit  in  den  meisten  Kantonen  nur 
mit  erheblichen  Schwierigkeiten  oder  gar  nicht  durchzu- 
führen wäre  und  ohnehin  nur  einen  Werth  hätte,  wenn  sie 
sich  auf  30  oder  40  Jahre  zurückerstrecken  würde.  Dagegen 
wurde  der  Bundesrath  ersucht,  für  die  Zeit  nach  Inkraft- 
treten des  eidgenössischen  Konkursgesetzes  einheitliche 
Vorschriften  über  eine  regelmässige  Statistik  der  Zwangsver- 
steigerungen landwirthschaftlicher  Anwesen  zu  erlassen. 

Es  steht  zu  erwarten,  dass  die  Berathungen  der 
Versammlung  Anstoss  zu  Verbesserungen  auf  agrarstatisti- 
schem Gebiet  geben  werden,  in  welchem  die  Schweiz 
hinter  anderen  Staaten  leider  noch  zurücksteht.  Könnte 
man  sich  in  den  Kantonen  zur  einheitlichen  Registrirung 
der  Grundschulden  verständigen,  so  wäre  es  nicht  schwierig, 
die  alljährlichen  Hypothekenbewegungen  zu  ermitteln.  Man 
bedarf  aber  in  der  Schweiz  auch  einer  Statistik  über  die  Pro- 
duktions- und  die  Besitzvertheilung.  Daneben  muss  neben 
den  allgemeinen  Erhebungen  eine  gründliche  Untersuchung 
einer  Reihe  über  das  ganze  Land  vertheilter  landwirth- 
schaftlicher Betriebe  vorgenommen  werden,  wenn  man  zu- 
verlässige Auskunft  über  die  Kreditverhältnisse  der  Land- 
wirthschaft  erhalten  will,  da  hier  am  genauesten  der  Ein- 
fluss der  Gesetzgebung,  der  öffentlichen  Krediteinrichtungen 
und  der  landwirthschaftlichen  und  allgemein  wirtschaft- 
lichen Nothzeiten  und  Aulschwungsperioden  beobachtet 
werden  kann.  Die  Kenntniss  der  tatsächlichen  Rentabili- 
tätsverhältnisse kann  nur  auf  diesem  Wege  erworben 
werden  und  erst  auf  Grund  dieser  Kenntniss  ist  eine  sichere 
Würdigung  des  zulässigen  Grades  der  Verschuldung  er- 
möglicht. 

Es  liegt  in  der  Absicht  des  Landwirthschaftsdeparte- 
ments,  solche  typischen  Erhebungen  in  einzelnen  Gemeinden, 
Bezirken,  eventuell,  wo  die  Verhältnisse  es  gestatten,  Kan- 
tonen, zu  veranstalten.  Auch  wird  das  Departement  aus 
den  kantonalen  Amtsberichten,  den  Berichten  von  Notariaten 


und  Gerichtsbehörden,  den  Berichten  der  Hypothekarbanken 
den  Publikationen  der  statistischen  Bureaux,  sowie  au; 
Zeitungen  und  Broschüren  die  Thatsachen  zusammenstellen 
welche  es  über  die  Boden  Verschuldung  in  Erfahrung  bringei 
kann.  Eine  Zunahme  der  hypothekarischen  und  sonstige! 
Verschuldung  kann  an  vielen  Orten  unzweifelhaft  angenom 
men  werden  und  ebenso  wird  in  einzelnen  Kantonen  kon 
statirt,  dass  diese  Verschuldung  in  jüngster  Zeit  in  einem  wei 
schnelleren  Tempo  fortschreitet  als  früher.  Die  Kantons^ 
behörden  werden  zu  untersuchen  haben,  wo  die  Ursache! 
liegen.  Die  Aufmerksamkeit  wird  unter  Anderem  speziell  au 
das  öffentliche  Kreditwesen  und  seine  Wirkung  auf  die  Land 
wirthschaft  gerichtet  werden  müssen,  denn  hier  ist  eine 
der  Ursachen  des  Uebels  zu  suchen.  Die  heutigen  Erträg 
nisse  der  Landwirthschaft  stehen  in  keinem  Verhältniss  zi 
dem  Zinstribut,  welcher  auf  dem  Grund  und  Boden  lastet 
Wenn  so  viele  Geldinstitute,  die  sich  ausschliesslich  auf  da: 
Hypothekargeschäft  beschränken,  rühmen  können,  wie  si« ! 
ihren  Aktionären  alljährlich  7 und  mehr  Prozent  Dividend« 
zahlen,  dann  braucht  man  sich  nicht  zu  wundern,  dass  du 
Bodenverschuldung  so  beängstigend  wächst.  Offenbar  taug 
das  Aktienprinzip  hier  absolut  nichts,  die  Genossenschaft 
Staat  und  Gemeinden  müssen  eintreten  und  die  landwirth 
schaftliche  Kreditvermittlung  in  ihre  Hand  nehmen. 

Aarau.  E.  Naef. 


Die  Krisis  in  der  schweizerischen  Uhrenindustrie.  Du 

nun  schon  seit  dem  Herbst  dauernde  Krisis  in  der  Uhrenindustru 
ist,  wie  wir  einem  Bericht  der  Münchener  ,, Allgemeinen  Zeitung' 
entnehmen,  viel  ernster,  als  die  Stockungen  in  den  sechzige: 
und  siebziger  Jahren  gewesen  sind.  Sie  ist  um  so  ernster,  als 
die  Ursache  nur  theilweise  in  äusseren  Umständen  gesuch 
werden  kann;  die  Industrie  selber  hat  sie  hervorgebracht  unt 
wird  um  so  länger  daran  zu  leiden  haben,  als  es  ihr  sehr  schwel 
tallen  wird,  einen  neuen  Weg  einzuschlagen.  Die  Hauptschuld 
denn  man  darf  da  wohl  von  Schuld  reden,  trägt  die  gewaltig! 
Ueberproduction,  eine  Folge  des  Ueberganges  vom  frühere! 
Ateliersystem,  das  sich  bis  zu  einem  gewissen  Grad  auf  die 
Hausindustrie  stützte,  zur  Grossfabrikation.  Die  in  den  letzter 
anderthalb  Jahrzehnten  überall  entstandenen  grossen  Uhren 
fabriken  haben  die  Kleinindustrie  aufgesogen,  wenigstens  fü 
die  gewöhnliche  Waare  und  diese  Fabriken  machten  sich  nacl 
und  nach  eine  Konkurrenz,  deren  Folge  nicht  nur  eine  nie  da 
gewesene  Ueberproduction  war,  sondern  auch  ein  allgemeine! 
Sinken  der  Preise.  Die  „Federation  horlogere  ‘ deckt  schonungs 
los  den  Schaden,  welcher  an  der  Industrie  frisst  auf  und  nenn, 
mit  vollem  Recht  das  gegenseitige  Ueberbieten  der  Fabrikanten 
von  denen  jeder  mehr  und  wohlfeiler  liefern  möchte  als  de 
Nachbar,  ein  selbstmörderisches.  Viele  richten  sich  zu  Gründe 
einige  wissen  einen  Erfolg  zu  erzielen  auf  Kosten  der  Zukunf 
und  auf  Kosten  der  ganzen  Bevölkerung  der  Gebiete  des  Jura 
die  aut  die  Uhrmacherei  fast  ausschliesslich  angewiesen  sind 
Die  Erfolge  dieser  allgemeinen  Hetzjagd  der  Fabrikanten  sine 
das  verderbliche  Treiben  der  Spekulanten  und  Zwischenhändler 
die  Verschleuderung  grosser  Vorräthe  durch  diesen  oder  jener 
in  Verlegenheit  gerathenen  Produzenten,  demoralisirende  au 
gefährliche  Auskunftsmittel  gestützte  Geschäftspraktiken,  da: 
Herabsinken  früher  anständig  bezahlter  und  anständig  lebende) 
Arbeiter  zu  in  Elend  verkommenden  Proletariern.  Man  hat  in  dei 
Uhrmachergegenden  wie  ausserhalb  derselben  das  Uebel  wohl  er 
kannt,  und  es  ist  sehr  erfreulich  zu  sehen,  wie  gutgesinnte  unc 
in  die  Ferne  blickende  Fabrikanten  und  wie  diese  oder  jent 
Arbeiterverbände  das  Gleiten  auf  der  schiefen  Fläche  aufzuhalter 
versuchen.  Schon  vor  längerer  Zeit  versuchte  man  es  mit  dei 
Bildung  von  Syndikaten  mit  strengen  Conventionen  bezüglicl 
der  Fabrikation,  des  Handels,  der  Preise  und  der  Arbeitslöhne 
aber  dieses  oder  jenes  Syndikat  wurde  durch  Mitglieder,  denei 
Geduld  und  Geld  ausgingen,  gesprengt  Man  bildete  neue,  und 
gegenwärtig  ist  die  Ueberzeugung  allgemein  verbreitet,  dass  nui 
in  solchen  Vereinigungen  mit  den  strengsten  Satzungen  da.- 
Mittel  für  eine  Besserung  der  Zustände  gefunden  werden  könne 
Aber  wird  man  es  zu  obligatorischen  Syndikaten  bringen  können : 
Und  wenn  auch,  so  wird  es  kaum  möglich  sein,  die  schlechter 
Geschäftsgewohnheiten  auszutreiben,  die  sich  unterdessen  ein- 
genistet haben,  oder  die  tief  gesunkenen  Preise  und  Löhne 
wieder  zu  steigern.  Jedenfalls  müsste  die  Sanirung  der  Verhält 
nisse  sich  auch  auf  verschiedene  Missbräuche  im  Verkehrsleben 
ausdehnen,  wie  z.  B.  auf  das  überaus  schädliche  System  der 
sechsmonatlichen  Kredites,  das  in  mehreren  Gegenden  herrschl 
und  nicht  geeignet  ist,  die  Bevölkerung  zur  Sparsamkeit  aufzu- 
muntern. Wir  brauchen  nicht  daran  zu  erinnern,  dass  die  Uhren- 
fabrikation in  der  Schweiz  eine  Nationalindustrie  geworden  ist 
um  das  grosse  Interesse  zu  erklären,  welches  die  Verlängerung 
der  gegenwärtigen  Krisis  in  weiteren  Kreisen  zu  erregen  beginnt 


No.  20. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


251 


Italienisches  Zündliolzmonopol.  Im  Gegensätze  zu  dem 
schweizerichen  Zündhölzermonopol  werden  mit  dem  in  Italien 
geplanten  lediglich  fiskalische  Zwecke  verfolgt.  Das  Monopol 
soll  an  eine  zu  bildende  Gesellschaft  verpachtet  werden.  In 
den  bekannt  gewordenen  ausführlichen  Vertragsbestimmungen 
findet  sich  keine  einzige  den  Schutz  der  Arbeiter  betreffende 
Bestimmung,  obgleich  es  doch  sehr  leicht  gewesen  wäre,  die 
Sanitären  Interessen  der  Arbeiter  bei  dieser  Gelegenheit  aui 
weit  einfachere  Weise  als  auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung  zu 
sichern. 


Arbeiterzustände. 


Haushalt  einer  Arbeiterfamilie  in  Bayern. 

In  No.  16  des  „Sozialpolitischen  Centralblatts“  war 
aus  den  Berichten  der  Bayrischen  Fabrikinspektoren  mit- 
getheilt,  wieviel  in  einer  normal  ländlichen  Arbeiterfamilie 
im  südlichen  Oberbayern,  bestehend  aus  Mann,  Frau  und 
drei  1 — 3 Jahre  alten  Kindern  wöchentlich  verzehrt  wird. 
Die  Angabe  lautete:  „Gebraucht  werden  durchschnittlich  in 
der  Woche  115  gr  Kaffee  (dazu  noch  Mandel-  und  Feigen- 
kaffee), 14  1 Milch,  1,6  kg  Zucker,  2,9  kg  Mehl,  circa  '/•  kg 
Rindfleisch,  115  gr  Erbsen,  575  gr  Rollgerste  (oder  ent- 
sprechend Kartoffeln)  115  gr  Gries,  230  gr  Salz,  920  gr 
Butter,  345  gr  Rollfett,  18 — 14  1 Bier  (im  Sommer),  um 
2,26  M.  Schwarz-  und  Weissbrod,  0,23  M.  Eier,  circa  I M. 
Sonstiges.“ 

In  der  Kritik,  welche  vom  „Sozialpolitischen  Central- 
)latt“  an  dieses  Budget  geknüpft  war,  hiess  es  dann:  „Das 
Dürftige  und  Unrationale  dieser  Ernährung  sticht  zu  sehr 
ins  Auge,  als  dass  es  besonders  hervorgehoben  zu  werden 
brauchte.  Die  nichtstickstoffhaltigen  Speisen  (in  dem 
Bericht  stand  in  Folge  eines  Druckfehlers:  die  stickstoff- 
laltigen  Speisen)  überwiegen  ausserordentlich  und  jede 
Abwechslung  fehlt.  Wenn  man  bedenkt,  dass  auch  drei 
I— 3jährige  Kinder  von  dieser  Kost  jahraus,  jahrein  leben, 
;o  braucht  man  sich  über  eine  Degeneration  der  Arbeiter- 
levölkerung  nicht  zu  wundern.“ 

Die  mitgetheilten  Ziffern  über  den  Verbrauch  an 
Nahrungsmitteln  eignen  sich,  um  festzustellen,  inwieweit 
lie  Ernährung  dieser  ländlichen  Familie  dem  Kostenmass 
mtspricht,  das  als  durchschnittliche  Nahrungseinnahme 
lach  Prof.  Voit  täglich  von  einem  Erwachsenen  verbraucht 
verden  soll.  Es  beträgt  bekanntlich  118  gr  Eiweiss,  58  gr 
fett  und  500  gr  Kohlehydrate  (Mehl-  und  Zuckerstoffe). 
Venn  der  obenerwähnte  Speisezettel  nach  den  Tabellen 
ro n Prof.  König  auf  seinen  Nährwerth  berechnet  wird,  er- 
gebt sich  Folgendes: 


Nahrungsmittel 

Ei- 

weiss 

% 

Fett 

% 

Koh- 

lehy- 

drate 

% 

Ei- 

weiss 

gr 

Fett 

gr 

Kohle- 

hy- 

drate 

gr 

115  gr  Kaffee  (ungebrannt)  . 

13,0 

_ 

_ 

15,0 

14  f Milch  =:  1400  gr  . . . 

3,5 

4,0 

4,4 

49,0 

56,0 

61,6 

600  gr  Zucker 

900  „ Mehl  (grob.  Weizen- 

97,0 

— 

— 

109,2 

mehl) 

500  gr  Rindfleisch  (mittel- 

11  8 

1,4 

72,2 

242,2 

39,1 

2093,7 

fettes  Rindfleisch)  . . . 

20,9 

5,2 

0,5 

104,5 

26,0 

2,5 

115  gr  Erbsen 

22,9 

1,8 

52,4 

26,3 

20,7 

60,3 

575  „ Rollgerste  .... 

7,3 

1,2 

76,2 

42,0 

6,9 

438,2 

115  „ Gries  (Weizengries)  . 

11,0 

— 

70,0 

12,7 

— 

80,5 

230  „ Salz  . . .'  . . . 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

920  „ Butter  .... 

0,7 

83,3 

0,4 

6,4 

766,4 

3,7 

345  „ Rollfett  (Schweinefett 
18—14  1 Bier  (in  Rechnung 

92,2 

318,1 

1600  gr  Bier) 

'ür  2 M.  26  Pf.  Brod  ä Kilo- 
gramm 24  Pf.  (in  Rech- 
nung 9500  gr  Schwarz- 

0,4 

5,7 

64,0 

91,2 

brod) 

fier  für  23  Pf.  = 6 Stück  mit 

6,1 

0,4 

47,0 

579,5 

38,0  4465,0 

270  gr  Inhalt 

12,6 

12,1 

0,6 

34,0 

32,7 

16,2 

Summe 

1175,6 

1 

1303,9!  7503,2 

Mann,  Frau  und  3 Kinder  von  1 — 3 Jahren  sind  gleich 
3 Erwachsenen  zu  rechnen,  die  in  7 Tagen  die  eben  be- 
rechneten 1175,6  gr  Eiweiss,  1303,9  gr  Fett  und  7503,2  gr 
Kohlenhydrate  zu  sich  nehmen,  mithin  täglich  pro  Kopf 
der  Erwachsenen:  56,9  gr  Eiweiss,  62,1  gr  Fett  und 
357,3  gr  Kohlehydrate. 

Es  wird  jetzt  deutlich  ersichtlich,  welch  bedeutendes 
Defizit  in  der  Ernährung  vorhanden  ist;  die  im  Budget  auf- 
geführten: „1  Mark  Sonstiges“  sind  wohl  kaum  für  Nah- 

rungszwecke verwendet  worden. 

Die  Nahrungsbilanz  ergiebt  dann,  dass  anstatt  118  gr 
Eiweiss  nur  56  gr  verzehrt  wurden,  also  47,5  %,  das  heisst 
mit  anderen  Worten:  Wenn  die  Familie  sich  mit  der  er- 
forderlichen Eiweissmenge  ernähren  wollte,  so  könnte 
sie  dies  im  Jahre  nur  173  Tage,  während  sie  192  Tage 
auf  jegliche  Eiweissnahr ung  verzichten  müsste! 
Schon  einige  Wochen  vollständiger  Eiweissmangel  in 
der  Nahrung  würden  hinreichen,  um  den  Tod  herbeizu- 
führen! Der  ständige  theilweise  Eiweissmangel  führt  nicht 
den  augenblicklichen,  sondern  den  schleichenden  Tod  her- 
bei, der  zu  verkürzter  Lebensdauer  und  körperlicher  Ent- 
artung führt 

Die  Fettaufnahme  ist  etwas  mehr  als  zureichend,  da- 
für aber  die  Zufuhr  von  Kohlenhydraten  (Stärkemehl  und 
Zucker)  eine  um  so  geringere,  nur  71  % der  erforderlichen 
Menge  werden  verbraucht! 

Die  erschreckend  hohen  Sterblichkeitsziffern  der  Ar- 
beiterbevölkerung erklären  sich  durch  die  durchwegs  zu 
geringe  Eiweisszufuhr  in  der  Nahrung;  die  Mittheilung  von 
Arbeiterbudgets  ermöglicht  einen  genauen  Nachweis,  in 
wie  geringem  Maasse  die  wissenschaftlich  als  nothwendig 
erkannte  Nahrung  der  arbeitenden  Bevölkerung  zu  theil 
wird.  Eine  Untersuchung  der  Lebenshaltung  der  arbei- 
tenden Bevölkerung  wäre  die  wichtigste  Aufgabe  der  Kom- 
mission für  Arbeiterstatistik,  wenn  dieselbe  dazu  bestimmt 
sein  würde,  den  Schleier  von  jenem  Elend  wegzuziehen,  in 
dem  sich  Deutschlands  Arbeiter  befinden! 

Arbeiterwaiideruugen  innerhalb  Deutschlands.  Der 

„Schles.  Ztg.“  wird  aus  Posen  geschrieben:  „Die  seit  Jahren 
zunehmende  Arbeiterwanderung  nach  dem  Westen  scheint 
neuerdings  eine  rückläufige  Bewegung  hervorzurufen.  Wie 
berichtet  wird,  sind  vor  dem  Osterfeste  mehrfach  Arbeiter- 
familien aus  den  Provinzen  Brandenburg  und  dem  west- 
lichen Schlesien  auf  den  Gütern  um  Wreschen  (Provinz 
Posen)  eingetroffen,  um  entweder  für  den  Sommer  Arbeit 
zu  nehmen,  oder  sich  auch  dauernd  als  Instleute  nieder- 
zulassen. Der  Zuzug  neuer  Arbeiter  soll  auch  nach  anderen 
Gegenden  der  Provinz  Posen  so  stark  gewesen  sein,  dass 
die  durch  die  Auswanderung  leer  gewordenen  Stellen  fast 
ganz  besetzt  worden  sind.  Hiernach  zu  urtheilen  scheint 
der  dauernde  starke  Zuzug  von  Arbeitern  aus  den  polni- 
schen Landestheilen  in  den  Westprovinzen  einen  Ueberfluss 
an  Arbeitskräften  herbeigeführt  zu  haben.  Dafür  spricht 
auch  der  weitere  Umstand,  dass  in  diesem  Frühjahr  soge- 
nannte Sachsengänger  mehrfach  zurückgekehrt  sind,  weil 
sie  im  Westen  kein  Engagement  gefunden  haben.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Die  letzten  englischen  Strikes. 

Wie  bekannt,  sind  zwei  kolossale  Strikes  im  Norden 
von  England  im  Gang  — der  der  Baumwollearbeiter  in 
Lancashire  und  der  der  Bergleute  von  Durham.  Ueber  die 
wahren  Ursachen  des  Streits  und  über  die  heutige  Lage 
der  Dinge  sich  eine  richtige  Vorstellung  zu  machen,  ist  un- 
möglich, ausgenommen  für  Leute,  die  am  Platz  selbst  sind 
und  alle  Details  dieser  Kämpfe  kennen.  Schon  seit  einiger 
Zeit  herrschte  „Missstimmung“  in  den  Fabriken  von  Lan- 
cashire, in  wie  weit  der  jetzige  Streit  und  die  jetzige  Aus- 
sperrung die  Folgen  davon  sind,  können  indessen  nur  die- 
jenigen sagen,  welche  in  die  Geheimnisse  sowohl  der  Fa- 
brikanten wie  der  Arbeiter  eingeweiht  sind.  Der  Streit  be- 
gann in  Staleybridge  wegen  Einstellung  von  Nicht-Union- 
arbeitern, andere  Fragen  entsprangen  aus  dem  ursprüng- 


252 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  20. 


liehen  Streite  und  heute  ist  Alles  in  Verwirrung.  Aber 
zwei  Dinge  sind  ganz  sicher:  einmal  verwerfen  die  Fabri- 
kanten beständig  jede  schiedsrichterliche  Entscheidung,  und 
nicht  zufrieden  mit  der  bisherigen,  nur  theilweisen,  ver- 
suchen sie  Alles,  eine  allgemeine  Aussperrung  herbeizu- 
führen. Die  andere  unbestrittene  Thatsache  ist,  dass  selbst 
die  wunderbar  organisirten  Fabrikarbeiter  von  Lancashire 
jetzt  anfangen,  einzusehen,  dass  die  gesammten  Anstren- 
gungen auch  starker  und  einander  in  die  Hände  arbeitender 
Trades  Unions  allein  den  Arbeitern  nicht  genügenden 
Schutz  gewähren.  In  dieser  Beziehung  verdient  Beachtung 
ein  sehr  bemerkenswerther,  nicht  gezeichneter  Artikel  des 
Fachblattes  der  Fabrikarbeiter;  Jedermann  vermuthet 
j.  Ashton,  den  Sekretär  der  Oldham-Spinner  dahinter.  In 
demselben  verweist  der  Verfasser  einfach  auf  die  Noth- 
wendigkeit  einer  politischen  Action  und  eines  gesetz- 
lichen Achtstundentages.  Die  enorme  Wichtigkeit  hiervon 
kann  nur  von  denjenigen  gewürdigt  werden,  die  wissen, 
wie  erbittert  die  Lancashire-Spinner  und  Weber  bis  jetzt 
nicht  nur  einen  gesetzlichen  Achtstundentag  bekämpit  haben, 
sondern  überhaupt  einen  Achtstundentag.  Unterdessen  hat 
die  Manchester-United  Manufacturers  Association  gerade  eine 
Versammlung  abgehalten,  auf  der  fast  alle  Hauptfabriks- 
centren  vertreten  waren.  Dort  wurde  beschlossen,  ein 
Zirkular  zu  erlassen,  worin  alle  Fabrikanten  des  Gewerbes 
gefragt  werden  sollen,  ob  sie  sich  nicht  herbeilassen  wollen, 
„die  Produktion  auf  drei  Tage  in  der  Woche  zu  beschrän- 
ken“, unter  der  Voraussetzung,  dass  „zwei  Drittel  der  Web- 
stuhlbesitzer in  den  bezüglichen  Distrikten  dies  thun 
würden.“  — Zunächst  weist  die  Situation  auf  einen  verlän- 
gerten und  erbitterten  Kampf  hin. 

In  Durham  wird  wahrscheinlich  der  Kampf  bald  seinem 
Ende  entgegen  gehen,  — kein  Wunder,  die  Leute  sind  in 
der  siebenten  Strikewoche.  Auch  hier  ist  der  eigentliche 
Streitpunkt  dunkel,  während  der  thatsächliche  Ausgang  des 
Kampfes  für  die  Bergleute  im  Ganzen  nur  nützlich  sein 
kann.  Bis  jetzt  haben  die  Durhamleute  sich  immer  von 
den  verschiedenen  Föderationen  der  Bergarbeiter  ganz  fern- 
gehalten, und  in  Gemeinschaft  mit  ihren  Kollegen  von  North- 
umberland  auf  jedem  Trades  - Union  - Congress  die  Forde- 
rung einer  Achtstundenbill  für  Bergleute  bekämpft.  Sie 
arbeiteten,  behaupteten  sie,  nur  6 Stunden  (eine  trotz  alle- 
dem in  mancher  Hinsicht  illusorische  Angabe),  aber  dass 
die  Jungen  11  Stunden  arbeiten  müssen,  war  allem 
Anschein  nach  ihrer  Beachtung  nicht  werth.  Der  gegen- 
wärtige Kampf  nun  treibt  sie  mit  Nothwendigkeit  in  die 
Reihen  der  übrigen  Bergleute. 

Wie  schwer  es  oft  ist,  den  wahren  Hintergrund  solcher 
Streitigkeiten  wirklich  zu  verstehen,  beweist  der  neuliche 
grosse  Streit  der  Tyneside-Maschinenbauer.  Dieser  Strike 
dauerte  viele  Wochen  und  kostete  der  Maschinenbauer- 
Union  etwa  80  000  Lstr.  Die  Leute  wurden  geschlagen,  und 
das  nicht  unnatürliche  Gefühl  aller  derjenigen,  die  nur  die 
Aussenseite  des  Falles  kannten,  mochte  sich  in  dem  Ruf 
ausdrücken:  „Geschieht  ihnen  recht.“  Der  Strike  schien 

so  sehr  vom  Zaun  gebrochen,  so  sehr  hervorgerufen 
durch  einen  wahrhaft  mittelalterlichen  Zunftgeist,  dass  er 
in  Südengland  nur  wenig  Sympathie  fand.  Angeblich 
handelte  es  sich  darum,  Männer  eines  verwandten  Ge- 
werbes — Plumbers  — zu  verhindern,  eine  gewisse 
Arbeit  zu  verrichten,  auf  die  nur  Maschinenbauer  Anspruch 
hatten.  Darum  zu  kämpfen,  scheint  kaum  der  Mühe  werth; 
den  Aussenstehenden  machte  es  mehr  den  Eindruck  eines 
Handwerkskrakehls  zwischen  den  Arbeitern  selbst,  als  eines 
Kampfes  der  Arbeiter  gegen  die  Unternehmer.  Aber  was 
waren  die  wirklichen  Thatsachen?  Sie  sind  interessant  ge- 
nug für  eine  Richtigstellung,  umsomehr  als  sie  bisher  nir- 
gends veröffentlicht  wurden,  nicht  einmal  in  England. 

Die  Maschinenbauer  im  Norden  Englands  sind  die  bei 
Weiten  fortgeschrittenste  Sektion  dieser  im  Uebrigen  etwas 
reaktionären  Körperschaft.  Während  in  Folge  ihrer  eigenen 
kurzsichtigen  Politik  in  jeder  Maschinenwerkstätte  Südeng- 
lands Maschinenbauer  beschäftigt  werden,  die  der  Union 
nicht  angehören,  so  dass  die  Zahl  der  Nicht-Unionleute  oft 
die  der  Unionleute  übersteigt,  lassen  die  derben  Tynesiders 


keinen  „blackleg“  in  ihrer  Werkstatt  zu;  ein  solcher 
würde  im  ganzen  Distrikt  nicht  gefunden  werden. 
Ausserdem,  während  die  Maschinenbauer  in  den  meisten 
andern  Theilen  Grossbritanniens  darauf  bestehen,  eine  be- 
liebige Anzahl  Stunden  „Ueberzeit“  zu  arbeiten  — die  fest- 
gesetzten 54  Stunden  per  Woche  sind  in  Wirklichkeit  öfter  | 
70  oder  gar  80  — wurde  kürzlich  im  Norden  eine  erfolgreiche 
Bewegung  gegen  die  Ueberzeitarbeit  begonnen;  kein  Ma- 
schinenbauer arbeitet  heute  eine  Stunde  über  seine  54  (in 
manchen  Fällen  nur  53)  Stunden  per  Woche.  Darum 
handelt  es  sich:  der  wirkliche  Kampf  mit  den  Meistern 
drehte  sich  um  diese  Ueberzeitfrage  und  um  die  Zulassung 
von  Nicht-Union-Leuten,  die  für  niedere  Löhne  arbeiten. 
Der  Streit  entstand  nicht  so  sehr,  weil  die  Maschinenbauer 
den  Plumbern  eine  gewisse  Gattung  Arbeit  absprachen, 
sondern,  weil  sie  nicht  zugeben  wollten,  dass  dieselbe 
Arbeit,  für  die  sie  34  bis  38  Sh.  per  Woche  erhielten,  den 
Plumbern  gegeben  wird,  die  niedrigere  Löhne  erhalten 
(nur  24  bis  28  Sh.).  Vor  Allem  aber  beschwerten  sie  sich 
darüber,  dass  die  Arbeitgeber  den  Plumbern  Stücke  Arbeit 
übergaben,  die  von  Maschinenbauern  begonnen  worden 
waren  und  die  durch  Ueberstunden  fertig  zu  stellen  sie 
verweigert  hatten.  Ein  Maschinenbauer  z.  B.,  der  in  dem 
Augenblicke  die  Arbeit  eingestellt  hatte,  sobald  seine  Zeit 
um  war,  fand  am  nächsten  Morgen,  dass  ein  Plumber  statt 
seiner  auf  Ueberzeit  für  einen  niederen  Lohn  engagirt  worden 
war  und  die  Arbeit  beendigt  hatte.  Das  war  der  wirkliche 
Grund  des  Strikes  und  nicht  der  kleinliche,  gewöhnlich 
vermuthete.  Es  muss  noch  hinzugefügt  werden,  dass  die 
Maschinenbauer  selbst  noch  hätten  aushalten  können  — 
aber  hunderte  von  Arbeitern  aus  verwandten  Gewerben, 
die  nur  kleine  und  arme  Organisationen  haben,  waren  dem 
Verhungern  nahe.  Die  Statuten  ihrer  eigenen  Gesellschaft 
machten  es  den  Maschinenbauern  unmöglich,  diese  Männer  ! 
ganz  und  gar  zu  unterstützen,  — und  so  blieb  nichts  übrig 
als  nachzugeben.  Und  deswegen  arbeiten  die  Plumber 
noch  immer  „Ueberzeit“  — die  Maschinenbauer,  trotz  der 
Verluste  ihres  Strikes,  verweigern  sie.  Was  für  Schwierig- 
keiten noch  daraus  entstehen  werden,  ist  schwer  zu  sagen, 
aber  dass  die  Sache  noch  nicht  abgeschlossen,  ist  ganz 
gewiss. 

London.  Eleanor  Marx-Aveling.  ' 


Zwei  neue  französische  Arbeitsbörsen.  Vorigen 

Sonntag  sind  in  Frankreich  zwei  neue  Arbeitsbörsen  er- 
öffnet worden  und  zwar  eine  in  Angers  und  eine  in 
Montpellier.  Letztere  Stadt  besitzt  zwar  schon  seit 
vorigem  Jahre  eine  Arbeitsbörse,  doch  war  diese  bisher 
nur  provisorisch  untergebracht.  Gegenwärtig  hat  sie  nun 
ein  eigenes  ebenerdiges  Lokal,  das  aus  vier  kleineren 
Sälen  besteht,  bestimmt  für  Arbeitsvermittlung,  Abhaltung 
von  Fachkursen,  Bibliothek  und  Sekretariat,  und  einem 
grossen  Konferenz-  bezw.  Versammlungssaal.  Für  die 
Arbeitsbörse  in  Angers  ist  das  frühere  Appellgerichts- 
gebäude adoptirt  worden.  An  beiden  Orten  war  die  Er- 
öffnung der  Arbeitsbörse  mit  einer  kleinen  Feierlichkeit 
verbunden,  an  welcher  der  Gemeinderath  und  sämmtliche 
Gewerkschaften  theilnahmen. 

In  der  Schweiz  fiir  Strikezwecke  gesammelte  und  ans- 
gegebene Gelder.  Aus  dem  Jahresberichte  des  schweizerischen 
Gewerkschaftsbundes  ersehen  wir,  dass  für  Strikezwecke  ge-  : 
sammelt  bezw.  ausgegeben  wurden  im  Jahre 

1887  Frcs.  28  181 

1888  „ 14  303 

1889  „ 18  354 

1890  „ 14  658 

1891  „ 5 889 

1887-1891 „ 83  285 

Zu  diesen  freiwillig  gesammelten  Beiträgen  kommen  noch 
die  Sammlungen  für  den  schweizerischen  Buchdruckerstrike, 
welche  20  396  Frcs.  ergaben  und  die  nun  laufenden  obligatori- 
schen Reservekassenbeiträge  mit  26  584  Frcs.,  sodass  in  den 
Jahren  1887—1891  130  225  Frcs.  von  der  schweizerischen  Arbeiter- 
schaft für  Lohnkämpfe  aufgebracht  wurden.  In  dieser  Summe 


No.  20. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


253 


sind  die  nach  dem  Auslande  für  Strikeunterstützimg  gesandten 
namhaften  Summen  nicht  enthalten. 

Trotzdem  die  im  Jahre  1891  gesammelte  Summe  hinter 
der  der  vorangegangenen  Jahre  ganz  erheblich  zurückblieb 
und  die  Zahl  der  Lohnkonflikte  grösser  war  als  in  früheren 
jahren  wurden  mehr  Erfolge  zu  verzeichnen  als  zur  Zeit  der 
langwierigen  und  kostspieligen  Strikes. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Die  dritte  Lesung  der  preussisclien  Berggesetz- 
novelle. Donnerstag,  den  12.  d.  M.,  hat  im  preussischen 
Abgeordnetenhause  die  dritte  Lesung  der  Berggesetznovelle 
ihren  Anfang  genommen  und  wird  zweifellos  in  den  fol- 
genden Tagen  mit  der  Annahme  des  Gesetzentwurfs  durch 
eine  grosse  Majorität  ihren  Abschluss  finden.  So  weit  die 
Debatten  in  diesem  Augenblick  erkennen  lassen,  wird  das 
Gesetz  im  Wesentlichen  die  in  der  zweiten  Lesung  fest- 
gestellte Fassung  erhalten.  Wir  werden  das  Resultat  nach 
Beendigung  der  Verhandlungen  eingehend  würdigen. 

Arbeiterschutz  beim  Bau  der  wiener  Verkehr sanlagen. 

Nachdem  die  jungtschechische  Partei  durch  den  Abgeordneten 
Professor  Kaizl  einen  Gesetzentwurf  betreffend  Ausdehnung  des 
Arbeiterschutzgesetzes  auf  die  gewerbliche  „Taglöhnerarbeit“ 
eingebracht  hat  (s.  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  18,  S.  231), 
löste  nun  auch  die  deutsch-liberale  Partei  ihr  Versprechen  ein 
und  fordert  die  Anwendung  des  Arbeiterschutzgesetzes  speciell 
auf  die  bei  der  Ausführung  der  öffentlichen  Verkehrsanlagen  in 
Wien  thätigen  Arbeiter.  Geht  der  Antrag  der  Liberalen  auch  sach- 
lich weiter  als  der  jungtschechische  Antrag,  so  verdient  letzterer 
den  Vorzug,  weil  er  nicht  bloss  auf  die  Wiener  Verkehrsanlagen 
beschränkt  ist,  sondern  eine  dauernde  Ausdehnung  des  Arbeitei  - 
Schutzes  auf  bis  nun  ungeschützte  Personen  herbeifuhren  könnte. 

Die  Anträge  der  liberalen  Partei  lauten: 

I Die  Regierung  wird  aufgefordert:  1 Sorge  zu  tragen, 
dass  bei  der  Ausführung  der  öffentlichen  Verkehrsanlagen  in 
Wien  die  Bestimmungen  des  sechsten  Hauptstückes  der  Gewerbe- 
ordnung strenge  gehandhabt  werden.  2.  Bei  der  Ausführung 
der  Bau-,  Erd-,  Wasserbauarbeiten,  welche  durch  die  Herstellung 
der  Stadtbahn,  Wienflussregulirung,  der  Hauptsammelkanäle  und 
der  Umwandlung  des  Donaukanals  in  einen  Winterhafen  noth- 
wendig  werden,  durch  vertragsmässige  Bestimmungen,  ins- 
besondere in  den  Bedingnissheften,  die  Gleichstellung,  beziehungs- 
weiseUnterordnung  sämmtlicher  bei  diesen  Arbeiten  beschäftigten 
Arbeitspersonen  rücksichtlich  der  allgemeinen  Bestimmungen 
des  sechsten  Hauptstückes  der  Gewerbeordnung  nach  Thunbch- 
keit  zu  sichern  und  bezüglich  derselben  Arbeitspersonen, 
unbeschadet  des  dem  Handelsminister  und  den  Gewerbebehörden 
vorbehaltenen  Rechtes,  Ausnahmen  zu  bewilligen,  auch  die  An- 
wendung des  § 96a  der  Gewerbeordnung  (Maximalarbeitstag  , 
sowie  des  § 96b  der  Gewerbeordnung  ( Verbot  der  Kinderarbeit, 
Einschränkung  der  Arbeit  jugendlicher  Personen,  Verbot  der 
Nachtarbeit  der  Frauen)  durch  Vereinbarungen  mit  den  Unter- 
nehmern und  auf  dem  Wege  der  Arbeitsordnungen  zu  veran- 
lassen; 3)  auf  sanitäre  Verhältnisse  und  die  Unterkunft  der  aus 
Anlass  der  Ausführung  der  öffentlichen  Verkehrsanlagen  in 
Wien  sich  ansammelnden  Arbeiter  ihre  Aufmerksamkeit  zu 
richten,  wo  nöthig  Begünstigung  für  den  Bau  provisorischer 
Unterkunftsbauten  zu  gewähren  und  die  Aufnahme  erkrankter 
Arbeiter  in  die  bestehenden  oder  provisorisch  zu  errichtenden 
Spitäler  zu  sichern. 

II.  Das  Haus  wolle  folgendes  Gesetz  beschliessen : 

Gesetz,  betreffend  die  Bestellung  eines  Gewerbeinspektors 
aus  Anlass  der  Ausführung  der  öffentlichen  Verkehrsanlagen  in 
Wien. 

Mit  Zustimmung  beider  Häuser  Meines  Reichsrathes  finde 
Ich  anzuordnen  wie  folgt: 

§ 1.  Der  Handelsminister  ernennt  im  Einvernehmen  mit 
dem  Minister  des  Innern  einen  Gewerbeinspektor,  dessen  Thätig- 
keit  im  Sinne  des  Gesetzes  vom  17.  Juni  1883,  R.-G.-Bl.  117,  sich 
auf  die  Ueberwachung  der  Bau-,  Erd-,  Wasserbauarbeiten  er- 
streckt, die  in  Ausführung  der  öffentlichen  Verkehrsanlagen  in 
Wien  vorgenommen  werden.  Auf  diesen  Gewerbeinspektor 
finden  alle  Bestimmungen  des  bezeichneten  Gesetzes  An- 
wendung. 

§ 2.  Der  Gewerbeinspektor  ist  Mitglied  der  Kommission 
für  die  Ausführung  der  Wiener  Verkehrsanlagen  mit  berathender 
Stimme. 

§ 3.  Die  durch  die  Bestellung  und  Amtsführung  dieses 
Gewerbeinspektors  hervorgerufenen  Kosten  trägt  die  Kommission 
für  die  Verkehrsanlagen  in  Wien. 

§ 4.  Mit  der  Ausführung  dieses  Gesetzes  ist  Mein  Handels- 
minister und  Mein  Minister  des  Innern  beauftragt. 


Ein  schweizerisches  Bundesgesetz  über  die  Kündi- 
gungsfristen wird  vom  Kaufmännischen  Verein  Zürich  an- 
gestrebt. In  demselben  sollten  folgende  Grundsätze  zum 
Ausdruck  kommen: 

1.  Als  Kündigungsfrist  im  Handelsgewerbe  gilt  allge- 
mein für  Angestellte  im  ersten  Jahre  ihrer  Dienstzeit  in 
einem  Geschäft  ein  Monat,  je  auf  den  ersten  Tag  des  fol- 
genden Monats.  Für  Angestellte,  welche  mehr  als  ein  Jahr 
ununterbrochen  im  gleichen  Geschäfte  angestellt  sind,  gelten 
drei  Monate,  zu  jeder  Zeit  beginnend. 

2.  Die  Vereinbarung  einer  längeren  oder  kürzeren 
Kündigungsfrist  ist  gestattet;  jedoch  darf  dieselbe  nie  we- 
niger als  einen  Monat,  zu  jeder  Zeit  beginnend,  betragen. 

3.  Für  Aushilfsstellen  und  Probe-Engagements,  sofern 
sie  weniger  als  drei  Monate  dauern,  ist  die  freie  Verein- 
barung in  keiner  Weise  beschränkt.  Bei  längerer  Dauer 
gelten  für  sie  die  gleichen  Bestimmungen,  wie  für  die 
definitiven  Anstellungen. 

4.  Die  Kündigungsfristen  müssen  für  Arbeitgeber  und 
Arbeitnehmer  stets  die  gleichen  sein. 

Ruhetage  für  ilas  schweizerische  Grenzaufsichts- 
personal. Dem  Berichte  der  schweizerischen  Finanz-  und 
Zolldepartements  an  die  Bundesversammlung  über  die 
Geschäftsführung  im  Jahre  1891  entnehmen  wir  die  Mit- 
theilung, dass  im  Laufe  des  Berichtsjahres  Untersuchungen 
darüber  gepflogen  wurden,  ob  es  möglich  und  thunlich  sei, 
den  eidgenössischen  Grenzwächtern  regelmässige  Ruhetage 
zu  gewähren  Die  verschiedenen  lokalen  und  territorialen 
Verhältnisse  in  den  einzelnen  Zollgebieten,  heisst  es  indem 
Berichte  weiter,  brachten  es  mit  sich,  dass  in  dieser  Hin- 
sicht bisher  ein  einheitliches  Verfahren  nicht  erzielt  werden 
konnte,  indem  in  einzelnen  Grenzgebieten  für  regelmässig 
wiederkehrende  Ruhetage  die  Stellvertretung  der  Betreffen- 
den mit  grossen  Schwierigkeiten  verbunden  ist,  während 
hinwieder  in  anderen  der  Dienst  dadurch  nicht  unwesent- 
lich beeinträchtigt  würde.  Die  bisherigen  Bemühungen, 
einen  Ausweg  zu  finden,  sind  resultatlos  geblieben,  indess 
will  sich  die  schweizerische  Zollverwaltung  bemühen,  die 
Angelegenheit  einer  befriedigenden  Lösung  entgegenzu- 
führen. Mit  der  Betonung  dieser  guten  Absichten  steht  im 
Widerspruche  die  im  Munde  einer  schweizerischen  Behörde 
erfreulicherweise  ungewohnt  klingende  Bemerkung,  dass,  ein 
absolutes  Bedürfniss  besonderer  Ruhetage  um  so  weniger 
vorhanden  sein  dürfte,  als  der  Dienst  im  freien  wahrend 
eines  guten  Theiles  des  Jahres  an  sich  schon  als  eine  Er- 
holung betrachtet  werden  kann. 

Arbeiterschutzgesetz  für  den  Kanton  Glarus.  Die 

am  8.  Mai  abgehaltene  Landgemeinde  des  Kanton  Glarus 
hat  das  vom  Landrath  entworfene,  in  No.  5 (S.  70  ff.)  des 
Sozialpolitischen  Centralblattes  besprochene,  Arbeiterschutz- 
gesetz mit  dem  Verbesserungsantrag  angenommen,  dass 
ihm  nicht  blos  weibliche  sondern  auch  männliche  Arbeiter 
unterstellt  sein  sollen. 

St.  Gallischer  Arbeiterschutzgesetzentwurf.  Die  Re- 
gierung von  St.  Gallen  hat  den  Entwurf  eines  kantonalen 
Arbeiterschutzgesetzes  veröffentlicht.  Der  Entwurf  lehnt  sich 
an  das  Gesetz  für  den  Kanton  Basel-Stadt  an. 

Das  Gesetz  soll  Anwendung  finden  aut  alle  dem  eidge- 
nössischen Fabrikgesetz  nicht  unterstellten  Geschäfte,  in  welchem 
mehr  als  zwei  weibliche  Personen  gewerbsmässig  gegen  Lohn 
arbeiten  oder  in  welchen  überhaupt  Lehrtöchter  oder  Mädchen 
unter  18  Jahren  als  Arbeiterinnen  beschäftigt  werden,  dagegen 
sind  gänzlich  ausgenommen  Frauenspersonen,  die  in  landwirth- 
schaftlichen  Gewerben  oder  als  Bureauangestellte  beschäftigt  sind. 

Die  tägliche  Arbeitszeit  soll  11  Stunden,  an  Tagen 
vor  Sonn-  und  Feiertagen  10  nicht  übersteigen  und  wieder  soll 
die  Arbeitszeit  in  die  Stunden  von  6 Uhr  Vormittags  bis  8 Ldir 
Abends  mit  l'/s  Stunden  Mittagspause  verlegt  werden. 

Das  Bezirksamt  kann  eine  Verlängerung  von  2 Stunden 
täglich  im  Maximum  auf  höchstens  14  Tage  gewähren,  immerhin 
müssen  die  Arbeiterinnen  damit  einverstanden  se.n.  Wöchne- 
rinnen sind  6 Wochen  lang  von  allen  gewerbsmässigen  Arbeiten 
ausgeschlossen.  Mädchen  unter  14  Jahren  dürfen  zu  gewerbs- 
mässiger Arbeit  nicht  verwendet  werden;  Mädchen  unter 
16  Jahren  sollen  höchstens  3 Stunden  ununterbrochen  an  Tret- 
maschinen  beschäftigt  werden  dürfen.  . . 

Die  Arbeitsräume  sollen  hell,  trocken,  gut  ventilirt  und 
nach  Raum  in  einem  richtigen  Verhältniss  zur  Zahl  der  Ar- 
beiterinnen stehen.  Wer  eine  Lehrtochter  annehmen  will,  hat 
einen  Lehrvertrag  abzuschliessen,  der  die  Bestimmungen  über 
das  Lehrfach,  die  Probe-  und  Lehrzeit  und  die  Bedingungen 
enthalten  soll,  unter  denen  der  Vertrag  einseitig  aufgehoben 
werden  kann. 


254 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  20. 


Was  die  Bediensteten  in  Laden-  und  Kundengeschäften 
betrifft,  so  können  sie  zu  der  Bedienung  der  Kunden  in  der 
offenen  Geschäftszeit  ohne  Beschränkung  verwendet  werden, 
unter  der  Bedingung  jedoch,  dass  ihnen  eine  ununterbrochene 
Nachtruhe  von  10  Stunden  gestattet  ist.  Die  Inhaber  von  Ge- 
schäften, die  am  Sonntag  geöffnet  sind,  haben  den  Angestellten 
in  der  Woche  die  gleiche  Zeit  frei  zu  geben  Die  für  den  Be- 
trieb von  Wirthschaften  und  Gasthäusern  angestellten  Personen, 
Kellner,  Kellnerinnen,  Köchinnen,  Schenkbuben,  Zimmer- 
mädchen etc  können  bis  zur  Polizeistunde  und  noch  darüber 
hinaus  beschäftigt  werden;  doch  ist  ihnen  in  allen  Fällen  eine 
ununterbrochene  Ruhezeit  von  9 Stunden  zu  gestatten.  Sofern 
ihnen  der  Sonntag  nicht  frei  gegeben  werden  kann,  sind  ihnen 
während  der  Woche  zwei  halbe  Feiertage  zu  gewähren. 

Der  Arbeitstag  auf  den  französischen  Eisenbahnen. 

Im  vorigen  Jahre  wurde  anlässlich  mehrerer  Eisenbahnun- 
fälle den  verschiedenen  französischen  Bahnverwaltungen 
mittelst  Ministerialschreibens  eingeschärft,  dass  der  Arbeits- 
tag für  Heizer,  Kondukteure  und  Maschinisten  nicht  mehr 
als  zwölf  Stunden  betragen  dürfe.  Da  die  Vorschrift  auf 
gewisse  Schwierigkeiten  in  der  Ausführung  stiess,  hat  der 
gegenwärtige  Minister  der  öffentlichen  Arbeiten,  in  dessen 
Ressort  das  Eisenbahnwesen  gehört,  ein  neues  Schreiben 
erlassen,  um  die  frühere  Vorschrift  zu  präzisiren.  Darnach 
ist  die  Arbeitszeit  zwischen  zwei  ununterbrochenen  Ruhe- 
pausen von  mindestens  zehn  Stunden  einzuschalten,  so 
zwar,  dass  keine  Periode  von  24  Stunden,  sei  sie  vom  Be- 
ginn der  Arbeitszeit  oder  vom  Beginn  der  ununterbrochenen 
Ruhepause  an  gerechnet,  mehr  als  zwölf  Arbeitsstunden 
oder  weniger  als  zehn  ununterbrochene  Ruhestunden  ent- 
halte. Was  der  Verordnung  einen  bittern  Beigeschmack 
giebt,  ist,  dass  den  Heizern  etc.  gleichzeitig  verboten  ist, 
unter  welchen  Umständen  immer  den  Dienst  zu  versagen. 
Dies  hätte  unseres  Erachtens  nur  dann  einen  Sinn  und 
würde  gleichzeitig  die  Verwaltungen  zur  Einhaltung  der 
Vorschrift  drängen,  wenn  den  Heizern,  Lokomotivführern  etc. 
für  jede  über  die  vorgeschriebene  Arbeitszeit  hinaus- 
gehende Beschäftigung  eine  verhältnissmässig  hohe  Ent- 
schädigung zugesichert  würde.  Davon  ist  aber  im  Cirkular 
keine  Rede. 


Gewerbeinspektion. 


Aus  den  Jahresberichten  der  bayrischen  Fabrik- 
inspektoren für  1891. 

Der  Mangel  einer  einheitlichen  Direktive  und  einer 
gewissen  Zentralisation  hat  sich  von  jeher  in  den  Berichten 
der  vier  bayrischen  Fabrikaufsichtsbeamten,  deren  Zahl  be- 
kanntlich jetzt  endlich  vom  1.  April  d.  ].  ab  auf  acht  erhöht 
ist,  besonders  stark  geltend  gemacht.  Auch  der  neueste 
Berichtsband  (München,  Th.  Ackermann,  1892,  150  Seiten) 
liefert  wieder  Belege  für  diese  Beobachtung.  Es  soll  noch 
nicht  einmal  grosser  Nachdruck  z.  B.  darauf  gelegt  werden, 
dass  allein  der  Inspektor  für  Niederbayern  die  auch  in  seinem 
Bezirk  durch  die  Krisis  zahlreich  brotlos  gewordenen  Ar- 
beiter unschwer  „ausreichende  und  gut  gelohnte  Beschäfti- 
gung bei  den  Bahnbauten“  erlangen  lässt,  während  seine 
drei  Collegen  die  schlimme  Lage  der  Leute  in  ziemlich 
düsteren  Farben  schildern.  Aber  sehr  merkwürdig  muss 
doch  die  partikularistische  Art  und  Weise  anmuthen,  in  der 
jeder  Beamte  für  sich  die  Betriebs-  und  Arbeiterstatistik 
seines  Bezirks  behandelt.  Eine  relativ  vollständige  Ueber- 
sicht  giebt  der  Beamte  für  Oberbayern  (Sitz  München).  In 
seinem  Bezirk  wurden  am  1.  Januar  1892  insgesammt  68,111 
Arbeiter  überhaupt  in  Fabriken  beschäftigt,  wovon  22,21  I auf 
die  Textilindustrie  fallen;  nebenbei  ist  es  interessant,  aus 
der  Tabelle  zu  ersehen,  dass  die  stärkste  prozentuale  Ver- 
mehrung der  Fabrikarbeiter  seit  1886  in  der  Industrie  der 
Holz-  und  Schnitzstoffe  (um  1 18%,  von  2400  auf  5233  Köpfe), 
sowie  in  der  Industrie  der  Steine  und  Erden  (um  117  /0,  von 
3806  aut  8293  Köpfe)  stattfand.  Für  die  weiblichen  Arbeiter 
fehlt  schon  der  Vergleich  mit  1886.  Es  wird  nur  mitgetheilt, 
dass  die  Zahl  derselben  am  1.  Januar  1891  insgesammt 
18  874  = 28,1  % der  Gesammtarbeiterzahl,  und  am  gleichen 
Datum  des  Jahres  1892  insgesammt  19,386  = 28,4%  der  Ge- 
sammtarbeiterzahl betrug  Gänzlich  fehlen  exakte  Angaben 
über  die  Ziffer  der  jugendlichen  Arbeiter  im  ganzen  Bezirk. 


Die  Zahl  der  vorhandenen  Fabrikbetriebe  muss  man  sich 
rechnerisch  aus  der  Bemerkung  ermitteln,  dass  653  Betriebe 
= 38%  der  Gesammtzahl  jugendlicher  Arbeiter  besessen 
hatten;  danach  hätte  die  Zahl  der  oberbayrischen  Fabrik- 
betriebe 1724  betragen,  von  denen  der  Inspektor  515,  d.  h. 
nur  29"/,,  wie  er  ehrlich  genug  selbst  angiebt,  revidirte. 
Immerhin  liegt  hier  noch  ein  Anfang  von  exakter  Arbeiter- 
statistik  vor.  Ins  Dunkele  verliert  man  sich  aber  bereits 
beim  Bericht  des  Beamten  für  Niederbayern.  Hier  fehlt 
bei  der  Mittheilung,  dass  604  Betriebe  inspizirt  wurden,  jede 
Notiz  darüber,  welchen  Prozentsatz  der  überhaupt  vorhan- 
denen Betriebe  jene  Zahl  darstellt;  und  während  beim 
Capitel  der  jugendlichen  und  der  Arbeiter  überhaupt  nur 
immer  von  der  Arbeiterzahl  der  zufällig  revidirten  Betriebe 
gesprochen  wird,  heisst  es  unter  „Arbeiterinnen“  auf  einmal 
schlechtweg:  „Die  G es  am  int  zahl  der  erwachsenen  Arbeite- 
rinnen betrug  im  Jahre  1891  2927  . . . unter  Hinzurechnung 
der  Jugendlichen  beträgt  die  Zahl  aller  Arbeiterinnen  3146. 

Man  könnte  nach  diesem  Wortlaut  meinen,  hier  werde 
plötzlich  wirklich  das  Ergebniss  einer  erschöpfenden  Zäh- 
lung der  Arbeiterinnen  des  Bezirks  mitgetheilt;  offenbar 
handelt  es  sich  aber  wieder  nur  um  die  weiblichen  Arbeiter 
der  inspizirten  604  Betriebe.  Man  ersieht  dies  aus  einer 
Vergleichung  mit  der  im  Anhang  beigegebenen  Tabelle 
über  die  Arbeiterzahl  der  inspizirten  Betriebe.  Die  an- 
gebliche „Gesammtzahl“  aller  jugendlichen  Arbeiterinnen 
des  Bezirks  (219)  stimmt  genau  mit  der  Zahl  derselben  Ar- 
beiterkategorie in  den  inspizirten  Betrieben.  Wenn  die 
Entwicklung  in  den  inspizirten  Betrieben  eine  typische  ge- 
nannt werden  darf,  so  interessirt  aus  der  Uebersicht  noch 
die  Thatsache,  dass  der  höchste  Prozentsatz  weiblicher 
Arbeiter  in  der  chemischen  Industrie  (53"/,,),  sowie  in  der 
Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe  gefunden  wurde  (30%) ; 
erst  dann  folgt  die  Textilindustrie  mit  26%.  Genau  drückt 
sich  dann  w'ieder  der  Inspektor  für  Mittel-  und  Oberfranken 
aus,  der  seine  Angaben  richtig  nur  auf  die  537  von  ihm 
revidirten  Betriebe  bezieht  und  hinzusetzen  kann,  dass  er  , 
43%,  der  überhaupt  vorhandenen  Fabrikbetriebe  (1217)  be- 
sichtigte. Der  vierte  Inspektor  aber,  der  für  die  Pfalz,  , 
Unterfranken  und  Aschaffenburg,  beschränkt  sich  ganz  auf  i < 
die  Herzählung  der  Arbeiter  in  den  593  von  ihm  inspizirten 
Anlagen  und  verschweigt  wiederum,  welchen  Prozentsatz 
der  überhaupt  vorhandenen  Anlagen  die  inspizirten  dar- 
stellen.  Buntscheckiger  kann  man  sich  doch  wohl  die 
Berichterstattung  über  eine  und  dieselbe  Sache  nicht  vor- 
stellen. Noch  lückenhafter  sind  die  Angaben  der  Beamten 
über  die  Revisionsthätigkeit  der  Ortspolizeibehörden.  Hier 
kommt  nur  die  Aeusserung  des  Inspektors  für  Mittelfranken 
in  Betracht,  nach  welcher  „sich  die  Spuren  ortspolizeilicher  : 
Thätigkeit  in  Ueberwachung  der  Beschäftigung  jugendlicher 
Arbeiter  meist  nur  in  den  Städten  wahrnehmen  lassen“, 
wofür  Nürnberg  mit  über  1600  Revisionen  im  Berichtsjahre 
als  Muster  genannt  wird.  Vermuthlich  wird  die  Sachlage 
in  den  übrigen  Bezirken  dieselbe  sein,  wodurch  die  alte  Er- 
fahrung bestätigt  ist,  dass  Ortspolizeibehörden  zur  sozial- 
politischen Thätigkeit  vorläufig  wenig  taugen.  Ihres  Ver- 
kehrs mit  den  Arbeitern  gedenken  alle  Beamten  mehr  oder 
weniger  sympathisch;  ob  und  in  wiefern  dieser  Verkehr 
auf  die  Inspektionsthätigkeit  einwirkte,  das  ist  schwer  er- 
kennbar. 

Was  die  materiellen  Ergebnisse  der  bayrischen  Fabrik- 
aufsicht im  Jahre  1891  betrifft,  so  können  sie  bei  der 
Lückenhaftigkeit  der  Inspektion  und  der  im  Allgemeinen 
sehr  mangelhaften  Thätigkeit  der  Ortspolizeibehörden  nur 
zufällige  Stichproben  aus  der  Wirklichkeit  darstellen,  wohl 
über  das  Wesen  einiger  sozialen  Erscheinungen  mehr  oder 
weniger  vollständigen  Aufschluss  geben,  nicht  aber  über 
ihre  Ausdehnung.  Man  muss  daher  alles  Nachfolgende 
lediglich  als  Andeutung  dafür  betrachten,  was  in  Baj^ern 
überall  Vorkommen  konnte.  So  wurden  im  oberbayrischen 
und  im  pfälzer  Bezirk  Kinder  unter  12  Jahren  im  Fabrik- 
betrieb beschäftigt  vorgefunden,  meist  sogar  in  Betrieben 
mit  keineswegs  leichten  Hantirungen,  in  Ziegeleien,  Granit- 
werken u.  s.  w , ausserdem  in  Cigarrenfabriken.  Seit  20  Jahren 
besteht  das  Verbot,  solche  Kinder  zu  beschäftigen;  die  mangel- 
hafte Ueberwachung  hat  dem  Gesetz  bis  heute  noch  keine 
volle  Geltung  verschaffen  können!  Zum  Kapitel  der  er- 
laubten jugendlichen  Arbeit  (12 — 16  Jahre)  theilt  der  ober- 
bayrische  Inspektor  mit,  dass  nach  seinen  Berechnungen 
die  kleineren  Betriebe  seines  Bezirks  zur  Zeit  nicht  mehr 
jugendliche  Arbeiter  beschäftigen,  als  die  grösseren  (un- 
gefähr 7 % der  Gesammtarbeiterzahl).  Immerhin  gab  es 
48  Betriebe  (gegen  37  in  1889),  in  welchen  mehr  als  20% 


No.  20. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


255 


jugendlicher  Arbeiter  beschäftigt  wurden,  darunter  drei 
Betriebe  (I  Teigwaarenfabrik  und  2 mechanische  Werk- 
stätten) mit  mehr  als  50  "/„.  Andere  Beobachtungen  machte 
der  Inspektor  für  Ober-  und  Mittelfranken.  Er  schreibt: 
„Freilich  finden  sich  auch  immer  solche  kleinere  Betriebe, 
welche,  um  im  Verkaufspreise  gegen  grössere  Geschäfte 
mit  Erfolg  bestehen  zu  können,  lediglich  mit  Lehrlingen 
arbeiten  und  diese  förmlich  züchten:  dahin  gehören  vor 
Allem  bestimmte  kleine  Maschinenwerkstätten.  Die  im 
lithographischen  Gewerbe  Mittelfrankens  seither  stattge- 
fundene Lehrlingszüchterei  hat  bedeutend  nachgelassen, 
immerhin  aber  fand  ich  in  den  inspizirten  Betrieben  dieser 
Art  die  Zahl  der  Lehrlinge  18  Ins  42%  der  Gesammtarbeiter- 
zahl  betragend.  Auch  in  den  oberfränkischen  Porzellan- 
fabriken . . . betrug  die  Zahl  der  Lehrlinge  in  der  Dreherei 
und  Malerei,  wenn  auch  geringer  als  früher,  immer  noch 
25  bis  50  %.“  Der  Inspektor  für  die  Pfalz  traf  eine  Bürsten- 
waarenfabrik,  die  neben  nur  4 erwachsenen  Arbeitern 
nicht  weniger  als  9 jugendliche  beschäftigte  und  der  dieses 
angenehme  Verhältnis  so  bebagte,  dass  sie  sich,  allerdings 
erfolglos,  gegen  die  Anwendung  der  Vorschriften  über 
Fabrikarbeiter  auf  ihren  Betrieb  energisch  sträubte.  Wenig 
erhebend  ist  auch  die  Thatsache,  dass  man  aus  den  vier 
Berichten,  die  doch  eben  nur  einen  Bruchtheil  der  vorhan- 
denen Fabrikbetriebe  betreffen,  nicht  weniger  als  220  Ver- 
fehlungen gegen  die  Vorschriften  über  die  Maximalarbeits- 
zeit der  jugendlichen  Arbeiter  zusammenzählen  kann,  wo- 
bei die  zahlreichen  Verstösse  gegen  blosse  Formalien 
(Arbeitsbücher,  Arbeitskarten,  Verzeichnisse  u.  s.  w.)  ganz 
ausser  Acht  gelassen  sind.  Näheres  über  die  Grenzen,  in 
welchen  sich  jene  Verfehlungen  bewegten,  theilt  der  In- 
spektor für  die  Pfalz  mit.  Er  traf  74  Kinder  zu  lange  be- 
schäftigt, und  zwar  erstreckte  sich  die  Ausnutzung  in  einem 
Falle  bis  auf  12  (!)  Stunden  statt  der  gesetzlichen  6,  in 
2 Fällen  auf  1 1 1/2,  in  7 bis  auf  11,  in  3 bis  auf  IO'/2,  in  6 
bis  auf  10  u.  s.  w.  Stunden.  Das  sind  ganz  fürchterliche 
Zahlen,  und  die  Wiederholung  dieser  Dinge  scheint  keines- 
wegs ausgeschlossen,  wenn  man  liest,  dass  nur  in  den- 
jenigen Fällen,  in  welchen  schon  früher  Verfehlungen  an- 
getroffen wurden,  Anzeige  erfolgte,  Strafe  offenbar  auch 
noch  nicht  in  allen  Fällen,  und  wo  sie  eintrat,  sehr  gelind, 
z.  B.  in  einem  Falle  mit  50  Mark. 

Die  wenigen  statistischen  Angaben  über  Arbei- 
terinnen wurden  oben  schon  aus  dem  Berichtsband 
mitgetheilt;  sie  bekunden  eine  langsame  Zunahme  der 
Frauenarbeit;  nur  in  München  hätte  eine  Abnahme  statt- 
gelunden.  Ueber  das  Eindringen  der  Frauen  in  die  Ma- 
schinenindustiie  berichtete  bereits  eine  Notiz  in  No.  16 
dieser  Zeitschrift.  Die  ungesetzliche  Verwendung  einer 
Frau  wird  nur  aus  einer  mittelfränkischen  Glashütte  (vor 
dem  Ofen)  mitgetheilt.  Was  die  bisher  gesetzlich  nicht 
geregelte  Arbeitszeit  der  Frauen  anlangt,  so  fand  der  ober- 
bayrische Beamte  eine  solche  von  über  1 1 Stunden  in 
44  Anlagen  (39  im  Vorjahre),  in  einem  Betriebe  sogar  eine 
solche  von  mehr  als  12  Stunden.  Merkwürdig  günstig 
sticht  hiervon  folgende  Berichtsstelle  des  Beamten  für 
Niederbayern  ab:  „Eine  über  10  Stunden  ausgedehnte 

Arbeitszeit  (für  Frauen)  fand  sich  nur  auf  den 
Metallhammerwerken  und  ausnahmsweise  in  Papierfabriken 
und  Porzellanfabriken.“  Hier  erfährt  man  nebenbei  von 
einer  Verwendung  weiblicher  Arbeiter  auf  Metallhammer- 
werken; einige  Zeilen  früher  ist  jedoch  in  demselben  Be- 
richt zu  lesen:  „Unpassende  oder  für  weibliche  Kräfte  zu 

anstrengende  Arbeitsleistungen  wurden  den  Arbeiterinnen 
nirgends  zugemuthet.“  Und  einige  Zeilen  später  heisst  es: 
„Zur  Nachtarbeit  mit  regelmässigem  Schichtenwechsel 
fanden  sich  Frauen  nur  (!)  in  einer  Cellulosefabrik,  in  einer 
Leimfabrik,  in  zwei  Pappenfabriken,  sowie  in  einer  grösse- 
ren Dampfsäge  (!)  herangezogen;  für  die  Nothwendigkeit 
der  Verwendung  von  Frauen  zur  Nachtarbeit  dürften  auf 
dem  letzgenannten  Werke  triftige  Gründe  wohl  kaum  an- 
geführt werden  können.“  Und  doch  wurden  nach  dem 
ersten  Satze  „unpassende  Arbeitsleistungen  den  Arbeite- 
rinnen nirgends  zugemuthet.“  Der  Beamte  für  die  Pfalz 
traf  die  Nachtarbeit  von  Frauen  in  einer  Textilfabrik,  aus 
der  sie  demnächst  verschwinden  soll,  sowie  in  zwei  Zucker- 
fabriken und  drei  Cichoriendarranstalten,  bei  letzteren  in 
ziemlich  ausgedehntem  Masse.  Das  ist  alles  Wesentliche, 
was  die  Berichte  über  Frauenarbeit  bringen. 

Noch  dürftiger  fliessen  endlich  die  sozialpolitisch 
brauchbaren  Mittheilungen  über  erwachsene  männliche  Ar- 
beiter und  die  Arbeitsverhältnisse  überhaupt.  Die  Arbeits- 
räume, welche  öfters  überfüllt  mit  Menschen  und  Gegen- 


ständen waren  (S.  12,  47  und  78  a.  a.  O.),  oder  in  einem 
ganz  unwürdigen  baulichen  Zustande  sich  befanden,  nicht 
gedielt,  mit  Pfützen  auf  dem  Boden  (S.  47  a.  a.  O.),  in 
dumpfen  Kellerräumen  (S.  112  a.  a.  O.),  vielfach  auch 
schlecht  beleuchtet,  geheizt  und  gelüftet  angetroffen  wur- 
den (S.  112  a.  a.  O.),  trotzdem  die  elektrische  Beleuchtung 
auf  der  anderen  Seite  regelmässige  Fortschritte  machte, 
entziehen  sich  offenbar  ebenfalls  noch  immer  der  durch- 
greifenden Einwirkung  der  Inspektoren;  klagt  doch  der 
Beamte  für  Oberbayern:  „Leider  hat  sich  bei  den  Betriebs- 
revisionen zuweilen  herausgestellt,  dass  vorhandene  hygie- 
nische Einrichtungen  seitens  der  Arbeitgeber  oder  Betriebs- 
leiter aus  Bequemlichkeit,  Gleichgiltigkeit  oder  Sparsam- 
keit z.  B.  bezüglich  der  Kraftabgabe  für  einen  Ventilations- 
antrieb ausser  Wirksamkeit  gesetzt  waren.“  Die  vom  In- 
spektor des  4.  Bezirks  besichtigten  Schlaf-  und  Aufents- 
räume  „Hessen  öfters  zu  wünschen  übrig.“  Was  die  Ar- 
beitszeit betrifft,  so  klagen  beinahe  sämmtliche  Beamte 
über  eine  übermässige  Ausdehnung  derselben  (bis  zu  13, 
14  Stunden  und  darüber)  in  Glashütten,  Ziegeleien,  Säge- 
werken, Brauereien  und  Malzfabriken.  In  Mühlen  fand  der 
Inspektor  für  die  Pfalz  Arbeitszeiten  bis  zu  35  Stun- 
den, und  diese  Ungeheuerlichkeit  wird  in  keiner  Weise 
durch  den  Zusatz  abgeschwächt,  dass  dabei  „wenig  Arbeit 
1 zu  leisten“  sei.  Den  Nürnberger  Baugehilfen,  die  im  Be- 
richtsjahre strikten,  bestätigt  der  Beamte  die  lange  Dauer 
ihrer  Arbeitszeit  (bis  zu  14  Stunden)  mit  der  Bemerkung, 
dass  „eine  Verständigung  bezüglich  der  Ermässigung  sehr 
zu  wünschen  wäre.“  Die  Angaben  über  die  Höhe  der 
Löhne  sind  nicht  zahlreich  genug,  um  sozialpolitisch  ver- 
werthet  werden  zu  können.  Mehr  als  anderswo  scheinen 
in  Bayern  noch  der  Truck  und  Lohnabzüge,  sowie  lange 
Lohnfristen  vorzukommen,  dem  oft  ländlichen  Charakter 
der  Industrie  entsprechend.  So  wird  auf  oberbayrischen 
Schleifereien  von  Polirmeistern  ein  schwunghafter  Bier- 
handel mit  den  Arbeitern  getrieben  (S.  51  a.  a.  O.),  so  hul- 
digen die  Ziegelmeister  bei  Fürth  in  weitgehendem  Masse 
dem  Truckunfug  (S.  81  a.  a.  O.),  und  die  Beamten  scheinen 
mehr  oder  weniger  machtlos  diesen  Missständen  gegen- 
über zu  stehen.  Der  Uebelstand,  dass  die  Arbeiter  mehr- 
fach Materialien  und  Stoffe  zur  Arbeit  selbst  stellen  müssen 
und  dass  ihnen  diese  Gegenstände  womöglich  noch  zu 
einem  höheren  als  dem  Anschaffungspreise  von  den  Unter- 
nehmern berechnet  worden,  ein  Kapitel,  welches  einmal 
umfassender  Bearbeitung  mit  Bezug  auf  das  deutsche  Ge- 
werbe überhaupt  unterzogen  werden  sollte,  fand  sich  auch 
noch  öfters  (S.  44  und  106  a.  a.  O.);  lange  Lohnfristen 
(4  Wochen  bis  1 Jahr)  stellt  der  mittelfränkische  In- 
spektor fest. 

Wie  gesagt:  mehr  als  Fingerzeige  nach  den  Richtun- 
gen, in  welchen  einzelne  Seiten  des  Arbeiterdaseins  syste- 
matisch verfolgt  und  dargestellt  werden  müssten,  enthalten 
auch  die  neuesten  bayrischen  Fabrikinspektorenberichte 
nicht.  vVarten  wir  ab,  ob  die  Vermehrung  der  Beamten 
für  1892  Besseres  bringt. 

Frankfurt  a M.  Max  Quarck. 


Arbeiterversicherung. 

Die  Berufsgenossenschaften  als  Organe  der 
Unfallverhütung. 

Ueber  die  Bestrebungen  der  Berufsgenossenschaften 
auf  dem  Gebiete  der  Unlallverhütung  ist  vor  Kurzem  in 
dieser  Zeitschrift  sehr  scharf  geurtheilt  worden:  man  habe 
Joei  der  Deutschen  Unfallversicherung  den  Bock  zum 
Gärtner  gemacht“,  indem  man  den  Berufsgenossenschaften, 
also  reinen  LTnternehmerverbänden,  den  Erlass  von  Unfall- 
verhütungsvorschriften und  die  Aufsicht  über  die  Aus- 
führung dieser  Vorschriften  übertragen  habe.  Es  wird  von 
Interesse  sein,  einmal  gründlicher  zu  prüfen,  ob  oder  in- 
wieweit dieses  Urtheil  begründet  ist. 

Thatsache  ist,  dass  von  der  Befugniss  zum  Erlass  von 
Unfallverhütungsvorschriften  bereits  weitaus  die  meisten 
gewerblichen  Berufsgenossenschaften  Gebrauch  gemacht 
haben  und  dass  diese  Vorschriften  zum  Theil  recht  scharf 
und  einschneidend  aussehen.  Thatsache  ist  aber  auch 


256 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  20. 


ferner,  dass  dies  günstige  Ergebniss  weniger  dem  eigenen 
Triebe  der  Berufsgenossenschaften  als  dem  fortwährenden 
Drängen  des  Reichs-Versicherungsamts  zuzuschreiben  ist. 
Bei  den  landwirtschaftlichen  Berufsgenossenschaften  fast 
durchweg  und  auch  bei  einigen  industriellen  Beruts- 
genossenschaften  ist  das  Reichs -Versicherungsamt  mit 
seinen  Bemühungen  bisher  nicht  durchgedrungen  und 
zwar  in  der  Hauptsache  aus  folgenden  Gründen: 

Nach  § 96  des  Unfallversicherungsgesetzes  hatten  die- 
jenigen Betriebsunternehmer,  gegen  welche  durch  straf- 
rechtliches Urtheil  festgestellt  ist,  dass  sie  den  Unfall  durch 
Fahrlässigkeit  mit  Ausserachtlassung  derjenigen  Aufmerk- 
samkeit, zu  der  sie  vermöge  ihres  Gewerbes  besonders  ver- 
pflichtet sind,  herbeigeführt  haben,  für  alle  Aufwendungen, 
welche  in  Folge  des  Unfalls  von  den  Berufsgenossen- 
schaften  oder  Krankenkassen  gemacht  worden  sind.  Die- 
selbe Bestimmung  findet  sich  auch  bei  den  übrigen  — er- 
gänzenden — Unfallversicherungsgesetzen.  Wenn  nun  von 
den  Berufsgenossenschaften  Unfallverhütungsvorschriften 
erlassen  sind,  so  sind  die  Unternehmer  offenbai  vermöge 
ihres  Gewerbes  verpflichtet,  sie  zu  beobachten.  Der  Staats- 
anwalt ist  also  in  der  Lage,  gegen  jeden  Unternehmer,  m 
dessen  Betriebe  ein  Unfall  vorkommt,  der  bei  genauer  Be- 
obachtung der  Unfallverhütungsvorschriften  durch  den 
Unternehmer  hätte  vermieden  werden  können,  auf  Grund 
der  §§  222  und  230  des  Strafgesetzbuches  vorzugehen.  Er- 
folgt "nun  die  Verurtheilung  durch  das  Gericht,  so  kann  die 
Berufsgenossenschaft  Regress  gegen  den  Verurtheilten  er- 
o-reifen  und  sich  so  von  ihren  eigenen  Verbindlichkeiten 
zu  Ungunsten  ihrer  einzelnen  Mitglieder  entlasten.  Auf 
diese  Weise  haben  sich  dann  die  Unternehmer  selbst  die 
doppelte  Schlinge  um  den  Hals  gelegt. 

Es  ist  nun  naturgemäss , dass  diejenigen  Beruts- 
genossenschaften,  welchen  diese  Sachlage  einmal  klar  ge- 
worden ist,  nur  mit  äusserster  Vorsicht  an  den  Erlass  von 
Unfallverhütungsvorschriften  herangehen  und  vor  jeder 
Vorschrift  zurückscheuen  werden,  die  den  Unternehmern 
leicht  gefährlich  werden  könnte.  Daher  erklärt  es  sich, 
dass  gerade  in  letzter  Zeit  auf  dem  Gebiete  der  Unfall- 
verhütung nur  so  wenig  geschehen  ist,  — besonders  auch 
von  den  landwirtschaftlichen  Berufsgenossenschaften,  bei 
denen  allerdings  auch  noch  andere  Dinge  mit  in  Frage 
kommen,  die  hier  übergangen  werden  müssen.  In  der 
ersten  Zeit  lief  man  in  dem  Bestreben,  zu  zeigen,  was  die 
Berufsgenossenschaften  leisten  könnten,  gleichsam  blindlings 
in  das  Verderben;  jetzt  ist  man  vorsichtiger  und  zurück- 
haltender geworden. 

Es  ist  also  hier  wirklich  der  Bock  zum  Gärtner  ge- 
setzt worden ! 

Was  nun  die  Kontrolle  über  die  Durchführung  der 
erlassenen  Vorschriften  anbelangt,  so  können  die  Berufs- 
genossenschaften die  Beaufsichtigung  der  Betriebe  nur  ent- 
weder ihren  Vertrauensmännern  oder  eigens  dazu  ange- 
stellten  Beamten  — den  Beauftragten  — zuweisen.  Die 
Vertrauensmänner  sind  Berufsgenossen  und  Konkurrenten 
Derjenigen,  über  die  sie  die  Aufsicht  führen  sollen,  also  für 
diese  Aufgabe  durchaus  ungeeignet  — was  keiner  weiteren 
Darlegung  bedarf.  Der  Beauftragte  steht  allerdings  den 
einzelnen  Betriebsunternehmern  unabhängiger  gegenüber 
und  kann  daher  energischer  vorgehen,  aber  immerhin  als 
Beamter  der  Berufsgenossenschaft  aus  naheliegenden  Grün- 
den nicht  energisch  genug.  Vor  allen  Dingen  aber  kosten 
diese  Beauftragten  der  Genossenschaft  viel  Geld  — Gehalt 
und  Reisekosten.  Wenn  eine  mittelgrosse  Berufsgenossen- 
schaft, die  etwa  5000 — 8000  Betriebe  umfasst,  jeden  Betrieb 
nur  etwa  alle  zwei  Jahre  einmal  durch  einen  Beauftragten 
besichtigen  lassen  will,  so  wird  dies  unter  einem  Kosten- 
aufwand von  30  000  -50  000  M.  jährlich  nicht  möglich  sein. 
Zu  derartigen  Ausgaben  wird  sich  aber  eine  Berufsgenossen- 
schaft schwer  entschliessen  — besonders  mit  Rücksicht  auf 
die  Angriffe,  denen  die  Berufsgenossenschaften  wegen  ihrer 
hohen  Verwaltungskosten  so  wie  so  von  allen  Seiten  aus- 
gesetzt sind. 

Die  Berufsgenossenschaften  sind  daher  in  Folge  ihrer 
Organisation  und  ihres  eigentlichen  beschränkten  Zweckes 
ganz  ungeeignete  Organe  zur  wirklichen  Durchsetzung  von 
Unfallverhütungs-Massregeln.  Wenn  also  vielfach  die  Beob- 
achtung gemacht  wird,  dass  ihre  Vorschriften  nur  auf  dem 
Papier  stehen  und  in  der  Praxis  nicht  beachtet  werden,  so 
trägt  die  Schuld  in  der  Hauptsache  nicht  die  Genossenschafts- 
verwaltung, sondern  die  Gesetzgebung.  Der  Schutz  der 
Arbeiter  vor  den  Gefahren  des  Betriebes  ist  eine  Sache  von 
so  allgemeiner  Bedeutung  und  von  so  umfassender  Natur, 


dass  er  unmöglich  nebenher  von  Organen  wahrgenommen 
werden  kann,  deren  Aufgabe  in  erster  Linie  die  Entschädi- 
guno-  der  Verunglückten  ist,  was  immer  für  eine  Gestalt 
diese  Organe  auch  haben  mögen.  Hier  ist  eine  radikale 
Reform  unbedingt  erforderlich. 


Ueber  die  Wirksamkeit  der  Iiivaliditäts-  und  Alters- 
versicherung enthalten  die  Berichte  der  württembergischen 
und  badischen  Fabrikinspektion  einige  Mittheilungen,  die  bis-  I 
her  noch  nicht  von  der  Oeffentlichkeit  beachtet  worden  zu 
sein  scheinen.  So  schreibt  der  mit  der  Beaufsichtigung  der 
Fabriken  im  Donau-  und  Schwarzwaldkreis  beauftragte  Be- 
amte (S.30):  „Arbeiter  über  70  Jahre  und  im  Besitze  der  Alters- 
rente wurden  in  einigen  grösseren  und  kleineren  Fabriken 
noch  arbeitend  getroffen,  meist  mit  einem  geringeren 
Lohne,  als  vor  dem  Bezug  der  Altersrente.  Nur  in 
einer  staatlichen  Eisenbahnwerkstätte  und  in  einer  Leinen- 
spinnerei  und  -Weberei  erhalten  dieselben  nach  wie  vor 
ihren  vollen  Taglohn,  was  der  Besitzer  dieser  Fabrik  als 
selbstverständlich  betrachtete.  Es  wäre  zu  wünschen,  dass  • 
es  in  allen  Betrieben,  deren  wirthschaftliche  Lage  es  einiger-  j 
müssen  ermöglicht,  auch  so  gehalten  würde,  namentlich 
Leuten  gegenüber,  welche  eine  lange  Reihe  von  Jahren 
in  einer  Fabrik  gearbeitet  haben.  Eine  grosse  Belastung 
des  Lohnkonto’s  würde  hierdurch  kaum  entstehen.“  Und 
der  badische  Aufsichtsbeamte  (S.  80):  „So  hat  die  Zucker- 
raffinerie in  Mannheim  einem  71  Jahre  alten  Ar- 
beiter seinen  Lohn  von  2 M.  auf  1,50  M.  reducirt, 
sobald  derselbe  in  den  Bezug  der  Altersrente  trat, 
so  dass  hierdurch  für  ihn  eine  kleine  Vermin- 
derung seiner  Einnahmen  ein  trat. 

Wenngleich  es  sich  hier  um  einen  wenig  leistungs- 
fähigen  Arbeiter  handelte,  und  wenn  auch  der  Fabrik 
darin  voller  Glaube  beigemessen  werden  kann,  dassj 
der  Lohn  von  2 M.  ihm  nur  gutthatsweise  fortbezahlt  wurde.! 
und  wenngleich  die  formelle  Berechtigung  der  Fabrik  zu| 
ihrem  Vorgehen  nicht  bestritten  werden  kann,  so  sollten 
doch  grössere  Ar  beitgeber  ander  er  seits  die  Ehren- 
pflicht anerkennen,  die  Wirkung  der  sozialen  Ge-' 
setze  ihrerseits  nicht  zu  diskreditiren,  ganz  abj 
gesehen  von  der  moralischen  Verpflichtung,  alten  Arbeitern  | 
gegenüber  nicht  zu  ängstlich  Leistung  und  Gegenleistung 
abzuwägen,  namentlich  wenn  ihnen  dieselben  währenc 
langer  Jahre  ihre  Arbeitskraft  um  mässigen  Lohn  zur  Ver- 
fügung gestellt  haben.“  _ 

Nachdem  also  dergestalt  die  vom  Gesetze  wohl  ans 
meisten  begünstigten  Arbeiter  der  Vortheile  desselben  Ire. 
raubt  werden,  ja  sogar,  wie  das  badische  Beispiel  zeigt 
seinetwegen  positive  Verluste  erleiden,  wird  es  wenigsten 
im  Hinblicke  auf  die  Arbeiter  vollkommen  begreiflich; 
wenn  der  württembergische  Inspektor  für  den  Neckar-  unc 
Jacrstkreis  seine  Beobachtungen  dahin  zusammenfasst,  das. | 
die  Alters-  und  Invaliditätsversicherung  sich  bis  jetzt  wedeii 
in  den  Kreisen  der  Fabrikanten  noch  der  Arbeiter  eine: 
rückhaltslosen  Anerkennung  erfreut. 

Unfallversicherung  (1er  Handwerker  im  Deutschei 

Reich.  Nach  Zeitungsmeldungen  sollen  die  Vorarbeiten  zu 
dem  Entwurf  eines  Gesetzes  betreffend  die  Ausdehnung  de 
Unfallversicherung  auf  das  Handwerk  im  Gange  sein.  Fü 
das  Handwerk  seien  Unfallberufsgenossenschaften  nach  den 
Muster  der  bereits  bestehenden  für  die  Grossindustrie  nich 
angängig;  daher  müsse  man,  da  die  Innungen  sich  hierzi 
nicht  eigneten,  weil  sie  nicht  alle  Handwerksmeister  urn 
fassten,  neue  Träger  schaffen.  Vielleicht  sei  es  möglich,  di 
Vertretungskörper  des  Handwerkes,  die  man  ins  Auge  ge 
fasst  habe,  auch  mit  dieser  Aufgabe  zu  betrauen.  Bekannt 
lieh  sind  die  ins  Auge  gefassten  „Vertretungskörper  de 
Handwerkes“  Handwerkerkammern,  in  denen  nicht  nur  ui 
eigentlichen  Handwerker,  sondern  alle  gewerblichen  Bt; 
triebe,  und  zwar  alle  zusammen,  vertreten  sein  sollen. 

Unfall-  und  Krankenversicherung  in  der  Schweiz.  Del 

mit  den  Vorarbeiten  zu  diesem  Gesetze  betraut  gewesen 
Nationalrath  Forrer  theilte  mit,  dass  den  gesetzgebenden  Körper 
der  Schweiz  in  der  nächsten  Wintersession  Gesetzentwürfe  uw 
die  Unfall-  und  Krankenversicherung  der  Arbeiter  zugehe 
werden.  Er  hofft,  dass  dieselben  im  Jahre  1894  ins  Leben  tretei 
können.  Die  Prämien  sind  der  Hauptsache  nach  zwisene 
Arbeitgeber  und  Arbeiter  zur  Hälfte  zu  theilen,  so  dass  an  de 
drei  Prozent  des  Lohnes  betragenden  Prämie  jeder  Theil  ander 
halb  Prozent  zu  tragen  hat;  die  Deckung  des  Mehrbedarfs  Hei! 
der  Kasse  (des  Bundes)  ob. 


No.  20. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLAT T. 


257 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Arbeits-  und  Tndustriekammern  in  den  Niederlanden. 

An  die  Zweite  Kammer  der  Generalstaaten  ist,  wie  dem 
„Vorwärts“  berichtet  wird,  ein  Gesetzentwurf  des  liberalen 
Abgeordneten  Pyttersen  eingegangen  zur  Einführung  von 
„Kammern  von  Arbeit  und  Industrie“,  welche  den  Zweck 
haben:  1.  Unternehmer  und  Arbeiter  zur  Besprechung 

ihrer  gegenseitigen  Interessen  zusammen  zu  rufen;  2.  den 
Arbeitern  die  Gelegenheit  zu  geben,  auf  gesetzliche  Weise 
ihre  Wünsche  zur  Kenntniss  der  Obrigkeit  zu  bringen; 
3.  den  Reichs-,  Provinz-  und  Gemeindevorständen  in 
Arbeitersachen  Rath  zu  ertheilen;  4.  Streitigkeiten  zwischen 
Unternehmern  und  Arbeitern  zu  beseitigen,  wenn  nöthig 
durch  Schiedsgerichte. 

Der  Antrag  hat  Aussicht,  Gesetz  zu  werden,  da  die 
massgebenden  Parteien  in  den  Niederlanden  sich  schon 
öfters  für  ähnliche  Projekte  ausgesprochen  haben. 

Das  Wahlrecht  der  Frauen  in  den  italienischen  Gewerbe- 
schiedsgerichten. Die  italienische  Kammer  hat  den  Frauen  das 
passive  Wahlrecht  zu  den  Gewerbeschiedsgerichten  zugestanden, 
während  die  Regierung  sie  auf  das  aktive  Wahlrecht  beschränkt 
wissen  wollte. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 

Wohnungsverhältnisse  der  Kranken  in  der  Schweiz. 

In  No.  15  des  „Schweizerischen  Bundesblattes“  findet  sich 
eine  Tabelle  über  die  Wohnungs Verhältnisse  der  Kranken, 
welche  einer  tuberkulösen  oder  infektiösen  Krankheit  er- 
lagen. Im  Jahre  1891  starben  in  der  Schweiz  2122  Personen 
an  Tuberkulose  und  1046  an  anderen  Infektionskrankheiten. 
In  den  Sterbekarten  wurden  über  die  Wohnungsverhältnisse 
von  1860  Personen  (87%)  keine  Angaben  gegeben,  weil  sie 
unbekannt  waren  oder  die  Personen  in  Hospitälern  starben. 
Günstig  waren  die  Wohnungsverhältnisse  von  752  Personen 
(23,7%)  und  zwar  von  539  an  Tuberkulose  und  von  213  an 
anderen  Infektionskrankheiten  gestorbenen  Personen,  un- 
günstig waren  die  Wohnungsverhältnisse  von  556  Personen 
(17,6%)  und  zwar  von  350  an  Tuberkulose  und  von  206  an 
anderen  Infektionskrankheiten  verstorbenen  Personen. 

Aus  den  von  den  Aerzten  gemachten  Angaben  greift 
das  „Bundesblatt“  eine  lange  Reihe  heraus.  Wir  können 
hieraus  nur  Stichproben  mittheilen,  so:  Wohnung  ohne 
Sonnenlicht  und  schlecht  ventilirt;  ein  kleines  enges  Zimmer, 
als  Schlafraum  und  Küche  gleichzeitig  dienend;  feucht,  Licht- 
und  Luftmangel;  Wohnung  äusserst  mangelhaft,  feucht, 
niedrig,  Ventilation  unmöglich;  Hinterhaus,  Mansardenwoh- 
nung, in  jeder  Beziehung  schlecht;  Wohnung  eng,  Eltern 
und  fünf  Kinder  in  einem  Zimmer;  Lebensverhältnisse  und 
Wohnung  der  traurigsten  Art,  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Das  Prozent- 
verhältniss  der  ungünstigen  Wohnungen  ist  wahrscheinlich 
ein  noch  stärkeres,  da  die  in  den  Hospitälern  Verstorbenen 
wohl  berechtigter  Vermuthung  nach  in  ungünstigeren  Woh- 
nungen lebten,  als  Diejenigen,  welche  das  Aufsuchen  des 
Hospitals  noch  nicht  für  nöthig  hielten.  Im  Interesse  der 
Aufhellung  unserer  sozialen  Zustände  ist  die  Mittheilung 
des  offiziellen  Bundesblattes  werthvoll,  dass  die  angeführten 
Veröffentlichungen  als  Präliminarien  zu  einer  Untersuchung 
der  Wohnungsverhältnisse  betrachtet  werden.  Das  Bundes- 
blatt schliesst  seine  Mittheilungen  mit  dem  Satze,  dass  die 
gemeldeten  Thatsachen  zeigen,  wie  sehr  eine  fortwährende 
Beaufsichtigung  und  Sanirung  der  Wohnungen  seitens  der 
Sanitätsbehörden  vonnöthen  wäre. 

Bau  von  Arbeiterwohnungen  als  geschäftliches  Unter- 
nehmen. Der  vor  Kurzem  ausgegebene  2.  Jahresbericht  der 
Aktienbaugesellschaft  für  kleine  Wohnungen  in  Frankfurt  a.  M. 
ist  um  deswillen  von  allgemeinem  Interesse,  weil  er  einiges 
Material  zur  Beurtheilung  der  Frage  beibringt,  ob  gegenwärtig, 
d.  h.  bei  den  derzeitigen  Preisen  des  Grundeigenthums  in  allen 


grossen  Städten  und  bei  den  gegenwärtigen  Lohnverhältnissen 
der  Arbeiter,  der  Bau  von  Arbeiterwohnungen  als  rein  geschäft- 
liches Unternehmen  durchführbar  sei.  Der  Bericht  erklärt, 
die  Wohnungsproduktion  für  Unbemittelte  sei  derzeit  gerade 
wegen  des  Mangels  an  kleinen  Wohnungen  ein  pekuniär  durch- 
aus günstiges  Unternehmen,  die  Schwierigkeit,  eine  Rente  zu 
erwirthschaften,  beginne  aber,  wenn  man  sich  bemühe,  die 
Miethspreise  im  Einklang  mit  den  Arbeitslöhnen  zu  halten  und 
gleichwohl  die  Wohnungen  wenigstens  bescheidenen  Ansprüchen 
an  Behagen  und  Wohnlichkeit  entsprechend  auszugestalten. 
Diese  in  der  ganzen  Lage  unserer  Volkswirthschaft  liegende 
Schwierigkeit  habe  auch  das  Unternehmen,  über  das 
berichtet  werde,  nicht  zu  lösen  vermocht.  Man  erwirth- 
schaftete  zwar  eine  Verzinsung  von  3V2%  für  die  Aktionäre, 
aber  keinerlei  Unternehmergewinn,  und  selbst  dies  nur  durch 
eine  grösstentheils  unentgeltliche  Verwaltung  und  unentgelt- 
liche Bauleitung  u.  s.  w.  Andrerseits  sei  nichts  leichter,  als 
auch  eine  höhere  Verzinsung  zu  erzielen.  Man  brauche  dazu 
lediglich  entweder  höhere  Miethen  zu  nehmen,  wodurch  dann 
freilich  die  Wohnung  für  gewöhnlich  bezahlte  Arbeiter  uner- 
schwinglich würden,  oder  fünf  Stockwerke  übereinander  zu 
bauen,  die  allerdings  der  Verein  für  Gesundheitspflege  als  un- 
gesund verwerfe,  oder  die  Arbeiter  auf  einzimmerige  Wohnun- 
gen zu  verweisen,  die  für  Familienwohnungen  ungeeignet 
seien.  Demnach  stellt  sich  das  Unternehmen  allerdings  nur 
als  Palliativ  mittel  dar,  das  auch,  wenn  es  in  grösserem 
Massstabe  ausgeführt  würde,  die  Uebelstände  im  Wohnungs- 
wesen nicht  etwa  beseitigen,  sondern  nur  für  eine  relativ  kleine 
Anzahl  von  Personen  mindern  könnte.  Zu  weiteren  Fort- 
schritten auf  diesem  Gebiet  werden  auch  Gemeinde  und  Staat 
mehr  mitwirken  müssen. 


Eingesendete  Schritten. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Becker,  Bernhard,  Enthüllungen  über  das  tragische 
Lebensende  Ferdinand  Lassalle’s  und  seine  Be- 
ziehungen zu  Helene  von  Doenniges.  Neue  Be- 
arbeitung. Nürnberg,  1892.  Wörlein  & Cie.  8°.  XV  und 
232  S. 

Blum,  Emil  und  Alexander  S.  B.,  Wer  lügt?  Ein  soziales 
Fragezeichen.  Zürich  1892.  Verlagsmagazin  (j.  Schabelitz). 
8°.  VIII  und  223  S. 

Fraiikenstein,  Kuno  Dr.,  Die  deutsche  Fabrikinspektion, 
ihre  Thätigkeit  im  Jahre  1890  und  ihre  Reform. 
(S.-A.  aus  den  „Annalen  des  deutschen  Reiches“  1892.) 
München  und  Leipzig  1892.  G.  Flirth’s  Verlag.  8°.  72  S. 

Freund,  Dr.  jur.  Richard,  Magistratsassessor  und  Malachowski, 
Kgl.  Regierungsbaumeister,  Zur  berliner  Arbeiter- 
wohnungsfrage. Berlin  1892.  J.  J.  Heines  Verlag.  8°. 
56  Seiten  und  1 1 Figuren  ausser  dem  Texte. 

Gerecke,  Adolf,  Die  Aussichtslosigkeit  des  Moralismus. 
Zürich,  1892.  Verlagsmagazin  ( J.  Schabelitz).  XV  und 
226  S. 

Hirschberg,  Dr.  E.,  Directorial-Assistent  am  Statistischen  Amte 
der  Stadt  Berlin,  Die  amtliche  Statistik  und  die 
Arbeiterfrage  im  Deutschen  Reiche.  (Volkswirth- 
schaftliche  Zeitfragen  etc.  Heft  106/107).  Berlin,  1892. 
Leonhard  Simion  8°  60  S. 

Kaerger,  Dr.  Karl,  Privatdocent  an  der  Kgl.  landw.  Hochschule 
zu  Berlin,  Tangaland  und  die  Kolonisation  Deutsch- 
Ostafricas.  Thatsachen  und  Vorschläge.  Berlin,  1892. 
Hermann  Walther.  VIII  und  177  S. 

Lagasse,  Ch.,  Ingenieur  en  Chef  etc.  et  Queker,  Ch.,  Secre- 
taire  de  la  Section  des  habitations  ouvrieres.  Enquete  sur 
les  habitations  ouvrieres  en  1890.  Rapport  presente 
au  Comite  de  patronage  de  la  ville  de  Bruxelles.  Brüssel 
1890.  Folio  26  und  VIII  S.  und  6 Tabellen. 

Peters,  Dr.  Carl,  Gefechtsweise  und  Expeditionsführung 
in  Africa.  Berlin,  1892.  Hermann  Walther.  8°.  19  S. 

Rosin,  Dr.  Heinrich,  Professor  in  Freiburg,  Minoritätsver- 
tretung und  Proportional  wählen.  Ein  Ueberblick  über 
deren  Systeme,  Verbreitung,  Begründung.  Berlin,  1892. 
J.  Guttentag.  8°.  54  S. 

Schenkendorf,  E.  v. , Mitglied  des  Abgeordnetenhauses  und 
Schmidt,  Dr.  med.  FLA. , Mitglied  des  Ausschusses  der 
deutschen  Turnerschaft,  Ueber  Jugend-  und  Volks- 
spiele. Allgemein  unterrichtende  Mittheilungen  des  Central- 
ausschusses zur  Förderung  der  Jugend-  und  Volksspiele  in 
Deutschland.  Jahrgang  1892.  9.  Tausend.  Hannover-Linden, 
1892.  Manz  & Lange.  8°.  112  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  H S.  Hermann  in  Berlin. 


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2(  b 0 n 11  e 111  e n t d b e b in  g u lt  g e u : 

(Bei  allen  (ßoftanftalteu  (9fr.  2272 

bev  (Boft^eitungölifte)  ....  9)lf  0.80  I 

'-Bei  bivettev  ^reujbaubfenbung: 

in  2)eutfd)lanb  nnb  Defterreid) . „ 1,20  ; 

int  äBeltpoftoerein  .....  „ 1,50  ‘ 

3n  Berlin  bei  freier  Rufeitbung  . „ j 


Die  (Expebitton 

M.  Krebs,  SfaUfrfjra&BrJlr.  55. 


|olm-  miii  Jlrbette - ^erljflltntp 

int 

fritttftyeit  pvedjölcr-^cmci'bc. 

Sine  Ruianimenfteflung  ftatiftif eher  Erhebungen 
aus  88  Stabten  Seutfdjlanbd,  über  bie  gütjue, 
(Jlrbeit^eit,  ÜUter,  Afranffjeit,  Slrbeiteilofigfeit 
ber  Arbeiter,  ob  biefelben  Solbat  mareit,  mie 
bie  2trbeitärämne,  SBerfjeuge  befdjaffen,  meld)e 
(Branchen  tiertreten  fiitb  nfio. 

i^rcid  50  pro  Srentglar. 

(Bertag  non  Sh-  Seihart  „ft-aefutg  f ©reehslcr" 
$amburg=2f.  Okorg,  Sin  ber  Moppet  79. 

Hugo  Frankel, 

Antiquariat  fürRechts-u.  Staatswissenschaft, 

Berlin  N.  24,  Elsasserstr.  36, 

empfiehlt  sich  zur  Beschaffung  aller  in  sein 
Specialfach  einschlagender  Literatur. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigenteil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin, 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  23.  Mai  1892. 


Nummer  21. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Gewerbeinspektor  und  K es- 
se Ire  vis  or.  Von  Privatdozent 
I)r.  J.  Jastrow. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirth. Schaftsstatistik : 

Die  deutsche  Kommission  für 
Arbeiterstatistik. 

Zur  Lohnpolitik  des  österreichi- 
schen Grossgrundbesitzes. 

Abstellung  der  Zuchthausarbeit  in 
der  Korbmacherei. 

Arbeitsnachweis  in  Breslau. 

Handel  von  Prämien-  und  An- 
lehensloosen im  Kanton  Zürich. 

Teppichweberei  in  Kleinasien. 
Arbeiterzustämle: 

Die  Lage  der  Bäcker  in  Bremen. 

Lohn  Verhältnisse  der  österreichi- 
schen Binnenschiffer. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Die  Strikebewegung  in  Lodz. 

Folgen  des  Durhamer  Strikes. 

Die  Unterstützung  bei  Arbeits- 
losigkeit. 

Die  Pariser  Kellner  gegen  das 
Trinkgelderunwesen. 

Ax'beiterschutzgesetzgebimg : 

Das  Arbeiterschutzgesetz  in  Glarus. 
Von  Fabrikinspektor  F.  Schüler. 


Abdruck  sämrotlicher  Artikel 


Minimallohn  für  städtische  Ange- 
stellte in  Zürich. 
Arbeiterversicherung: 

Grundsätze  des  Reichsversiche- 
rungsamts in  Betreff  der  An- 
sprüche auf  Invalidenrente. 

Abänderung  des  deutschen  Unfall- 
versicherungsgesetzes. 

Ausdehnung  der  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung  auf  die  Be- 
amten der  evangelischen  Landes- 
kirche. 

Statut  des  Verbandes  der  freien 
Hilfskassen  im  Deutschen  Reich. 
Wohlfahrtseinrichtungen: 

Zur  Frage  der  Gewinnbetheiligung 
der  Arbeiter.  Von  Prof.  Raoul 
Jay. 

Missbrauche  und  Vortheile  der 
Fabrikkantinen. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Wohnungszustände  in  München. 

Miethzinssparkassen  im  Rheinland. 

Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter 
in  Brüssel. 

Litteratur: 

Fehling,  Die  Bestimmung  der  Frau, 
ihre  Stellung  zu  Familie  und  Beruf. 


Zeitschriften  gestattet, 


ist  Zeitungen  und 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Gewerbeinspektor  und  Kesselrevisor. 


In  dem  Aufsatz  über  „die  Umgestaltung  der  Gewerbe- 
inspektion in  Preussen“,  in  No.  18  dieser  Zeitschrift,  hat  der 
Herausgeber  derselben  auch  die  Belastung  der  Gewerbe- 
mspektoren  mit  der  Revision  der  Dampfkessel  berührt  und  als 
sehr  bedauerlich  bezeichnet.  Allein  bei  der  Behutsamkeit,  mit 
welcher  dieser  Artikel  die  Frage  behandelt,  scheint  mir  die 
sozialpolitische  Tragweite,  welche  die  Personalunion  von 
Gewerbeinspektor  und  Kesselrevisor  besitzt,  doch  nicht  in 
dem  Masse  hervorgehoben  zu  sein,  welches  die  Wichtigkeit 
der  Sache  verdienen  dürfte.  Wer  die  beiden  Aemter  für 
unvereinbar  hält,  muss  es  geradezu  als  eine  Hauptaufgabe 
der  sozialpolitischen  Belehrung  des  Publikums  betrachten, 
die  Unvereinbarkeit  in  ihrem  ganzen  Umfange  darzuthun. 

Da  der  bisherige  preussische  Fabrikinspektor  in  der 
Hauptsache  die  Fabrik  zu  inspiziren  hatte,  so  scheint  es  im 
! Sr°ssen  Publikum  aut  den  ersten  Blick  sehr  einleuchtend, 

; dass  man  im  Interesse  der  Geldersparniss  demselben  Be- 

I 

I 


amten,  welcher  die  ganze  Fabrik  zu  inspiziren  hat,  auch 
die  Inspizirung  des  Dampfkessels  überträgt.  Allein  diese 
Vorstellung  beruht  auf  einer  falschen  Anschauung  über  die 
Entwicklung  und  Bedeutung  der  beiden  Aemter. 

Der  Ursprung  der  Gewerbeinspektion  liegt  in  der 
staatlichen  Fürsorge  für  das  Wohl  des  Arbeiters. 
Es  ist  vollkommen  bezeichnend,  dass  die  ältesten  preussi- 
schen  Verordnungen  über  Gewerbeinspektion  von  einer 
Stelle  ausgegangen  sind,  welche  an  sich  mit  der  Verwaltung 
der  Fabriken  gar  nichts  zu  thun  hatte,  sondern  nur  unter 
dem  Gesichtspunkte  der  Fürsorge  für  die  Personen  zu  einer 
Beschäftigung  mit  dem  Gegenstände  gedrängt  wurde.  Es 
war  der  Kultusminister  v.  Altenstein,  der  Reorganisator  des 
preussischen  Schulwesens,  der  zuerst  darauf  drängte,  dass 
der  Staat  als  Obervormund  der  übertriebenen  Beschäftigung 
von  Kindern  in  Fabriken  und  namentlich  der  Beeinträchti- 
gung ihres  Schulunterrichts  entgegentreten  müsse.  Die  mit 
der  Fürsorge  hierfür  betrauten  „Lokalkommissionen“,  welche 
fünf  Jahre  nach  Altensteins  Tode  eingesetzt  wurden  (1845), 
sind  als  der  erste  behördliche  Ansatz  für  eine  preussische 
Fabrikinspektion  zu  betrachten.  Die  „Gewerberäthe“  von 
1849  sind  ihre  nächsten  Nachfolger.  Die  Fürsorge  der  Ge- 
werberäthe war  eine  wohlfahrtspolizeiliche.  Ihre  eigent- 
liche Aufgabe  war,  für  einen  Theil  der  Bevölkerung,  welcher 
nicht  lür  sich  selbst  sorgen  konnte,  die  Fürsorge  zu  über- 
nehmen. Der  polizeiliche  Charakter  des  Instituts  wurde  in 
dem  Gesetz  von  1853  ausdrücklich  betont;  es  sollte  neben 
und  über  der  Ortspolizei  die  Massregeln  durchsetzen,  für 
welche  diese  schon  deshalb  sich  nicht  als  ausreichenderwiesen 
hatte,  weil  der  lokale  Zusammenhang  der  örtlichen  Behörden 
mit  den  Fabrikbesitzern  ein  viel  zu  enger  war.  Allerdings 
waren  in  der  Folgezeit  die  Kinder  und  jugendlichen  Arbeiter 
nicht  mehr  der  einzige  Gegenstand  der  Beaufsichtigung. 
Man  gelangte  allmählich  in  die  Zeit  der  beginnenden 
Schutzmassregeln  für  die  Arbeiter  überhaupt.  Mit  dem  zu- 
nehmenden Dampfbetriebe  gewannen  namentlich  die  Sicher- 
heitsmassregeln  für  Leben  und  Gesundheit  der  Arbeiter  eine 
erhöhte  Bedeutung.  Indem  man  daher  dem  Aufsichtsbe- 
amten die  Inspektion  der  ganzen  Fabrik  in  dieser  Hinsicht 
übertrug,  hat  man  ihm  auch  vorübergehend  den  Namen 
„Fabrikinspektor“  beigelegt,  welcher  indess  eben  jetzt 
wieder  dem  alten  Namen  des  „Gewerbeinspektors“  und 
„Gewerberaths“  Platz  gemacht  hat.  Jedenfalls  ist  der 
Charakter  dieses  Institutes  klar.  Der  Gewerbeinspektor  ist 
Staatsorgan,  er  hat  von  Staatswegen  die  Interessen  der 
Schwachen  im  Betriebe  wahrzunehmen.  Allen  Freunden 
einer  triedlichen  sozialen  Weiterentwicklung  liegt  die  Aus- 
gestaltung dieses  Amtes  ganz  besonders  am  Herzen.  Je  kräf- 
tiger wir  diese  Aufgabe  des  Aufsichtsbeamten  betonen,  je 


260 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


mehr  es  uns  gelingt,  einen  Stamm  von  Autsichtsbeamten 
heranzubilden,  der  in  den  Kreisen  der  arbeitenden  Bevölke- 
rung Vertrauen  findet  und  verdient,  desto  mehr  wird  der- 
selbe auch  im  Stande  sein,  in  Fällen  des  Konfliktes  als  Ver- 
mittler von  anerkannter  Sachkenntniss  und  anerkanntem 
Wohlwollen  zwischen  die  streitenden  Th  eile  zu  treten.  Der 
Gewerbeinspektor  der  Zukunft  wird  in  erster  Linie  als 
sozialpolitischer  Beamter  gedacht. 

Wo  freilich  das  Personenmaterial  zu  solchen  Beamten 
zu  suchen  ist,  das  vermag  heute  noch  Niemand  zu  sagen. 
Noch  giebt  es  Gegenden  in  Deutschland,  in  welchen  der 
Pfarrer  der  thatsächliche  Vertrauensmann  sowohl  der 
Arbeitgeber,  wie  der  Arbeitnehmer  ist;  wenn  unter  den 
Theologen  von  heute  Personen  vorhanden  sind,  welche 
durch  ihre  Leistungen  das  Vertrauen  rechtfertigen,  das  man 
in  sie  setzt,  so  sind  sie  zur  Mitwirkung  an  diesem  Werk 
berufen.  Anderswo  mag  unter  denen,  welche  sich  die  „Beicht- 
väter des  19.  Jahrhunderts“  zu  nennen  lieben,  unter  den 
Aerzten,  hier  und  da  ein  Mann  sein,  welcher  für  die  sozial- 
politische Seite  seines  Berufes  genügend  Neigung  und  Ver- 
ständniss  besitzt,  um  von  hier  aus  sich  den  festen  Boden 
einer  geeigneten  Thätigkeit  zu  schaffen.  Jedenfalls  stehen 
in  dieser  Beziehung  die  europäischen  Staaten  nicht  am  Ab- 
schluss, sondern  am  ersten  Anfang  einer  grossen  Entwick- 
lung, welche  dazu  berufen  ist,  unsern  Behördenkörper  um 
ein  wichtiges  Organ  zu  bereichern,  welchem  von  allen 
Seiten  her  die  geeigneten  Kräfte  und  Säfte  erst  zugeführt 
werden  müssen. 

Einen  ungleich  nüchterneren  Ursprung  und  Charakter 
zeigt  uns  die  Geschichte  der  Dampfkesselrevision.  Diese  , 
Revision  geht  auf*  zweierlei  Wurzeln  zurück.  Einmal  auf 
die  eigene  Revisionsthätigkeit,  welche  jeder  Unternehmer 
ab  und  zu  an  seinem  Dampfkessel  übte,  zu  deren  Ausführung 
sich  die  Unternehmer  dann  in  Vereinen  und  Verbänden  zu- 
sammenthaten.  Daneben  hat  es,  so  lange  es  Dampfkessel 
giebt,  auch  eine  baupolizeiliche  Ueberwachung  derselben 
gegeben.  Diese  Ueberwachung  wurde  wie  so  viele  bau- 
polizeiliche Ueberwachungen  in  erster  Linie  im  Interesse 
des  Unternehmers  selbst  geführt;  nur  dass  freilich  dieser 
auf  die  Wahrnehmung  des  Interesses  nicht  verzichten 
durfte.  An  der  Revision  eines  Dampfkessels  ist  der  Besitzer 
desselben  in  so  hohem  Masse  interessirt,  dass  der  damit 
verbundene  Gesichtspunkt  der  Fürsorge  für  die  Allgemein- 
heit nothwendig  in  den  Hintergrund  tritt.  An  diesem  Zu- 
stande hat  das  Gesetz  vom  3.  Mai  1872  nichts  geändert. 
Wenngleich  heute  in  der  ganzen  Monarchie  die  Kessel- 
revisoren ihr  Amt  kraft  staatlichen  Auftrages  ausüben,  so 
ist  darum  der  Charakter  dieser  Thätigkeit  als  einer  in  erster 
Linie  im  Interesse  des  Unternehmers  selbst  geübten  keines- 
wegs vergessen.  Es  zeigt  sich  dies  einmal  darin,  dass  die 
Kessel-Ueberwachungs vereine  geradezu  eine  behördliche 
Anerkennung  gefunden  haben,  sodass  der  staatliche  Kessel- 
revisor nur  subsidiär  eintritt;  es  zeigt  sich  ebenso  darin, 
dass  der  Unternehmer  für  die  Revision  eine  Gebühr  zu 
zahlen  hat.  In  dem  Einen  wie  in  dem  Andern  tritt  auf  das 
Deutlichste  hervor,  dass  die  Kesselrevision  als  eine  Thätig- 
keit angesehen  wird,  welche  im  Interesse  des  Unternehmers 
stattfindet. 

Indem  nun  in  Preussen  die  beiden  Aemter  des  Ge- 
werbeinspektors und  des  Kesselrevisors  mit  einander  in 
Personalunion  gesetzt  sind,  kann  es  kaum  eine  Frage  sein, 
welche  von  den  beiden  so  entgegensetzten  Beamtungen 
sich  als  die  stärkere  erweisen  und  der  neuen  Verbindung 
ihren  Gesammtcharakter  aufprägen  wird.  Die  Aufgaben 
des  Gewerbeinspektors  sind  nicht  annähernd  so  präzise 
und  bestimmt,  wie  die  des  Kesselrevisors.  Sie  haben  in  der 
letzten  Zeit  vielfach  geschwankt  und  werden  hoffentlich 
noch  weiter  schwanken,  während  der  Zweck  einer  Kessel- 


No. 21. 


revision  von  Anfang  bis  heute  derselbe  geblieben  ist.  Die 
sozialpolitischen  Aufgaben  eines  Gewerbeinspektors  lassen 
sich  mehr  oder  minder  gut  wahrnehmen;  die  des  Kessel- 
revisors  erfordern  eine  Leistung  von  unbedingter  Zuver- 
lässigkeit, eine  Ausführung  nach  bestimmten  Regeln  der 
Kunst.  Ein  etwaiger  Fehler  in  der  Thätigkeit  der  Kessel- 
revision  macht  sich  mit  elementarer  Gewalt  bemerkbar  und 
zeigt  die  Unfähigkeit  des  Beamten  mit  einer  Deutlichkeit, 
wie  ein  sozialpolitischer  Missgriff  in  seiner  Thätigkeit  als 
Gewerbeinspektor  es  nie  zu  thun  vermag.  Eine  Regierung 
wird  selbst  dem  geschicktesten  Vermittlertalent  zuliebe,  nie  i 
auch  nur  eine  einzige  Dampfkesselrevision  mehr  riskiren  ! 
wollen,  ln  der  Personalunion  der  beiden  Aemter  muss  der  j 
Kesselrevisor  siegen.  Wenn  man  Beamte  aussucht,  welche  | 
gleichzeitig  Gewerbeinspektoren  und  Kesselrevisoren  sein 
sollen,  so  kann  man  eben  nur  nach  Kesselrevisoren  suchen, 
welche  die  Fabrikinspektion  „auch“  übernehmen  sollen. 
Das  heisst:  durch  die  Verbindung  der  beiden  Aemter 
wird  die  Gewerbeinspektion  zu  einem  Nebenamt 
der  Dampfkessel  revision  herabgedrückt. 

Wenn  man  daher  mit  einem  gewissen  Stolz  auf  den 
preussischen  Reorganisationsplan  mit  seinen  163  Gewerbe- 
Aufsichtsbeamten  hinweist,  einer  Zahl,  wie  sie  kein  anderer 
Staat  der  Erde  aufzuweisen  habe,  so  beruht  dieser  Stolz 
auf  blosser  Selbsttäuschung. 

Das  Uebergewicht  des  Kesselrevisors  hat  sich  in  seinem 
vollen  Umfange  bereits  bei  der  ersten  Besetzung  der  re- 
organisirten  Aemter  in  der  Auswahl  der  Personen  gezeigt.- 
Dr.  Heinrich  Braun  hat  das  Zugeständniss  des  preussischen 
Handelsministers,  dass  durch  die  Vereinigung  die  aus-' 
schliessliche  Besetzung  des  Postens  mit  Ingenieuren  noth-, 
wendig  sei,  bereits  hervorgehoben.  Aber  dass  der  Bildungs-1 
gang  der  Ingenieure  nur  einen  Theil  der  nothwendigen 
Vorbildung  darstellt,  dass  sie  die  hygieinische  und  die  volks- 
wirthschaftliche  Seite  ihrer  Aufgabe  nicht  genügend  über- 
blicken werden,  ist  durchaus  noch  nicht  das  Wichtigste  an; 
diesem  Einfluss  auf  die  Personenfrage.  Schlimmer  und; 
nach  der  sozialpolitischen  Seite  geradezu  ausschlaggebend, 
ist,  dass  nunmehr  die  Besetzung  dieses  Amtes  mit  den'; 
engsten  Standesgenossen  des  Unternehmers  be- 
schlossene Sache  ist.  Der  Gewerbeinspektor,  welchen  man; 
sich  in  Zeiten  klaffender  Gegensätze  als  den  gemeinsamen 
Vertrauensmann  beider  Parteien  und  darum  in  erster  Linie 
als  den  Vertrauensmann  der  vielköpfigen  Partei  dachte,  ist 
aufgegeben  und  an  seine  Stelle  ist  ein  Beamter  getreten, 
der  demselben  gesellschaftlichen  Kreis  angehört,  wie  der  , 
Fabrikunternehmer.  Nicht  selten  sind  es  zwei  Studienge-  j 
nossen,  von  denen  der  eine  als  Ingenieur  in  den  Staats-  j 
dienst  trat,  während  der  andere  als  Ingenieur  eine  Fabrik 
übernahm.  Für  den  Pfarrer,  für  den  Arzt,  für  jeden  Andern, 
der  durch  das  Gewicht  seiner  Persönlichkeit  und  seines 
Berufes  den  allerdings  bestehenden  gesellschaftlichen  Zu- 
sammenhang vergessen  machen  könnte,  ist  kein  Raum  in 
einem  Amte,  welches  von  seinem  Träger  in  erster  Linie 
verlangt,  dass  er  Dampfkessel  revidiren  können  muss.  Und 
hatte  jemand  sich  Hoffnung  gemacht,  es  könnte  sich  im 
Laufe  der  Zeit  ein  Gewerbeinspektorat  entwickeln,  in  | 
welches  auch  intelligente  Arbeiter  hineingelangen  könnten, 
so  ist  diese  Hoffnung  selbstverständlich  ebenso  abgeschnitten, 
seitdem  das  Inspektorat  mit  einer  Aufgabe  verbunden  ist, 
die  man  Niemandem  übertragen  kann,  der  nicht  ein  tech- 
nisches Staatsexamen  abgelegt  hat. 

Dass  der  wohlfahrtspolizeiliche  Charakter  des  Ge- 
werbeinspektorates,  seine  Stellung  als  polizeilicher  Anwalt 
der  Schwachen  gegen  die  Starken  vergessen  ist,  hat  sich 
bereits  in  der  ersten  Ministerialinstruktion  geltend  gemacht. 
Man  hat  den  Gewerbeinspektoren  untersagt,  von  ihrem 


No.  21. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


261 


polizeilichen  Strafrecht  Gebrauch  zu  machen.  Es  ist  kaum 
richtig,  wenn  man  dies  als  einen  zweiten  Fehler  neben  dem 
ersten  bezeichnet;  es  ist  nichts  weiter  als  die  Konsequenz 
des  einmal  begangenen  Fehlers.  Man  sieht  eben  in  dem 
jetzigen  Gewerbeinspektor  in  erster  Linie  den  blossen 
technischen  Revisionsbeamten,  der,  wenn  er  für  seine 
Nebenfunktionen  ein  polizeiliches  Einschreiten  für  nöthig 
hält,  die  Ortspolizei  zu  requiriren  hat.  Wenn  so  im  Ver- 
waltungswege die  vom  Gesetz  gegebene  Strafgewalt  wieder 
genommen,  wenn  der  Beamte  von  derselben  Ortspolizei  ab- 
hängig gemacht  wird,  zu  deren  Ergänzung  und  Kontrolli- 
rung  man  ihn  schon  1853  bestimmen  wollte,  so  ist  dieses 
Abhängigkeitsverhältniss  um  so  bedauerlicher,  weil  in- 
zwischen jener  lokale  und  gesellschaftliche  Zusammenhang 
zwischen  den  leitenden  Personen  der  Ortsbehörden  und  den 
leitenden  Personen  der  Fabriken  durch  die  Ausdehnung  der 
Fabriken  in  kleinen  Städten  und  auf  dem  platten  Lande 
vielfach  noch  bedeutend  zugenommen  hat.  Viel  häufiger 
als  früher  ist  jetzt  Sitz  der  Fabrik  ein  Gutsbezirk,  in 
welchem  Fabrikbesitzer,  Gutsbesitzer  und  Träger  der  Orts- 
polizei ein  und  dieselbe  Person  ist.  Ihr  gegenüber  die 
Interessen  des  Arbeiterschutzes  mit  der  Autorität  des 
Staates  zu  vertreten,  wurde  bisher  als  Aufgabe  des  Ge- 
werbeinspektors gedacht,  nicht  aber  von  ihr  die  Geltend- 
machung der  Staatsautorität  zu  erbitten. 

Allerdings,  dass  die  Thätigkeit  des  Gewerbeinspektors 
nicht  im  Strafen,  sondern  im  gütlichen  Vorstellen  und  Ver- 
mitteln ihr  Schwergewicht  suchen  soll,  bleibt  gleichwohl 
ein  berechtigter  Gedanke.  Aber  fruchtbare  Vermittlung 
zwischen  streitenden  Theilen  und  streitenden  Interessen 
kann  nur  Jemand  übernehmen,  der  Autorität  hat.  Um  ohne 
Strafen  eine  fruchtbare  Thätigkeit  entfalten  zu  können, 
muss  dem  Beamten  die  Möglichkeit  des  Strafens  gelassen 
werden. 

Autorität  muss  diesem  Beamten  inne  wohnen  und 
zwar  nicht  blos  nach  unten,  sondern  auch  nach  oben  hin. 
Wir  bedürfen  für  unsere  sozialen  Kämpfe  eines  sozial- 
politischen Beamtenthums,  welches  mit  seiner  Kenntniss 
der  Arbeiterverhältnisse  nicht  nur  zwischen  Arbeitgeber 
und  Arbeitnehmer  treten  kann,  sondern  auch  seinem  eigenen 
Vorgesetzten  bis  hinauf  zum  Minister  eine  unabhängige 
und  in  gewisser  Weise  imponirende  Stellung  einnimmt. 
Unter  den  Gewerbeinspektoren  selbst  herrscht  keineswegs 
eine  allgemeine  Freudigkeit  über  die  Verbindung  von  Ge- 
werbeinspektion und  Kesselrevision.  Nachdem  aber  ein- 
mal das  Amt  den  Hauptcharakter  des  Kesselrevisors  er- 
halten hat,  befürchte  ich  sehr  stark,  dass  die  Entwicklung 
dahin  gehen  könnte,  dass  die  Widersprechenden  an  Einfluss 
verlieren,  die  gehorsam  Ausführenden  immer  mehr  gewinnen 
werden  und  dass  in  den  höchsten  Regionen  der  Gewerbe- 
verwaltung die  Anschauung  sich  festsetzt,  als  ob  die  neue 
Verbindung  sich  eigentlich  sehr  wohl  bewähre.  Fängt 
man  doch  sogar  schon  an,  das  Vorbild  Sachsens  und 
Württembergs  als  einen  Beweis  für  die  Vereinbarkeit  der 
beiden  Amtsfunktionen  anzuführen;  gleich  als  ob  es  auf 
diesem  Gebiete  irgend  einen  deutschen  Staat  gäbe,  dessen 
Einrichtungen  auch  nur  halbwegs  als  genügend  sich  be- 
währt hätten. 

Zu  dem  gegenwärtigen  Leiter  des  Handelsministeriums 
dürfen  wir  freilich  das  Vertrauen  haben,  dass  er  der  sozial- 
politischen Seite  des  Amtes  wenigstens  seine  Aufmerksam- 
keit schenken  wird.  Es  verdient  auch  daran  erinnert  zu 
werden,  dass  Minister  v.  Berlepsch  die  Trennung  der  beiden 
Aemter  als  in  der  Zukunft  nicht  ausgeschlossen  hingestellt 
hat.  Aber  die  Lage  des  preussischen  Handelsministers  ist, 
da  jede  derartige  Stellenvermehrung  der  parlamentarischen 
Bewilligung  unterliegt,  eine  überaus  schwierige.  Die  letzten 
Jahre  haben  bewiesen,  dass  der  preussischen  Regierung  ein 


Parlament,  welches  für  diese  Aufgaben  Sinn  hätte,  nicht 
zur  Seite  steht.  Sobald  es  sich  um  gewerbliche  Angelegen- 
heiten handelt,  zeigen  die  Verhandlungen  des  preussischen 
Abgeordnetenhauses  ein  gänzlich  anderes  Aussehen,  als  die 
des  deutschen  Reichstages.  Ein  Grund  mehr,  um  die  Re- 
gelung des  Gewerbeinspektorats  zur  Sache  des  Reichs  zu 
machen.  Man  mag  ein  grosses  über  ganz  Deutschland  ver- 
zweigtes Reichs-Gewerbeinspektorat  für  den  Augenblick 
noch  als  ein  Phantasiegebilde  bezeichnen,  aber  wenigstens 
die  genauere  Regulirung  des  Amtes  — weit  über  die 
dürftige  Bestimmung  der  Gewerbeordnung  hinaus  — ist 
allerdings  eine  Angelegenheit,  welche  für  die  Uebernahme 
durch  das  Reich  schon  jetzt  reif  ist. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Die  deutsche  Kommission  für  Arbeiterstatistik.  Die 

erste  Sitzung  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  wird  einer 
Meldung  des  „Reichsanzeigers“  zufolge  in  der  zweiten  Hälfte 
des  Monats  Juni  stattfinden.  Ausser  der  Anhörung  der  Kom- 
mission über  die  für  ihren  Geschäftsgang  vom  Reichskanzler 
zu  erlassende  Geschäftsordnung  sollen  Vorschläge  über 
anzustellende  Erhebungen  bezüglich  der  Arbeitszeit  im 
Bäckergewerbe,  Müllergewerbe  und  im  Handelsgewerbe  die 
Gegenstände  der  Tagesordnung  bilden. 

Zur  Lohnpolitik  des  österreichischen  Grossgrund- 
besitzes.  Nachstehende  Mittheilungen,  die  der  Broschüre 
eines  „österreichischen  Industriellen“  über  „Arbeiteraus- 
schüsse und  Genossenschaften  in  der  Industrie“  1892.  Ver- 
lag von  August  Hempel,  Tetschen  a.  d.  E.,  S.  22  entnommen 
sind,  werten  auf  die  Lohnpolitik  des  österreichischen  Gross- 
grundbesitzes ein  beachtenswerthes  Streiflicht: 

„Vor  4 Jahren  hatten  wir  Veranlassung,  ein  Grund- 
stück für  eine  neu  anzulegende  Fabrik  zu  suchen.  Am  ge- 
eignetsten erwies  sich  ein  Grund,  der  zu  einem  grossen 
Hinterkomplexe  gehörte  und  wir  wurden,  da  es  unthunlich 
war,  mit  dem  Herrn  selbst  zu  sprechen,  an  den  Güter- 
direktor gewiesen.  Die  Antwort  lautete  etwa  folgender- 
massen:  „Ja,  wir  sind  ursprünglich  nicht  abgeneigt,  Grund 
zu  verkaufen,  aber  Sie  brauchen  70—80  Arbeiter,  da  gehts 
nicht!  Wir  müssen  jetzt  schon  bei  der  Rübenernte  80  Kr. 
ragelohn  zahlen  (40 — 50  Kr.  ist  der  normale  Tagelohn  jener 
Gegend),  wo  kämen  wir  da  mit  unseren  Löhnen  noch  hin!“ 
Auf  unsere  Bemerkung,  dass  die  Industrie  auch  wieder 
Vortheile  für  die  Landwirthschaft  bringt,  belehrte  uns  der 
vortreffliche  Güterdirektor,  dass  er  sich  das  schon  aus- 
rechne. Er  hätte  auf  einem  anderen  Gute  seines  Herrn 
sogar  eine  leerstehende  Fabrik  zu  verkaufen,  für  die  ihm 
wiederholt  Angebote  gemacht  wurden,  aber  er  finde  es 
vortheilhafter,  die  Fabrik  leer  stehen  zu  lassen,  da  die  Er- 
höhung der  Löhne  mehr  machen  würde,  als  die  Zinsen  des 
erhaltenen  Kapitales“. 

Der  Verfasser  knüpft  an  diese  Beobachtung  unter  an- 
derem folgende  Thesen:  „Dass  der  Grossgrundbesitz  einen 
ungeheuren  Einfluss  auf  das  Erwerbsleben  weiter  Länder- 
strecken und  tausender  von  Menschen  hat  und  nicht  immer 
zum  Vortheil  der  Bewohner  jener  Gegenden  ausübt,  da 
die  Löhne  auf  den  grossen  Gütern  viel  geringer  sind  als 
bei  der  Industrie;  und  „dass  der  Grossgrundbesitz  weit  eher 
als  industrielle  Ünternehmungen,  ein  Mittelding  zwischen 
Privat-  und  öffentlichem  Haushalt  ist“,  also  eine  öffentliche 
Regelung  seiner  Arbeiterverhältnisse  gerechtfertigt  sei. 

Abstellung;  der  Zuchthausarbeit  in  der  Korbmacherei 

fordert  der  Vorsitzende  des  Central verbandes  deutscher  Korb- 
macher in  einer  Eingabe  an  das  preussische  Kriegsministerium. 
In  dieser  Eingabe  heisst  es: 

„Ergebenst  Unterzeichneter  ersucht  im  Namen  der  ver- 
einigten Korbmacher  Deutschlands  das  hohe  Ministerium,  wenn 
irgend  möglich  die  seiner  Zeit  ausgeschriebenen  Kugelkörbe 


262 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  21. 


nicht,  wie  ein  Gerücht  lautet,  im  Zuchthause  zu  Zweibrücken 
in  Bayern  anfertigen  zu  lassen,  sondern  solchen  Unternehmern 
zu  übertragen,  welche  freie  Arbeiter  beschäftigen.  Die  vereinigten 
Korbmacher  Deutschlands,  Meister  und  Gesellen,  würden  nicht 
mit  diesem  Gesuch  hervorgetreten  sein,  wenn  sie  sich  nicht 
durch  folgende  Umstände  dazu  gedrängt  sähen. 

1)  ist  die  Korbmacherei  durch  Zuchthausarbeit  schon  seit 
langer  Zeit  aufs  Schwerste  geschädigt  und  in  ihrer  Prosperität 
herabgedrückt  worden; 

2)  sind  seit  November  v.  J.  in  vielen  Orten  eine  grosse 
Anzahl  Korbmacher  gänzlich  beschäftigungslos  und  zwar  meisten- 
theils  Familienväter,  mithin  sind  es  nicht  blos  einzelne  Personen, 
clie  hungernd  und  bettelnd  auf  die  Landstrasse  getrieben  werden, 
sondern  auch  Frauen  und  Kinder  sind  dem  Elend  preisgegeben 
und  häufig  gezwungen,  um  sich  Nahrung  zu  verschaffen,  Gesetzes- 
übertretung zu  begehen. 

Dieses  wird  und  kann  keine  Behörde  wollen,  wenn  irgend 
Mittel  vorhanden  sind,  solches  abzuwenden.  Lind  dazu  bietet  sich 
theilweise  die  Möglichkeit,  wenn  die  benöthigten  15  000  Körbe 
von  freien  Arbeitern  verfertigt  werden.  Denn  es  würden  daran 
zirka  100  Mann  6 bis  7 Wochen  zu  arbeiten  haben  und  mithin 
für  diese  Dauer  mit  ihren  Familien  dem  Elend  entrissen  sein“' 

Arbeitsnachweis  in  Breslau.  Nachdem  das  städtische 
Arbeitshaus  Breslaus  den  Charakter  einer  Strafanstalt  an- 
genommen hat,  ist  es  als  Stelle,  wo  erwerbsfähige  Arme 
Beschäftigung  und  Unterhalt  finden,  kaum  noch  zu  be- 
trachten. Die  Beschäftigung  suchenden  Arbeitslosen  sind 
daher  hierorts  jetzt  wesentlich  auf  das  Arbeits-Nachweis- 
biireau  angewiesen,  welches  der  hiesige  „Verein  gegen 
Verarmung  und  Bettelei“  aus  eigener  Initiative  im  Jahre 
1880  errichtet  hat.  Während  der  Wirksamkeit  des  Vereins 
vom  1.  Juli  1880  bis  31.  Dezember  1891  wurden  eingetragen 
in  das  Melderegister  15  253  Männer,  8084  Weiber,  zusammen 
23  337;  Arbeit  wurde  nachgewiesen  12  925  Männern  und 
12  350  Weibern,  zusammen  25  305  Personen.  Ueber  die  1 hä- 
tigkeit  des  Arbeits-Nachweisbüreaus  im  verflossenen  Kalender- 
jahre (1891)  giebt  uns  der  soeben  erschienene  Rechenschafts- 
bericht des  genannten  Vereins  (erstattet  in  der  Generalver- 
sammlung am  3.  Mai)  wie  folgt  Aufschluss:  Der  Arbeits- 

nachweis wird  unentgeltlich  ertheilt.  Es  sind  im  Berichts- 
jahre von  Arbeitgebern  1806  Bestellungen,  und  zwar  auf 
1234  männliche  und  1122  weibliche,  zusammen  2356  Ar- 
beiter eingegangen  Davon  wurden  1711  Bestellungen 
durch  1193  männliche  und  1068  weibliche,  zusammen 
2261  Arbeiter  erledigt.  Feste  Anstellungen  erhielten  991, 
theilweise  fest  492,  vorübergehend  778,  zusammen  2261. 
Von  den  2261  erledigten  Bestellungen  aut  Arbeitspersonal 
befanden  sich  ausserhalb  Breslaus  21.  Im  Melderegister 
wurden  im  Jahre  1891  995  männliche  und  492  weibliche 
Personen,  zusammen  1487  Personen  eingetragen,  unter 
diesen  befanden  sich  57  vom  Verein  und  44  von  der  städti- 
schen Armenverwaltung  unterstützte  Personen.  Ueber  die 
sonstigen  Personalverhältnisse  der  im  Jahre  1891  in 
Melderegister  eingetragenen  Arbeiter  unterrichten  uns  fol- 
gende Angaben:  Von  den  Eingetragenen  waren  aus  Breslau 
gebürtig:  648  (513  Männer,  135  Weiber);  in  Breslau  hei- 
mathsberechtigt:  839  (482  Männer,  357  Weiber).  Es  standen 
in  einem  Alter  unter  20  Jahren  628  (548  Männer,  80  Weiber), 
von  20— 30  Jahren  328  (206  Männer,  122  Weiber  ),  von  30  bis 
50  Jahren  444  (201  Männer,  243  Weiber),  von  50—70  Jahren 
85  (38  Männer,  47  Weiber),  über  70  Jahre  2 Männer.  Ledig 
waren  895  Personen  (707  Männer,  188  Weiber),  verheirathet 
433  (272  Männer,  161  Weiber),  die  übrigen  verwittwet  oder 
geschieden. 

Die  Uebersicht  über  die  Berufsklassen,  für  welche 
Arbeitsnachweisungen  ertheilt  wurden,  enthält  leider  eine 
grosse  Sammelkategorie  „Arbeiter“;  es  ist  nicht  ersichtlich, 
ob  dieses  nur  gewöhnliche  ungelernte  Tagelöhner  oder 
auch  Industriearbeiter  sind.  Von  den  1193  männlichen  Per- 
sonen, denen  Arbeit  nachgewiesen  wurde,  erhielten  Be- 
schäftigung als:  „Arbeiter“  610,  Arbeits-  und  Laut  burschen 
348,  Hausliälter  (incl.  Hausbereinigung)  127,  Tapeten- 
streicher 29,  Kutscher  17,  Tischler  15,  Anstreicher,  Zimmer- 
leute je  5;  die  übrigen  vertheilten  sich  mit  je  weniger  als 
5 Personen  auf  19  Berutsklassen. 

Die  weiblichen  Personen,  denen  Arbeit  nachgewiesen 
wurde  (1068)  erhielten  Beschäftigung  als  Bedienungstrauen 
(423),  Waschfrauen  (170),  Scheuerfrauen  (134),  „Arbei- 
terinnen“ (103),  Kinderfrauen  und  Mädchen  (74),  Arbeits- 
und Laufmädchen  (66)  u.  s.  w. 

Wie  aus  diesen  Zahlen  hervorgeht,  hat  der  Arbeits- 
nachweis des  Breslauer  Vereins  gegen  Verarmung  und 
Bettelei  eine  grössere  Bedeutung  bislang  nur  für  den  Nach- 
weis von  Gesindediensten  erlangt.  Das  bestätigt  die 


Uebersicht  über  die  Vertheilung  der  eingegangenen  Be- 
stellungen auf  die  einzelnen  Monate  und  Jahreszeiten. 
Die  Mehrzahl  läuft  im  März,  April,  September  und  Oktober,  j 
also  in  den  Monaten  des  Dienstboten  Wechsels  ein.  Dagegen 
sind  am  wenigsten  Bestellungen  eingelaufen  und  Stellen 
nachgewiesen  in  den  Wintermonaten,  in  denen  gerade  für 
die  gewerblichen  Arbeiter  die  Arbeitslosigkeit  am  | 
grösten  ist. 

Handel  von  Prämien-  und  Anlehenloosen  im  Kanton 
Zürich.  Aehnlich  wie  im  Kanton  Aargau  sucht  man  nun  auch 
im  Kanton  Zürich  gegen  die  betrügerische  Auswucherung  kleiner 
Leute  durch  den  ratenweisen  Verkauf  von  Prämien-  und  An- 
lehenloosen vorzugehen.  Es  scheint  dies  recht  dringlich  zu 
sein,  da  allein  eines  der  vier  Geschäfte  in  Zürich,  welche  diesem 
Handel  gewidmet  sind,  15  000  Kunden  besitzen  soll.  Ent- 
sprechend dem  Verbote  der  Lotterien  wünschte  Gewerbe- 
sekretär Krebs  im  Züricherischen  Kantonsrathe  ein  Gesetz, 
wie  es  der  Kanton  Schwyz  besitzt,  das  den  Handel  mit  Prämien- 
und  Anlehensloosen  untersagen  soll,  oder  zum  mindesten  eine 
gesetzliche  Regelung  dieses  Verkehrs.  Angenommen  wurde  ein 
Antrag,  es  soll  der  Regierungsrath  Bericht  erstatten,  in  welcher 
Weise  der  Handel  mit  Prämien-  und  Anlehensloosen  möglichst 
eingeschränkt  und  insbesondere  Missbräuchen  beim  Vertrieb 
solcher  Loose  wirksam  vorgebeugt  werden  könne 

Teppichweberei  in  Kleinasien.  Die  „österreichische  Mo- 
natsschrift für  den  Orient“  enthält  eine  auf  persönlicher  Er- 
fahrung beruhende  Darstellung  der  Teppichfabrikation  in 
Kleinasien  von  Stöckel,  die  auch  interessante  Angaben  über 
die  Arbeiterverhältnisse  bringt.  Darnach  ist  es  in  erster  Linie 
der  weibliche  Theil  der  Bevölkerung,  der  in  der  Teppich- 
fabrikation Beschäftigung  findet.  Fleiss,  striktes  Einhalten  der 
Arbeitszeit,  die  mit  Sonnenaufgang  beginnt,  seltene  Bedürfniss- 
losigkeit  und  eine  gewisse  Sittenreinheit  zeichnen  die  weiblichen 
Arbeiter  aus,  während  die  Männer  vor  wie  nach  der  Verheirathung 
häufig  dem  Müssiggang  huldigen.  Schon  mit  6 — 7 Jahren  sitzen 
die  Mädchen  an  tier  Seite  ihrer  Mütter  am  Webstuhle,  um  in 
der  Fertigkeit  des  Knüpfens  unterwiesen  zu  werden,  anfänglich 
zumeist  um  den  Kamm  zu  führen  und  ihn  gegen  die  Knüpf-  : 
reihen  zu  schlagen.  Nach  2 jähriger  Lehrzeit  tritt  Entlohnung 
ein;  dann  wird  alles  an  Fleiss  und  Sparsamkeit  aufgeboten,  um 
eine  Mitgift  zu  erwerben.  Die  Fertigkeit  in  den  Handgriffen 
und  der  Farbensinn  wird  so  schon  früh  entwickelt,  aber  die  Ver-  ■ 
Wendung  der  Arbeiterschaft  im  zarten  Kindesalter  bringt  eine 
Schwächung  der  an  sich  schönen  und  kräftigen  Race  mit  sich. 
Die  Arbeiterinnen  verdienen  15 — 30  Piaster,  d.  i.  4 — 8 Francs 
wöchentlich,  einzelne  besonders  tüchtige  Arbeiterinnen,  die  das 
Spannen  der  Kette  und  die  Eintheilung  der  Zeichnung  zu  über- 
wachen haben,  werden  höher  bezahlt.  _ ' 

Die  Herstellung  der  Teppiche  wie  auch  die  vorbereitenden 
Prozesse  (Reinigen  der  Wolle,  Spinnen,  Färben)  werden  aus-  ; 
schliesslich  hausindustriell  in  einer  um  Jahrhunderte  rückstän- 
digen Technik  betrieben.  Der  Versuch  der  Errichtung  einer 
mechanischen  Wollspinnerei  rief  so  massenhafte  Proteste  der 
Bevölkerung  hervor,  dass  die  Regierung  ihre  Erlaubniss  ver- 
sagte. Bis  zum  Jahre  1865  hatte  die  muselmännische  Bevölke- 
rung allein  das  Recht  Knüpfteppiche  herzustellen;  dann  gelang 
es,  einen  Firman  zu  erwirken,  der  auch  den  griechischen  und 
armenischen  Christen  die  Theilnahme  an  dieser  Hausindustrie 
sichert. 


Arbeiterzustände. 


Die  Lage  der  Bäcker  in  Bremen.  Innerhalb  kurzer 

Frist  erscheint  die  dritte  Publikation  über  die  Verhältnisse 
im  deutschen  Bäckergewerbe.  Den  Schriften  Bebel’s  über 
die  Lage  der  Bäcker  im  Deutschen  Reiche  und  der  A.  Seidl  s 
über  die  Lage  der  Bäcker  in  München  folgt  nun  als  Ergeb- 
niss  einer  statistischen  Erhebung  des  Gewerkvereins  der 
Bäckergesellen  Bremens  und  Umgebung  ein  „Die  Lage  der 
Arbeiter  im  Bremer  Bäckergewmrbe  und  die  nothwendigsten 
Aufgaben  der  Bäckerbewegung“1)  betiteltes  Heftchen,  aus 
dem  wir  die  bemerkenswerthesten  Daten  über  die  Lage  der 
Bremer  Bäcker  hier  wiedergeben. 

Die  Erhebung  erstreckte  sich  auf  die  70  grösseren 
Geschäfte  von  Bremen  und  Umgebung,  demnach  auf  ca. 
den  Drittheil  der  Bäckereibetriebe  überhaupt  und  auf  die 
Hälfte  der  Gehilfenbetriebe,  sowie  auf  nicht  ganz  die  Hälfte 
der  beschäftigten  Gehilfen. 


')  Bremen  1892,  Verlag  von  P.  Sandhoff.  24  S.  8°. 


No.  21. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


263 


Die  Arbeitsräume  sind  in  ihrer  Mehrzahl  höchst  un- 
günstig  gelegen,  die  meisten  befinden  sich  im  Souterrain 
und  leiden  an  Mangel  von  Luft,  Licht  und  Ventilation. 
Ferner  wird  über  Unreinlichkeit,  hohe  Temperaturen  und 
Sättigung  der  Luft  mit  Dünsten  aller  Art,  geklagt.  Noch 
bedenklicher  als  die  Arbeitsräume  sind  die  Schlafräume,  so 
wird  von  einem  Geschäfte  mitgetheilt,  dass  durch  einen 
Schlafraum,  in  welchem  4 Personen  schlafen,  der  Rauch 
von  2 Backöfen  zieht,  eine  andere  Schlafstelle  befindet  sich 
im  feuchten  Keller,  wo  während  des  ganzen  Jahres  kein 
Licht  eindringt,  in  einer  anderen  Feststellung  heisst  es, 
dass  man  sich  beim  Erwachen  nicht  wundern  dürfe,  wenn 
Schnee  auf  dem  Bette  liegt.  Die  Geschäfte  wurden  nach 
der  Beschaffenheit  der  Schlafräume  in  5 Kategorien  einge- 
theilt  und  vertheilen  sich  dementsprechend  in  5 Geschäfte 
mit  sehr  guten,  in  23  mit  guten,  in  12  mit  ungenügenden, 
in  24  mit  schlechten  und  in  5 mit  sehr  schlechten  Schlaf- 
räumen. 

Von  71  Geschäften  lagen  Angaben  über  die  Arbeits- 
dauer an  Wochentagen  vor,  4 derselben  Hessen  18,  ebenso- 
viele  17  Stunden  arbeiten,  in  13  betrug  die  Arbeitszeit  16, 
in  14  Geschäften  15  Stunden,  bei  17  Meistern  14,  bei  einem 
13,  bei  18  10 — 12  Stunden.  Die  Arbeitszeit  an  Sonntagen 
wird  von  61  Geschäften  angegeben.  10  und  mehr  Stunden 
wurde  an  Sonntagen  gearbeitet  in  38  Geschäften,  und  zwar 
in  fiinfen  15,  in  vieren  14,  in  dreien  13  und  in  sieben 
12  Stunden,  in  23  Geschäften  wurden  9 und  weniger 
Stunden  gearbeitet  und  zwar  in  je  achten  8 und  9 Stunden. 

Die  Löhne  waren  von  128  Gesellen  angegeben  nur 
bei  28  betrugen  sie  10 — 13  M.  und  die  Kost,  bei  24  (stets 
inklusive  Kost)  9,  bei  19  8,  bei  20  7,  bei  32  6,  bei  dreien 
5 und  bei  zweien  4M.  14  Gesellen,  die  reinen  Geldlohn 

erhielten,  verdienten  60 — 65  M.  im  Monate  und  einer  18  M. 
in  der  Woche. 

Die  Beköstigung  wird  in  7 Geschäften  als  sehr  gut, 
in  19  als  gut,  in  5 als  mittelmässig  und  in  27  als  schlecht 
bezeichnet.  Drei  der  Geschäfte,  auf  die  sich  die  Erhebung 
erstreckte,  verabreichten  keine  Kost  an  ihre  Gehilfen. 

Lohnverhältnisse  (1er  österreichischen  Binnenschiffer. 

Dem  soeben  für  1891  erschienenen  „Bericht  der  k.  k.  öster- 
reichischen Gewerbeinspektoren“  (Wien,  1892,  Staatsdruckerei) 
eigenthümlich  sind  die  dankenswerthen  Mittheilungen,  welche  hier 
alljährlich  über  die  Lage  der  Arbeiter  derBinnenschiffahrt  gemacht 
werden.  Diesmal  schreibt  der  österreichische  Schiffahrtsgewerbe- 
inspektor Schromm  (S.  402  ff.  des  Berichts):  „Als  neu  kann  ich  im 
vorliegenden  Berichte  die  Entlohnungen  der  Donau-Ruder- 
schiffer anführen;  diese  werden  per  Reise  bezahlt,  stehen  also 
nicht  im  festen  Wochen-  oder  Monatslohn,  wie  dies  bei  den 
Elbeschleppschiffern  der  Fall  ist.  Ein  Schiffer  erhält  für  die 
Donaustrecke  Aschach — Wien  ff.  10,  Linz — Wien  fl.  8,50,  Maut- 
hausen—Wien  fl.  7,  Holler — Wien  fl.  6,  Ispar — Wien  fl.  5,  Pöch- 
larn Wien  fl.  4,50,  nebst  einem  täglichen  Kostgelde  von 
70  Kreuzern.  Die  Kosten  der  Rückreise  von  Wien  per 
Bahn  oder  Dampfschiff  muss  der  Betreffende  selbst 
decken.  Die  Dauer  der  einzelnen  Reise  ist  nicht  nur  von  der 
Streckenlänge,  sondern  auch  von  dem  Wasserstande  abhängig. 
Die  Durchschnittslöhne  der  Werftarbeiter  in  Korneuburg 
stellen  sich  auf  fl.  1,70,  jene  der  Linzer  Werfte  auf  fl.  1,50  per 
Tag.  Auf  beiden  Werften  werden  die  meisten  Arbeiten  im 
Akkord  wege  ausgeführt  und  können  sich  die  besseren  Arbeiter 
auf  diese  Weise  fl.  2,50  bis  fl.  3 per  Tag  verdienen.  Die  Ver- 
dienste der  Schiffsmüller  hängen  innig  mit  dem  Wasser- 
stande zusammen;  auch  hier  stehen  die  Arbeiter  im  Akkorde, 
und  zwar  erhalten  sie  per  100  kg  vermahlenes  Getreide 
8 — 9 Kreuzer;  ihr  Tagesverdienst  variirt,  dem  Wasserstande  ent- 
sprechend, von  50  Kr.  bis  fl.  1,20.  Ausser  dieser  Entlohnung 
gemessen  die  Arbeiter  die  ganze  Verpflegung,  welche  mit 
70  Kr.  per  Tag  zu  veranschlagen  ist.  Es  ist  jedoch  nicht  zu 
vergessen,  dass  den  Winter  über  diese  Arbeiter  nichts  ver- 
diene n;  sie  bleiben  jedoch  bei  ihren  Arbeitgebern  gegen  Ent- 
schädigung der  Verpflegung,  wofür  sie  kleinere  Reparaturarbeiten 
verrichten,  die  Einkassirung  der  bei  den  Bauern  ausstehenden 
Mahlgelder  übernehmen  u.  s w.  Verhältnissmässig  sehr  gute 
Verdienste  weisen  die  Schiffsentlader  am  Praterquai  aus; 
es  sind  dies  die  an  anderer  Stelle  dieses  Berichtes  bereits  er- 
wähnten Taglöhner;  deren  Entlohnung  erfolgt  im  Akkord - 
wege,  und  zwar  per  100  kg  Körnerfrucht.  Der  Einheits- 
satz variirt  je  nach  dem  Gewichte  der  Getreidegattung  und  je 
nach  dem  Orte,  wohin  das  Getreide  zu  tragen  ist  (Eisenbahn- 
waggon,  Magazin,  Strassenfuhrwerke).  Im  Mittel  verdient  sich 
ein  Mann  fl.  3 bis  fl.  4 per  Tag.  Dieser  relativ  hohe  Verdienst 
erscheint  jedoch  in  ganz  anderem  Lichte,  wenn  man  bedenkt, 
dass  derselbe  nur  während  der  Exportsaison  andauert, 
also  nur  3 höchstens  4 Monate  im  Jahre.  Im  Winter  versiegt 
dieser  Verdienst  ganz  und  gar,  während  im  Frühjahr  und  Früh- 
; sommer  der  Tagesverdienst  dieser  Taglöhner  auf  fl.  1,20  sinkt. 
Immerhin  könnten  die  Leute  sich  während  der  lebhaften  Saison 


manchen  Sparpfennig  zur  Seite  legen,  wenn  sie  überhaupt  Sinn 
zum  Sparen  hätten,  was  aber  leider  nicht  der  Fall  ist.  Die  in 
den  Lagerhäusern  ständig  beschäftigten  Arbeiter  verdienen  sich 
fl.  1,20  per  Tag,  während  die  zum  Umschaufeln  des  Getreides 
oder  zum  Repariren  der  Säcke  in  Verwendung  stehenden 
Weiber  per  Tag  fl.  0,80  bis  fl.  0,90  erhalten.  Ganz  eigenthüm- 
lich liegen  die  Verhältnisse  der  Elbeschiffsverlader  am 
Aussiger  bezw.  auch  auf  dem  Rosawitzer  Umschlagplatze.  Es 
handelt  sich  hier  um  die  sogenannten  Kohlenkarrer  und  deren 
Gehilfinnen.  Der  Verdienst  dieser  Leute  hängt  von  der  An- 
zahl Kohlenwaggons  ab,  welche  der  betreffende  Karrer  mit 
seinen  beiden  weiblichen  Hilfsarbeitern  per  Tag  ausladet,  bezw. 
in  das  Schiff  durch  das  „Einkarren“  verladet.  Der  Karrer  erhält 
für  die  10  und  11  Tonnen  Kohlen  enthaltenden  Waggons  fl.  1,80, 
für  die  15  Tonnen-Waggons  fl.  2,70;  davon  muss  er  die  beiden 
Weiber,  welche  die  Kohle  vom  Waggon  in  die  Karren  verladen, 
bezahlen.  Der  Maximalverdienst  beträgt  per  Tag  für  den 
Karrer  ca.  fl.  2,  für  jedes  Weib  fl.  1.  Diese  Schiffsverlader 
werden  jedoch  nicht  von  den  Kohlenlieferanten,  bezw.  Kohlen- 
händlern entlohnt,  sondern  von  dem  betreffenden  Schiffer,  also 
vom  Verfrachter  der  Waare.“  Mit  diesen  Notizen  ist  auf  ein 
Gebiet  kritischer  Sozialforschung  hingewiesen,  welches  so  gut 
wie  noch  gar  nicht  angebaut  wurde. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Die  Strikebewegung  in  Lodz. 

Der  Strike  in  Lodz  (Russisch-Polen),  von  dem  die 
Tagesblätter  vor  einer  Woche  Nachrichten  gebracht  haben, 
darf  nicht  nach  dem  Massstabe  der  westeuropäischen  Ar- 
beitseinstellungen beurtheilt  werden.  Es  wurden  allerdings 
bestimmte  Forderungen  gestellt,  wie  Abkürzung  des  Ar- 
beitstages und  höhere  Löhne,  aber  der  Ausbruch  war  spon- 
taner Natur,  unerwartet  und  wenig  vorbereitet.  Die  Em- 
pfindung der  Arbeiter,  dass  sie  ihrem  bisherigen  Elend  ein 
Ende  machen  müssen,  dass  der  Tag  ihrer  Erlösung  ge- 
kommen sei,  da  die  ganze  Arbeiterschaft  der  Welt  sich 
schon  zum  dritten  Male  im  Maifeste  solidarisch  vereinigt, 
scheint  hier  massgebend  gewesen  zu  sein. 

Lodz  und  Umgebung  ist  ein  so  rein  kapitalistisches 
Erzeugniss  der  letzten  Jahre,  dass  kein  zweiter  Bezirk  in 
ganz  Russland  ihm  in  dieser  Hinsicht  gleichkommt.  Noch 
vor  hundert  Jahren  war  die  Stadt  ein  kleines  Dorf,  in  dem 
von  industrieller  Bethätigung  keine  Rede  sein  konnte,  ja 
sogar  noch  1820  hatte  sie  blos  1000  Einwohner.  Ihre 
eigentliche  Entwickelung  ist  das  Produkt  der  letzten 
dreissig  Jahre;  der  Kulminationspunkt  fällt  in  die  Zeit 
von  1870  bis  1885  und  hängt  mit  der  Entstehung  der  Textil- 
industrie, besonders  der  Baumwoll-  und  Wollenindustrie  zu- 
sammen. Heute  zählt  man  in  Lodz  und  Umgebung  270  grosse 
Betriebe  mit  mechanischen  Motoren,  und  unter  der  Stadt- 
bevölkerung, die  man  auf  160  000  schätzen  kann,  obgleich  die 
letzte  offizielle  Zählung  nur  125  227  Einwohner  nachgewiesen 
hat,  macht  die  Fabrikbevölkerung  a/3  nach  der  Berechnung 
des  Fabrikinspektors  Dr.  W.  W.  Swiatlowskij  100  000  Per- 
sonen aus.  Ausser  den  Spinnereien  und  Webereien  sind 
die  Appreturanstalten  und  Färbereien  (36  Betriebe)  beson- 
ders stark  entwickelt.  Daneben  nehmen  Band-  und  Seiden- 
fabriken, Hutfabriken,  Ziegeleien,  Bierbrauereien  die  Kräfte 
der  Bevölkerung  der  Stadt  und  Umgebung  in  Anspruch.  In 
demselben  Bezirke,  der  durch  zwei  Eisenbahnlinien  (Wien- 
Warschau  und  Iwangorod-Dombrowa)  unmittelbar  mit  Russ- 
land, Deutschland  und  Oesterreich  verbunden  ist,  zählt  man 
auch  eine  Reihe  kleinerer  Fabrikorte:  Zygiecz,  Tomaszow,Pa- 
bianice,  Widzew  u.  a.  Die  letzteren  zwei  sind  von  der  Strikebe- 
wegung mitergriffen  worden,  und  jetzt  bricht  sie  noch  verein- 
zelt an  kleineren  Orten  aus.  Man  darf  also  behaupten, 
dass  die  offiziell  angegebene  Zahl  von  30  000  Feiernden 
weit  hinter  der  thatsächlichen  Zahl  zurückgeblieben  ist,  da 
die  ganze  Fabrikbevölkerung  von  Lodz  und  Pabianice  der 
Arbeit  fern  blieb,  ja  sogar  die  Handwerkerwerkstätten 
und  die  Schulen  geschlossen  waren. 

Der  diesjährige  Winter  war  für  die  Arbeiterbevölke- 
rung ein  recht  schwerer.  In  Folge  der  Missernte  in 
Russland  war  die  Wollen-  und  Baumwollindustrie  gedrückt, 
da  die  Lodzer  Waaren  hauptsächlich  ihren  Markt  in  West- 
und  Südrussland  bis  zum  Kaukasus  haben  und  sogar  nach 
Centralasien  dringen.  Der  Rückgang  der  Geschäfte  war  so 
| stark,  dass  der  Diskontsatz  in  der  Lodzer  Handels- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  21 


bank  auf  10%  gestiegen  war.  In  Folge  dessen  ist  ein 
Theil  der  Bevölkerung  arbeitslos  geworden,  was  bei  den 
erhöhten  Lebensmittelpreisen  sich  unter  der  ganzen  Fabrik- 
bevölkerung fühlbar  machte.  Die  Löhne,  die  sonst  in  Lodz 
um  10  15%  höher  sind,  als  in  andern  industriellen  Centren 

Polens,  fielen,  wozu  neben  den  anderen  Umständen  auch 
die  Einwanderung  der  jüdischen  brodlosen  Bevölkerung  aus 
Russland  beigetragen  hat.  Im  Allgemeinen  sind  die  Löhne 
der  Arbeiter  in  Polen  sehr  niedrig  nicht  nur  absolut,  son- 
dern auch  im  Vergleich  mit  den  Lebensmittelpreisen.  In 
Lodz  war  das  Lohnmaximum  für  erwachsene  männliche 
Arbeiter  10  Rubel  (zirka  22  Mk.)  pro  Woche,  das  Minimum 
für  Handlanger  und  weibliche  Arbeiter  3—5  Rubel.  In  klei- 
neren Orten  wie  z.  B.  in  Tomaszow  betrug  der  Lohn  12  bis 
16  Rubel  im  Monat,  also  nicht  mehr  als  3 — 4 Rubel  die 
Woche.  Der  Unterschied  kommt  davon,  dass  Tomaszow, 
ein  Centrum  der  Tuchfabrikation,  hauptsächlich  kleine  Be- 
triebe mit  10 — 15  Arbeitern  hat;  hier  werden  die  Arbeiter 
noch  mehr  ausgebeutet  als  in  der  Grossindustrie.  Für 
diesen  Lohn  der  (auch  in  Lodz)  ein  Hungerlohn  im  Ver- 
gleich z.  B mit  den  französischen  oder  englischen 
Löhnen  ist,  mussten  die  Leute  12 — 13  Stunden  am  Tage 
arbeiten.  Unter  den  Arbeitslosen  war  die  Noth  so  gross, 
dass  man  eine  unentgeltliche  Speiseanstalt  errichten  musste 
und  die  Stadt  öffentliche  Arbeiten  an  Wegen  und  Bauten 
für  den  Frühling  in  Aussicht  stellte,  um  die  überschüssigen 
Hände  zu  beschäftigen  Im  April  hat  sich  die  Lage  aller- 
dings gebessert,  zuerst  in  der  Baumwoll-,  dann  in  der 
Wollenindustrie.  Aus  Russland  waren  viele  Bestellungen 
eingelaufen,  so  dass  die  Fabriken  wieder  voll  gear- 
beitet haben.  Es  sind  sogar  neue  Betriebe,  in  denen 

einige  Tausend  Arbeiter  beschäftigt  werden  konnten,  er- 
baut worden.  Die  Lage  begann  also  eine  verhältnissmässig 
günstige  zu  sein  aber  die  Erinnerung  an  die  böse  Zeit  ver- 
blieb, und  die  Missstimmung  konnte  leicht  wieder  geweckt 
werden. 

Wie  gesagt,  stellten  sich  die  Vorgänge  vom  2.  bis 
zum  11.  Mai  nicht  als  ein  gewerkschaftlich  organisirter 
Strike  dar,  es  war  aber  eine  Kundgebung  die  auf  eine 
für  die  Verhältnisse  in  Russisch-Polen  grossartige  Weise 
bewies,  dass  die  Arbeitermasse  ein  Klassenbewusstsein  hat, 
sich  mit  den  Arbeitern  von  Westeuropa  solidarisch  fühlt, 
übereinstimmende  Forderungen  aufstellt  und,  wie  der  Ver- 
lauf zeigte,  diese  durch  ein  solidarisches  massenhaftes 
Auftreten  durchsetzen  wollte. 

Schon  einige  Tage  vor  dem  ersten  Mai  wurden  Auf- 
rufe verbreitet,  welche  die  Arbeiter  zu  einer  solidarischen 
Kundgebung  am  ersten  Mai  einluden.  Eine  Arbeitsein- 
stellung, um  höhere  Löhne  und  kürzere  Arbeitszeit  zu  er- 
zwingen, wurde  in  Aussicht  gestellt.  Diese  Aufrufe,  von 
der  Polizei  auf  jede  Weise  vernichtet,  fand  man  doch 
überall,  nicht  nur  in  den  Fabriken,  sondern  auch  an  den 
Strassenecken.  Der  erste  Mai  verlief  ruhig  aber  feierlich, 
auf  den  Strassen  sah  man  eine  immer  wachsende  Menge 
von  Arbeitern. 

Schon  am  anderen  Morgen  musste  nach  offiziellen, 
keineswegs  vollständigen  Berichten  in  acht  Fabriken 
die  Arbeit  eingestellt  werden,  da  die  Arbeiter  gestrikt 
hatten.  Die  Feiernden  gingen  in  der  Stadt  herum  und 
überredeten  die  noch  Arbeitenden,  sich  ihnen  zuzugesellen. 
Wo  ihnen  nicht  Folge  geleistet  wurde,  zwangen  sie  die  Ar- 
beiter zur  Arbeitseinstellung  und  brachten  die  Motoren  zum 
Stillstände.  Am  dritten  Mai,  sowie  an  den  folgenden  Tagen, 
griff  die  Arbeitseinstellung  immer  weiter  um  sich,  so  dass 
das  offizielle  Organ,  der  „Warschauer  Dnewnik“,  am 

5.  Mai  die  Zahl  der  Strikenden  auf  30  000  angab  und  am 

6.  Mai  von  einer  allgemeinen  Arbeitseinstellung  sprach. 
Die  Zahl  der  Feiernden  war  darnach  also  gleich  derjenigen 
der  Arbeitsbevölkerung.  Schon  bei  den  Aufforderungen 
zur  Strikebewegung  kam  es  zu  einem  Handgemenge  unter 
der  kleinen  Zahl,  die  noch  arbeiten  wollte,  und  denjenigen, 
welche  ein  solidarisches  Auftreten  wünschten.  Es  wurden 
dabei  einige  Fenster  eingeschlagen  und  Läden  beschädigt, 
im  Allgemeinen  aber  war  die  Haltung  der  Arbeiter  ruhig. 
Sie  bemühten  sich  nur,  so  viel  wie  möglich  in  Gruppen 
auf  der  Strasse  zu  bleiben  und  zu  demonstriren.  Rufe  um 
Verkürzung  der  Arbeitszeit  und  Erhöhung  der  Löhne  wur- 
den immer  allgemeiner  und  lauter.  Bekanntlich  aber  gelten 
solche  Massenversammlungen  in  Russland  als  Verbrechen. 
Truppen,  welche  seit  dem  1.  Mai  in  einer  grösseren  Zahl 
versammelt  waren,  um  möglicherweise  entstehenden  LTn- 
ruhen  und  Ausschreitungen  entgegenzuwirken,  schritten 
bereits  am  3.  Mai  ein  und  arretirten  einige  Arbeiter.  Doch 


bis  zum  5.  Mai  war  im  Allgemeinen  die  Stimmung  ruhig. 
Arbeiterhaufen  und  Soldaten  standen  sich  gegenüber  und 
massen  einander  mit  den  Augen.  Inzwischen  scheint  aber 
der  alte  Groll  gegen  die  Juden  durch  die  allgemeine 
Aufregung  geweckt  worden  zu  sein.  Am  Freitag,  den 
6.  Mai  begann  eine  Judenhetze,  Läden  wurden  beraubt, 
Fenster  eingeschlagen,  das  Handgemenge  gestaltete  sich 
immer  wüthender  und  von  beiden  Seiten  fielen  Todte  und 
Verwundete. 

Am  6.  Mai  begann  auch  die  Arbeitseinstellung  in 
Pabianice,  die  ohne  jede  Gewaltthat  seitens  der  Arbeiter 
verlaufen  ist. 

Es  scheint  ganz  sicher  zu  sein,  dass  Arbeiter  an  der 
Judenhetze  keinen  Antheil  gehabt  haben.  Möglich,  dass 
der  erste  F unke  aus  einem  Streite  zwischen  christlichen  und 
jüdischen  Arbeitern  entsprungen  ist,  dann  aber  haben  sich 
die  Arbeiter  fern  gehalten,  man  sagt  sogar,  dass  sie  die 
Stadt  verliessen,  als  die  Judenhetze  ihren  Gipfel  erreicht 
hatte.  Wie  viele  Todte  und  Verwundete  das  Handgemenge 
zur  Folge  hatte,  ist  nicht  festzustellen,  jedenfalls  war  die 
Zahl  bedeutend.  Es  ist  auch  nicht  bekannt,  wie  gross  die 
Zahl  der  todten  und  verwundeten  Arbeiter  war,  der  offi- 
zielle Bericht  schweigt  darüber,  Thatsache  aber  ist,  dass 
die  Truppen  am  6.  und  7.  Mai  gegen  die  Arbeiter  ge- 
schossen haben  und  Todte  und  Verwundete  fielen.  Die 
Soldaten,  13  durch  Kavallerie  verstärkte  Rotten  Infanterie, 
suchten  die  Arbeiter  durch  Schrecken  einzuschüchtern. 
Verhaftet  und  eingesperrt  wurden  die  Arbeiter  massenhaft 
Schon  die  offiziellen  Angaben  vom  6.  Mai  sprechen  von 
sehr  vielen  Verhafteten.  Die  Angaben  vom  7.  Mai  geben 
weitere  Verhaftungen  an  und  ihre  Zahl  ist  im  Ganzen  eine 
sehr  beträchtliche. 

Die  Arbeitseinstellung  wird  nach  dem  russischen 
Fabrikgesetze  für  die  Theilnehmer  mit  Haft  von  2 — 4 Mo- 
naten und  bei  den  Führern  mit  4 — 8 Monaten  bestraft, 
wenn  aber  dabei  ein  Schaden  und  Zerstörungen  vorkamen, 
kann  die  Strafe  auf  1 Jahr  4 Monate  erhöht  werden,  unter , 
ein  Strafminimum  von  4 Monaten  darf  nicht  herunter- 
gegangen werden.  Dieselbe  Strafe  wird  gegen  diejenigen 
verhängt,  die  andere  zur  Arbeitseinstellung  gezwungen  oder 1 
überredet  haben.  Wer  den  Vorstellungen  der  Regierungs- 
vertreter Folge  leistet,  wird  von  jeder  Strafe  freigesprochen. 

Der  Petrokower  Gouverneur  hat  die  Arbeiter  zu  be- 
schwichtigen versucht,  er  erliess  am  5.  Mai  einen  Aufruf 
an  die  Arbeiter,  in  dem  jede  Strassenansammlung  verboten 
und  die  Rückkehr  zur  Arbeit  empfohlen  wurde.  Dem 
Arbeitern  wurde  die  Möglichkeit  der  Einzelklage  vor 
den  Regierungsbehörden  in  Aussicht  gestellt.  Die  Ar- 
beiter scheinen  jedoch  einer  anderen  Meinung  als  die  Re-j 
gierungsvertreter  gewesen  zu  sein,  da  dem  Aufrufe,  trotz 
der  Drohung,  dass  im  Falle  der  Unfolgsamkeit  Gewaltmittel 
angewendet  werden  sollten,  keine  Folge  geleistet  wurde. 
Erst  angesichts  des  blutigen  Einschreitens  der  Truppen 
und  der  Verhaftungen  ist  die  Arbeitseinstellung,  die  an 
Allgemeinheit  und  Kühnheit  die  meisten  westeuropäischen 
in  Schatten  stellt,  unterbrochen  worden.  Bisher  haben  die 
Arbeiter  gar  nichts  erreicht.  Aber  das  blutige  Gespenst 
steht  jetzt  zwischen  ihnen  und  den  Arbeitgebern,  und  das 
ist  für  ihr  Auftreten  als  Klasse  von  einer  nicht  gering 
anzuschlagenden  Bedeutung. 


Folgen  des  Durhamer  Strikes.  Das  Elend  in  den  Eisen- 
distrikten ist  furchtbar.  In  Cleveland  nagen,  wie  der  Sonder- 
berichterstatter der  „Daily  News“  meldet,  abgesehen  von  den 
strikenden  Bergleuten,  IÖ0  000  Männer,  Weiber  und  Kinder  am 
Hungertuch.  Sie  haben  kein  Brennmaterial  und  mussten  theil- 
weise  sogar  ihre  Möbel  verkaufen,  um  den  „Wolf  von  der  Thüre 
fernzuhalten“.  In  Middlesborough  liegen  die  Dinge  ähnlich. 
Wenn  nicht  bald  neue  ausgiebige  Hülfe  kommt,  so  müssen  die 
Armen  vor  Hunger  umfallen  Der  vom  Stadtrath  von  Middles- 
borough ins  Leben  gerufene  Hülfsfonds  ist  seit  zwei  Tagen 
erschöpft.  Bis  jetzt  wurden  jede  Woche  davon  400  Lstr.  für 
die  Arbeitslosen  verwandt.  Eine  Familie  erhielt  2% — 5 sh- 
wöchentlich.  In  Middlesborough  müssen  viele  Familien  mit 
3 sh.  die  Woche  jetzt  auskommen.  Die  Zahl  der  Arbeitslosen 
in  Cleveland  und  Middlesborough  droht  noch  immer  zu  wachsen. 
Wahrscheinlich  wird  auch  die  grosse  chemische  Fabrik  in  Cleve- 
land wegen  Kohlenmangels  geschlossen  werden.  — Die  Bürger- 
meister von  West-Hartlepool,  Middlesborough,  Stockton-on-Tees 
und  Darlington  haben  einen  Aufruf  in  der  englischen  Presse 
veröffentlicht,  in  welchem  sie  um  milde  Beiträge!  für  die  100000 


No.  21. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


265 


I. eute  bitten,  welche  durch  den  Strike  der  Bergleute  von  Durham 
in  die  bitterste  Noth  gerathen  sind.  Niemals  habe  es  in  England 
seit  der  Baümwollenhungersnoth  in  Lancashire  vor  30  Jahren 
solches  Elend  gegeben.  Der  Lordmayor  der  City  von  London 
hat  sich  schon  zur  Entgegennahme  von  Beiträgen  bereit  erklärt. 

Die  Unterstützung  bei  Arbeitslosigkeit  wurde  von  dem 
Fachvereine  der  Glas,  Porzellan-  und  Industriemaler  in  Wien 
durch  folgende  Bestimmungen  geregelt: 

1.  An  Mitglieder,  welche  dem  Vereine  mindestens  ein  Jahr 
angehören,  wird  bei  eingetretener  Arbeitslosigkeit,  sofern  die- 
selbe eine  Woche  andauert,  70  Kreuzer  pro  Tag  an  Unter- 
stützung gewährt,  und  zwar  in  einem  Jahre  bis  zu  10  Wochen 
Arbeitslosigkeit.  Wird  die  Arbeitslosigkeit  durch  die  nach  den 
bestehenden  Arbeiterschutzgesetzen  berechtigten  oder  im  Inter- 
esse des  gesammten  Gewerbes  gemachten  Forderungen  hervor- 
gerufen, so  kann  die  Unterstützung  bis  zu  9 Gulden  pro  Woche 
erhöht  werden,  dasselbe  gilt  für  Mitglieder,  welche  in  Folge 
ihrer  Vereinsthätigkeit  arbeitslos  werden.  Für  diese  Fälle 
existirt  keine  Karrenzzeit,  auch  kann  die  Dauer  der  Unter- 
stützung bis  zu  14  Wochen  verlängert  werden. 

2.  Arbeitslosigkeit  im  Sinne  des  Vereinsstatuts  liegt  nicht 
vor:  a)  Wenn  dieselbe  durch  freiwillige,  nicht  von  der  Vereins- 
leitung genehmigte  Lösung  des  Arbeitsverhältnisses,  oder 
bl  durch  die  Lage  des  Gewerbes,  wie  sie  alljährlich  in  der 
Regel  eintritt,  geschaffen  wird,  Ueber  diese  Fälle  entscheidet 
die  Vereinsleitung  im  Beisein  der  Vertrauensmänner  von  Fall 
zu  Fall  Mitglieder,  welche  wegen  zu  geringen  Verdienstes 
oder  aus  einer  anderen  Ursache  das  Arbeitsverhältniss  kündigen 
wollen,  müssen,  sofern  ihnen  Unterstützung  zugesprochen  werden 
soll,  die  Genehmigung  der  Vereinsleitung  zur  Kündigung  unter 
Klarlegung  des  Sachverhaltes  und  dessen  Bestätigung  durch 
den  Vertrauensmann  seiner  Arbeitsstelle  einholen.  Im  ersteren 
Falle  darf  die  Genehmigung  nur  ertheilt  werden,  wenn  Aus- 
sicht auf  lohnendere  Arbeit  am  Platze  vorhanden  ist,  oder 
wenn  sich  der  Betreffende  verdichtet,  abzureisen.  In  diesem 
Falle  erhält  er  die  nach  Punkt  3 lit.  a,  b,  c,  hierfür  be- 
stimmte Unterstützung.  Dieselbe  wird  in  einem  Jahre  blos  ein- 
mal gewährt. 

3 Unverheirathete  Mitglieder,  deren  Arbeitslosigkeit  be- 
reits 3 Wochen  andauert,  können,  wenn  am  Platze  keine  Aus- 
sicht vorhanden  ist,  in  nächster  Zeit  annehmbare  Arbeit  zu  be- 
schaffen, vom  Vorstand  angewiesen  werden,  sich  auf  die  Reise 
zu  begeben,  um  dieselbe  zu  beseitigen.  Es  erhalten  sodann: 
a)  Solche  Mitglieder,  welche  dem  Vereine  länger  als  ein  Jahr 
angehören  und  sich  erst  nach  dreiwöchentlicher  Unterstützung 
auf  die  Reise  begeben,  eine  Abfertigung  von  der  Höhe  einer 
Wochenunterstützung,  b)  Solchen  Mitgliedern,  welche  dem 
Vereine  länger  als  ein  Jahr  angehören,  sich  aber  sofort,  ohne 
erst  Unterstützung  empfangen  zu  haben,  auf  die  Reise  begeben, 
wird  der  auf  sie  entfallende  Betrag  von  2 Wochen  im  Vorhinein 
ausbezahlt,  c)  Solche  Mitglieder,  welche  dem  Vereine  noch 
kein  Jahr  angehören,  deren  Mitgliedschaft  aber  3 Monate  über- 
steigen muss,  erhalten,  wenn  eine  Arbeitslosigkeit  im  Sinne  des 
Vereinsstatuts  vorliegt,  bei  einer  eventuellen  Abreise  eine 
Unterstützung  von  2 Gulden  d)  Als  nicht  verheirathet  gelten 
auch  Diejenigen,  welche  von  ihrer  Familie  geschieden  leben 
und  dieselbe  auf  keine  Weise  unterstützen. 

4.  Verheirathete  Mitglieder,  deren  Arbeitslosigkeit  bereits 
längere  Zeit  andauert,  ohne  dass  Aussicht  vorhanden  wäre,  dass 
dem  betreffenden  Mitgliede  in  nächster  Zeit  annehmbare  Arbeit 
nachgewiesen  werden  könnte,  können  vom  Vorstand  ebenfalls 
angewiesen  werden,  sich  ausserhalb  Wiens  Arbeit  zu  ver- 
schaffen und  erhalten  solche  Mitglieder  bei  ihrem  Wohnungs- 
wechsel eine  von  der  Vereinsleitung  zu  bestimmende  Beihilfe 
von  30%  zu  den  Umzugskosten,  welche  sich  nach  der  im 
Punkt  3 für  unverheirathete  Mitglieder  geltenden  Mitgliedsdauer, 
sowie  nach  der  bereits  erhaltenen  Unterstützung  richtet,  jedoch 
18  Gulden  nicht  übersteigen  darf,  und  in  einem  Jahre  blos  ein- 
mal gewährt  wird;  in  keinem  Falle  darf  die  Gesammthöhe  der 
erhaltenen  Unterstützungen  mehr  als  49  Gulden  betragen.  So 
lange  die  Mitglieder  diesen  und  den  in  Punkt  3 vorgesehenen 
Weisungen  nicht  nachkommen,  erhalten  dieselben  keine  Unter- 
stützung. 

Die  Pariser  Kellner  gegen  (las  Trinkgelderunwesen. 
Jetzt  sind  es  die  Pariser  Kellner  selbst,  welche  gegen  das 
Trinkgelderunwesen  eintreten.  Ihr  Fachverein  hat  eine 
Abordnung  beauftragt,  dem  Polizeipräsidenten  diese  Neue- 
rung ans  Herz  zu  legen.  Die  Kellner  wollen  festen  Lohn, 
Abschaffung  des  Trinkgeldes.  Ihre  Gründe  sind  sehr  triftig. 
Die  Wirthe  nehmen  unter  verschiedenen  Vorwänden  den 
rossten  Theil  des  Geldes  aus  der  Sammelbüchse,  in  welche 
ie  Kellner  alle  erhaltenen  Trinkgelder  werfen  müssen, 
und  zahlen  den  grössten  Theil  ihrer  allgemeinen  Unkosten 
aus  den  Trinkgeldern. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Das  Arbeiterschutzgesetz  in  Glarus. 

Das  schweizerische  Fabrikgesetz  hat  auf  immer  weitere 
Kreise  Anwendung  gefunden.  Man  hat  sich  von  Jahr  zu  Jahr 
mehr  überzeugt,  dass  der  Schutz,  den  dasselbe  gewährt, 
den  Arbeitern  kleiner  und  kleinster  Betriebe  noch  weit 
nöthiger  wäre,  als  denen  der  grossen  Fabriken  Der  Wunsch 
tauchte  immer  öfter  auf,  das  Fabrikgesetz  zu  einem  eigent- 
lichen Gewerbegesetz  umzugestalten.  Aber  der  Bund 
wagte  sich  bisher  nicht  an  diese,  allerdings  recht  schwierige 
Aufgabe.  Von  einzelnen  Kantonen  wurde  jedoch  das  Be- 
dürfnis so  dringend  empfunden,  dass  sie  nicht  länger  zu- 
warten mochten  und  die  Gewerbegesetzgebung  selbst  an 
die  Hand  nahmen.  Dieselbe  scheint  den  gleichen  Ent- 
wicklungsgang machen  zu  sollen,  wie  das  Fabrikgesetz:  die 
Kantone  gehen  versuchsweise  vor;  sie  passen  sich  den 
lokalen  Verhältnissen,  Bedürfnissen  und  Anschauungen  an. 
Sie  können  mit  grosser  Leichtigkeit  Misslungenes  ändern, 
Fehlendes  ergänzen.  Wenn  in  einigen  Jahren  der  Bund 
auch  dieses  Gebiet  von  sich  aus  ordnen  will,  stehen  ihm 
zahlreiche  Erfahrungen  zu  Gebote  und  er  findet  auch  be- 
reits eine  Anzahl  Leute  vor,  denen  er  mit  voller  Beruhigung 
die  Durchführung  des  kommenden  Bundesgesetzes  anver- 
trauen kann. 

Baselstadt  hat  schon  1884  und  1888  den  Weg  der 
kantonalen  Gesetzgebung  auf  diesem  Gebiet  betreten.  Sein 
Arbeiterinnenschutzgesetz  ist  in  No.  3 dieser  Zeitschrift  be- 
sprochen worden.  Es  hat  sich  vorsichtig  auf  das  Aller- 
nöthigste  beschränkt.  Zürich  hat  bis  heute  nur  mit  einem 
speziellen  Gewerbe,  den  Wirthschaften,  sich  befasst.  Es 
hat  1889  ein  Wirthschaftsgesetz  erlassen,  welches  Mädchen 
unter  16  Jahren  von  der  Bedienung  ausschliesst,  sie  nur  zu 
kleinen  Hilfsarbeiten,  wie  Reinigen  des  Geschirres  u.  dergl. 
bis  spätestens  9 Uhr  Abends  zulässt  und  erwachsenen  Ange- 
stellten mindestens  alle  14  Tage  einen  Freihalbtag  sichert. 
Für  ein  eigentliches  Gewerbegesetz  existiren  erst  Entwürfe, 
sowohl  eines  des  das  Gesetz  anregenden  Initiativ-Komitees 
als  der  Regierung.  Beide  lehnen  sich  in  ihren  Bestimmungen 
sehr  an  das  eidgenössische  Fabrikgesetz  an.  Erst  später 
entstand  der  Glarner  Entwurf,  der  in  manchen  Punkten 
weiter  geht,  als  das  Basler  Gesetz. 

Er  war  veranlasst  durch  einen  bei  der  1891er  Land- 
gemeinde eingebrachten  Antrag  des  kantonalen  Arbeiter- 
bundes, der  folgendermassen  lautete: 

„Es  solle  der  Regierungsrath  oder  der  Landrath  (eine 
vorberathende  Behörde)  auf  die  nächste  Landgemeinde 
ein  Arbeiterschutzgesetz  ausarbeiten,  und  der  Land- 
gemeinde zur  Annahme  oder  Verwerfung  vorlegen,  wel- 
chem alle  Geschäfte,  die  mehrere  Arbeiter  oder 
Arbeiterinnen  beschäftigen  und  nicht  unter  das  eidge- 
genössische  Fabrikgesetz  fallen  (als  Schneider,  Schnei- 
derinnen, Konfektions-  und  Modengeschäfte,  Wirth- 
schaften etc.  etc.)  unterstellt  werden  sollen.“ 

Die  Landgemeinde  pflichtete  einstimmig  bei  und  be- 
auftragte den  Landrath  mit  der  Ausarbeitung  eines  bezüg- 
lichen Gesetzentwurfs.  Derselbe  wurde  der  Landgemeinde 
vom  8.  Mai  1892  in  folgender  Form  vorgelegt: 

§ 1.  Das  Gesetz  findet  Anwendung  auf  alle  dem  einge- 
nössischen  Fabrikgesetz  nicht  unterstellten  Geschälte,  soweit 
in  denselben  erwachsene  weibliche  Personen  gewerbsmässig 
und  gegen  Lohn  im  Dienste  des  Inhabers  arbeiten,  oder  in 
denen  männliche  oder  weibliche  Personen  unter  18  Jahren,  sei 
es  als  Arbeiter,  Arbeiterinnen,  Lehrlinge  oder  Lehrtöchter  regel- 
mässig beschäftigt  sind. 

Gänzlich  ausgenommen  ist  der  Betrieb  der  Landwirth- 
schaft. 

Mit  Bezug  auf  die  Bediensteten  der  Wirthschaften  und 
Ladengeschäfte,  soweit  letztere  nicht  gewerbliche  Arbeiten  ver- 
richten, sondern  Kunden  bedienen,  gilt  das  Gesetz  lediglich  in 
dem  in  den  §§  10 — 13  näher  bezeichneten  Umfange 

In  bestrittenen  Fällen  entscheidet  die  Polizeidirektion  unter 
Vorbehalt  des  Rekurses  an  den  Regierungsrath,  ob  ein  Geschäft 
dem  Gesetz  zu  unterstellen  sei. 


266 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  21. 


§ 2.  Die  Arbeitsräume  sollen  hell,  trocken,  gut  ventilirt 
und  überhaupt  derart  beschaffen  sein,  dass  dadurch  die  Gesund- 
heit der  darin  arbeitenden  Personen  nicht  beeinträchtigt  wird. 

Ebenso  sind  Maschinen  und  Werkgeräthschaften  in  mög- 
lichst sicherer  Weise  zu  erstellen  und  zu  unterhalten  und  bei 
dem  Betriebe  sich  zeigende  Gesundheitsschädlichkeiten  so  weit 
möglich  zu  beseitigen. 

Der  Regierungsrath  ist  befugt,  darüber  jeweilen  verbind- 
liche Weisungen  zu  ertheilen. 

§ 3.  Wenn  es  der  Umfang  oder  die  Natur  des  betreffenden 
Geschäfts  rechtfertigen,  können  die  unter  dieses  Gesetz  fallen- 
den Gewerbinhaber  angehalten  werden,  über  die  Arbeitszeit, 
die  Bedingungen  des  Ein-  und  Austritts,  die  Ausbezahlung  des 
Lohns  etc.  eine  Arbeitsordnung  zu  erlassen  und  im  Arbeitslokal 
an  sichtbarer  Stelle  anzuschlagen. 

Die  Genehmigung  dieser  Arbeitsordnungen  und  die  Er- 
ledigung aller  daherigen  Anstände  ist  Sache  des  Regierungs- 
rath es. 

§ 4.  Wo  nicht  durch  schriftliche  Uebereinkunft  etwas 
anderes  bestimmt  ist,  kann  der  Dienstvertrag  beidseitig  auf 
14  Tage  gekündet  werden,  jedoch  nur  am  Zahltag  oder  Samstag. 
Auflösung  des  Verhältnisses  auf  kürzere  Frist  ist  nur  aus  wich- 
tigen Gründen  (Obligationen-Recht,  Art.  346)  zulässig. 

§ 5.  Bei  Anstellung  von  Lehrlingen  und  Lehrtöchtern 
sind  in  allen  Fällen  schriftliche  'Lehrverträge  abzuschliessen. 
Sie  sollen  wenigstens  enthalten:  das  Lehrfach,  die  Lehrzeit,  das 
Lehrgeld  und  die  Bedingungen,  unter  denen  eine  einseitige  Auf- 
hebung des  Lohnvertrages  zulässig  ist. 

§ 6.  Der  Lohn  ist  mindestens  alle  14  Tage  in  gesetzlichen 
Münzsorten  baar  auszubezahlen;  längere  Termine  sind  bei  gegen- 
seitiger Vereinbarung  zulässig. 

Bussen  dürfen  nur  ausgesprochen  werden,  sofern  sie  in 
einer  vom  Regierungsrath  genehmigten  Arbeitsordnung  ange- 
droht sind;  sie  sollen  die  Hälfte  des  Taglohns  der  Gewussten 
nicht  übersteigen  und  sind  im  Interesse  der  Arbeiter  zu  ver- 
wenden. 

Lohnabzüge  für  verdorbene  Arbeit  können  nur  gemacht 
werden,  wenn  der  Schaden  aus  Vorsatz  oder  Selbstverschulden 
entstanden  ist. 

§ 7.  Die  Dauer  der  regelmässigen  Arbeitszeit  soll  nicht 
mehr  als  11  Stunden,  an  den  Tagen  vor  Sonn-  und  Feiertagen 
nicht  mehr  als  10  Stunden  betragen. 

Für  das  Mittagessen  ist  mindestens  1 Stunde  freizugeben. 

Die  Arbeit  an  Sonn-  und  Feiertagen  ist  untersagt. 

VorübergehendeVerlängerung  derArbeitszeit,  bis  spätestens 
10  Uhr  Abends,  kann  in  dringenden  Nothfällen  und  ausnahms- 
weise, ohne  periodische  Wiederholungen,  durch  die  Gemeinde- 
räthe  ertheilt  worden.  Bei  Arbeitsverlängerungen  bei  mehr  als 
14  Tage  ist  immer  die  Bewilligung  des  Regierungsraths  erforder- 
lich. Die  Gesammtdauer  darf  für  dasselbe  Geschäft  zwei 
Monate  im  Jahr  nicht  übersteigen. 

Von  diesen  Bewilligungen  sind  in  allen  Fällen  Personen 
unter  18  Jahren  ausgeschlossen.  Dieselben  dürfen  nach  8 Uhr 
Abends  zu  keinerlei  Dienstleistungen  in  Anspruch  genommen 
werden. 

Bewilligte  Ueberzeit  erfordert  die  Zustimmung  der  Per- 
sonen, welche  dazu  verwendet  werden 

§ 8.  Frauenspersonen,  welche  ein  Hauswesen  zu  besorgen 
haben,  sind  eine  halbe  Stunde  vor  der  Mittagspause  zu  ent- 
lassen, sofern  dieselbe  nicht  mindesten  fl/a  Stunden  beträgt. 

Vor  und  nach  ihrer  Niederkunft  dürfen  Wöchnerinnen  im 
Ganzen  während  8 Wochen  nicht  in  Gewerben  beschäftigt 
werden,  die  diesem  Gesetz  unterstellt  sind.  Am  Wiedereintritt 
in  dieselben  ist  an  den  Ausweis  geknüpft,  dass  seit  ihrer  Nieder- 
kunft wenigstens  6 Wochen  verflossen  sind. 

§ 9.  Kinder,  welche  das  14.  Altersjahr  noch  nicht  zurück- 
gelegt haben,  dürfen  weder  zu  gewerlrlicher  Lohnarbeit  ver- 
wendet, noch  als  Lehrlinge  oder  Lehrtöchter  angestellt  werden. 

§ 10.  Die  Angestellten  in  Laden-  und  Kundengeschäften 
können  zu  der  Bedienung  der  Kunden  in  der  offenen  Geschäfts- 
zeit ohne  Beschränkung  verwendet  werden,  unter  der  Bedingung 
jedoch,  dass  ihnen  mindestens  eine  ununterbrochene  Nachtruhe 
von  9 Stunden  gestattet  wird. 

§ 11.  Die  für  den  Betrieb  von  Wirthschaften  und  Gast- 
häusern angestellten  Personen  können,  soweit  es  zur  Bedienung 
der  Gäste  nöthig  ist,  Abends  bis  zur  Polizeistunde  und  bei  Frei- 
nächten auch  über  dieselbe  hinaus  beschäftigt  werden.  Doch 
ist  ihnen  in  allen  Fällen  eine  ununterbrochene  Nachtruhe  von 
9 Stunden  zu  gestatten. 

§ 12.  Der  Vollzug  dieses  Gesetzes  steht  dem  Regierungs- 
rath zu. 

Es  soll  unter  Mitwirkung  der  Gemeinderäthe  ein  genaues 
Verzeichniss  aller  Geschäfte  geführt  werden,  die  unter  das  Ge- 
setz fallen. 

Der  Regierungsrath  ist  namentlich  auch  ermächtigt,  je  nach 
Bedürfniss  periodische  Inspektionen  durch  Sachkundige  vor- 
nehmen zu  lassen. 

Den  mit  dem  Vollzug  und  der  Ueberwachung  des  Ge- 
setzes beauftragten  Organen  ist  auf  Verlangen  jederzeit  der 
Eintritt  in  die  Arbeitsräume  und  Geschäftslokale  zu  gestatten. 


§ 13  Uebertretungen  dieses  Gesetzes  werden  vom  Polizei- 
gericht mit  Geldbussen  von  Frcs  10—500  bestraft  In  Wieder- 
holungsfällen und  bei  schwerem  Thatbestand  darf  Gefängnis- 
strafe bis  auf  14  Tage  ausgesprochen  werden. 

§ 14.  Der  Landrath  ist  beauftragt,  die  nöthigen  Aus- 
führungsbestimmungen zu  diesem  Gesetze  zu  erlassen. 

Die  Landgemeinde  hat  diesen  Gesetzesvorschlag  an- 
genommen, aber  nur  unter  dem  Vorbehalt,  dass  das  Gesetz 
beiden  Geschlechtern  gleichen  Schutz  angedeihen  lasse  und 
in  diesem  Sinne  einer  veränderten  Redaktion  unterzogen 
werde.  Sie  hat  damit  einen  Schritt  weiter  auf  dem 
schwierigen  Pfade  der  Gewerbegesetzgebung  gethan,  vor 
welchem  die  vorberathende  Behörde  zurückschrak  und  von 
dem  sie  der  Landgemeinde  abrieth;  sie  wollte  in  ganz 
konsequenter  Weise  durchführen,  was  sie  voriges  Jahr 
grundsätzlich  als  gut  und  richtig  erkannt. 

Dieser  Beschluss  wird  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  ver- 
schiedenen im  Entstehen  begriffenen  kantonalen  Gewerbe- 
gesetze bleiben.  Alle  haben  sich  auf  den  Schutz  der 
Frauen  und  Kinder  beschränkt;  sie  haben  sich  gescheut, 
mit  fester  Hand  auch  in  die  Handwerksbetriebe  ordnend 
einzugreifen.  Sie  fürchteten,  am  W iderstand  der  Hand- 
werkerschaft zu  scheitern,  wenn  sie  weitergehen.  Aber  in 
Glarus  hat  sich  auch  von  dieser  Seite  kein  Widerspruch 
erhoben;  die  Handwerker  erkannten  wohl,  dass  auch  sie 
zu  den  Forderungen  der  Neuzeit  nur  zu  ihrem  eigenen 
Schaden  ablehnend  sich  verhalten  würden.  — St.  Gallen, 
dessen  erst  in  den  letzten  Tagen  fertig  gestellter  Entwurf 
eine  Reihe  bemerkenswerther  Verbesserungen  und  Fort- 
schritte aufweist,  dürfte  wohl  zum  Entschlüsse  gelangen, 
das  Beispiel  von  Glarus  zu  befolgen.  Das  Eis  ist  ge- 
brochen; Kanton  um  Kanton  wird  nachfolgen  und  in  weni- 
gen Jahren  wird  in  aller  Ruhe  das  Ziel  erreicht  sein:  ein 
schweizerisches  Gewerbegesetz,  an  Stelle  des  kantonalen, 
wird  für  sämmtliche  industriellen  Arbeiter,  das  Fabrikgesetz 
ersetzend  und  seine  Wohlthaten  verallgemeinernd,  geschaffen 
werden. 

Mollis.  F.  Schüler. 


Minimallohn  für  städtische  Angestellte  in  Zürich.  Im 

Gemeindeordnungsentwurf  der  Stadt  Zürich  sind  unter  denf 
Titel  „Amts-  und  Dienstverhältnisse  der  städtischen  Beamten  und 
Angestellten“  die  Besoldungssätze  normirt,  welche  den  Fix-; 
besoldeten  im  Dienste  des  künftigen  Gross-Zürich  zu  ge  dacht 
sind.  Sie  betragen  1600 — 3000  Frcs.  für  Angestellte  und  3500 
bis  6000  und  7000  Frcs.  für  höhere  Beamte  und  Chefs.  Dagegen 
fehlen  Bestimmungen  über  die  im  Tagelohn  beschäftigten  An- 
gestellten und  Arbeiter.  Zur  Ausfüllung  dieser  Lücke  hat  der 
sozialdemokratische  National-  und  Kantonsrath  Redakteur 
].  Vogelsanger  beantragt,  in  die  Gemeindeordnung  feste  Grund- 
lagen auch  für  die  Bezahlung  der  Tagelohnarbeiter  festzusetzen. 

Sein  Antrag  geht  dahin,  dass  der  Festsetzung  der  lage- 
lohnansätze  Seitens  des  Stadtrathes  ein  Mindestlohn  von  4P  res. 
für  den  erwachsenen  leistungstüchtigen  Arbeiter  bei  zehn- 
stündiger Arbeitszeit  zu  Grunde  zu  legen  sei  und  bei  der  An- 
stellung vorzugsweise  Einheimische  berücksichtigt  werden  sollen. 

Begründet  wird  der  Antrag  damit,  dass  die  bescheidenste 
Wohnung  in  Zürich  und  den  angrenzenden  Gemeinden  nicht 
unter  300  Frcs.  zu  erhalten  sei,  so  dass  unter  Zugrundelegung 
von  300  Arbeitstagen  ä 4 Frcs.  nur  900  Frcs.  übrig  blieben. 
Vogelsanger  nimmt  nun  an,  dass  ein  verheiratheter  Arbeiter  in 
Zürich  verausgabt  etwa  für: 


Milch,  3 Liter  pro  Tag  ä 20  Rp = 216  Frcs. 

Brod,  1 Laib  täglich  ä 70  Rp — 252  „ 

Gemüse,  für  20  Rp.  täglich • ^2  ” 

Holz  und  Kohlen . . _ 70  „ 

Kaffee,  35  Pfund  ä Frcs.  1.  10  und  Kaffee- 
surrogate ...  ...  . — £4  » 

Fleisch,  alle  2 Tage,  jährlich  180  Pfund  . . = 153  „ _ 

Total  807  Frcs. 


Dem  Manne  bleiben  also  von  den  900  Frcs.  nur  noch 
93  Frcs.  für  Kleider  und  den  übrigen  Lebensunterhalt. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


267 


No.  21. 


Arbeiterversicherung. 


Grundsätze  des  Reichsversicherungsamts  in  Betreff 
der  Ansprüche  auf  Invalidenrenten.  Am  16.  Mai  1392  hatte 
nach  dem  Bericht  des  Reichsanzeigers  vom  17.  d.  M.  das 
Reichsversicherungsamt,  als  Revisionsgericht  für  Angelegen- 
heiten der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung,  zum  ersten 
Male  über  Ansprüche  auf  Invalidenrenten  zu  entscheiden 
und  dabei  folgende  wichtige  Grundsätze  autgestellt: 

Auf  die  nach  § 156  des  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherungsgesetzes für  die  Erlangung  einer  Invalidenrente 
vorgeschriebene  Pflichtzeit  von  einem  Beitragsjahre  (47  Bei- 
tragswochen) sind  auch  Krankheiten  und  militärische  Dienst- 
leistungen anzurechnen,  soweit  diese  überhaupt  unter  § 17 
Absatz  2 des  Gesetzes  fallen.  Es  würde  demnach  ein  Ver- 
sicherter auch  dann  zum  Bezüge  der  Invalidenrente  be- 
rechtigt sein,  wenn  er  statt  der  vorgeschriebenen  47  bei- 
spielsweise nur  20  Beitragsmarken  auf  Grund  versicherungs- 
pflichtiger Thätigkeit  beigebracht  hätte,  ihm  aber  ferner 
27  Beitragswochen  auf  Grund  einer  Krankheit  anzurechnen 
wären. 

Auf  der  anderen  Seite  ist  jedoch  die  Anrechnungs- 
fähigkeit der  Krankheit  insofern  zu  beschränken,  als  der 
Versicherte  aus  dem  Versicherungsverhältnisse  ausge- 
schieden anzusehen  ist,  sobald  er  dauernd  erwerbsunfähig 
im  Sinne  des  Gesetzes  ist.  Ebensowenig,  wie  er  alsdann 
eine  die  Versicherungspflicht  begründende  Thätigkeit  aus- 
üben kann,  ebensowenig  kann  der  Zustand  der  dauernden 
Erwerbsunfähigkeit,  auch  wenn  derselbe  die  Folge  einer 
Krankheit  ist,  als  solche  auf  die  erwähnte  Pflichtzeit  an- 
gerechnet werden.  Derjenige  Versicherte  also,  welcher  vor 
Ablauf  der  Pflichtzeit  von  47  Wochen  dauernd  erwerbs- 
unfähig wird,  kann  eine  weitere  Wartezeit  nicht  erfüllen 
und  einen  Anspruch  auf  Invalidenrente  nicht  mehr  er- 
werben. 

Abänderung  des  deutschen  Unfallversicherungs- 
gesetzes. Der  Bundesrath  ertheilte  dem  im  Reichstag  von 
den  Abgeordneten  Möller,  Roesicke  und  Genossen  ein- 
gebrachten  Entwurf  eines  Gesetzes,  betreffend  die  Ab- 
änderung des  § 87  des  Unfallsversicherungsgesetzes  vom 
6.  Juli  1884  und  des  § 95  des  Gesetzes,  betreffend  die  Un- 
fall- und  Krankenversicherung  der  in  land-  und  forstwirt- 
schaftlichen Betrieben  beschäftigten  Personen,  vom  5.  Mai 
1886,  seine  Zustimmung.  Es  handelt  sich  hiebei  um  die 
Vermehrung  der  nichtständigen  Mitglieder  des  Reichsver- 
sicherungsamtes. 

Ausdehnung  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung 
auf  die  Beamten  der  evangelischen  Landeskirchen.  Der 

Bundesrath  hat  auf  den  Antrag  des  Evangelischen  Ober- 
kirchenraths und  des  preussischen  Kultusministers  aner- 
kannt, dass  die  Bestimmungen  des  § 4 des  Invaliditäts-  und 
Altersversicherungsgesetzes  auf  die  von  den  Kirchen- 
gemeinden und  kirchlichen  Instituten  der  evangelischen 
Landeskirchen  Preussens  mit  Pensionsberechtigung  an- 
gestellten  Beamten,  soweit  deren  Pensionsanspruch  den 
Mindestbetrag  der  Invalidenrente  erreicht,  Anwendung  zu 
finden  haben. 

Statut  des  Verbandes  freier  Hilfskassen.  Auf  der  Kon- 
ferenz der  eingeschriebenen  Hilfskassen  in  Hamburg  (19.  und 
20.  April  d.  J.)  wurde  beschlossen,  dass  ein  Verbandsstatut  der 
freien  Hilfskassen  ausgearbeitet  werde,  welches  vor  Allem  den 
Zweck  verfolgen  soll,  dass  für  Arzt  und  Medikamente  von  allen 
Kassen  gemeinsam  für  alle  Mitglieder  gesorgt  werden  soll. 
(Siehe  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  17.) 

Dasselbe  liegt  nun  vor.  Der  Verband  soll  nach  dem  Ent- 
würfe seinen  Sitz  in  Hamburg  haben,  als  Zweck  wird  die  gegen- 
seitige Aushilfe  der  betheiligten  Kassen  angegeben. 

Dieser  Zweck  soll  erreicht  werden  durch 

a)  gemeinsame  Beschaffung  ärztlicher  Hilfe,  Arznei  und 
sonstige  Hilfsmittel; 

b)  gegenseitige  Aushilfe  bei  der  Verwaltung  und  Kranken- 
kontrole; 

c)  vorschussweise  Auszahlung  des  Krankengeldes  auf  be- 
stimmte Anweisung  seitens  des  Vorstandes  der  zur 
Zahlung  verpflichteten  Kasse; 

d)  Schlichtung  von  Streitigkeiten  zwischen  den  betheiligten 
Kassen. 

Die  näheren  Bedingungen  sollen  vom  Verbandsvorstand 
festgesetzt  werden,  welcher  auch  die  nöthigen  Ausführ  ungsver- 
| Ordnungen  zu  erlassen  hat. 


Demnächst  wird  von  den  Ortsverwaltungen  der  freien 
Hilfskassen  eine  Enquete  bei  den  Aerzten  über  die  Kosten  der 
Behandlung  der  bei  diesen  Kassen  versicherten  Arbeiter  vorge- 
nommen werden.  Fragebogen  an  die  Ortsverwaltungen  wurden 
von  der  Hamburger  Kommission  der  freien  Hilfskassen  an  die 
Ortsverwaltungen  im  Reiche  versandt. 


Wohlfahrtseinrichtungen. 

Zur  Frage  der  Gewinnbetheiligung  der  Arbeiter. 

Kürzlich  ist  über  die  Frage  der  Gewinnbetheiligung 
eine  Schrift  von  M.  A.  Gibon  erschienen.1)  Ich  bin  weit 
entfernt,  in  Allem  mit  dem  Verfasser  übereinzustimmen. 
Trotzdem  halte  ich  es  für  nöthig,  diese  Studie  als  überaus 
lehrreich  denen  zu  empfehlen,  welche  sich  mit  der  Frage 
der  Gewinnbetheiligung  beschäftigen.  Gibon  ist  diesem 
Systeme  nicht  gerade  günstig  gesinnt.  Der  Lohn  ist  für 
ihn  „ein  wunderbares  Werkzeug  von  unendlicher  Ge- 
schmeidigkeit, in  ausserordentlich  hohem  Maasse  der  Ver- 
vollkommnung fähig,  das  den  Vortheil  hat,  von  dem  Elite- 
arbeiter  ebenso  begriffen  zu  werden,  wie  von  dem  ge- 
meinen Taglöhner,  und  das  von  Jedermann  besprochen  und 
kontrollirt  werden  kann.“ 

Gibon  fügt  hinzu,  dass  das  Lohnsystem  verbesse- 
rungsfähig ist,  aber  seiner  Meinung  nach  wird  diese 
Verbesserung  in  den  Mitteln  bestehen,  durch  welche  „bei 
gleichzeitiger  Lohnsteigerung  der  auf  das  Produkt  redu- 
zirte  Arbeitslohn  vermindert  wird;  dies  sei  nichts  paradoxes, 
es  ist  nothwendig,  gleichzeitig  den  Arbeitslohn  zu  ver- 
mindern und  die  Lohnbedingungen  zu  verbessern“.  Wenn 
ich  den  Verfasser  richtig  verstehe,  soll  das  heissen,  man 
muss  bei  besserer  Bezahlung  der  Arbeiter  dahin  gelangen, 
eine  grössere  Menge  von  Arbeit  von  ihm  zu  erzielen,  um 
in  Folge  dessen  die  Zahl  der  Beschäftigten  zu  vermindern. 
Es  scheint  mir  dies  nicht  ein  Mittel  zur  Verbesserung  der 
Lage  der  Arbeiterklasse  zu  sein,  würde  doch  die  Ver- 
mehrung: der  Zahl  der  unbeschäftigten  Arbeiter  früher  oder 
später  ein  Sinken  des  Lohnes  der  beschäftigten  Arbeiter 
zur  Folge  haben,  man  käme  somit  zu  einem  Resultate,  das 
direkt  das  Gegentheil  der  durch  die  V erkürzung  des  Arbeits- 
tages zu  erzielenden  Folgen  wäre. 

Gibon  glaubt  nicht,  dass  die  Gewinnbetheiligung  der 
Arbeiter  zur  Grundlage  einer  Reorganisation  der  Arbeit 
werden  könnte.  Man  muss  zugestehen,  dass  die  von  ihm 
verzeichneten  Resultate  zu  grossen  Hoffnungen  nicht  be- 
rechtigen. 

Nach  dem  Bulletin  de  participation  wandten  im  Jahre 
1890  in  Frankreich  80  Geschäfte  das  System  der  Gewinn- 
betheiligung an  und  zwar  13  Druckereien,  16  Versicherungs- 
geschäfte, Banken  und  Wechselstuben,  8 mechanische  Werk- 
stätten, 8 Dachdecker  und  Bleiarbeiter,  4 Färbereien,  je 
3 Bauunternehmungen  und  Anstreicher,  je  2 Leinwand- 
fabriken, chemische  Fabriken,  Spitzen-  und  Stickerei- 
geschäfte, Webereien  und  Weingärten,  ausserdem  je  ein 
Betrieb  in  15  verschiedenen  Industriezweigen,  somit  ver- 
theilen sich  die  80  Fälle  der  Anwendung  des  Gewinn- 
betheiligungssystems  auf  27  verschiedene  Industrien. 

Man  muss  aber  auch  näher  betrachten,  unter  welchen 
Bedingungen  in  diesen  Betrieben  das  Gewinnbetheiligungs- 
system gehandhabt  wird. 

Wenn  das  Gewinnbetheiligungssystem  die  Natur  des 
Arbeitsvertragsverhältnisses  ändern  soll,  so  ist  selbstver- 
ständlich erforderlich,  dass  es  selbst  sich  als  ein  den 
Unternehmer  verpflichtendes  V e r t r agsve r h ältn iss  darstellt. 
Erforderlich  hierzu  ist,  dass  der  Antheil  am  Gewinne,  zu 
welchem  der  Arbeiter  berechtigt  ist,  schon  im  Vorhinein  und 
in  ganz  präziser  Form  festgesetzt  wird.  Aber  nach  einer 


')  La  participation  des  ouvriers  aux  benefices  et  les  diffi- 
cultes  presentes  par  M.  A.  Gibon.  Paris,  1892,  Güillaumin  et  Cie. 
8°  133  S. 


268 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  21. 


von  dem  Bulletin  de  la  societe  de  participation  im  Jahre 
1886  publizirten  Tabelle  ist  der  Antheil  der  Arbeiter  in  31 
von  80  Geschäften  unbestimmt.  Ausserdem  zeigt  uns  Gibon, 
dass  in  4 Geschäften  die  Gewinnbetheiligung  von  dem  Gut- 
dünken des  Unternehmers  abhängt. 

Soll  die  Gewinnbetheiligung  sich  als  ein  thatsächliches 
Vertragsverhältniss  darstellen,  so  erscheint  es  noth wendig, 
dass  den  Arbeitern  Gelegenheit  geboten  werde,  ihre  Rechte 
zu  wahren,  mit  anderen  Worten,  dass  ihnen  die  Möglichkeit 
geboten  werde,  die  Rechnungen  der  Unternehmung,  welche 
sie  beschäftigt,  zu  prüfen,  falls  ihnen  dies  erforderlich  er- 
scheint. Aber  nach  Gibon  haben  nur  5 der  80  Unter- 
nehmungen den  Arbeitern  dieses  Recht  eingeräumt.  Fügen 
wir  noch  hinzu,  um  die  Darstellung  zu  vervollkommnen, 
dass  eine  grosse  Zahl  von  Unternehmungen  in  gewissen 
Fällen  die  Gewinnbetheiligung  aufhebt.  In  Bezug  hierauf 
ergab  sich  auf  dem  internationalen  Kongresse  für  Gewinn- 
betheiligung zu  Paris  im  Juli  1889  ein  bezeichnender 
Zwischenfall. 

In  der  Sitzung  vom  17.  Juli  sprachen  sich  mehrere 
Redner  gegen  diese  Praxis  aus.  Herr  Guieysse  unter  An- 
deren machte  die  Bemerkung,  dass  der  einem  Arbeiter  zu- 
kommende Gewmnantheil  sein  unmittelbarer  und  end- 
giltiger  Besitz  sei,  dass  es  dem  Unternehmer  nicht  gestattet 
werden  könne,  dieses  Recht  an  die  Bedingung  einer  fest- 
gesetzten Dauer  des  Lohnverhältnisses  zu  knüpfen.  Das 
angegriffene  System  fand  aber  seine  Vertheidiger.  Herr 
Charles  Robert  führte  aus,  dass  ein  Votum,  welches  die 
Festsetzung  des  eventuellen  Verlustes  des  Gewinnantheils 
in  den  Reglements  tadeln  würde,  die  Unternehmer  vom 
Prinzipe  der  Gewinnbetheiligung  abwendig  machen  würde. 
Trotzdem  stimmte  der  Kongress  am  17.  Juli  für  folgende 
Resolution : 

„Der  Kongress  spricht  den  Wunsch  aus,  dass  in  den 
Gewinnbetheiligungsverträgen  vom  Verluste  des  Gewinn- 
antheils nicht  mehr  die  Rede  sei.“ 

Aber  zwei  Tage  hierauf,  in  der  Schlusssitzung  des 
Kongresses  forderte  Herr  Gotfinon  die  Abänderung  dieses 
Beschlusses.  Er  führte  aus : Die  Mehrzahl  der  Unter- 

nehmungen, welche  die  Gewinnbetheiligung  eingeführt 
haben,  haben  in  ihren  Statuten  eine  Bestimmung  über  den 
Verlust  des  Gewinnantheils.  Die  am  17.  Juli  vom  Kon- 
gresse beschlossene  Resolution  sei  eine  unverdiente  Miss- 
billigung dieser  Unternehmungen.  Der  Unternehmer  habe 
niemals  ein  Interesse  daran,  gute  Arbeiter  zu  entlassen, 
und  übrigens  sei  der  Verlust  des  Gewinnantheils  kein  Vor- 
theil lür  den  Unternehmer,  sondern  kommt  den  übrigen 
Beschäftigten  zu  Gut.  Entsprechend  seinem  Wunsche 
änderte  der  Kongress  seinen  Beschluss  folgendennassen  ab: 

„Der  Kongress  erkennt  jedoch  an,  dass  es  bei  der 
Errichtung  einer  Spar-  oder  Pensionskasse  im  Interesse 
der  beschäftigten  Arbeiter  liegen  könne,  wenn  die  Mög- 
lichkeit des  Verlustes  vorgesehen  wird,  unter  der  Voraus- 
setzung, dass  der  verloren  gehende  Antheil  den  übrigen 
Arbeitern  zu  Gute  kommt  und  dass,  um  jede  Willkür  zu 
vermeiden,  die  källe  des  Verlustes  des  Gewinnantheils  im 
Reglement  genau  festgesetzt  werden.“1) 

Wenn  wir  unsere  Beobachtungen  zusammenfassen, 
muss  uns  die  Gewinnbetheiligung,  abgesehen  von 
wenigen  Ausnahmen,  in  denen  sie  häufig  zur  Vor- 
bereitung von  Produktivassoziationen  dient,  bis  jetzt 
als  eine  Einrichtung  des  Patronagesystems  erscheinen, 
entstanden  theils  aus  lobenswerthen  philanthropischen 
Gesinnungen,  theils  aber  auch  aus  weniger  uneigen- 
nützigen Motiven,  aus  dem  Wunsche,  die  Arbeiter  an 
das  Unternehmen  zu  fesseln  und  sie  zur  Arbeit  anzu- 
treiben. 

Grenoble.  Raoul  Jay. 


1 Congres  international  de  la  participation  aux  bünerices 
tenu  ä Paris  du  16.  au  19.  Juillet  1889.  Proces  verbal  sommaire 
des  seances. 


Missbrauche  und  Vortheile  bei  Fabrikkantinen.  Im 

Jahresbericht  für  1891  der  königlich  sächsischen  Gewerbe- 
inspektoren giebt  der  Beamte  für  den  Bezirk  Leipzig  einen 
drastischen  Beleg  dafür,  welcher  Unterschied  zwischen  soge- 
nannten „Wohlfahrtseinrichtungen“  besteht,  je  nachdem  sie  vom 
Unternehmer,  oder  von  den  Arbeitern  selbst  verwaltet 
werden.  Der  Beamte  schreibt:  „Erwähnenswerth  erscheint  das 
Ergebniss  der  von  den  Arbeitern  einer  Baufabrik  verwalteten 
Kantine.  Der  Unternehmer  übergab  im  Jahre  1885  mit  Rücksicht 
auf  die  Klagen,  welche  über  Unsauberkeit  des  bisherigen  Ver- 
walters der  Kantine  erhoben  worden  waren,  die  letztere  der  aus 
300  Köpfen  bestehenden  Arbeiterschaft  zur  eigenen  Be- 
wirtschaftung. Trotz  der  Abzahlung  der  Kaufsumme  für 
die  übernommene  Kantineneinrichtung  und  spätere  Vermehrung 
der  letzteren  konnten  neben  der  Bildung  eines  verzinslich  an- 
gelegten, über  1000  M.  betragenden  Stammvermögens  an  über- 
schiessenden  Geldbeträgen 


im  Jahre  1885 

„ „ 1886 

„ „ 1887 

„ „ 1888 

„ 1889 


135  M. 
440  „ 
740  „ 
838  „ 
1722  „ 


und  im  Jahre  1890  bei  wesentlich  verminderter  Arbeiterzahl 
800  M.  an  die  Leute  der  Fabrik  vertheilt  werden,  wobei  zur  Be- 
messung des  Antheils  der  einzelnen  Personen  die  nach  Arbeits- 
tagen berechnete  Zeit  zu  Grunde  gelegt  wurde,  die  ein  jeder  in 
der  Fabrik  im  Rechnungsjahre  beschäftigt  gewesen  war.“  Das 
sollte  doch  ein  deutlicher  Fingerzeig  für  alleUnternehmer  sein,  wie 
sie  die  Verwaltung  derartiger  Wohlfahrtseinrichtungen,  wenn 
solche  überhaupt  Existenzberechtigung  haben  sollen,  einrichten 
müssen. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 


Wohmmg'szustämle  in  München.  Eine  vom  städtischen  i 
statistischen  Amte  in  München  veröffentlichte  Tabelle  zeigt, 
dass  von  den  bei  der  letzten  Zählung  im  November  1890  vor-' 
handenen  82  818  Wohnungen  (66  987  in  Haupt-  und  15  831  in ! 
Nebengebäuden)  465  gar  keine  heizbaren  Zimmer  hatten  und 
nicht  weniger  als  27  696  nur  aus  einem  heizbaren 
Zimmer  (mit  oder  ohne  Nebenräume)  bestanden  und  auch  j 
davon  wieder  die  weitaus  grösste  Zahl  (22  726)  keine  gesonderte  j 
Küche  hatte.  Wohnungen  mit  zwei  heizbaren  Zimmern  gab  es 
20  758,  solche  mit  drei  Zimmern  18  016,  mit  vier  Zimmern  8275, ( 
mit  fünf  Zimmern  3876,  mit  sechs  Zimmern  1864,  mit  sieben  862,  j i 
mit  acht  418,  mit  neun  205,  mit  zehn  141  und  noch  grössere  243.  { 
Der  Hauptsache  nach  werden  die  Wohnungen  ohne  heizbare ! 
Zimmer  mit  50  —150  M.  bezahlt,  die  Wohnungen  mit  einem  heiz- , 
baren  Zimmer  mit  50—250  M.,  die  zweizimmengen  mit  150 — 400  M., ; 
die  dreizimmerigen  dagegen  schon  mit  300 — 700  M.,  die  vier- 
zimmerigen  mit  500 — 900  M.,  die  fünfzimmerigen  mit  500— 1500  M.,  | 
die  sechszimmerigen  mit  900 — 2000  M , die  siebenzimmerigen  mit 
1200—2000  M.,  die  achtzimmerigen  mit  1500—2000  M.,  die  neun- 
zimmerigen  mit  1500—2500  M.,  die  zehnzimmerigen  mit  1500  bis  I 
4000  M.  u.  s.  w.  Die  höchstbezahlte  Wohnung  gehört  der  I 
Grössenklasse  mit  16 — 20  Zimmern  an.  In  jeder  der  erwähnten 
Klassen  giebt  es  eine  Anzahl  von  Wohnungen  mit  (mitunter  be- 
deutend) billigeren  und  höheren  Preisen,  als  sie  oben  angegeben  I 
wurden;  aber  die  Mehrzahl  drängt  sich  in  die  angeführten  | 
Preisklassen  zusammen.  In  dieser  Hinsicht  hat  sich  seit  1885 
eine  beträchtliche  Verschiebung  nach  aufwärts  vollzogen,  denn 
wenn  man  die  damaligen  Nachweise  mit  den  neuen  vergleicht, 
so  ergiebt  sich  Folgendes: 

Zimmerzahl  Miethpreise  in  Mark 


1885 

1890 

1 

50—  200 

50—  250 

2 

100—  300 

150—  400 

3 

250-  600 

300—  700 

4 

450—  800 

500—  900 

5 

500-  900 

500—1500 

6 

700—2000 

900—2000 

7 

1000—2000 

1200—2000 

Man  sieht  bei  den  Klassen  mit  einem  und  mit  fünf  Zimmern 
haben  sich  die  oberen  Grenzsummen  beträchtlich  erhöht,  bei 
den  Klassen  mit  sechs  oder  sieben  Zimmern  die  unteren,  bei 
den  Klassen  mit  zwei,  drei  und  vier  Zimmern  aber  sowohl  die 
unteren  als  die  oberen. 

Mietlizinssparkassen  im  Rheinland.  Der  linksrheinische 

Verein  für  Gemeinwohl  will  dem  Gedanken  der  Begründung 
v on  Mietlizinssparkassen  näher  treten  Unter  Mietlizinssparkassen 
sind  solche  Kassen  verstanden,  in  welche  die  Mitglieder  in  regel- 
mässig kleinen  Zwischenräumen,  sei  es  wöchentlich  oder  alle 
14  Tage,  den  auf  die  betreffende  Zeit  entfallenden  Theil  ihrer 


No.  21. 


hO/LAU'UUTlSCHES  CLNTRALBLA'l  1. 


269 


Miethe  einzuzählen  sich  verpflichten,  um  die  ein  gezählten  Beträge 
am  Schluss  des  Monats  oder  des  Vierteljahres  je  nachdem  die 
Miethe  bezahlt  werden  muss,  wieder  zu  erheben.  Als  Entgelt 
für  den  freiwillig  auferlegten  Zwang  dürfte  eine  angemessene 
Verzinsung  der  eingezahlten  Theilbeträge  und  eine  kleine  Prämie 
nicht  unbillig  erscheinen.  Legt  die  Miethzinssparkasse  ihrer  Be- 
rechnung den  im  kaufmännischen  Verkehr  üblichen  Zinsfuss  von 
6 Prozent  zu  Grunde,  so  entspricht  dies,  da  das  Geld  zur  Hälfte 
im  Voraus  eingezahlt  wird,  einem  Betrage  von  3 Prozent  der 
ganzen  eingezahlten  Summe;  legt  die  Verwaltung  der  Kasse 
nun  noch  I Prozent  hinzu,  so  erhalten  die  Mitglieder  im  Ganzen 
4 Prozent  ihrer  Miethe  als  Prämie,  also  nahezu  die  Miethe  für 
einen  halben  Monat  im  Jahr.  Der  Arbeiter  werde  durch  die 
Miethzinssparkasse  an  Baarzahlung  gewöhnt.  Derjenige  Arbeiter, 
welcher  sich  beim  Miethen  einer  Wohnung  dem  Vermiether 
gegenüber  durch  Vorlage  seines  Buches  als  Mitglied  einer  Mieth- 
zinssparkasse ausweist,  werde  eher  und  billiger  eine  bessere 
Wohnung  erhalten.  Auch  werde  der  Vermiether,  der  einen 
sicheren  Miether  hat,  seinerseits  durch  anderweites  Entgegen- 
kommen (bessere  Instandhaltung  der  Wohnung  u.  s.  w.)  suchen, 
ihn  an  sein  Haus  zu  fesseln,  der  häufige  Wohnungswechsel  werde 
abnehmen  und  dem  Arbeiter  blieben  die  mancherlei  mit  einem 
solchen  unvermeidlich  verbundenen  Opfer,  Verluste  und  sonstigen 
unangenehmen  Folgen  erspart.  Es  entstand  noch  die  Frage,  ob 
es  sich  für  alle  Verhältnisse  empfehlen  dürfte,  nach  dem  Vor- 
gänge einiger  Städte  öffentliche  Miethzinssparkassen  ins  Leben 
zu  rufen,  oder  ob  es  vorzuziehen  sei.  für  den  einzelnen  Betrieb, 
sei  er  gross  oder  klein,  Fabrik-Miethzinssparkassen  zu  errichten. 
Oeffenfliche  Kassen  würden  eigene  Bureaus  und  einen  verwickelten 
Apparat  verlangt  haben,  während  bei  der  Fabrik-Miethzinsspar- 
kasse  beides  wegfällt,  auch  kommt  in  Betracht,  dass  der  Arbeiter 
jedenfalls  lieber  in  der  Fabrik,  in  der  er  beschäftigt  ist,  seine 
Miethe  ansammeln  wird,  als  in  einer  öffentlichen  Kasse.  Von 
diesen  Gesichtspunkten  ausgehend,  hat  der  Verein  Bestimmungen 
für  Fabrikmiethzinssparkassen  entworfen. 

Die  Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter  in  Brüssel. 

Auf  Grund  des  Gesetzes  vom  9.  August  1889  wurden  in 
Belgien  Comites  de  Patronage  (Komitees  für  Arbeiterfür- 
sorge) konstituirt.  Dieselben  sollen  die  Erbauung  und  Ver- 
mietliung  gesunder  Arbeiterwohnungen  und  ihren  Verkauf 
befördern,  Alles  erforschen,  was  sich  auf  die  Gesundheits- 
Verhältnisse  der  Arbeiterwohnungen  bezieht  und  die  Ent- 
wickelung des  Spar-  und  Versicherungswesens  sowie  die 
Einrichtungen  für  Kredit,  für  gegenseitiges  Hilfswesen  und 
für  Altersversorgung  unterstützen.  Von  den  Leistungen  die- 
ser Komitees  hat  man  bisher  noch  nicht  viel  vernommen. 
Uns  ist  nur  eine  Publikation  der  Stadt  Brüssel  bekannt  ge- 
worden, in  der  die  Ergebnisse  einer  Enquete  über  die  von 
Arbeitern  bewohnten  Räumlichkeiten  mitgetheilt  werden.1) 
Wir  theilen  hier  die  wichtigsten  Daten  aus  derselben  mit. 

Die  Stadt  Brüssel  bestand  zur  Zeit  der  Aufnahme  aus 
19  594  Häusern,  welche  von  168  145  Personen  bewohnt  waren. 
4 601  Häuser  (23,48"/,;  werden  als  Arbeiterhäuser  (maisons 
ouvrieres)  bezeichnet,  welche  von  19  284  Arbeiterfamilien 
bewohnt  wurden;  hierzu  kamen  noch  3 966  ledige  Arbeiter 
und  Arbeiterinnen,  267  verheirathete  Arbeiter,  deren  Fami- 
lien nicht  in  Brüssel  wohnten.  491  Arbeiterfamilien  (2,54 "/0) 
bewohnten  ein  ganzes  Haus,  1371  (7,11"/0)  drei  und  mehr 
Zimmer,  8 058  (41,81%)  zwei  Zimmer,  6 978  (36,18%)  nur 
ein  Zimmer,  2186  (11,33%)  mussten  sich  mit  einer  Mansarde 
und  200  (1,03%)  mit  einem  unterirdischen  Raum  begnügen; 
demnach  wohnte  fast  die  Hälfte  der  Arbeiterfamilien  in 
einem  Raum.  Der  durchschnittliche  Monatsmiethpreis  für 
ein  Zimmer  war  Frcs.  11,68,  demnach  fast  15%  des 
durch  Arbeitslosigkeit  niemals  geschmälerten  Lohnein- 
kommens,  das  mit  Frcs.  3,14  pro  Arbeitstag  veranschlagt 
wird.  17  626  (91,4%)  Arbeiterwohnungen  werden  als  rein- 
lich und  1 658  (8,6  %)  als  schmutzig  bezeichnet.  9 Stuben 
hatten  keinen  Luftzutritt,  19  sind  dem  Tageslicht  nicht  oder 
fast  nicht  zugänglich.  In  2895  Arbeiterfamilien  sind  Knaben 
und  Mädchen  gezwungen,  im  gleichen  Zimmer,  in  406  im 
gleichen  Bette  zu  schlafen.  Die  schmutzige  Wäsche  wird 
in  den  meisten  Fällen  im  Wohnzimmer  gewaschen  und  auf 
von  einer  zur  anderen  Mauer  gezogenen  Stricken  ebenda 
selbst  getrocknet.  Waschküchen  und  Trockenräume  fehlen 
in  den  Arbeiterwohnungen  fast  vollständig,  ln  51  Arbeiter- 
wohnungen fehlten  Abtritte  gänzlich,  in  1 757  Häusern  be- 
nützen mehr  als  15  Personen  einen  Abtritt.  Nur  3054  von 
4 601  Arbeiterhäusern  sind  an  die  städtische  Wasserleitung 


’)  Lassage,  Ch.  et  Quecker,  Ch  , Enquete  sur  les  habi- 
tations  ouvrieres  en  1890.  Rapport  presenth  au  comite  de  patro- 
nage  de  la  ville  de  Bruxelles.  Brüssel  1890.  Bremaeker-Wauts. 


angeschlossen.  In  2954  befinden  sich  Brunnen  oder  Cisternen 
für  das  Regen wasser.  823  Arbeiterhäuser  (ca.  20%)  haben 
keinen  Hof,  die  durchschnittliche  Grösse  der  Höfe  beträgt 
16,83  c,  nur  195  Arbeiterhäuser  besitzen  Gärtchen,  deren 
durchschnittliche  Grösse  27,1 1 qm  beträgt.  In  326  Arbeiter- 
häusern sind  die  Treppen  abgenützt,  gefährlich  schmutzig 
und  dunkel.  54  Lumpenmagazine  befinden  sich  in  den  Ar- 
beiterhäusern. 

3436  Schankstätten  wurden  gezählt,  es  entfallen  dem- 
nach 2,05  auf  100  Bewohner  und  17,54  auf  100  Haushaltun- 
gen, auf  100  Arbeiterhäuser  ohne  Schankstätten  kommen 
21,26  mit  solchen. 

10  462  Arbeiterfamilien  fielen  der  öffentlichen  Wohl- 
thätigkeit  zur  Last,  während  nur  8822  keine  Ansprüche  auf 
Unterstützung  erhoben. 


Litteratur. 


! Fehling,  Dr.  H.,  z.  Z.  Rektor  der  Universität,  Die  Bestim- 
mung der  Frau,  ihre  Stellung  zu  Familie  und  Beruf. 

Rektoratsrede  gehalten  am  Jahresfeste  der  Universität  Basel 
den  12.  November  1891.  Zweite  unveränderte  Auflage.  Stutt- 
gart, 1892,  Ferd.  Enke. 

Der  Titel  der  obigen  Schrift  des  bekannten  Gynäkologen 
| verspricht  weit  mehr  als  der  Inhalt  bietet,  enthält  sie  doch  im 
Wesentlichen  nur  eine  Stellungnahme  gegen  das  Frauenstudium 
der  Medizin.  Der  Verfasser  erhebt  seine  Stimme  als  „Vertreter 
der  Männerrechte“  gegen  die  „Vertheidiger  der  sogenannten 
Frauenrechte“,  er  glaubt,  dass  die  Bestimmung  der  Frau  ihr  im 
Plane  der  Schöpfung  gegeben  wurde:  Gattin,  Mutter,  Hausfrau, 

; Erzieherin  der  Jugend  zu  sein.  Es  ist  ein  Kampf  gegen  Wind- 
| mühlen,  wenn  er  sich  gegen  das  „jetzt  übliche  Geschrei“  wendet, 
das  „diese  Aufgaben  als  entehrend  und  ungenügend  für  die  Frau 
ansieht“.  Einseitig  wird  die  ganze  Darstellung  auch  hauptsächlich 
dadurch,  dass  nur  die  physiologischen  Momente  vom  Verfasser  be- 
rücksichtigt, die  ökonomischen  aber  vollständig  ignorirt  vyerden. 
Wollte  eine  Vertreterin  der  Frauenemanzipation  eine  Satire  auf 
| diese  Schrift  schreiben,  sie  könnte  wohl  auch  nachweisen,  dass 
! es  nicht  im  Plane  der  Schöpfung  gelegen  sei,  dass  der  Mann 
Börsenspekulant,  Sanskritforscher,  Rechtsanwalt  oder  Kunst- 
schlosser werde.  Gerade  bei  einer  Rectoratsrede  hätte  man 
weniger  allgemeine  Schlagworte,  einseitige  Anschauungsweise 
und  Widersprüche  anwenden  sollen  als  dies  Rector  Fehling 
t beliebte  Auf  Seite  20  sagt  der  Verfasser:  „Jedenfalls  überschreitet 
sie  (die  Zahl  der  Opfer  des  Wochenbettes)  weit  die  der  Männer, 
welche  in  demselben  Zeiträume  (1816—1875)  im  Dienste  des 
Vaterlandes  gefallen  sind“  trotzdem  sagt  zwei  Seiten  später  der 
Verfasser:  „Aus  dem  Rufe  gleicher  Rechte  müsste  auch  logisch 
folgen  gleiche  Pflichten;  um  nur  eins  zu  nennen,  die  Ehrenpflicht 
der  Vertheidigung  des  Vaterlandes,  davon  ist  noch  nie  die  Rede 
gewesen.1'  Der  Widerspruch  liegt  hier  auf  der  Hand  ! Der  Ver- 
fasser bekämpft  vom  Interessenstandpunkt  der  in  wissenschatt- 
; liehen  Berufen  thätigen  Männer  das  Oeffnen  dieser  Berufe  für 
die  Frauen,  dieselben  Interessen  liegen  und  zwar  in  noch  viel 
höherem  Grade  in  den  kaufmännischen  Berufen,  und  bei  un- 
zähligen Branchen  der  gelernten  und  vor  allem  der  ungelernten 
Industriearbeit  vor,  sie  machen  sich  dort  wegen  der  mit  dem 
Industriesysteme  verknüpften  industriellen  Reservearmee  in 
einer  Weise  fühlbar,  dass  die  Vertretung  des  von  Professor 
Fehling  gewahrten  Interessenstandpunktes  begreiflicher  schiene 
und  trotzdem  finden  wir  in  den  neueren  Programmen  der  In- 
dustriearbeiter nicht  mehr  das  Verbot  der  Frauenarbeit,  sondern 
nur  den  Schutz  der  Arbeiterinnen  und  die  Garantie  des  gleichen 
Verdienstes  wie  für  die  männlichen  Arbeiter  gefordert,  obgleich 
doch  die  physiologische  Minderwerthigkeit  der  Frau  (Periode, 
Schwangerschaft  u.  dergl.)  mindestens  ebenso  gegen  das  Steine- 
tragen der  Frau,  wie  gegen  das  Medizinstudium  spricht.  Der 
Verfasser  betont,  dass  er  die  Frage  als  Geburtshelfer  und  Frauen- 
arzt behandelt,  er  sagt,  dass  Ls  falsch  sei,  die  Frauenfrage 
wesentlich  vom  sexuellen  Standpunkte  aufzufassen,  er  wolle  nach 
Kräften  mitarbeiten  an  der  Verbesserung  der  sozialen  Stellung 
der  Frau,  deren  Beruf  er  in  der  Bethätigung  als  Gattin,  Mutter 
und  Erzieherin  der  Kinder  sieht,  aber  er  vergisst  hierbei,  dass 
man  ohne  Berücksichtigung  der  ökonomischen  Momente  die 
soziale  Stellung  der  Frau  nicht  heben  kann  und  die  sozialen 
Verhältnisse  unserer  Zeit  es  der  Frau  unmöglich  machen,  sich 
dem  Berufe  der  Gattin,  Mutter  und  Kindererzieherin  ausschliess- 
lich zu  widmen,  er  übersieht,  dass  man  wohl  die  Mondbahn  ohne 
ökonomische  Kenntnisse  in  einer  Rektoratsrede  behandeln  kann, 
nicht  aber  die  Bestimmung  der  Frau,  ihre  Stellung  zu  Familie 
und  Beruf. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  I)r.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  11.  S.  Hermann  in  Berlin. 


270 


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Das  Programm  des  „Centralblattes  tiir  allgemeine  Gesundheitspflege“  stellt  sich 
im  Wesentlichen  zusammen  aus:  Originalartikeln  über  alle  Zweige  der  Gesundheits- 
pflege, Berichten  aus  «len  Krankenhäusern  der  grösseren  Städte.  Sterblichkeits- 
statistik mit  Berücksichtigung  der  Todesursachen,  Berichten  über  epidemische 
Vorgänge.  Seuchestatistik,  Uebersichten  der  hygienischen  Bestrebungen  des  In-  und 
Auslandes,  Medizinaigesetzgebnng,  Auszügen  und  Referaten  über  die  neu  erschienene 
Literatur  des  In-  und  Auslandes  ete.  etc. 

Ferner  enthalten  die  Hefte  zahlreiche  „Kleinere  Mittheilunoen“  aus  dem 
Gebiete  der  Hygiene,  Literaturberichte,  regelmässige  monatliche  Nachweisungen 
über  Krankenaufnahme  und  Bestand  in  den  Krankenhäusern  von  54  Städten  der 
Provinzen  Westfalen,  Rheinland  und  Hessen-Nassau  etc.  etc. 

Abonnements  auf  den  XI.  Jahrgang  nehmen  alle  Buchhandlungen  und  Post- 
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XIV.  Jahrgang. 

Herausgegeben 

von 

R.  Jannaseh, 

Dr.  jur.  et  phil. 

Redaktion  und  Expedition:  Berlin  W.,  Magdeburgerstrasse  38. 


Die  seit  1879  erscheinende  Wochenschrift  „Export“  ist  bestrebt,  die  Interessen 
des  deutschen  Exports  thatkrältig  zu  vertreten,  sowie  dem  deutschen  Handel  und  der 
deutschen  Industrie  wichtige  Mittheilungen  über  die  Handelsverhältnisse  des  Aus- 
landes in  kürzester  Frist  zu  übermitteln. 

Inserate  im  „Export“  sind  erfolgreich,  wie  das  andauernde,  langjährige  Annonciren 
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I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  30.  Mai  1892. 


Nummer  22. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


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Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT 


Die  Novelle  zum  preussischen 
Berggesetze.  Von  Dr.  Leo 
Verkauf. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
W irthscliaftsstatistik : 

Zur  Charakteristik  des  Nothstandes 
in  Russland. 

Einkommenverhältnisse  im  König- 
reich Sachsen. 

Die  Errichtung  von  Rentengütern 
in  Ost-,  Westpreussen  und  Posen. 

Das  Wasserrecht  in  der  Schweiz. 

Verbot  der  Sweating-  Arbeit  bei 
Staatsaufträgen  in  England. 

Arbeiterzustände : 

Hygienische  Verhältnisse  in  den 
Leipziger  Buchdruckereien  und 
Schriftgiessereien. 

Weibliche  Bahnwärter. 

Enquete  über  die  Ruhetage  auf 
den  französischen  Eisenbahnen. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Ein  schweizerisches  Arbeiterpro- 
gramm. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Verband  deutscher  Bergarbeiter. 


Kontrolleure  zur  Ueberwachung  des 
Wagennullens. 

Tarif  kommission  im  deutschen 

Buchdruckergc  werbe. 

Rechnungsabschluss  der  Ilirsch- 
Duncker’schen  Verbandskassen. 

Zum  Ausstand  der  Kohlenarbeiter 
in  Durham. 

Handwerkerfragen  : 

Handwerkerkammern  m Baden. 

Schweizerisches  Gewerbegesetz 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Die  Sonntagsruhe  im  Handels- 
gewerbe. Von  J.  Silbermann. 

Ein  internationaler  Kongress  für 
Sonntagfeier. 

Zur  Berggesetznovelle. 

Sonntagsruhe  der  preussischen 
Staatsbahnarbeiter. 

Gewerbeinspektion : 

Unfallverhütung  und  Gewerbe- 
inspektion in  Ungarn.  Von 
Dr.  Adolf  Braun. 

Armenwesen: 

Das  Armenwesen  der  Stadt  Berlin 
im  Etatsjahr  1890/91. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Novelle  zum  preussischen  Berggesetze. 

Wir  haben  es  in  Nummer  2 des  Sozialpolitischen  Central- 
blattes als  einen  Kardinalfehler  bezeichnet,  dass  die  Be- 
rathung  und  Beschlussfassung  über  den  Arbeiterschutz  beim 
Bergbau  dem  Landtage  überlassen  und  nicht  dem  deutschen 
Reichstage  Vorbehalten  wurde.  Wie  begründet  unsere  Auf- 
fassung war,  das  haben  die  Verhandlungen  des  preussischen 
Abgeordnetenhauses  jedem  Unbefangenen  gezeigt.  Nur  der 
eine  Interessentenkreis  war  durch  Abgeordnete  aus  seiner 
Mitte  vertreten,  und  diese  traten  mit  unbeugsamer  Schroff- 
heit für  ihre  Forderungen  ein.  Der  gute  Wille  des  Centrums, 
welches  sich  mit  Wärme  für  die  Aufrechterhaltung  der 
Regierungsvorlage,  aber  auch  für  einige  Verbesserungen 
derselben  einsetzte,  konnte  die  Anwesenheit  von  Vertretern 
aus  den  Reihen  der  Bergleute  nicht  ersetzen.  Es  mag  etwas 
paradox  klingen,  aber  wir  sind  der  festen  Ueberzeugung, 
dass  im  Reichstage  die  Anwesenheit  der  Arbeitervertreter 


genügt  hätte,  um  die  Schroffheit  der  Repräsentanten  der 
Bergwerksbesitzer  zu  mildern. 

Wie  wenig  die  Zusammensetzung  des  Abgeordneten- 
hauses geeignet  ist,  eine  sachliche  Diskussion  in  Arbeiter- 
fragen zu  fördern,  hat  die  sechstägige  Debatte  gezeigt. 
Man  muss  der  Ueberraschung  Ausdruck  geben,  wie  gering 
der  Aufwand  von  Argumenten  war,  mit  welchen  jeder  wirk- 
lich oder  vermeintlich  arbeiterfreundlichen  Bestimmung 
entgegengetreten  wurde.  Fast  bis  zur  Ermüdung  kehrte 
eine  Reihe  von  Behauptungen  wieder,  die  nur  deshalb  hier 
kurz  angeführt  werden  sollen,  um  auch  dadurch  zu  zeigen, 
dass  die  Forderungen  der  Bergleute  sehr  begründete  sein 
müssen,  wenn  denselben  keine  stichhaltigeren  Argumente 
von  den  berufenen  Verfechtern  der  Unternehmerinteressen 
entgegengesetzt  werden  konnten. 

Bei  Berathung  des  § 80  b wurde  ununterbrochen  her- 
vorgehoben, es  dürfe  eine  Ueberlastung  der  Arbeitsordnung 
nicht  stattfinden,  dieselben  müsste  sonst  den  Arbeitern 
unverständlich  werden  und  an  Klarheit  einbüssen.  Das 
bedeutet  aber,  aus  dem  Halbdunkel  ins  helle  Licht  gezogen: 
die  Vertragsbedingungen  müssen  wie  bisher  so  auch  in 
Zukunft  nicht  nur  vom  Unternehmer  diktirt,  sondern  auch 
von  Fall  zu  Fall  seinem  Belieben  überlassen  werden.  Da 
muss  man  es  denn  doch  vorziehen,  selbst  eine  übermässig 
umfangreiche  Arbeitsordnung  zu  fordern,  aus  der  im  Streit- 
fälle wenigstens  das  Gericht  in  der  Lage  ist  zu  erfahren, 
wie  es  seine  Entscheidung  zu  fällen  hat.  Bei  einem  anderen 
Vertrage  und  unter  anderen  Kontrahenten  wird  wohl  noch 
nie  aus  dem  grossen  Umfange  der  erforderlichen  Vertrags- 
bestimmungen auf  die  Weglassung  eines  Theiles  derselben 
geschlossen  worden  sein. 

Gegen  eine  Reihe  von  Anträgen  wurde  auch  geltend 
gemacht,  dass  man  eine  Ueberlastung  des  Gesetzes  mit 
Bestimmungen  verhüten  müsse.  Das  ist  ein  überraschendes 
Novum.  Bisher  haben  sich  die  preussischen  Bergwerks- 
besitzer über  die  250  Paragraphen  des  Berggesetzes,  in 
welchen  vorwiegend  ihre  Interessen  Schutz  und  Regelung 
finden,  nicht  beklagt.  Warum  mit  weiteren  20  oder  30  Para- 
graphen zum  Schutze  der  Arbeiter  die  Ueberlastung  be- 
ginnen soll,  ist  schwer  zu  errathen. 

Selbst  der  Mangel  von  Unternehmerschutz  wurde  der 
Regierung  zum  Vorwurfe  gemacht.  Man  vermisst  dabei 
leider  die  Angabe,  in  welcher  Richtung  sich  derselbe  zu 
bewegen  hätte,  ob  etwa  Leben  und  Gesundheit  der  Berg- 
werksbesitzer durch  die  Gefahren  des  Bergbaues  be- 
droht, durch  übermässige  Arbeitsdauer  und  geringen 
Lohn  gefährdet  wird,  oder  ob  die  Montanindustriellen  sich 
gar  in  drückender  Abhängigkeit  von  ihren  Arbeitern  be- 
finden. 


272 


SO/.JAl.I’Ol.l  TISCHES  CENTRAL, HI  .ATT. 


No.  22 


Am  häufigsten  kehrte  die  Behauptung  wieder,  dass 
der  Bergbau  sich  in  Nichts  von  anderen  Industrien  unter- 
scheide und  deshalb  eine  detaillirtere,  von  der  Gewerbe- 
ordnung abweichende  Regelung  der  Arbeitsverhältnisse 
nicht  zu  rechtiertigen  sei.  Wäre  das  richtig,  so  Hesse  sich 
kaum  begreifen,  wie  gerade  beim  Bergbau  die  Entwicklung 
fast  überall  zu  einer  eingehenden  und  umfassenden  Spezial- 
gesetzgebung führen  konnte. 

Gegen  viele  Anträge  wurde  auch  der  ganz  sonder- 
bare Einwand  erhoben,  dass  sie  unberechtigtes  Misstrauen 
gegen  die  Werksbesitzer  bekunden,  und  schon  deshalb  ab- 
gelehnt werden  müssen.  Dass  dies  gegen  jedes  zwingende 
Gesetz  geltend  gemacht  werden  könnte  und  dass  die  Rück- 
sichtnahme auf  derartige  Einwürfe  die  Gesetzgebung  lalnu- 
legen  müsste,  blieb  in  der  Heftigkeit  der  Debatte  unbeachtet. 

Ein  Uebermass  an  sachlichem  Gehalt  lässt  sich  wohl 
diesen  Argumenten  nicht  nachsagen.  Prüfen  wir  nun, 
welche  Gestalt  die  Regierungsvorlage  nach  der  dritten 
Lesung  im  Abgeordnetenhause  angenommen  hat,  eine  Ge- 
stalt, an  der  die  Berathungen  des  Herrenhauses  kaum  eine 
wesentliche  Aenderung  herbeiführen  werden. 

Am  lebhaftesten  war  der  Kampf  um  den  Inhalt  des 
§ 80  b , der  die  Bestimmungen  testsetzt , welche  jede 
Arbeitsordnung  enthalten  soll.  Wir  haben  schon  früher 
ausgeführt,  dass  wir  diesem  Paragraphen  deshalb  keine 
besondere  Bedeutung  beimessen  können,  weil  die  Grenzen, 
innerhalb  welcher  sich  die  einzelnen  Bestimmungen  be- 
wegen sollen,  völlig  dem  Ermessen  des  Werksbesitzers 
überlassen  bleiben.  Damit  statuirt  der  § 80b  wohl  eine 
formelle,  aber  keine  materielle  Aenderung  des  heutigen 
Zustandes  Der  Bergarbeiter  soll  in  Zukunft  wissen,  welche 
Arbeitsbedingungen  der  Unternehmer  ihm  diktirt,  er  soll 
aber  auch  fürderhin  keinen  Einfluss  auf  diese  Bedingungen 
haben. 

Den  Unternehmern  wird  also  lediglich  zugemuthet, 
schriftlich  und  im  Vorhinein  bekanntzugeben,  wie  sie  im 
einzelnen  Falle  vorzugehen  gedenken.  Aber  selbst  dies 
war  den  Montanindustriellen,  nicht  minder  dem  Abgeord- 
netenhause schon  zu  viel.  So  erfuhr  denn  auch  § 80b  in 
vielen  Punkten  eine  Aenderung,  manche  Bestimmungen 
wurden  ganz  fallen  gelassen.  Ueber  die  Art  der  Bemes- 
sung des  Schicht-  und  Gedinglohnes,  über  die  Art  der  Ge- 
dingestellung, über  die  Mass-  oder  Gewichtseinheit,  welche 
dem  Gedinge  zu  Grunde  gelegt  wird,  braucht  die  Arbeits- 
ordnung nunmehr  ebensowenig  Etwas  zu  enthalten,  als 
über  die  Voraussetzungen,  unter  welchen  Abzüge  wegen 
ungenügender  oder  vorschriftswidriger  Arbeit  gemacht 
werden  dürfen. 

Eine  Verschlimmerung  erfuhr  auch  der  § 80 d.  Mit  wah- 
rem Feuereifer  wehrten  sich  die  Werksbesitzer  dagegen,  dass 
die  Arbeiter  an  der  Verwaltung  der  Unterstützungskassen, 
in  welche  die  Strafgelder  fliessen,  mitbetheiligt  seien.  Auch 
die  Ueberwaclmng  durch  das  Oberbergamt  wurde  mit  Ent- 
schiedenheit abgelehnt.  Es  ist  kaum  zu  verstehen,  zu 
welchem  Zwecke  das  Misstrauen  erweckende  Halbdunkel 
aufrecht  erhalten  werden  soll,  unter  welchem  heute  die 
Unterstützungskassen  geleitet  werden. 

Eine  der  wenigen  Vorschriften,  die  zur  Beruhigung 
der  Bergarbeiter  hätte  beitragen  können,  § 80k,  wurde  arg 
verstümmelt.  Die  Regierung  hatte  statt  der  amtlichen 
Aichung  die  Benutzung  von  Fördergefässen  gleichen  Raum- 
inhaltes und  die  Feststellung  des  letztem  beantragt.  Ins- 
besondere die  erstere  wurde  lebhaft  bekämpft  und  in  der  That 
nur  alternativ  die  Verwendung  gleicher  Wagen  oder  die 
Ersichtlichmachung  des  Rauminhaltes  beschlossen.  Die 
nach  vorgenommener  Reparatur  entstehenden  Aenderungen 
im  Gewichte  der  Fördergefässe  sollen  auch  dort,  wo  das 
Gedinge  vom  Gewicht  abhängt,  nicht  der  Feststellung  be- 


dürfen. Der  Zustand  wird  also  der  sein,  das  künftig  Wagen 
von  verschiedenem  Inhalt  und  verschiedener  Form  zulässig 
bleiben. 

Während  man  überall  dort,  wo  dies  zu  Gunsten  der 
Unternehmer  geschehen  konnte,  den  Wortlaut  der  Gewerbe- 
ordnung herstellte  oder  beibehielt,  beobachtete  man  rück- 
sichtlich der  Abkehrscheine  ein  anderes  Verfahren.  Die 
industriellen  Arbeiter  kennen  bekanntlich  seit  langen  Jahren 
kein  obligatorisches  Arbeitsbuch.  Der  Abkehrschein  besitzt 
heute,  wie  allgemein  anerkannt  werden  musste,  auch  keine 
sicherheitspolizeiliche  Aufgabe.  Die  vielcitirte  Parität  hätte 
also  die  Beseitigung  des  obligatorischen  Abkehrscheines 
gefordert.  Ein  dahinzielender  Antrag  wurde  aber  abge- 
lehnt. 

Der  Beschluss  der  Kommission,  auf  Aenderung  des 
Artikels  V dahin,  dass  die  Arbeitsdauer  nur  für  einzelne 
Betriebe  vom  Oberbergamte  geregelt  werden  dürfe,  fand 
Annahme.  Alle  Bemühungen  auf  gesetzliche  Sicherung  einer 
angemessenen  Schichtdauer  scheiterten  an  dem  Widerstande 
der  überwiegenden  Mehrheit  des  Abgeordnetenhauses  wie 
der  Regierung. 

Die  aus  der  dritten  Lesung  hervorgegangenen  Novelle 
zum  Berggesetze  repräsentirt  den  momentanen  Abschluss 
einer  grossangelegten  Aktion,  die  mit  der  Einleitung  der 
Enquete  begann,  in  den  kaiserlichen  Erlassen  und  der  Ein- 
berufung der  internationalen  Arbeiterschutzkonferenz  ihre 
Fortsetzung  fand.  Wie  gross  waren  die  Hoffnungen,  welche 
sich  an  diese  Massnahmen  knüpften,  wie  wenig  hat  sie  das  • 
Ergebniss  der  Berathungen  des  Abgeordnetenhauses  erfüllt. 
Wir  fürchten,  man  schiesst  nicht  weit  vom  Ziele,  wenn  man  : 
der  ganzen!  Aktion  als  Motto  vorsetzt:  Viel  Lärm  um  Nichts. 

Leo  Verkauf.  * 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

j 

Zur  Charakteristik  des  Nothstandes  in  Russland. 

Der  russische  Nothstand  und  überhaupt  die  wirth- 
schaftliche  Lage  des  „Zarenreiches“  (wie  Russland  ge- 
wöhnlich in  der  westeuropäischen  Presse  bezeichnet  wird) 
bietet  nicht  nur  ein  praktisches,  sondern  auch  ein  grosses 
theoretisches  Interesse.  Die  herrschende  Hungersnoth  ist 
ein  schreckliches  Resultat  des  Zusammenwirkens  von 
klimatischen,  wirthschaftlichen,  politischen  und  allgemein 
kulturellen  Ursachen.  Aber  was  vom  sozialpolitischen 
Standpunkte  das  Wichtigste  sein  dürfte,  das  ist  die  Be- 
deutung, welche  dem  jetzigen  Nothstande  als  Moment  in 
der  kapitalistischen  Entwickelung  Russlands  zukommt. 
Wir  verzichten , an  dieser  Stelle  eine  nähere  und  er- 
schöpfende Begründung  unserer  Ansicht  zu  geben,  aber 
kurz  formulirt  gipfelt  sie  im  folgenden  Satze:  Der  gegen- 

wärtige Nothstand  ist,  wirthschaftlich  aufgefasst,  ein  Re- 
sultat der  kapitalistischen  Entwickelung  Russlands  und  wird 
seinerseits  auf  diesen  Prozess  beschleunigend  zurück- 
wirken. Was  den  ersten  Theil  der  aufgestellten  These 
betrifft,  so  ist  er  bereits  ein  Gemeinplatz  in  der  russischen 
nationalökonomischen  Litteratur  geworden  und  ist  deren 
Begründung  vornehmlich  durch  die  landschaftliche  -Sta- 
tistik zur  Genüge  geliefert;  für  den  zweiten  Theil  wollen 
wir  einige  Thatsachen  anführen,  welche  ein  grelles  Licht 
auf  die  Bedeutung  der  Hungersnoth  für  die  wirthschaft- 
liche  Zukunft  Russlands  werfen  Diese  Daten  beziehen 
sich  auf  das  Gouvernement  Ssamara,  das  in  wirthschalt- 
licher  Hinsicht  als  ein  Mikrokosmus  des  ganzen  Noth- 
standsgebietes  mit  Recht  bezeichnet  werden  kann.  Der 


No.  22. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


273 


Statistiker  der  Ssamara’schen  Landschaft,  Herr  Krasnoperoff, 
hat  in  seinen  Aufsätzen  im  Moskauer  „Juriditschesky 
Westnik“  (der  besten  russischen  rechts-  und  staatswissen- 
schaftlichen Zeitschrift)  die  wirthschaftliche  Lage  dieses 
unglücklichen  Landes,  welches  seit  dem  grossen  lokalen 
Nothstande  (dem  sogenannten  „ssamarski  golod“  — der 
Hunger  von  Ssamara)  vom  Jahre  1880  sich  gar  nicht  mehr 
erholen  konnte,  ziffernmässig  geschildert.  Es  sei  hier  vor- 
erst erwähnt,  dass  die  Steuerrückstände  im  betreffenden 
Gouvernement  bei  einem  jährlichen  Kontingent  von  6 V2 
Millionen  Rubel1)  im  Jahre  1891  bereits  die  Höhe  von 
12  Millionen  erreicht  haben.  Seit  dem  Auftreten  der 
Hungersnoth  — schon  im  August  — sahen  sich  die  Bauern 
gezwungen,  ihre  Kleider,  andere  Habseligkeiten  und  das 
Vieh  zu  verpfänden  respektive  zu  verkaufen;  später 
mussten  sie  auch  zu  der  Verpachtung  und  Verpfändung 
ihrer  Grundantheile  schreiten.  V or  Kurzem  hat  der  er- 
wähnte hochverdiente  Statistiker  in  dem  Moskauer  Tag- 
blatte „Russkija  Wedomosti“  die  Wirkungen  des  letzten 
Nothstandes  auf  das  genannte  Gouvernement  auf  Grund 
offizieller  von  der  Regierung  (nicht  von  der  Landschaft) 
gemachter  Erhebungen  dargestellt,  und  hierbei  wurden 
seine  früheren  Mittheilungen  vollauf  bestätigt.  Wir  be- 
schränken uns  auf  die  Wiedergabe  der  von  Krasnoperoff 
angeführten  Thatsachen. 

Am  traurigsten  ist  die  Lage  derjenigen  Gemeinden 
(„selskija  obstschestwa“),  welche  die  gemeinschaftliche  Be- 
arbeitung des  Gemeindegrundes  verweigert  hatten.  Von 
der  Landschaft  („zemstwo“;  nämlich  wurde  die  Erfüllung 
dieser  zwangskommunistischen  Forderung  (theilweise 
als  Garantie  für  die  Rückzahlung  des  landschaftlichen 
Unterstützungsdarlehens)  unbedingt  verlangt.  Die  Land- 
schaft war  überzeugt,  dass  die  Verweigerung  dieser 
Forderung  von  einem  gewissen  Wohlstände  zeuge,  was 
sich  im  Grossen  und  Ganzen  als  ein  beklagenswerther  Irr- 
thum erwiesen  hat.  Es  besteht  nämlich  bei  den  russischen 
Bauern  eine  grosse  Abneigung  gegen  einen  solchen  Zwangs- 
kommunismus und  sie  sind  bereit,  sich  grossen  Entbehrungen 
zu  unterziehen,  nur  um  dieser  Gemeinnutzung  des  ge- 
meinsamen Grundes  zu  entgehen.  Dieser  Widerstand  — 
abgesehen  davon,  dass  er  sich  gegen  die  verhasste  admini- 
strative Kontrolle  und  Einmischung  in  die  Gemeindeange- 
legenheiten wendet  — hat  aber  manchmal  auch  einen 
gewissen  kapitalistischen  Hintergrund,  denn  an  der 
Verweigerung  der  landwirthschaftlichen  Forderung  sind  oft 
nur  die  reichen,  wirthschaftlich  kräftigen  Bauern  interessirt. 
Von  der  ökonomischen  Gleichheit  in  der  russischen  Land- 
gemeinde ist  ja  schon  lange  keine  Spur! 

Die  Gemeindeverbände  (wolosti),  welche  die  von  der 
Landschaft  geforderte  Garantie  verweigert  hatten,  und  des- 
halb der  Unterstützung  nicht  theilhaftig  wurden,  sind,  wie 
gesagt,  in  eine  höchst  traurige  Lage  gekommen.  Die  Bauern 
in  denselben  mussten  massenweise  für  einen  Spottpreis  ihre 
Grundantheile  verpachten  und  die  Wintersaaten  verkaufen. 
Beispielsweise  beträgt  der  Verlust  der  Arbeitspferde  für  9 
Gemeindeverbände  des  Bezirkes  Bugulma,  welche  die  land- 
schaftliche Forderung  abgewiesen  hatten,  im  Durchschnitt 
1355  Stück  auf  je  eine  Wolost,  während  diejenigen  31 
Wolosti,  welche  aut  die  landschaftliche  Forderung  einge- 
gangen sind,  einen  durchschnittlichen  Verlust  von  448  Stück 
auf  je  eine  Wolost  verzeichnen.  Die  Zahl  der  Diebstähle 
beträgt  für  die  erste  Kategorie  im  Durchschnitt  21,2  Fälle, 
auf  je  eine  Wolost,  für  die  zweite  Kategorie  nur  14  Fälle. 

Aber  es  wäre  ein  sehr  grosser  Irrthum,  wenn  wir  uns 
die  Lage  dieser  zweiten  Kategorie  der  Wolosti  als  leid- 
lich vorstellen  würden.  Diese  Lage  ist  ebenfalls  für  die 
Mehrzahl  der  Bauern  als  ein  vollständiger  Ruin  zu  be- 
zeichnen. Die  Zahl  des  Zug-  und  Arbeitsviehes  betrug 
nach  den  Mittheilungen  der  „Zemski  Natschalniki“  (Ver- 
waltungsbeamte und  Richter  vornehmlich  für  die  Bauern- 
bevölkerung — eine  Institution,  welche  als  typische  Frucht 

J)  Dabei  sind  nur  die  direkten  Steuern  gemeint,  welche 
auf  die  Bauern  entfallen. 


der  seit  1881  herrschenden  Reaktion  bezeichnet  werden 
kann)  vor  dem  Auftreten  der  Hungersnoth  1 046  867  Stücke, 
bis  zum  1.  Januar  des  laufenden  Jahres  ist  diese  Zahl  auf 
637  248  zusammengeschrumpft,  hat  sich  also  um  37  °/0  ver- 
mindert. Aber  wenn  man  noch  verschiedene  andere  Mit- 
theilungen in  Betracht  zieht,  so  dürfte  dieser  Prozentsatz 
auf  40— 50  n/o  sich  erhöhen.  Bis  zum  1.  November  1891  betrug 
— nach  Krasnoperoff  — die  Summe,  welche  die  Bauern 
des  Gouvernements  Ssamara  für  ihr  Vieh  bekommen  haben, 
2 892  000  Rubel,  sodass  durchschnittlich  auf  je  einen  Bauern- 
hof 10  Rubel  entfielen.  Die  Pferde  wurden  für  1,95  bis 
6,40  Rubel,  die  Ochsen  für  2,50 — 10,00  Rubel,  die  Kühe  für 
2,40—6,50  Rubel  verkauft.  Selbstverständlich  ist  dieser 
kolossale  Viehverlust  auf  den  doppelten  Mangel:  1.  der 

Nahrungsmittel  für  Menschen  und  2.  des  Futters  für  das 
Vieh  zurückzuführen. 

Der  Bettel  hat  auf  dem  Lande  grossartige  Dimen- 
sionen angenommen,  bis  zum  1.  Januar  1892  wurden  in  291 
Wolosti  143  460  Seelen  als  Bettler  verzeichnet,  die  sich  so- 
gar eine  Art  genossenschaftlicher  Organisation  schufen. 
Es  findet  auch  eine  starke  Auswanderung  statt,  die  selbst- 
verständlich zum  grössten  Theil  planlos  ist  und  die  Lage 
der  betreffenden  Bauern  nur  noch  verschlimmert.  Die- 
jenigen aber,  die  mit  Recht  das  Zuhausehungern  der  plan- 
losen Auswanderung  vorziehen,  sind  auch  aut  die  Ver- 
pachtung und  Verpfandung  ihrer  Grundloose  und  auf  den 
Ve.kauf  der  Wintersaaten  angewiesen.  Zum  Beispiel  in 
einer  Wolost  des  Buzulukschen  Kreises  haben  die  Bauern 
ganze  Loose  von  II1  2 Dessjätinen  für  1 Rubel  (sage  einen 
Rubel)  verpachtet,  während  früher  in  „guten  Jahren“  der 
Pachtzins  ungefähr  50  Rubel  ausmachte.  Im  Kreise  Bru- 
guruslan  wurde  eine  Fläche  von  8790  Dessjätinen  für 
68  Rubel  oder  für  3/4  Kopeken  die  Dessjätine  verpachtet. 
In  einer  Wolost  sind  70%  der  Grundloose  verpachtet  und 
es  finden  sich  sogar  Wolosti,  wo  der  gesammte  bäuer- 
liche Boden  verpachtet  ist.  Nachdem  Krasnoperoff  noch 
mehrere  analoge  Zahlen  und  Thatsachen  anführt,  sagt  er, 
dass  dieselben  uns  die  Schlussfolgerung  aufdrängen,  dass 
mindestens  die  Hälfte  der  Bauern  ihre  wirthschaft- 
liche Selbstständigkeit  einbüssen  werden  und  die  Grund- 
loose zu  einem  grossen  Theil  in  den  faktischen  Besitz  der 
Aufkäufer  (der  sog.  „Kulaki“),  welche  sich  aus  Gross- 
bauern, kleinen  und  grossen  Kaufleuten  rekrutiren,  über- 
gehen werden.  Dieser  Prozess  ist  übrigens  bereits  in 
sprechenden  Ziffern  von  der  landschaftlichen  Statistik  kon- 
statirt  worden,  aber  was  früher  als  die  Frucht  einer  mehr 
oder  weniger  langsamen  Entwickelung  sich  darstellte,  das 
ist  jetzt  mit  einem  Schlage  durch  die  „Missernte“  vollzogen 
worden. 

Bezeichnend  sind  noch  für  die  Lage  des  Gouverne- 
ment Ssamara  die  Konsumtion  des  Pferdefleisches 
durch  die  russische  Bevölkerung  und  der  Mangel 
an  Heizmitteln.  Bekanntermassen  wird  der  Genuss  des 
Pferdefleisches  von  der  russischen  Bevölkerung  ver- 
schmäht und  kommt  derselbe  gewöhnlich  nur  bei  den  Ta- 
taren vor.  Jetzt  sind  auch  die  russischen  Bauern  ge- 
zwungen worden,  zu  diesem  unbeliebten  Nahrungsmittel 
zu  greifen.  Wo  das  der  Fall  ist,  darf  daraus  mit  grosser 
Sicherheit  auf  totalen  Mangel  anderer  Lebensmittel  ge- 
schlossen werden. 

Der  Mangel  an  Heizmitteln  steht  in  dieser  wald- 
losen Gegend1)  in  direktem  Zusammenhänge  mit  der 
grossen  Verminderung  des  Viehstandes,  da  hier  als  fast 
ausschliessliches  Heizmittel  der  Viehmist  fungirt.  Die  Mehr- 
zahl der  armen  Bauern  ist  gezwungen,  um  sich  dieses 
Heizmittel  zu  verschaffen,  entweder  den  reichen  Standes- 
genossen ihre  Arbeitskraft  für  den  kommenden  Sommer 
zur  Verfügung  zu  stellen  oder  ihre  Grundloose  zu  verpfän- 
den. Dabei  erwächst  dasjenige  ganz  unzweideutige  wirth- 
schaftliche Abhängigkeitsverhältniss,  welches  in  der  russi- 
schen wissenschaftlichen  und  nicht  minder  in  der  schönen 


b Dabei  sind  vornehmlich  die  hart  betroffenen  Steppen- 
bezirke Buzuluk,  Nikolajewsk  und  Nowousensk  gemeint. 


274 


SOZIALPOLITISCHES  CENTR ALRL ATT . 


No.  22. 


Litteratur  (Saltykoff,  Uspensky)  so  ergreifend  geschildert 
wird  und  — was  die  Härte  anbetrifft  — seinesgleichen 
sucht.  Es  sind  auch  Fälle  vorgekommen,  wo  die  Bauern 
ihre  elenden  Habseligkeiten  und  das  noch  übrig  gebliebene 
Vieh  veräussert  haben,  um  sich  dafür  die  für  die  strenge 
Winterzeit  unentbehrlichen  Heizmittel  zu  verschaffen;  oder 
sie  haben  den  Mist  überall  — auf  den  Fahrstrassen  etc.  - 
mühselig  gesammelt ; oder  sie  mussten  ihre  Zäune  und  leere 
Vorrathskammern  des  Holzmaterials  wegen  niederreissen; 
oder  endlich  sind  sie  durch  die  Noth  zu  einer  kommunisti- 
schen Lebensweise  getrieben  worden,  indem  je  3 5 Fa- 

milien, um  an  Heizmitteln  zu  sparen  resp.  leben  zu  können, 
sich  in  einem  Hause  etablirten.  Wer  die  Wohnungs- 
verhältnisse der  russischen  Bauern  sich  nur  oberflächlich 
angeschaut  hat,  der  weiss,  welche  Bedeutung  diese  I hat- 
sachen  vom  hygienischen  Standpunkte  haben.  Dass  dabei 
der  Typhus  und  andere  Infektionskrankheiten  siegreich  um 
sich  greifen,  ist  — ganz  abgesehen  von  der  mangelhaften 
Ernährung  — durch  solche  Wohnungsverhältnisse  schon 
bedingt. 

Wenn  wir  noch  zum  Schlüsse  hinzufügen,  dass  in  den 
Bezirken  Ssamara  und  Bugulma  V4,  im  südlichen  Fheile 
des  Bezirkes  Buguruslan  1/2;  im  Bezirke  Nikolajewsk  J/3  der 
Winterfelder  unbestellt  geblieben  sind,  so  haben  wir  die 
Lage  des  Gouvernements  Ssamara  zur  Genüge  cha- 
rakterisirt. 

Diese  Verhältnisse  sind  für  die  Mehrzahl  der  vom 
Nothstande  betroffenen  Gegenden  typisch1)  und  sie  kenn- 
zeichnen eben  den  endgiltigen  Niedergang  des  Bauern- 
standes. Der  Nothstand,  selbst  aus  den  ökonomischen  Ver- 
hältnissen hervorgegangen,  beschleunigt  mit  einem  gewal- 
tigen Stoss  die  Proletarisirung  der  ländlichen  Bevölkerung. 
Und  dieser  Prozess  seinerseits  wird  voraussichtlich  sehr 
viel  beitragen  zu  einer  Umgestaltung  der  landwirthschalt- 
lichen  Produktion,  als  deren  Symptom  er  auftritt.  Das 
ganze  wirthschaftliche  Leben  und  in  erster  Linie  das  V er- 
hältniss  von  Stadt  und  Land  kann  dabei  die  grössten  Ver- 
schiebungen erleiden.  Lind  bis  dieselben  sich  endgiltig 
vollzogen  haben,  werden  sie  — wenn  der  Staat  nicht  macht- 
voll eingreift  — über  eine  Unzahl  von  menschlichen 
Opfern  hinwegschreiten.  Denn  der  Nothstand  als  Folge 
tiefer  wirthschaftlicher  Umwälzungen  ist  bereits  seit  meh- 
reren Jahren  in  manchen  der  „hungernden“  Gouvernements 
zu  einer  — wir  möchten  sagen  — ständigen  Institution 
geworden. 

Es  werden  aus  manchen  Gegenden  ergreifende  That- 
sac.hen  — mehrfache  Fälle  von  Hungertod2)  etc.  — be- 
richtet, aber  vom  sozialpolitischen  Standpunkte  verschwin- 
den diese  wirkungsvollen  Illustrationen  vor  der  grossen 
volkswirthschaftlichen  Thatsache  des  vollständigen  Ruins 
und  der  Auflösung  des  Bauernstandes. 


Einkommenverhältnisse  im  Königreich  Sachsen. 

Die  sächsische  Einkommensteuerstatistik,  deren  neueste 
Ergebnisse  in  Heft  I und  II,  Jahrgang  1891  der  „Zeitschrift 
des  K.  Sächs.  Statistischen  Büreaus“  wiederum  vorliegen, 
liefert  schon  seit  Jahren  werthvolle  Anhaltspunkte  zur  Be- 
urtheilung  der  Einkommensverhältnisse,  wie  sie  sich  unter 
der  Wirkung  der  privatkapitalistischen  Produktion  gestalten 
müssen.  Wenn  man  bei  Betrachtung  der  Ziffern  berück- 
sichtigt, dass  die  Zunahme  der  grossen  Einkommen  er- 
fahrungsgemäss  langsamer  und  weniger  sicher  von  der  Ein- 
kommensteuer erfasst  wird,  als  die  Veränderung  in  den 
unteren  Klassen,  deren  Verhältnisse  offener  liegen,  sodass 

1)  Um  nur  noch  ein  Beispiel  anzuführen,  verweisen  wir  auf 
den  Bezirk  Schadrinsk  im  Gouvernement  Perm,  wo  jetzt  von 
307  000  Bauern  200  000  ihre  Pferde  verloren  haben  und  wo  sogar 
eine  besondere  Art  der  Egge  konstruirt  worden  ist,  um  den 
Menschen  als  Zugkraft  zu  benutzen.  Leider  sind  die  Her- 
stellungskosten (40  Kopeken)  dieses  eigenartigen  Arbeitsinstru- 
mentes für  die  Mehrzahl  der  Bauern  unerschwinglich. 

2)  Beispielsweise  ist  im  Bezirke  Schadrinsk  der  Hunger- 
tod von  24  baschkirischen  Bauern  amtlich  festgestellt  worden. 


die  Einkommensvermehrung  bei  den  reichen  Klassen  wahr- 
scheinlich weit  stärker  ist,  als  sie  die  Steuerstatistik  an- 
o-eben  kann,  so  gelangt  man  zu  bemerkenswerthen  Schlüssen. 
Von  1879  auf  f890  stieg  die  Zahl  der  eingeschätzten  Per- 
sonen von  I 088  002  auf  1 404  469,  die  Summe  des  einge- 
schätzten Einkommens  aber  von  982  451  967  M.  auf 
1495  910  639  M.  Das  Gesammteinkommen  wies  also  eine 
weit  stärkere  Steigerung  auf,  als  die  Zahl  der  an  ihm  be- 
theiligten Personen.  Ist  diese  stärkere  Zunahme  nun  allen 
Bevöfkerungsklassen  gleichmässig  zu  gute  gekommen? 
Durchaus  nicht,  selbst  wenn  man  der  amtlichen  Eintheilung 
folgt,  welche  die  „unbemittelte“  Klasse  nur  bis  zu  einem 
Einkommen  von  800  M.  rechnet,  die  „mittlere“  von  800  bis 
3300  M„  die  „wohlhabende“  von  3300  - 9600  M„  und  die 
„reiche“  Klasse  von  9600  M.  Einkommen  aufwärts,  so  er- 
giebt  sich  folgendes  Bild  von  der  Vertheilung  des  einge- 
schätzten Einkommens  in  Prozenten  der  Gesammtsumme 


auf 

1879 

1890 

die  unbemittelte  Klasse . 

39,74 

31,77 

die  mittlere  Klasse  . . 

33,48 

36,67 

die  wohlhabende  Klasse 

12,99 

12,66 

die  reiche  Klasse  . . . 

13,79 

18,90 

Darnach  sank  der  Antheil  der  unbemittelten  Klasse  i 
schon  bedeutend,  derjenige  der  mittleren  und  wohlhabenden 
blieb  sich  fast  gleich,  und  derjenige  der  reichen  Klasse  . 
nahm  stark  zu.  Das  Bild  der  denkbar  ungleichmässigsten 
Vermögensvertheilung  verschärft  sich  also  zusehends.  Der 
Antheil  der  mittleren  Klasse  an  der  Zunahme  würde  aber  * 
ein  noch  weit  geringerer  sein,  wenn  nicht  die  Einkommens- 
klasse von  800—1600  M.  in  dieselbe  eingerechnet  wäre. 
Diese  letztere  Klasse  gehört  unter  diejenige  der  „Unbe- 
mittelten“; denn  selbst  mit  1600  M.  jährlichem  Einkommen 
steht  eine  Person  oder  vollends  eine  Familie  vor  der  Un-1 
möglichkeit,  irgend  etwas  Hinreichendes  für  Nothfälle  oder 
das' Alter  zurücklegen  zu  können.  Die  Einkommensklasse 
von  800—1600  M.  ist  aber  mit  ihrem  geschätzten  Einkommens-  , 
antheil  nicht  gesondert  für  die  Jahre  1879  bezw.  1880  und 
1890  in  der  vorliegenden  Statistik  angegeben.  Nur  ihr 
Personalstand  ist  mitgetheilt;  er  vermehrte  sich  von  15,94 "/Jl 
der  eingeschätzten  auf  22,71  %,  deutet  also  ebenfalls  auf, 
eine  steigende  Pauperisirung  der  sächsischen  Bevölkerung 
hin,  keineswegs  auf  eine  Stärkung  des  Mittelstandes,  wie 
der  amtliche  Bearbeiter  meint.  Vervollständigt  wird  dieses  ! 1 
Bild  durch  folgende  Uebersicht  Im  gesammten  Königreich;! 
vertheilten  sich  die  Gesammteinkünfte  auf  die  ver-.j 
schiedenen  Einkommensquellen  nach  prozentweiser  Be- 
rechnung wie  folgt:  { I 

1879  1890 

aus  Grundbesitz  ....  20,9  16,3 

aus  Handel  und  Gewerbe  33,5  30,8 

aus  Gehalt  und  Löhnen  . 34,9  41,3 

aus  Renten 10,7  11,6. 

Nichts  ist  bezeichnender,  als  dass  bei  dieser  relativen 
Rechnung  nur  die  Renten  einerseits  und  die  Gehälter  bezw. 
Löhne  andererseits  steigend  am  Gesammteinkommen  theil- 
nahmen,  was  die  rasche  Erweiterung  der  Kluft  zwischen 
arbeitslosen  und  auf  blosse  Arbeit  gegründetem  Einkommen 
deutlich  kennzeichnet.  Nebenbei  gehen  die  Symptome  der 
steigenden  Centralisation  der  Bevölkerung  in  den  Städten 
und  der  Bevölkerung  des  platten  Landes.  Es  vermehrt  sich 
nämlich  von  1879  auf  1890 


in  den  Städten 
in  den  Dörfern 


( das  Gesammteinkommen 

I die  Zahl  der  eingeschätzten  Personen 

I das  Gesammteinkommen 

1 die  Zahl  der  eingeschätzten  Personen 


auf  74,7  % I 

„ 47,6»/,, 

„ 35,7  0/,, 

„ 16,2%.  | 


Das  platte  Land  bleibt  also  weit  hinter  der  Entwick- 
lung der  Städte  auch  mit  Bezug  auf  das  Einkommen  zurück. 
Darnach  ist  es  schwer  verständlich,  wie  der  amtliche  Be- 
arbeiter der  sächsischen  Steuerstatistik  eine  gesunde  Ge- 
staltung der  dortigen  Einkommensverhältnisse  wahrnehmen  | 
I kann. 


Die  Errichtung  von  Rentengütern  in  Ost-,  Mest- 
preussen  und  Posen.  Ueber  die  in  den  östlichen  Provinzen 
gemachten  Versuche  der  inneren  Colomsation  vermittels 
Errichtung  von  Rentengütern  äussert  sich  die  „Danzigei 
Zeitung“  folgendermassen:  . 

„Der  wesentlichste  Zweck  des  Gesetzes,  die  Ansiede- 
lung auf  kleineren  Besitzungen  zu  fördern,  ist  zweifellos , 


No.  22. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


275 


erreicht,  und  zwar  in  viel  höherem  Grade,  als  es  früher 
angenommen  und  für  möglich  gehalten  wurde.  In  fast  allen 
Kreisen  unserer  Provinz,  besonders  in  den  südlichen,  in 
' Ostpreussen,  Posen  und  Schlesien  ist  eine  grosse  Zahl  von 
kleineren  und  grösseren  Parzellen  zum  Verkauf  gekommen. 
Es  fehlte  ja  auch  früher  nicht  an  Gelegenheit  zu  solchen 
Käufen,  im  Gegentheil,  oft  haben  wir  berechtigte  Klagen 
<>-ehört  über  das  Parzellirungsunwesen,  durch  welches  die 
Käufer  häufig  in  der  Weise  geschädigt  wurden,  dass  ein- 
mal der  Preis  oft  höher  als  der  Werth  angesetzt  und  be- 
willigt wurde,  und  dass  die  Restkaufgelder  zu  hohen  Zinsen 
und  unter  sonstigen  ungünstigen  Bedingungen  eingetragen 
wurden.  Bei  kurzer  Kündigungsfrist  seitens  der  Verkäufer 
entstanden  Verlegenheiten,  welche  bisweilen  zum  Verluste 
des  Eigenthumes  führten.  Die  amortisirende  Rente  schiebt 
hier  einen  heilsamen  Riegel  vor.  Ein  weiterer  Vortheil  für 
den  Käufer  liegt  darin,  dass  in  Höhe  des  halben  Werthes 
der  Gebäude,  welche  nach  dem  Urtheil  der  Generalkom- 
mission für  das  zu  bebauende  Grundstück  wirthschaftlich 
nothwendig  sind,  ein  Darlehen  gewährt  wird,  welches  eben- 
falls durch  eine  Rente  getilgt  wird.  Hierdurch  wird  für 
viele  Ansiedler  erst  die  Möglichkeit  geboten,  eine  ihren 
Wünschen  entsprechende  Fläche  zu  erwerben,  da  sie  andern- 
falls einen  grösseren  Theil  ihres  Kapitals  zur  Herstellung 
der  Baulichkeiten  zurückhalten  müssen,  und  in  Folge  dessen 
nur  eine  kleine  Fläche  zu  erwerben  im  Stande  sein  würden. 
Auf  der  andern  Seite  ist  auch  vielen  Grundbesitzern  er- 
wünschte Gelegenheit  geboten,  einzelne  Theile  ihres  Landes, 
welche  abgelegen,  oder  aus  anderen  Gründen  für  die  eigene 
Wirthschaft  ungeeignet  sind,  zu  veräussern  und  den  ganzen 
Kaufpreis  dafür  einzunehmen,  während  sie  bei  dem  gewöhn- 
lichen Verkaufe  immer  einen  grossen  Theil  des  Kaufpreises 
stehen  lassen  müssen  . . . Einen  Erfolg  halten  wir  für 
wahrscheinlich:  die  stärkere  Heranziehung  sesshafter  Leute, 
welche,  wenn  sie  kleinere  Grundstücke  besitzen,  lohnenden 
Nebenerwerb  durch  landwirthschaftliche  Arbeiten  finden 
und  den  durch  die  Sachsengängerei  hervorgerufenen  Ar- 
beitermangel verringern  können.“ 

In  unserem  Referate  über  den  Bericht  der  General- 
kommission (No.  19  des  Sozialpolitischen  Centralblattes)  sind 
einzelne  Bestimmungen  des  Rentengütergesetzes  vom  7.  Juli 
1891  mit  Vorschriften  in  dem  Gesetze  vom  26.  April  1886 
betreffend  die  Ansiedlungskommission  für  Posen  und  West- 
preussen  verwechselt  worden.  Es  entfallen  demnach  unsere 
Bemerkungen  über  die  nationalpopulationistischen  Absichten 
des  Gesetzes  und  über  die  Sesshaftmachung  landwirthschaft- 
licher  Arbeiter.  Durch  den  Abdruck  aus  der  „Danziger 
Zeitung“  berichtigen  sich  unsere  Darlegungen  in  No.  19 
dieser  Zeitschrift  im  einzelnen. 

Das  Wasserrecht  in  der  Schweiz.  In  No.  16  des 
Sozialpolitischen  Centralblattes  war  der  seitens  der  schweize- 
rischen Bundesregierung  an  die  Kantone  versandte  Frage- 
bogen über  das  Wasserrecht  in  der  Schweiz  abgedruckt. 
Ueber  das  Ergebniss  der  Enquete  verlautet  folgendes: 
Während  mehrere  Kantonsregierungen  von  einer  Monopoli- 
sirung  der  Wasserkräfte  nur  dann  etwas  wissen  wollen, 
wenn  das  Monopol  den  Kantonen  verbleibt,  erklärt  sich  die 
St.  Galler  Regierung  für  das  Bundesmonopol.  Sie  sagt 
ganz  richtig,  dass  ja  auch  der  Lauf  der  Bäche  und  Flüsse 
von  den  Kantonsgrenzen  unabhängig  sei  und  die  Ver- 
schiedenheit der  Vorschriften  für  die  industrielle  Nutzbar- 
machung desselben  Flusslaufs  eine  volle  und  rationelle 
Nutzbarmachung  nicht  möglich  mache.  Der  Bund  also 
müsse  die  grosse  Sache  an  die  Hand  nehmen.  „Geschieht 
dies  nicht  und  würden  auch  die  Kantone  nichts  thun,  so 
würde,  wie  mit  Sicherheit  vorauszusehen  ist,  die  private 
Spekulation  in  einer  Weise  dieses  wichtigen  Bestandtheiles 
unseres  Nationalwohlstandes  sich  bemächtigen,  dass  für 
letztem  empfindliche  Schädigungen  entstehen  müssten.“ 

Verbot  (1er  Sweating-Arbeit  bei  Staatsaufträgen  in 

England.  Der  „Vossischen  Zeitung“  wird  aus  London  be- 
richtet: „Einem  soeben  veröffentlichten  Berichte  der  Re- 

gierungsbehörden zufolge  wird  seit  einem  Jahre  in  England 
ein  ernstlicher  Versuch  gemacht,  den  im  Februar  vorigen 
Jahres  vom  Unterhause  angenommenen  Antrag  Buxtons  be- 
treffend die  Verwendung  ungenügend  belohnter  Arbeits- 
kräfte bei  Regierungsaufträgen  streng  zur  Ausführung  zu 
bringen.  Das  Handelsministerium  macht  es  z.  B.  bei  seinen 
Verträgen  mit  Kleiderlieferanten  zur  Bedingung,  dass  diese 
sämmtliche  Kleidungsstücke  in  ihrer  eigenen  Fabrik  an- 
; fertigen  lassen,  dass  keine  Arbeit  mit  nach  Hause  gegeben 


oder  an  andere  als  eigene  Arbeiter  übertragen  werden 
darf.  Aehnliche  Bestimmungen  gelten  auch  für  andere 
Verwaltungszweige,  und  es  scheint  erfreulich,  dass  die  Re- 
gierung den  Geschäftshäusern  mit  einem  guten  Beispiele 
vorangeht  und  dadurch  dem  berüchtigten  „Sweating-System“ 
in  England  etwas  zu  steuern  sucht.“ 


Arbeiterzustände. 


Hygienische  Verhältnisse  in  den  Leipziger  Buch- 
druckereien  und  Schriftgiessereien.  Die  örtliche  Tarifkom- 
mission der  Leipziger  Buchdruckereien  hat  zum  Zwecke  der 
Erhebung  der  gesundheitlichen  Verhältnisse  in  den  Leipziger 
Buchdruckereien  83  Fragebogen  versandt,  von  denen  77  (73  auf 
Buchdruckereien  und  4 auf"Giessereien  bezügliche)  ausgefüllt 
eingegangen  sind.  Die  Resultate  der  Erhebung  theilt  die  in 
Leipzig  erscheinende  „Reform“  in  ihrer  Nummer  vom  19.  Mai  d.J. 
mit,  der  wir  die  folgenden  Daten  entnehmen. 

Die  Tagesbeleuchtung  ist  in  67  Druckereien  gut,  in  4 
ungenügend,  in  6 fraglich,  die  künstliche  Beleuchtung  ist  in  60 
Druckereien  ausreichend,  in  8 ungenügend,  in  9 fraglich.  Die 
Ventilation  war  in  56  Setzersälen  gut,  in  10  ungenügend,  in 
zweien  schlecht,  in  vieren  fraglich  und  in  einem  soll  sie  voll- 
kommen fehlen;  in  49  Druckersälen  soll  sie.  gut,  in  12  unge- 
nügend, in  4 schlecht,  in  7 fraglich  sein,  in  einem  vollkommen 
fehlen.  In  3 Giessereien  war  die  Ventilation  gut,  in  einer  un- 
genügend. Die  Raumverhältnisse  sollen  in  5 Druckereien 
ausgezeichnet,  in  53  gut,  in  10  ungenügend,  in  3 mangelhaft  oder 
schlecht  sein,  von  6 liegen  keine  Angaben  vor.  Die  Wasch- 
vorrichtungen werden  von  62  Druckereien  als  gut,  von  14  als 
ungenügend  bezeichnet.  In  63  Druckereien  befanden  sich  die 
Betriebsmotoren  ausserhalb,  in  10  innerhalb  des  Arbeits- 
raumes. Die  Heizung  der  Arbeitsräume  war  in  64 
Druckereien  gut,  in  13  ungenügend.  In  56  Druckereien  war  der 
Setzersaal  vom  Maschinensaal  getrennt,  in  15  nicht. 
Ausgekehrt  werden  die  Arbeitsräume  täglich  einmal  in  58 
Druckereien,  täglich  zweimal  in  3,  wöchentlich  zweimal  in  7, 
wöchentlich  dreimal  in  6 Druckereien,  ungenügend  in  2,  gar 
nicht  in  einer  Druckerei.  Gewaschen  (Scheuern,  Fenster- 
putzen) wird  wöchentlich  zweimal  in  1,  wöchentlich  einmal  in  2, 
monatlich  inl,  vierteljährlich  in  5,  halbjährlich  in  12  Druckereien; 
jährlich  dreimal  in  2,'  jährlich  überhaupt  in  5,  unregelmässig  in 

5 und  fraglich  ist  das  Waschen  in  34  Druckereien  geblieben. 
In  2 Druckereien  wurde  seit  3 Jahren,  in  einer  andern  seit 

6 Jahren  nicht  gescheuert!  In  6 Druckereien  und  1 Giesserei 
kann  sich  niemand  entsinnen,  jemals  ein  Scheuerfest  erlebt  zu 
haben.  Das  Reinigen  der  Setzkästen  und  Regale  ge- 
schieht in  55  Druckereien  nach  Bedarf;  in  1 Druckerei  wöchentlich, 
in  1 jährlich  und  in  7 gar  nicht.  Fraglich  ist  das  Ausblasen  der 
Kästen  in  neun  Druckereien.  Schutzvorrichtungen  an 
Maschinen  und  Transmissionen  waren  vorhanden  in  67, 
mangelhaft  waren  solche  in  3 und  fraglich  in  7 Druckereien. 
Garderoben  und  Bedürfnissanstalten  waren  nach  Ge- 
schlechtern getrennt  in  57,  nicht  getrennt  in  10  Druckereien; 
Garderoben  sind  nicht  vorhanden  in  5 und  fraglich  bleibt  es  in 
2 Druckereien.  Abgesonderte  Räume  zum  Aufenthalte 
während  der  Arbeitspausen  waren  vorhanden  in  13,  nicht 
vorhanden  in  62  und  fraglich  ist  es  in  2 Druckereien.  Die 
T r epp  e nein  rieh  tu  ng  war  als  genügend  bezeichnet  von  57, 
als  ungenügend  von  10  Druckereien;  über  mangelhafte  Beleuch- 
tung derselben  wird  geklagt  in  1 und  unermittelt  blieb  es  in 
2 Druckereien;  im  Parterre  befinden  sich  7 Druckereien. 

Weibliche  Bahnwärter.  Seitens  der  preussischen  Eisen- 
bahndirektionen wurden  an  die  verheiratheten  Bahnwärter 
Anfragen  gerichtet,  ob  die  Ehefrau  des  Betreffenden  bereits 
aushüifsweise  Bahnwärterdienste  verrichtet  hat,  ob  sie  sich 
dazu  eignet  und  eventuell  den  Dienst  eines  Bahnhülfs- 
wärters  übernehmen  wolle.  Falls  letzteres  zutrifft,  soll 
den  Ehefrauen  für  diese  Hülfsleistung  eine  Remuneration 
von  70 — 90  Pf.  per  Tag  bezahlt  werden.  An  der  Altona- 
Kieler  Bahn  haben  sich  bereits  eine  Anzahl  verheiratheter 
Bahnwärter  und  deren  Ehefrauen  bereit  erklärt,  den  Dienst 
in  dieser  Art  zu  versehen.  Die  Frau  soll  dann  den  Tag- 
und  der  Mann  den  Nachtdienst  übernehmen. 

Enquete  über  die  Ruhetage  auf  den  französischen 
Eisenbahnen.  Der  Minister  der  öffentlichen  Arbeiten  hat 
die  französischen  Eisenbahnverwaltungen  nach  der  Anzahl 
der  Ruhe-  und  Urlaubstage  ihrer  Angestellten  im  Jahre  1891 
und  zwar  nach  den  verschiedenen  Arbeitskategorien  sowohl 
für  das  ganze  Jahr,  als  für  die  Monate  März  und  September  be- 
fragt, in  denen  der  Verkehr  am  schwächsten,  beziehentlich  am 


276 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  22. 


stärksten  ist.  Die  Ruhetage  und  die  Urlaubszeit  sollen  ge- 
sondert angegeben  werden.  Die  Zeiten  der  Suspendirung 
vom  Amte  und  Krankheitstage  sollen  nicht  als  Ruhe  und 
Urlaub  angegeben  werden.  Als  Ruhetage  sollen  für  die 
zur  Nachtarbeit  nicht  Herangezogenen  diejenigen  gelten, 
an  welchen  die  Angestellten  Vom  Morgen  bis  zum  Abend 
dienstfrei  sind. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Ein  schweizerisches  Arbeiterprogramm  Bei  dem  am 

1.  Mai  zum  ersten  Male  auf  Grund  des  Proportionalwahl- 
systems stattgefundenen  Grossraths  wählen  im  Kanton  Neuen- 
burg erzielte  die  Arbeiterpartei  eine  beträchtliche  Ver- 
mehrung ihrer  Sitze  im  kantonalen  Parlamente.  Ihre  Ver- 
treter wurden  auf  Grund  eines  ausführlichen  Programms 
gewählt. 

In  kantonalen  Angelegenheiten  verlangten  die  Ar- 
beiter: 

1.  Gruppirung  der  Gewerkschaften,  behufs  Einfüh- 
rung der  obligatorischen  Berufsgenossenschaften  als  dem 
einzig  wirksamen  Mittel  zum  Schutze  des  Vereinsrechts. 
Dieses  für  den  Fall,  wenn  die  Eidgenossenschaft  sich  nicht 
baldigst  mit  dieser  Frage  beschäftigen  würde. 

2.  Allgemeine  Einführung  des  Handfertigkeitsunter- 
richts in  den  Primarschulen,  sowie  Vermehrung  der  Hand- 
werksschulen, welche  in  demjenigen  Masse  stets  noth wen- 
diger werden,  als  die  Fabriken  die  kleinen  Werkstätten 
verdrängen,  den  Familienvätern  die  Möglichkeit  benehmen, 
ihre  Kinder  ein  Handwerk  gründlich  erlernen  zu  lassen  und 
die  Pflanzschule  von  tüchtigen  zur  künftigen  Entwicklung 
der  Industrie  nöthigen  Arbeiter  vernichten. 

3.  Umgestaltung  unseres  ganzen  Steuersystems. 

4.  Obligatorische  staatliche  Mobiliarversicherung. 

5.  Erlass  eines  Gesetzes,  das  die  Unentgeltlichkeit  der 
Beerdigung  einführt. 

6.  Wahl  der  Ständerathsmitglieder,  des  Staatsrathes 
und  der  Richter  durch  das  Volk,  und  obligatorisches  Refe- 
rendum für  die  Gesetze. 

7.  Endlich  verlangen  sie  nochmals  und  fortwährend 
die  Aufhebung  von  Absatz  5 des  Artikel  20  des  Gemeinde- 
gesetzes betreffend  die  Beschränkung  des  allgemeinen 
Stimmrechts. 

In  eidgenössischer  Angelegenheit  wollen  die  Neuen- 
burgischen Arbeiter  trachten,  solche  Vertreter  zu  wählen, 
die  aus  allen  Kräften  die  Einführung  der  obligatorischen 
Berufsgenossenschaften  unterstützen,  welche  zu  gehöriger 
Organisation  und  Ausübung  der  obligatorischen  Alters-, 
Krankheits-  und  Unfallversicherung,  sowie  zum  Schutze 
des  Vereinsrechts  unumgänglich  nothwendig  sind. 

Sie  verlangen  die  Revision  des  Fabrikgesetzes,  um 
die  achttägige  Äusbezahlung  des  Arbeitslohnes  einführen 
zu  können,  sowie  den  Normalarbeitstag  von  zehn  Stunden 
und  denjenigen  von  acht  Stunden  für  gefährliche  und  ge- 
sundheitsschädliche Industrien.  Ferner  die  Ausdehnung 
dieses  Gesetzes  auf  alle  Arbeiter  und  namentlich  wirk- 
samere Anwendung  desselben. 

Die  baldigste  Einführung  einer  Vorschrift  in  das  Haft- 
pflichtgesetz, welche  die  Arbeitgeber  verpflichtet,  ihre  An- 
gestellten bei  einer  Versicherungsgesellschaft  versichern  zu 
lassen,  scheint  ihnen  ebenfalls  geboten,  so  lange  die  staatliche 
Versicherung  noch  nicht  besteht. 

Die  Neuenburgische  Arbeiterpartei  erklärt  sich  als 
Anhängerin  der  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen  auf  dem 
Wege  des  Rückkaufes  um  den  wirklichen  Werth  derselben. 
Sie  verbindet  sich  mit  den  schweizerischen  Arbeitervereinen, 
welche  den  Schutz  des  Vereinsrechtes  anstreben  und  sich 
für  die  Arbeiterfrage  interessiren.  Letztere  scheint  ihnen 
zu  einem  kleinen  4 heile  gelöst  zu  werden  durch  die  Re- 
gelung des  Normalarbeitstages  unter  Berücksichtigung  der 
durch  die  Maschinen  verursachten  Ueberproduktion  und 
durch  Bevorzugung  der  schweizerischen  Arbeiter 
bei  öffentlichen  Unternehmungen. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Verband  deutscher  Bergarbeiter.  Nach  dem  vorliegenden 
Rechnungsabschluss  hatte  die  Kasse  des  Deutschen  Bergarbeiter- 
verbandes in  der  Zeit  vom  18.  September  1891  bis  28.  März  1892 
bei  222  Zahlstellen  eine  Gesammteinnahme  von  33  050  M. ; hier- 
von entfallen  auf  die  Mitgliederbeiträge  30  515  M.  Die  Ausgaben 
betrugen  in  derselben  Zeit  26  926  M.  und  zwar  14  399  M.  für  den 
Druck  der  Fachzeitung,  4800  M.  für  Verwaltungskosten,  3828  M. 
für  Rechtsschutz,  2117  M.  tür  Agitation  u.  s.  w.  Der  Verband 
hat  gegenwärtig  ein  Vermögen  von  28  000  M.  Die  Einnahmen 
sind,  wie  der  beigefügte  Bericht  ausführt,  um  einige  Tausend 
Mark  höher  als  beim  letzten  Rechnungsabschluss. 

Kontrolleure  zur  Ueberwachung  des  Wagennullens 

Da  die  Bergwerks-Gesetzgebung  in  betreff  des  Wagen- 
nullens den  hier  ausser  allem  Zweifel  berechtigten  Forde- 
rungen der  Arbeiter  nicht  entsprochen  hat,  wollen  die 
Arbeiter  des  Dortmunder  Reviers  Kontroleure  auf  allen 
Zechen  selbst  anstellen.  Ueber  das  Verhalten  d er  Unter- 
nehmer zu  diesen  Absichten  der  Arbeiter  verlau  tet  bisher 
nichts.  Im  Interesse  der  Ruhe  in  den  Bergwerksbezirken 
w’äre  es  wohl  sehr  empfehlenswerth,  wenn  den  Arbeitern 
keine  Schwierigkeiten  gemacht  würden.  Eine  Behinderung 
der  Kontrolle  würde  das  Misstrauen  der  Arbeiter  in’s  Mass- 
lose  steigern. 

Tarifkommission  im  deutschen  Buchdruckergewerbe. 

Obgleich  sich  die  Gehilfen  einer  Reihe  von  Gauen,  so  der  von 
Berlin-Brandenburg  und  des  Königreichs  Sachsen  gegen  die  Wahl 
von  Gehilfenvertretern  ausgesprochen  haben  (s.  Sozialpolitisches 
Centralblatt  No.  18,  S.  227  fg.),  entschlossen  sie  sich  aus  taktischen 
Rücksichten  doch  zur  Wahl  zu  schreiten,  um  die  Einsetzung 
der  seitens  der  Prinzipalität  vorgeschlagenen  Gehilfenvertreter 
zu  verhindern.  Soweit  die  Resultate  vorliegen,  sind  überall  mit 
erdrückenden  Majoritäten  die  früheren  Gehilfenvertreter  wieder-, 
gewählt  worden.  Damit  ist  die  Tarifkommission  formell  wieder 
hergestellt  worden,  aber  sie  wird  kaum  in  absehbarer  Zeit  in 
Aktion  treten  können,  da  die  Gehilfenvertreter  Passivitätspolitik1 
treiben  dürften. 

1 

Rechnungsabschluss  der  Hirscli-Duncker’schen  Verbands-1 

hassen  für  das  erste  Vierteljahr  1892.  Die  58 144  Mitglieder1 
leisteten  einschliesslich  eines  Saldos  von  1396,16  M an  die  Ver- 
bandskasse 3730,71  M.  und  blieben  an  dieselbe  506,05  M.  schuldig, 
der  Organkasse  gingen  einschliesslich  eines  Saldos  von  3543,30  M. 
8808,71  M zu,  3611,09  M.  sollen  derselben  noch  zugehen.  Die 
Auslagen  der  Verbandskasse  beliefen  sich  auf  2556,92  M.,  der 
Organkasse  auf  6406,97  M.  Seitens  der  Verbandskasse  wurden' 
für  Agitation  511,36  M.  und  für  Gehalte  und  Entschädigungen; 
1466,60  M verausgabt  _ < j 

Das  Vermögen  der  Verbandskasse  beläuft  sich  auf! 
43  752,28  M.,  in  der  Organkasse  auf  20  201,74  M.,  das  der  Druck- 
sachenkasse auf  1135,64  M.,  dass  der  drei  Kassen  zusammen  auf; 
65  089,66  M. 

Zum  Ausstand  der  Kohlenarbeiter  in  Durham.  Da 

die  Arbeitgeber  die  von  den  Arbeitern  beantragte  Lohn- 
herabminderung  um  10  pCt.  verworfen  haben  und  eine 
solche  von  13  pCt.  verlangen,  haben  die  Arbeiter  eine 
Kundgebung  erlassen,  in  welchem  sie  jede  Verantwortlich- 
keit in  diesem  Kampfe  den  Arbeitgebern  zuschieben 
und  erklären,  sie  seien  entschlossen,  den  Ausstand  fortzu- 
setzen. _ j 

Eine  Versammlung  des  Lancashire  und  Cheshire  Berg- 
arbeiterbundes beschloss  eine  Versammlung  der  Nationalen 
Vereinigung  der  Bergarbeiter  zum  Zwecke  einer  allgemeinen 
Steuerauflage  einzuberufen  zur  Unterstützung  des  Aus- 
standes der  Bergarbeiter  in  Durham. 


Handwerkerfragen. 

Handwerkerkammern  in  Baden.  In  der  Sitzung  des 

badischen  Landtages  vom  17.  Mai  ist  der  von  uns  früher 
ausführlich  besprochene  Regierungsentwurf  eines  Gesetzes, 
die  Einführung  von  Gewerbekammern  in  Baden  betreffend 
(vergl.  No.  5 "und  6 des  Sozialpolitischen  Centralblattes i 
von  hier  Kammer  in  folgender  Fassung  angenommen 
worden : 

㤠 1.  Behufs  Vertretung  der  Interessen  des  handwerks- 
mässigen  Kleingewerbes  können  Gewerbekammern  als  für  sich 


No.  22. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


277 


bestehende  Organe  oder  in  Verbindung  mit  Handelskammern 
bei  Zustimmung  der  Mehrheit  der  betheiligten  Gewerbetreibenden 
einer  Gemeinde  oder  einer  Mehrzahl  von  Gemeinden  gebildet 
werden.  Den  gesondert  gebildeten  Gewerbekammern  kommt  die 
rechtliche  Stellung  juristischer  Personen  zu.  i?  2.  Zur  Erfüllung 
der  ihnen  zugewiesenen  Aufgabe  können  die  Gewerbekammern 
auf  Hebung  des  Kleingewerbes  abzielende  Anträge  und  Wünsche 
an  die  zu  deren  Erledigung-  geeigneten  Behörden  richten  und 
sind  verpflichtet,  diese  Behörden  in  der  Förderung  des  Klein- 
gewerbes, insbesondere  durch  thatsächliche  Mittheilungen  und 
Erstattung  von  Gutachten  zu  unterstützen,  sowie  alljährlich  über 
Lage  und  Gang  des  Kleingewerbes  in  ihrem  Bezirke  während 
des  vorhergegangenen  Jahres  an  das  Ministerium  des  Innern 
Bericht  zu  erstatten.  Auch  können  dieselben  zur  Mitwirkung 
bei  der  Leitung  und  Beaufsichtigung  von  der  Förderung  des 
Gewerbes  dienenden  öffentlichen  Anstalten  und  Einrichtungen 
herangezogen  werden  Die  Gewerbekammern  sollen,  so  weit 
thunlich,  vor  gesetzlicher  oder  behördlicher  Regelung  von  wich- 
tigeren, die  Interessen  des  Kleingewerbes  unmittelbar  berührenden 
Angelegenheiten  mit  ihrer  gutachtlichen  Aeusserung  gehört  wer- 
den. § 3.  Die  Feststellung  der  Bezirke  und  Sitze  der  Gewerbe- 
kammern, die  Bildung  von  Abtheilungen  für  einzelne  oder  meh- 
rere Orte  des  Bezirks,  oder  für  einzelne  Gewerbegruppen,  die 
Bestimmung  über  die  Zahl  der  Mitglieder  der  Kammer  bezw.  der 
angeordneten  Abtheilungen  derselben,  erfolgt  nach  Erhebung  der 
in  den  betheiligten  Kreisen  bestehenden  Wünsche  durch  Ver- 
fügung des  Ministeriums  des  Innern.  Nähere  Bestimmungen  über 
die  Einrichtung  der  Abtheilungen  und  über  das  Verhältniss  der- 
selben zur  Kammer,  als  deren  Organe  sie  zu  dienen  haben,  werden 
durch  Satzung  der  Letzteren  mit  Zustimmung  des  Ministeriums 
getroffen.  § 4.  Die  Mitglieder  der  Gewerbekammer  werden  in 
geheimer  Abstimmung  durch  einfache  Stimmenmehrheit  von  den 
selbständigen  Gewerbetreibenden  des  Kammerbezirks  gewählt, 
welche  1.  bewegliche  Sachen  für  Andere  handwerksmässig  her- 
stellen,  bearbeiten  oder  verarbeiten  und  zur  Gewerbesteuer  nicht 
oder  mit  weniger  als  10  000  M.  veranlagt  sind;  2.  bei  Nichtzu- 
treffen  der  vorstehenden  Bestimmungen  ihre  Aufnahme  in  die 
Wählerliste  selbst  beantragen.  Das  Wahlverfahren  wird  durch 
Verordnung  geregelt.“  §5,  zweiter  Absatz  soll  lauten:  „Auf  das 
Wahlrecht  können  verzichten  diejenigen  Gewerbetreibenden, 
welche  nicht  zur  Gewerbesteuer  veranlagt  sind  und  auch  kein 
steuerbares  Einkommen  aus  Gewerbebetrieb  haben,  das  700  M. 
oder  mehr  beträgt“,  sowie  als  Absatz  3:  „Frauenspersonen,  welche 
ein  in  der  Regel  nur  von  solchen  betriebenes  Gewerbe  ausüben.“ 
§ 6,  zweiter  Absatz  soll  eingefügt  werden:  „Ausgenommen  sind 
die  nach  § 4 Ziffer  2 freiwillig'  den  Wahlberechtigten  der  Ge- 
werbekammer beigetretenen  Gewerbetreibenden.  § 7.  Wählbar 
zum  Mitglied  einer  Gewerbekammer  sind  die  nach  dem  § 4 in 
Verbindung  mit  dem  § 5 wahlberechtigten  Gewerbetreibenden, 
wenn  sie  das  25.  Lebensjahr  zurückgelegt  haben  und  im  Kammer- 
bezirk wohnen  Doch  können  bei  Erfüllung  der  sonstigen  Vor- 
aussetzungen auch  solche  Personen  gewählt  werden,  welche 
früher  ein  selbständiges  Gewerbe  betrieben  haben.  § 8 Die 
Kammermitglieder  verwalten  ihr  Amt  als  ein  Ehrenamt,  doch 
erhalten  sie  für  ihre  Auslagen  bei  Dienstreisen  eine  angemessene 
Entschädigung.  Die  Wahl  derselben  erfolgt  auf  6 Jahre,  alle  3 
Jahre  scheidet  die  Hälfte  der  Mitglieder  aus.  Die  Austretenden 
sind  sofort  wieder  wählbar.  Wenn  innerhalb  einer  Wahlperiode 
einzelne  Stellen  in  der  Kammer  durch  Tod,  Verlust  der  Wähl- 
barkeit, freiwilligen  Austritt  oder  in  Folge  von  Ablehnung  einer 
Wahl  nach  beendigtem  Wahlverfahren  erledigt  werden,  so  werden 
sie  durch  Wahl  der  Kammer  für  den  Rest  der  Wahlperiode  be- 
setzt. § 9.  Die  Gewerbekammer  wählt  aus  ihrer  Mitte  je  für  3 
Jahre  einen  Vorsitzenden  und  dessen  Stellvertreter.  Scheidet 
einer  derselben  früher  aus.  so  erfolgt  für  den  Rest  seiner  Amts- 
dauer eine  Ersatzwahl.  Die  Gewerbekammer  bestellt  ferner  einen 
Schriftführer  (Sekretär)  und  einen  Kassenführer.“  §§  12  und  13 
(Kassenwesen),  § 14  (Verbindung  der  Gewerbekammer  mit  einer 
Handelskammer)  und  i(§  15  und  16  (allgemeine  Bestimmungen) 
unverändert  nach  der  Regierungsvorlage. 

Damit  ist  der  Regierungsentwurf  ohne  wesentliclie 
Verbesserungen  und  mit  allen  seinen  Lücken  und  Halbheiten 
zum  Gesetz  geworden.  Die  badischen  Gewerbekammern 
werden  nur  fakultative  Einrichtungen  sein,  die  zwischen 
Innungen  und  freien  Vereinen  herumschwanken,  sehr  geringe 
Befugnisse  haben,  nicht  einmal  zu  bestimmten  Fragen  von 
der  Regierung  gehört  werden  müssen,  durch  eventuelle 
Verbindung  mit  dem  Grossgewerbe  und  Handel  für  die 
ohnedies  schwachen  Handwerker  wenig  Interesse  haben, 
eines  ständigen  Bureaus  und  guter  Hilfskräfte  entbehren, 
also  auch  für  die  Statistik  wenig  leisten  können,  und  ausser- 
dem reine  Unternehmervertretungen  ohne  Berücksichtigung 
der  Gehilfen  sein  sollen.  Eine  grössere  Zahl  von  Mängeln 
kann  man  kaum  in  einem  Gesetze  zusammenhäufen. 

Schweizerisches  Gewerbegesetz.  Seit  ca.  10  Jahren 
wird  in  der  Schweiz  die  Nothwendigkeit  des  Erlasses  eines 
Gewerbegesetzes  diskutirt.  Die  Frage  der  korporativen 
Gliederung  und  die  Stellung  der  kleinen  Betriebe  zum 
1 Fabrikgesetz  bilden  die  Hauptpunkte  der  Erörterung. 


Die  am  12.  Juni  stattfindende  Delegirtenversammlung  der 
schweizerischen  Gewerbevereine  wird  sich  wieder  mit 
diesen  Fragen  befassen.  Der  Central  Vorstand  wird  An- 
träge vorlegen,  welche  davon  ausgehen,  dass  die  Aus- 
dehnung des  Fabrikgesetzes  auf  Handwerk  und  Klein- 
gewerbe bereits  die  zulässige  Grenze  überschritten  habe 
und  zur  Regelung  der  weiteren  Verhältnisse  ein  Gewerbe- 
gesetz nöthig  sei.  Von  einem  solchen  Gewerbegesetz 
erwartet  der  Gewerbeverein  die  staatlich  geregelte  und 
geschützte  Organisation  des  Gewerbestandes  in  Berufs- 
genossenschaften und  Genossenschaftskammern,  die  für 
alle  Genossenschafter  bindende  Beschlüsse  zu  fassen  das 
Recht  haben  sollen. 

Zu  der  Frage  eines  schweizerischen  Gewerbegesetzes 
hat  nun  auch  eine  Versammlung  des  Vereins  schweize- 
rischer Buchdruckereibesitzer  Stellung  genommen.  Die- 
selbe erklärte: 

1 . Die  Schaffung  eines  schweizerischen  Gewerbegesetzes 
ist  ein  dringendes  Bedürfniss.  2.  Durch  dieses  Gesetz  ist 
die  Bildung  obligatorischer  Berufsgenossenschaften  zu  er- 
möglichen. 3.  Es  soll  jedem  Gewerbe  freigestellt  sein,  sich 
als  obligatorische  Berufsgenossenschaft  zu  organisiren  und 
den  Befähigungsnachweis  für  neu  hinzukommende  Arbeit- 
geber und  Arbeitnehmer  einzuführen.  4.  Ueber  die  Organi- 
sation seiner  Gewerbeverfassung  entscheidet  jedes  Gewerbe 
selbst,  vorbehaltlich  Genehmigung  durch  den  Bundesrath. 
5.  Das  allgemeine  schweizerische  Gewerbegesetz  hat  blos 
die  Grundsätze  festzusetzen,  nach  welchen  die  gewerblichen 
Verfassungskammern  zu  wählen  sind.  6.  Vom  Bundesrathe 
genehmigte  Verordnungen  der  obligatorischen  Gewerbe- 
genossenschaften haben  Gesetzeskraft.  7.  Als  obligatorische 
Genossenschaften  organisirte  Gewerbe  haben  die  Fürsorge 
für  die  arbeitslosen  Gewerbegenossen  zu  übernehmen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe. 

Am  1.  Juli  d.  J.  sollen  die  Bestimmungen  der  Ge- 
werbeordnungsnovelle über  die  Sonntagsruhe  der  Handlungs- 
gehilfen in  Kraft  treten.  Bekanntlich  dürfen  nach  diesen 
Bestimmungen  Handlungsgehilfen  an  Sonn-  und  Feier- 
tagen nicht  länger  als  fünf  Stunden  beschäftigt  werden. 
Durch  statutarische  Bestimmung  einer  Gemeinde  kann  je- 
doch die  Beschäftigung  für  alle  oder  einzelne  Zweige  des 
Handelsgewerbes  auf  kürzere  Zeit  eingeschränkt  oder  ganz 
untersagt  werden.  Die  Stunden,  während  welcher  die  Be- 
schäftigung stattfinden  darf,  werden  unter  Berücksichtigung 
der  für  den  öffentlichen  Gottesdienst  bestimmten  Zeit,  durch 
die  Gemeinde-  bezw.  Polizeibehörde  festgesetzt.  Für  Ge- 
werbe, deren  vollständige  oder  theilweise  Ausübung  an 
Sonn-  und  Festtagen  zur  Befriedigung  täglicher  oder  an 
diesen  Tagen  besonders  hervortretender  Bedürfnisse  der 
Bevölkerung  erforderlich  ist,  können  Ausnahmen  zugelassen 
werden.  Zu  diesen  Gewerben  gehören  vor  Allem  Fleischer-, 
Bäcker-,  Cigarren-  und  Blumengeschäfte. 

In  den  Verhandlungen  des  Reichstages  wurde  bei  Be- 
rathung  der  betreffenden  Paragraphen  ein  Unterschied 
zwischen  kleinen  und  grossen  Städten  gemacht.  Es  wurde 
angeführt,  dass  die  Geschäftsleute  der  kleineren  Städte 
durch  die  vorgeschlagenen  Massregeln  schwer  geschädigt 
werden  würden,  weil  die  Landbevölkerung  gerade  am  Sonn- 
tage nach  dem  Gottesdienste  ihre  Einkäufe  zu  machen 
pflege,  und  man  glaubte  daher,  das  Offenhalten  der  Läden 
auch  für  einen  Theil  des  Nachmittags  freigeben  zu  müssen. 
Aber  man  bedachte  dabei  nicht,  dass,  soweit  es  sich  um 
den  Einkauf  nothwendiger  Waaren  handelt,  dieser  auch  vor 
dem  Gottesdienste  erfolgen  kann,  und  dass  der  Gottesdienst 
im  allgemeinen  schon  um  1 1 Uhr,  in  vielen  katholischen 
Geg-enden  auch  schon  früher  schliesst.  Handelt  es  sich  aber 
um  den  Einkauf  nicht  nothwendiger  Waaren,  zu  dem  die 
ländliche  Bevölkerung  bei  längerem  Verweilen  in  der  Stadt 
durch  häufig  nicht  ganz  zu  billigende  Mittel  angereizt 


278 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  22. 


wird,  .so  kann  die  Beschränkung  der  Verkaufszeit  vielleicht 
eher  als  eine  wirthschaftspolitisch  weise  Massregel  be- 
zeichnet werden.  Vor  allem  aber  ist  in  Betracht  zu 

ziehen,  dass  das  Verbot  des  Offenhaltens  von  Verkaufs- 
läden über  eine  bestimmte  Zeit  hinaus  lediglich  im 
Interesse  der  Angestellten  beabsichtigt  worden  ist.  Ohne 
Zweifel  würde  sich  das  Publikum  an  die  neue  Regelung  in 
gar  nicht  zu  langer  Zeit  gewöhnen  Noch  ist  das  Ergeb- 
niss  nicht  bekannt,  welches  die  Ermittelungen  der  Behörden 
in  den  kleineren  Städten  über  diesen  Punkt  gehabt  haben, 
aber  es  muss  noch  einmal  mit  aller  Schärfe  darauf  hinge- 
wiesen werden,  wie  nothwendig  die  Sonntagsruhe  auch  für 
die  Handlungsgehilfen  ist,  die  in  kleineren  Ortschaften  in 
der  Regel  während  der  Woche  eine  längere  Arbeitszeit 
haben  als  in  grösseren. 

Für  die  letzteren  ist  die  Frage  eine  noch  brennendere 
als  für  die  ersteren,  da  in  den  grossen  Städten  an  die 
Arbeitsleistung  der  Handlungsgehilfen  während  der  Woche 
erheblich  höhere  Anforderungen  gestellt  werden  als  in  den 
kleineren.  Eine  geringe  Anzahl  grosser  Städte  ist  nun  be- 
reits mit  der  Regelung  der  Sonntagsruhe  vorgegangen  und 
zwar  ganz  richtig  in  der  Weise,  dass  eine  Beschäftigung 
nur  bis  zum  Beginn  des  Frühgottesdienstes  stattfinden  darf. 
Aber  für  die  meisten  grossen  Städte  steht  die  Entscheidung 
bislang  noch  aus.  Der  berliner  Magistrat  z.  B.  will  zunächst 
an  der  fünfstündigen  Arbeitszeit  festhalten,  so  dass  der 
Schluss  der  Geschäfte,  da  der  Gottesdienst  auf  die  Zeit 
von  8—10  Uhr  fällt,  etwa  um  2 Uhr  erfolgen  würde.  Zwar 
hat  er  sich  an  die  kirchliche  Behörde  mit  dem  Ersuchen 
gewandt,  den  Gottesdienst  auf  1 1 Uhr  zu  verlegen,  um 
dann  den  Schluss  auf  diese  Zeit  anberaumen  zu  können.  Aber 
ob  die  Kirchenbehörde  diesem  Ersuchen  stattgeben  wird, 
ist  mehr  als  zweifelhaft.  Und  nun  fragt  es  sich:  Ist  für 

grosse  Städte  und  ist  insbesondere  für  Berlin  das  Often- 
halten  der  Läden  bis  in  den  Nachmittag  hinein  nöthig? 
Darauf  können  wir  auf  Grund  der  thatsächlichen,  jetzt  be- 
stehenden Verhältnisse  mit  „Nein“  antworten. 

Eine  Enquete,  welche  der  Vorsitzende  des  „Kauf- 
männischen und  gewerblichen  Hilfsvereins  für  weibliche 
Angestellte  in  Berlin“  unter  dessen  Mitgliedern  über  ihre 
Lage  ')  veranstaltet  hat,  ergiebt  in  Hinsicht  auf  diesen 
Punkt  folgendes:  Es  wurden  etwa  1800  Fragebogen 

versandt,  von  denen  gegen  1000  ganz  oder  theilweise 
ausgefüllt  zurückkamen  Die  Frage  über  die  Sonntags- 
arbeit  haben  915  Mitglieder  beantwortet.  Davon  sind  be- 
schäftigt: an  keinem  Sonntag  329,  nur  an  den  Sonntagen 
vor  Weihnachten  25,  nur  in  der  Saison,  in  einzelnen 
Sommer-  und  Wintermonaten  51,  nur  „zuweilen,  selten,  hin 
und  wieder“  62,  jeden  3.  5.  Sonntag  35  bei  einer  durch- 

schnittlichen Arbeitszeit  von  3 Stunden,  jeden  2.  Sonntag 
139  bei  einer  durchschnittlichen  Arbeitszeit  von  31/.,  Stunden, 
jeden  Sonntag  243  bei  einer  durchschnittlichen  Arbeitszeit 
von  4 Stunden.  Es  haben  nur  jeden  3.  Sonntag  frei  9 bei 
einer  durchschnittlichen  Arbeitszeit  von  3 Stunden;  jeden 
2.  Sonntag  haben  l/2  Tag  frei  10. 

Wenn  hier  auch  nur  ein  verhältnissmässig  sehr  kleiner 
Theil  von  den  Handlungsgehilfinnen  Berlins  vertreten  ist, 
so  lassen  die  Ergebnisse  aus  obigen  Zahlen  doch  immerhin 
einen  Schluss  auf  die  bisherige  Gestaltung  der  Sonntags- 
ruhe im  Berliner  Handelsgewerbe  zu.  Denn  einmal  sind 
fast  alle  Arten  des  kaufmännischen  Betriebes  hier  vertreten, 
und  sodann  sind  die  Verhältnisse  bezüglich  der  Sonntags- 
arbeit erfahrungsgemäss  gerade  in  den  Geschäften  am  un- 
günstigsten, in  welchen  weibliches  Personal  thätig  ist.  Aus 
der  angeführten  Tabelle  ergiebt  sich  nun,  dass  mehr  als 
ein  Drittel  völlige  Sonntagsruhe  hat,  und  rechnet  man  noch 
die  nächsten  drei  Kategorien  hinzu,  so  zeigt  sich,  dass  mehr 
als  die  Hälfte  keine  oder  doch  nur  immerhin  ausnahms- 
weise Sonntagsarbeit  hat.  Die  Arbeitszeit  für  die  übrige 
Hälfte  beträgt  aber  höchstens  durchschnittlich  4 Stunden. 
Diese  Durchschnittssumme  ist  jedoch  wesentlich  beeinflusst 


worden  durch  einige  Angestellte,  welche  am  Sonntag  den 
ganzen  Tag  hindurch  arbeiten  müssen.  Jedenfalls  zeigen 
die  Zahlen,  dass  es  nicht  auf  unüberwindliche  Schwierig- 
keiten stossen  würde,  wenn  allgemein  die  Beschäftigungs- 
dauer  bis  10  Uhr  Morgens  festgesetzt  würde.  Wir  be- 
merken hierbei,  dass  sich  unter  denen,  welche  jeden  Sonn- 
tag frei  haben  oder  nur  selten  an  diesen  Tagen  beschäftigt 
werden,  nicht  etwa  hauptsächlich  Kontorpersonal,  sondern 
im  Gegentheil  Verkäuferinnen,  Expedientinnen  u.  s.  w.  be- 
finden. 

Allerdings  zeigt  die  Enquete  auch  unerfreuliche  Ver- 
hältnisse. Unter  denjenigen  nämlich,  welche  Sonntag  die- 
selbe Arbeitszeit  haben  wie  an  Wochentagen,  befinden  sich 
in  der  Mehrzahl  Verkäuferinnen  in  Butter-  und  Fleischer- 
geschäften sowie  in  Bäckereien.  Für  diese  Gewerbearten 
sollen  aber  Ausnahmen  von  den  allgemeinen  Bestimmungen 
über  Sonntagsarbeit  zulässig  sein,  und  die  Behörden  einiger 
grosser  Städte,  z.  B.  Berlins,  gehen  damit  um,  von  diesen 
Befugnissen  weitgehendsten  Gebrauch  zu  machen,  angeb- 
lich im  Interesse  des  konsumirenden  Publikums.  Damit 
würden  viele  tausend  Gehilfinnen  denn  die  angeführten 
Gewerbearten  beschäftigen  fast  ausschliesslich  weibliches 
Personal  — der  Wohlthat  des  Gesetzes  verlustig  gehen. 
Das  wäre  um  so  mehr  zu  beklagen,  als  die  Arbeitszeit 
dieser  Personen  in  den  Wochentagen  auch  schon  eine  bei 
Weitem  längere  ist  als  die  anderer  Verkäuferinnen.  Die 
Regel  ist  hier  eine  Arbeitszeit  von  6—10  Uhr,  also  16  Stunden, 
und  die  meisten  haben  keine  Tischzeit'  . Auch  sonst  sind 
die  Verhältnisse  dieser  Personen  keine  besonders  günstigen. 
Das  Gehalt  schwankt  zwischen  15 — 25  M.  bei  freier  Station. 
Soll  hier  Alles  beim  Alten  bleiben?  Gerade  hier  liegt  ein 
dringendes  Bedürfniss  vor,  eine  zu  weitgehende  Ausbeutung 
der  Arbeitskraft  zu  verhindern.  Nur  in  einigen  wenigen 
Geschäften  findet  eine  Abwechselung  der  Verkäuferinnen 
in  der  Sonntagsarbeit  statt,  in  der  überwiegenden  Anzahl 
der  Butter-,  Schlächter-  und  Bäckerläden  giebt  es  keinen 
freien  Sonntag  für  die  Angestellten. 

Liegt  aber  auch  wirklich  ein  Interesse  des  „Publikums“ 
für  das  Offenhalten  der  Läden  am  Sonntag  Nachmittag  vor? 
Die  Arbeiterschaft  bildet  doch  wohl  eine  sehr  stattliche 
Mehrheit  dieses  Publikums,  und  die  Arbeiterschaft  würde 
wohl  ihren  Kollegen  im  Kaufmannsgewerbe  den  freien 
halben  Sonntag  gönnen  und  auf  eine  Bequemlichkeit  leicht 
verzichten.  Das  übrige  Publikum  würde  sich  aber  daran 
gewöhnen  müssen,  wie  es  sich  in  anderen  Staaten  daran 
gewöhnt  hat,  ohne  zu  verhungern  oder  sogar  die  Ein- 
schränkung überhaupt  nur  zu  empfinden.  Wollte  man  aber 
Bäckern,  Schlächtern,  Butterhändlern  eine  besondere  Gunst 
erweisen,  indem  man  sie  von  der  allgemeinen  Regel  aus- 
nimmt,  so  würden  vielleicht  andere  Geschäfte  dadurch  ge- 
schädigt. In  den  grossen  Städten  giebt  es  auch  sogenannte 
gemischte  Geschäfte,  z.  B.  Delikatessgeschäfte,  die  doch 
nicht  zum  täglichen  Leben  durchaus  notlnvendige  V aaren 
feilhalten,  oder  die  kleinen  Keller,  in  denen  Gemüse,  Obst, 
Petroleum  Brod  und  Wurst  verkauft  wird.  Verbietet  man 
diesen  das  Offenhalten  des  Ladens,  so  schädigt  man  sie  zu 
Gunsten  der  Bäcker,  Fleischer  und  Butterhändler.  Diese 
Schädigung  wird  um  so  empfindlicher,  als  es  sich  z.  ß.  bei 
den  Kellerinhabern  um  kleine  Leute  handelt,  bei  denen  die 
arme  Bevölkerung  die  Einkäufe  zu  machen  pflegt.  Also 
auch  von  diesem  Standpunkte  aus  ist  es  erwünscht,  dass 
möglichst  wenig  Ausnahmen  gemacht  werden.  Man  will 
auch  für  die  Cigarrenläden  eine  Ausnahme  statuiren.  Dass 
eine  solche  Massnahme  ganz  ungerechtfertigt  wäre,  braucht 
nicht  erst  bewiesen  zu  werden.  Cigarren  sind  kein  unum- 
gänglich nothwendiges  Bedürfniss,  dessen  Anschaffung  jeder- 
zeit ermöglicht  werden  muss.  Die  Verkäufer  in  den  Cigarren- 
geschäften stehen  hinsichtlich  der  Arbeitszeit  auf  der  gleichen 
Stufe  mit  den  Verkäuferinnen  in  Butter-,  Bäcker-  und 
Fleischerläden.  Glaubt  man  für  diese  Gewerbearten  eine 
besondere  Ausnahme  nöthig  zu  haben,  so  würde  es  vollauf 


')  Die  gesammten  Ergebnisse  dieser  Enquete  sollen  später 
in  einer  Broschüre  veröffentlicht  werden.  Die  folgenden  Zahlen 
sind  mir  von  dem  Vorsitzenden  gütigst  zur  Verfügung  gestellt. 


l)  Da  nur  von  wenigen  Personen  der  bezeichneten  Gewerbe 
in  der  Enquete  Angaben  gemacht  worden  sind,  so  sind  die  letzte- 
ren durch  private  Ermittelungen  des  Verfassers  ergänzt  worden. 


No.  22, 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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genügen,  das  Offenhalten  der  Läden  bis  3 Uhr  Nachmittag 
7.u  gestatten.  Eine  Bestimmung,  wonacli  die  erste  Hälfte 
des  Nachmittags  frei  bleiben  soll,  während  in  der  zweiten 
Hälfte  eine  Beschäftigung  der  Gehilfen  erlaubt  wäre,  würde 
gar  keinen  Sinn  haben. 

Berlin.  * J.  Silber  mann. 


Ein  internationaler  Kongress  für  Sonntagsfeier  fand 
in  Stuttgart  vom  18. — 20.  Mai  statt.  Auf  der  Tagesordnung 
standen  folgende  Punkte:  Die  Bedeutung  der  Sonntagsruhe 
für  die  leiblichen,  geistigen  und  gesellschaftlichen  Bedürf- 
nisse des  Menschen;  Bericht  des  geschäftsführenden  inter- 
nationalen Komitees  für  Sonntagsfeier  in  Genf;  die  Be- 
deutung der  Sonntagsheiligung  für  den  Einzelnen,  für  das 
Familien-  und  das  Volksleben;  die  Sonntagserholungen; 
die  Sonntagsruhe  und  die  öffentlichen  Verkehrsanslalten 
(Eisenbahnen,  Posten,  Telegraphen  u.  s.  w.);  die  Sonntags- 
ruhe in  der  Industrie,  im  Handel  und  im  Ackerbau;  die 
Pflichten  der  Staats-  und  Gemeindebehörden  gegenüber  der 
Sonntagsfrage;  die  Fortbildungsschule  und  der  Sonntag; 
die  Pflichten  der  christlichen  Kirchen  gegenüber  der 
Sonntagsfrage. 

Die  Kongresstheilnehmer  waren  überwiegend  Reichs- 
angehörige, ausserdem  waren  Schweizer,  Dänen  und  Fran- 
zosen anwesend.  Evangelische  Geistliche  bildeten  die 
Mehrzahl  der  Theilnehmer,  auch  einige  Aerzte  und  höhere 
Verwaltungsbeamte  nahmen  an  den  Verhandlungen  Theil. 

Einstimmig  wurde  folgende  Resolution  angenommen: 

„1.  Zur  Erhaltung  der  Gesundheit  und  Kraft  des 
Körpers  und  Geistes  ist  im  Allgemeinen  ein  wöchentlicher 
ganzer  Ruhetag  nothwendig.  2.  Der  V ortheil  dieses  Ruhe- 
tages wird  nur  dann  für  den  Einzelnen,  wie  für  die  Gesell- 
schaft ein  möglichst  grosser  sein,  wenn  er  für  Alle  gleich- 
zeitig ist.  3.  Die  beste  Anwendung  des  Ruhetages  besteht 
in  einer  theils  erhebenden,  theils  angenehmen  Beschäfti- 
gung des  Geistes,  in  der  Pflege  des  Familienlebens,  im 
Aufenthalt  in  frischer  Luft.  Dagegen  ist  zu  warnen  vor 
dem  übermässigen  Genuss  geistiger  Getränke  und  vor  auf- 
regenden, verflachenden  Vergnügungen.“ 

Ausserdem  wurden  entsprechende  Thesen  über  die 
Sonntagsfeier  vom  religiösen  Standpunkte  angenommen. 
Man  beschloss,  die  Generaldirektion  der  Chicagoer  Aus- 
stellung zu  bitten,  die  Ausstellung  an  Sonntagen  geschlossen 
zu  halten.  Ein  Antrag  des  Pastor  Dalhof  (Kopenhagen)  wo- 
nach an  Sonntagen  der  Ausschank  geistiger  Getränke  ver- 
boten werden  solle,  wurde  angenommen.  Pfarrer  Weber- 
München-Gladbach  betonte  namentlich  das  traurige  Loos 
der  Post-,  Eisenbahn-  und  Telegraphenbeamten  und  ver- 
langte ferner  Befreiung  der  Kellner  und  Kellnerinnen 
vom  Sonntagsdienst.  Es  wurde  beschlossen  die  Kirchen- 
behörden und  Geistlichen  für  die  Sonntagsruhe  zu  inter- 
essiren.  Pfarrer  Kayser-Frankfurt  a.  M.  sprach  in  gemässig- 
ter Form  über  Sonntagserholungen;  er  will  auch  den 
Genuss  von  Bier  und  Cigarren  nicht  versagen 
Pfarrer  Weber  dagegen  plaidirt  für  die  Schliessung 
der  Museen  am  Sonntage,  für  den  „Sonntag  der 
Kellner  und  Kellnerinnen“,  für  das  Verbot  der  Bälle  am 
Samstag  und  Sonntag,  für  Aufhebung  der  Tingeltangel. 

Finanzrath  a.  D.  ~ Klaiber-Stuttgart  referirte  über  die 
Sonntagsruhe  bei  den  öffentlichen  Verkehrsanstalten.  Be- 
züglich des  Eisenbahnverkehrs  sei  zu  erstreben:  Einstellung 
von  Vergnügungs-  und  Extrazügen,  Wegfallen  der  Preis- 
ermässigungen  für  den  Personenverkehr.  Die  Annahme 
und  Abgabe  von  Frachtgütern,  sowie  Beförderung  von 
solchen  habe  zu  unterbleiben  (ausgenommen  seien  lebende 
Thiere  und  leicht  verwesende  Gegenstände).  Den  Ange- 
stellten sollen  mindestens  17  dienstfreie  Sonn-  und  Festtage, 
ohne  die  sonst  zu  beanspruchenden  dienstfreien  Werktage 
gewährt  werden  u.  s.  w.  Den  Forderungen  des  Redners 
trat  v.  Nördling-Paris  entgegen,  weil  sie  auf  internationale 
Verhältnisse  keine  Anwendung  finden  können. 

Mit  geistlichen  Liedern  und  einer  Ansprache  des  Hof- 
predigers a.  D.  Stöcker  wurde  der  Kongress  geschlossen. 

Sonntagsruhe  der  preussischen  Staatsbahnarbeiter. 

Die  preussische  Staatsbahnverwaltung  sucht  die  Sonntags- 
arbeit auf  ihren  Strecken,  wie  schon  früher  mitgetheilt 
(vgl.  No.  17  des  „Sozialpolitischen  Centralblatts“)  weiter 
einzuschränken.  So  wird  aus  dem  Mittelpunkt  des  thürin- 
gischen Eisenbahnverkehrs,  aus  Gera  gemeldet,  dass  von 


15  Güterzügen  dort  seit  dem  1.  Mai  nur  noch  vier  ver- 
kehren. Uebelstände  und  Schwierigkeiten  haben  sich  im 
Güterverkehr  nicht  herausgestellt.  Sollten  sich  die  Nach- 
barbahnen anschliessen,  so  dürfte  zu  erwarten  sein,  dass 
der  Güterverkehr  an  Sonn-  und  Festtagen  überhaupt  ruht. 


Gewerbeinspektion. 

Unfallverhütung  und  Gewerbeinspektion  in  Ungarn. 

In  dem  letzten  Berichte  über  die  Thätigkeit  des  von 
ihm  geleiteten  ungarischen  Handelsministeriums  stellte  der 
kürzlich  verstorbene  ungarische  Handelsminister  mehrere 
sozialpolitische  Vorlagen  in  Aussicht1)  und  zwar  die  Ver- 
mehrung der  gewerblichen  Aufsichtsorgane,  die  gesetzliche 
Regelung  der  Gewerbeinspektion,  die  obligatorische  An- 
meldung von  Unfällen  und  ein  Unfallversicherungsgesetz. 

In  Verbindung  mit  dem  Budget  für  das  Jahr  1892 
wurde  die  Vermehrung  der  Gewerbeinspektoren  gefordert, 
ausserdem  ging  dem  ungarischen  Abgeordnetenhause  ein 
vom  21 . April  d.  J.  datirter  „Gesetzentwurf  über  den  Schutz 
der  gewerblichen  und  Fabrikangestellten  gegen  Unfälle  und 
über  die  Gewerbeinspektoren“2)  zu.  Somit  hat  der  ver- 
storbene Handelsminister,  abgesehen  von  dem  Unfallver- 
sicherungsgesetzentwurfe,  sein  Versprechen  voll  eingelöst. 

Das  Bedürfniss  nach  einer  gesetzlichen  Regelung  der 
Gewerbeinspektion  und  der  Unfallverhütung  ist  in  Ungarn 
ein  dringendes,  beruht  doch  die  nach  jeder  Richtung  durch- 
aus unzulängliche  ungarische  Gewerbeinspektion  lediglich 
auf  ministeriellen  Verordnungen.  Die  Geschäfte  der  Ge- 
werbeinspektion werden  von  Staatsbeamten  im  Nebenamte 
versehen,  und  so  war  es  den  Inspektoren  im  Jahre  1890, 
dem  letzten,  aus  dem  ein  Bericht  vorliegt,  nicht  möglich, 
sämmtliche  Fabriken  und  grössere  Industrie-Etablissements 
des  Landes  zu  untersuchen:  nur  in  7 der  15  ungarischen 
Handels-  und  Gewerbekammerbezirke  wurden  Inspektionen 
vorgenommen,  und  nur  in  4 dieser  Kammerbezirke  wurden 
alle  bezw.  der  grösste  Theil  der  Fabriken  von  den  Inspek- 
toren besucht. 

Ebenso  wie  die  Inspektion  war  auch  die  Unfallspolizei 
durchaus  ungenügend.  Aus  dem  citirten  Berichte  geht 
hervor,  dass  die  meisten  Unfälle  verheimlicht  werden  und 
dass  die  gesetzlichen  Handhaben  — obligatorische  Unfalls- 
anzeige — zur  Zusammenstellung  einer  Unfallstatistik  fehlen. 

o < . ~ 

Diesen  Mängeln  soll  nun  durch  eine  gesetzliche  Reform 
abgeholfen  werden.  Der  zu  diesem  Zwecke  kürzlich  ein- 
gebrachte  Gesetzentwurf  ist  in  folgende  vier  Kapitel  ein- 
getheSt:  I.  Ueber  die  Vermeidung  von  Unfällen  und  über 

die  zum  Schutze  des  Lebens,  der  körperlichen  Unversehrt- 
heit und  Gesundheit  der  Angestellten  nothwendigen  Ver- 
fügungen, II.  Ueber  die  Gewerbeinspektoren,  III.  Von  den 
Uebertretungen,  deren  Bestrafungen  und  den  amtshandeln- 
den Personen,  IV.  Schlussbestimmungen.  Letztere  beziehen 
sich  lediglich  auf  die  Anwendung  des  Gesetzes  auf  Kroatien- 
Slavonien  und  auf  das  Inkrafttreten  des  Gesetzes.  Das 
III.  Kapitel  werden  wir  im  Zusammenhänge  mit  dem  I.  und 
II.  behandeln. 

Das  1.  Kapitel  enthält  die  Bestimmungen  über  die 
Unfallsverhütung  im  weiteren  Sinne  und  über  die  obliga- 
torische Unfallsanzeige.  Diese  beiden  Bestimmungen  seien 
hier  im  Wortlaute  wiedergegeben.  § 1,  al.  I des  Gesetz- 
entwurfes lautet: 

Der  Arbeitgeber  ist  verpflichtet,  bei  jeder  Industrieanlage 
all  das  zu  schaffen  und  aufrechtzuerhalten,  was  mit  Rücksicht 

!)  Wirksamkeit  des  königl. -Ungar.  Handelsministers  im 
Jahre  1890,  Redigirt  von  Dr.  K.  Mandello,  S 387  fg.  u 45  lg.  Siehe 
auch  Sozialpolitisches  Centralblatt  S.  182  fg  : Die  Berichte  der 
ungarischen  Fabrikinspektoren. 

a)  Eine  deutsche  Uebersetzung  dieses  Gesetzentwurfes 
publizirt  der  „Fester  Lloyd“  in  seiner  Abendausgabe  vom  23. 
und  in  seiner  Morgenausgabe  vom  24.  April. 


280 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  22. 


auf  die  Art  der  Anlage  und  des  Betriebes  und  den  Erfordernissen 
derselben  entsprechend  im  Interesse  des  Schutzes  des  Lebens, 
der  körperlichen  Unversehrtheit  und  Gesundheit  der  Angestellten 
nothwendig  ist. 

Hierauf  folgt  (Absatz  a bis  i)  die  Aufzählung  der 
einzelnen  Einrichtungen,  zu  denen  die  Unternehmer  speziell 
verpflichtet  werden. 

§ 7 lautet: 

Der  Arbeitgeber  ist  verpflichtet,  jeden  in  dem  Industrie- 
etablissement vorgekommenen  Unfall,  welcher  die  Verletzung 
eines  oder  mehrerer  Angestellten  nach  sich  gezogen  hat,  inner- 
halb 48  Stunden  nach  dem  Unfall  dem  kompetenten  Gewerbe- 
inspektor anzumelden. 

Die  Bestimmung  des  § 1 , al.  1 ist  einwandfrei,  dagegen 
hätte  man  bei  der  Anführung  der  speziellen  Verpflichtungen 
eine  präzisere  Sprache  anwenden  sollen,  wenn  auch  zuge- 
standen werden  kann,  dass  dies  bei  der  Mannigfaltigkeit  der 
gewerblichen  Betriebe  und  der  verschiedenartigen  Erforder- 
nisse zur  Unfallverhütung  in  denselben  nicht  leicht  möglich 
ist.  In  einzelnen  Fällen  hätte  aber  die  allgemeine,  jede 
Auslegung  zulassende  Textirung  unschwer  vermieden  werden 
können,  so  z.  B.  im  § 1 g der  von  der  Ventilation  handelt. 
Hier  wird  die  Zuführung  eines  „genügenden“  Luftquantums 
gefordert,  obgleich  auf  Grund  der  wissenschaftlichen  Er- 
gebnisse und  der  praktischen  Erprobung  ein  Luftquantum 
pro  Kopf  der  im  betreffenden  Raume  thätigen  Personen 
und  eine  bestimmte  Zahl  von  Lufterneuerungen  entsprechend 
der  Arbeitszeit  als  Minimum  durch  das  Gesetz  hätte  ge- 
fordert werden  können.  Wenn  eine  solche  Bestimmung 
naturgemäss  auch  bei  alten  Fabrikanlagen  auf  Schwierig- 
keiten der  Durchführung  stossen  würde,  so  böte  sie  doch 
den  Vortheil,  dass  Neu-  und  Umbauten  von  Fabriken 
nur  unter  Berücksichtigung  dieser  Bestimmungen  vorge- 
nommen werden  könnten.  Den  unteren  Gewerbebehörden, 
in  Ungarn  fast  ausnahmslos  Organe  der  Selbstverwaltung, 
ist  leider  in  der  Hauptsache  die  Sorge  für  die  Durchführung 
dieser  Bestimmungen  überlassen  worden.  Eine  Reihe  von 
Geldstrafen  (50  fl.,  100  fl.  und  höchstens  300  fl.)  werden  als 
Zwangsmassregeln  im  Gesetze  festgesetzt.  Wir  glauben, 
dass  hier,  wo  es  sich  um  Schutz  des  Lebens  und  der  Ge- 
sundheit der  Arbeiter  handelt,  wenigstens  für  wiederholte 
Uebertretungen  Haftstrafen  am  Platze  gewesen  wären.  In 
dem  Gesetzentwürfe  vermissen  wir  auch  die  Bestimmung, 
dass  die  Gewerbebehörden  die  nothwendigen  Unfallver- 
hütungseinrichtungen auf  Kosten  des  Unternehmers  im 
Falle  der  Widersetzlichkeit  desselben  vornehmen  dürfen 
bezw.  müssen.  Eine  derartige  Bestimmung  würde  schon 
als  Drohung  die  Durchführung  der  erforderlichen  Einrich- 


tungen zum  Zwecke  der  LTnfallverhütung  garantiren. 


Die  Bestimmung  betreffend  die  Unfallverhütung  hat 
vor  ähnlichen  Bestimmungen  in  anderen  Ländern  den  Vor- 
zug, dass  die  Anzeige  direkt  an  den  kompetenten  Gewerbe- 
inspektor zu  gelangen  hat  und  nicht  erst  demselben  auf 
dem  Instanzenwege  verspätet  zukommt.  Im  Interesse  einer 
erfolgreichen  Untersuchung  des  Unfalles  und  einer  nicht 
blos  auf  die  Summirung  und  topographische  Vertheilung 
der  Unfälle  sich  erstreckenden  Statistik  sollten  genaue  Dar- 


stellung der  Ursachen  und  begleitende  Umstände  des  LTn- 


falles  gefordert  werden  und  die  Unternehmer  zur  genauen 
Angabe  aller  Zeugen  des  Unfalles  verpflichtet  werden. 

Der  umfangreichste  Theil  des  Gesetzentwurfes 
(Kapitel  I)  regelt  die  V erhältnisse  der  Gewerbeinspektoren, 
aber  nicht  vollkommen,  so  enthält  er  keine  Bestimmungen 
über  die  Rangklasse  der  Beamten,  über  ihre  Crehalte1), 
Reisediäten  über  eventuell  ihnen  zur  Verfügung  stehendes 
Kanzleipersonal,  über  den  Termin,  an  dem  sie  ihre 
Berichte  einzuliefern  haben  u.  a.  m.  Ein  Centralgewerbe- 
inspektor oder  regelmässige  Konferenzen  der  Inspektoren 
zum  Zwecke  der  einheitlichen  Handhabung  ihres  Dienstes 
sind  im  Gesetze  nicht  vorgesehen.  Es  wird  lediglich 
bestimmt , dass  die  Inspektoren  dem  Handelsminister 
untergeordnet  sind.  In  Bezug  auf  die  Ernennung  der  Be- 
amten hat  sich  der  Handelsminister  freie  Hand  gelassen, 


')  Diese  sollen  im  Budget  festgestellt  werden. 


indem  der  Entwurf  bestimmt,  dass  neben  Personen  mit 
akademischer  und  polytechnischer  Vorbildung  auch  die- 
jenigen zu  Gewerbeinspektoren  ernannt  werden  können, 
die  „auf  Grund  ihrer  früheren  Thätigkeit  zu  der  Voraus- 
setzung berechtigen,  dass  sie  im  Stande  sein  werden,  den 
in  diesem  Gesetze  vorgeschriebenen  Verpflichtungen  zu 
entsprechen,“  somit  wird  kein  gesetzliches  Hinderniss  im 
Wege  stehen,  Aerzte,  Frauen,  Arbeiter  u.  s.  w.  zu  Ge- 
werbeinspektoren zu  ernennen.  Der  Handelsminister  behält 
sich  vor,  mit  einzelnen  Arbeiten  der  Gewerbeinspektion 
die  Centralorgane  seines  Ministeriums  oder  auch  andere 
Fachmänner  zu  betrauen. 

Neben  der  Gewerbeinspektion  im  engeren  Sinne  haben 
die  Inspektoren  an  den  „Industrie-Entwicklungsagenden“ 
mitzuwirken  und  in  allen  gewerblichen  Angelegenheiten 
vorzugehen,  mit  welchen,  sei  es  ein  besonderes  Gesetz,  sei 
es  eine  Verordnung,  die  Gewerbeinspektoren  betrauen  wer- 
den. In  dieser  Bestimmung  scheint  uns  die  Hauptschwäche 
des  Entwurfes  zu  liegen.  Die  merkantilistische  Politik  der 
Industrieentwicklung  und  die  sozialpolitische  Thätigkeit  der 
Gewerbeinspektion  mögen  wohl  in  einem  Lande  neben- 
einander gehen  können,  nimmermehr  können  aber  mit 
beiden  gleichzeitig  dieselben  Personen  betraut  werden. 
Die  Politik  der  Industrieentwicklung  bezweckt  die  Förde- 
rung der  Unternehmerinteressen,  die  Aufgabe  der  Ge- 
werbeinspektoren besteht  in  der  Wahrung  der  gewerbe- 
gesetzlich gewährleisteten  Arbeiterinteressen.  Das  da  ein 
Pflichtenstreit  häufig  entstehen  kann  und  wird,  ist  ebenso 
zweifellos  wie  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  die  Inspektoren 
im  Geiste  der  ungarischen  Gewerbepolitik  in  einem  solchen 
Pflichtstreite  eher  die  Unternehmer-,  als  die  Arbeiterinter- 
essen wahrnehmen  werden,  verpflichtet  sie  doch  der  Ge- 
setzentwurf, „die  auf  die  unmittelbare  Förderung  der  In- 
dustrieentwicklung gerichteten  Momente  im  Auge  zu  be- 
halten.“ Die  einzelnen  in  dem  Entwürfe  nach  dieser  Rich- 
tung festgestellten  Aufgaben  der  Gewerbeinspektoren 
scheinen  zwar  die  Thätigkeit  der  Inspektoren  nicht  stören 
zu  müssen,  dagegen  wird  dies  durch  die  allgemeine  An- 
weisung im  Interesse  der  Industrieentwicklung  thätig  sein 
zu  sollen,  unzweifelhaft  herbeigeführt.  Zum  Mindesten 
werden  aber  die  Inspektoren  durch  diese  ausser  ihrem 
eigentlichen  Amtskreise  liegenden  Aufgaben  von  ihren 
speziellen  Berufspflichten  abgezogen.  Sind  sie  doch  ins- 
besonders  verpflichtet: 

,,a)  Die  in  ihrem  Bezirke  befindlichen  sämmtlichen 
gewerblichen  Lehrwerkstätten  von  Zeit  zu  Zeit  zu  unter- 
suchen und  die  Thätigkeit  derselben  zu  kontroliren;  b)  in 
den  niederen  Gewerbe-(Lehrlings-)Schulen  von  Zeit  zu  Zeit 
zu  erscheinen  und  den  Gang  des  Unterrichts  zu  kontro- 
liren; c)  auf  die  entsprechende  Verwendung  der  den  In- 
dustrieunternehmungen gebotenen  Unterstützung,  sowie  da- 
rauf zu  achten,  ob  von  den  der  staatlichen  Begünstigung 
theilhaftigen  Fabriken  jene  Bedingungen  erfüllt  werden,  an 
welche  die  staatlichen  Begünstigungen  gebunden  wurden; 
d)  in  den  in  Betreff  der  Entwicklung  der  Hausindustrie 
ihnen  übertragenen  Agenden  vorzugehen.“ 

In  Bezug  auf  die  Fabrikeninspektion  werden  die 
Beamten  verpflichtet,  die  Durchführung  der  Arbeiter- 
schutzbestimmungen zu  kontrolliren,  „insbesonders“  für 
die  Unfallverhütung  Sorge  zu  tragen  und  zu  diesem 
Zwecke  die  ihnen  unterstellten  Etablissements  „wenigstens 
einmal  (im  Jahre?)  zu  untersuchen“.  Ihrer  Beaufsichtigung 
sind  von  besonderen  Aufträgen  des  Ministers  abgesehen, 
unterstellt  sämmtliche  gewerbliche,  land-  und  forstwirth- 
schaftliche  Motorenbetriebe,  ferner  alle  gewerblichen  Be- 
triebe, welche  regelmässig  20  und  mehr  Arbeiter  beschäf- 
tigen, ausserdem  ohne  Rücksicht  auf  die  Zahl  der  Ange- 
stellten und  die  Verwendung  von  Motoren  18  speziell  durch 
hohe  Unfalls-  und  Erkrankungsgefahr  ausgezeichnete  Be- 
triebsarten, deren  Ergänzung  bezw.  Abänderung  dem  Ver- 
ordnungswege Vorbehalten  wird. 

Die  Fabriken  des  Staates  so  z.  B.  die  der  Tabakmono- 
polverwaltung dürfen  nur  im  Falle  der  ausdrücklichen  Ge- 
stattung seitens  des  Finanzministers  inspizirt  werden.  Nach 
dem,  was  über  die  Lohn-  und  sonstigen  Verhältnisse  in  den 


Ko.  22. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


281 


ungarischen  Tabakfabriken  (s.  Sozialpolitisches  Centralblatt 
No.  2,  S.  21)  in  die  Oeffentlichkeit  gedrungen  ist,  können  wir 
die  Scheu  des  ungarischen  Finanzministeriums  vor  der  Fabrik- 
inspektion wohl  begreifen,  aber  desto  stärker  erscheint  die  N oth- 
wendigkeit,  diese  Zustände  amtlich  untersuchen  zu  lassen. 
Eine  derartige  Ausnahmestellung  der  Staatsbetriebe  hindert 
in  hohem  Masse  die  Durchführung  des  Gesetzes  auch  bei 
den  Privatbetrieben  und  muss  Zwyeifel  in  Bezug  auf  den  Ernst 
der  sozialpolitischen  Absichten  der  Regierung  entstehen  lassen. 

Den  ungarischen  Inspektoren  sind  keine  exekutiven 
Rechte  eingeräumt,  sie  haben  lediglich  die  Unternehmer 
auf  wahrgenommene  Mängel  aufmerksam  zu  machen,  sind 
ihnen  gegenüber  zu  Anleitung  und  sacbgemässen  Rath  ver- 
pflichtet, können  aber  nicht  die  Abstellung  von  Gesetz- 
widrigkeiten oder  Gefahren  für  die  Arbeiter  einfach  an- 
ordnen und  direkt  erzwingen;  sie  sind  berechtigt,  Lokal- 
und  Gewerbebehörden,  behördliche  Aerzte  und  Staatsbau- 
ämter zur  Unterstützung  heranzuziehen. 

Erfreulich  ist,  dass  die  ungarischen  Gewerbeinspek- 
toren zu  sozialstatistischen  Erhebungen  verpflichtet  sind. 
Auch  können  sie  mit  schiedsgerichtlichen  und  anderen 
friedlichen  Beilegungen  von  Arbeitsstreitigkeiten  betraut 
weiden;  bei  der  Verhandlung  über  genehmigungspflichtige 
Anlagen  haben  sie  mitzuwirken. 

.So  sehr  der  Gesetzentwurf  nach  mancher  Richtung 
verbesserungsfähig  ist,  so  muss  doch  anerkannt  werden, 
dass  gegenüber  dem  bisherigen  Stande  der  sozialen  Ver- 
waltung in  Ungarn  mit  demselben  ein  beachtenswerther 
Schritt  nach  vorwärts  gemacht  würde.  Dass  er  sobald  ge- 
macht wird,  ist  wegen  des  Todes  seines  energischen  Ur- 
hebers nicht  anzunehmen. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Armenwesen. 


Das  Armenwesen  der  Stadt  Berlin  im  Etatsjahr  1890/91. 

Dem  Berichte  der  städtischen  Armenpflege  für  die  Zeit  vom 
1.  April  1890  bis  31.  März  1891  (No.  VIII  des  Verwaltungsberichts 
des  Magistrats  zu  Berlin,)  entnehmen  wir  die  folgenden  Daten. 
Die  gesetzliche  offene  Armenpflege  wurde  von  234  (1889/90:  230) 
Armenkommissionen  ausgeübt;  in  denselben  waren  2385  (1889/90: 
2362)  Personen  thätig.  Für  das  gesammte  Armenwesen  wurden 
verausgabt  10  953  676,93  M.  (1889/90:  9 759  039,24  M.),  hiervon 
durch  Einnahmen  gedeckt  1 757  620,44  M.  ( 1889/90:  1 516  997,55  M.), 
somit  musste  die  Gemeinde  Zuschüsse  leisten  in  der  Höhe  von 
9196056,49  M.  (1889/90:  8242041,69  M.).  Die  Ausgaben  stiegen 
gegen  das  Vorjahr  um  12,24%,  die  Einnahmen  um  15,86%  und 
die  Kommunalzuschüsse  um  11,57% 

Für  die  gesetzlich  offene  Armenpflege  und  die  geschlossene 
Armenpflege  für  körperlich  Kranke  wurden  5 164  763,23  M.  ver- 
ausgabt, von  denen  4 678  945,48  M.  durch  Kommunalzuschüsse 
gedeckt  werden  mussten;  die  Waisenverwaltung  kostete 
917  659,34  M.  (Kommunalzuschuss  740  868,48  M.),  das  Arbeitshaus 
in  Rummelsburg  562  617,21  M.  (Kommunalzuschuss  311  195,01  M.), 
das  städtische  Obdach  144  432,72  M.  (Kommunalzuschuss  136  050,17 
Mark),  die  städtische  Irren  - Verpflegung  und  Idiotenanstalt 
1 892  593,83  M.  (Kommunalzuschuss  1 638  334,79  M.j,  die  städtischen 
Einrichtungen  für  die  öffentliche  Gesundheitspflege  und  für 
Heimstätten  für  Genesende  279  109,24  M.  (Kommunalzuschuss 
218  283,72  M.).  Der  Rest  des  Etats  wurde  für  die  städtischen 
Krankenhäuser  und  Siechenanstalten  verausgabt. 

Die  absoluten  Ausgaben  für  Almosen,  Pflegegeld  und 
Extraunterstützungen  sind  in  ununterbrochener  Steigerung  be- 
griffen. Sie  betrugen  1887:  281  275  M.;  1888:  294405  M.;  1889: 
307  355  M.;  1890:  329  125  M.;  1891:  345  600  M.  Hingegen  sank  der 
Antheil  der  Bevölkerung  an  den  Unterstützungen  ununterbrochen 
von  1,81  11  o der  mittleren  Civilbevölkerung  im  Etatsjahre  1886/87 
auf  1,72  n/n  im  Etatsjahre  1890/91.  Laufend  unterstützt  wurden 
monatlich  durchschnittlich  im  Etatsjahre  1890/91:  19  087  (1889/90: 
18409)  Almosenempfänger  und  7751  (1889/90  : 7840)  Pflegekinder. 
Der  Geldbetrag  der  Unterstützung  betrug  monatlich  für  einen 
Almosenempfänger  12,31  M.  (1889/90:  12,08  M.)  und  für  ein  Pflege- 
kind 5,98  M.  U 889/90:  5,91  M.). 

Nach  der  Almosenliste  standen  von  den  am  31.  März  1891 
vorhandenen  19  610  Almosenempfängern  in  einem  Alter: 
unter  20  Jahren  . . 58  Personen,  gleich  0,30% 

von  20—  40  . . 880  „ „ 4,49% 

über  40—  50  „ 1588  „ „ 8,10% 

,,  50-  60  „ . 3112  „ „ 15,87  % 


über  60 — 70  Jahren  . . 

„ 70-  80  ' „ 

„ 80-  90  „ . . 

„ 90-100  „ . . 

Nach  Stand  und  Beruf 
empfänger,  von  denen 

5 1 19  männlichen  und 
14  491  weiblichen  Geschlechts 
waren,  in  folgende  Klassen: 
frühere  Beamte  und  Lehrer  . . 

Künstler,  Gelehrte,  Litteraten  . 
handeltreibende  Personen  . . . 
gewerbetreibende  Personen  . . 

Handarbeiter  . . 

ohne  Angabe  des  Standes  . . 

unverehelichte  Frauenspersonen 

Ehefrauen 

separirte  odereheverlassene  Frauen 


7417  Personen,  gleich  37,82% 

5568  „ „ 28,39  % 

952  „ „ 4,85% 

35  „ _ „ 0,18%. 

sondern  sich  die  19  610  Almosen- 


34 

66 

535 

2246 

2186 

52 

1981 

222 

796 


Personen,  gleich  0,17% 
» „ 0,34»/ 

„ V 2,73  0/« 

„ 11,450/J 

„ „ 11,15% 

„ 0,27  % 

„ 10,10% 

„ 1,13% 

„ , 4,06°/ 

Wittwen 11492  ” ” 58’60"/“ 

Die  Höhe  der  monatlichen  Almosenunterstützung  variirte 
ganz  ausserordentlich,  zwischen  den  Sätzen  von  bis  3 M,  welche 
20  Personen  (0.1  % der  Almosenempfänger)  und  über  30  M, 
welche  8 Personen  (0,04%''  zugebilligt  wurden.  Die  Mehrzahl 
der  unterstützten  Personen  (10  949  = 55,8%)  erhielten  ein  monat- 
liches Almosen  in  der  Höhe  von  9 — 15  M.,  ein  geringeres  als 
dieses  erhielten  5123  Personen  (26,12%),  ein  höheres  3538  Per- 
sonen (18,08%). 

Für  5783  (72,08n/o)  Pflegekinder  wurden  Beiträge  in  der  Höhe 
von  je  6—6,50  M.,  für  1 680  (20,93%)  niedrigere  von  3—3,50  M. 
und  für  561  (6,99%)  höhere  bis  über  10  M.  bewilligt 

Hinsichtlich  der  allgemeinen  Ursachen  der  LTnterstützungs- 
bedürftigkeit  ergeben  die  Almosenlisten,  dass  von  den  19  610 
Almosenempfängern 

11  101  oder  56,61  % wegen  hohen  Alters  (über  65  Jahre) 


6 029 
2 480 


30,74  7(1 
12,65  % 


unterstützt  wurden. 


andauernder  Krankheit  oder  Siech- 
thums und 

nicht  zureichenden  Erwerbes  oder 
nicht  genügender,  beziehungsweise 
mangelnder  Erwerbsfähigkeit 


Neu,  beziehungsweise  wieder  aufgenommen  wurden  im 
Jahre  1890  91  3 657  Älmosenempfänger  und  2 596  Pflegekinder, 
während  aus  der  städtischen  Armenpflege  2822  Almosenempfänger 
und  2 508  Pflegekinder  ausschieden. 

Im  Interesse  der  Armenkrankenpflege,  welche  für  59117 
arme  Kranke  (18  °/o  Männer,  53  % Frauen  und  29%  Kinder)  zu 
sorgen  hatte,  waren  63  besoldete  und  34  unbesoldete  Armenärzte 
thätig  Auf  je  1 000  Civileinwohner  kamen  38  Armenkranke 
Aus  den  armenärztlichen  Jahresberichten  geht  hervor,  dass  die 
Wohnungen  der  Armenkranken  im  Ganzen  besser  geworden 
sind.  Die  Neubauten,  in  denen  die  Armen  allerdings  oft  die 
Trockenwohner  sind  und  der  Fortschritt  der  Kanalisation  tragen 
dazu  bei.  Die  Kellerwohnungen  sind  theils  verschwunden,  theils 
besser  geworden.  Aber  es  sind  auch  noch  viele  neue  kasernen- 
artige Gebäude  entstanden  mit  bis  zu  drei,  oft  kleinen  engen, 
Luft  und  Licht  beeinträchtigenden  Höfen.  Man  findet  oft  genug 
noch  Keller,  besonders  in  alten  Häusern,  die  zu  tief  liegen,  um 
Luft  und  Licht  einlassen  zu  können,  gemeinsame  Korridore 
(oft  für  3 bis  4 Familien),  die  Wohnungen  zumal  des  Nachts 
mit  Schlafleuten  überladen  und  unsaubere  Höfe.  Schwere  Klagen 
über  Gesundheitswidrigkeit  bezw.  Unsauberkeit  kommen  aus  der 
Sorauer,  Oppelner,  Memeler,  Reichenberger  Strasse,  der  Kreuz- 
berg- und  Gitschiner  Strasse,  aus  der  Wall-,  Brandenburg-, 
Wasserthorstrasse,  ferner  aus  der  Straussberger,  Weber-,  Schle- 
gel-, Tieck-,  Eichendorff-  und  Reinickendorfer  Strasse.  Selbst 
m der  Friedrichstadt  finden  sich,  zumal  in  älteren  Hinterhäusern, 
noch  vereinzelt  Wohnungen,  die  keiner  hygienischen  Forderung 
entsprechen.  Geschlossen  wurde  je  eine  Kellerwohnung  in  der 
Köpenicker  und  Demminer  Strasse,  ferner  wurde  auf  ärztlichen 
Antrag  eine  nasse,  stockende  Wohnung  am  Alexanderplatz 
sofort  geräumt. 

Aus  60  Medizinalbezirken  ist  über  die  Höhenlage  von 
48  804  Wohnungen  der  Armenkranken  berichtet  worden.  Danach 
wohnten 


im 

Keller 

6 348  Personen 

mithin 

13%, 

55 

Halbstock  . . . 

356 

55 

55 

1 

55 

Erdgeschoss  . . 

5 829 

5) 

5? 

12 

55 

I.  Stock  . . . 

6611 

55 

)5 

14  „, 

55 

II.  „ ... 

8 033 

55 

55 

16 

55 

III.  „ 

9 759 

55 

55 

20  „, 

55 

IV.  „ . . 

10  956 

55 

55 

22 

55 

V.  „ . . 

893 

55 

55 

2 

55 

VI.  „ ... 

19 

55 

55 

0 „• 

Unter  den  Krankheiten  kamen  wie  in  den  vorangegangenen 
Jahren  am  meisten  Krankheiten  der  Luftwege,  besonders  Lungen- 
schwindsucht zur  Behandlung.  141  Alkoholismen  — 119  bei 
Männern,  22  bei  Frauen  — wurden  notirt.  Die  Zahl  ist  im  Ver- 
hältniss  zur  Zahl  der  Armenkranken,  macht  sie  doch  nur  2.39  %o 
aus,  eine  erfreulicherweise  geringe. 


Verantwortlich  fiir  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin.  — Druck  von  II.  S.  Hermann  in  Berlin. 


282 


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No.  22. 


SPHINX 

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jperanSgegebeti  non 

Hübbe  - Schleiden, 

Dr.  J.  U. 


Sie  ©pf)inj  3äf)lt  ,]u  itjren  fötitarbeitern  eine  Stnjaljl  ber  elften,  tbeal  bcnfettbett  unb 
fdjciftftdlerifd)  tote  fixnftlerifct)  leiftung&fäljigen  grafte  $eutfcf)Ianb§  unb  Oefterrcicf)S,  tote: 

Sans  Slrnolb,  Dr.  ©ugen  ®ret)cr,  2lrtt)ur  ft-ttger,  Dr.  tctugo  ©oering,  Prof.  Dr. 

ruft  fallier,  Dr.  .öartmann,  Äarl  Ä'ieötoettcr,  Dr.  tHapb.  Dort  Äocber, 

Dr  Subtt).  $uf)Ienbecf,  Dr.  uart  bu  sJ>rel,  Üötll).  Steffel,  ^3.  Ä.  Stofegger,  iötorik 
ßarrtere,  ©eorg  ©berö,  SKartiit  ©reif,  ©buarb  o.  ,?>artmann  (mit  2lus>naf)nte  ber 
llnfterbtidifeitöfrage ),  £>tto  0.  Sfeijner,  Hermann  o.  Singg,  ©mit  ^efctjfttu,  3utiuS 
©tinbe,  §ans  o.  SSotjogen. 

3ebe§  4t>eft  enthält  eine  ober  jmei  fiinftlerifcfje  ^Beilagen,  10030  u.  2t.  tßrof.  ©abriel  SJtaj 
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Soeben  ift  erfd)ieueu  unb  burd]  ade  23ud)()anblunqeu  311  belieben: 

AVilrtC,  £)ie  beleuchtet  burd)  bie  „Stimmen  ait§  9ftaria=8aad)".  8". 

8.  epef t:  ^adtitlcr,  9J?. , S.  J.,  ®ie  Biete  ber  ©ocialbemofratie  unb  bie 
liberalen  $been.  (IV  u.  76  © ) 70  fßf. 

4.  *p  e f t : ilcfjuifut)!,  St.,  S.  J.,  ®ie  fociatc  Stoff)  unb  ber  fird)li(t)e  ©inftuft. 

(IV  u.  80  ©.)  70  S)Sf.  — früher  ift  erfdjienen: 

1.  .&eft:  Wcpcr,  St).,  S.  J.,  Sie  2(r6eiterfvage  mib  bie  i1)riitlid>eti)i{(fien  ©onalpriitcipien.  (IV 
u.  126  ©.)  3Jf.  1. 

2.  Jpefi:  Sebmfubb  2t.,  S,  J.,  ätrbeitsoertrag  unbStiife.  (IV  n.  56  <£.)  50  SJsf. 

(3ebed  Jpeft  ift  einzeln  fäuflidj  ) 


Verlag  der  Manz’schen  k.  und  k.  Hof-Verlags-  und  Universitäts-Buchhandlung  in  Wien. 


Das 

ÖSTERREICHISCHE  STAATSRECHT 

(Verfassungs-  und  Verwaltungsrecht). 

Ein  Lehr-  und  Handbuch 

von 

Dr.  Ludwig  Gumplowicz, 

Professor  in  Graz. 

41  Bogen.  8°.  Preis  broschirt  10  Mark. 

Der  Mangel  einer  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes  hat  (sich  in  den 
letzten  Jahren  insbesondere  in  Folge  einschneidender  Umgestaltungen  und  Neubildungen  auf  dem 
Gebiete  des  österreichischen  Verwaltungsrechtes  nicht  nur  in  Kreisen  der  Studirenden,  sondern 
auch  aller  derjenigen,  die  am  öffentlichen  Leben  theilnehmen,  fühlbar  gemacht.  Es  sei  nur 
darauf  hingewiesen,  dass  seit  den  jüngsten  Neuregelungen  des  Militärrechtes,  des  Gewerberechtes, 
des  Arbeiterschutzrechtes  noch  keine  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes,  welche 
dieselben  berücksichtigen  würde,  erschienen  ist  und  dürfte  daher  obiges  Werk  den  interessirenden 
Kreisen  gewiss  willkommen  sein. 

©in  berbreiteteS,  billiges  uttb 

— Urirkjame«  Jtnreiiions-Bv^an  . 

« „Der  Daniuuetket“ 

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Crflait  beö  (£eittrals2ht£fcf)«ffe£  ber  öereinißteit  3ktmmg&£§erb(tit&e 

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©efeüfd)aft,  23erlitt  W.,  ift  erfetjieuen: 

|it  JMerlitnn'giiiig 
imö  ©tgttiiifnttjn  in  pntl'dilanli. 

2?on 

Dr.  Max  Hirsch, 

Jliuoalf  ber  ©eufldjctt  ©etoerk-l^eretne, 
Mifglirb  bes  Ketdisfages. 

«Preiö  50  «Pf. 

3u  bejiefien  burd)  ölte  2)ud)tjcmb£ungen  unb 
burd)  bie  Grrpebitieu3=©tetten  ber  „2Solf§=3eitung". 
9tacf)  ©tnfenbung  oott  50  ißf.  in  ©riefiunrfen  erfolgt 
bie  3llfenbimg  ber  23rod)ure  franco  per  Jloft  burd) 
bie  ©.rpebitioneL  ©teilen  ber  „23olfS  = Bettung", 
SBertin  W.,  fironenftr.  46,  unb  Sütjoioftr.  105. 


frei  Canti 

pdjenfdjrift  ?nr  lürömniö  einer  friemwien 

§D|iatofürm. 

©rgatt  bes  l&Euifdjen  Bunbes  für  Boben- 
beftkreform. 

(Srfdieint  jeben  »tontag. 

\ 

;■  i 

2t  bonnemen  tdbebingungen: 

23ei  alten  ißoftanftatten  (2tr.  2272 


ber  fPoftäeitungslifte)  ....  2)1 1.  0,80 
Söei  birefter  Sreu3baiib|enbung: 

tn  5)eutfd)tanb  unb  Defterretd) . „ 1,20 

im  SßettpoftDerein „ 1,50  i 

3n  23erlin  bet  freier  Bufenbung  . . „ 1,— 


(Expedition 

ß.  % rrhö,  StaHfd|rrürßr|!r.  55. 


3.©Uttrnfag,  2Serlagsbnd)banbluug  in  föertin. 


©oebett  erfdpen: 


unb 


UropflLtionaliualjleti. 

©in  üeberblicf  über  bereit  ©pfteme,  Verbreitung, 
fßegrüttbung 

oon 

Dr.  ^etnrtd)  Sfpftn, 

o.  ö.  S)3rofeffor  für  ©taat§red)t  unb  ©eutfcbe6  2ied)t 
an  ber  Unioerfitat  fj-rei&urg  i.  23r. 

Preis  1 Mark. 


Dieser  Nummer  liegt  ein  Prospekt 
über  die  Fortführung  von  Meyers  Kon- 
versations-Lexikon, Verlag  des  biblio- 
graphischen Instituts  iu  Leipzig,  bei. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  6.  Juni  1892. 


Nummer  23. 


SOZIALPOLITISCHES 


C E 


TRALB  LAT 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentap-,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T 


Die  soziale  Bedeutung  der 
Währungsfrage.  Von  Dr. 
Julius  Landesberger. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik : 

Gross-  und  Kleinbetriebe  in  der 
schweizerischen  Fabrikindustrie. 

Einfluss  der  Lohnhöhe  auf  die 
Geschäftslage. 

Wanderung  ostpreussischer  Land- 
arbeiter nach  Bayern. 

Massregeln  gegen  den  Kontrakt- 
bruch ländlichen  Gesindes. 

Bezahlung  städtischer  Arbeiter  in 
London. 

Arbeiterzustände : 

Beseitigung  der  Kinderarbeit  durch 
die  Technik. 

Die  Lage  der  in  den  Gärtnereien 
Erfurts  beschäftigten  Arbeiter. 

Haushalt  einer  Arbeiterfamilie  in 
Bayern. 

Arbeitszeit  in  der  thüringischen 
Hausindustrie. 

Die  Arbeitsdauer  in  den  Wiener 
Fabriken. 

Erhebungen  über  Frauenarbeit  im 
Kanton  St.  Gallen. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Der  Erfurter  Schuhmacherstrike 
vom  Jahre  1890. 

Strike  in  der  nordböhmischen 
Hausindustrie. 

Organisation  der  deutsch-schweize- 
rischen Buchdrucker 

Ende  des  Bergarbeiterausstandes 
in  Durham. 

Eröffnung  der  Pariser  Central- 
Arbeitsbörse. 

Unternehmerverbände: 

Die  Oelsnitz  - Gersdorf  - Lugauer 
Steinkohlenbergwerke. 


Arbeitszeitbeschränkung  in  der 
sächsischen  Stickereiindustrie. 

Land  wirthschaft  liehe  Genossen- 
schaften. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Zur  Ausführung  der  neuen  Ge- 
werbeordnung für  das  Deutsche 
Reich. 

Bergarbeitergesetzgebung  in  Baden. 

Zur  Berggesetznovelle. 

Sonntagsruhe  für  das  berliner 
Bäckerge  werbe. 

Schutzvorschriften  für  ländliche 
Arbeiter. 

Sonntagsruhe  der  Eisenbahnbe- 
diensteten. 

Folgen  des  Ruhetagsgesetzes  für 
die  schweizerischen  Eisenbahnen. 

Arbeiterversicherung: 

Revision  der  ortsüblichen  Tage- 
löhne nach  dem  neuen  Kranken- 
versicherungsgesetz. 

Die  Photographie  im  Dienst  der 
Unfallversicherung. 

Höhere  Entschädigung  von  Unfällen 
bei  weiblichen  Arbeitern. 

Krankenversicherung  der  Dienst- 
boten in  Baden 

Zur  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherung der  Seeleute. 

Vereins-  und  Fabrikkassen  in 
Ungarn. 

Gewerbegerichte , Einigungs- 
ämter  u.  Arbeiterausschüsse: 

Arbeiterausschüsse  in  Oesterreich. 

Wohinmgszustände  und  Woli- 
nungsgesetzgebnng : 

Wohnungsgesetzgebung  im  Gross- 
herzogthum Hessen. 

Wohnungsverhältnisse  im  Regie- 
rungsbezirke Königsberg  i.  Pr. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtliclier  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  soziale  Bedeutung  der  Währungsfrage. 

Die  Deform  des  Geldwesens  in  Oesterreich-Ungarn 
hat  die  allgemeine  Währungsfrage,  wenn  auch  auf  be- 
schränktem Gebiete,  wieder  aufgerollt.  Die  Monarchie  ist 
zwar  wirthschaftlich  nicht  mächtig  genug,  um  — gleich 
England  und  den  "Vereinigten  Staaten  — durch  ihre  Ent- 
schliessungen  die  internationale  Währungsfrage  materiell 


entscheidend  zu  beeinflussen ; allein,  da  sie  nicht,  wie  Italien, 
durch  Verträge  gebunden  ist  und  ihr  überdies  die  reichen 
währungspolitischen  Erfahrungen  der  letzten  Jahrzehnte 
zu  Gebote  stehen,  so  wird  ihrer  Reform,  je  nachdem  sie 
sich  für  die  reine  Goldwährung  entscheidet  oder  ein 
zwischen  der  letzteren  und  dem  Bimetallismus  vermittelndes 
System  — die  sogenannte  hinkende  Währung  — annimmt, 
ein  bedeutsamer  Einfluss  auf  die  Stellung  der  grossen 
währungspolitischen  Parteien  nicht  abzusprechen  sein. 

Leider  wird  die  Währungsfrage  in  Oesterreich-Ungarn, 
wie  anderwärts,  von  einem  einflussreichen  Theile  der 
öffentlichen  Meinung  vorwiegend  unter  dem  Gesichtspunkte 
eines  finanziell-technischen  Problems  aufgefasst.  Dieser 
Anschauung  ist  es  eigen,  das  Geld  einseitig  als  Instrument 
des  Verkehrs  zu  betrachten;  ihr  gilt  als  das  Merkmal 
eines  gesunden  Währungssystems  die  möglichste  Ein- 
schränkung der  Wechselkursschwankungen,  die  Erleichte- 
rung der  internationalen  Edelmetall-Arbitrage,  die  möglichst 
vollkommene  Einfügung  des  heimischen  Geldmarktes  in  den 
internationalen.  Diese  Auffassung  beherrscht  naturgemäss 
die  Vermittler  des  Geld-  und  Kreditverkehres:  die  Bank- 
und  Finanzkreise;  von  hier  aus  gewinnt  sie  jedoch  grossen 
Einfluss  auch  in  den  übrigen  Kreisen  der  Bevölkerung,  da 
der  Finanzwelt  vermöge  ihrer  Vertrautheit  mit  der  tech- 
nischen Seite  der  Währungsreform  bei  deren  Durchführung 
eine  bedeutsame  Stellung  eingeräumt  werden  muss. 

Allein  eine  Reform  des  Geldwesens  ist  weder  aus- 
schliesslich noch  auch  vorzugsweise  ein  finanziell -technisches 
Problem.  Vielmehr  sind  es  gerade  Gesichtspunkte  ganz 
anderer  Natur,  nämlich  die  Rückwirkung  des  Geldwerthes 
auf  die  Preisbewegung,  die  Abhängigkeit  des  Kapital- 
marktes von  der  Quantität  des  für  den  Kapitalumsatz  ver- 
fügbaren Geldvorrathes,  die  Bedeutung,  welche  Geld- 
werthschwankungen für  die  ökonomische  Lage  der  an  Geld- 
schuldverhältmssen  aktiv  und  passiv  betheiligten  Personen 
besitzen,  — all  diese  Einzelfragen  in  welche  das  Problem 
der  Einwirkung  der  Goldwährung  auf  die  Ein- 
kommensve  rtheilung  zerfällt,  sind  es,  welche  seit  mehr 
als  einem  Jahrzehnte  den  Kern  des  Währungsstreites 
bilden.  Hiergegen  ist  der  Gesichtspunkt  der  Erleichterung 
finanzieller  Beziehungen  zwischen  den  Kulturländern, 
welcher  ehedem  vorherrschte,  als  noch  die  Schaffung  einer 
„Weltmünze“  in  Frage  stand,  völlig  in  den  Hintergrund 
getreten. 

Alle  diese  Beziehungen,  in  welche  das  Geld,  zu 
den  wichtigsten  Faktoren  der  Produktion  und  Einkommens- 
vertheilung  tritt  und  in  denen  sich  die  wirthschaftliche 
und  insbesondere  soziale  Seite  der  Währungsfrage 
äussert , weisen  auf  das  Problem  der  Geldwerth- 


284 


SOZIALE )LITISCHES  CENTRALBLATT 


No.  23. 


ändern ng  hin.  Bekanntlich  steht  die  seit  mehr  denn 
anderthalb  Jahrzehnten  bemerkliche  Thatsache  einer  die 
meisten  Güter  umfassenden,  kontinuirlichen,  nur  zeitweilig 
in  den  Jahren  1880—1883  und  1888—1889  unterbrochenen 
intensiven  Depression  der  Engrospreise  im  Vordergründe 
der  wirthschaftlichen  Betrachtung.  Es  kann  hier  nicht 
unsere  Aufgabe  sein,  für  die  schier  unerschöpfliche  Streit- 
frage, ob  diese  Preisbewegung,  welche  zeitlich  mit  den 
grossen  Währungsreformen  der  Kulturwelt  zu  Gunsten  des 
Goldes  zusammenfällt,  auch  ursächlich  aut  dieselben  zu- 
rückzuführen ist,  neues  Material  herbeizuschaffen.  Die  eng- 
lische Gold  and  Silver  Kommission,  welche  ihre  Unter- 
suchung im  Jahre  1888  abschloss,  hat  bekanntlich  mit 
gleichgetheilten  Stimmen  die  Ursachen  der  Preisbewegung, 
die  eine  Partei  auf  Seite  des  Geldes,  die  andere  auf 
der  Waarenseite  gesucht.  Der  freie  internationale  Pariser 
Kongress  von  1889,  dessen  Resultate  Laveleye  in  seinem 
literarischen  Vermächtnisse:  „T.a  monnaie  et  le  bimetallisme 
international“  verwerthete,  hat  sich  allerdings  überwiegend 
zu  Gunsten  der  ersteren  Ansicht  erklärt;  allein  seine 
bimetallistische  Zusammensetzung,  der  Zweck  seiner  Ein- 
berufung mögen  hierfür  vielleicht  entscheidend  gewesen 
sein.  Die  endgültige  Lösung  dieses  Problems  bleibt  der 
indischen  Statistik  Vorbehalten,  da  in  diesem  Silber- 
währungsgebiete lediglich  die  auf  der  Waarenseite  ge- 
legenen preisbestimmenden  Momente  zur  Geltung  kommen 
konnten. 

Für  unsere  Zwecke  genügt  es,  wenn  wir  die  Geld- 
werthsteigerung auch  nur  als  Kehrseite,  als  das  Correlat 
der  unzweifelhaft  vorhandenen  allgemeinen  Preisdepres- 
sion betrachten.  Eine  Geldwerthsteigerung  auch  nur  in 
diesem  Sinne  gewinnt  nach  zwei  Hauptrichtungen  grosse 
soziale  Bedeutung.  Erstlich  dadurch,  dass  sie  mitwirkt,  das 
P ebergewicht  des  Grossbetriebs  über  die  mittleren  und 
kleinen  Betriebsformen  zu  steigern  und  die  Zerreibung  der 
letzteren,  die  Deklassirung  der  kleinen  selbständigen  Unter- 
nehmer zu  Lohnarbeitern  beschleunigt.  Hierzu  gesellt  sich 
ihre  vorwiegend  ungünstige  Einwirkung  auf  die  Lage 
der  Lohnarbeiter  selbst. 

In  ersterer  Hinsicht  kommt  nicht  bloss  die  Landwirth- 
schaft  in  Betracht,  wiewohl  die  prekäre  Lage  des  mittleren 
und  kleinen  Grundbesitzes  im  Vordergründe  der  währungs- 
politischen Kämpfe  steht.  Man  kann  den  Prozess,  welcher 
sich  unter  dem  Einflüsse  der  Geldwerthsteigerung  auf  lang- 
sichtige Hypothekarschulden  vollzieht  als  Expropriation  des 
Grundeigenthümers  zu  Gunsten  des  Gläubigers,  des  zweiten, 
in  der  Regel  wirthschaftlich  schwächeren  Gläubigers  zu 
Gunsten  des  Vormannes  bezeichnen.  Auch  der  aus  steuer- 
technischen Gründen  kaum  zu  beseitigende  Modus  der 
Grundsteuereinschätzung  für  längere  Perioden  bewirkt  bei 
dieser  Tendenz  des  Geldwerthes  eine  unerwünschte  Steuer- 
progression. Daher  jene  bedenklichen  Erscheinungen, 
welche  in  den  letzten  Jahrzehnten  das  Bedürfniss  nach 
Zollschutz  und  agrarischen  Reformen  zeitigten:  das  rapide 
Anschwellen  der  Bodenbelastung  vornehmlich  in  den  Kreisen 
des  mittleren  und  kleinen  Grundbesitzes  (vergl.  für  Deutsch- 
land und  Oesterreich  neuerdings  W.  Schiff,  Zur  Frage 
der  Organisation  des  landwirtschaftlichen  Kredites  in 
Deutschland  und  Oesterreich,  Leipzig  1892,  p.42ff.),  ferner 
die  auffallend  geringe  Quote,  welche  von  dem  Belastungs- 
zuwachse auf  Meliorationskredit  entfällt;  denn  die  regel- 
mässige Durchkreuzung  der  Produktivitätsberechnungen 
durch  die  Preisbewegung  muss  schliesslich  von  der  Auf- 
nahme neuer  Kapitalien  zu  produktiven  Zwecken  ab- 
schrecken.  Hand  in  Hand  damit  geht  als  ein  weiteres 
sozial  ungünstiges  Symptom  das  stetige  Anwachsen  der  auf 
Besitzkredit  zurückzuführenden  Belastungsquote  (vergl.  a. 
a.  O.  p.  9).  Als  theilweises  Aequivalent  bietet  die  Geldwerth- 


steigerung der  Landwirtschaft  die  sinkende  Tendenz  des 
Zinsfusses,  welche  jedoch  in  der  Form  von  Schuldkon- 
versionen bisher  fast  ausschliesslich  vom  grossen  Grundbe- 
sitze, der  für  die  zu  diesem  Zwecke  neuerdings  geschaffenen 
und  ausgebildeten  Kreditorganisationen  mehr  Verständniss 
zeigt,  ausgenutzt  worden  ist. 

Wesentlich  anderer  Natur  ist  der  Prozess,  vermittelst 
dessen  die  Geldwerthsteigerung  in  den  Kreisen  der  gewerb- 
lichen Produktion  sich  geltend  macht.  Hier  ist  es  nicht 
der  wachsende  Druck  langsichtiger  Geldschulden,  welcher 
schädigend  empfunden  wird;  denn  die  dauernde  Betheili- 
gung fremden  Kapitals  an  industriellen  und  Handelsunter- 
nehmen erfolgt  ungleich  seltener  in  der  Form  von  Schuld- 
verhältnissen als  in  jener  der  Association  (Commandit-, 
stille  Gesellschaft).  Aber  die  kontinuirliche  Preisdepression, 
welche  in  so  vielen  Einzelfällen  den  Geschäftskalkül  durch- 
kreuzt, schwächt  die  Energie  und  Unternehmungslust  im 
Allgemeinen  ab.  Jener  geschäftliche  Optimismus,  der  aller- 
dings die  Entstehung  von  Ueberspekulation  und  Krisen  be- 
günstigt, imAllgemeinen  aber  einen  so  werthvollen,  ja  unent- 
behrlichen Hebel  der  wirthschaftlichen  Entwicklung  bildet, 
macht  einer  schlaffen  Apathie  Platz,  welche  ihr  Heil  in 
Kapitalsanlagen  mit  fixer  Geldrente  sucht.  Diesem  Bedürf- 
nisse kömmt  der  moderne  Militärstaat  in  hohem  Masse  ent- 
gegen. Trotz  aller  Chikanen  durch  Konversionen  u.  s.  w. 
bleibt  das  Kapital  dem  sogenannten  Anlagemarkte  treu  und 
allen  Unternehmungen  abhold,  welche  weit  hinausschauen-  , 
den  Rentabilitätskalkül  voraussetzen.  Als  ein  sozial  her- 
vortretendes Symptom  dieser  Lage  ist  die  wachsende 
Schwierigkeit  des  Emporsteigens  aus  der  Klasse  besoldeter  , 
Hilfsarbeiter  in  jene  selbstständiger  Unternehmer  zu  ver- 
zeichnen. Die  Bedeutung  einer  Periode  fallenden  Geld-  ; 
werthes  findet  St.  Jevons  darin,  dass  „sie  stetig  wachsenden  ; 
Ertrag  jenen  verheisse,  welche  Wohlstand  zu  erwerben  im 
Begriffe  sind  (who  are  making  and  acquiring  wealth),  zum 
Theile  auf  Kosten  derjenigen,  welche  erworbenen  Reich- 
thum gemessen.“  (A  serious  fall  in  the  value  of  gold  ascer- 
tained  and  its  social  effects  set  forth,  London  1863,  Ch.  XXXIII.) 
Der  Kontrast  mit  den  Erscheinungen  der  letzten  Jahrzehnte  j 
ist  unverkennbar.  J 

Auch  die  aus  der  Erschlaffung  des  Unternehmungs-  , 
geistes  leicht  zu  erklärende  sinkende  Tendenz  des  Zins- 
fusses in  den  Kulturländern  paralysirt  diese  ungünstigen 
Einflüsse  nicht.  Sie  ist  ja  selbst  ein  Produkt  der  Steigerung 
des  Geldwerthes,  wie  sich  empirisch  aus  einem  Vergleiche 
mit  der  Zinsfussbewegung  nach  den  grossen  Goldfunden 
der  50  er  Jahre  ergiebt.  Damals  zeigte  sich  nach  dem 
Zeugnisse  Jevons’  (a.  a.  O.  Ch.  XXXI)  parallel  mit  einer 
intensiven  Steigerung  des  Reichthums,  Gewerbfleisses  und 
Unternehmungsgeistes  ein  durchschnittlich  hoher  Zinsfuss, 
der  mitunter  die  enorme  Höhe  von  10%  erreichte  — „und 
all  dies  zur  grössten  Ueberraschung  der  älteren  Generation 
ohne  die  allgemeine  Handelsstockung,  ohne  jene  Einschrän- 
kung des  Kreditverkehrs,  ohne  die  Eluth  von  Bankerotten, 
welche  bis  dahin  so  hohe  Zinssätze  begleitet  hatten.“ 

Die  Bewegung  des  internationalen  Geldmarktes  wäh- 
rend der  letztverflossenen  Dezennien  giebt  der  Anschauung 
jener  „älteren  Generation“,  welche  gleichfalls  in  eine  Pe- 
riode der  Geldwerth  Steigerung  gefallen  war  (1820  bis 
1850),  wieder  Recht.  Die  ungesunde  Ueberfüllung  des 
Geldmarktes  wechselt  überaus  häufig  ab  mit  krisenhaften 
Spannungen,  welche  sich  durch  häufige  und  sprunghafte 
Zinsfusserhöhungen  auf  den  grossen  Geldplätzen  charakte- 
risiren.  Sie  hinterlassen  im  Gegensätze  zu  den  früher  er- 
wähnten Krisen,  längere  Perioden  tiefgreifenden  gewerb- 
lichen und  kommerziellen  Niedergangs.  Diese  Geldkrisen 
werden  theils  bewirkt  theils  verschärft  durch  eine  man- 
gelhafte Unterscheidung  der  Zettelbankpolitik,  welche  ganz 


No.  23. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


285 


allgemein  die  Diskontverschärfung  als  Schutzmittel  gegen 
Goldentziehung  in  Anwendung  bringt,  ohne  zu  unter- 
scheiden, ob  die  letztere  wirklich  einer  Ueberspannung  der 
heimischen  Produktion  und  Spekulation  oder  vielmehr  der 
internationalen  Goldarbitrage  zuzuschreiben  ist,  welche  aus 
spekulativen  Gründen  das  Gold  nach  jenen  Plätzen  zu  ver- 
senden thätig  wird,  wo  die  Krise  zunächst  zum  Ausbruch 
gekommen  ist.  Aber  während  jede  Zinsfusserhöhung  der 
Centralbanken  den  mittleren  und  kleinen  Unternehmer,  für 
welchen  der  offizielle  Banksatz  ausschließlich  das  Mass  des 
Kapitalpreises  bestimmt,  sofort  und  aufs  empfindlichste 
trifft,  ist  für  den  Bankier  und  Kapitalisten  — und  dazu  ge- 
hören jene  Kreise,  welche  an  der  Goldarbitrage  aktiv  theil- 
nehmen  und  gegen  die  eigentlich  die  Diskontpolitik  ge- 
richtet ist  — am  Sitze  der  Centralbank  selbst  der  gewöhn- 
lich noch  beträchtlich  niedrigere  Diskontsatz  auf  offenem 
Markte  massgebend.  Eine  Abhilfe  gegen  diese  die  schwä- 
cheren Kreise  der  selbstständigen  Unternehmer  schwer  be- 
einträchtigende Gestaltung  des  Kapitalpreises  gewährt  die 
französische  Bankpolitik,  welche  neben  der  Diskonterhöhung 
gegen  die  Goldarbitrage  auch  noch  die  Einhebung  einer 
sogenannten  Goldprämie  zum  Schutze  des  Goldbestandes 
in  Anwendung  bringt.  Diese  sogenannte  Prämienpolitik 
stellt  den  Binnengeldverkehr,  an  welchem  vornehmlich  die 
schwächsten  Schichten  betheiligt  sind,  gegen  die  spekula- 
tive Beeinflussung  durch  die  internationale  Goldarbitraee 
sicher.  (Vgl.  des  Verfassers  „Währungssystem  und  Relation“ 
p.  122  ft'.) 

Dazu  kommt  endlich,  dass  steigende  Preise  zwar  zur 
Ausdehnung  des  Betriebes  und  Ueberproduktion  reizen, 
sinkende  hingegen  mitunter  hiezu  zwingen.  Bei  sinken- 
der Preistendenz  kann  nämlich  ein  Betrieb  mitunter  nur 
durch  entsprechende  Ausdehnung  produktiv  erhalten  werden, 
indem  hierdurch  der  vom  Betriebsumfange  relativ  unab- 
hängigste Produktionskostenfaktor,  die  sogenannten  General- 
kosten (Unterhalt  des  Unternehmers,  Steuern,  Passivzinsen 
des  Etablissements)  im  Verhältniss  zu  den  Spezialkosten 
jedes  einzelnen  Produktes  herabgesetzt  werden.  Eine  solche 
Erweiterung  ist  aber  der  Natur  der  Sache  nach  nur  im 
Grossbetriebe  möglich  und  muss  zu  einer  empfindlichen 
Verschärfung  der  Konkurrenz  mit  jenen  Betriebsformen 
führen,  bei  denen  die  persönliche  Arbeit  des  Unternehmers 
in  den  Vordergrund  tritt,  eine  Konkurrenz,  welche  bei 
sinkenden  Preisen  doppelt  empfindlich  wirkt  und  daher  in 
den  betroffenen  Kreisen  den  Wunsch  nach  einer  reaktionä- 
ren Wirthschaftsgesetzgebung  erweckt.  (Vgl.  darüber 
Wasserrab,  Preise  und  Krisen,  pag.  60.  Arendt,  der 
Währungsstreit  in  Deutschland,  pag.  16.  Lexis  in  Conrad’s 
Jahrbüchern,  1885  pag.  340.) 

Was  die  Einwirkung  der  steigenden  Tendenz  des 
Geldwerthes  auf  die  Lage  der  arbeitenden  Klassen  be- 
trifft, so  gehört  diese  Seite  der  Frage  in  Ermangelung  einer 
den  ganzen  kritischen  Zeitraum  seit  1875  umfassenden  verläss- 
lichen Lohnstatistik  der  Goldwährungsländer  zu  den  dun- 
kelsten Partien.  Auch  die  mächtig  fortschreitende  Organi- 
sation der  Arbeiter  in  diesen  Gebieten  trägt  zur  Verdun- 
kelung bei;  denn  sie  bildet  ein  Moment,  welches  dem  Ein- 
flüsse der  Geldwerthsteigerung  auf  die  Lohnhöhe  noth- 
wendig  entgegenwirken  musste,  ohne  dass  die  Intensität 
dieses  Faktors  sich  ziffermässig  bestimmen  Hesse.  Immerhin 
kann  die  von  Tooke  und  Newmarch  gemachte  Beobach- 
tung,  dass  Arbeitslöhne  unter  allen  Tauschgegenständen 
die  letzten  seien,  die  sich  einer  Veränderung  des  Geld- 
wertes anschliesen,  auch  heute  noch  Geltung  bean- 
j spruchen,  ja  heute  in  Folge  der  Organisation  der  Ar- 
| Leiter  in  noch  höherem  Grade.  Demnach  schiene  die 
steigende  1 endenz  des  Geldwerthes  sich  für  die  Lebens- 
haltung der  Arbeiterklasse  vorteilhaft  zu  erweisen.  Das 


ist  in  der  That  auch  die  in  österreichischen  Arbeiterkreisen 
derzeit  vorherrschende  Meinung,  welche  aus  diesem  Grunde 
für  die  Einführung  der  Goldwährung  eintreten;  dies  ist  das 
Argument,  welches  von  Anhängern  eines  hochwertigen 
Goldguldens  z.  B.  dem  Abgeordneten  Neuwirth  ins  Treffen 
geführt  wird.  In  Wahrheit  aber  ist  steigende  Geldwerth- 
tendenz auch  in  diesem  Sinne  antisozial;  nur  dass  ihre 
überwiegend  schädlichen  Wirkungen  viel  verborgener  auf- 
treten,  als  die  günstigen.  Zu  den  ersteren  zählen  wir  den 
Umstand,  dass  die  Detailpreise  sich  dem  Niveau  der  Engros- 
preise, welches  für  die  Lohnhöhe  schliesslich  den  Ausschlag 
geben  muss,  bloss  zögernd  anpassen,  dass  sie  aber  dann 
um  ein  Beträchtliches  hinter  der  sinkenden  Tendenz  der 
Engrospreise  Zurückbleiben,  wenn  der  Konsument  durch 
die  unlöslichen  Bande  des  Konsumtionskredits  an  den  be- 
treffenden Detailhändler  gefesselt  ist.  (Vgl.  Fin.  Report  of 
the  Gold  and  Silver  Commission,  p.  24  No.  62).  Es  wird 
ferner  von  den  arbeiterfreundlichen  Anhängern  des  steigen- 
den Geldwerthes  übersehen,  dass  der  Unternehmer,  wenn 
er  die  Produktionskosten  mit  dem  Produktionserträgniss  nicht 
durch  Herabsetzung  des  Nominallohnes  in  Einklang  bringen 
kann,  dahin  gedrängt  wird,  menschliche  Arbeit  durch  ma- 
schinelle, die  theuere  männliche  Arbeitskraft  durch  Frauen- 
und  Kinderarbeit  zu  ersetzen.  Die  Erfindungsgabe  der 
Techniker  wird  künstlich  auf  die  Bahn  der  arbeitsparenden 
Maschinen  gelenkt;  Frauen-  und  Kinderarbeit  nehmen  einen 
Aufschwung,  welcher  den  gerechten  Ruf  nach  legislativen 
Einschränkungen  erweckt.  Damit  geht  parallel  eine  Ver- 
stärkung der  Reservearmee  der  Lohnarbeiter,  eine  Deklas- 
sirung  kleiner  selbständiger  Unternehmer  zu  Lohn- 
arbeitern, gelernter  Arbeiter  in  die  Sphäre  gewöhnlicher 
Tagelöhner  u.  s.  w.  Symptome  dieser  Entwickelungsreihen 
sind  in  den  letzten  Jahrzehnten  so  häufig  hervorgetreten, 
dass  es  der  Anführung  einzelner  Thatsachen  nicht  bedarf. 
Namentlich  das  Anschwellen  der  Arbeiterreserven  ist  eine 
beklagenswerthe  Erscheinung,  welche  in  den  jüngsten 
grossen  Lohnkämpfen  in  England  und  Deutschland  die 
Stellung  der  Arbeiterpartei  wesentlich  geschwächt  hat. 

Die  gegensätzliche  Beurtheilung  des  Einflusses  der 
Geldwerthtendenz  auf  die  Lebenshaltung  des  vierten  Stan- 
des ist  sehr  scharf  in  den  Beschlüssen  der  englischen  En- 
quete on  the  Depression  of  trade  and  industry  und  der 
Gold  and  Silver  Commission  hervorgetreten.  Die  sozial- 
politische Bedeutung  der  Währungsfrage  wurde  von  beiden 
Parteien  für  ihre  Zwecke  zu  verwerthen  gesucht.  Aber 
im  Ganzen  war  doch  die  bimetallistische  Partei,  welche  gegen 
die  Geldwerthsteigerung  auftrat,  in  der  günstigeren  Lage. 
Sie  konnte  (Fin.  Report  of  the  Gold  and  Silver  Commission, 
p.  100)  darauf  hinweisen,  dass  in  zehn  der  grössten  Ge- 
werkvereinen das  Verhältniss  der  arbeitslosen  Mitglieder  zur 
Gesammtzahl  von  2,18 '/u  in  den  Jahren  1871—75  auf  7,22% 
in  den  Jahren  1882 — 86  sich  gehoben  hatte.  Aber  auch  die 
Gesammtkommission  kann  nicht  umhin,  anzuerkennen,  dass 
„ein  starker  und  allgemeiner  Fall  der  in  der  Landwirth- 
schatt  gezahlten  Löhne  und  ein  wenn  auch  minder  be- 
trächtlicher in  den  unteren  Schichten  der  gelernten  In- 
dustriearbeiter eingetreten  sei;  dass  selbst  dort,  wo  die 
Lohnhöhe  erhalten  blieb,  die  Arbeitsgelegenheit  seltener 
und  unregelmässiger  geworden  ist,  dass  Strikes  zur  Ab- 
wehr von  Lohnreduktionen  häufiger  aufgetreten  seien  und 
eine  Verschärfung  der  Reibungen  zwischen  Arbeitgeber 
und  Arbeitnehmer  manifestirten ; und  dass  selbst  mit  Be- 
rücksichtigung des  unvollkommenen  Charakters  der  Lohn- 
statistik ein  allgemeines,  im  Fortschritt  begriffenes  und 
augenscheinlich  nicht  aufzuhaltendes  Sinken  des  Lohn- 
niveaus zu  konstatiren  sei“  (Fin.  Report  of  the  Gold  and 
Silver  Commission,  p.  20  No.  57). 

Man  kann  dem  Widerstreit  der  Ansichten,  welcher 


286 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  23. 


über  die  Stellung  der  Arbeiter  zur  Währungsfrage  besteht 
meines  Erachtens  nur  durch  eine  Unterscheidung  gerecht 
werden.  Für  Länder  mit  genügend  organisirter  Arbeiter- 
schaft, welche  kräftig  genug  ist,  die  sinkende  Geldwerth- 
tendenz durch  Erhöhung  des  Nominallohnes  auszugleichen, 
ist  diese  Tendenz  von  grosser  sozialer  Bedeutung,  weil  sie 
durch  Verringerung  der  Steuer-  und  Geldschuldenlast  die 
Produktion  anspornt,  die  Arbeitsgelegenheit  vermehrt,  das 
Emporsteigen  der  Hilfsarbeiter  in  die  Klasse  selbständiger 
Unternehmer  begünstigt.  (Vgl.  Jevons  a.  a.  O.  p.  83).  In 
der  That  haben  sich  in  den  Vereinigten  Staaten  die  orga- 
nisirten  Arbeitergruppen  überwiegend  den  aut  Herab- 
setzung des  Geldwerthes  gerichteten  agrarisch-demokrati- 
schen Bestrebungen  angeschlossen.  In  Ländern  mit  schlecht 
organisirter  Arbeiterschaft  würde  die  sinkende  Tendenz 
des  Geldwerthes  allerdings  eine  nur  langsam  sich  aus- 
gleichende Verringerung  des  Reallohns  bedeuten. 

Die  westliche  Hälfte  der  österreichisch  - ungarischen 
Monarchie  darf  heute  mit  Recht  zu  den  Ländern  der 
ersteren  Kategorie  gezählt  werden.  Man  kann  es  daher 
auch  vom  sozialpolitischen  Standpunkte  aus  nur  mit 
Genugthuung  begriissen,  dass  sich  Oesterreich  - Ungarn, 
wie  die  eben  der  legislativen  Behandlung  unterbreiteten 
Vorlagen  über  die  Regelung  der  Valuta  beweisen,  den 
auf  eine  Geldwertherhöhung  gerichteten  Tendenzen  ferne 
hält.  Diese  letzteren  fanden  einerseits  ihren  Ausdruck 
in  dem  Begehren  nach  Einführung  der  reinen  Gold- 
währung und  andererseits,  merkwürdig  genug!  in  dem  von 
bimetallistischer  Seite  verfochtenen  Anträge  den  künftigen 
Geldwerth  des  Guldens  ö.  W.  gleich  2 Reichsmark  anzu- 
setzen. Die  Regierung  hat  inmitten  dieser  in  sich  wider- 
spruchsvollen Ansichten  eine  schwere  und  doch  wieder 
günstige  Stellung.  Sie  akzeptirt  von  den  Anhängern  der 
Goldwährung  den  leichten  Gulden,  von  den  Bimetallisten 
das  der  Erhaltung  des  Silbers  günstige  Währungssystem; 
und  in  den  übrigen  Punkten  ist  sie  in  der  Lage,  jede  Partei 
mit  ihren  eigenen  Theorien  zu  schlagen. 

Wien.  Julius  Landesberger. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
. Statistik. 

Gross-  und  Kleinbetriebe  in  der  schweizerischen 
Fabrikindustrie. 

Dr.  H.  Wegmann,  der  Adjunkt  des  schweizerischen 
Fabrikinspektors  Dr.  Fridolin  Schüler,  veröffentlicht  in 
der  „Zeitschrift  für  schweizerische  Statistik“  eine  um- 
fangreiche Arbeit  über  die  Gross-  und  Kleinbetriebe  in  der 
schweizerischen  Fabrikindustrie,  die  wir  den  folgenden  Aus- 
führungen zu  Grunde  legen.  Dr.  Wegmann’s  Arbeit  beruht 
auf  der  amtlichen  Fabriksstatistik  der  Schweiz  aus  dem 
Jahre  1888.  Diese  umfasst  alle  dem  Fabrikgesetze  unter- 
stellten Etablissements,  demnach  eine  grosse  Anzahl  von 
Betrieben,  welche  man  gemeiniglich  nicht  als  Fabrikbe- 
triebe betrachtet,  so  nicht  weniger  als  1 142  Etablissements 
mit  durchschnittlich  5,92  Arbeitern  und  I 044  Betriebe  mit 
durchschnittlich  13,78  Arbeitern.  Scheiden  wir  diese  bei- 
den Gruppen  aus,  so  verbleiben  nur  1 690  Fabrikbetriebe 
mit  139  513  Arbeitern  und  1222  Motoren  von  67  200  Plerde- 
kräften.  Der  Scheidung  in  die  verschiedenen  Berufs- 
gruppen zu  Liebe  wurden  Etablissements  mit  verschiedener 
Waarenerzeugung  getrennt,  so  z.  B.  die  Webereien,  welche 
mit  Spinnereien  verbunden  sind,  als  Webereien  und  als 
Spinnereien  aufgezählt,  wodurch  die  Zahl  der  Betriebe  in 
der  Statistik  ungenau  erscheint  und  die  Zahl  der  grossen 
Betriebe  zu  Gunsten  der  mittleren  eine  Reduktion  erfuhr. 
I )ie  „decenlralisirte  Fabrikindustrie“,  die  in  der  Schweiz 


stark  verbreitete  Hausindustrie  verblieb  ausserhalb  des 
Rahmes  der  Arbeit. 

Auffallend  ist  die  Zahl  der  Fabriksbetriebe  ohne  Mo- 
toren. Es  verwandten  keine  Motoren  unter  den 


1 142 

Betrieben 

der 

I.  < 

druppe  563 

1044 

55 

II. 

„ 466 

830 

)) 

55 

III. 

„ 279 

396 

)) 

55 

IV. 

„ 74 

213 

55 

55 

V. 

„ 11 

128 

55 

55 

VI. 

„ 4 

nur  in  der  letzten  Gruppe  mit  mehr  als  500  Arbeitern  linden 
wir  in  sämmtlichen  Betrieben  Motoren ; in  den  3 776  als 
Fabrikbetriebe  aufgeführten  Etablissements  finden  wir  2 359 
Motorenbetriebe  und  1 417  Betriebe  ohne  Motoren.  Scheiden 
wir  die  beiden  ersten  Gruppen  aus,  so  dass  uns  nur  die 
Etablissements  mit  21  und  mehr  Arbeitern  übrig  bleiben,  . 
so  finden  wir  in  diesen  1 590  Fabrikbetrieben  1 222  mit  und  j 
368  ohne  Motoren.  Die  Betriebskräfte  (Arbeiter  und  Pferde- 
kräfte) vertheilen  sich  auf  die  schweizerische  Fabrikindustrie  ! 
folgendermassen : 


Gruppe 

Unternehmungen 
mit  Arbeitern  j Zahl 

Zahl  dei 

unter 
18  Jahren 

m.  w. 

Arb  ei 
üb 
18  Ja 

m. 

er 

er 

hren 

w. 

Total 

Zahl  der  Be- 
triebe  mit 

Mo-  1 Pferde- 
toren kräften 

i . . 

1—  10 

1142  ') 

371  406 

4166 

1827 

6770 

559 

7626 

ii  . . 

11—  20 

1044 

967  954 

8614 

3860 

14395 

578 

79401/-, 

m . . 

21  - 50 

830 

1633  1945 

14904  8522 

27004 

551 

12212Va 

IV  . . 

51  100 

396 

1891  2349 

14040,10096 

28376 

322 

17269>/v 

v . . 

101  200 

213 

1719  2955 

12813  12970 

30457 

202 

14279 % 

VI  . . 

201-500 

128 

2009  3529 

14385  17070 

36993 

124 

19222 

VII  . . 

über  500 

23 

1207  1083 

8778  5615 

16683 

23 

4217 

III -VII 

20  u.mehr 

1590 

8438  11861 

64920  54273 

139513 

1222 

67200'A 

I— VII 

über  1 

3776 

9797  13221 

77700  59960 

160678 

2359 

82767 

Reduziren  wir  diese  Tabelle  auf  je  einen  Betrieb, 
so  ergiebt  sich  folgendes  Bild: 


Gruppe 

Arl 

unter  18 Jahren 
m.  w. 

>eiter 

über  18  Jahren 
m.  | w. 

Total 

Mo- 

toren 

t 

Pferde-t 
kräfte ; 

I . . . 

0,32 

0,35 

3,65 

1,60 

5,92 

0,49 

6,68 

II  . . . 

0,93 

0,91 

8,25 

3,69 

13,78 

0,55 

7,61 

III  . . 

1,9 

2,3 

17,9 

10,7 

32,6 

0,66 

14,71  . 

IV  . . . 

4,7 

5,9 

35,5 

25,5 

71,6 

0,81 

43,61  ; 

V . . . 

8,1 

13,9 

60,2 

60,9 

143,0 

0,9 

67,04  } 

VI  . . . 

15,7 

27,6 

112,4 

133,2 

289,0 

0,98 

150,18  ; 

VII  . . . 

52,4 

47,1 

381,7 

244,1 

725,3 

1,0 

183,3  , 

III— VII  . 

5,3 

7,5 

40,8 

34,1 

87,7 

0,7 

43,52  ■ 

I— VII  . 

2,6 

3,5 

20,6 

15,8 

42,5 

0,62 

21,92  i 

Aus  den  vorstehenden  Tabellen  ergiebt  sich,  dass  die 
Verwendung  der  Motoren  nicht  im  gleichen  Verhältnisse 
zur  Grösse  der  Betriebe  in  der  schweizerischen  Industrie 
steht,  am  auffälligsten  ist  das  Zurückbleiben  der  Motoren 
hinter  der  grösseren  Arbeiterzahl  bei  den  grössten  Lnter- 
nehmungen.  Wenn  in  Betrieben  mit  durchschnittlich  289 
Arbeitern  Motoren  in  der  Stärke  von  150,18  Pferdekräften 
verwendet  wurden,  müsste  man  bei  blosser  Annahme  arith- 
metischer Progression  für  die  Betriebe  mit  durchschnitt- 
licher Verwendung  von  725,3  Arbeitern  das  Vorhandensein 
einer  Motorenstärke  von  376,9  Pferdekrälten  vermuthen. 
während  nicht  einmal  die  Hüllte  183,3  Plerdekräfte  kon- 
statirt  wurden. 

Bezüglich  der  Arbeiterzahl  ist  zu  bemerken,  dass  die 
Konzentration  der  Arbeiter  in  den  grossen  Betrieben  eine 
sehr  starke  ist.  Die  2412  Betriebe  mit  weniger  als 
tOI  Arbeitern  beschäftigen  7578  Arbeiter  weniger  als  die 
364  Betriebe  mit  mehr  als  100  Arbeitern.  Die  23  Betriebe 
mit  mehr  als  500  Arbeitern  beschäftigen  ca.  4/-,  der  in  den 
1 186  Betrieben  der  I.  Gruppe  thätigen  Personen.  Während 
die  Zahl  der  Etablissements  in  den  Gruppen  I — VI  regel- 
mässig abnimmt,  steigt  die  Arbeiterzahl  in  der  gleichen 
Regelmässigkeit  in  diesen  Gruppen.  Die  Zahl  der  Betriebe 
sinkt  von  I 142  auf  128,  die  Zahl  der  Arbeiter  steigt  von 
6770  auf  36993.  Wir  sehen  demnach  neben  einer  Dezen- 
tralisirung  der  Industrie  eine  Centralisirung  der  Arbeitei. 
da  die  Tendenz  der  wirthschaftlichen  Entwicklung  eine 
centralistisehe  ist,  so  dürfte  das  Uebergewicht  der  grossen 
Betriebe  sich  bald  noch  weiter  verschärfen.  Faktisch  ist 

i)  Davon  50  (=  1,3%)  ausser  Betrieb. 


No.  23 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


287 


die  Centralisation  schon  weiter  vorgeschritten,  als  die  vor- 
stehenden Tabellen  vermuthen  lassen,  dies  ergiebt  die 
folgende  Tabelle,  in  der  jede  Mühle  mit  Säge,  jede  Spinnerei 
mit’  Weberei,  jede  Bleicherei  mit  Färberei  etc.,  sofern  sie 
in  einem  Betriebe  vereinigt  ist,  zusammengezählt  wird.  Wir 
erhalten  nun: 


in  Gruppe 

Betriebe 

Arbeiter 

Pferdekräfte 

I 

1 082 

6 582 

7 309 

II 

1 026 

14  154 

7 879'/2 

III 

806 

26  241 

1 1 928>/2 

IV 

383 

27  463 

15  271V» 

V 

202 

29  171 

13  89672 

VI 

134 

39  278 

21  036 

VII 

25 

17  789 

5 446 

Total 

3 658 

160  678 

82  767 

Geht  man 

noch  einen 

Schritt  weiter 

und  stellt  man 

ohne  Rücksicht  auf  örtliche  Trennung  und  Verschiedenheit 
der  Industriezweige  alles,  was  einem  Unternehmer  im  Ge- 
biete der  Eidgenossenschaft  gehört,  als  einen  Betrieb  in 
die  Statistik,  so  ergiebt  sich  folgendes  Bild: 


Gruppe 

Unternehmungen 

Arbeiter 

Pferdekräite 

I 

1 053 

6 392 

7 035 

II 

972 

13  328 

7 3491  9 

III 

720 

23  244 

10621 

IV 

336 

23  788 

12781 

V 

165 

23  726 

11  268 

VI 

140 

42  984 

21  848 'A 

VII 

31 

27  216 

1 1 864 

Total 

3 471 

160  678 

82  767 

Die  336  Betriebe  der  Gruppe  V,  VI  und  VII  zählen 
nach  der  vorstehenden  Tabelle  um  27  164  Arbeiter  mehr  als 
die  3081  Betriebe  der  Gruppen  I— IV  (Betriebe  bis  zu 
100  Arbeitern).  Die  31  Betriebe  der  VII.  Gruppe  zerfallen 
in  12  Unternehmungen  mit  501 — 600,  in  8 Unternehmungen 
601—800,  in  4 mit  801  — 1000,  in  je  3 mit  1001—1500  und 
1501 — 2000  und  in  einen  Betrieb  mit  mehr  als  2000  Arbeitern, 
so  dass  die  vier  grössten  Unternehmungen  der  Schweiz  mehr 
Arbeiter  beschäftigen  als  ca.  1100  der  kleinsten  dem  Fabrik- 
gesetze unterstellten  Unternehmungen! 

Wir  müssen  es  uns  leider  versagen,  die  Decentrali- 
sation  der  Betriebe  und  die  Centralisation  der  Arbeiter  in 
der  Schweiz  für  die  einzelnen  Industriezweige  zu  besprechen, 
wir  wollen  nur  noch  einige  Beispiele  anführen. 

Die  gesammte  schweizerische  Metall-  und  Maschinen- 
industrie wird  von  350  Unternehmungen  betrieben,  davon 
beschäftigen  mehr  als  die  Hälfte  weniger  als  20  Arbeiter, 
während  nahezu  die  Hälfte  aller  Arbeiter  in  5,6  % grosser 
Geschäfte  koncentrirt  ist.  In  der  Schuhfabrikation  sind 
43,4%  der  Arbeiter  in  zwei  Etablissements  der  Gruppe  VII 
und  67,7  /„  von  2 Unternehmern,  endlich  % der  Arbeiter  in 
Betrieben  mit  mehr  als  100  Arbeitern  beschäftigt. 

Aus  den  Tabellen  der  Fabrikstatistik  pro  1888  ergiebt 
sich,  dass  die  schweizerische  Fabrikarbeiterschaft  sich  nach 
Alter  und  Geschlecht  im  folgenden  Prozentverhältniss  zu- 
I sammensetzt: 

unter  18  Jahren  über  18  Jahren 

männlich  weiblich  männlich  weiblich 

6,03  8,26  48,16  37,55 

In  Bezug  auf  die  beiden  Geschlechter  zeigt  sich  in 
\ der  Gesammtheit  der  Arbeiterschaft  - ohne  Rücksicht  aut 
die  Verschiedenheit  der  Industrien  — die  Erscheinung,  dass 
die  Zahl  der  Arbeiterinnen  mit  der  Grösse  der  Geschäfte 
in  immer  stärkerer  Progression  steigt.  Während  in  den 
kleinen  und  kleinsten  Betrieben  ihre  Zahl  um  1 2 °/0  unter 
dem  Mittel  bleibt,  übersteigt  sie  dasselbe  in  den  grossen 
um  1 0 %,  tritt  aber  in  den  grössten  etwas  unter  dem  Durch- 
schnitt zurück. 

Die  Bedeutung  der  Kinderarbeit  ist  sehr  verschieden 
in  den  einzelnen  Industrieen.  In  der  Seidenweberei,  der 
gesammten  Seiden-  und  der  ganzen  Textilindustrie  sind  in 
den  kleinen  Etablissements  die  Kinder  unter  dem  Durch- 
schnitte beschäftigt,  dann  wächst  ihre  Zahl  etwas  bis  zur 
IV.  und  V.  Gruppe  und  fällt  in  den  letzten  Gruppen  wieder, 
manchmal  sogar  unter  das  Mittel.  Ein  regelmässiges  Steigen 
von  Gruppe  I bis  VII  zeigt  dagegen  die  Baumwollweberei, 
das  umgekehrte  Verhältniss  zeigen  die  Metall-  und  Maschinen- 
industrieen.  Bemerkenswerth  ist  endlich  das  V erhältniss 
der  jugendlichen  Arbeiter  ihrem  Geschlechte  nach  in  den 
einzelnen  Gruppen.  Bei  den  Arbeitern  unter  18  Jahren 
überwiegen  die  Mädchen  in  der  Gesammtindustrie,  in  den 
Gruppen  1,  III,  IV,  V und  VI  halten  sich  Knaben  und 
Mädchen  fast  die  Wage,  während  in  den  Betrieben  mit 


mehr  als  500  Arbeitern  die  Zahl  der  jungen  Männer  um 
mehr  als  10  Prozent  grösser  ist  als  die  der  jugendlichen 
Arbeiterinnen. 

Leider  ist  es  nicht  möglich,  diese  Angaben  mit  solchen 
für  das  deutsche  Reich  zu  vergleichen  und  die  relative 
Entwickelung  der  Grossindustrie  Deutschlands  und  der 
Schweiz  einander  gegenüberzustellen.  Der  Grund  liegt 
im  Fehlen  der  Daten  für  den  grössten  Theil  Deutschlands. 
Dies  ist  nicht  nur  wegen  des  wissenschaftlichen  Inter- 
esses, sondern  und  nicht  zum  mindesten  aus  praktischen 
Erwägungen  bedauerlich.  Die  Aufnahmen  der  schweize- 
rischen Statistik  entsprangen  einem  bei  der  Durchführung  des 
schweizerischen  Fabrikgesetzes  gefühltem  Bedürfnisse.  Je 
ernster  man  es  mit  der  Fabrikinspektion  nimmt,  desto  unent- 
behrlicher werden  Aufnahmen,  wie  die  ist,  deren  Resultate  wir 
hier  Wiedergaben.  Die  Möglichkeit  einer  Ausdehnung  des 
Arbeiterschutzes  sowohl  nach  der  Richtung  der  Intensität  des 
Schutzes,  als  der  Extensität  der  zu  schützenden  Betriebe, 
die  Schwierigkeiten  und  Bedürfnisse  der  Fabrikinspektion 
werden  am  besten  an  der  Hand  einer  eingehenden  Fabrik- 
statistik diskutirt  werden  können.  Leider  ist  die  Hoffnung 
gering,  dass  diesem  Bedürfnisse  nun  auch  in  Deutschland 
bald  entsprechend  Rechnung  getragen  werde. 


Einfluss  der  Lohnhöhe  auf  die  Geschäftslage.  Ueber 
diese  für  die  kapitalistische  Produktion  so  wichtige  und 
dabei  von  ihr  so  mangelhaft  gelöste  Frage  schreibt  der 
Fabrikinspektor  des  I.  Aufsichtsbezirks  im  Grossherzogthum 
Hessen  in  seinem  soeben  erschienenen  Jahresbericht  für 
1891:  „Die  wirtschaftliche  Lage  der  Arbeiter  übt  einen 

bedeutenden  Einfluss  aut  die  allgemeine  Geschäftslage  der 
Industrie  aus.  Die  Arbeiter  sind  Hauptabnehmer  vieler  in- 
dustrieller Erzeugnisse  und  bei  der  hohen  Zahl  der  in- 
dustriellen Arbeiter  ist  deren  Konsumtionsfähigkeit  von 
hoher  Bedeutung  für  die  Industrie.  Wenn  in  Folge  von 
Verkürzungen  der  Arbeitszeit  und  Lohnreduktionen  die 
Löhne  nur  für  die  nötigsten  Lebensmittel,  Kleider  und  die 
Wohnung  der  Arbeiter  ausreichen  und  andere  Ausgaben 
nicht  gemacht  werden,  so  übt  dies  sehr  rasch  einen  ver- 
stärkt ungünstigen  Einfluss  auf  die  Geschäftslage  der  In- 
dustrie im  Allgemeinen  aus.  Dies  sollten  Arbeitgeber  mehr 
als  seither  beherzigen  und  nur  im  äussersten  Notfall  Ar- 
beiterentlassungen vornehmen  Es  findet  zu  wenig  Berück- 
sichtigung, dass  hohe  Löhne  von  sehr  günstigem  Einfluss 
auf  die  allgemeine  Lage  der  Industrie  sind.“ 

Wanderung  ostpreussischer  Landarbeiter  nach  Bayern. 

Auf  den  Domänengütern  von  Bronnbach  bei  Wertheim  hat  man, 
um  dem  Mangel  an  landwirtschaftlichen  Arbeitskräften  zu  be- 
gegnen, mit  der  Heranziehung  von  ostpreussischen  Arbeitern 
begonnen.  Vorige  Woche  sind  20  Personen  dort  eingetroffen, 
welche  über  den  ganzen  Sommer  bleiben  werden.  Dieselben 
stehen,  wie  die  „Aschaffenburger  Zeitung“  berichtet,  unter 
einem  von  ihnen  gewählten  Vormann,  der  für  alle  Arbeiten  Auf- 
sicht und  Verantwortung  trägt.  Sämmtliche  Arbeiten  geschehen 
im  Akkord. 

Massregeln  gegen  den  Kontraktbruch  ländlichen  Ge- 
sindes. Im  Schoosse  der  preussischen  Staatsregierung 
sollen  nach  einer  Meldung  der  „Magd.  Ztg.“  Erwägungen 
darüber  stattfinden,  ob  es  nicht  geboten  wäre,  behufs  Zu- 
rückführung kontraktbrüchigen  Gesindes,  welches  im  König- 
reich Sachsen  ein  anderes  Dienstverhältnis  eingegangen 
ist,  eine  bezügliche  Vereinbarung  zwischen  den  einzelnen 
Bundesstaaten  in  Anregung  zu  bringen. 

Bezahlung  städtischer  Arbeiten  in  London  Die  Ar- 
beitervertreter im  Londoner  Grafschaftsrath  hatten  beantragt, 
dass  die  Unternehmer  städtischer  Arbeiten  vertragsmäßig 
zur  Bezahlung  ihrer  Arbeiter  nach  den  von  den  Londoner 
Gewerkvereinen  als  normal  bestimmten  Lohnsätzen  ver- 
pflichtet werden  sollten,  und  zwar  sollten  die  Unternehmer 
für  alle  städtischen  Arbeiten  hierzu  verpflichtet  werden, 
gleichviel  ob  diese  Arbeiten  in  oder  ausserhalb  Londons 
ausgeführt  werden.  Dieser  Antrag  wurde  nicht  ganz  den 
Wünschen  der  Arbeitervertreter  entsprechend  angenommen, 
indessen  wurde  wenigstens  festgesetzt,  dass  die  l nternehmer 
ihre  Arbeiter  überall  nach  den  am  Orte  der  Ausführung 
von  den  Gewerkvereinen  als  recht  und  billig  angesehenen 
Lohnsätzen  zu  bezahlen  sind.  Wäre  der  Antrag  von  Burns 
und  Genossen  unverändert  angenommen  worden,  so  wäre 


288 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  23. 


die  Befürchtung  hinweggefallen,  dass  nunmehr  ein  grosser 
Theil  städtischer  Arbeiten  ausserhalb  Londons  ausgeführt 
werden  dürfte.  Uebrigens  darf  die  Massregel  nicht  über- 
schätzt werden,  weil  vorerst  noch  ca.  4/r.  der  ausführenden 
Verwaltung  nicht  dem  Grafschaft'srath,  sondern  den  Lokal- 
behörden obliegt. 


Arbeiterzustände. 


Beseitigung-  der  Kinderarbeit  durch  die  Technik.  Die 

revolutionirende  Wirkung  der  fortschreitenden  Technik  auf  die 
soziale  Gliederung  der  in  Fabriken  beschäftigten  Arbeiter- 
bevölkerung ist  sehr  verschieden.  So  berichtet  der  hessische 
Fabrikinspektor  für  den  I.  Aufsichtsbezirk  in  seinem  neuen 
Referat  für  das  Jahr  1891:  „Durch  die  Einführung  sehr  leistungs- 
fähiger Einlesemaschinen  in  der  Zündhölzerfabrikation  wurde 
die  Kinderarbeit  in  diesem  Industriezweige  nahezu  besei- 
tigt. Selbst  das  Einlesen  des  bei  der  Arbeit  mit  den  Einlese- 
maschinen sich  ergebenden  Holzdrahtabfalls  durch  Kinder  wird 
nicht  mehr  lohnend  befunden  und  der  Abfall  verbrannt.  Auch 
die  zum  Verpacken  der  Zündhölzer  dienenden  Pappschachteln 
werden  nicht  mehr  in  den  Zündhölzerfabriken  durch  jugend- 
liche Arbeiter,  sondern  in  besonderen  Schachtelfabriken  ange- 
fertigt. Eine  Zündhölzerfabrik,  welche  seither  noch  den  Holz- 
draht selbst  erzeugte,  hat  dies  aufgegeben  und  es  beziehen 
jetzt  sämmtliche  Zündholzfabriken  des  Aufsichtsbezirks  den 
Holzdraht  aus  besonderen  Fabriken.  Die  Einlesearbeit  mit  der 
Einlesemaschine  ist  anstrengend,  besonders  da  wo  die  Arbeiter 
im  Stücklohn  beschäftigt  werden  und  ein  möglichst  hohes  Lohn- 
ergebniss  anstreben.  In  der  grösseren  Anzahl  der  Fabriken 
geschieht  jedoch  die  Einlesearbeit  im  Taglohn  und  es  werden 
mitunter  die  Einleser  in  kleineren  Fabriken  auch  zu  anderen 
Arbeiten  verwendet,  so  dass  sie  nicht  immer  an  der  Einlese- 
maschine beschäftigt  sind.  Ein  im  Stücklohn  an  einer  Einlese- 
maschine beschäftigter  Arbeiter  hat  von  dieser  Arbeit  vom 
Arbeitgeber  weggenommen  werden  müssen,  weil  er  durch  über- 
hastete Arbeit  seine  Gesundheit  schädigte.“  Hier  hat  man  es 
offenbar  mit  einem  Uebergangsstadium  in  der  Entwicklung  der 
Technik  zu  thun.  Sie  vollzieht  hier  vorerst  nur  den  CJebergang 
von  der  Handarbeit,  der  Manufaktur,  zur  maschinellen  Fabri- 
kation, und  benöthigt  vorläufig  noch  Erwachsene  zur  Bedienung 
der  Maschinen.  Vermuthlich  werden  jedoch  die  Maschinen  sehr 
bald  derart  vervollkommnet  werden,  dass  an  die  Stelle  der  Er- 
wachsenen die  „billigeren“  Frauen  und  Kinder  treten  können. 

Die  Lage  der  in  den  Gärtnereien  Erfurts  beschäf- 
tigten Arbeiter  ist,  wie  man  der  daselbst  erscheinenden 
„Thüringer  Tribüne“  mittheilt,  eine  traurige.  Einer  der 
dortigen  Gärtnereibesitzer  beschäftigt  ungefähr  70  Personen. 
Von  diesen  sind  etwa  10 — 15  jugendliche  Arbeiter,  welche 
einen  Wochenlohn  von  3,60 — 6,00M.  erhalten;  ca.  20  Frauen 
und  Mädchen  erhalten  7,20  M.,  ca.  15 — 20  Gärtnereigehilfen 
9 — 12  M.,  ca.  20  Arbeitsleute  12 — 15  M.,  und  zwar  sämmtlich 
bei  elfstündiger  Arbeitszeit.  Das  sind  noch  sehr  günstige 
Löhne.  Es  giebt  Gärtnereien,  hauptsächlich  grössere,  welche 
viel  schlechtere  Löhne  zahlen.  Sogenannte  Volontäre  wer- 
den in  grosser  Zahl  beschäftigt,  sie  bekommen  fast  gar 
keine  Entschädigung  und  tragen  viel  dazu  bei,  die  Löhne 
der  Arbeiter  zu  drücken. 

Haushalt  einer  Arbeiterfamilie  in  Bayern.  In  No.  20 

des  Sozialpolitischen  Centralblattes  findet  sich  eine  Zu- 
sammenstellung des  Haushaltes  einer  Arbeiterfamilie  in 
Bayern,  in  die  sich  verschiedene  Rechen-  und  Druckfehler 
eingeschlichen  haben,  die  wir  im  Folgenden  berichtigen. 


Eiweis 

gr 

Fett 

gr 

Kohlen- 

hydrate 

gr 

Zunächst  sind: 

14  1 Milch  — 14  000  gr  Milch  . . 

490 

560  . 

616 

und  nicht  wie  angegeben  1400  gr  . 

49 

56 

61,6 

Differenz  

-f  441 

504 

554 

Ferner: 

1600  gr  Zucker  — 

— 

— 

1552 

und  nicht  wie  angegeben  . . . 

— 

109,2 

Differenz  





1443 

Gesammt-Differenz  . . 

441 

504 

1997 

Angegebene  Gesammt-Summe  . 

1 176 

1304 

7503 

Wirkliche  Gesammt-Summe  . . . 

1617 

1808 

9500 

Unter  der  Voraussetzung,  dass  der  Nahrungsbedarf  der 
Familie  (Mann,  Weib,  3 Kinder  von  I — 3 Jahren)  wirklich, 
wie  im  Sozialpolitischen  Centralblatt  angegeben,  gleich  dem 
21  fachen  täglichen  Bedarf  des  Erwachsenen  wäre,  ständen 
pro  Kopf  und  Tag  zur  Verfügung: 


Eiweis 

gr 

Fett 

gr 

Kohlen- 

hydrat 

gr 

Wirkliches  Kostmass  . .... 

77 

86 

452 

Angebliches  Kostmass  des  S.  C.  . 

57 

62 

357 

Voits  Kostmass 

118 

56 

500 

Differenz  zw.  dem  geforderten  Kost- 
mass Voits  und  dem  wirklichen 

41 

+ 30 

— 48 

48  gr  Kohlenhydrate  sind  ersetzbar 
mit  Vortheil  durch 



20 



Somit  fehlen  in  der  Nahrung . . . 

Sind  im  Ueberschuss  vorhanden 

41 

10 

Nach  dieser  Rechnung  sind  stickstofffreie  Nährstoffe 
völlig  ausreichend  vorhanden  und  fehlen  35  "/o  Eiweis.  In 
Wirklichkeit  ist  aber  der  Bedarf  der  betreffenden  Familie 
nicht  das  3 fache,  sondern  hoch  angeschlagen  das  23/4  fache 
des  Voit’schen  Kostmasses,  das  für  einen  kräftigen  Mann 
bei  mittlerer  Arbeit  gilt.  Damit  würde  sich  der  Eiweiss- 
mangel auf  ca.  29  '/n  ermässigen  und  dafür  ein  Ueberschuss 
an  anderen  Nahrungsmitteln  zur  Verfügung  stehen. 

Ohne  auf  weitere  Details  einzugehen  sei  hier  nur  er- 
wähnt, dass  vielfach  statt  Voits  118  gr  Eiweiss  nur  100  gr 
gefordert  und  selbst  80 — 90  gr  als  vollauf  ausreichend  er- 
klärt werden. 

Dass  diese  Nahrung,  deren  Energiegehalt  ein  • 
durchaus  normaler  ist,  nicht  ideal  zusammengesetzt  ist, 
soll  nicht  betritten  werden;  ebensowenig,  dass  die  Lebens- 
führung weiter  Volkskreise  — wie  in  dem  angezogenen 
Fall  oft  mehr  in  der  Zusammensetzung  als  in  der  abso-  ; 
luten  Menge  der  Nahrung  — eine  irrationelle,  unzu- 
reichende ist. 

Arbeitszeit  in  der  thüringischen  Hausindustrie.  Im 

Centrum  der  thüringer  Spielwaarenindustrie  in  Sonne- 
berg, dessen  Arbeiterverhältnisse  aus  der  Schrift  von  Sax 
bekannt  sind,  beschäftigen  sich  gegenwärtig  die  Gemeinde- 
kollegien mit  der  Ausarbeitung  eines  Normativs  zur  Her- 
beiführung einer  13sttindigen  Arbeitszeit  an  120  Tagen  ; 
des  Jahres  für  die  über  15  Jahre  alten  Arbeiterinnen  der 
Sonneberger  Spielwaarenindustrie.  Wie  lang  mag  die  Ar-  j 
beitszeit  dieser  Bedauernswerthen  wohl  jetzt  sein,  wenn  - 
man  einen  13  ständigen  Arbeitstag  „für  120  Tage1  als  einen  . 
Fortschritt  betrachtet? 

Die  Arbeitsdauer  in  den  Wiener  Fabriken.  Im  Abschnitte 

„Wien“  des  neuen  österreichischen  Gewerbe-Inspektoren berichte* 
findet  sich  folgende  Uebersicht  über  die  in  1006  fabrikmässig 
betriebenen  Unternehmungen  übliche  effektive  Arbeitszeit: 


Gewerbsgruppen 

Anzahl 

der 

Betriebe 

effektive  Arbeitszeit  in 
Stunden 

9 9V2  10  IOV2  11 

Metall-Industrie 

209 

1 

4 

188 

7 

9 

Maschinen-Industrie  . . . 

163 

1 

3 

149 

8 

2 

Industrie  in  Thon,  Glas  etc. 

25 

— 

— 

9 

3 

13 

Industrie  in  Holz,  Bein  etc. 

97 

1 

2 

49 

9 

36 

Leder-Industrie 

49 

— 

— 

38 

3 

8 

Textil-Industrie 

78 

1 

— 

30 

16 

31 

Bekleidungs-Industrie  . . 

65 

2 

9 

7 

16 

31 

Papier-Industrie 

Nahrungs-  u.  Genussmittel- 

49 

2 

3 

24 

8 

12 

Industrie.  . . ... 

54 

2 

— 

16 

10 

26 

Chemische  Industrie  . . . 

48 

— 

— 

16 

12 

20 

Baugewerbe  .... 

95 

— 

— 

95 

— 

Polygraphische  Gewerbe  . 

74 

9 

63 

— 

2 

Zusammen  . . . 

1006 

19 

84 

621 

92 

190 

In  Prozenten.  . . 

100 

1,9 

8,4 

61,7 

9,1 

18,9 

Im  Kleingewerbe  ist  die  normale  tägliche  Arbeitsdauer 
nahezu  durchwegs  um  1 Stunde  länger  als  bei  den  gleichartigen 
Grossbetrieben. 


Erhebungen  über  Frauenarbeit  im  Kanton  St.  Gallen. 

Im  Sommer  (August  und  September)  1891  liess  der  Regierungs- 
rath des  Kantons  St.  Gallen  Erhebungen  über  die  dem  eid- 
genössischen Fabrikgesetze  nicht  unterstellten  Geschäfte  vor- 


No.  23. 


sozialpolitisches  centralrlatt. 


289 


nehmen,  in  welchen  mehr  als  2 weibliche  Personen  beschäftigt 
wnren.  Der  Zeitpunkt  der  Erhebung  war  ein  ungünstiger,  weil 
in  roloe  dei  otickGreikrisis  und  des  durch  dieselbe  verursachten 
Arbcitsmangels  eine  nicht  unbeträchtlich©  ^alil  von  Ausrüstereien 
damals  nur  1 2,  höchstens  3 Frauenspersonen  — <>eo*enüber  5 

mul  ott  12-20  bei  gutem  Geschäftsgänge  — beschäftigten, 
andere  vollständig  geschlossen  waren. 

I3ie  damalige  Erhebung,  deren  Resultate  gegenwärtig  mit 
einem  Cresetzesvorschlage  für  ein  Arbeiterinnenschutzgesetz  in 
einer  vom  6.  Mai  d.  J.  datirten  Botschaft  des  Regierungsrathes  an 
den  grossen  Rath  publicirt  werden,  ergab  das  Resultat,  dass 
mein  als  ^ Personen  von  155  Etablissements  beschäftigt  wurden, 
und  zwai  von  1 1 1 mit  der  Stickerei  in  Zusammenhang  stehenden 
Betrieben,  von  17  Damenschneidereien,  Putzmachereien  und 
Weissnähereien,  14  Wäschereien  und  Glättereien,  10  Konfektions- 
geschäften, je  1 Konservenfabrik,  Schirmfabrik  und  Lumpen- 
faktorei  Hiervon  kamen  gerade  die  Hälfte  (78)  auf  die  Stadt 
, . j.n>  die  anderen  (77)  auf  den  übrigen  Kantonstheil ; von 

den  in  diesen  Etablissements  thätigen  2209  Arbeiterinnen  waren 
6 unter  14  Jahre  alt,  88  standen  im  Alter  von  14  -16,  276  im  Alter 
von  16-18  Jahren  und  1839  hatten  das  18  Jahr  überschritten, 
1884  waren  ledig  und  325  verheirathet. 

. , • ^ei  c^er  Erhebung  fanden  sich  neben  zufriedenstellenden 
Arbeitsi  aumen  auch  völlig  unzulängliche  und  direkt  gesundheits- 
schädliche, selbst  neuerstel  te  Ausrüstereien  wurden  konstatirt, 
in  denen  nicht  einmal  4 cbm  Luft  auf  den  Kopf  der  Arbeiterin 
kamen.  1 

r , wf  durchschnittliche  Arbeitszeit  betrug  11,  in  manchen 
Geschäften  12—13,  m anderen  10  Stunden.  Die  Klagen  über  zu 
weit  gehende  Ueberarbeitszeit  und  daraus  folgender  Ueberan- 
strengung  und  Ermüdung  (insbesondere  auf  Kosten  der  folgenden 
lagesarbeiti  waren  ziemlich  allgemein  und  wurden  am  meisten 
von  Arbeiterinnen  der  Modengeschätte,  Damenschneidereien  und 
Ausrüstereien  laut  Demgemäss  hat  sich  auch  die  grosse  Mehr- 
zahl der  Arbeiterinnen  für  den  Erlass  eines  Schutzgesetzes  aus- 
gesprochen. ö 

Im  Anschlüsse  an  die  Resultate  jener  Erhebung  theilt  der 
Regierungsrath  ein  Gutachten  des  Fabrikinspektors  mit.  Dieser 
schreibt  u.  A.: 

„Lehrtöchter  bei  Näherinnen,  oft  noch  nicht  14  Jahre  alt. 
nicht  selten  schlecht  genährt  der  frischen  Luft  die  ganze  Woche 
entzogen,  müssen  halbe  und  ganze  Nächte'  bei  der  Arbeit  aus- 
arren.  Ausrüsterinnen,  Verweberinnen,  Arbeiterinnen  in  kleinen 
Konfektionsgeschäften  bleiben  oft  bis  1 und  2 Uhr  Nachts  an- 
gespannt,  und  dies  Tag  für  Tag  durch  Wochen  hindurch.  Man 
achtet  kaum  aut  solchen  Missbrauch,  denn  die  Arbeit  wird  ja 
meist  still  und  geräuschlos  in  kleinen  Räumen  ausgeführt,  dann 
wird  sie  auch  so  oft  selbst  am  vSonntag  vorgenommen.  Der 
Mann,  der  m der  Regel  m eigentlichen  Fabriklokalen  und  Werk- 
statten  und  meist  viel  geräuschvoller  arbeitet,  ist  solcher  Aus- 
nutzung nicht  von  ferne  so  ausgesetzt. 

Dazu  kommt  noch  ein  weiterer  Umstand  — unter  diesen 
unkontrollierten  Geschäften  schmuggeln  sich  solche  ein,  welche 
veimoge  ihrer  Arbeiterzahl  unter  das  Fabrikgesetz  gehören. 
f,achsticken,  Zusammennähen  der  Mauhairs,  Verweben  von  Fein- 
stickereien  u.  s.  f.,  all’  dies  wird  so  vor  der  fabrikpolizeilichen 
Aufsicht  m Sicherheit  gebracht.  Und  welche  Lokalitäten  nehmen 
,le^c  ^eu*:e  aul.  Ich  habe  bei  Inspektionen  wegen  Neuunter- 
Stellungen  ganz  unglaublich  schlechte  sanitärische  Verhältnisse, 
so?ar  ln  vermeintlich  schönen,  selbst  eleganten  Arbeitsräumen 
ge  unden.  In  solchen  Räumen  halten  sich  aber  nicht  nur  Kinder 
und  schwächliche  Personen  auf,  sondern  selbst  Wöchnerinnen, 
die  ganz  kurze  Zeit  nach  ihrem  Wochenbett  zu  ihrer  Beschäfti- 

*F™ckkehren,  welche  ihrer  Gesundheit  nicht  selten  sehr 
ge  anrlich  wird.  Die  Fabrikarbeiterin  ist  geschlitzt;  sie  ist  preis- 
gegeben. ’ t 1 

k"  r W-  so^  aber  erst  von  den  Kellnerinnen  sagen?  Ich 
m fest  überzeugt,  manche  derselben  werden  durch  ihre  Lieber- 
anstrengung zur  Sitten! osigkeit  geführt  Erschöpft  suchen  sie 
durch  geistige  Getränke  ihre  Kräfte  zu  erhalten,  ihr  Nervensystem 
anzuregen.  Ihre  überreizten  Nerven  machen  sie  widerstandsloser 
gegen  die  drohenden  sittlichen  Gefahren.  Wie  erschöpfend  mit 
der  Zeit  eine  solche  Beeinträchtigung  des  Schlafes  wirkt,  wie 
sie  hier  vorkommt,  bedarf  keiner  Erörterung.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Der  Erfurter  Schulimacherstrike  vom  Jahre  18!K)  war 

eine  der  langwierigsten  Arbeitseinstellungen  im  deutschen 
: Keiche  Jetzt  wird  die  Abrechnung  dieses  für  die  Arbeiter 
bekanntlich  ungünstig  ausgegangenen  Kampfes  veröffentlicht. 
Kinnahmen  und  Ausgaben  bilanziren  mit  41942,89  M.  Das 
i Defizit  beträgt  221,69  M.  Abgesehen  von  zum  grösseren  Theil 
ruckgezahlten  Darlehen  wurden  die  Kosten  durch  die  Organi- 
' Prionen  und  durch  Sammlungen  aufgebracht.  Die  beiden 
wichtigsten  Einnahmeposten  waren  die  Leistungen  des  Vereins 


deutscher  Schuhmacher  (27  171  M.)  und  der  Generalkommission 
deutscher  Gewerkschaften  (5  430  M.).  Von  anderen  Gewerk- 
schaften wurden  1711,92  M.  beigesteuert,  an  sonstigen  Ein- 
nahmen werden  ausser  575  M.  Darlehen  3 974,05  M verrechnet 
Die  Einnahmen  wurden  hauptsächlich  aul  Unterstützungen 
(39  673,08  M)  verwandt,  andere  bemerkenswerthe  Posten  sind 
die  Rechtsanwaltskosten  >502,33  M.),  für  die  Verwaltung  wurden 
142,75  M.  verausgabt  und  der  in  Folge  des  unglücklichen  Aus- 
ganges gegründeten  Erfurter  Schuhfabrik  ein  ' Mietbsvorschuss 
von  660,50  M.  bewilligt. 

Sinke  in  der  nordböhmischen  Hausindustrie.  Die 

haiisindustriellen  Glasperlenarbeiter  an  der  böhmisch- 
sächsischen  Grenze,  2000  an  der  Zahl,  haben  wegen  Nicht- 
einhaltung der  Minimallöhne  die  Arbeit  eingestellt. 

Organisation  der  deutsch-schweizerischen  Buchdrucker. 

Der  „Typographenbund“  zählte  im  Jahre  1891  121 1 Mitglieder 
(1890:  1150).  Die  Zahl  der  Buchdruckereien  in  der  deutschen 
Schweiz  betrug  315,  von  denen  148  (47%)  dem  Fabrikgesetze 
unterstellt  waren.  Im  Jahrzehnt  1881  — 1891  hat  der  Typographen- 
bund liir  die  Invaliden-  und  Sterbekasse  84615,80  Frcs  für  die 
Krankenkasse  152  055,85  Frcs.,  für  die  Wanderunterstützungskasse 
41  843,65  Frcs  und  für  die  Konditionslosenkasse  7 11565  Frcs. 
verausgabt.  Die  französisch  und  italienisch  sprechenden 
schweizer  Buchdrucker  gehören  einer  besonderen  ca.  500  Mit- 
glieder umfassenden  „Societe  föderative  des  typographes  de  la 
Suisse  Romande“  an. 

Ende  des  Bergarbeiteraiisstandes  in  Durliam.  Der 

Strike  von  90  000  Bergleuten  im  Kohlenrevier  von  Dnrhatn 
hat,  wie  vorauszusehen  war,  mit  der  Niederlage  der  Arbeiter 
geendet.  Im  März  dieses  Jahres  traten  die  Bergwerks- 
besitzer an  ihre  Leute  mit  der  Forderung  heran,  sich  einer 
Lohnreduction  von  10  '/n  zu  unterwerfen.  Die  Bergleute 
Hessen  es  lieber  zum  Strike  kommen,  als  sich  diesem  An- 
sinnen zu  fügen.  Als  ein  für  die  Arbeiter  ungünstiger 
Ausgang  des  Ivampfes  sicher  schien,  erhöhten  die  Gruben- 
besitzer ihre  Forderung  auf  13  W’/ul  am  L Juni  haben  sich  nun 
beide  Parteien  auf  eine  Herabsetzung  von  1 0 °/0  geeinigt.  I3er 
offizielle  Bericht  über  die  Verhandlung,  die  dieserVerständigung 
vorausging,  lautet  wie  folgt : „Einer Einladung  des  Bischof  von 
Durham  folgend  begab  sich  die  Lohnkommission  der  Durhäm 
coal  Owners  Association  heu.e  zum  Bischof  Auckland,  wo 
sie  mit  dem  Federation  Board  (dem  Repräsentanten  der 
Arbeiter)  unter  Vorsitz  des  Bischofs  eine  Sitzung  abhielt. 
Das  Resultat  der  Verhandlung  zeigt  folgender  Beschluss: 
„Nachdem  das  Federation  Board  Aufklärungen  über  ein  in 
Zukunft  einzurichtendes  System  gütlicher  Verständigung 
gegeben,  welches  der  Bischof  von  Durham  den  Bergwerks- 
besitzern  als  befriedigend  empfohlen  und  nachdem  der 
Bischof  den  Besitzern  an’s  Herz  gelegt,  — nicht  auf 
Grund  eines  Urtheils  ob  die  Forderung  der  Besitzer 
von  IS'/a'/,  berechtigt  sei,  sondern  einfach  in  Erwägung 
der  verarmten  I^age  der  Leute  und  des  allgemein  herrschen- 
den Elends,  — die  Gruben  wieder  zu  eröffnen,  fügten  sich 
die  Besitzer  der  Aufforderung  des  Bischofs,  in  der  Erwar- 
tung,  dass  die  Löhne  in  Zukunft  durch  das  in  Erwägung 
gezogene  System  gütlicher  Verständigung  festgestellt 
werden  sollen.“ 

Eröffnung  der  Pariser  Central -Arbeitsbörse.  Die 

schon  so  lange  erwartete  Eröffnung  bezw.  Uebergabe  der 
Central- Arbeitsbörse  an  die  Pariser  Arbeitersyndikate, 
deren  Zahl  gegenwärtig  230  beträgt,  fand  am  29.  Mai 
statt.  Der  Präsident  des  Munizipalrathes,  Herr  Sauton,  der 
nach  2 Uhr  auf  der  Estrade  des  grossen,  für  allgemeine 
Gewerkschaftsversammlungen  bestimmten  Saales  erschien, 
aut  welcher  sich  bereits  das  Gros  der  Munizipalräthe,  der 
Pariser  Abgeordneten  und  der  Mitglieder  der  Exekutiv- 
kommission der  Arbeitsbörse  befand,  hielt  die  Eröffnungs- 
rede. Aus  derselben  wäre  besonders  zu  erwähnen,  dass  er 
sich  glücklich  schätzte,  öffentlich  erklären  zu  können,  dass 
die  so  olt  verlästerten,  vom  Munizipalrathe  festgesetzten 
Arbeitsbedingungen,  unter  welchen  die  von  der  Stadt  zu 
vergebenden  öffentlichen  Arbeiten  auszuführen  sind,  näm- 
lich: neunstündiger  Arbeitstag,  ein  Ruhetag  in  der  Woche, 
Bezahlung  des  aufgestellten  Minimallohnes  und  Verbot  der 
Anstellung  von  Unterakkordanten,  sich  beim  Baue  dieser 
Arbeitsbörse  vollauf  bewährt  haben,  da,  weit  entfernt,  den 
Voranschlag  zu  überschreiten,  wie  das  sonst  gewöhnlich  der 
Fall,  derselbe  nicht  einmal  erreicht  wurde.  Was  aber  noch 
mehr  hervorzuheben  wäre,  das  ist  der  Geist  internationaler 
Solidarität,  der  Hei  dieser  Feier  so  lebhaft  zum  Ausdruck 
kam.  So  fand  Herr  Sauton  besonders  lebhaften  Beifall 
wegen  der  Schlussstelle,  als  er  sagte : „Ich  übergebe  Ihnen 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


290 


No.  23. 


im  Namen  der  Stadt  Paris  diese  Central-Arbeitsbörse  mit 
dem  Vertrauen,  dass  sie  in  Ihren  Händen  ein  Werkzeug  der 
Friedensstiftung  sein  wird,  das,  Ihnen  den  Sieg  Ihrer  ge- 
rechten Forderungen  sichernd,  gleichzeitig  durch  die  Ver- 
bindungen, die  Sie  berufen  sein  werden,  mit  den  Arbeitern 
der  übrigen  Länder  anzuknüpfen,  dazu  beitragen  wird,  eines 
Tages  den  Weltfrieden  zu  stiften.“  Am  Abend  fand  im 
selben  Saale  die  Schlussfeier  statt,  die  der  Munizipalrath  zu 
Ehren  der  Arbeitersyndikate  veranstaltet  hatte  und  aus  einem 
Konzert  und  „Ehrenwein“  bestand.  Während  dieser  heier 
war  die  Fagade  der  neuen  Arbeitsbörse  glänzend  be- 
leuchtet. 


Unternehmerverbände. 


Die  Oelsnitz— Gersdorf—  Lugauer  Steinkohlenberg- 
werke haben  nach  Mittheilung  des  in  Zwickau  erscheinen- 
den Bergarbeiterblattes  „Glück  Auf!“  einen  Vertrag  ge- 
schlossen, wonach  Leute:  , 

die  die  vorgeschriebene  Kündigung  nicht  mnehalten 
und  auf  Wunsch  entlassen  werden, 

die  auf  einem  Werke,  ohne  die  in  § 80  sub  b unter 
1 — 6 des  Berggesetzes  vom  16  Juni  1868  angeführten 
Gründe  für  sich  zu  haben,  von  der  Arbeit  wegbleiben, 
oder  dieselbe  verlassen,  ferner  solche  Arbeiter,  die  sich 
nach  Erlangung  ihres  Attestes  resp.  des  Lohnrestes 
in  so  ungebührlicher  und  roh el  Weise  betragen,  dass  ihre 
Aufführung  durch  Laufzettel  bekannt  gegeben  wird,  und 
die,  welche  aus  einem  der  in  § 80  sub  a unter  1 bis  I I 
des  Berggesetzes  angeführten  Gründe  sofort  entlassen 
werden, 

auf  keinem  der  betreffenden  Werke,  bei  Konventionalstrafe, 
in  Arbeit  genommen  werden  dürfen. 

Arbeitszeitbeschränkung  in  der  sächsischen  Stickerei 
industrie.  Der  Vorstand  des  Centralverbandes  der  Stickerei- 
industrie für  Sachsen  hat  beschlossen,  für  die  dem  Ver- 
bände angehörenden  Betriebe  die  früher  beschränkte 
Arbeitszeit  wieder  einzuführen.  Der  Wunsch  darnach  war 
in  der  letzten  Generalversammlung  des  Verbandes  von  der 
überwiegenden  Mehrheit  ausgesprochen  worden.  Darnach 
darf  die  Arbeitszeit  nicht  vor  6 Uhr  Morgens  beginnen  und 
nicht  nach  8 Uhr  Abends  beendet  werden. 

Landwiithschaftliche  Genossenschaften.  Der  allge- 
meine Verband  der  landwirthschaftlichen  Genossenschaften 
des  Deutschen  Reichs  hält  während  der  Tage  vom  13.  bis 
15.  Juni  seinen  8.  allgemeinen  Vereinstag  in  Insterburg  ab. 
Der  Verband  umfasste  am  Schlüsse  des  Jahres  1890  22  Ver- 
bände landwirthschaftlicher  Genossenschaften  und  24  un- 
mittelbar angeschlossene  Genossenschaften,  im  Ganzen  1556 
einzelne  Genossenschaften  mit  103  980  Genossen.  Die  852 
landwirthschaftlichen  Konsumvereine  des  allgemeinen  Ver- 
bandes bezogen  1890  durch  ihre  Centralstellen  bezw.  Central- 
genossenschaften 2 153  178  Zentner  Waaren,  für  welche  ein 
Gesammterlös  von  7 504  104  M.  erzielt  wurde.  Aus  dem 
reichhaltigen  Waarenbezug  heben  wir  hervor:  60  646  Ztr. 

Chilisalpeter,  172  672  Ztr.  Superphosphate,  407  694  Ztr. 
Thomasschlacke,  167  000  Ztr.  Kainit,  zusammen  1060  256  Ztr. 
Düngemittel  und  500  000  Ztr.  Futtermittel. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Zur  Ausführung  der  neuen  Gewerbeordnung  für  das 
deutsche  Reich.  Es  ist  bezeichnend  für  den  Geist  der 
neuen  Gewerbeordnung,  dass  gerade  die  moralisirenden 
Bestimmungen  derselben,  auf  welche  regierungsseitig  der 
grösste  Werth  gelegt  wurde,  die  grössten  Unzuträglich- 
keiten in  der  Praxis  herbeiführen.  Oie  neue  Gewerbeord- 
nung bestimmt  in  § 107,  dass  das  Arbeitsbuch  eines  Ar- 


beiters, der  das  16.  Lebensjahr  noch  nicht  vollendet  hat, 
nach  rechtmässiger  Lösung  des  Arbeitsverhältnisses  an  den 
Vater  oder  Vormund  des  Arbeiters  und  nicht  an  den 
Arbeiter  selbst  auszuhändigen  ist.  Die  Aushändigung  an 
den  Arbeiter  selbst  darf  nur  mit  Genehmigung  der  Ge- 
meindebehörde geschehen.  Zu  diesem  Paragraph  der  Ge- 
werbeordnung bestimmt  die  württembergische  Ministerial- 
verfügung  vom  26.  März  1892  im  § 19,  dass  die  Genehmi- 
gung zur  Aushändigung  an  den  Arbeiter  selbst  von  dem 
Gemeinderath  des  Ortes,  wo  der  Arbeiter  seinen  dauern- 
den Aufenthalt  hat,  ertheilt  werden  kann.  Die  Genehmi- 
gung ist  nach  der  Ministerialverfügung;  insbesondere  in 
solchen  Fällen  zu  ertheilen,  wo  die  Aushändigung  der  Ar- 
beitsbücher an  den  Vater  oder  Vormund  wegen  dessen 
Abwesenheit  schwer  zu  bewirken  ist.  Diese  Bestimmungen 
haben  in  Stuttgart  schon  jetzt  zu  grossen  Unzuträglich- 
keiten geführt.  In  jedem  Frühjahr  kommen  von  den  Land- 
orten junge  Leute  unter  16  Jahren  in  grosser  Zahl  nach 
Stuttgart,  um  bis  zum  Herbst  bei  Bauten  zu  arbeiten. 
Wenn  diese  jungen  Leute  ihr  Arbeitsverhältniss  lösen,  so 
können  sie  erst  dann  wieder  in  eine  neue  Stellung  eintre- 
ten,  wenn  sie  sich  in  den  Besitz  ihres  Arbeitsbuches  ge- 
setzt haben.  In  den  Besitz  des  Arbeitsbuches  können  sie 
entweder  dadurch  kommen,  dass  das  Buch  von  dem  frühe- 
ren Arbeitgeber  dem  auswärts  wohnenden  Vater  und  von 
diesem  dem  in  Stuttgart  wohnenden  Arbeiter  zugeschickt 
wird,  oder  dadurch  dass  der  Gemeinderath  dem  Arbeit- 
geber die  Genehmigung  giebt,  das  Buch  an  den  Arbeiter 
selbst  auszuhändigen.  In  dem  einen  wie  in  dem  anderen 
Fall  vergehen  mehrere  Tage,  bis  der  Arbeiter  das  Arbeits- 
buch und  dadurch  die  Gelegenheit  zur  Erlangung  einer 
neuen  Stelle  bekommt.  Er  ist  daher  gezwungen,  sich 
mehrere  Tage  beschäftigungslos  in  Stuttgart  her- 
umzutreiben. In  anderen  gewerblichen  Betrieben  können 
sich  die  jugendlichen  Arbeiter  dadurch  helfen,  dass  sie 
während  des  Laufes  der  Kündigungsfrist  die  Genehmigung: 
des  Gemeinderaths,  die  immer  ungefähr  eine  Woche  in. 
Anspruch  nehmen  wird,  einholen.  Für  die  jugendlichen 
Arbeiter  in  Baugeschäften  besteht  aber  diese  Möglichkeit 
nicht,  weil  in  sämmtlichen  Stuttgarter  Baugeschäften  die 
Kündigung  aufgehoben  ist  und  daher  der  Arbeiter  jeden  Tag' 
zu  gewärtigen  hat,  ohne  Weiteres  entlassen  zu  werden. 
Alle  Unzuträglichkeiten  wären  nach  der  Ansicht  des  \ er- 
sitzenden des  Stuttgarter  Gewerbegerichts,  welcher  diesen 
Gegenstand  vor  den  dortigen  Gemeinderath  gebracht  hat, 
vermieden,  wenn  in  der  Ministerialverfügung  bestimmt 
wäre,  dass  nicht  der  Gemeinderath,  sondern  der  Ortsvor-, 
Steher,  bezw.  das  Stadtpolizeiamt  zur  Ertheilung  der  er^ 
forderlichen  Genehmigung  befugt  ist.  Die  Genehmigung! 
des  Ortsvorstehers  oder  des  Stadtpolizeiamts  könnte  ohne. 
Schwierigkeit  am  gleichen  Tage,  an  dem  das  Arbeitsver-; 
hältniss  gelöst  wird,  erlangt  werden  und  es  könnte  daher 
der  Arbeiter  in  allen  Fällen  sofort  eine  neue  Stelle  an- 
treten.  Der  Gemeinderath  beschloss  nun  in  seiner  Sitzung 
vom  19.  Mai  aus  den  vorgetragenen  zutreffenden  Gründen, 
das  königliche  Ministerium  des  Innern  um  eine  Ergänzung 
des  § 19  der  Ministerialverfügung  in  der  Richtung  zu  er- 
suchen, dass  in  dringenden  Fällen  dieser  Art  die  Ortspoli- 
zeibehörde an  Stelle  des  Gemeinderaths  treten  kann. 

ßergarheitergesetzgebung  in  Baden.  Am  I.  Januar  1891 
ist  in  Baden  ein  Berggesetz  vom  22.  Juni  1890  in  Kraft 
o-etreten.  Durch  dasselbe  ist  der  unsichere  und  unhaltbare 
Zustand  auf  dem  Gebiete  des  badischen  Bergrechts  beseitig 
und  der  staatlichen  Verwaltung  des  Bergwesens,  welche  bi; 
dahin  bei  dem  Mangel  fester  Rechtsnormen  ihre  Entschei- 
dungen theils  nach  veralteten  Berggewohnheiten,  theils 
lediglich  nach  administrativem  Ermessen  zu  treffen  hatte,  du 
Möglichkeit  einer  erspriesslichen  Thätigkeit  eröffnet  worden 
Im  Ganzen  waren  im  Jahre  1891  in  Baden  45  Bergwerk! 
(gegen  42  im  Jahre  1890)  im  Betrieb.  Die  vorbezeichnetei 
45  Bergwerke  vertheilen  sich  tolgendermassen:  1 Stein 

kohlenbergwerk,  5 Erzbergwerke,  18  Gypsgruben,  15  Quarz 
sand-  und  Thongruben,  2 Kalkstein-  und  Cementschieter 
gruben,  2 Trippei-  und  2 Mühlsteingruben.  Alsbald  nacl 
dem  Inkrafttreten  des  Berggesetzes  sind  sämmtliche  Berg 
Werksbesitzer  von  der  oberen  Bergbehörde  unter  Hinwe. 
auf  die  Bestimmungen  des  § 74  des  Berggesetzes  und  s ■ 
der  zu  letzterem  erlassenen  Vollzugsverordnung  vom  31.  De 
zember  1890  zur  Einreichung  von  Arbeitsordnungei 
aufgefordert  worden.  Zur  Prüfung  und  Genehmiguni 
wurden  im  Ganzen  9 Arbeitsordnungen  eingereicht,  wovoi 
bis  Ende  1891  7 als  den  gesetzlichen  Vorschriften  ent 


No.  23. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


291 


sprechend  gutgeheissen  worden  sind.  Von  dem  weitaus 
grössten  Theile  der  Bergwerksbesitzer  ist  auf  Grund  des 
§ 74  Absatz  4 des  Berggesetzes  bezw.  § 52  Absatz  4 der 
Vollzugsverordnung  um  Entbindung  von  der  Erlassung 
einer  Arbeitsordnung  nachgesucht  worden.  Diese  Nachsicht 
wurde  bis  zum  Schlüsse  des  Berichtsjahres  in  30  Fällen 
ertheilt.  Zwangsweise  Betriebseinrichtungen  auf  Grund 
der  §§  65  und  70  des  Berggesetzes  haben  während  des 
Berichtsjahres  nicht  stattgefunden.  Verunglückungen  der 
in  § 153  des  Berggesetzes  bezeichneten  Art  sind  im  Jahre 
1891  bei  der  Bergbehörde  nicht  zur  Anzeige  gelangt;  auch 
ist  keine  Anzeige  über  eine  auf  einem  Bergwerke  einge- 
tretene Gefahr  (§  152  des  Berggesetzes)  erstattet  worden, 
was  zum  Theil  darauf  zurückzuführen  sein  dürfte,  dass  den 
Bergwerksbesitzern  und  Betriebsführern  die  Bestimmungen 
der  §§  152  und  153  des  Berggesetzes  nicht  genügend 
bekannt  sind.  Es  sind  nach  dieser  Richtung  neuerlich 
Instruktionen  für  die  Aufsichtsbeamten  erlassen  worden. 
Im  laufenden  Jahre  werden  sämmtliche  in  Betrieb  befind- 
lichen Bergwerke  und  unterirdischen  Gruben  von  Amts- 
wegen befahren  werden. 

Zur  Berggesetznovelle.  Erst  jetzt  wird  näher  bekannt, 
welche  Forderungen  im  Einzelnen  die  Bergleute  der  fis- 
kalischen Kohlengruben  im  Saar  re  vier  mit  Bezug  auf  der 
Berggesetzreform  aufgestellt  haben.  Sie  beschlossen  folgende 
Petition : h Achtstündige  Schichtdauer  für  sämmtliche 

Arbeiter  über  Tag  und  unter  Tag  und  für  sämmtliche  im 
Förderbetrieb  angestellten  Arbeiter,  einschliesslich  der  Einfahrt 
und  der  Ausfahrt.  § 2.  Die  Häuer  über  Tage  und  die  Häuer 
unter  Tage  sollen  im  Schichtlohn  nicht  unter  fünf  Mark  erhalten. 
§ 3a.  Die  Akkord-  oder  Gedingarbeiter  sollen  nicht  unter  fünf 
Mark  täglich  erhalten  und  soll  ihnen  im  Falle  höheren  Ver- 
dienstes dieser  nicht  herabgemindert  werden.  § 3 b.  Die 
Schlepper  sollen  auf  die  Dauer  von  3 Jahren  vier  Schichten  ab- 
gesetzt erhalten,  d h.  ein  Sechstel  der  Schicht  soll  ihnen 
weniger  als  den  Hauern  angerechnet  werden.  § 4.  Die  Kinder 
der  Bergleute  resp.  nur  deren  Söhne  sollen  vor  anderen  bei  An- 
legung berücksichtigt  werden  und  zwar  nach  der  Reihenfolge 
ihrer  zeitlichen  Anmeldung.  § 5.  Die  geförderte  Kohle  soll  nach 
dem  Gewicht  bestimmt  und  darnach  erst  die  Frage  entschieden 
werden,  was  etwa  als  untauglich  oder  unsauber  abzuziehen  sei. 
§ 6 Es  soll  ein  Schiedsgericht  gebildet  werden,  das  bei  allen 
Äenderungen  im  Grubendienst,  bei  allen  hervortretenden 
Schäden  und  Schwierigkeiten,  bei  allen  Streitigkeiten  der  Berg- 
leute unter  sich  und  mit  Bediensteten  und  Beamten  und  bei  der 
Festsetzung  der  Normalsätze  der  Gedinge  mitberathet  und  mit- 
beschliesst.  Das  Schiedsgericht  soll  hergestellt  werden  durch 
sieben  Mitglieder:  a)  den  Abtheilungsbeamten,  b)  zwei  von  der 
Belegschaft  zu  wählenden  Beamten,  c)  drei  von  der  Belegschaft 
zu  wählenden  Bergleuten,  d)  dem  von  der  Belegschaft  zu 
wählenden  Vorsitzenden  des  Schiedsgerichts,  welcher  mindestens 
zehn  Jahre  Bergmann  gewesen  sein  muss.  § 7.  An  Stelle  der 
§§  80-  90  der  vorgeschlagenen  Berggesetznovelle  soll  die  Be- 
stimmung treten:  Ohne  Einwilligung  des  Schiedsgerichts  kann 
kein  Bergmann  dauernd  abgelegt  werden.  Gegen  zeitweilige 
Ablegung  steht  der  Rekurs  an  das  Schiedsgericht  zu.  Ent- 
scheidet das  Schiedsgericht  gegen  die  zeitweilige  Ablegung,  so 
wird  dem  betroffenen  Bergmann  der  ausgefallene  Verdienst 
nachbezahlt.“  Nebenbei  beschloss  man  folgende  Resolution,  die 
darauf  schliessen  lässt,  dass  die  Saarbergleute  die  Betriebsver- 
hältnisse der  fiskalischen  Gruben  keineswegs  als  „mustergiltig“ 
betrachten:  „Die  unterfertigten  Bergleute,  welche  ihre  Anträge 
zur  Berggesetznovelle  gestellt  haben,  erheben  gleichzeitig 
energisch  Protest,  dass  der  Antrag  auf  Einführung  bezw. 
Wiedereinführung  der  dreijährigen  Lehrzeit  für  Vollhäuer  nichts- 
sagenden Ausflüchten  und  Versprechungen  zum  Opfer  gebracht 
und  das  Leben  der  Arbeiter,  wie  bereits  bei  der  zweiten  Lesung 
von  Sr.  Excellenz  dem  Herrn  von  Berlepsch  berührt  worden, 
gefährdet  wird.  Ferner  protestiren  dieselben  gegen  die  jetzt 
überhandnehmende  Uebung  der  Fiskalgruben  des  Saarreviers, 
dass  Bergleute  in  grösserer  Zahl  ohne  Gründe  oder  unter  Zu- 
fügung des  verleumderischen  Hohnes,  sie  seien  Faullenzer,  ab- 
gelegt werden.“ 

Am  29.  Mai  fand  in  Dortmund  eine  Bergarbeiterversamm- 
lung  des  Ortsvereins  statt,  in  welcher  nach  einem  Vortrage  des 
Bergmanns  Zimmermann  folgende  Entschliessung  einstimmig  an- 
genommen wurde:  ,,An  das  hohe  Herrenhaus,  Berlin!  Die  heutige 
Versammlung  des  Ortsvereins  „Glückauf“,  Dortmund,  beschloss 
nach  Besprechung  der  Berggesetznovelle,  dem  hohen  Herrenhause 
die  Bitte  zu  unterbreiten:  lieber  den  Entwurf  zur  Abänderung 
des  Berggesetzes,  wie  ihn  das  preussische  Abgeordnetenhaus  zu 
1 Stande  gebracht  hat,  ganz  fallen  zu  lassen,  als  ihn  in  dieser 
I Form  anzunehmen.  Die  Versammlung  drückt  dabei  den  Wunsch 
aus,  dass  es  der  Staatsregierung  in  Verbindung  mit  den  auf- 
richtig arbeiterfreundlichen  Parteien  des  Landes  gelingen  werde, 
recht  bald  einen  anderen  Gesetzentwurf  auch  im  preussischen 
Abgeordnetenhaus.'  durchzubringen,  welcher  de  berechtigten 
Forderungen  und  Interessen  der  Bergleute  in  wirksamer  Weise 
i schützt.  Der  Entwurf  in  seiner  jetzigen  Gestalt  wird  die 


sozialen  Gefahren  nicht  bannen,  sondern  Tausende  treuer  Söhne 
des  Vaterlandes  mit  neuem  Misstrauen  erfüllen  und  der  Ver- 
führung der  Sozialdemokratie  zugänglich  machen.“ 

Die  Sonntagsruhe  für  das  berliner  Bäckergewerbe  wird 
nach  neueren  Mittheilungen  nicht  am  1 Juli  sondern  erst 
am  I.  Oktober  d.  J.  in  Kraft  treten.  Die  Arbeit  darf  aber 
auch  dann  schon  um  Mitternacht  wieder  beginnen.  Der 
Verkauf  von  Backwaaren  an  Sonntagnachmittagen,  um 
dessen  Bewilligung  die  berliner  Bäckermeister  in  einer 
Eingabe  das  Polizeipräsidium  ersuchten,  wurde  nicht  ge- 
nehmigt. 

Schutzvorschriften  für  ländliche  Arbeiter.  Nach  dem 
Bericht  des  grossherzogl.  hessischen  Fabrikinspektors  (I  Auf- 
sichtsbezirks Starkenburg  und  Worms)  für  1891  wurde  in  diesem 
Jahre  für  den  Umfang  des  Kreises  Darmstadt  eine  Polizeiver- 
ordnung, betreffend  den  Betrieb  landwirtschaftlicher  Maschinen, 
erlassen.  Nach  derselben  müssen  bei  allen  durch  ein  Göpelwerk 
oder  ein  Lokomobile  betriebenen  landwirtschaftlichen  Ma- 
schinen die  das  Göpelwerk  mit  der  Maschine  verbindende  Welle 
und  alle  beweglichen  Theile  an  Maschine  und  Göpel , welche 
nach  Lage  und  Beschaffenheit  geeignet  sind,  Unglücksfälle 
herbeizulühren,  mit  einer  starken  Bekleidung  aus  durchlochtem 
Blech,  Drahtgitter  oder  Brettern  gesichert  sein.  Bei  Trans- 
missionsriemen ist  der  Zugang  durch  Geländer  oder  Seile  ab- 
zusperren. Es  muss  künftig  an  allen  in  Gebrauch  zu  nehmenden 
landwirtschaftlichen  Maschinen,  welche  durch  ein  Göpelwerk 
oder  ein  Lokomobile  in  Betrieb  gesetzt  werden,  eine  Vor- 
richtung angebracht  werden,  welche  die  an  der  Maschine  ar- 
beitenden Personen  in  den  Stand  setzt,  die  Verbindung  zwischen 
dieser  und  dem  Göpelwerk  oder  dem  Lokomobile  sofort  zu 
unterbrechen  (Ausrückevorrichtung).  An  Maschinen  im  Betrieb 
ist  das  Entfernen  der  Schutzbekleidung,  das  Schmieren  inner- 
halb der  letzteren  und  das  Arbeiten  in  der  Einlegeöftnung  mit 
der  Hand  oder  dem  Fuss  verboten.  Die  Arbeiter  müssen  eng- 
anliegende Kleidung  und  festsitzendes  Schuhwerk  tragen, 
betrunkene  oder  epileptische  Personen  dürfen  gar  nicht,  weib- 
liche nur  an  ganz  ungefährlichen  Stellen  verwendet  werden. 
Der  Zutritt  zum  Arbeitsplatz  ist  LTnbefugten  untersagt.  Ausser 
Betrieb  befindliche  Rübenmühlen  und  Häckselschneidmaschinen 
müssen  entweder  in  einem  verschlossenen  Raum  aufbewahrt 
oder  durch  Schloss  und  Kette  derart  verwahrt  werden,  dass  sie 
nicht  in  Umdrehung  gesetzt  werden  können.  Es  wäre  sehr  zu 
wünschen,  dass  diese  Massnahme  mehr  verallgemeinert  und 
ihre  Kontrolle  unter  eine  bessere  Spezialaufsicht  gestellt  würde 

Sonntagsruhe  der  Eisenbahnbediensteten.  Frühere 
Nachrichten  über  die  Einschränkung  der  Sonntagsarbeit  im 
Gebiete  der  preussischen  Staatsbahnen  werden  durch  fol- 
gende neuere  Mittheilungen  ergänzt.  Wie  aus  Bromberg 
gemeldet  wird,  ist  dort  eine  Konferenz  von  Eisenbahn- 
Betriebsleitern  und  Kommissaren  der  Regierung  zusammen- 
getreten, um  über  die  Sonntagsruhe  im  Güterverkehr  zu 
berathen.  Beabsichtigt  wird,  die  Sonntagsruhe  von  .Sonn- 
abend Mitternacht  bis  Montag  6 Uhr  früh  festzusetzen,  die 
Güterzüge  sollen  in  den  Stationen  bleiben,  wo  sie  um 
Mitternacht  ankommen,  das  Zugpersonal  soll  thunlichst  mit 
Personenzügen  heimgesandt  werden  und  Montag  Morgens 
zurückkehren,  was  den  am  Rhein  bereits  getroffenen  An- 
ordnungen entsprechen  würde.  Ferner  dürfen  Sonntags 
nach  einer  Verfügung  der  königlichen  Eisenbahn-Direktion 
Erfurt  Ladungsgüter  nur  dann  abgefahren  werden,  wenn 
eine  schriftliche  Bescheinigung  der  Ortspolizeibehörde  vor- 
hegt, in  welcher  ausdrücklich  gesagt  ist,  dass  eine  unbe- 
dingte Nothwendigkeit  vorliegt. 

Folgen  des  Ruhetagsgesetzes  für  die  schweizerischen 
Eisenbahnen.  Eine  wesentliche  Ursache  der  erhöhten  Aus- 
gaben der  schweizerischen  Eisenbahnen  wird  auf  die  sich 
bei  der  Durchführung  des  Ruhetagsgesetzes  als  nöthig  er- 
wiesene Vermehrung  des  Personals  zurückgeführt.  Wäh- 
rend von  1889  auf  1890  die  Zahl  der  Angestellten  der  fünf 
grossen  schweizerischen  Eisenbahngesellschaften  nur  um 
911  von  14  067  auf  14  978  stieg,  steigerte  sie  sich  von  1890 
auf  1891  um  1949  von  14  978  auf  16  927.  Hier  zeigt  sich, 
eine  unleugbare  Einwirkung  des  Arbeiterschutzes  auf  die 
industrielle  Reservearmee,  welche  bei  den  eigentlichen  ge- 
werblichen Betrieben  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nicht 
stattfindet. 


292 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  23. 


Arbeiterversicherung. 


Revision  der  „ortsüblichen  Taglöhne“  nach  dem  neuem 
Krankenversicherungsgesetze.  Vor  dem  Inkrafttreten  der 
Novelle  zum  Krankenversicherungsgesetz,  also  vor  dem  1.  Januar 
1893,  ist  eine  Revision  der  Festsetzungen  der  ortsüblichen  Tag- 
löhne gewöhnlicher  Tagarbeiter  vorzunehmen,  bei  welcher  für 
Württemberg  nach  einer  Verfügung  des  Ministeriums  des 
Innern  vom  23.  Mai  von  folgenden  Grundsätzen  auszugehen  ist: 
l.  Den  Bezirksämtern  bleibt  es  überlassen,  die  Festsetzung  für 
jede  einzelne  Gemeinde  ihres  Bezirks  besonders  oder,  sofern 
die  Verhältnisse  im  Wesentlichen  gleich  liegen,  für  mehrere 
Gemeinden  oder  den  ganzen  Oberamtsbezirk  gemeinsam  zu 
treffen.  Eine  vorherige  Anhörung  des  Gemeinderaths  jeder  ein- 
zelnen Gemeinde  hat  aber  auch  dann  zu  erfolgen,  wenn  die 
Festsetzungen  für  den  ganzen  Bezirk  oder  Theile  desselben 
gemeinsam  getroffen  werden  sollen.  2.  Für  jeden  Gemeinde- 
bezw.  Oberamtsbezirk  müssen  zufolge  § 8 des  R -Ges.  wenigstens 
vier  Lohnsätze  festgestellt  werden,  nämlich  für  männliche  Per- 
sonen über  16  Jahren,  für  männliche  Personen  unter  16  Jahren, 
für  weibliche  Personen  über  16  Jahren  und  für  weibliche  Per- 
sonen unter  16  Jahren.  Für  solclie  Bezirke,  in  denen  die  Lohn- 
verhältnisse der  unter  16  Jahre  alten  (jugendlichen)  gewöhn- 
lichen Tagarbeiter  erhebliche  Verschiedenheit  aufweisen, 
je  nachdem  es  sich  um  „junge  Leute“  zwischen  14  und 
16  Jahren  oder  um  „Kinder“  unter  14  Jahren  handelt,  sind 
getrennte  Festsetzungen  für  beide  Kategorien  zulässig,  wobei 
dann  wiederum  zwischen  männlichen  und  weiblichen  Personen 
zu  unterscheiden  ist  Weitere  Unterscheidungen  sind  aus- 
geschlossen. 3.  Bei  der  Festsetzung  sind  nur  die  Löhne  solcher 
Lersonen  zu  Grunde  zu  legen,  welche  Arbeiten,  die  eine  be- 
sondere Vorbildung  oder  besondere  technische  Fertigkeiten 
nicht  erfordern,  als  gewöhnliche  Tagarbeiter  verrichten. 
Es  scheiden  dabei  also  insbesondere  alle  sogenannten  gelernten 
Arbeiter  aus.  Arbeiter,  die  in  einem  festen,  für  längere  Zeit  ab- 
geschlossenen Dienstverhältniss  zu  einem  bestimmten  Arbeit- 
geber stehen,  können  als  „gewöhnliche  Tagarbeiter“  in  der 
Regel  nicht  angesehen,  also  bei  Festsetzung  der  hier  in  Be- 
tracht kommenden  Lohnsätze  in  der  Regel  nicht  mitberück- 
sichtigt werden.  Der  Lohn  von  Lehrlingen  bleibt  ausser  An- 
satz, weil  Lehrlinge  keine  „gewöhnlichen  Tagarbeiter“  sind. 
Wenn  das  Gesetz  vorschreibt,  dass  für  Lehrlinge  die  für  junge 
Leute  getroffene  Feststellung  gelten  soll,  so  bezieht  sich  dies 
nur  auf  die  Anwendung  der  festgestellten  Sätze,  nicht  auf  die 
Feststellung  derselben.  4.  Die  Festsetzung  erfolgt  nach  Mass- 
gabe  desjenigen  Lohns,  welcher  den  gewöhnlichen  Tagarbeitern 
(Ziffer  3)  an  dem  betreffenden  Ort  thatsächlich  für  den  Arbeits- 
tag gewährt  zu  werden  pflegt.  In  solchen  Bezirken,  wo  der 
Taglohn  in  den  einzelnen  Jahreszeiten  eine  ver- 
schiedene Höhe  hat,  sind  die  wirklichen  Tagesver- 
dienste für  300  Werktage  zu  addiren  und  durch  300 
zu  t heilen.  5 Dem  in  baarem  Gelde  gewährten  Lohnbetrage 
ist  der  Werth  von  Naturalbezügen  (Beköstigung  oder  dergl.) 
hinzuzurechnen,  wenn  und  soweit  solche  dem  gewöhnlichen 
I agarbeiter  gewährt  werden.  Die  neu  festgesetzten  Taglohn- 
sätze  sind  bis  1.  Juli  d J.  in  den  Amtsblättern  zu  veröffent- 
lichen. — Soweit  die  ministerielle  Ausführungsverordnung.  Aus 
derselben,  namentlich  aus  der  Vorschrift  unter  4.  geht  von 
Neuem  hervor,  dass  die  amtlichen  Taglohnfestsetzungen  auf 
Grund  des  Krankenversicherungsgesetzes  keine  sozialwissen- 
schaftlich verwerthbare  Ziffern  liefern  können. 

Die  Photographie  im  Dienste  der  Unfallversicherung. 

Die  Bezirkshauptmannschaft  Baden  ist,  wie  wir  dem  Wiener 
„Arbeiterschutz“  entnehmen,  an  die  niederösterreichische  Unfall- 
versicherungsanstalt mit  dem  sehr  beherzigenswerthen  Vor- 
schläge herangetreten,  den  örtlichen  Thatbestand  gleich  nach 
einem  erfolgten  Unfälle  durch  Photographie  zu  fixiren  und  hie- 
durch ein  wichtiges  Substrat  für  die  Amtshandlung  besonders 
dann  zu  gewinnen,  wenn  der  Thatbestand  vorübergehend  oder 
sonst  veränderlich  ist.  Da  es  bei  dem  ersten  Lokalaugenscheine 
ott  auf  Details  ankommt,  die  nur  ein  Sachverständiger  zweck- 
entsprechend zu  würdigen  vermag,  welcher  jedoch  dieser  ersten 
Besichtigung  meist  wegen  deren  Dringlichkeit  nicht  beiwohnen 
kann,  so  schlägt  die  genannte  Behörde  vor,  den  Thatbestand 
durch  photographische  Aufnahme  festzustellen.  Die  Bezirks- 
hauptmannschatt geht  hier  von  der  Annahme  aus,  dass  durch 
einen  solchen  Vorgang  nicht  nur  der  allgemeine  Eindruck  und 
die  Einzelheiten  der  Unglückstätte  weit  anschaulicher  und 
präziser  wiedergegeben  werden  könnten,  als  durch  die  beste 
Beschreibung,  sondern  dass  damit  auch  solche  Details  fixirt 
würden,  welche  dem  Laien  entgehen  oder  unwesentlich  er- 
scheinen, während  sie  dem  Sachverständigen  zur  unentbehr- 
lichen Grundlage  seiner  Schlüsse  zu  dienen  vermögen.  Auch 
für  spätere  Revisionen  der  Betriebsanlagen  und  die  Unfall- 
statistik werden  photographische  Momentaufnahmen  von  grossem 
Werthe  sein.  Durch  die  photographische  Aufnahme  wird  die 
Eruirung  des  am  Unfälle  Schuldtragenden  erleichtert,  weil  hie- 
durch den  Folgen  späterer  Hinwegräumung  von  Gegenständen, 
die  den  Unfall  verursacht  haben,  die  oft  auch  wegen  der 
Sicherheit  des  Lebens  erfolgen  muss,  d i.  der  möglichen  Ver- 


tuschung des  Sachverhaltes  vorgebeugt  wird  So  in  Stein- 
brüchen, bei  welchen  überhängende  Steinmassen  in  die  Tiefe 
stürzten  und  die  Unfallstelle  von  herabgefallenen  Steinmassen 
ebenso  gereinigt  wird,  wie  etwa  noch  überhängende  Felsstücke  I 
abgesprengt  werden,  so  bei  Gerüsteinstürzen,  wo  die  Unfallstelle 
aus  Verkehrsrücksichten  oder  um  weitere  Unfälle  zu  verhüten, 
geräumt  werden  muss,  bei  Maschinenbrüchen,  die  mit  Arbeiter- 
unfällen verbunden  sind  und  im  Interesse  des  Geschäftsganges 
sofort  reparirt  werden  müssen  u.  s w. 

Die  Photographie  gestattet  noch  eine  anderweitige  An- 
wendung im  Dienste  der  Unfallversicherung,  indem  der  Ver- 
trauensarzt, welcher  den  Verletzten  zum  Zwecke  der  richtigen 
Rentenbemessung  zu  untersuchen  und  hierüber  ein  genaues 
Gutachten  an  die  Unfallversicherungsanstalt  abzugeben  hat,  das 
verletzte  Glied  photographisch  aufnimmt  und  demnach  ein  in 
seiner  Präzision  die  beste  Beschreibung  übertreffendes  Mittel 
für  die  Beurtheilung  der  Verletzungsart  bietet. 

Es  steht  demnach  zu  erwarten,  dass  die  jüngst  popularisirte 
Kunstfertigkeit  der  photographischen  Aufnahmen  der  LTnfall-  1 
Versicherung  wichtige  Dienste  ebenso  für  die  Klarstellung  des 
Thatbestandes  an  der  Unglücksstätte,  als  auch  der  Verletzungs- 
art und  des  durch  diese  bedingten  Grades  der  Erwerbsunfähig- 
keit leisten  wird. 

Höhere  Entschädigung  von  Unfällen  bei  weiblichen 
Arbeitern  Im  Falle  der  18  jährigen  Arbeiterin  Bertha 
Kempf  sprach  in  letzter  Zeit  das  Schiedsgericht  in  Unfall- 
versicherungssachen den  beachtenswerthen  Grundsatz  aus, 
dass  weiblichen  Arbeitern  bei  deren  mehr  zur  Arbeit  er- 
forderlichen Geschicklichkeit  der  Verlust  der  rechten  Hand 
empfindlicher  sein  müsse,  als  dies  bei  männlichen  der  Fall 
sei  Es  erhöhte  deshalb  deren  Unfallrente  auf  erfolgte  Be- 
rufungsklage gegen  den  Bescheid  der  Berufsgenossenschaft, 
wonach  die  Klägerin  60  pCt.  der  vollen  Unfallrente  zuge- 
billigt wurden,  aut  75  pCt.  Die  Verletzte  hatte,  in  einer 
chemischen  Fabrik  beschäftigt,  zwei  Glieder  des  Zeige-, 
Mittel-  und  Ringfingers  der  rechten  Hand  verloren. 

Krankenversicherung  (1er  Dienstboten  in  Baden.  Die, 

badische  zweite  Kammer  hat  in  ihrer  Sitzung  vom  25.  Mai 
d.  J.  beschlossen,  auch  die  häuslichen  Dienstboten  vom 
Zeitpunkte  des  Inkrafttretens  der  Novelle  zum  Kranken-t 
kassengesetze  dem  Krankenversicherungsgesetze  zu  unter- 
stellen und  die  besondere  landesgesetzliche  Krankenver- 
sicherung derselben  von  diesem  Zeitpunkte  an  wegfallen 
zu  lassen. 

Zur  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  der  See-, 
leute.  Die  deutsche  See-Berufsgenossenschaft  hielt,  wie 
der  Vossischen  Zeitung  mitgetheilt  wird,  am  28.  Mai  in: 
Rostock  ihre  Jahresversammlung,  welche  aus  Hamburg,  Bre- 
men, Lübeck,  Kiel,  Stettin,  Danzig,  Königsberg,  im  Ganzen  aus' 
16  Hafenplätzen  der  Nord-  und  Ostsee  durch  32  Vertreter; 
mit  40  Stimmen  beschickt  war.  Den  Hauptgegenstand  der 
Verhandlungen  bildete  ein  durch  eine  Denkschrift  vorbe- 
reiteter Antrag  des  Vorsitzenden,  Herrn  Laeisz  aus  Ham- 
burg, in  Betreif  der  Invaliden-  und  Altersversicherung  der 
Seeleute.  Dieselbe  wurde  von  allen  Seiten  als  reformbe- 
dürftig erkannt  Namentlich  wurde  hervorgehoben,  dass 
die  Todesfälle  von  Seeleuten  in  Folge  klimatischer  Krank- 
heit nicht  als  Unfall  gelten,  dass  Seeleute  selten  in  den  Be- 
sitz von  Altersrenten  gelangen,  indem  sie  meistens  vor  dem 
70.  Lebensjahre  in  den  Beruf  von  Bootsführern,  Fischern  etc. 
übertreten  u.  s.  w.,  und  dass  der  Aufwand  von  etwa 
400  000  Mk.,  die  jährlich  an  die  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherungsanstalt zu  Lübeck  eingezahlt  werden,  nicht  in 
richtigem  Verhältnis  zu  dem  geschaffenen  Nutzen  und  der 
Masse  von  Arbeit  bei  der  Verwaltung  stehe.  Schliesslich  j 
wurde  der  nachstehende,  von  dem  Vorsitzenden  vorgelegte 
Antrag  mit  39  gegen  eine  Stimme  angenommen:  „Die  Ge- 
nossenschafts-Versammlung hat  von  dem  ihr  unterbreiteten 
Material,  betreffend  Uebernahme  der  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung auf  die  See-Berufsgenossenschaft,  mit  Inter- : 
esse  Ivenntniss  genommen,  und  spricht  ihre  Zustimmung  zu 
den  darin  entwickelten  Gesichtspunkten  aus.  Sie  erblickt 
in  der  jetzigen  Form  der  Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rung eine  ungerechte  Belastung  der  deutschen  Rhederei 
und  des  Seemannsstandes,  welche  neben  einer  Masse  un- 
produktiver Arbeit  nur  verhältnissmässig  geringen  Nutzen 
schafft;  sie  würde  es  als  einen  Segen  für  die  deutsche  See- 
fahrt^ begrüssen,  wenn  ohne  Mehraufwendung  von  Kosten 
die  Fürsorge  für  Wittwen  und  Waisen  der  an  Berufskrank- 
heiten verstorbenen  Seeleute  neben  der  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung  von  der  See-Berufsgenossenschaft  be- 
stritten werden  könnte,  und  beauftragt  den  Vorstand,  die 
hierzu  geeigneten  Schritte  in  die  Wege  zu  leiten.“ 


No.  23. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


293 


Vereins-  und  Fabrikkassen  in  Ungarn.  Unter  den 
Arbeitern  Budapests  herrscht  grosse  Aufregung,  welche 
vielleicht  noch  zu  ausgedehnten  Arbeitseinstellungen  führen 
wird.  Dieselbe  wird  von  den  Unternehmern  verursacht, 
welche  die  Arbeiter  zum  Austritte  aus  ihrer  fast  ein  Viertel- 
jahrhundert bestehenden  Vereinskasse  und  zum  Eintritt  in 
eben  gegründete  oder  in  Aussicht  genommene  Fabrikskassen 
zwingen  wollen. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 


Arbeiterausscliiis.se  in  Oesterreich  Bezeichnend  für  die 
sozialpolitische  Stimmung  in  den  liberalen  Unternehmerkreisen 
Cisleithaniens  ist  die  Stellungnahme  derselben  zu  dem  Plane 
der  dortigen  Regierung,  die  Arbeiterausschüsse  obligatorisch 
einzuführen  Diese  Stimmung  kam  in  sehr  deutlicher  Weise 
zum  Ausdruck  in  einem  Referate,  welches  in  der  letzten  Sitzung 
der  Brünner  Handels-  und  Gewerbekammer  der  Kammersekretär 
namens  der  betheiligten  Sektionen  über  die  Regierungsvor- 
lage, betreffend  die  Schaffung  von  Arbeiterausschüssen  und 
Einigungsämtern,  erstattete.  Der  Bericht  bezeichnet  den  Ge- 
dankengang, in  welchem  sich  der  Inhalt  der  Regierungsvorlage 
bewegt,  als  einen  kühnen;  in  grossen  Zügen  werde  eine  Gesell- 
schaftsorganisation  entworfen  und  als  deren  Ziel  die  Herstellung 
des  Friedens  zwischen  Kapital  und  Arbeiter  betont.  Dieser 
Charakter  der  Regierungsvorlage  sei  ein  utopischer.  Die  Ent- 
wicklung des  industriellen  Lebens  in  Oesterreich  kranke  viel- 
fach daran,  dass  die  Grundsätze  der  Gewerbefreiheit,  gerade 
was  das  Arbeitsverhältniss  anbelange,  nur  schwächlich  und  ver- 
kümmert zur  Durchführung  gekommen  seien.  Insoferne  die 
Regierungsvorlage  eine  liberale  Ausgestaltung  des  gegenwärtigen 
Arbeitsverhältnisses  zum  Ziele  habe,  stimme  die  Brünner  Kammer 
mit  ihr  überein;  hingegen  sei  der  Weg,  den  der  Regierungs- 
entwurf zur  Erreichung  dieses  Zieles  vorschlägt,  nicht  zu  billigen. 
Statt  dem  wirklichen  Leben  und  seiner  Entwicklung  zu  folgen, 
strebe  die  Regierungsvorlage  eine  Uniformirung  und  Regle- 
mentirung  der  sozialen  Bewegung  unserer  Zeit  an.  Der  Ent- 
wurf wolle  die  Freiheit  des  Arbeitsverhältnisses,  er  wolle  sie 
aber  nicht  auf  dem  Wege  der  Freiheit,  sondern  auf  dem  staat- 
licher Fürsorge  erreichen  Die  Ansicht  der  Brünner  Kammer 
gehe  dahin,  dass  der  Weg  freiheitlicher  Entwicklung  nicht 
versperrt,  sondern  im  Gegentheile  erweitert  werden  solle.  In 
diesem  Sinne  würdige  die  Kammer  die  sozialpolitische  Bedeu- 
tung der  Arbeiterausschüsse  vollkommen  und  empfiehlt  deren 
fakultative  Einführung  im  Einvernehmen  zwischen  Unter- 
nehmer und  Arbeiter,  spricht  sich  aber  entschieden  gegen 
die  obligatorische  Einführung  der  Arbeiterausschüsse  in  allen 
fabriksmässigen  Gewerbebetrieben  aus.  Es  gebe  in  Oesterreich 
zahlreiche  iabriksmässige  Gewerbebetriebe,  welche  eine  so 
kleine  Anzahl  Arbeiter  besitzen,  dass  ein  Arbeiterausschuss 
vollkommen  überflüssig  ist,  andererseits  ist  in  allen  Fabrikations- 
zweigen mit  wechselndem  Betriebe  in  Folge  der  zahlreichen 
Unterbrechungen  des  Arbeitsverhältnisses  die  Errichtung  von 
Arbeiterausschüssen  undurchführbar.  Bei  aller  Anerkennung 
für  den  sozialpolitischen  Eifer  eines  Theiles  der  Arbeiterschaft 
wäre  es  doch  ein  übel  angebrachter  Optimismus,  von  allen 
Arbeitern,  ohne  Unterschied  ihrer  Herkunft,  ihres  Geschlechtes, 
ihrer  Ausbildung  und  ihrer  Industrie,  die  gleichmässige  geistige 
Potenz  vorauszusehen.  Der  Bericht  bemängelt  endlich  die  allzu 
rigorosen  Bestimmungen  über  das  aktive  und  passive  Wahlrecht 
in  die  Arbeiterausschüsse.  Die  Industriegenossenschaft  wird 
als  überflüssige,  kostspielige,  von  keiner  Seite  begehrte  Neu- 
bildung abgelehnt,  hingegen  redet  die  Kammer  der  Einführung 
von  Einigungsämtern  wärmstens  das  Wort,  warnt  jedoch  vor 
einer  Verquickung  derselben  mit  den  Gewerbegerichten.  Der 
Bericht  und  die  in  demselben  enthaltenen  Anträge  wurden 
nnt  grosser  Majorität  angenommen.  Ein  Theil  der  praktischen 
Einwände  der  Kammer  dürfte  zutreffen,  nicht  aber  der  theore- 
. tische.  Der  Ausweg  aus  den  Schwierigkeiten  dürfte  allein  in 
der  Schaffung  von  bezirksweisen  Arbeitskammern  bestehen. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 

Wohllungsgesetzgebung  im  Grossherzogthum  Hessen.  Um 

j.n  aus  der  Benutzung  ungesunder  Wohnungen  oder  unge- 
eigneter Schlafstellen  sich  ergebenden  Nachtheilen  für  Gesund- 
heit und  Sittlichkeit  thunlichst  zu  begegnen,  hat  die  hessische 
Regierung  den  Ständen  einen  Gesetzentwurf  zugehen  lassen, 


Verantwortlich  für  die  R 


welcher  das  Ziel  im  Wesentlichen  durch  folgende  Bestimmungen 
zu  erreichen  sucht  Vor  allem  wird  den  mit  der  Untersuchung 
der  Mietwohnungen  befassten  Polizei-  und  Gesundheitsbeamten 
eine  gesetzliche  Befugniss  verliehen.  Es  wird  ferner  eine  obli- 
gatorische Anzeigepflicht  für  die  Wohnungsvermiether  in  Ge- 
meinden von  5000  und  mehr  Seelen  unter  der  Voraussetzung 
begründet,  dass  die  zu  vermiethenden  Wohnungen  weniger  als 
vier  Räume,  einschliesslich  Küche,  enthalten,  oder  Kellerge- 
schosse oder  nicht  unterkellerte  und  weniger  als  0,25  m über 
Terrain,  oder  unmittelbar  unter  Dach  gelegene  Wohnungen  ver- 
miethet  werden  sollen.  Dieselbe  Anzeigepflicht,  jedoch  ohne 
Rücksicht  auf  Seelenzahl  der  Gemeinden,  wird  eingeführt  für 
alle,  welche  Schläfer  bei  sich  aufnehmen  wollen.  Die  Polizei- 
behörde erhält  die  Befugniss,  die  miethweise  Benutzung  der  als 
gesundheitsnachtheilig  befundenen  Räume  entweder  überhaupt 
zu  verbieten  oder  nur  nach  Erfüllung  gewisser  Bedingungen 
zuzulassen.  Aehnliche  Bestimmungen  sind  für  Schlafsteflen'er- 
lassen  mit  der  Verschärfung,  dass  für  jeden  Schläfer  ein  Mindest- 
Luftraum  von  10  cbm  vorhanden  sein  muss.  Gegen  Verfügungen 
der  Polizeibehörden  ist  ein  Beschwerderecht  an  Kreis-  und 
Provinzialausschuss  gegeben.  Unterlassene  Anzeigen  und  mieth- 
weise Benutzung  vor  Ablauf  bestimmter  Frist  oder  gegen  Ver- 
bot sind  mit  Geldstrafen  bedroht.  Im  Wege  der  “Polizeiver- 
ordnung können  weitergehende  Bestimmungen  nach  verschiede- 
nen Richtungen  erlassen  werden. 

Woliiiungsverhältnisse  im  Regierungsbezirke  Königs- 
berg i.  Pr.  Die  Veröffentlichungen  des  kaiserlichen  Gesund- 
heitsamtes publiciren  einen  Auszug  aus  dem  4.  General- 
bericht des  Regierungs-  und  Medizinalrathes  Dr.  Nath  über 
das  öffentliche  Gesundheitswesen  im  Regierungsbezirke 
Königsberg  i.  Pr.,  dem  wir  über  die  Wohnungsverhältnisse 
und  Wohnungspolizei  folgende  Daten  entnehmen; 

In  Königsberg  sind  1887:  162  Wohnungen  in  hygie- 
nischer Beziehung  beanstandet  worden;  39  mussten  voll- 
ständig geräumt  werden,  während  123  in  bewohnbaren 
Stand  gesetzt  wurden.  1888  hat  sich  die  Zahl  der  vor- 
schriftswidrigen W ohnungen  auf  29  vermindert.  In  Königs- 
berg waren  1888,  soweit  ermittelt,  4630  Schlafstellenwirthe 
vorhanden,  von  denselben  beherbergten  2656  nur  männliche, 
1835  weibliche,  139  männliche  und  weibliche  Personen;  bei 
127  von  letzteren  139  war  eine  räumliche  Trennung  nach 
Geschlechtern  durchgeführt,  wo  dies  nicht  der  Fall  war, 
wurde  die  Entlassung  entweder  der  männlichen  oder 
weiblichen  Miether  angeordnet.  Bei  14  Wirthen  (1886;  40, 
1887:  30)  entsprachen  die  Wohn-  bezw.  Schlafräume  nicht 
der  Polizeiverordnung  vom  29.  Dezember  1879;  sie  wurden 
durch  polizeiliche  Verfügung  zur  Entlassung  der  Schlaf- 
steiler  binnen  8 Tage  angehalten. 


Eingesendete  Schritten. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Berger,  C.  Ph , Reg.-Rath,  Reichsg-e  werbeordnung  nebst 
Ausführungsbestimmungen.  Text-Ausgabe  mit  An- 
merkungen und  Sachregister.  12.  Auflage.“  Berlin,  1892. 
J.  Guttentag.  16°.  XIII  und  269  S. 

Chambre  des  Representants  (No.  13),  Seance  du  17.Novem|ire1891. 
Commission  instituee  aupres  du  Departement  de  la 
Justice  pour  la  preparation  de  1’a vant-proj et  d’une 
loi  destinee  ä regier  les  effets  du  contrat  de 
louage  des  ouvriers  et  des  domesticjues.  Proces- 
verbaux  des  seances.  — Projet  de  loi.  — Rapport.  Bruxelles, 
__  1892.  Folio.  440  S. 

Criiger,  Hans  Dr.  jur.,  Secretär  des  allgemeinen.  Verbandes  der 
deutschen  Erwerbs-  und  Wirthschaftsgenossenschaften  etc. 
Die  Er  wer  b s - und  Wirthschaftsgenossenschaften 
in  den  einzelnen  Ländern.  Jena,  1892.  G.  Fischer.  8°. 
VIII  und  375  8. 

Ebert,  L.  und  Hoffmeyer,  R.,  Kellner,  Das  Trinkgeld  und 
die  wirtschaftliche  Lage  der  Kellner  und  Berufs- 
genossen Eine  Aufklärungs-,  Agitations-  und  Antworts- 
schrift zu  der  vom  Pfarrer  Schmidt  herausgegebenen 
Broschüre:  „Des  Kellners  Weh  und  Wohl“.  Berlin,  1882. 
Kommissionsverlag  von  O Harnisch.  8".  48  S. 

Woeiltke,  E.  von,  Krankenversicherungsgesetz  vom 
15.  Juni  1883,  in  der  Fassung  der  Novelle  vom 
10.  April  1892.  Text-Ausgabe  mit  Anmerkungen.  4.  gänz- 
lich umgearbeitete  Auflage.  Berlin  1892.  [.  Guttentag.  16°. 

VIII  und  296  S. 


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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  fl.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  13.  Juni  1892. 


Nummer  24. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle^  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


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Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT 


Ein  Schutzgesetz  für  die  Ge- 
werkschaften in  Frank- 
reich. Von  Leo  Frankel. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
VV  irthschaftsstatistik : 

Güterzertrümmerung  in  Bayern. 

Ueberseeische  Auswanderung  aus 
dem  deutschen  Reiche. 

Ueberfüllung  im  deutschen  Klein- 
handel. 

Obligatorische  Natural  Verpflegung 
wandernder  Arbeiter  im  Kanton 
Aargau. 

Bergarbeiter  - Produktivgenossen- 
schaft in  Belgien. 

Arbeiterzustände : 

Ländliche  Arbeiterverhältnisse  im 
deutschen  Osten. 

Arbeiterzustände  in  hessischen 
Ziegeleien. 

Wiedereinführung  der  Kanaka- 
arbeit  in  Queensland. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Der  Kongress  der  österreichischen 
Sozialdemokratie. 

Der  Arbeiterschutz  und  die  eng- 
lischen Parlamentswahlen. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Frauengewerkvereine  in  England. 
\ on  Eliza  Ichenhäuser. 

Der  internationale  Bergarbeiter- 
kongress in  London. 


Eine  Bewegung  im  Münchener 
Dienstmännergewerbe. 

Kongress  der  Bergarbeiter  des 
Departements  Pas  de  Calais. 

Beiträge  zu  den  Kosten  des  letzten 
deutschen  Buchdruckerstrikes. 

Die  Tarifkommission  der  deutschen 
Buchdrucker. 
Handwerkerfragen: 

Erweiterung  der  Innungsprivi- 
legien. 

Einigung  zwischen  einem  Gewerk- 
und  Meisterverein. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Sonntagsruhe  im  deutschen  Han- 
delsgewerbe. 

Zur  Ausführung  der  neuen  deut- 
schen Gewerbeordnung. 

Festsetzung  der  Arbeitszeit  der 
Eisenbahnbediensteten  bei  Per- 
sonenzügen. 

Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes 
in  der  Schweiz. 

Die  Frauenarbeit  bei  den  schweize- 
rischen Eisenbahnen. 

Gewerbeinspektion : 

Die  preussischen  Fabrikinspektoren 
und  die  Arbeiter. 

Wolmungszustände  und  Woli- 
nungsgesetzgebung : 

Arbeiterwohmmgs  Verhältnisse  im 

oberhessischen  Industriebezirk. 
Von  Prof. Dr. W erner  S om bar t. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Ein  Schutzgesetz  für  die  Gewerkschaften 
in  Frankreich. 


Die  französische  Kammer  hatte,  ehe  sie  ihre  Oster- 
ferien angetreten,  noch  ein  Gesetz  fertig  gestellt,  das,  falls 
es  den  Senat  unversehrt  passirt,  die  Gewerkschaften  vor 
der  so  oft  beobachteten  feindseligen  Haltung  der  Unter- 
nehmer wesentlich  schützen  wird.  Wie  überall,  so  sind 
nämlich  auch  die  Unternehmer  in  Frankreich  keine  beson- 
deren Freunde  der  Gewerkschaftsbewegung.  Das  gewerk- 
schaftsfeindliche Gebahren  der  Unternehmer  ist  ebenso  er- 
klärlich, wie  der  behufs  einer  wirksamen  Vertheidigune 
nothwendige  Zusammenschluss  der  Arbeiter.  Wo  die 
Interessen,  seien  sie  nun  berechtigt  oder  nicht,  aufein- 


ander stossen,  ist  der  Kampf  unvermeidlich,  und  in  dieser 
Voraussicht  sucht  jede  Partei  die  meisten  Chancen  des 
Sieges  auf  ihre  Seite  zu  ziehen.  Was  ist  da  natürlicher, 
als  dass  die  Unternehmer  den  Zusammenschluss  der  Arbeiter 
zu  hindern  suchen? 

Eine  andere  Frage  aber  ist,  ob  es  vom  sozialpoli- 
tischen Gesichtspunkt  aus  klug  ist,  dem  Unternehmerthum 
die  unumschränkte  Herrschaft  über  den  Arbeitsmarkt  zu 
sichern,  indem  man  ihm  die  einzige  Waffe,  welche  die 
Arbeiter  gegen  seine  Willkür  besitzen,  das  Koalitionsrecht, 
ausliefert,  und  ob  die  öffentlichen  Gewalten,  welche  die 
Hand  hierzu  bieten,  nicht  ihrer  eigentlichen  Bestimmung 
entgegen  handeln  und  von  Hütern  der  Gesamm tinteressen, 
von  Förderern  der  allgemeinen  Wohlfahrt  zur  Magd  des 
Unternehmerthums  herabsinken?  Ist  es  den  kapitalkräf- 
tigen Unternehmern  gestattet , Syndikate  und  Kartelle 
zu  bilden,  um  bald  die  Waarenpreise  hinaufzuschrauben, 
bald  die  Löhne  herabzudrücken  und  sich  solcherart  unter 
allen  Umständen  einen  bestimmten  Gewinn  zu  sichern,  um 
wieviel  mehr  muss  es  dann  den  Arbeitern,  deren  Macht 
einzig  in  ihrer  Vereinigung  ruht,  gestattet  sein,  sich  behufs 
Vertheidigung  ihrer  Lebenshaltung  ungehindert  zusammen- 
zuschliessen.  Ja,  das  Interesse  der  Gesellschaft  gebietet 
dies  geradezu,  da  abgesehen  von  der  körperlichen,  geistigen 
und  sittlichen  Verkümmerung,  die  jeder  Ausfall  in  der 
Lebenshaltung  mit  sich  führt,  Staat  und  Gemeinde  in  der 
einen  oder  andern  Weise  für  ihn  aufzukommen  haben  und 
in  jedem  Falle  einen  Schaden  erleiden,  dessen  Grösse,  inso- 
weit er  aus  der  durch  die  niedrigere  Lebenshaltung  her- 
j vorgebrachten  Schwächung  der  Kulturkraft  des  Volkes 
erwächst,  sich  gar  nicht  bemessen  lässt. 

Nun  hat  das  Syndikatsgesetz  vom  21.  März  1884  den 
Arbeitern  allerdings  das  Recht  gegeben,  Gewerkschaften 
und  Gewerkschaftsverbände  ohne  jede  Ermächtigung  der 
Regierung  zu  bilden;  aber  was  nützt  dasselbe  Unter- 
nehmern gegenüber,  die  den  Arbeitern  sagen:  ■ Ja,  das 
Gesetz  giebt  Euch  wohl  volle  Freiheit,  Gewerkschaften  zu 
bilden  und  damit  das  Recht,  Eure  wirthschaftlichen  Inter- 
essen gemeinsam  zu  vertheidigen,  aber  innerhalb  meiner 
Arbeitsräume  bin  ich  Herr  und  da  dulde  ich  keine  Gewerk- 
schaftsmitglieder: wählt  also  zwischen  Eurem  Recht  und 
Eurer  Arbeit,  Eurer  Freiheit  und  Eurem  Brod,  Eurer  Ge- 
werkschaft und  meiner  Fabrik  — zwischen  dem  Gesetz 
und  mir!  Gebrauchen  die  gewerkschaftsfeindlichen  Unter- 
nehmer auch  gerade  nicht  diese  Worte,  so  entsprechen 
ihnen  umsomehr  ihre  Handlungen.  So  giebt  es  beispielsweise 
einzelne  Fabriken,  an  deren  Eingang  schon  dem  Arbeit- 
suchenden die  Worte  entgegenstarren:  „Ici,  on  n’embauche 
pas  les  syndiq ues“  — Hier  werden  keine  Gewerkschafts- 


296 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  24. 


mitglieder  aufgenommen  — eine  Mahnung,  die  unwill- 
kürlich an  das  „Lasciate  ogni  speranza“  der  Dante’schen 
Hölle  erinnert.  Die  Arbeiter,  welche  in  solche  Fabriken  ein- 
treten,  müssen,  wenn  auch  nicht  aut  alle  ihre  Menschen- 
und  Bürgerrechte  Verzicht  leisten,  so  doch  jede  Hoffnung, 
sich  gewerkschaftlich  bethätigen  zu  können,  fahren  lassen. 
Thun  sie  es  aber  doch,  so  werden,  wenigstens  die  Hervor- 
ragenderen unter  ihnen,  die  „Rädelsführer“,  wie  arbeits- 
tüchtig sie  sich  auch  erweisen  und  wie  lange  sie  auch  im 
Dienste  des  Unternehmers  gestanden  haben  mögen,  an  die 
Luft  gesetzt,  wie  dies  schon  zu  verschiedenen  Malen  in 
Enqueten,  Reden  und  Eingaben  vor  die  Kammer  gebracht 
wurde. 

Um  nun  dieser  offenkundigen  Missachtung  des  Syndi- 
katsgesetzes einen  Damm  zu  setzen  und  den  Gewerkschaften 
die  ihnen  gesetzlich  gewährte  Freiheit  nach  allen  Seiten 
hin  zu  sichern,  hat  der  Abgeordnete  Bovier-Lapierre  be- 
reits im  März  1886  einen  Gesetzentwurf  eingebracht,  wo- 
nach Jedermann  — Unternehmer,  Werkführer,  Angestellter 
oder  Arbeiter  — , der  die  Freiheit  der  gewerkschaftlichen 
Verbindungen  beeinträchtigt  oder  die  Ausübung  der  vom 
Syndikatsgesetze  zuerkannten  Rechte  hindert,  mit  Gefäng- 
niss  von  einem  bis  zu  drei  Monaten  u n d einer  Geldbusse 
von  100  bis  zu  2000  Frcs.  bestraft  wird.  Seit  damals  bereits 
zweimal  — 17.  Mai  1889  und  13.  Mai  1890  — von  der 
Kammer  mit  grosser  Majorität  angenommen,  hat  ihn  der 
Senat  das  erste  Mal  — wohl  weil  man  vor  einer  neuen 
Legislaturperiode  stand  — gar  nicht  in  Berathung  gezogen 
und  das  zweite  Mal,  nachdem  die  Verhandlung  zuerst  - 
4.  Dezember  1890  — vertagt  worden  war,  am  23.  Juni  1891 
verworfen. 

Die  Kritik,  die  der  Senat  damals  an  dem  Entwurf 
geübt,  wurde  nun,  als  dieser  am  19.  März  1.  J.  neuerdings 
vor  die  Kammer  gelangte,  von  den  gegnerischen  Abge- 
ordneten gierig  aufgenommen,  und  einen  Moment  schien  es 
fast,  als  sollte  er,  noch  schlimmer  als  verworfen,  d.  i.  in 
sein  Gegentheil  umgeformt  und  so  aus  einer  Schutzwehr 
des  Koalitionsrechtes  zu  einer  Waffe  gegen  dasselbe  werden. 
Die  Frage  lag  einfach:  Soll  dem  Syndikatsgesetze  Geltung 
verschafft  werden  oder  nicht?  Wenn  nicht,  dann  habe 
man  auch  den  Muth,  es  wieder  abzuschaffen,  denn  ein  Ge- 
setz, das  die  Koalitionsfreiheit  verkündet,  ist,  wenn  es  un- 
geahndet übertreten  werden  darf,  nichts  als  Heuchelei;  im 
bejahenden  Falle  aber  muss  jeder  Angriff  auf  die  Koalitions- 
freiheit ebenso  geahndet  werden,  wie  dies  beispielsweise 
das  Wahlgesetz  in  Bezug  auf  die  Wahlfreiheit  thut,  indem 
es  u.  a.  Jeden,  der  einen  Wähler  durch  Androhung  von 
Verlust  seiner  Beschäftigung  zur  Wahlenthaltung  drängt 
oder  dessen  Votum  beeinflusst,  mit  Gefängniss  von  einem 
Monat  bis  zu  einem  Jahr  oder  einer  Geldbusse  von  100  bis 
1000  Frcs.  bestraft.  Anstatt  nun  auf  diese  Frage  offen  zu 
antworten,  haben  die  Gegner  des  Bovier-Lapierre’schen 
Entwurfs  dieselbe  einfach  umgangen.  Die  Einen  hatten 
eine  Lanze  für  die  „Vertragsfreiheit“  eingelegt,  die  man 
stets  anruft,  wenn  es  gilt,  die  Arbeiter  wehrlos  zu  machen 
und  jede  zu  deren  Gunsten  geforderte  Intervention  der 
Gesetzgebung  zu  hindern.  An  ihrer  Spitze  stand  Leon  Say. 
Niemand,  sagte  er,  liebe  es  mehr  als  er  über  die  sozialen 
Fragen  nachzudenken,  aber  Niemand  sei  auch  betrübter  als 
er,  wenn  er  sehe,  dass  man  sie  auf  andere  als  auf  friedliche 
Weise  lösen  wolle.  Und  diese  friedliche  Lösung  sieht  er,  im 
Gegensätze  zu  Bovier-Lapierre  und  Genossen,  in  der  unbe- 
schränkten Freiheit  der  Unternehmer,  der  eben  der  Entwurf 
entsprang.  Nach  Say  müsse  der  Unternehmer  das  Recht 
haben,  einen  Arbeiter,  der  einer  Gewerkschaft  angehört,  aus 
seiner  Fabrik  zu  weisen.  „Einen  Arbeitgeber  verhindern, 
einen  Arbeiter,  weil  er  Gewerkschafter  ist,  zu  entlassen,  heisst 
die  Freiheit  dieses  Arbeitgebers  verletzen  . . . Die  wahre 


Freiheit  des  Arbeitgebers  besteht  darin,  Herr  in  seinem 
Hause  bleiben  zu  können.“  Was  unter  solchen  Umständen 
aus  dem  Syndikatsgesetze,  was  aus  dem  Fabrikinspektorat, 
was  aus  der  ganzen  Sozialgesetzgebung  werden  muss,  die 
ja  im  Grunde  nichts  anderes  als  eine  Begrenzung  der 
Machtsphäre  des  Einzelnen  zu  Gunsten  der  Gesammtheit 
ist,  das  hat  Leon  Say  verschwiegen;  verschwiegen  auch, 
was  aus  der  „wahren  Freiheit  des  Arbeitgebers“  für  den 
Arbeiter  erwächst.  Kann  ein  Unternehmer  verlangen,  dass 
seine  Arbeiter  keiner  Gewerkschaft  angehören,  dann  kann 
er  mit  demselben  Rechte,  unter  Androhung  ihrer  sonstigen 
Entlassung,  auch  verlangen,  dass  sie  bei  Wahlen  in  Staat 
und  Gemeinde  nur  dem  ihm  genehmen  Kandidaten  ihre 
Stimme  geben,  dass  sie  seine  religiöseh  und  politischen 
Anschauungen  theilen,  dass  sie  ihm,  mit  einem  Wort,  in  all 
ihrem  Denken,  Fühlen  und  Handeln  unterthan  seien.  Die 
„wahre  Freiheit“  des  Unternehmers  würde  demnach  die 
Aufhebung  der  persönlichen  Freiheit  des  Arbeiters,  seine 
Rechtlosigkeit  bedingen. 

Und  dabei  berief  sich  Leon  Say  in  seinen  Ausführungen 
auf  die  Prinzipien  von  1789!  Das  hat  denn  auch  zwischen 
ihm  und  dem  bekannten  Abgeordneten  Clemenceau  ein 
kurzes  Wortgefecht  zur  Folge  gehabt,  das  wiederzugeben 
mir  hier  gestattet  sei. 

Clemenceau.  Erfordern  die  Prinzipien  von  1789, 
dass  man  einen  Menschen  Hungers  sterben  lasse,  weil  er 
sich  mit  seinen  Kammeraden  verbindet,  um  seinen  Lohn  zu 
vertheidigen? 

Leon  Say.  Die  Prinzipien  von  17§9  besagen,  dass 
die  Freiheit  eines  Jeden  diesem  sicher  gestellt  sein  soll  und, 
dass  kein  Individuum,  unter  dem  Vorwand  sich  zu  ver- 
theidigen, einen  Eingriff  in  die  Freiheit  Anderer  thun  kann. 

Clemenceau.  Nun  wohl,  um  das  zu  verhindern,, 
schlagen  wir  dieses  Gesetz  vor. 

Leon  Say.  Ich  sage,  dass  derjenige,  der  seinen 
Nebenmenschen  Hungers  sterben  lässt,  ein  schlechter 
Mensch  im  Sinne  des  sittlichen  Gesetzes  ist.  . . 

Clemenceau.  Und  Sie  erlauben  ihm  fortzufahren! 

Leon  Say.  Aber  Sie  haben  kein  Recht,  ihn  zu  be-i 
strafen,  weil  er  seine  Aktionsfreiheit  bewahrt. 

Wozu  dann  überhaupt  noch  Gesetze,  ist  nicht  recht 
erklärlich;  eine  Art  Dekalog  würde  da  genügen,  und  wird 
dann  jemand  seiner  Ehre  und  seines  Rechts  beraubt  und 
muss  in  Noth  verkommen,  dann  mag  er  sich  und  die  Seinen 
mit  dem  Tröste  nähren,  dass  der  Schuldige  dem  sittlichen 
Gesetz  verfällt. 

Die  anderen  gegnerischen  Abgeordneten  zeigten  sich 
frei  von  den  — man  möchte  sagen  — anarchistischen  An- 
schauungen Say’s.  Sie  waren  für  ein  Gesetz,  waren  auch 
dafür,  dass  es  eine  Strafbestimmung  enthalte,  nur  hätten 
sie  es  gern  so  eingerichtet,  dass  sich  seine  Spitze  mehr 
gegen  die  Gewerkschaften  und  das  Koalitionsrecht  selbst, 
als  gegen  deren  Gegner  richte.  Man  hatte  ihnen  dokumen- 
tarisch nachgewiesen,  wie  sehr  einzelne  Unternehmer  das  ; 
Syndikatsgesetz  verletzen,  und  sie  fragten,  ob  man  die  Ge- 1 
werksehaften  zu  einem  Monopol  gestalten  wolle,  und  führten 
alle  die  Nachtheile  auf,  die  aus  Gewerbemonopolen  ent- 
springen, lauter  Dinge,  die  mit  dem  Schutze  des  Koalitions-  i 
rechtes  absolut  nichts  gemein  haben.  Man  wies  ihnen  aus  i 
Enqueten  und  sonstigen  Schriftstücken  nach,  dass  einzelne 
Grubengesellschaften,  wie  dies  beispielsweise  in  Aniche  der 
Fall  war,  Arbeiter  entlassen  hatten,  die  zehn,  zwanzig  Jahre  und 
darüber  in  ein  und  derselben  Grube  beschäftigt  waren,  blos 
weil  sie  einer  Gewerkschaft  angehörten  oder  gar  nur,  wie 
dies  in  Anzin  vorkam,  Versammlungen  behufs  Gründung 
von  Gewerkschaften  einberiefenoder  solchen  präsidirten;  dass 
anderwärts  und  in  anderen  Industrien  — es  würde  zu  weit 
führen,  auch  nur  einen  Theil  der  vorgebrachten  Fälle  hier 


No.  24. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


297 


wiederzugeben  — die  verschiedensten  Unternehmer  das 
gleiche  Verfahren  beobachtet  hatten;  und  die  Herren 
sprachen  — von  der  Tyrannei  der  Gewerkschaften! 
Ihre  Anstrengungen  gingen  eben  dahin,  den  durch  das 
Syndikatsgesetz  abgeschafften  Artikel  416  des  Strafgesetzes 
(welcher  jede  Arbeiterkoalition  unmöglich  machte,  in- 
dem er  Alle,  welche  mittelst  Strafgelder,  Verbote, 
Aechtungen,  Boykotts  die  freie  Ausübung  der  Industrie 
und  der  Arbeit  hinderten,  mit  Gefängniss  von  sechs 
Tagen  bis  zu  drei  Monaten  und  einer  Geldbusse  von 
16  bis  300  Frcs.  bestrafte)  durch  ein  Amendement  wieder 
einzuführen. 

An  der  Spitze  dieser  Gruppe  stand  der  Abgeordnete 
Leygues.  Um  die  Tendenz  gewisser  Gewerkschaften,  „ihre 
Macht  unabhängigen  Arbeitern  gegenüber  zu  missbrauchen“, 
in  ein  helles  Licht  zu  stellen,  führte  er  eine  ausserhalb 
F rankreichs  bestehende  Berufsorganisation,  den  Stickerei- 
verband der  Ostschweiz  und  des  Vorarlbergs  ins  Feld.  Ist 
es  schon  bezeichnend,  dass  er  für  seine  Beweisführung 
keinen  innerhalb  Frankreichs  bestehenden  Verband  heran- 
zuziehen wusste,  so  noch  bezeichnender  die  Art,  wie  er 
diesen  Verband  darstellte.  Während  dessen  berufenste 
Beurtheiler,  eidgenössische  und  österreichische  Fabrik- 
inspektoren, ihn  geradezu  als  einen  segensreich  wirkenden 
bezeichnen,  sieht  der  Abgeordnete  Leygues  in  ihm  nichts 
eine  fortgesetzte  Tyrannei. 

Leygues  hatte  übrigens  wie  die  anderen  Gegner 
des  Bovier-Lapierre’schen  Gesetzentwurfs  nicht  viel  mehr 
erreicht,  als  dass  derselbe  an  die  Kommission  zurückver- 
wiesen und  die  Verhandlungen  verschleppt  wurden.  Ja, 
was  den  Kernpunkt  der  Frage  selbst  anbelangt,  haben  sie 
sogar  viel  weniger  durchgesetzt,  als  wenn  sie  dem  Original- 
entwurf zugestimmt  hätten.  Die  Kommission  hatte  nämlich, 
um  Herrn  Leygues  und  Genossen  entgegenzukommen,  den 
Hauptartikel  des  Gesetzes  in  zwei  Theile  getrennt,  von 
welchen  der  erste  im  Grossen  und  Ganzen  dem  Original- 
entwurf entspricht,  während  sich  der  zweite  ausschliesslich 
gegen  die  Arbeiter  wendet.  Als  es  jedoch  zur  Abstimmung 
kam,  wurde  nur  der  erste  Paragraph  angenommen,  während 
der  zweite  mit  einer  Majorität  von  159  Stimmen  — 288 
gegen  129  — verwarfen  wurde,  so  dass  nun  die  Hauptbe- 
stimmung des  Gesetzes  folgendermassen  lautet: 

„Alle  Arbeitgeber,  Unternehmer  und  Werkführer,  die 
überführt  werden,  durch  Androhung  von  Verlust  der  Be- 
schäftigung oder  von  Arbeitsentziehung,  durch  eine  moti- 
virte  Weigerung,  Arbeiter  einzustellen,  durch  Entlassung 
von  Arbeitern  oder  Angestellten  wegen  ihrer  Zugehörigkeit 
zu  Gewerkschaften,  durch  Zwang  oder  Gewaltthätigkeiten, 
durch  Geschenke,  Arbeitsanerbietungen  oder  Versprechun- 
gen die  Theilnahme  an  einem  Syndikat  erzwungen  oder 
verhindert  und  die  Gründung  oder  Thätigkeit  der  von  dem 
Gesetz  vom  21.  März  1884  anerkannten  Berufssyndikate 
vereitelt  oder  gestört  zu  haben,  werden  mit  Gefängniss  von 
sechs  Tagen  bis  zu  einem  Monat  und  einer  Geldbusse  von 
100— 2000  Frcs.  bestraft  oder  mit  einer  dieser  beiden  Strafen 
allein  belegt.“ 

Ist  die  Strafe  auch  eine  mildere  als  die,  welche  der 
Bovier-Lapierre’sche  Entwurf  vorgesehen  hatte,  so  ist  da- 
gegen zu  bemerken,  dass  es  den  Arbeitern  weniger  um  die 
Höhe  der  Strafe  zu  thun  ist,  als  um  das  Bewusstsein,  dass 
es  überhaupt  verboten  ist,  ihre  gewerkschaftliche  Thätig- 
keit zu  vereiteln,  und  die  Genugthuung,  ihr  Recht  durch  ein 
Gesetz  sanktionirt  zu  sehen.  Es  ist  jetzt  nur  die  Frage,  ob 
der  Senat  sich  diesmal  weniger  ablehnend  verhalten  wird. 
Verharrt  er  auf  seinen  früheren  Standpunkt,  dann  wird  er 
sich  wohl  auf  eine  Anzahl  von  Petitionen  aus  Unternehmer- 
kreisen berufen  können,  da  diese  gegenwärtig  eifrig  dafür 


agitiren;  ob  er  aber  damit  der  Republik  einen  Dienst 
erweisen  würde,  das  möchten  wir  bezweifeln.  Hoffen  wir 
indess,  dass  auch  er  zu  dieser  Erkenntniss  gelangt  und 
demgemäss  seine  Entscheidung  trifft. 

Paris.  Leo  Frankel. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Giiterzertrüpmermig  in  Bayern.  In  dem  Aprilheft 
der  „Zeitschrift  des  landwirthschaftlichen  Vereins  in  Bayern“ 
ist  ein  Referat  von  Professor  Helferich-Mtinchen  über  diesen 
Gegenstand  enthalten,  das  die  einzige  Zusammenfassung  der 
Ergebnisse  der  Enquete  ist,  welche  das  bayerische  Ministerium 
des  Innern  über  die  in  den  Jahren  1888  bis  1890  vorge- 
kommenen Güterzertrümmerungen  veranstaltet  hat.  Nach 
den  Erhebungen  betrug  in  ganz  Bayern  in  den  Jahren  1889 
bis  1 890  die  Zahl  der  Güterzertrümmerungen  zusammen  mit 
einem  Areal  von  14  054  ha  gleich  0,24  pCt.  des  von  681  521 
Haushaltungen  mit  landwirtschaftlichem  Betriebe  bewirt- 
schafteten Areals;  das  Prozentverhältniss  der  zertrümmerten 
Anwesen  zur  Zahl  der  Haushaltungen  ist  demnach  0,21. 
Werden  die  zertrümmerten  Anwesen  nach  Flächengrössen 
in  Gruppen  geteilt,  so  zeigt  es  sich,  dass  die  meisten 
Fälle  (480)  auf  die  Gütergrössenklasse  von  10—50  ha,  also 
auf  diejenige  Grössenklasse,  welche  in  Bayern  mit  dem 
Begriff  des  Vollbauernthums  verbunden  werden  kann,  ent- 
fällt. Sowohl  kleinere  als  grössere  Güter  sind  bei  der 
Statistik  der  Güterzertrümmerung  viel  weniger  beteiligt. 
Zertrümmerungen  von  Gütern,  deren  Grösse  100  ha  über- 
steigt, wurden  überhaupt  nicht  wahrgenommen.  Von  Inter- 
esse ist  sodann  der  Nachweis  über  das  Resultat  der  Zer- 
trümmerungen für  den  Besitzstand.  Von  dem  betroffenen 
Areal  von  14  056  ha  wurden  neue  Anwesen  gegründet:  17 
mit  91,26  ha,  also  ein  Anwesen  durchschnittlich  5,37  ha;  es 
wurden  mit  vorhandenen  landwirtschaftlichen  Besitzungen 
vereinigt  13  162  ha  oder  93  pCt.  des  Areals;  bei  den  früheren 
Gütern  blieb  als  Restfläche  799  ha,  d.  i.  5'/2  pCt  Thatsäch- 
lich  sind  die  letzteren  aus  der  Reihe  der  bäuerlichen  An- 
wesen ausgeschieden  und  zum  Taglöhnerbesitz  zu  rechnen. 
Die  angegebenen  Prozentziffern  der  Gutszertrümmerungen 
— 0,24  pCt.  des  gesammten  landwirtschaftlich  bewirt- 
schafteten Areals  und  0,21  pCt.  aller  landwirtschaftlichen 
Haushaltungen  — wären  an  sich  nicht  angetan,  Beunruhi- 
gung zu  erwecken,  oder  das  Verlangen  nach  gesetzlichen 
Massregeln  gegen  die  Gutszertrümmerung  zu  rechtfertigen. 
Der  Referent  giebt  jedoch  ziemlich  unumwunden  dem 
Zweifel  Raum,  ob  die  Resultate  der  Statistik  der 
Wirklichkeit  entsprechen.  Er  glaubt,  dass  schon  das 
ministerielle  Anschreiben,  welches  nur  die  Aufnahme  der- 
jenigen Gutszertrümmungen  forderte,  nach  welchen  ein 
bäuerliches  Anwesen  überhaupt  nicht  mehr  fortbestand,  die 
mit  der  Enquetevornahme  betrauten  Behörden  zu  einer  viel 
zu  engen  Begrenzung  der  Erhebung  veranlasste,  so  dass 
das  statistische  Bild,  besonders  wenn  man  das  Areal,  nicht 
die  Zahl  der  Fälle  ins  Auge  fasst,  günstiger  aussieht,  als 
die  Wirklichkeit.  Zu  diesem  Urtheil  veranlasst  den 
Referenten  ausser  der  erwähnten  Beschränkung  der  Auf- 
nahme selbst  namentlich  die  Thatsache,  dass  nach  der 
Statistik  im  Jahre  1888  in  Niederbayern  nur  41  Güterzer- 
trümmerungen der  im  Ministerialreskript  bezeichneten  Art 
vorgekommen  sind,  während  der  königliche  Staatsminister 
des  Innern,  Freiherr  v.  Feilitzsch,  bei  der  19.  Wanderver- 
sammlung bayerischer  Landwirthe  die  Gesammtzahl  der 
dort  vorgekommenen  Güterzertrümmerungen  auf  225  an- 
gab. Wenn  man  die  Ziffern  der  Enquete  nach  diesem  Bei- 
spiel berichtigen  müsste,  so  würde  sich  allerdings  eine  be- 
denklich hohe  Zahl  der  Güterzertrümmerungen  ergeben. 
Unabhängig  von  der  grösseren  oder  geringeren  Richtigkeit 
der  gedachten  Ziffern  ist  die  bemerkenswertheste  Fest- 
stellung, dass  von  den  1415  Fällen  bei  nicht  weniger  als 
905  gewerbsmässige  Unterhändler  an  der  Zertrümmerung 
betheiligt  waren.  Deren  Zahl  wird  auf  637  angegeben.  Das 
wirksamste  Mittel  gegen  die  gewerbsmässige  Güterzer- 
trümmerung  scheint  dem  Referenten  in  dem  württem- 
bergischen  Gesetz  vom  Jahre  1853  gefunden  zu  sein, 


298 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  24. 


namentlich  im  Artikel  1 1 desselben,  durch  welchen  bestimmt 
wird,  dass,  wer  ein  oder  mehrere  Grundstücke  im  Flächen- 
gehalt von  mindestens  10  Morgen  (=  3,15  ha  > aus  einer 
Hand  durch  Kauf  oder  Tausch  erwirbt,  ehe  er  diese  Eigen- 
schaft wenigstens  drei  Jahre  besessen  hat,  entweder  die- 
selben nur  im  Ganzen  oder  nicht  mehr  als  den  vierten 
Theil  verkaufen  darf.  Eine  Uebertragung  ähnlicher  Vor- 
schriften auf  Bayern  wird  nicht  nur  für  möglich,  sondern 
sogar  für  geboten  erachtet.  — Diese  Mittheilungen  scheinen 
uns  zunächst  zu  beweisen,  dass  man  in  Deutschland  noch 
immer  keine  amtlichen  Sozialenqueten  machen  kann,  die  ; 
auch  nur  annähernd  brauchbare  Resultate  ergeben.  Soweit 
die  wiedergegebenen  Zahlen  richtig  sein  mögen,  erweisen 
sie  aber  weiter  nichts,  als  die  Aufsaugung  des  landwirth- 
schaftlichen  Kleinbesitzes  durch  den  Grossbesitz:  auf 

14  056  ha  „zertrümmertes“  Areal  wurden  13  162  ha  = 93  pCt. 
mit  „vorhandenen  Besitzungen“  vereinigt.  Die  Güterhändler 
sind  nur  die  Produkte  dieser  wichtigen  volkswirtschschatt- 
lichen  Primärerscheinung. 

Ueberseeisclie  Auswanderung  aus  dem  deutschen 
Reiche  über  deutsche  Häfen,  Antwerpen,  Rotterdam  und 
Amsterdam  im  ersten  Vierteljahre  1892.  Die  Auswanderung 
war  im  ersten  Quartale  1892  stärker  als  in  demselben  Zeit- 
räume jedes  der  fünf  vorangegangenen  Jahre.  Während 
im  Jahre  1887:  19  020,  1888:  17  398,  1889:  17  333,  1890: 
17  099,  1891:  19  283  Deutsche  im  ersten  Quartale  auswan- 
derten,  wanderten  im  Jahre  1892  22  685  Deutsche  aus,  dem- 
nach 20,53%  über  den  Durchschnitt  des  Jahrfünft  1887 
bis  1891  und  15,01  % mehr  als  im  ersten  Quartale  des  Vor- 
jahres. Nur  in  Bayern,  Mecklenburg  - Strelitz , Lübeck, 
Schwarzburg-Sondershausen,  Schwarzburg  - Rudolstadt,  An- 
halt, Sachsen-Coburg-Gotha,  Reuss  j.  L.  und  Hohenzollern 
blieb  die  Auswanderung  im  1.  Quartale  1892  hinter  der  im 
1.  Quartale  1891  zurück,  aber  auch  hier  nur  ganz  unerheb- 
liclg  nämlich  insgesammt  nur  um  130  Personen. 

Während  im  Januar  3461  und  im  Februar  5150  Per- 
sonen auswanderten,  betrug  die  Zahl  der  Auswanderer  im 
März  14  074.  Ueber  die  Hälfte  der  Auswanderer  (13  104) 
schifften  sich  in  Bremen,  5269  in  Hamburg,  497  in  Stettin 
ein.  3815  Deutsche  fuhren  über  ausländische  Häfen,  hievon 
3024  über  Antwerpen. 

Zur  Ueberfüllung  des  Kleinhandels  in  Deutschland  Der 

Jahresbericht  der  Handelskammer  Wiesbaden  für  1891  schreibt: 
„Die  Ladengeschäfte  litten  am  meisten  unter  der  Ungunst 
der  Verhältnisse  des  Jahres  1891.  Geringerer  Erwerb,  Verluste 
an  Zinserträgnissen  und  Kapital,  schlechte  Wein-  und  Frucht- 
ernte veran fassten  die  Kunden  zu  Einschränkungen,  Inanspruch- 
nahme von  längerem  Kredit,  Begehr  nach  geringeren  Sachen 
u.  s.  w.  Um  so  fühlbarer  machte  sich  die  Konkurrenz  der  Hau- 
sirer,  der  Musterreisenden  und  Versandgeschäfte.  In  Wiesbaden 
wird  auch  über  die  zu  grosse  Vermehrung  der  Geschäfte  geklagt, 
auf  dem  Lande  über  die  sich  vermehrenden  Konsumvereine. 
Die  übergrosse  Vermehrung  der  kleinen  Ladengeschäfte  beweist 
schlagend  eine  Statistik  der  Gewerbesteuererträge  in  Wiesbaden. 
Während  sich  cfie  Bevölkerung  Wiesbadens  vom  30  Dezember 
1880  bis  30.  Dezember  1890  nur  um  28  pCt.  vermehrte  (von  50  230 
auf  64  670},  stieg  die  Zahl  der  Gewerbetreibenden  überhaupt 
von  1880/81  bis  1890  91  um  46  pCt.  (von  1884  auf  2618),  der  Betrag 
der  Gewerbesteuer  jedoch  nur  um  38  pCt.  (von  49  446  auf  68  019 
Mark).  Sehr  stark  vermehrten  sich  die  Geschäfte  in  Gewerbe- 
steuerklasse B|,  nämlich  um  50  pCt.  (von  682  auf  1024  und  in 
Klasse  H um  49  pCt.  (von  415  auf  618).“  Diese  Ueber- 
füllung ist  ein  Symptom  der  allgemeinen  sozialen  Zersetzung. 
Die  proletarischen  Existenzen  mehren  sich  auffällig  und  suchen 
mit  Vorliebe  auch  im  Kleinhandel  ein  unsicheres  Fortkommen. 


Obligatorische  Natiiralverpflegang  wandernder  Ar- 
beiter im  Kanton  Aargau.  Die  Regierung  des  Kantons 
Aargau  hat  einen  Entwurf  ausgearbeitet,  demzufolge  die 
Naturalverpflegung  gesetzlich  geordnet  und  obligatorisch 
erklärt  werden  soll.  Dabei  würde  ein  besonderes  Gewicht 
auf  die  Arbeitszuweisung  und  Arbeitsleistung  gelegt,  um 
Stromern  das  berufsmässige  Absuchen  der  Verpflegungs- 
stationen zu  erschweren. 


Berga1  beiter-Produktivgenossenschaft  in  Belgien  Unter 
dem  Namen  „La  mine  aux  mineurs“  (Das  Bergwerk  den  Berg- 
arbeitern) hat  sich  eine  Gesellschaft  von  Bergarbeitern  gebildet, 
die  mit  einem  Kapital  von  einer  Million  Francs  die  drei  Gruben 
der  Zeche  Belle  et  Bonne  selbst  ausbeuten  und  dabei  den  Acht- 
stundentag, den  Mindestlohn  u s.  w.  einführen  will.  Der  Be- 
sitzer der  Konzession,  Delattre,  hat  300  000  Frcs..  der  Berg- 
arbeiterbund des  Borinage  den  Rest  g •/.  dehnet.  Sozialistische 
korporative  Genossenschaften  und  Arbeitervereine  zeichnen 
Aktien,  die  auf  je  10  Frcs.  ausgestellt  sind.  Vom  Gewinn  sollen 


die  Aktionäre  50  pCt.,  die  Beamten  und  Arbeiter  20  pCt.,  eine 
Hilfskasse  10  pCt.  und  die  Verwalter  für  Arbeiterstiftungen 
20  pCt  erhalten.  Zum  leitenden  Direktor  wurde  Herr  Delattre 
auf  fünfzehn  Jahre  gewählt.  Ihm  zur  Seite  stehen  neun  Arbeiter- 
führer als  Administratoren,  von  denen  mehrere  als  Leiter  der 
Bergarbeiterausstände  in  Borinage  bekannt  sind.  Der  Ver- 
waltungsrath  soll  stets  mindestens  einen  Arbeiter  unter  seinen 
Mitgliedern  haben.  Mit  der  Förderung  wird  demnächst  begonnen 
werden.  Nach  den  schlechten  Erfahrungen,  welche  die  franzö- 
sischen Arbeiter  bei  ähnlichen  Experimenten  machten,  darf  man 
sich  von  dieser  Gründung  vorerst  wenigstens  nicht  allzuviel  ver- 
sprechen. 


Arbeiterzustände. 


Ländliche  Arbeiterverhältnisse  im  deutschen  Osten. 

Ueber  die  gegenwärtigen  Arbeiterverhältnisse  in  der  Provinz 
Ostpreussen  entnehmen  wir  dem  Jahresbericht  des  „Landwirt- 
schaftlichen Centralvereins  für  Litauen  und  Masuren“,  dass  aus 
den  meisten  Kreisen  noch  immer  über  die  Auswanderung  der 
besten  Arbeiter  nach  dem  Westen  geklagt  wird,  während  ein 
Zuzug  russisch-polnischer  Arbeiter  nur  in  geringem  Umfange 
stattgefunden  hat.  Nach  amtlicher  Ermittelung  beziffert  sich 
z.  B.'  der  Wegzug  von  landwirtschaftlichen  Arbeitern  aus  dem 
Kreise  Goldap  im  Berichtsjahre  auf  402  Personen,  wogegen  die 
Zahl  der  zugezogenen  russisch-polnischen  Arbeiter  nur  4 betrug. 
In  einem  Kirchspiel  des  Kreises  Lötzen  mit  etwa  3000  Ein- 
wohnern ist  die  Einwohnerzahl  in  den  letzten  drei  Jahren  um 
mehr  als  200  zurückgegangen,  trotzdem  die  Zahl  der  Geburten 
diejenige  der  Sterbeiälle  um  mindestens  ebenso  viel  übertraf. 
Der  Grund  für  den  geringen  Zuzug  russisch-polnischer  Arbeiter 
liegt  einerseits  an  den  strengen  diesseitigen  Kontrollvorschriften, 
denen  die  russischen  Arbeiter  wegen  mangelhafter  Legitima- 
tionspapiere nicht  zu  genügen  vermögen,  andererseits  an  dem 
in  den  benachbarten  Grenzbezirken  gleichfalls  herrschenden 
Arbeitermangel.  Ausserdem  sind  die  Lohnansprüche  derselben 
gestiegen;  während  man  früher  60 — 80  Pf.  neben  freier 
Station  an  Tagelohn  zahlte,  werden  heute  1,20—1,50  Mk. 
verlangt.  Die  Löhne  haben  nach  sorgfältigen  Ermittelungen 
für  ständige  und  freie  Arbeiter  eine  Erhöhung  erfahren;  das  ge- 
sammte  Einkommen  einer  Instleute  - Familie  betrug  500  bis 
560  Mk.  Fühlbar  macht  sich  auch  der  Mangel  an  Gesinde.  Nur 
in  den  Kreisen  Insterburg,  Oletzko,  Angerburg  und  Niederung 
werden  die  Arbeiterverhältnisse  gegen  das  Vorjahr  als  günstiger 
geschildert;  auch  scheint  in  diesen  der  Wegzug  von  Arbeitern 
nach  dem  Westen  in  der  Abnahme  begriffen  zu  sein. 

i 

Arbeiterzustände  in  hessischen  Ziegeleien.  Wie  seine  •: 
Kollegen  in  anderen  deutschen  Bundesstaaten  berichtet  jetzt 
auch  der  Fabrikinspektor  des  II.  Aufsichtsbezirkes  (Provinzen 
Ober-  und  Rheinhessen)  des  Grossherzogthums  Hessen  über 
sehr  traurige  Arbeiterverhältnisse  in  den  Ziegeleien  (Russen- 
fabriken) seines  Distrikts  Er  schreibt  im  Jahresbericht  für 
1891:  „In  Folge  verschiedener  Vorkommnisse  wurden  die  Be- 

hörden aufmerksam  auf  die  sittlichen  und  wirthschaftlichen 
Verhältnisse  in  den  sogenannten  Russensteinfabriken.  Die 
Arbeit  in  den  Russensteinfabriken  und  Feldziegeleien  dauert 
von  März  bis  Oktober,  und  mancher  Arbeiter  bleibt  im  Winter 
in  der  Arbeiterkolonie  Ulrichstein,  um  im  Frühling  dieselbe 
Arbeit  wieder  zu  beginnen;  auch  viele  Ziegler  aus  dem  b ürsten- 
thum  Lippe  arbeiten  in  Hessen;  sie  kommen  im  Frühjahre  und 
gehen  im  Herbst  wieder  nach  Hause  Da  aber  die  meisten 
dieser  Betriebe  nur  klein  und  ausserdem  gewöhnlich  recht  ab- 
gelegen sind,  so  sind  sie  dadurch  der  Aufsicht  des  Fabrik- 
inspektors grösstentheils  entzogen.  Indessen  hatte  ich  doch 
öfter  Gelegenheit,  auch  solche  Anlagen  bei  meinen  Dienstreisen 
zu  besuchen  und  habe  gefunden,  dass  in  Rheinhessen  die  \ er- 
hältnisse  viel  besser  sind  als  in  Oberhessen.  In  dieser  Provinz 
habe  ich  in  Ziegeleien  Schlafstellen  gesehen,  die  den  sitt- 
lichen und  sanitären  Anforderungen  nicht  ent- 
sprechen; ausserdem  ist  die  Arbeitszeit,  da  die  Arbeit  sein 
von  der  Witterung  abhängig  ist,  an  manchen  Tagen  eine  tür 
jugendliche  Arbeiter  viel  zu  lange;  selbst  Kinder  zwischen 
12  und  14  Jahren  arbeiten  10,  12  und  mehr  Stunden  täglich.  Es 
sollte  meines  Erachtens,  ganz  besonders  zum  Schutz  der  jungen 
Leute  beiderlei  Geschlechts,  hier  gesucht  werden,  Besserung  zu 
schaffen;  aber  hierzu  reicht  die  Thätigkeit  der  Aufsichtsbeamten 
allein  nicht  aus.  Ueberhaupt  sind  die  Wohnungsverhältnisse 
und  das  Schlafstellenwesen  der  Arbeiter  Punkte,  zu  deren  Ver- 
bessern!1 ; noch  viel  geschehen  kann.“  Hierzu  passt  die  an 
anderer  Stelle  erwähnte  Eingabe  der  Ziegeleibesitzer  an  den 
Bundesrath  sehr  wenig! 

Wiedereinführung  der  Kansika-Arbeit  in  Queensland. 

Die  nördlichste  Kolonie  des  australischen  Kontinents  spielt 
in  mancher  Hinsicht  eine  ähnliche  Rolle,  wie  die  Süd- 
staaten Amerikas  vor  dem  Kriege  von  1864.  Nirgends  ist 


No.  24. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAL. HLATT. 


299 


der  Rassen-  und  Klassenkampf  in  Australien  so  heftig  ge- 
führt worden,  wie  in  diesem  Lande,  das  in  den  letzten 
Wochen  die  öffentliche  Meinung  in  England  lebhaft  be- 
schäftigt hat. 

Mit  der  Ausdehnung  der  Zucker] )flanzungen  nach  dem 
tropischen  Norden  hatte  man  hier  zur  Rekrutirung 
schwarzer  Arbeiter,  der  Eingeborenen  von  Neu-Guinea  und 
der  Neuen  Hebriden  gegriffen.  Es  soll  später  über  die 
Mittel  dieser  Arbeiterpresse  Einiges  bemerkt  werden.  Die 
weissen  Arbeiter  inscenirten  eine  heftige  Agitation  gegen 
die  Einführung  der  Kanakas,  und  der  jetzige  Premier- 
minister, Sir  Griffith,  nahm  an  derselben  lebhaften  Antheil. 
Durch  die  Pacific  Island  Laborers  Act  vom  Jahre  1885  wurde 
schliesslich  bestimmt,  dass  erstens  die  Kanakaeinführung 
aufhören  und  zweitens  gegen  angemessene  Entschädigung 
der  Unternehmer  bis  zum  dl.  Dezember  1891  alle  Kanakas 
in  ihre  Heimath  geschickt  werden  sollten. 

Die  Regierung  subventionirte  nun  zunächst  sogenannte 
kooperative  Zuckerfabriken,  — in  Wirklichkeit  Aktien- 
fabriken kleiner  Zuckerrohrpflanzer.  Das  Experiment 
scheint  jedoch  im  ersten  Jahre  nicht  gelungen  zu  sein.  Die 
Ankündigung  der  grössten  Zuckerfabrik,  der  Victoria  Mill, 
ihre  Produktionsstätte  nach  Fiji  verlegen  zu  wollen,  was 
für  viele  der  einflussreichsten  Wähler  einen  schweren 
Schlag  bedeutete,  die  finanziellen  und  sozialpolitischen  Be- 
drängnisse des  letzten  Jahres,  die  drohende  Lostrennung 
des  gänzlich  unter  dem  Einflüsse  der  Plantagenbesitzer 
stehenden  Nordens  — all  diese  Momente  hatten  eine  voll- 
ständige Sinnesänderung  der  Regierung  zur  Folge.  So 
kam  es,  dass  ein  Gesetzentwurf,  betreffend  die  Wieder- 
einführung der  Kanakas,  in  beiden  Häusern  angenommen 
wurde  und  am  15.  April  d.  J.  vom  Gouverneur  die  Zu- 
stimmung erhielt.  Darüber  grosse  Befriedigung  in  den 
Kreisen  der  Pflanzer,  Zuckerfabrikanten  und  im  Norden. 
Die  Arbeiterverbände  protestirten  selbstverständlich  auf 
das  heftigste  und  kündigten  selbst  gewaltsamen  Wider- 
stand an.  Aber  auch  in  England  rüstet  man  sich  zum  Pro- 
teste gegen  diese  Massregel.  Am  16.  Mai  wurde  die  Re- 
gierung interpellirt,  ob  sie  nicht  Anlass  finden  werde,  in 
diesem  Falle  der  Königin  die  Anwendung  ihres  Vetorechtes 
anzurathen.  Die  Regierung  erwiderte,  es  müssten  zunächst 
die  genauen  Bestimmungen  des  Gesetzes  abgewartet  wer- 
den. Dieselben  sind  mittlerweile  bekannt  geworden;  sie 
beziehen  sich  hauptsächlich  darauf,  dass  Niemand  mehr 
gegen  seinen  Willen  zum  Arbeiter  werde  angeworben 
werden.  Es  wird  erläuternd  hinzugefügt,  dass  bei  früheren 
Aushebungen  auf  Geheiss  der  Häuptlinge  Frauen  von  ihren 
Männern  gewaltsam  getrennt  worden  seien.  Ferner  werde 
nach  Ablauf  der  Dienstzeit  jeder  Kanaka  nach  seinem 
Heimatsdorfe  transportirt  werden  „nicht  wie  früher,  da  sie 
häufig  auf  fremde  Inseln  ausgesetzt  und  von  Angehörigen 
feindlicher  Kannibalenstämme  getödtet  wurden.“  Ob  diese 
Verfügungen  moderner  „Menschlichkeit“  von  Erfolg  sein 
werden,  wird  von  genauen  Kennern  der  Verhältnisse,  wie 
vom  Vice-Admiral  Erskine,  vom  Missionär  Chalmers  und 
anderen  ernstlich  bezweifelt. 

Die  englische  Regierung  fühlt  sich  nicht  stark  genug, 
diesen  Vorgängen  auf  die  Gefahr  separatistischer  Regungen 
hin,  ein  entschiedenes  Veto  entgegensetzen.  In  den  Parla- 
mentssitzungen vom  26.  und  27.  Mai  suchte  sie  den  Kanaka- 
handel  zu  rechtfertigen;  der  Antrag  der  Opposition,  das 
Budget  für  die  Kolonien  um  500  Lstr.  zu  verkürzen,  wurde 
mit  197  gegen  49  Stimmen  abgelehnt.  Von  der  Haltung 
der  australischen  Schwesterstaaten  wird  es  nunmehr  ab- 
hängen;  ob  der  alte  Menschenhandel  neuerdings  seinen 
Einzug  halten  wird. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Der  Kongress  der  österreichischen  Sozialdemokratie. 

In  der  Pfingstwoche  fand  in  Wien  der  III.  Parteitag  der 
österreichischen  Sozialdemokratie  statt,  auf  dem  die  deutsch- 
österreichischen, galizischen  und  italienischen  Sozialdemo- 
kraten aus  96  Orten  durch  113  Delegirte  vertreten  waren. 
Die  tschechischen  Arbeiter  haben  unter  ausdrücklicher 
Betonung  ihrer  Interessensolidarität  mit  den  deutschen 
Arbeitern  von  der  Beschickung  des  Kongresses  abgesehen 


mit  Rücksicht  auf  ihren  vor  Kurzem  .stattgefundenen 
Parteitag  und  auf  den  Umstand,  dass  die  Einberufung  des 
Kongresses  durch  innere  Angelegenheiten  der  deutsch- 
österreichischen Sozialdemokratie  veranlasst  war.  Der  An- 
lass zur  Abhaltung  des  Parteitages,  der  schon  zu  Ostern 
stattgefunden  hätte,  wenn  nicht  die  Abhaltung  in  Brünn 
und  Linz  durch  die  Behörden  verboten  worden  wäre,  lag  in 
einer  Secession  innerhalb  der  österreichischen  Sozialdemo- 
kratie, welche  durch  den  Ausschluss  einiger  ehemaligen  Partei- 
führer verursacht  war.  Differenzen  in  Bezug  auf  die  Fragen 
der  Organisation  und  Taktik  waren  hinzugetreten,  wobei 
der  in  Deutschland  nach  dem  Erfurter  Kongress  gemachte 
Versuch  der  Gründung  einer  „unabhängigen“  sozialistischen 
Partei  mitwirkte.  Der  Kongress  hat  mit  überwältigender 
Majorität,  105  gegen  8 Stimmen,  das  Gebühren  der  Secessio- 
nisten  verurtheilt,  der  Ausschluss  ihrer  Führer  wurde  vom 
Kongresse  bestätigt  und  diese  von  ihrer  früheren  Gefolg- 
schaft fallen  gelassen.  Diese  gründeten  aber  mit  dem  be- 
kannten Anarchisten  Rissmann  an  der  Spitze  eine  „unab- 
hängige sozialistische  (?)  Partei“,  und  beschlossen  die  Aus- 
arbeitung  eines  Parteiprogrammes  und  Gründung  eines  eigenen 
publizistischen  Organes.  Seitens  des  Parteikongresses  wurde, 
allem  Anschein  nach  mit  vollem  Rechte,  dieser  neuen  Partei 
keine  Bedeutung  für  die  Zukunft  beigemessen. 

Von  den  Beschlüssen  sind  hervorzuheben  vorerst  eine 
durch  das  fürchterliche  Grubenunglück  zu  Przibram  veran- 
lasste  Resolution  folgenden  Wortlautes: 

„Angesichts  der  ungeheuren  Katastrophe,  welche  Hunderte 
von  Arbeitern  als  Opfer  der  kapitalistischen  Ausbeutung  durch 
den  Staat  in  den  Silberbergwerken  von  Przibram  getroffen  hat, 
erklärt  der  sozialdemokratische  Parteitag  seine  Solidarität  mit 
den  Opfern  und  spricht  Angesichts  der  Proletarierleichen  die 
Ueberzeugung  aus,  dass  die  schwere  Verantwortung  Diejenigen 
trifft,  welche'  die  kapitalistische  Produktionsweise  und  ihren 
Klassenstaat,  mit  Gewalt  aufrecht  erhalten  wollen,  welcher 
Klassenstaat  der  sich  „soziälreformerisch“  nennt,  nicht  einmal 
im  Stande  ist.  in  seinen  eigenen  Betrieben  moderne,  das  nackte 
Leben  der  Arbeiter  schützende  Vorkehrungen  zu  treffen.  Der 
Parteitag  verlangt  strenge  gerichtliche  Untersuchung  und  Be- 
strafung'der  Beamten,  durch  deren  Knickerei  und  Unterlassung 
noch  manche  bisher  ungezählte  Proletarier  einen  elenden  Tod 
gefunden  haben.  Er  erklärt  weiter,  nicht  ruhen  zu  wollen,  bis 
dieses  fluchwürdige  System  beseitigt  ist.“ 

Der  Kongress  tadelte  hierauf  die  von  dem  secessio- 
nistischen  Flügel  veranlassten  Sammlungen  und  Brodver- 
theilungen  an  die  Arbeitslosen  in  schärfster  Weise.  Nach 
Entgegennahme  der  Berichte  über  die  Lage  der  sozialisti- 
schen Partei  in  den  verschiedenen  Provinzen  wurde  be- 
schlossen, an  der  bisherigen  Taktik  und  dem  Hainfelder 
Programme  festzuhalten,  dasselbe  aber  durch  die  Forderung 
der  Abschaffung  des  indirekten  Steuersystemes  und  des 
Postulates  der  völligen  Gleichstellung  des  männlichen  . und 
weiblichen  Geschlechtes  zu  ergänzen. 

Mit  der  Beschlussfassung  über  eine  den  einzelnen 
Gruppen  weitgehende  Selbständigkeit  gewährende  Organi- 
sation, Wahl  einer  1 2gliedrigen,  in  Wien  ihren  Sitz  haben- 
den Parteileitung  und  die  Schaffung  eines  täglich  erschei- 
nenden Blattes,  wurden  die  Arbeiten  des  Kongresses 
beschlossen,  der  zahlreicher  besucht  war  als  einer  seiner 
Vorgänger,  und  für  die  österreichische  Arbeiterpartei  ebenso 
wenig  wie  der  Kongress  zu  Erfurt  für  die  deutsche  eine 
Schwächung  oder  ernst  zu  nehmende  Spaltung  zur  Folge 
haben  dürte. 

Der  Arbeiterschutz  und  die  englischen  Parlaments- 
wahlen  Da  die  Arbeiterstimmen  bei  den  bevorstehenden 
Parlamentswahlen  für  den  Sieg  der  einen  der  beiden  histo- 
rischen Parteien  Englands  ausschlaggebend  sein  werden, 
suchen  Tories  wie  Wighs  die  Arbeiter  an  sich  heranzu- 
ziehen. Während  der  Premierminister  Salisbury  vor  dem 
Führer  der  liberalen  Opposition  einen  Vorsprung  dadurch 
gewann,  dass  er  sich  früher  entschloss,  die  am  1.  Mai  im 
Hydepark  gewählte  Deputation  zu  empfangen,  hat  Gladstone 
weitergehende  Versprechungen  gemacht.  Er  empfahl  in 
seiner  Londoner  Wahlrede  am  31.  Mai  allen  Lokalbehörden, 
dem  Beispiel  des  Londoner  Grafschaftsraths  zu  folgen 
und  bei  allen  ihren  Kontrakten  die  Unternehmer  dahin 
zu  verpflichten,  dass  sie  die  von  den  Gewerkvereinen 
aufgestellten  Bedingungen  bezüglich  der  Löhne  und 
Arbeitsdauer  innehalten,  und  befürwortete  die  Aus- 
dehnung dieses  Prinzips  auf  alle  jene  Gesellschaften, 
welche  wie  Eisenbahnen,  Wasserleitungen  u.  s.  w.  sich  einer 
Art  von  Monopol  erfreuten.  Kein  Staatsmann  von  einer 
annähernd  hervorragenden  Stellung  wie  Gladstone  sie  be- 


300 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  24. 


sitzt,  hat  sich  bisher  in  so  entschiedenen  Worten  dafür  aus- 
gesprochen, dass  Staat  und  Munizipalität  ein  Recht  besitzen 
sollten  zwischen  Arbeiter  und  Arbeitgeber  zu  Gunsten  des 
ersteren  Stellung  zu  nehmen. 

Wenn  auch  der  achtstündige  Maximalarbeitstag  kaum 
schon  in  der  nächsten  Legislaturperiode  des  englischen 
Parlamentes  Gesetz  werden  dürfte,  so  würden  die  vermuth- 
lich  an’s  Ruder  gelangenden  Liberalen  nicht  umhin  können, 
für  die  staatlichen  und  an  staatliche  Genehmigung  gebun- 
denen Arbeiten  den  Achtstundentag  als  Maximalarbeitstag 
festzusetzen.  Damit  wäre  aber  nicht  nur  für  eine  grosse 
Zahl  von  Arbeitern  ein  weiterer  Schritt  nach  Vorwärts  ge- 
macht, dem  die  allgemeine  Einführung  des  Achtstundentages 
binnen  Kurzem  folgen  müsste,  es  wären  dadurch  auch  die 
Trades  Unions  weit  eher  in  der  Lage,  in  den  nicht  in 
gleicher  Weise  geschützten  Betrieben  die  Forderungen  der 
Arbeiter  durchzusetzen. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Frauengewerkvereine  in  England. 

History  repeats  itself.  Dies  gilt  auch  für  die  Geschichte 
der  Frauengewerkvereine  in  England,  und  wir  brauchen 
blos  Howell’s  „Trade  Unionism“  aufzuschlagen,  um  uns  zu 
überzeugen,  wie  in  gleicher  Weise  die  Entwickelung  der 
Männergewerkvereine  vor  sich  gegangen  ist,  wie  dieselben 
Schwierigkeiten  ihrer  Bildung  in  den  Weg  gelegt  worden 
sind  und  wie  vieler,  langer  Jahre  es  bedurfte,  um  die  öffent- 
liche Meinung  zu  gewinnen. 

Allmählich  hatten  sich  aus  den  Gilden  die  „Friendly 
Societies“  gebildet,  die  sich  erst  nach  dem  Gesetz  von  1793, 
das  ihnen  Ermuthigung  und  Erleichterung  zuspricht,  so  recht 
entfalten  konnten,  und  nach  und  nach  waren  diese  wieder 
in  Gewerkvereine  übergegangen,  die  das  Gesetz  erst  im 
Jahre  1824  sanctionirte. 

Ebenso  allmählich  waren  nach  dem  amerikanischen 
Muster  der  Frauengewerk  vereine  die  „Friendly  Societies  for 
women“  in  England  ins  Leben  getreten,  und  ebenso  ver- 
wandelten auch  sie  sich  mit  der  Zeit  in  Gewerkvereine. 

Hatten  die  Männer  die  Gilden  selbst  zu  Feinden,  welche 
die  „Friendly  Societies“  am  liebsten  im  Keime  erstickt  hätten, 
so  erwuchsen  den  Frauen  aus  den  Kreisen  der  Männer  die 
Gegner,  die  ihnen  fast  überall  den  Eintritt  in  ihre  Gewerk- 
vereine verschlossen.  Und  hatten  die  Frauen,  die  die  Bil- 
dung einer  Liga  für  Frauengewerkvereine  unternommen 
hatten,  das  Gesetz  für  sich,  das  ihnen  die  Männer  sozusagen 
durch  ihre  Vorarbeit  erst  geebnet  hatten,  so  harrte  ihrer 
dafür  in  der  Frauenwelt  selbst,  die  zu  solchem  Vorgehen 
durch  nichts  vorbereitet  war,  die  grösste  Arbeit.  Den  Kampf 
mit  der  öffentlichen  Meinung  aber  hatten  sowohl  Männer 
als  auch  Frauen  gleichmässig  zu  bestehen. 

Eine  muthige  Frau,  Emma  Paterson  war  es,  die  nach 
eingehendem  Studium  der  amerikanischen  „Friendly  Societies 
for  women“  in  England  im  Jahre  1874  die  Liga  gründete, 
die  jetzt  unter  dem  Namen  „Women’s  Trades  Union  League“ 
weit  und  breit  bekannt  ist,  damals  aber  aus  begreiflichen 
Gründen  sich  nur  „Protective  and  Provident  League“ 
nannte. 

Sogar  unter  diesem  bescheidenen  Titel  ward  es  der 
Liga  herzlich  schwer  gemacht,  sich  zu  behaupten.  Die 
Hindernisse,  die  es  zu  überwinden  galt,  waren  gross  und 
die  Theilnahme  nur  gering. 

Alle  Bemühungen,  das  Auge  der  wohlhabenden  Massen 
auf  das  Elend  der  Arbeiterinnen  und  den  Weg  zur  Abhilfe 
zu  lenken,  waren  vergebens,  die  Mittel,  die  in  die  Kasse 
der  Liga  einflossen,  daher  sehr  spärlich. 

Die  Arbeiterinnen  selbst  aber  boten  die  grösste 
Schwierigkeit.  Und  dies  war  nur  natürlich.  Denn  da  sie 
niemals  an  Organisation  gewöhnt  waren,  auch  keine  Vor- 
bilder hatten,  an  die  sie  sich  hätten  anlelmen  können,  wie 
z.  B.  die  Männer,  die  ihre  Gewerkvereine  begründeten,  es 


an  den  Gilden  hatten,  so  wurde  es  unendlich  schwer,  sie 
zu  organisiren.  Auch  begriffen  sie  natürlicherweise  sehr 
langsam  die  Ziele  der  Gewerkvereine  und  deren  Vortheile. 
Dazu  kam,  dass  es  für  sie  ein  grosses  Opfer  war,  aus  ihrem 
kärglichen  Lohne  einen  Beitrag  zuzusteuern. 

Es  bedurfte  der  ganzen  Ausdauer  und  des  ganzen 
Muthes  der  Leiterinnen,  um  trotz  all1  dieser  grossen  Ent- 
täuschungen weiter  zu  arbeiten.  Aber  er  sollte  seine  Be- 
lohnung finden. 

Der  grosse  Dockarbeiterstrike  im  Jahre  1887  lenkte  auch 
die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  die  Lage  der  Arbeiterinnen, 
ln  allen  Zeitungen  wurde  dieselbe  erörtert  und  lebhafte  Sym- 
pathien wendeten  sich  ihnen  zu.  Der  Liga  flössen  von  allen 
Seiten  reichliche  Beiträgezu;  sie  verfügte  nun  über  grössere 
Mittel  und  konnte  sich  in  Folge  dessen  mehr  ausdehnen,  auch 
hatte  ihr  der  Erfolg  viele  neue  Anhänger  zugeführt.  Als  nun 
zwei  Jahre  später  eine  äusserst  energische  Dame,  Fräulein 
Routledge,  an  die  Spitze  der  Liga  trat,  sah  sie  ihre  Haupt- 
aufgabe in  der  Errichtung  von  Zweigvereinen  dort  wo  viele 
weibliche  Arbeiter  beschäftigt  waren.  Sie  setzte  sich  mit 
sämmtlichen  männlichen  Gewerkvereinen  dieser  Orte  in  Ver- 
bindung und  fast  überall  wurde  sie  willkommen  geheissen. 
Die  männlichen  Arbeiter  hatten  selbst  eingesehen,  dass  die 
weibliche  Arbeit,  täglich  in  der  Zunahme  begriffen,  ihnen 
in  dem  unorganisirten  Zustand,  in  dem  sie  sich  befand,  un- 
endlich schadete,  dass  sie  die  Arbeitsbedingungen  un- 
günstiger gestaltete  und  die  Preise  herunterdrückte,  kurz- 
um, dass  alle  Erfolge  der  Gewerkvereine  in  Gefahr  geriethen, 
wenn  nicht  die  weibliche  Arbeit  ebenso  organisirt  würde, 
wie  die  männliche  es  ist. 

Der  Gedanke  Miss  Routledge’s  erwies  sich  denn  als 
ein  sehr  glücklicher  und  manche  Gewerkvereine  zählen 
jetzt  mehr  als  die  Hälfte  weiblicher  Mitglieder,  so  z.  B.  die 
„Northern  Counties1  Weavers1  Association“  die  47  000  Mit-  : 
glieder  zählt,  wovon  26  000  weiblichen  Geschlechtes  sind; 
bei  anderen  Gewerkvereinen  von  Webern  soll  dasselbe  Ver-  , 
hältniss  existiren.  Und  bei  dem  grössten  Theil  der  übrigen  , 
Zweige  der  Textilindustrie  sind  auch  zwei  Drittel  der  Gewerk- 
vereinsmitglieder Frauen  In  den  Kupfer-  und  Hartguss- 
Gewerkvereinen  ist  das  Resultat  nicht  mehr  so  günstig.  In 
der  Kettengewerkschaft  sind  die  Frauen  noch  gut  organisirt, 
aber  in  der  Nagelgewerkschaft  wird  die  Organisation  fast 
unmöglich,  da  sie  in  Folge  der  isolirenden  Hausarbeit  ihnen 
ganz  fremd  ist.  Die  grössten  Geldopfer  der  Liga  konnten 
bisher  in  dieser  Beziehung  nicht  viel  erreichen,  ohne  dass 
dies  ihren  Bemühungen  bis  jetzt  Einhalt  gethan  oder  dass 
sie  die  Hoffnung,  ihre  Mühe  gekrönt  zu  sehen,  aufgegeben 
hätten.  Jt 

Am  schwierigsten  gedeihen  natürlich  die  Gewerk- 
vereine, die  ganz  auf  Frauen  angewiesen  sind,  eine  That- 
sache  die  ihre  Erklärung  sehr  leicht  findet,  denn  erstens 
sind  es  gerade  die  schlechtbezahltesten  Gewerbe,  die  voll- 
ständig in  Frauenhänden  liegen,  wie  z.  B.  die  Kragen-  und 
Manschettenfabrikation,  die  Wäscherei  u.  s.  w.;  der  zweite 
Grund  liegt,  wie  ich  bereits  oben  erwähnte,  in  der  Uner- 
fahrenheit der  Frauen  in  dieser  Beziehung.  Wie  in  Allem 
bedarf  es  auch  hierin  der  Uebung  und  der  Gewohnheit 
und  man  kann  nicht  verlangen,  dass  die  Frauen,  die  früher 
gar  keinen  Antheil  an  den  Gewerkvereinen  genommen 
haben,  mit  einem  Male  nun  die  Leitung  davon  übernehmen 
sollen.  Es  ist  aber  eine  sehr  gute  Uebung  für  sie,  ge- 
zwungen zu  sein,  ihre  Sache  selbst  zu  führen,  und  dass  sie 
sich  ganz  dazu  eignen,  beweist  die  treffliche  Organisation 
der  Wäscherinnengewerkschaft,  die  4000  bis  5000  Mitglieder 
zählt,  der  ganz  ausgezeichnete  Buchbinderinnen-Gewerk- 
verein  u.  s.  w. 

Einige  dieser  Vereine  sind  ganz  nach  dem  Muster  der 
best  organisirten  Gewerkvereine,  wie  die  der  Gasarbeiter 
und  der  Allgemeinen  Arbeiter-Union,  eingerichtet. 

Die  bis  jetzt  erreichten  Erfolge  in  dieser  Hinsicht  sind 
grossentheilsder„W omen's  TradeUnion  League“  zu  verdanken 
und  doppelt  anerkennenswerth  sind  deren  Bemühungen,  wenn 
man  bedenkt,  mit  welch’  relativ  geringen  Mitteln  sie  arbeitet. 
Die  Organisations- und  sonstige  Kosten  werden  aus  den  verhält- 
nissmässig  geringen  Einnahmen,  die  300  Pfd.  im  Jahre  — d.  l. 


No.  24. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


301 


6 000  M.  — nicht  übersteigen,  bestritten.  Die  Leiterinnen 
haben  sich  die  belgische  Devise  „l’union  fait  la  force“  zu 
eigen  gemacht  und  in  der  richtigen  V iirdigung  dieses 
Grundsatzes  sich  an  sämmtliche  englische  Frauenvereine, 
die  auf  einer  gesunden  Basis  ruhen,  afhlirt.  Dieselben 
verpflichten  sich  eine  jährliche  Subvention  zu  zahlen,  wofür 
sie  gewisse  Rechte  gemessen.  Die  Liga  bekam  dadurch  ge- 
wissermassen  allerorts  Delegirte,  die  für  die  gemeinschaft- 
lichen Bestrebungen  wirkten  und  mitunter  ausserordentlich 
eifrige  Förderinnen  der  Sache  wurden. 

Die  englischen  Frauengewerkvereine,  oder  richtiger 
gesagt  die  Organisation  der  Frauenarbeit  ist  in  England 
auf  dem  besten  Wege  derjenigen  der  Männer  nachzukcm- 
men  und  es  ist  lebhaft  zu  wünschen,  dass  sie  dieselbe  er- 
reichen. Erst  dann  wird  der  Erfolg  der  organisirten  Arbeit 
ein  vollständiger  sein. 

Berlin.  Eliza  Ichenhäuser. 


Internationaler  Bergarbeiter-Kongress  in  London.  In 

London  in  der  Westminster  Town-Hall  wurde  am  Morgen 
des  7.  Juni  der  dritte  Internationale  Bergarbeiter-Kongress 
eröffnet,  auf  dem  900  000  Bergarbeiter,  500  000  englische, 
149  000  deutsche,  100  000  österreichische,  97  000  belgische 
und  53  200  französische  vertreten  waren.  Der  erste  fand 
bekanntlich  vor  2 Jahren  zu  Jolimont,  der  zweite  im  vorigen 
Jahre  zu  Paris  statt.  Mr.  Burt,  Mitglied  des  englischen 
Unterhauses,  der  die  ausländischen  Delegirten  namens  der 
Engländer  begrüsste,  wurde  zum  Präsidenten  des  Kon- 
gresses erwählt,  nach  dem  Verzicht  der  Deutschen  auf  eine 
Vertretung  ins  Präsidium  wurden  ihm  der  Engländer  Wood 
sowie  der  französische  Deputirte  Arthur  Lamendin,  als 
Vizepräsidenten  zur  Seite  gestellt.  Die  deutschen  und  fran- 
zösischen Bergleute  haben  nur  je  4,  die  englischen  62,  die 
Belgier  8 und  die  Oesterreicher  1 Delegirten  nach  London 
gesendet.  Nach  einer  Sympathiekundgebung  für  den  er- 
krankten Mr.  Benj.  Pickard,  welcher  als  Sekretär  die  Vor- 
arbeiten für  den  Kongress  geleitet  hatte,  wurde  der  Kongress 
vertagt,  um  die  nöthige  Zeit  für  die  Prüfung  der  Mandate  zu 
gewinnen.  Der  den  Delegirten  vorliegende  Statutentwurf  für 
einen  internationalen  Bergarbeiter- Verband  besagt 
im  Wesentlichen:  Der  Verband  bezweckt  die  interna- 
tionale Achtstunden-Schicht  von  der  Einfahrt  bis  zur 
Ausfahrt  (from  bank  to  bank),  ferner  Einführung  einer  um- 
fassenden Grubeninspektion  durch  vom  Staate  bezahlte  In- 
spektoren, die  von  den  Arbeitern  zu  wählen  sind.  Der  Vor- 
stand des  Verbandes  soll  bestehen  aus  einem  Ausschuss, 
an  dem  jede  Nation  durch  mindestens  2 Vertreter  betheiligt 
ist.  Der  Verband  soll  jährlich  einen  internationalen  Kon- 
gress abhalten. 

Nachdem  sich  der  Kongress  konstituirt  hatte, 
eröffnete  Burt  die  geschäftlichen  Verhandlungen  mit 
einer  Rede , in  welcher  er  es  als  die  Hauptaufgabe 
des  zu  gründenden  Verbandes  bezeichnete,  international 
agitirend  Schulter  an  Schulter  zu  kämpfen , um  zu- 
nächst in  allen  Ländern,  in  denen  die  Gesetze  oder  die 
Unternehmer  einer  freien  und  bedingungslosen  Organi- 
sation der  Grubenarbeiter  entgegenständen,  diese  Hinder- 
nisse zu  beseitigen.  Insbesondere  seien  hier  Deutschland 
und  Oesterreich  zu  nennen.  Es  wurde  alsdann  der  Ent- 
wurf des  Komitees,  welches  vor  einigen  Monaten  in  Köln 
zusammengekommen  ist,  berathen  und  zunächst  folgende 
einleitenden  Bestimmungen  angenommen:  „Gründung  eines 
internationalen  Bundes.  Dieser  Bund  soll  aus  so  vielen  Na- 
tionen bestehen,  als  sich  anzuschliessen  wünschen.  Der 
Zweck  des  Bundes  ist  1.  die  bergbautreibenden  Arbeiter 
der  Nationen  der  Welt  zu  vereinigen.“  Bei  dem  folgenden 
Punkte:  „2.  die  unterirdische  Arbeit  von  der  Einfahrt  bis 
zur  vollendeten  Ausfahrt  soll  acht  Stunden  dauern,“  ent- 
wickelte sich  die  erste  grundsätzlich  wichtige  Debatte.  Die 
Deutschen,  die  Franzosen  und  die  Belgier  verlangten  einen 
Zusatz,  wonach  nicht  nur  die  eigentlichen  Bergleute, 
sondern  auch  alle  über  Tage  beim  Bergbau  beschäftigten 
Arbeiter  die  Achtstundenschicht  erhalten  sollen.  Die 
Engländer  sträubten  sich  gegen  diesen  Zusatz  sehr 
energisch , da  sie  fürchteten , durch  diese  erweiterte 
f Order ung  würde  die  öffentliche  Meinung  in  England, 
welche  einem  gesetzlichen  Achtstundentag  für  die  Berg- 


leute allein  nicht  ungünstig  ist,  abgeschreckt  werden.  Ein 
Delegirter  aus  Süd-Wales  beantragte  sogar,  die  Achtstunden- 
schicht solle  die  Einfahrt  und  Ausfahrt  nicht  miteinbegreifen. 
Dieser  Antrag  fand  jedoch  keine  Unterstützung  und  wurde 
infolgedessen  nicht  zur  Abstimmung  gebracht.  Schliesslich 
einigte  man  sich  auf  Antrag  eines  englischen  Delegirten, 
die  Frage  zu  theilen  und  zunächst  darüber  abzustimmen, 
ob  die  achtstündige  Schicht  für  die  unterirdischen  Ar- 
beiter, einschliesslich  der  Einfahrt  und  Ausfahrt  zu  fordern 
sei.  Diese  Frage  wurde  von  allen  Vertretern  einstimmig 
bejaht. 

Am  folgenden  Tage  wurde  die  zuriickgestellte  Frage, 
ob  auch  für  die  übrigen  im  Bergbau,  und  zwar  über  Tage, 
beschäftigten  Arbeiter  die  achtstündige  Schicht  zu  fordern 
sei,  eingehend  diskutirt.  Der  Kongress  spaltete  sich  dabei 
in  zwei  Lager.  Die  Engländer  stellten  sich  auf  den  Stand- 
punkt, dass  man  sich  um  diese  Arbeiter  überhaupt  nicht 
kümmern  solle,  da  sie  mit  den  eigentlichen  Bergarbeitern 
nichts  gemein  hätten.  Die  Bergarbeit,  so  führte  einer  ihrer 
Redner  aus,  beherrsche  alle  andere  Arbeit.  Wenn  man 
das  seitens  der  kontinentalen  Delegirten  „Aristokratie  der 
Arbeit“  nenne,  so  möge  es  Aristokratie  sein.  Wie  könne 
Jemand  sagen,  dass  ein  Mann,  der  unter  der  Erde  arbeite, 
einem  Arbeiter  gleich  zu  stellen  sei,  der  seine  Arbeit  über 
Tage  verrichte?  — Das  einzige,  wozu  sich  die  Engländer 
verstehen  wollten,  war,  dass  sie  der  Forderung  zu- 
stimmten,  wonach  die  Arbeitszeit  jener  Arbeiter  so  kurz 
bemessen  werden  sollte,  als  praktisch  möglich  sei,  d.  i. 
verschieden  in  den  verschiedenen  Ländern  und  Revieren. 
Auf  der  andern  Seite  standen  geschlossen  die  Deutschen, 
die  Belgier,  die  Franzosen  und  die  Oesterreicher,  welche 
kategorisch  auch  für  Jene  den  Achtstundentag  verlangten 
und  sich  durch  ihre  Redner  auf  den  Standpunkt  der  sozia- 
listischen Arbeiterbewegung  stellten.  Die  Abstimmung 
wurde  hierauf  nochmals  vertagt. 

Der  Kongress  nahm  sodann  einstimmig  den  Antrag  zu 
Gunsten  des  dritten  Programmpunktes  des  internationalen 
Verbandes  an,  betreffend  die  Erlangung  gehöriger  Beauf- 
sichtigung von  Bergwerken,  einschliesslich  des  Rechts  der 
Arbeiter,  ausserordentliche  Aufseher  zu  wählen,  die  vom 
Staate  zu  besolden  sind,  an. 

Der  Bergarbeiterkongress  beschloss  ferner,  gemein- 
sames Vorgehen  in  allen  internationalen  Fragen  zu 
empfehlen  und  durch  verfassungsmässige  Mittel  auf  die 
Einführung  gleichmässiger  gesetzlicher  Bestimmungen  für 
Bergarbeiter  in  allen  Staaten  hinzuwirken. 

Eine  Bewegung  im  Münchener  Dienstmännergewerbe. 

Bekanntlich  hat  § 37  R.-G.-O.  die  Regelung  des  Dienst- 
männerwesens vollständig  den  Ortspolizeibehörden  über- 
lassen. In  München,  wo  die  königliche  Polizeidirektion  zu- 
ständig ist,  ist  das  System  der  Dienstmannsinstitute 
eingeführt,  indem  einigen  wenigen  Firmen  die  Konzession 
ertheilt  ist,  die  dann  ihrerseits  die  Dienstmänner  engagiren. 
Jeder  Dienstmann  muss  von  seinem  Verdienst  täglich  40  Pf. 
an  das  Institut  abliefern,  wofür  er  die  Ausrüstung,  bestehend 
aus  2 Blousen,  einer  wollenen  Jacke,  einer  Hose  und  eine 
Schirmmütze  vom  Institut  zugewiesen  erhält;  auch  hat  er 
das  Recht  der  Mitbenutzung  der  vorhandenen  Geräth- 
schaften.  In  den  letzten  Jahren  ist  nun  in  Folge  der 
wachsenden  Entwicklung  der  Verkehrsmittel  eine  Krisis 
im  Dienstmännergewerbe  eingetreten.  Pferdebahn,  Telephon, 
Möbeltransporteure,  Spediteure,  Reisegepäckbureaux  etc. 
machen  den  Dienstmännern  den  Boden  streitig,  auf  dem  sie 
ihren  Unterhalt  fanden.  Der  Druck  des  täglichen  Tributs 
von  40  Pf.  wurde  aus  diesem  Grunde  immer  fühlbarer. 
Auch  klagen  die  Dienstmänner  über  den  schlechten  Zustand 
der  Uniformen  und  Geräthschaften.  Die  Münchener  Dienst- 
männer haben  sich  daher  zusammengethan,  um  gemeinsame 
Schritte  zur  Verbesserung  ihrer  Lage  zu  unternehmen.  Man 
beschloss  zunächst  eine  Genossenschaft  zu  gründen,  die 
den  Dienstmännern  Gelegenheit  geben  sollte,  ihrem  Be- 
rufe nachzugehen,  ohne  dabei  Gefahr  zu  laufen,  von  einem 
Unternehmer  ausgebeutet  zu  werden.  Ueberraschender 
Weise  versagte  aber  die  Polizeidirektion  unterm  27.  März  1.  J. 
die  Genehmigung,  und  zwar  mit  der  Motivirung,  dass  durch 
das  Hinzutreten  einer  Dienstmännergenossenschaft  zu  den 
bereits  bestehenden  Instituten  die  Konkurrenz  noch  ver- 
schärft würde.  Gegen  diesen  Beschluss  legten  die  Dienst- 
männer Rekurs  an  die  Kreisregierung  von  Oberbayern  ein. 
In  diesem  Stadium  befindet  sich  die  Sache  gegenwärtig. 
Jüngst  hat  nun  der  Führer  der  Bewegung,  der  Dienstmann 
Michael  Scherer,  eine  Broschüre  („Die  Lage  der  Münchener 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLA  l'T. 


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Dienstmänner“  u.  s.  w.  München,  1892,  Selbstverlag  des 
Verfassers)  erscheinen  lassen,  die  über  die  Frage  gut  orien- 
tirt.  Am  Schlüsse  dieses  Schriftchens  befindet  sich  auch 
eine  kurze  Zusammenstellung  der  in  anderen  deutschen 
Städten  herrschenden  Zustände.  Darnach  ist  in  Berlin  die 
Hälfte  der  Dienstmänner  selbständig,  während  die  andere 
Hälfte  in  einer  Genossenschaft  und  in  4 Privatinstituten 
untergebracht  ist.  Der  tägliche  Beitrag  zu  den  letzteren 
beträgt  aber  nur  10—15  Pf.  (wobei  übrigens  für  die  jedes- 
malige Benützung  eines  Karrens  noch  eine  Extragebühr 
von  15—20  Pf.  pro  Stunde  an  das  Institut  zu  entrichten 
ist).  In  Stuttgart  bestehen  nebst  einer  Anzahl  selbständiger 
Dienstmänner  und  dreier  Dienstmännervereine  2 Privat- 
institute; tägliche  Abgabe  20  Pf.  In  Leipzig  und  Dresden 
giebt  es  nur  Genossenschaften,  in  Hamburg  und  Nürnberg 
nur  selbständige  Dienstmänner. 

Kongress  (1er  Bergarbeiter  des  Departement  Pas  de 
Calais.  Am  29.  Mai  fand  unter  dem  Vorsitze  des  Deputirten 
Basly  ein  Bergarbeiterkongress  zu  Lens  statt.  Derselbe 
sprach  sich  gegen  den  von  den  Belgiern  befürworteten 
Weltstrike  der  Bergarbeiter  aus,  beschloss  dagegen  4 Pro- 
zent der  Mitgliederbeiträge  der  internationalen  Kasse  zuzu- 
führen, ferner  wurde  die  Beschickung  des  internationalen 
Bergarbeiterkongresses  und  eine  an  die  Kammer  zu  richtende 
Adresse,  in  der  die  Annahme  der  Arbeiterschutzgesetze 
gefordert  wird,  angenommen. 

Beiträge  zu  den  Kosten  des  letzten  deutschen  Bucli- 
druckerstrikes.  An  freiwilligen  Beiträgen  gingen  bei  der 
Zentralstelle  des  Unterstätzungsvereins  deutscher  Buchdrucker 
im  Ganzen  188  110,77  M.  ein.  Diese  Summe  vertheilt  sich  auf 
die  verschiedenen  Länder  wie  folgt:  Oesterreich  - Ungarn 

39  864,97  M.,  deutsche  Schweiz  9077,55,  französische  Schweiz  1976,28, 
Elsass-Lothringen  9554  90,  Luxemburg  650,  Italien  1426  25,  Frank- 
reich 3187,31,  Belgien  364,16,  Holland  131,77,  Spanien  990,  Däne- 
mark 1992  25,  Schweden  2418,33,  Norwegen  1064,  Russland  590, 10, 
Bulgarien  162,  Serbien  50  Rumänien  16,20,  Amerika  21  134,  Eng- 
land 59  045,36,  Australien  263  67  M.  insgesammt  vom  Ausland  und 
dem  Reichslande:  153  959,10  M.  Hiezu  kamen  noch  aus  deutschen 
Arbeiterkreisen  19  050,35  M.  und  von  deutschen  Buchdrucker- 
gehilfen 15  101,32  M.  somit  eine  Gesammtsumme  von  188  110,77  M. 

Die  Tarifkommission  der  deutschen  Buchdrucker. 

Nachdem  die  Gehilfen,  gezwungen  durch  die  Unternehmer, 
Neuwahlen  zur  Tarifkommission  vorgenommen  und  als 
ihre  Vertreter  die  früheren  Mitglieder  der  Tarifkommission 
wiedergewählt  hatten,  während  die  Kandidaten  der  unter- 
nehmerfreundlichen Gehilfen  meist  nur  winzige  Minoritäten 
auf  sich  vereinigten,  haben  nunmehr  die  Prinzipalvertreter 
in  der  Tarifkommission  ihre  Mandate  niedergelegt  und  da- 
mit die  Tarifkommission  aufgelöst. 

Mit  der  Auflösung  der  Tarifkommission  der  deutschen 
Buchdrucker  ist  ein  Abschnitt  in  der  deutschen  Gewerk- 
schaftsorganisation  beendet,  an  den  von  Seiten  der  deutschen 
wissenschaftlichen  Vertreter  der  T radles  Unions  übermässige 
Hoffnungen  geknüpft  wurden.  Eine  neue  Epoche  beginnt 
nun  für  das  deutsche  Buchdruckergewerbe.  Sowohl  die 
Gehilfen  als  die  Prinzipale  suchten  in  diesen  Tagen  neue 
Grundlagen  zu  schaffen.  Schroffer  als  früher  werden  sich 
in  kommender  Zeit  die  Organisationen  gegenüberstehen. 
Dies  hätte  von  den  Prinzipalen,  denen  an  der  Erhaltung 
der  Tarifgemeinschaft  so  viel  lag,  leicht  verhindert  werden 
können,  hätten  sie  nicht  die  Gehilfen,  bevor  noch  die 
Wunden,  welche  der  Strike  um  die  Wende  dieses  Jahres 
geschlagen  hat,  vernarbt  waren,  zur  Wiederwahl  der  Ver- 
treter in  die  Tarifkommission  gezwungen.  Da  nun  die 
Gehilten  die  Wahlen  vorgenommen  haben,  fällt  das  Odium 
der  Auflösung  der  Tarifkommission  auf  die  Prinzipale, 
welche  bei  freier  Wahl  ihrer  Vertreter  die  Wahlfreiheit  der 
Gehilfen  auf  jede  Weise  in  Frage  stellten. 


Handwerkerfragen. 

Erweiterung  der  Innungsprivilegien.  Eine  grosse 
Erweiterung  der  Innungsprivilegien  wird  nach  der  „Bau- 
gewerks-Zeitung“,  dem  Organ  des  Innungsverbandes  der 
Baugewerksmeister,  im  preussischen  Staatsministerium  ge- 
plant. Die  betreffende  Vorlage  soll  dem  Staatsrath  zur 
Begutachtung  vorgelegt  werden.  Aut  Wunsch  des  Kaisers 


sollen  zu  diesem  Zweck  noch  einige  Handwerker  in  den 
Staatsrath  berufen  werden.  Ueber  den  Inhalt  der  Vorlage 
theilt  die  „Baugewerks-Zeitung“  Folgendes  mit.  Während 
zur  Zeit  nur  einzelnen  Innungen,  deren  Thätigkeit  sich  auf 
dem  Gebiet  des  Lehrlingswesens  „bewährt“  hat,  das  Privi- 
legium ertheilt  werden  kann,  dass  ihre  Mitglieder  allein 
Lehrlinge  annehmen  dürfen,  sollen  künftig  allgemein  nur 
die  Innungsmeister  Lehrlinge  annehmen  dürfen  und  muss 
in  der  Innung  jeder,  der  lehren  will,  eine  bestimmte 
Lehrzeit  und  eine  Gesellenprüfung  nachweisen.  Die 
Innungen  erhalten  die  Kontrole  über  die  Lehrlinge  auch 
ausserhalb  der  Innung.  Zu  sämmtlichen  Kosten  der 
Lehrlingserziehung  sollen  auch  diejenigen  herangezogen 
werden,  welche  ausserhalb  der  Innung  stehen.  Gesellen- 
briefe können  künftig  nur  von  den  Innungen  ausgestellt 
werden  und  der  Gesellenbrief  ist  Vorbedingung  zur  Auf- 
nahme in  eine  Innung,  während  über  die  Dauer  der  Lehr- 
zeit und  die  Form  der  Lehre  die  Innungsverbände  bezw.  j 
die  Bezirksverbände  gütige  Vorschriften  erlassen,  welche 
aber  der  Prüfung  des  Bundesrathes  unterstehen. 

Einigung  zwischen  einem  Gewerk-  und  Meisterverein. 

Auf  Veranlassung  des  schweizerischen  Gewerkschaftsbundes  hat 
die  Züricher  Holzarbeitergewerkschaft  mit  dem  Schreiner- 
meisterverein einen  Gegenseitigkeitsvertrag  abgeschlossen,  nach 
welchem  die  Mitglieder  der  ersteren  nur  bei  Mitgliedern  des 
Schreinermeistervereins  arbeiten  dürfen  und  umgekehrt  letztere 
nur  solche  Gehilfen  einstellen  sollen,  die  der  Holzarbeiter- 
gewerkschaft angehören.  Ferner  wurde  vereinbart , den  Arbeits- 
nachweis gemeinschaftlich  einzurichten , den  Zehnstundentag 
einzuführen  auch  wurde  ein  durchschnittlicher  Stundenlohn  von 
38—50  Centimes  festgesetzt.  Diese  Abmachungen  sollen  mit 
1.  Juni  in  Wirksamkeit  treten 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Sonntagsruhe  int  Handelsgewerbe.  Soweit  sich  bis 
jetzt  übersehen  lässt,  haben  blos  zwei  grössere  Städte, 
Stuttgart  und  Fürth,  von  der  Bestimmung  des  § 105  b 
Abs.  2 der  Gewerbeordnung,  dass  durch  Ortsstatut  flir 
alle  oder  einzelne  Zweige  des  Handelsgewerbes  die  Be- 
schäftigung der  Angestellten  ganz  untersagt  werden  kann, 
Gebrauch  gemacht.  In  Stuttgart  und  in  Fürth  bestimmt 
das  Ortsstatut,  dass  in  Engrosgeschäften,  Fabrikkontoren j 
und  anderen  Betrieben,  mit  denen  kein  Laden  verbunden 
ist,  die  Beschäftigung  von  kaufmännischen  Angestellten  am 
Sonntag  vollständig  verboten  ist.  In  beiden  Städten  war 
jedem  Prinzipal  Gelegenheit  geboten  worden,  sich  auszu- 
sprechen, wie  er  sich  zur  Frage  der  Sonntagsruhe  stelle. 
Das  Ergebniss  der  Umtrage  war,  dass  für  vollständige 
Sonntagsruhe  im  Grosshandel  ein  so  grosser  I heil  der 
Prinzipale  eingetreten  ist,  dass  die  Gemeindevertretung 
sich  unbedenklich  entschliessen  konnte,  wenigstens  für 
den  Grosshandel  die  vollständige  Sonntagsruhe  einzu- 
führen. Das  Gleiche  wäre  vielleicht  auch  in  anderen 
Städten  erreicht  worden,  wenn  man  sich  die  Mühe  ge- 
nommen hätte,  die  Zahl  der  Geschäfte  testzustellen,  in 
denen  seither  am  Sonntag  gearbeitet  wurde  und  die 
auch  künftig  am  Sonntag  arbeiten  lassen  wollen. 
Sicher  hätte  in  manchen  Orten  eine  solche  Umfrage  wie  in 
Stuttgart  und  Fürth  zu  dem  Ergebniss  geführt,  dass  von 
den  Prinzipalen  selbst  die  überwiegende  Mehrheit  für  voll- 
ständige Sonntagsruhe,  wenigstens  im  Grosshandel,  einge- 
treten  wäre.  Aber  die  Anhänger  der  Sonntagsruhe  unter 
den  Prinzipalen  haben  in  vielen  Orten  keine  Gelegenheit 
erhalten  zum  Wort  zu  kommen,  und  sie  haben  auch,  wie 
es  in  solchen  Fällen  zu  gehen  pflegt,  diese  Gelegenheit 
nicht  gesucht;  denn  von  ihren  Standpunkt  als  Prinzipale 
hatten  sie  kein  unmittelbares  Interesse  daran,  aus  ihre* 
passiv  wohlwollenden  Stellung  zur  aktiven  Thätigkeit  für 
die  gesetzliche  Einführung  der  Sonntagsruhe  herauszutreten. 
Umsomehr  aber  haben  sich  die  Gegner  der  Sonntagsruhe, 
die  ihre  Angestellten  seither  am  Sonntag  ausgenutzt  haben 
und  auch  künftig  am  Sonntag  ausnutzen  wollen,  gerührt. 
Mit  ihrem  Jammern  über  die  grossen  Nachtheile,  welche  die 
Einführung  der  Sonntagsruhe  bringen  werde,  haben  sie  in 
manchen  Städten,  wo  sie  nur  eine  kleine  Minderheit  bilden, 
es  erreicht,  bei  Publikum  und  bei  den  Gemeindevertretun- 
gen den  Eindruck  hervorzurufen,  in  ihren  Kundgebungen 


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trete  die  Ansicht  der  sämmtlichen  Kaufleute  oder  ihrer 
überwiegenden  Mehrheit  zu  Tage.  Und  die  Folge  war, 
dass  fast  überall  den  deutschen  Handlungsgehilfen  die  Aus- 
sicht auf  Sonntagsruhe,  die  eine  Zeit  lang  so  verlockend 
vor  ihnen  stand,  wieder  auf  lange  verschwunden  ist. 

Zur  Ausführung  der  neuen  deutschen  Gewerbeordnung. 

Trotzdem  aus  sämmtlichen  deutschen  Fabrikinspektoren- 
berichten hervorgeht,  dass  die  Ausnutzung  aller  Arbeiter- 
kategorien gerade  in  Ziegeleien  eine  besonders  hoch- 
gradige und  anormale  ist,  hat  der  „Deutsche  Ziegler-  und 
Kalkbrenner-Verein“  (Unternehmerverband)  den  Bundes- 
rath in  einer  Eingabe  ersucht,  für  die  Ziegeleien  Ausnahme- 
bestimmungen von  den  Schutz  Vorschriften  für  jugendliche 
und  weibliche  Arbeiter  zu  erlassen.  Hoffentlich  findet  dieses 
Gesuch  noch  bestimmter  einen  abschlägigen  Bescheid,  als 
das  ähnliche  des  „Vereins  für  die  Rübenzuckerindustrie 
des  Deutschen  Reichs“,  der  auf  seiner  am  25.  Mai  zu  Berlin 
abgehaltenen  Jahresversammlung  seine  Unzufriedenheit  über 
die  ihm  gewährten  Ausnahmen  zum  Ausdruck  brachte.  Die 
meisten  Zuckerfabriken  würden  schon  jetzt  auf  Frauen- 
arbeit verzichten  und  die  Noth  in  den  Arbeiterfamilien 
werde  deshalb  gross  sein  (!).  Ein  Redner  bemerkte,  die 
Sache  sei  einfach  eine  Geldfrage;  man  müsse  männliche, 
höher  bezahlte  Arbeiter  nehmen.  Danach  werden  sich 
also  die  Arbeiter  über  die  „Noth“  wohl  trösten  können. 

Festsetzung  der  Arbeitszeit  der  Eisenbahn  beamten 
bei  Personenzügen.  Am  1.  Juni  trat  beim  Fahrpersonale 
des  Eisenbahnbetriebsamtes  Saarbrücken  eine  Aenderung 
im  Fahrdienst  ein,  so  dass  der  Dienst  täglich  nicht  länger 
als  12  Stunden  dauert.  Nach  dieser  Zeit  tritt  anderes  Per- 
sonal an  die  Stelle.  Indessen  gilt  dies  nur  für  Personen- 
züge, für  die  Güterzüge  bleibt  die  bisherige  Bestimmung 
in  Kraft. 

Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  der  Schweiz. 

Bei  Prüfung  des  Geschäftsberichtes  des  Bundesrathes  durch 
den  Nationalrath  forderte  Decurtins  Garantien  für  eine 
bessere  Regelung  der  Arbeitszeit  der  Postillone,  welche  der 
Chef  des  Postdepartements  durch  Erlass  einer  Verordnung 
zu  geben  versprach  Die  Postillone  sind  nämlich  nicht  An- 
gestellte der  Postverwaltung,  sondern  sie  stehen  nur  als 
Bedienstete  von  Fuhrhaltern  in  einem  Vertrags verhältniss 
mit  der  Eidgenossenschaft.  Auf  dieses  wird  das  Postdepar- 
tement künftig  einwirken,  um  die  Lage  dieser  Personen 
günstiger  zu  gestalten. 

Die  Frauenarbeit  bei  den  schweizerischen  Eisenbahnen. 

Das  schweizerische  Bundesblatt  vom  1.  Juni  d.  J.  veröffentlicht 
einen  Bundesrathsbeschluss  vom  24.  Mai  d J.  betreffend  Ver- 
besserungen im  Eisenbalmbetrieb.  Artikel  VI  desselben  lautet: 
„Die  tägliche  Beanspruchung  der  Frauen  im  Barrieredienst 
darf  nicht  über  die  Dauer  von  12  aufeinanderfolgenden  Tages- 
stunden hinausgehen.  Eine  Vertretung  derselben  in  diesem 
Dienst  ist  nur  durch  Personen  statthaft , welche  die  nöthige 
Eignung  dazu  haben;  insbesondere  sind  Kinder  und  körper- 
lich untaugliche  ältere  Personen  davon  ausgeschlossen. 
Für  Wöchnerinnen  gilt  in  Analogie  der  Bestimmung  im  Art.  15 
des  Fabrikgesetzes  vom  23.  März  1877,  dass  dieselben  vor  und 
nach  der  Niederkunft  im  Ganzen  während  6 Wochen  nicht  im 
Bahndienste  beschäftigt  werden  dürfen,  in  der  Meinung,  dass 
der  Dienst  jedenfalls  wenigstens  4 Wochen  nach  der  Nieder- 
kunft ausgesetzt  werden  soll.“ 


Gewerbeinspektion. 


Die  preussischeii  Fabrikinspektoren  und  die  Arbeiter. 

Eine  stets  wiederkehrende  Klage  in  allen  sachkundigen  Be- 
sprechungen der  meisten  deutschen  und  insbesondere  der 
preussischen  Fabrikinspektorenberichte  war  der  auffallende 
Mangel  eines  Verkehrs  der  Inspektoren  mit  den  Arbeitern; 
auf  derartige  Beziehungen  wurde  kein  Werth  gelegt  und 
die  Arbeiter  erwiderten  die  Abgeschlossenheit  der  Aufsichts- 
beamten mit  Zurückhaltung,  ja  mit  Misstrauen.  Dass  dieses 
Verhältniss  die  Gewerbeinspektion  nicht  förderte,  braucht 
nicht  weiter  betont  zu  werden.  Ein  ganz  anderes  Ver- 
hältniss zwischen  Arbeitern  und  Inspektoren  hat  sich,  von 
der  Schweiz  und  England  ganz  abgesehen,  in  Oesterreich 


ausgebildet.  Dort  wurde  amtlich  in  den  Berichten  der 
grosse  Werth  der  von  den  Arbeiterzeitungen  den  Inspek- 
toren zu  Theil  werdenden  Unterstützung  anerkannt,  amtlich 
und  ausseramtlich  suchten  die  Inspektoren  Beziehungen 
mit  den  Arbeitern,  sie  besuchten  ihre  Feste  als  geladene 
Gäste,  sie  hielten  auch  hie  und  da  in  Arbeitervereinen  Vor- 
träge und  haben  bei  Strikes  oft  mit  Erfolg  vermittelnd  ge- 
wirkt. Dies  hat  die  Inspektion  in  der  Ausübung  ihres 
Dienstes  wesentlich  gefördert  und  war  in  gleicher  weise  für 
die  Inspektoren  wie  für  die  Arbeiter  von  Nutzen.  Jetzt 
scheint  ähnliches  auch  in  Preussen  angebahnt  zu  werden. 
So  melden  die  Zeitungen  aus  Köln  a.  Rh.,  dass  der  dortige 
Gewerbeinspektor  der  sozialdemokratischen  „Rheinischen 
Zeitung“  mittheilte,  dass  er  in  Bezug  auf  Abänderung  von 
Arbeitsordnungen,  soweit  darauf  bezügliche  Wünsche  der 
Arbeiter  sich  auf  gesetzlichem  und  allgemein  rechtlichem 
Boden  bewegen,  jederzeit  gern  bereit  sei,  vermittelnd 
zwischen  Arbeitern  und  Unternehmern  zu  wirken.  Auch 
ersuchte  er,  ihm  von  gesundheitsgefährdenden  Einrichtun- 
gen in  einzelnen  Fabriken,  wie  auch  von  allen  berechtigten 
Klagen  über  Betriebs-  und  Arbeitsverhältnisse  Mittheilung 
zu  machen,  damit  er  im  Stande  sei,  eingreifen  zu  können. 
Um  den  Arbeitern  Gelegenheit  zur  Anbringung  ihrer  Klagen 
zu  geben,  ist  der  Gewerbeinspektor  gerne  bereit,  Sonntag 
Morgens  eine  Sprechstunde  in  seinem  Bureau  einzurichten. 
Hoffentlich  ist  dieses  Vorgehen  nicht  ein  vereinzelter  Schritt 
eines  Beamten,  sondern  auf  Anordnung  der  Oberbehörden 
erfolgt. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 

Arbeiterwohnungsverhältnisse  im  oberschlesischen 
Industriebezirk. 

Wie  eine  einzige  grosse  Stadt  lagert  im  äussersten 
Südosten  unseres  Vaterlandes  der  oberschlesische  Industrie- 
bezirk. Aut  verhältnissmässig  engem  Raume  drängt  sich 
Grube  an  Grube,  Hütte  an  Hütte,  Dorf  an  Dorf,  Stadt  an 
Stadt.  Kaum  ein  anderes  Gebiet  Deutschlands  von  gleichem 
Umfange  ist  so  dicht  besiedelt  wie  die  industriellen 
Kreise  Oberschlesiens:  Beuthen  Land,  Beuthen  Stadt,  Ivatto- 
witz,  Zabrze  und  Tarnowitz,  die  vordem  zusammen  den 
alten  Kreis  Beuthen  bildeten.  Hier  lebten  (1890)  auf  759  qkm 
405  1 16  Personen,  also  534  auf  1 qkm  und  zwar  in  den 
Kreisen  Beuthen  Stadt  und  Land  auf  127  qkm  158  679  Per- 
sonen (=  1 249  auf  1 qkm),  im  Kreise  Kattowitz  auf  187  qkm 

120  732  Personen  (=  645  auf  1 qkm),  im  Kreise  Zabrze  auf 

121  qkm  73  679  Personen  (=  608  auf  1 qkm)  und  im  Kreise 
Tarnowitz  auf  324  qkm  52  026  Personen  (=  160  auf  1 qkm). 
Noch  frappanter  wird  das  Bild,  das  uns  diese  Massenan- 
häutung  von  Menschen  darbietet,  wenn  wir  den  sog.  engeren 
oder  inneren  Industriebezirk  gesondert  betrachten.  Als 
solchen  sieht  man  an  das  zwischen  den  Ortschaften  Myslo- 
witz,  Kattowitz,  Antonienhütte,  Zabrze,  Miechowitz,  Schar- 
ley  und  der  Landesgrenze  belegene,  fast  den  ganzen  Kreis 
Beuthen  (Stadt  und  Land),  die  nördlichen  Theile  der  Kreise 
Kattowitz  und  Zabrze  und  einen  kleinen  Theil  des  Kreises 
Tarnowitz  umfassende  Gebiet  mit  280  qkm.  Hier  wohnten 
1890  322  247  Personen,  das  sind  1 151  auf  1 qkm.  Und  ebenso 
erstaunlich  und  grossstadtähnlich  wie  die  Dichtigkeit  der 
Besiedelung  ist  die  rasche  Zunahme  der  Bevölkerung  in 
den  genannten  Kreisen.  Im  alten  Kreise  Beuthen,  in  dem 
jetzt  405  116  Personen  wohnen,  lebten  vor  100  Jahren  erst 
12319  Menschen,  vor  45  Jahren  erst  106  136  Personen.  Seit 
1885  aber,  also  in  nur  5 Jahren,  hat  sich  die  Einwohnerzahl 
um  60  705  Personen,  d.  i.  um  17,62%  vermehrt,  im  Kreise 
Zabrze  gar  um  24,46  '/„,  Beuthen  Land  um  21,17  °/0,  also 
rascher  als  in  Berlin,  dessen  Zuwachs  im  genannten  Zeit- 
raum etwa  20  % betrug.  Mehr  als  die  Hälfte  der  Bevöl- 
kerungszunahme ganz  Schlesiens  von  1885 — 1890  (—  111  588) 
nämlich  54%  entfallen  auf  den  einzigen  alten  Kreis  Beuthen. 
Schon  25  Ortschaften  in  diesem  Gebiete  zählen  mehr  als 


304 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  24. 


5 000  Einwohner,  7 mehr  als  10  000.  Während  es  im  ganzen 
preussischen  Staat  nur  526  Ortschaften  mit  je  5 000—40  000  , 
Einwohner  giebt,  auf  je  662  qkm  eine,  entfällt  in  unserm 
Bezirk  schon  auf  je  31,5  qkm  ein  Ort  mit  mehr  als  5 000  Ein- 
wohner. Es  ist  bekannt,  dass  die  Schätze  des  oberschle- 
sischen Bodens:  Steinkohle,  Eisenerze,  Zink,  diese  An- 

ziehungskraft ausüben,  deren  Gewinnung  und  Verarbeitung 
mehr  als  die  Hälfte  der  Bevölkerung  beschäftigen.  Vom 
Bergbau  und  Hüttenbetrieb  leben  (Anfang  1890)  im  Land- 
kreise Beuthen  76%  der  Gesammtbevölkerung,  im  Stadt- 
und  Landkreise  Beuthen  67%,  im  Kreise  Zabrze  66  %,  im 
industriellen  Theile  des  Kreises  larnowitz  57%,  im  Kreise 
Kattowitz  56  % u.  s.  w.  Von  den  grösseren  Städten  machten 
die  industriellen  Arbeiter  mit  ihren  Familien  in  Myslowitz 
20%,  in  Beuthen  30%,  in  Königshütte  (36  501  Einwohner) 
gar  88%  der  Gesammtbevölkerung  aus.  13  ländliche  Orte 
hatten  mehr  als  75  %,  16  50—75%  industrielle  Bevölkerung. 

Es  giebt  für  den  soziologischen  Feinschmecker  nichts 
interessanteres  als  nachzuprüfen,  wie  sich  bei  solch’  eigen- 
thümlicher  Entwickelung  der  Bevölkerungsverhältnisse  die 
Wohnungszustände  für  die  Arbeiterschaft  gestaltet 
haben.  Wir  haben  daher  mit  lebhafter  Freude  eine  Arbeit 
des  Bergraths  Dr.  Sättig  begriisst,  welche  dieser  auf  Grund 
einer  Wohnungsenquete  des  Oberschlesischen  Berg-  und 
Hüttenmännischen  Vereins  im  laufenden  XXXI.  Jahrgange 
der  Zeitschrift  genannten  Vereins,  S.  1 — 50,  veröffentlicht 
hat  und  in  welcher  er  die  verschiedenen  Probleme  der 
Arbeiterwohnungsfrage  und  deren  Lösung  für  den  ober- 
schlesischen Industriebezirk  an  Hand  eines  reichen  Mate- 
rials mit  grossem  Geschick  und  Verständniss  erörtert.  Es 
dürfte  für  die  Leser  dieser  Zeitschrift  gleichfalls  von  Inter- 
esse sein,  mit  den  wichtigsten  Ergebnissen  vorgedachter 
Untersuchung  bekannt  gemacht  zu  werden,  weshalb  wir 
uns  der  dankbaren  Aufgabe  unterziehen,  im  Folgenden  an 
Hand  der  Wohnungsenquete  des  Berg-  und  Hüttenmänni- 
schen Vereins,  sowie  der  darauf  bezüglichen  Arbeit  Sattig’s 
einen  Ueberblick  über  die  Arbeiterwohnungsverhältnisse  im 
oberschlesischen  Industriebezirk  zu  geben. 

W ie  schon  aus  den  oben  mitgetheilten  Zahlen  sich  ergiebt, 
drängt  sich  die  Arbeiterschaft  Oberschlesiens,  deutsch-sla- 
vischer  Sitte  und  Gewohnheit  entsprechend,  thunlichst  um 
die  Arbeitsstätte  zusammen.  Mehr  als  4 km  von  dieser  entfernt 
wohnten  nur  1 3,5 n/0  der  Arbeiter  (4 — 6 km  7%,  6 — 8 km  3'/„ 
u.s.w.).  Es  muss  also  Sorge  getragen  werden,  will  man  es  nicht 
unternehmen,  die  Arbeiterschaft  zwangsweise  zu  dezentrali- 
siren,  ein  Ziel,  das  für  die  Zukunft  gewiss  in’s  Auge  zu 
fassen  ist,  in  der  Nähe  der  Arbeitsstätte  Ansiedelungen 
für  die  rapid  wachsende  Bevölkerung  zu  schaffen.  Hiermit 
ist,  neben  andern  Uebelständen,  die  jede  Konzentration 
einer  Arbeiterbevölkerung  im  Gefolge  hat,  im  speziellen 
Falle  noch  der  besondere  Nachtheil  verbunden,  dass  durch 
die  Arbeiterwohnungen  in  grossem  Umfange  die  minerali- 
schen Schätze  des  Bodens  todt  gelegt  werden.  Dadurch 
werden  die  Wohnungen,  volkswirthschaftlich  betrachtet, 
ungebührlich  theuer.  Man  rechnet,  dass  unter  1 qm  für 
etwa  100  M.  Kohlen  anstehen  und  dass  bei  sicherer  An- 
legung einer  Arbeiterwohnung  mit  dieser  30- — 75  000  Tonnen 
Kohlen  verloren  gehen.  Den  Verkaufspreis  der  Tonne 
Kohle  auch  nur  zu  4 M.  angenommen,  würde  sich  somit 
für  den  Bauplatz  einer  einzigen  Arbeiterwohnung  ein  Preis 
von  120 — 300  000  M.  ergeben.  Das  ist  entschieden  zu  theuer. 
Und  wenn  sich  auch  in  der  Gegenwart,  für  die  Privat- 
wirthschaften,  diese  Werthevergeudung  noch  nicht  fühlbar 
macht,  so  wird  die  zukünftige  Generation  doch  mit  dieser 
Thatsache  zu  rechnen  und  darauf  zu  sinnen  haben,  die 
Wohnungen  der  Arbeiterschaft  aus  dem  inneren  Industrie- 
bezirk zu  entfernen  und  in  Vororten  unterzubringen.  Die 
Dringlichkeit  der  Dezentralisation  wird  dann  offenbar  noch 
erheblich  grösser  sein,  als  sie  jemals  für  grossstädtische 
Wohnungsverhältnisse  gewesen  ist.  Die  gegenwärtigen 
Interessenten,  Unternehmer  und  Arbeiter,  denen  solche 
Zukunftsgedanken  naturgemäss  fern  liegen,  ziehen  es  einst- 
weilen vor,  die  unteridischen  Schätze,  soweit  sie  nicht 
schon  abgebaut  werden  oder  in  absehbarer  Zeit  zum 
Abbau  gelangen,  unberücksichtigt  zu  lassen,  und  den 


eimeren  Umkreis  der  Arbeitsstätten  als  Ansiedlungsterrain 
zu  wählen. 

Da  ist  nun  wohl  das  unseren  Bezirk  hauptsächlich 
charakterisirende  Moment  das,  dass  die  private  Speku- 
lation auch  nicht  annähernd  hinreicht,  um  den  Bedarf  an 
Arbeiterwohnungen  zu  decken.  Die  Enquete,  welche  ihre 
Untersuchung  auf  ein  Gebiet  von  1141  qkm  mit  71  175 
männlichen  industriellen  Arbeitern  ausdehnte,  macht  keine 
genaue  zahlenmässige  Angaben  über  das  Vorhandensein 
spekulativer  Arbeiter -Miethswohnungen  im  Bezirke;  wir 
können  jedoch  indirekt  aus  den  mitgetheilten  Zahlen  ent- 
nehmen, dass  sie  nur  für  einen  kleinen  Prozentsatz  der 
Arbeiterfamilien  Unterkunft  gewähren.  Die  Miethspreise  im 
oberschlesischen  Industriebezirke  sind  einstweilen  noch  so 
niedrig,  dass  sie  der  privaten  Spekulation  keinen  Anreiz 
zum  Bau  von  Miethskasernen  bieten.  Da  aber  auch  gemein- 
nützige Bauvereine  bislang  sich  in  unserem  Reviere  nicht 
bethätigt  haben,  so  bleibt  auf  den  Arbeitgebern  die  Ver- 
pflichtung liegen,  allen  Arbeitern,  die  nicht  in  eigenen 
Häusern  wohnen,  Unterkunft  zu  gewähren. 

Der  Prozentsatz  industrieller  Arbeiter,  die  in  eigenen 
Häusern  wohnten,  ist  noch  verhältnissmässig  hoch;  es 
waren  Hausbesitzer  8830  männliche  Personen,  also  12,4% 
aller  männlichen  Arbeiter  oder  ca.  20%  der  verheiratheten 
(47  673),  und  zwar  entfielen  4175  von  den  Hausbesitzern  auf 
den  äusseren  Industriebezirk,  d.  h.  denjenigen  Rayon  des 
Untersuchungsgebietes,  der  ausserhalb  des  oben  begrenzten 
inneren  oder  eigentlichen  Industriebezirkes  (280  qkm)  sich 
erstreckt.  Die  Zahl  der  Eigenwohner  nimmt  von  der 
Peripherie  nach  dem  Centrum  prozentual  ab;  während  in 
einzelnen  Ortschaften  an  der  Peripherie  über  50%  aller 
industriellen  Arbeiter  Eigenwohner  sind,  sinkt  ihre  Zahl 
nach  dem  Herzen  des  Bezirks  zu  bis  unter  3 %•  I 

Soweit  nun  die  Unternehmer  für  die  Unterkunft 
ihrer  Arbeiter  zu  sorgen  haben,  suchen  sie  auf  drei  ver- 
schiedenen Wegen  zu  ihrem  Ziele  zu  gelangen.  Wir  er- 
halten somit  ausser  den  gewöhnlichen  Mieths-  und  den  i 
Eigenwohnungen  drei  verschiedene  Arbeiterwoh- 
nungstypen; für  Arbeiterfamilien:  die  sogenannten  Bei- 
hilfehäuser und  die  gewerkschaftlichen  Familien- 
wohnungen; für  ledige  Arbeiter  die  Schlafhäuser  bezw.. 
Schlafstuben.  Beihilfehäuser  sind  solche  Häuser,  welche 
Arbeiter  mit  Werksbeihilfe  (Bauprämien,  Bauvorschüssen,; 
freiem  Baugrund  u.  s.  w.)  selbst  errichtet  haben;  zumeist, 
jedoch  nicht  blos  für  den  eigenen  Bedarf,  sondern  für  eine 
Mehrzahl  von  Familien.  Solcher  Beihilfshäuser  giebt  es 
1769  mit  zusammen  11  135  Familien  Wohnungen  (im  Durch- 
schnitt 6,3):  die  Hälfte  davon  sind  von  Arbeitern  der  drei 
fiskalischen  Werke  (Königin  Luise -Grube,  Königs -Grube, 
Gleiwitzer  Hütte)  errichtet,  nämlich  878  Häuser  mit  5547 
Wohnungen.  Dem  Beispiele  des  Fiskus  sind  dann  nament- 
lich die  Vereinigte  Königs-  und  Laurahütte  mit  446  und  die 
Schlesische  Aktien-Gesellschaft  mit  129  Häusern  gefolgt.  Im 
Allgemeinen  lauten  die  Urtheile  der  Verwaltungen,  welche 
den  Bau  von  Arbeiterwohnungen  unterstützt  haben,  über 
dieses  System  der  Ansiedelung  nicht  allzu  günstig.  Es  wird 
nicht  empfohlen,  weil  die  Arbeiter  sehr  oft  nicht  im  Stande 
sind,  die  Häuser  in  ihrem  Eigenthum  zu  behaupten,  da  sie 
ausser  der  von  der  Verwaltung  gewährten  Beihilfe  zumeist 
noch  anderweit  Geld  aufnehmen  müssen;  die  Arbeiter  ge- 
rathen  bald  in  die  Abhängigkeit  der  Hypothekenbesitzer, 
die  schliesslich  Eigenthümer  werden.  So  waren  von  447 
Häusern  der  Königin  Luise-Grube  nur  101  ohne  Aufnahme 
ander  weiter  Hypotheken  fertiggestellt  worden;  von  den 
Hypotheken,  welche  auf  den  übrigen  346  Häusern  lasteten, 
gehörten  77  Bergbeamten  und  Bergarbeitern,  26  Baugewerb- 
treibenden  und  291  anderen  Gewerbtreibenden  und  Handels- 
leuten. Von  332  Beihilfehäusern  der  Königsgrube  befanden 
sich  (1891)  nur  noch  190  im  Besitze  von  Arbeitern  dieses 
Werkes;  71  waren  im  Besitze  anderer  Arbeiter,  71  in  den 
Besitz  von  Geschäftstreibenden  übergegangen. 

Es  scheint  daher,  als  ob  man  das  System  der  Beihilfe- 
häuser  mehr  und  mehr  verliesse  und  statt  ihrer  in  grösserem 
Umfange  den  Bau  gewerkschaftlicher  Familienhäuser 
betriebe.  In  solchen  Familienhäusern,  d.  h.  also  Arbeiter- 


No.  24. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


häusern,  welche  von  den  Werken  auf  ihre  Kosten  gebaut 
und  wohnungsweise  an  Arbeiterfamilien  vermiethet  werden, 
wohnten  Ende  1889:  8923  männliche  Arbeiter,  12,5  "/n  aller, 
ca.  20  °/0  der  verheiratheten  männlichen  berg-  und  hütten- 
männischen Arbeiter  des  Untersuchungsbezirks.  Von  ihnen 
fallen  8322  ins  innere,  601  ins  äussere  Revier.  In  einzelnen 
ländlichen  Ortschaften  wohnen  über  die  Hälfte  bis  68  % 
aller  männlichen  Arbeiter  in  gewerkschaftlichen  Wohnungen ; 
von  den  Städten  ein  grösserer  Prozentsatz  (27,5  %)  nur  in 
Kattowitz.  Die  gewerkschaftlichen  Häuser  haben  im  Durch- 
schnitt 6,5  Wohnungen. 

Ueber  die  Beschaffenheit  der  Arbeiter  - Familien- 
wohnungen erfahren  wir  aus  unserer  Enquete  Folgendes: 
In  den  Kreisen  Tarnowitz,  Gleiwitz,  Pless  und  Rybnik  be- 
stehen die  Arbeiterwohnungen  zumeist  aus  einem,  in  den 
nördlichen  Theilen  der  Kreise  Kattowitz  und  Zabrze,  sowie 
im  Kreise  Beuthen  (Stadt  und  Land)  aus  zwei  Wohnräumen. 
Nach  den  Angaben  der  Magistrate  und  Amtsvorsteher,  welche 
ausser  den  Werksbesitzern  ebenfalls  befragt  worden  sind, 
haben  Arbeiterwohnungen  im  Kreise: 


Tarnowitz  unter  40 Ortschatten 

28  mit  zumeist  1, 12  mit  zumeist  2 

Gleiwitz 

55 

20 

5) 

16 

55 

55 

1,  4 

55 

2 

55  w 

Pless 

55 

19 

*5 

18 

55 

55 

1,  1 

55 

„ 2 

Rvbnik 

75 

21 

13 

55 

5’ 

1,  8 

55 

„ 2 

Beuthen  | 

(Stadt 

55 

25 

4 

55 

55 

1,21 

55 

2 

55  " 

u.  Land)  | 

Zabrze 

55 

15 

55 

3 

5’ 

55 

1,  12 

55 

„ 2 

Kattowitz 

55 

30 

55 

8 

55 

1,22 

55 

„ 2 

Der  Rauminhalt  der  Wohnungen  beträgt  in  den  Kreisen 
Tarnowitz,  Gleiwitz,  Pless  und  Rybnik  im  grossen  Durch- 
schnitt 40 — 54,  in  den  nördlichen  Theilen  der  Kreise  Kat- 
towitz und  Zabrze  sowie  im  Kreise  Beuthen  (Land)  75  cbm. 
Der  Regel  nach  wohnen  3 oder  4 Familien  auf  einem  Flur, 
danach,  aber  viel  seltener  2,  dann  6;  diejenigen  Häuser,  in 
denen  nur  1 oder  5 bezw.  8 Quartiere  auf  einem  Flur  liegen, 
sind  Ausnahmen.  Die  Anzahl  der  unter  einem  Dach  woh- 
nenden Familien  wird  wesentlich  durch  die  Zahl  der  Stock- 
werkebedingt. Die  Arbeiter  stellten  sich  ihre  Häuser  anfänglich 
nur  mit  einem  Erdgeschoss  her,  dem  sie  bei  Anwachsen  der 
Bevölkerung  häutig  Giebelstuben  in  einem  Dachgeschosse 
beifügten;  neuerdings  bauen  sie  schon  häutig  über  dem 
Erdgeschoss  ein,  auch  zwei  Stockwerke.  Ebenso  ist  beim 
Bau  der  gewerkschaftlichen  Familienhäuser  im  Laufe  der 
letzten  Jahrzehnte  eine  Vermehrung  der  Stockwerke  ein- 
getreten; aber  auch  unter  den  neueren  scheinen  diejenigen 
mit  Erdgeschoss  und  erstem  Stockwerk  zumeist  vertreten 
zu  sein,  danach  diejenigen  mit  erstem  und  zweitem  Stock- 
werk, bei  Weitem  seltener  solche  mit  drei  Stockwerken  über 
dem  Erdgeschoss.  Fünf  bewohnte  Stockwerke  (einschliess- 
lich Keller)  über  einander  haben  nur  wenige  von  Unter- 
nehmern gebaute  Häuser. 

Leider  müssen  wir  es  uns  versagen,  hier  in  eine  wei- 
tere Schilderung  der  einzelnen  Wohnungstypen  und  Woh- 
nungseinrichtungen einzutreten;  es  mag  auf  das  reiche 
Material  verwiesen  werden , das  der  Bericht  des  Herrn 
Bergrath  Sättig  darüber  enthält.  Was  den  Charakter  der 
verschiedenen  Wohnungstypen  anbelangt,  so  sind,  nach 
Ansicht  unseres  Berichterstatters , die  gewerkschaftlichen 
Wohnungen  fast  aller  Orten  die  geräumigsten,  gesündesten 
und  bequemsten,  aber  keineswegs  die  theuersten.  Ueber 
diesen  letzteren  Punkt,  die  Miethspreise,  erfahren  wir 
folgendes:  Der  monatliche  Miethzins  der  gewerkschaftlichen 
Wohnungen  schwankt  zwischen  0 — Friedenshütte  — und 
10  M.  — Borsigwerk  • — , der  nicht  gewerkschaftlichen 
zwischen  1,5  und  12  M.  Am  geringsten  (1,5 — 2 M.)  ist  er 
in  den  kleinen,  an  der  Peripherie  belegenen  Ortschaften, 
am  höchsten  in  Rossberg,  Königshütte,  Lipine,  Dorotheen- 
dorf, Ruda,  Zabrze,  Laurahütte,  Hohenlohehütte,  Zalenze, 
Rosdzin,  Schozzinitz,  Gleiwitz,  Petersdorf  (bis  10  M.),  und 
namentlich  in  Beuthen  und  Kattowitz  (bis  12  M).  Die 
Miethszinse  im  innern  Industriebezirk  sind  im  Allgemeinen 
2 — 3 mal  so  hoch  als  im  äusseren.  Sie  sind  zumeist  da 
am  höchsten,  wo  es  keine  oder  nur  wenige  gewerkschaft- 


305 


liehe  Wohnungen  giebt,  da  der  sehr  mässige  Preis  der 
letzteren  die  Höhe  des  Miethzinses  der  übrigen  Wohnungen 
an  demselben  Orte  beeinflusst.  Der  durchschnittliche Mieth- 
zins  der  Wohnung  eines  industriellen  Arbeiters  soll  im 
innern  Bezirk  zur  Zeit  etwa  80  M.  betragen.  Das  wäre 
nicht  viel  und  würde  von  dem  Einkommen  der  Arbeiter 
(vergl.  den  Artikel  „Arbeitslöhne  in  der  oberschlesischen 
Montanindustrie“  in  No.  18  dieses  Blattes)  nur  ca.  8 12pCt. 
ausmachen. 

Die  vorstehenden  Angaben  beziehen  sich  auf  Arbeiter- 
familienwohnungen; es  erübrigt  ein  Wort  über  die  Wohn- 
verhältnisse der  ledigen  oder  alleinstehenden 
männlichen  Arbeiter  (die  weiblichen,  ledigen  Arbeiter 
hat  die  Enquete  ausser  Acht  gelassen).  Von  diesen  (31  874) 
wohnten  64,1  % bei  den  Eltern,  27,5%  als  Quartiergänger, 
5,8%  in  Schlafhäusern,  2,6%,  in  eigenen  Hausständen. 
Offenbar  ist  für  die  ledigen  Arbeiter  seitens  der  Werke 
nicht  annähernd  in  gleichem  Umfang  Sorge  getragen,  wie 
für  die  verheiratheten.  Denn  für  diejenigen  ledigen  Arbeiter, 
welche  weder  bei  ihren  Eltern  noch  in  eigenem  Haus- 
stande leben,  sondern  in  Schlafhäusern  und  fremden 
Quartieren  wohnen  — 10  632  — sowie  für  die  auswärtigen, 
und  während  der  Woche  im  Industriebezirk  anwesenden 
Arbeiter  sind  nur  2976  Schlafstellen  in  gewerkschaftlichen 
Häusern  zur  Verfügung;  auch  bei  den  Miethern  der  ge- 
werkschaftlichen Familienwohnungen  sind  Quartiergänger 
noch  verhältnissmässig  selten  untergebracht.  Von  den 
einzelnen  Schlafstuben  bezw.  Schlafsälen  sind 
99  mit  2 bis  5 Betten  besetzt, 

166  „ 6 „ 10  „ „ 

37  „ 12  „ 16  „ 

16  „ 17  „ 41  „ 

Die  Schlafhäuser,  bemerkt  unser  Bericht,  befinden 
sich  zum  Theil  in  weniger  gutem  Zustande  als  die  Familien- 
häuser. Hinsichtlich  der  Ordnung,  besonders  aber  der 
Sauberkeit  lassen  einzelne  viel  zu  wünschen  übrig.  Der 
zur  Aufbewahrung  der  Kleider  und«  der  Speisevorräthe 
überwiesene  Raum  ist  stellenweise  unzureichend.  Die 
Schlafstellen  werden  in  6 Häusern  unentgeltlich,  in 
12  Häusern  für  0,5 — 1 M.,  in  8 Häusern  für  1,5 — 2 M.,  in 
11  Häusern  für  2,1 — 3 M.  monatlich  gewährt.  Die  Be- 
köstigung ist  in  der  Regel  den  Schlafstellenbesitzern  über- 
lassen; sie  kochen  sich  ihre  Mahlzeiten  selbst,  oder  es  ge- 
schieht durch  den  Hausmeister  bezw.  durch  eine  Frau,  die 
zu  dem  Zweck  von  der  Verwaltung  angestellt  ist.  Geben 
sie  sich  in  Schlaf  hauskost,  so  werden  für  ein  Frühstück 
zumeist  10,  auch  nur  5,  für  das  Mittags-  bezw.  Abendbrot 
25 — 45  Pf.  verlangt.  Die  Kost  ist  gut,  kräftig  und  wohlfeil. 

Wie  aus  den  wenigen  vorstehenden  Mittheilungen 
schon  ersichtlich  sein  dürfte,  ist  die  Wohnungsenquete  des 
Oberschlesischen  Berg-  und  Hüttenmännischen  Vereins  ein 
sehr  werthvoller  Beitrag  zur  Erforschung  unserer  sozialen 
Zustände.  Es  wäre  zu  wünschen,  dass  dieses  lobenswerthe 
Unternehmen  auch  an  andern  Orten  Nachahmung  fände, 
auf  dass  von  den  berufenen  Interessentenvertretungen  aus 
die  Untersuchungen  der  amtlichen  Organe  wie  der  pri- 
vaten Forscher  die  nöthige,  ja  unentbehrliche  Ergänzung 
fänden. 

Breslau.  Werne)  Sombart. 


Eingesendete  Schritten. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Animal  Report  of  the  State  Board  of  Arbitration.  For  the 
year  1891.  (Public  document  No.  40).  Boston,  1892.  Wrigtli 
& Potter.  Printing  Co.  8°.  68  S. 

Mandello,  Dr.  Karl,  Rückblicke  auf  die  Entwicklung  der 
ungarischen  Volkswirthschaft  im  Jahre  1891.  (Separat- 
abdruck aus  dem  „Pester  Lloyd“. ) Budapest,  1892.  Bester 
Lloyd-Gesellschaft.  8°.  239  S.  und  2 Tafeln. 

Mischler,  E,  Univ-Prof,  Mittheilungen  des  Statistischen 
Landesamtes  des  Herzogthums  Bukowina.  1.  Heft. 
Czernowitz,  1892.  H.  Pardini.  gr.  8°.  201  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


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306 


No.  24. 


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Walther  & Apolants  Verlagsbuchhandlung,  Berlin  W.,  Kleiststr.  16  17. 


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Deutsche  Litteraturzeitung 

Begründet  von  Professor  Dr.  Max  Roediger. 
Herausgegeben 
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Dr.  Paul  Hinneberg. 

XIII.  Jahrgang.  Preis  vierteljährlich  7 Mark.  Erscheint  jeden  Sonnabend. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten. 


Die  Deutsche  Litteraturzeitung  erblickt  ihren  eigenthümlichen  Beruf  darin, 
vom  Standpunkt  der  deutschen  Wissenschaft  aus  eine  kritische  Uebersicht  über 
das  gesammte  litterarische  Leben  der  Gegenwart  zu  bieten.  Sie  sucht  im 
Unterschied  von  den  Fachzeitschriften  allen  denen  entgegenzukommen,  welchen  es 
Bedürfniss  ist,  nicht  nur  mit  den  Fortschritten  ihres  Faches,  sondern  auch  mit  der 
Entwickelung  der  übrigen  Wissenschaften  und  mit  den  hervorragenden  Leistungen 
der  schönen  Litteratur  vertraut  zu  bleiben. 

In  ihren  Mittheilungen  bringt  die  Deutsche  Litteraturzeitung  eine  Uebersicht 
über  den  Inhalt  in-  und  ausländischer  Zeitschriften,  wie  sie  in  dieser  Reich- 
haltigkeit sonst  nirgends  geboten  wird,  ferner  ständige  Berichte  über  die  Thätigkeit 
gelehrter  Gesellschaften,  Nachrichten  über  wissenschaftliche  Entdeckungen  und  litte- 
rarische Unternehmungen,  Personalnotizen  und  Vorlesungsverzeichnisse. 

Durch  die  Unterzeichnung  aller  Besprechungen  mit  dem  vollen  Namen  des 
Referenten  bietet  die  Deutsche  Litteraturzeitung  die  Gewähr  einer  gediegenen 
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Dr.  jur.  et  phil. 

Redaktion  und  Expedition:  Berlin  W,  Magdeburgerstrasse  36. 

Die  seit  1879  erscheinende  Wochenschrift  „Export“  ist  bestrebt,  die  Interessen 
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deutschen  Industrie  wichtige  Mittheilungen  über  die  Handelsverhältnisse  des  Aus- 
landes in  kürzester  Frist  zu  übermitteln. 

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I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  20.  Juni  1892. 


Nummer  25. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
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Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT 


Der  Gesetzentwurf  über  die 
direkten  Personalsteuern 
in  Oesterreich.  Von  Prof. 
Dr.  Ernst  Mischler. 
Politische  Arbeiterbewegung: 

Die  evangelischen  Arbeitervereine, 
^rbeiterzustämle: 

Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der 
Maurer  Deutschlands.  Von  Dr. 
Adolf  Braun. 

Arbeitszeit  der  englischen  Eisen- 
bahnbediensteten. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Der  internationale  Bergarbeiter- 
kongress in  London. 

Der  XI.  ordentl.  Verbandstag  der 
deutschen  GewerkvereinOTtirsch- 
Duncker). 

Gewerkverein  schwedischer  Dienst- 
mädchen in  Chicago. 

Kaufmännische  Bewegung : 

Kaufmännische  Zeugnisse  und 
Schiedsgerichte. 


Gehaltsverhältnisse  der  Handlungs- 
gehilfen. 

Ein  Kongress  von  Delegirten  aller 
im  Handelsgewerbe  arbeitenden 
Berufe. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Verordnung  über  die  Sonntagsruhe 
im  Handelsgewerbe  für  Preussen. 

Kaufmännische  Sonntagsruhe. 
Arbeiterversicherung: 

Konferenz  der  Vertreter  der  deut- 
schen Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherungsanstalten. 

Der  sechste  ord.  deutsche  Berufs- 
genossenschaftstag. 

Wohnungszustände  und  Woli- 
nungsgesetzgebung : 

Wohnhausstatistik  des  deutschen 
Reiches. 

Der  Berliner  Frauenverein  Oktavia 

Hill. 

Soziale  Hygiene: 

Eine  neue  Gewerbekrankheit. 

Steigerung  des  Alkoholkonsums  in 
der  Schweiz. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 

mm 

Der  Gesetzentwurf  über  die  direkten  Personal- 
steuern in  Oesterreich. 


„Der  Schutz  des  wirthschaftlich  Schwächeren“  ist 
eines  jener  Ziele,  welches  der  österreichische  Finanz- 
minister bei  der  gegenwärtig  vorbereiteten  Reform  der 
direkten  Steuern  sich  vorsetzte.  Im  Folgenden  soll  an  der 
Hand  der  Regierungsvorlage  die  Frage  erörtert  werden: 
welche  Steuerpflicht  wird  in  Hinkunft  dem  sogenannten 
kleinen  Manne,  d.  i.  dem  kleinen  Landwirthe,  dem  Gewerb- 
und  Handeltreibenden , dem  Arbeiter  und  dem  nie- 
deren Beamten  obliegen,  und  welche  Veränderung 
wird  in  seiner  gegenwärtigen  Position  durch  die  neuen 
Bestimmungen  hervorgerufen? 

Ehe  diese  Frage  für  die  einzelnen  Berufsgruppen  im 
Einzelnen  beantwortet  werden  kann,  ist  zunächst  der 
Personaleinkommensteuer  als  jener  Steuer  zu  ge- 
denken, zu  welcher  alle  überhaupt  ein  Einkommen  be- 
ziehenden Personen  verpflichtet  sein  werden.  Diese  Personal- 
emkommensteuer  kennt  ein  dreifaches  Existenzminimum, 


welches  man  als  das  normale,  gesetzlich  bedingte  und 
fakultative  bezeichnen  könnte.  Das  normale  Existenz- 
minimum reicht  bis  zur  Einkommensgrösse  von  einschliesslich 
600  fl,  und  ist  somit  anderen  Staaten  gegenüber  ziemlich 
hoch  angesetzt.  Das  gesetzlich  bedingte  beruht  auf 
dem  von  dem  Entwürfe  statuirten  „beneficium  familiae“, 
d.  h.  auf  der  Berücksichtigung  der  Familiengrösse;  es  wird 
nämlich  bei  Einkommen  bis  zu  2000  fl.  für  jedes  in  der 
Versorgung  des  Oberhauptes  stehendes  Familienglied  ausser 
der  Ehefrau  (insoweit  deren  in  grösseren  Orten  mehr  als  4 
und  in  kleineren  mehr  als  2 sind),  ein  Betrag  von  25  fl. 
bei  Berechnung  der  Steuer  vom  Einkommen  abgeschlagen. 
Dadurch  kann  entweder  ein  Existenzminimum  auch  bei 
Einkommensbeträgen  von  600 — 700  fl.,  oder  eine  Herab- 
setzung der  Steuer  um  wenigstens  1 Stufe  stattfinden.  Die 
erstere  Einwirkung  ist  von  grösserer  Bedeutung,  indem  die 
immerhin  belangreiche  .Steuer  von  3 fl.  60  bis  5 fl.  40  Kr. 
ganz  entfällt,  dagegen  fällt  die  Ermässigung  um  eine  oder 
mehrere  Klassen  kaum  ins  Gewicht  (40 — 80  Kr.  Differenz 
zwischen  je  2 Klassen).  Auch  ist  nicht  zu  verkennen,  dass 
dieses  gesetzlich  bedingte  Existenzminimum  nur  eintreten 
kann,  wenn  die  Familie  in  grösseren  Städten  mindestens  5 
und  in  kleineren  7 Köpfe  fasst,  und  dass  es  nur  auf  die  zu 
der  4.  resp.  6.  Person  noch  hinzutretenden  Familienglieder 
Bezug  hat,  wodurch  seine  Wirkung  abgeschwächt  wird. 
Das  fakultative  Existenzminimum  besteht  darin,  dass 
es  bei  der  Bemessung  der  Steuer  gestattet  ist,  alle 
möglichen,  die  Leistungsfähigkeit  des  Steuerpflichtigen 
wesentlich  beeinträchtigenden  Verhältnisse  dadurch  zu  be- 
rücksichtigen, dass  in  den  niedersten  drei  Einkommens- 
stufen, d.  i.  von  600  bis  675  fl.,  die  Steuer  ganz  entfällt  und 
sonst  ermässigt  wird.  Im  Allgemeinen  kann  also  gesagt 
werden,  dass  das  Einkommen  bis  zu  600  fl.  schlecht- 
hin von  der  Personaleinkommensteuer  frei  ist,  und  dass 
dieses  Existenzminimum  in  immerhin  erheblichem  Umfange 
auf  675 — 700  fl.  erhöht  werden  kann. 

Allerdings  gibt  es  einen  Fall,  in  dem  sogar  das  nor- 
male Existenzminimum  in  seinem  Bestände  bedroht  wird, 
und  dieser  tritt  bei  der  Wirkung  des  vom  Gesetzentwürfe 
eingeführten  Familienprinzip  es  ein;  es  wird  nämlich  bei 
der  Personaleinkommensteuer  (und  ähnlich  bei  der  Renten- 
steuer) das  Einkommen  aller  mit  dem  Familienhaupte  ge- 
meinsam lebenden  und  von  ihm  versorgten  Familienglieder 
zum  Zwecke  der  Besteuerung  als  ein  einheitliches  aut- 
gefasst,  wenn  das  Einkommen  dieser  Familienglieder  dem 
Oberhaupte  zufliesst.  Leben  also  z.  B.  in  der  Familie 
eines  Arbeiters,  der  450  fl.  bezieht,  3 erwachsene  Kinder, 
welche,  das  eine  500  fl.  und  die  anderen  ä 300  fl.  verdienen, 
so  entsteht  ein  Gesammteinkommen  zur  Personalsteuer  von 


308 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  25. 


1550  fl.,  von  dem  20  fl.  an  dieser  Steuer  zu  entrichten  sind, 
welche  entfällt,  sobald  die  Familienglieder  einzeln  leben. 

So  richtig  das  Familienprinzip  beim  Bezüge  grösserer 
Familieneinkommen  ist,  so  berechtigt  dürfte  die  Forderung 
sein,  dass  seine  Wirkung  bei  den  kleinen  Einkommen, 
namentlich  wo  die  Theile  dem  Existenzminimum  unter- 
liegen, entfallen  solle. 

Wenn  nun  so  im  Allgemeinen  jedes  Einkommen  über 
600  fl.  resp.  eventuell  675-700  fl.  personalsteuerpflichtig 
ist,  so  ist  jedoch  auch  auf  die  Steuerbemessung  Rück- 
sicht zu  nehmen.  Da  es  unendlich  schwierig  sein 
wird,  zu  genauen  Angaben  der  Einkommen  zu  ge- 
langen, so  trifft  die  Steuervorlage  den  Ausweg,  den  Woh- 
nungsaufwand als  aushilfsweisen  Massstab  festzusetzen.  Es 
wird  z.  B.  bei  einem  Wohnungsaufwand  bis  500  fl.  das  - 
Einkommen  in  Wien  mindestens  als  4 Mal,  in  grösseren 
Städten  resp.  Orten  als  5 und  in  kleineren  als  6 Mal  so 
gross  angenommen.  Da  in  den  österreichischen  Städten 
bei  den  niederen  Volksschichten  das  Wohnen  in  1 Zimmer 
(und  Küche)  ungemein  verbreitet  ist,  und  solche  Woh- 
nungen im  Allgemeinen  100 — 170  fl.  kosten,  so  ist  damit  die 
Steuerfreiheit  dieser  Volksklassen  taktisch  ausgesprochen, 
gleichgültig,  welches  ihr  Einkommen  sei,  denn  es  ist  wohl 
anzunehmen,  dass  die  Wohnungsmiethe  als  Anhaltspunkt 
ganz  allgemein  in  Aufnahme  kommen  wird.  Nun  ist  aber 
klar,  dass  das  Einkommen  der  in  diesen  kleinen  W oh- 
nungen wohnenden  Familien,  namentlich  wo  mehrere 
Familienglieder  mitarbeiten,  in  zahlreichen  Fällen  über  600 
bis  700  fl.  steht.  Auch  damit  ist  ein,  allerdings  unbeabsich- 
tigtes und  nur  aus  der  Steuertechnik  her  vor  gehendes 
Existenzminimum,  dessen  Massstab  die  Wohnungsmiethe 
ist,  gegeben.  Selbstverständlich  werden  in  Hinkunft  Woh- 
nungen,  mit  welchen  gemäss  ihrem  Miethzinse  faktisch  die 
Steuerfreiheit  verbunden  ist,  in  verstärktem  Masse  gesucht 
werden  und  damit  im  Preise  steigen.  Die  Anlage  von 
Zinskasernen  mit  den  kleinsten  Wohnungen  wird  sich  noch 
mehr  rentiren,  wozu  noch  kommt,  dass  die  Gebäudesteuer- 
pflichtigen durch  die  mit  der  Gesetzesvorlage  in  Aussicht 
gestellten  Steuernachlässe  (bei  der  Grund-,  Gebäude-  und 
Erwerbsteuer)  begünstigt,  also  doppelte  Vortheile  gemessen 
werden.  — 

Nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  soll  nun  auf 
die  einzelnen  Berufsgruppen  und  zwar  zunächst  zum 
kleinen  Landwirthe  übergegangen  werden.  Durch  die 
soeben  erwähnten  Steuernachlässe  wird  die  Grundsteuer 
um  10—15  pCt.  sinken;  indem  die  progressive  Personal- 
einkommensteuer auch  zur  Grundsteuer  hinzutritt,  wird 
für  den  Landwirth  der  Gesammteffekt  hervorgerufen,  dass 
die  Einkommensklassen  bis  zur  beträchtlichen  Höhe  von 
etwa  4000  fl.  gegen  heute  entlastet  und  die  höheren  mehr 
belastet  werden.  Noch  grösser  ist  die  Entlastung  für  den 
Fall  der  Verschuldung  der  Grundbesitzer.  Es  ist  somit  zu 
sagen,  dass  der  kleinere  und  mittlere  Grundbesitzerstand 
jedenfalls  mit  der  neuen  Steuervertheilung  zufrieden  sein 
kann. 

Der  Gewerbe-  und  Handeltreibende  unterliegt, 
neben  der  Personaleinkommensteuer,  der  Erwerbsteuer. 
Dem  Existenzminimum  bei  der  ersteren  entsprechen  hier 
die  Steuerbefreiungen.  Von  der  Erwerbsteuer  befreit 
sind  die  sogenannte  nationale  Hausindustrie,  ferner  die 
eigentlichen  Hausindustriellen  dann,  wenn  sie  keine  frem- 
den Hilfsarbeiter  beschäftigen  und  von  nicht  mehr  als 
2 Personen  ihres  Hausstandes  unterstützt  werden;  letztere 
Bestimmung  ist  sehr  eng,  da  fast  immer  mehr  als  2 Mit- 
glieder mitarbeiten;  übrigens  ist  der  hausindustrielle  Betrieb 
durch  den  ganzen  Erwerbsteuertarif  von  ermässigten  Steuer- 
sätzen begleitet.  Am  wichtigsten  ist  dann  jene  Bestim- 
mung, nach  welcher  „dürftige“  Gewerbtreibende,  welche  ihr 


Gewerbe  mit  höchstens  einem  Hilfsarbeiter  betreiben,  für 
je  1 Jahr  von  der  Erwerbsteuer  befreit  werden  „können“. 
Es  ist  also  hier  nicht  die  absolute  Steuerfreiheit  solcher 
Unternehmungen  ausgesprochen,  wie  anderwärts  und  wie 
es  der  Antrag  Plener  im  österreichischen  Abgeordneten- 
hause intendirte,  und  zwar  deshalb,  weil  der  Umstand  der 
Verwendung  höchstens  eines  Hilfsarbeiters  nicht  immer  als 
Kriterium  der  geringen  Leistungsfähigkeit  gelten  könne. 
Dabei  ist  bedauerlich  dass  man  in  Oesterreich  nicht  im 
Stande  ist,  zu  sagen,  wie  sich  die  Zahl  der  Gehilfen  zu 
jener  der  Meister  verhält;  soviel  ist  aber  klar,  dass  bei 
Annahme  des  Antrages  Plener’s  ganze  Gegenden  erwerb-  1 
steuerfrei  geworden  wären.  Das  Recht,  diesen  „Dürftigen“ 
die  Steuerfreiheit  zu  bewilligen,  steht  den  Steuerkommis- 
sionen zu,  wobei  dieselbe  den  sehr  leidigen  Beigeschmack 
hat,  dass  der  Gewerbtreibende  als  Mitglied  einer  neuen 
Kategorie  der  Armen,  als  „Steuer-Armer“  erklärt  wird, 
was  unbedingt  nicht  zur  Hebung  seines  Selbstgefühls  und 
der  sozialen  Anschauungen  über  ihn  beitragen  kann.  Viel- 
leicht, dass  später  eine  andere  Formel  für  diese  Sache  ge- 
funden wird. 

An  zweiter  Stelle  sind  dann  jene  Bestimmungen  zu 
nennen,  welche  eine  Beachtung  der  Leistungsfähigkeit 
dieser  Steuersubjekte  enthalten.  So  kann  die  Erwerb- 
steuer für  Unternehmungen  mit  höchstens  3 Hilfsarbeitern 
bei  andauernder  Krankheit,  bei  durch  körperliche  oder 
geistige  Gebrechen  dauernd  beeinträchtigter  Erwerbsfähig- 
keit  bis  auf  die  Hälfte  herabgesetzt,  und  im  Falle  wesentlicher 
Betriebsstörungen  durchTod,  Krankheit,  Elementarereignisse 
u.  s.  w.  hinsichtlich  einzelner  Quartalsraten  ganz  oder  theil- 
weise  nachgelassen  werden.  Eine  Ermässigung  der  Sätze 
hat  auch  bei  Verwendung  von  relativ  unvollkommenen' 
Werkzeugen  oder  von  Kleinmotoren  in  geringem  Umfange 
Platz  zu  greifen;  gerade  die  letztgenannte  Bestimmung  ist 
mit  Hinblick  auf  die  zunehmende  Verwendung  von  Mo- 
toren im  Kleingewerbe  sehr  zeitgemäss.  Sehr  zutreffend 
ist  dann  die  Vorschrift,  dass  bei  jenen  Unternehmungen, 
welche  nach  dem  abzuschätzenden  Ertrage  zu  besteuern 
sind,  ein  desto  niedrigerer  Satz  anzuwenden  ist,  je  mehr 
der  Ertrag  auf  persönlicher  Arbeit  und  je  weniger  er  auf 
der  Mitwirkung  von  Kapital  beruht,  und  je  mehr  im  letz- 
teren Falle  das  fremde  Kapital  über  das  eigene  überwiegt. 
Allerdings  wird  zugegeben  werden  müssen,  dass  die  An- 
wendung aller  dieser,  meist  fakultativen  und  dehnbaren 
sowie  interpretationsbedürftigen  Bestimmungen  durch  die 
der  Bevölkerung  entnommenen  Steuercommissionen  recht 
schwierig  sein  wird.  Auch  das  vielgeprüfte  Kleingewerbe 
kann  somit  nur  Ursache  haben,  die  Einführung  der  neuen 
Steuer  zu  erstreben. 

Die  Arbeiter  sind  gegenwärtig  wohl  so  gut  wie 
steuerfrei,  natürlich  nur  was  die  direkten  Steuern  an  be- 
langt. Sie  unterliegen  bei  einem  Bezüge  von  mehr  als 
630  fl.  der  Klasse  II  der  Einkommensteuer,  und  zwar  setzt 
die  Steuerpflicht  (einschliesslich  der  Zuschläge)  sofort  mit 
einem  Satze  von  2 pCt.  ein  und  steigt  progressiv.  That- 
sächlich  jedoch  rvird  eine  Steuer  von  den  Arbeitern  nicht 
eingehoben  und  zwar  wohl  aus  Gründen  der  technischen 
Unmöglichkeit.  Mit  der  Reformvorlage  soll  dieser  Zustand 
gründlich  geändert  werden.  An  Stelle  dieser  Einkommen- 
steuer II.  Klasse  ist  die  Besoldungssteuer  eingeführt  worden, 
welche  wohl  auch  ein  Existenzminimum  von  600  fl.  kennt 
und  bis  2000  fl.  Einkommen  1 pCt.  betragen  soll;  aber  durch 
die  eventuelle  Einhebung  der  Steuer  beim  Arbeitgeber 
und  die  Schätzung  des  Einkommens  nach  Massgabe 
des  Wohnungsaufwandes  ist  die  bisher  fehlende  Möglich- 
keit gegeben,  die  kleinen  Arbeitseinkommen  zu  ermitteln. 

Es  werden  nunmehr  die  Arbeiter  in  2 Kategorien  zer- 
fallen, von  denen  sich  die  eine  aus  jenen  zusammensetzt 


No.  25. 


SOZIALPOLITISCHES  CKNTRALBLATT. 


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für  welche  der  Arbeitgeber  die  Steuer  im  Wege  des  Lohn- 
abzuges entrichtet.  Dieser  Modus  ist  ganz  allgemein  vor- 
geschrieben und  wird  somit  für  alle  Beamten,  Werkführer 
u.  dergl.,  sowie  besondere  niedere  Bedienstete  mit  monat- 
lich gezahlten  Jahreslöhnen,  und  dann  für  jene  Arbeiter 
Platz  greifen,  welche  zwar  „veränderliche“  Bezüge  haben, 
wie  die  Vorlage  sagt,  d.  h.  also  im  Akkord  Tag-  oder 
Wochenlohne  stehen,  aber  durch  ein  Jahr  ständig  beschäftigt 
werden.  Dies  sind  im  Allgemeinen  die  gelernten  Arbeiter, 
Gehilfen,  Gesellen,  Fabrikarbeiter,  Ladendiener,  Verkäufer 
und  Verkäuferinnen  etc.  Bezüglich  dieser  Personen  ist  der 
Arbeitgeber  gehalten,  entweder  die  Steuer  monatlich  bei 
der  Auszahlung  des  Gehaltes  abzuziehen  und  an  den  Staat 
zu  entrichten,  oder  aber  (und  zwar  bei  den  sogenannten 
veränderlichen  Einkommen)  am  Ende  des  Jahres  von  der 
oder  den  2 letzten  Wochenquoten  in  Abschlag  zu  bringen. 
Die  letztgenannte  Modalität  wird  viele  Inkonvenienzen  im 
Gefolge  haben.  Ein  Arbeiter  der  z.  B.  12  fl.  Wochenlohn 
erhält,  unterliegt  einer  Jahressteuer  von  6 fl.  44  kr.,  wozu 
noch  4 fl.  Personalsteuer  kommen  (letztere  ist  nämlich  in 
diesen  Fällen  in  gleicher  Weise  vom  Arbeitgeber  einzu- 
heben wie  die  Lohnsteuer),  also  zusammen  von  10  fl.  44  kr. 
Er  bekommt  demgemäss  am  Ende  des  Jahres,  in  der  letzten 
Woche  desselben,  gerade  I fl.  56  kr.  ausbezahlt;  falls  aber, 
wie  regelmässig,  die  Staatssteuer  durch  Kommunalzu- 
schläge etc.  erhöht  wird,  so  bekommt  er  in  einer  Woche 
gar  nichts  und  in  der  nächsten  eine  unbedeutende  Summe. 
Die  zweite  Kategorie  von  Arbeitern  wird  von  jenen  ge- 
bildet, welche  nicht  in  fixem  Arbeitsverhältnisse  stehen; 
bezüglich  dieser  wird  die  Steuer  nicht  durch  den  Arbeit- 
geber, sondern  direkt  von  den  Steuerbehörden  eingehoben, 
wobei  neben  dem  Bekenntnisse,  welches  aber  in  der  Regel 
thatsächlich  nicht  stattfinden  wird,  der  Wohnungsaufwand 
als  Anhaltspunkt  zu  dienen  hat.  Flierher  werden  die  Tag- 
löhner wechselnder  Beschäftigung  und  dann  jene  gelernten 
Arbeiter  gehören,  welche  sich  nur  für  kurze  Zeit  in  ein 
Arbeitsverhältniss  begeben. 

Nun  ist  hier  die  wichtige  und  nicht  zu  recht- 
fertigende Bestimmung  ergangen,  dass  bezüglich  jener,  für 
welche  die  Steuer  vom  Arbeitgeber  im  Wege  des  Lohnab- 
zuges entrichtet  wird,  das  „beneficium  familiae“  nicht  zu 
gelten  habe.  Gerade  für  den  Arbeiter,  wo  es  am  nach- 
drücklichsten wirken  könnte,  wird  es  aufgehoben,  und  zwar 
aus  steuertechnischen,  nicht  aus  inneren  Gründen,  weil  es 
eben  bei  diesem  Modus  der  Einhebung  nicht  leicht  be- 
achtet werden  kann. 

Diese  Bestimmungen  der  Reformvorlage  sind  sehr 
weittragend.  Die  Steuereinhebung  wird  allerdings  unge- 
mein geordnet,  wobei  nur  zu  bemerken  ist,  dass  viele, 
namentlich  kleinere  Meister  selbst  im  Steuerrückstand  sind 
und  später  auch  hinsichtlich  der  Lohnsteuer  im  Rückstand 
sein  werden,  da  bei  der  steten  Misere  des  Kleingewerbe- 
treibenden die  anderweitige  Verwendung  solcher  Beträge 
häufig  sein  wird.  Im  speziellen  Fall  dürfte  die  Ausführung 
ziemlich  schwierig  sein,  da  die  Arbeiterschaft  doch  ein 
wesentlich  flottantes  Bevölkerungselement  ist,  da  ferner  die 
Lohnbedingungen  des  Einzelnen  rasch  wechseln  u.  s.  f. 
Die  Anlegung  der  Lohnlisten  für  alle  Arbeiter  wird  eine 
umfassende  Sache  darstellen  (welche  allerdings  sozial- 
statistisch  von  Bedeutung  werden  könnte).  Es  wäre  nöthig 
Vorsorge  zu  treffen,  dass  die  Lohnverzeichnungen  aus  An- 
lass der  Zwangskassen  mit  dieser  Verwendung  derselben  in 
Verbindung  gebracht  würden,  um  den  Gewerbtreibenden 
Doppelarbeiten  zu  ersparen.  Jedenfalls  aber  wird  folgendes 
gelten.  Die  Arbeiter  werden  das  grösste  Interesse  daran 
haben,  dass  die  Steuerzahlung  im  Wege  des  Lohnabzuges 
nicht  eintrete,  und  da  der  Arbeitgeber  dasselbe  Interesse 
hat,  so  wird  eine  Verständigung  beider  Faktoren  leicht 


herzustellen  sein.  Die  Arbeiter  gewinnen  dabei,  dass  sie 
meist  steuerfrei  ausgehen,  indem  sie  dann  nach  dem  Wohnungs- 
aufwand beurtheilt  werden  müssen  und  dass  ihnen  dort, 
wo  sie  Steuer  zahlen,  wenigstens  das  Familienbenefiz  zu 
Statten  kommt.  Diese  Tendenzen  werden  um  so  stärker 
wirken,  je  verbreiteter  die  gegenwärtige  thatsächliche 
Steuerfreiheit  dieser  Klasse  ist. 

Aber  auch  abgesehen  von  dem  allerdings  hauptsäch- 
lichen Momente  der  Steuerzahlung  ist  die  Bedeutung  der 
Reformvorlage  für  den  Arbeiterstand  eine  grosse.  Es 
kommt  noch  ein  zweiter  wichtiger  Umstand  in  Betracht. 
Der  Tarif  der  Erwerbsteuer  basirt  in  erster  Linie  auf  der 
Arbeiterzahl,  indem  er  die  Beträge  bestimmt,  welche  für  jeden 
höheren  oder  niederen  Arbeiter  zu  entrichten  sind.  Aller- 
dings wird  die  Steuer  auch  nach  Maschinen,  Werkvor- 
richtungen etc.  entrichtet,  und  ebenso  sind  Bestimmungen 
getroffen,  dass  die  Steuer  für  minder  arbeitskräftige 
Arbeiterelemente  (alte  Personen,  Lehrlinge  etc.)  ermässigt 
wird,  aber  doch  bildet  die  vornehmste  Grundlage  der  Be- 
steuerung die  Zahl  und  Qualität  der  Arbeiter.  Es  ist  ganz 
unausweichlich,  dass  nun,  bei  grösseren  Unternehmungen, 
der  Calcul  des  Unternehmers  ganz  vornehmlich  darauf  ge- 
richtet sein  wird,  ob  er  bei  Verwendung  von  Menschen- 
oder von  Naturkraft  grösseren  Vortheil  hinsichtlich  der 
Steuerzahlung  erzielt,  und  dass  er  die  ausgesprochene 
Tendenz  haben  wird,  die  Menschenkraft  in  erheblich 
höherem  Masse  auszunützen,  da  sie  nun  theuerer  zu  stehen 
kommt.  Man  darf  wohl  mit  Zuverlässigkeit  Reduktionen 
und  Umwälzungen  in  der  Zahl  und  Zusammensetzung  der 
Arbeiter  bei  Eintritt  des  Gesetzes  voraussetzen.  Auch 
dürfte  anzunehmen  sein,  dass  die  Arbeiter  die  Tendenz 
haben  werden,  die  formelle  Entrichtung  der  Steuer  durch 
den  Arbeitgeber  in  eine  wirkliche  umzuwandeln,  sei  es 
durch  eine  allgemeine  Lohnerhöhung,  sei  es  durch  die  Her- 
beiführung derselben  Uebung,  die  hinsichtlich  der  Beamten 
der  Unternehmungen  ziemlich  allgemein  ist,  dass  nämlich 
die  Steuer  für  diese  vom  Unternehmer  getragen  wird,  ln 
einer  Fabrik  beziehe  der  Direktor  5000  fl.  und  es  seien  noch 
einige  Beamten  mit  zusammen  derselben  Summe  angestellt, 
für  welche  alle  die  Steuer  von  zusammen  500 — 600  fl.  vom 
Unternehmer  getragen  wird;  von  derselben  Summe  von 
500 — 600  fl.  könnte  die  Lohn-  sammt  Personaleinkommen- 
steuer für  rund  100  Arbeiter  bestritten  werden.  Zu  einer 
Bewegung  in  diesem  Sinne  wird  namentlich  die  Ver- 
schiedenheit beitragen,  welche  zwischen  den  ständig  und 
nicht  ständig  beschäftigten  Arbeitern  derselben  Fabrik  be- 
stehen wird,  wobei  die  einen  faktisch  steuerpflichtig  sein  und 
die  anderen  steuerfrei  ausgehen  dürften. 

Im  Allgemeinen  ist  also  hinsichtlich  der  Arbeiter  zu 
sagen,  dass  diese  nun  in  breiten  Massen  der  Steuerzahlung 
und  zwar  in  unausweichlicher  Weise  zugeführt  werden 
sollen,  wobei  es  Anfangs  nicht  ohne  Härten  und  Reibungen 
abgehen  wird.  Dass  die  Arbeiter  versuchen  werden,  auf 
irgend  einem  der  angedeuteten  Wege  die  Steuerleistung  zu 
paralysiren,  ist  begreiflich. 

Was  endlich  noch  die  Besteuerung  der  Renten- 
bezüge anbelangt,  so  sind  die  bezüglichen  Bestimmungen 
sozialpolitisch  namentlich  hinsichtlich  der  Einkommen  aus 
den  Zwangs  Versicherungskassen  erheblich.  Allerdings 
werden  diese  wohl  meist  tief  unter  dem  normalen  Existenz- 
minimum von  600  fl.  bleiben,  aber  immerhin  ist  zu  sagen, 
dass  es  angezeigt  war,  dieselben  nicht  der  Rentensteuer 
(deren  Existenzminimum  nur  bis  zur  Grenze  von  300  fl. 
reicht),  sondern  der  Besoldungssteuer  zu  unterwerfen,  da 
sie  ja  auch  ihrer  Natur  nach  weit  mehr  den  Lohnbezügen 
als  dem  Kapitalzins  gleichen,  wenigstens  dorr,  wo  auch  der 
Arbeitgeber  Zuschüsse  zu  den  Versicherungsbeträgen  zahlt. 
Dadurch  stellt  sich  der  Steuersatz  niedriger  (1  pCt.  statt 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  25. 


der  2 pCt.,  welche  für  die  Rentenbezüge  normirt  sind). 
Wittwen,  Minderjährige  und  erwerbslose  Personen  sind  von 
der  Rentensteuer  so  lange  befreit,  als  sie  nicht  der  Per- 
sonaleinkommensteuer unterliegen,  d.  h.  es  erhöht  sich  für 
diese  das  Existenzmaximum  von  den  300  fl.  der  Renten- 
steuer auf  600  fl.,  eventuell  unter  Eintritt  des  Familien- 
benefices  noch  auf  mehr.  Auch  bei  den  Einlage-Zinsen  der 
Sparkassen,  Spar-  und  Vorschussvereine  beginnt  die  Steuer- 
pflicht erst  bei  einem  höheren  Betrage,  nämlich  bei  525  fl. 

Fragen  wir  zum  Schluss  ob  die  für  Oesterreich 
immerhin  als  neu  angestrebten  sozialpolitischen  Ge- 
danken der  Gesetzesvorlage  auch  schon  das  tür  eine 
moderne  Gesetzesvorlage  erforderliche  Mass  von  solchen 
bedeuten.  Dass  dem  nicht  so  sei,  giebt  der  Motivenbericht 
bereitwillig  zu,  wobei  er  aber  mit  Recht  das  bereits  er- 
strebte Ziel  betont  und  ein  weiteres  Beschreiten  des  Weges 
durchaus  nicht  ablehnt. 

prao-.  Ernst  Misch ler. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Die  evangelischen  Arbeitervereine. 

Die  evangelischen  Arbeitervereine  bestehen  gerade 
10  Jahre.  Sie  bilden  das  jüngste  Glied  in  der  Kette  der 
Vereine  von  Arbeitern  und  kleinen  Leuten  auf  evange- 
lisch-kirchlichem Boden,  und  haben  im  Gegensatz  zu  den 
evangelischen  Jünglings-  und  Männervereinen,  die  einen 
ausschliesslich  erbaulichen  Charakter  besitzen,  sowohl  eine 
religiöse  als  eine  soziale  Tendenz.  Sie  sind  die  Parallel- 
erscheinungen zu  den  katholischen  Gesellen-  und  christlich- 
sozialen Vereinen  namentlich  im  Westen  Deutschlands,  und 
sind  auch  aus  diesen  herausgewachsen.  Evangelische  Berg- 
leute von  Gelsenkirchen,  die  dem  dortigen  katholischen 
Arbeitervereine  angehörten  und  durch  den  Druck  ultra- 
montaner Propaganda  in  ihrem  evangelischen  Empfinden 
sich  verletzt  fühlten,  gründeten  nach  Austritt  aus  dem 
katholischen  Verein  im  Mai  1892  den  ersten  evangelischen 
Arbeiterverein  Der  Anstoss  zur  Bildung  von  solchen  Ver- 
einen ist  also  aus  dem  Bedürfniss  von  Arbeitern  selbst  her- 
vorgegangen. Evangelische  Geistliche  interessirten  sich  für 
die  neuen  Bildungen,  und  wurden  bald,  wenn  auch  nicht 
die  persönlichen  Vorstände  --  das  hat  man  im  Gegensatz 
zu  der  Praxis  der  katholischen  Kapläne  meist  vermieden 
so  doch  die  geistigen  Führer  und  energischsten  Agitatoren 
der  Vereine.  ~ Die  Vereine  entwickelten  sich  überraschend 
schnell.  Zuerst  in  Rheinland  und  Westfalen,  dann  über  das 
ganze  Reich.  Aus  den  verschiedenen Jahren  existiren  folgende 
statistische  Angaben,  die  aber  auf  vollständige  Genauigkeit 
wohl  keinen  Anspruch  erheben  können: 

1885  gab  es  25  Vereine  mit  II  700  Mitgliedern 

1887  „ „ 44  „ „ 17  000  „ 

1889  „ „ 70  „ „ 20  000 

1890  „ „ 140  „ „ 40  000 

1891  „ „ 220  „ „ 70  000  „ 

1892  „ „ ? „ca.  80  000 

Unter  den  Mitgliedern  sind  nicht  ausschliesslich  Ar- 
beiter, sondern  wohl  ebenso  viele  Handwerker,  kleine  Be- 
amte u.  s.  w.  Auch  sozial  höher  gestellte  Berufe  sind  viel- 
fach vertreten.  Diese  Mitglieder  werden  zumeist  als  Ehren- 
mitglieder geführt  und  geben  vielfach  — namentlich  Theo- 
logen, aber  auch  Juristen,  Lehrer  u.s.w.  — den  Ton  in  den  Ver- 
einen an.  Sie  bieten  ihnen  auch  vor  Allem  in  Vorträgen  aller 
Art  die  geistige  Nahrung.  Die  Vereine  sind  gross  und  klein, 
blühend  oder  nur  vegetirend,  je  nach  ihrer  Vorgeschichte, 
ihrer  Zusammensetzung  und  ihrer  Führung.  Die  grössten 
und  thatkräftigsten  Vereine  sind  der  zu  Breslau,  der  jetzt 
mehr  denn  3200  Mitglieder  zählt  und  in  viele  Gruppen  und 
Unterverbände  zerfällt,  und  der  zu  Erfurt,  der  über 
2000  Mitglieder  hat.  Sämmtliche  Vereine  sind  heute  überall 
in  Provinzial-  und  Landesverbänden  zusammengefasst, 
deren  grösster  der  rheinisch-westfälische  ist.  Ausser  ihm 
giebt  es  Provinzialverbände  an  der  Saar,  an  der  Nahe,  in 


der  Pfalz,  ferner  den  württembergischen,  badischen,  bay- 
rischem?) und  sächsischen  Landesverband,  einen  schlesischen, 
kurhessischen  und  mitteldeutschen  Verband,  daneben  noch 
einige  direkt  angegliederte  Einzelvereine,  wie  in  Hamburg, 
Altona,  Ottensen  und  in  der  Mark.  Alle  diese  Verbände 
sind  dann  in  einem  Gesammtverbande  zusammengefasst. 
Daneben  besteht  ein  Presskomitee. 

Die  Thätigkeit  der  Vereine  ist  verhältnissmässig  viel- 
seitig, sowohl  religiöser,  als  geistig  bildender,  als  sozial- 
praktischer  Natur.  Sie  halten  ihre  Mitglieder  zu  regel- 
mässigem Kirchenbesuch,  christlicher  Sitte  und  evangeli- 
scher Gesinnung  an.  Sie  haben  meist  wöchentlich  gesellige 
Zusammenkünfte,  vierwöchentlich  Vortragsabende,  an  denen  j 
kirchen-  und  profangeschichtliche,  naturwissenschaftliche, 
patriotische,  wirtschaftliche  und  literargeschichtliche  Refe- 
rate mit  nachfolgender  Diskussion  gehalten  werden.  Es 
ist  für  den  ganzen  Verband  unter  Wahrung  des  Rechtes 
des  freiwilligen  Eintritts  für  jedes  Mitglied  eine  Hülfs- 
Kranken-  und  Begräbnisskasse,  zugleich  eingeschriebene 
Hülfskasse,  gegründet.  Beim  Tode  der  Frau  erhält  jeder 
30  M.,  die  Wittwe  eines  verstorbenen  Mitgliedes  50  M. 
Unterstützung.  An  manchen  Orten  hat  man  etwas  Aelin- 
liches  wie  Konsumvereine  gebildet  zur  gemeinsamen  Be- 
schaffung von  Lebensmitteln  und  Feuerungsmaterial;  es 
giebt  Sparkassen  und  Kassen  zur  ärztlichen  Verpflegung 
auch  der  Familienglieder  der  Vereinsangehörigen;  die 
Gründung  von  Baugenossenschaften  zur  Erlangung  billiger 
und  guter  Arbeiterwohnungen  wird  neuerdings  lebhaft  be- 
trieben; man  hat  Auskunftsstellen  errichtet  zur  Ertheilung 
von  Rathschlägen  an  Mitglieder  in  zweifelhaften  Fällen  der 
Kranken-,  Unfall-  und  Invaliditätsversicherung,  bei  Lohn- 
differenzen und  Arbeitslosigkeit;  es  giebt  Vereinshäuser,  so 
in  Gelsenkirchen,  Dortmund,  Bochum,  Karlsruhe  und  ein 
Feierabendhaus  für  alte,  invalide,  alleinstehende  Arbeiter 
und  Arbeiterinnen  Rheinlands  und  Westfalens.  Man  hat 
ein  gemeinsames  Liederbuch , ein  gemeinsames  Handbuch 
für  evangelische  Arbeitervereine ')  einen  gemeinsamen 


Kalender,  eine  gemeinsame  Zeitun 


Viele  Vereine 


haben  sich  Bibliotheken  eingerichtet;  alljährlich  finden 
Stiftungs-,  Kreis-  und  Landesverbandsfeste  statt,  die  mit 
Gottesdienst,  Festzug Posaunenblasen  u.  s.  w.  abge- 
halten werden.  Ein  Reiseagent,  der  Begründer  der  \ er- 
eine,  Bergmann  Fischer,  ist  für  die  Sache  thätig.  Neuer- 
dings hat  man  auch,  so  namentlich  in  Rheinland  und  West- 
falen, ähnlich  wie  es  auch  die  katholischen  zu  thun  beginnnen, 
einzelne  grössere  Vereine  nach  den  in  ihnen  vertretenen 
Gewerken  in  Werksgenossenschaften  gegliedert,  an  deren 
Spitze  je  ein  dem  betreffenden  Gewerk  angehöriges  Vor-. 
Standsmitglied  steht.  Diese  neuen  Gruppen  haben  speziell, 
für  fachgemässe  Belehrung  ihrer  Mitglieder  zu  sorgen  und 
den  Vorstand  des  Vereins  in  Nothfällen  um  Vermittlung- 
zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern,  sowie  um  Ein- 
treten für  Arbeiterschutzmassregeln  zu  ersuchen. 

Die  Evangelischen  Arbeitervereine  haben  in  den 
10  Jahren  ihres  Bestehens  innerlich  schon  eine  gewisse 
Wandlung  durchgemacht.  Das  Programm  der  ersten 
Vereine  war  ganz  allgemein  und  noch  rein  theoretisch. 
Es  enthielt  kurz  folgende  fünf  Punkte: 

Die  Evangelischen  Arbeitervereine  erstreben:  1.  Unter  den 

Glaubensgenossen  das  evangelische  Bewusstsein  zu  wecken  und 
zu  fördern;  2.  sittliche  Hebung  und  allgemeine  Bildung  der 
Mitglieder  anzustreben;  3 Treue  zu  pflegen  gegen  Kaiser  und 
Reich;  4.  ein  friedliches  Verhältniss  zwischen  Arbeitgebern  und 
Arbeitnehmern  zu  wahren;  5.  die  Mitglieder  in  Krankheits-  und 
Sterbefällen  zu  unterstützen. 

Heute  lässt  sich  das  oben  erwähnte,  vom  Gesammt- 
verband  preisgekrönte  Handbuch  über  Charakter  , Ziel 
und  Programm  der  Vereine  wie  folgt  aus: 

Die  evangelischen  Arbeitervereine  sind  da , weil  die 
soziale  Frage  da  ist.  Sie  haben  den  Zweck,  an  der  Lösung  der 
sozialen  Frage  auf  dem  Boden  der  gesellschaftlichen  (nicht 
öffentlichen,  nicht  politischen)  Vereinigung  mitzuarbeiten:  des- 
halb sind  sie  soziale  Vereine.  Weil  die  soziale  Frage  wesentlich 
mit  der  Arbeiterbewegung  zusammenhängt,  haben  sie  den 
Namen  Arbeitervereine  gewählt,  obgleich  sie  auch  andere  Stände 
aufnahmen.  Ja,  sie  halten  dies  Eintreten  anderer  Stände  wegen 


fl  Buchhandlung  des  Evangelischen  Bundes,  Karl  Braun, 
1892;  Preis  1 M. 

2)  Evangelischer  Arbeiterbote.  Volksblatt  für  Ar- 
beiter evangelischen  Bekenntnisses.  Organ  des  Gesannnt- 
verbandes  der  evangelischen  Arbeitervereine  Deutschlands. 
Wöchentlich  zweimal.  Hattingen.  Preis  vierteljährlich  2 Mark. 


No.  25 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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der  Aufgaben  der  evangelischen  Arbeitervereine  für  noth- 
wendig. 

Sie  sind  evangelische  Vereine , weil  die  Einigung  der 
verschiedenen  Stände  zur  gemeinsamen  Mitarbeit  an  der  Lösung 
der  sozialen  Frage  nicht  auf  Grund  eines  politischen  Programms 
erfolgen  kann,  sondern  nur  auf  Grund  des  gemeinsamen  Glau- 
bens.' Jedes  politische  Programm  würde  ein  „Parteiprogramm“ 
werden  und  eine  Trennung  und  keine  Einigung  herbeiführen... 

Die  Arbeit  der  evangelischen  Arbeitervereine  erstreckt 
sich  auf  die  Mitarbeit  an  der  Lösung  der  sozialen  Frage  Diese 
ist  für  uns  keine  Frage  mehr,  sondern  ein  Kreis  von  Aufgaben. 
Diese  Aufgaben  sind: 

1.  Gesellschaftliche,  a)  Unser  Bestreben  ist,  die  Kluft 
zwischen  den  einzelnen  Ständen  zu  überbrücken,  indem  wir 
innerhalb  der  Vereine  diese  Stände  in  Beziehung  und  Verkehr 
bringen.  Wir  bekämpfen  hier  das  gegenseitige  Misstrauen  und 
Uebelwollen  und  die  durch  Verhetzung  hervorgerufene  Ver- 
bissenheit. b)  Wir  wollen  den  Arbeiterstand  in  seinem  Streben 
nach  Hebung  des  Standes  durch  unsre  Mitarbeit  unterstützen, 
c)  Wir  wollen  eine  edle  Geselligkeit  pflegen  und  gegen  aus- 
schweifende Vergnügungssucht  wie  gegen  das  Wohlgefallen  an 
gemeinen,  rohen,  sinnlichen  Freuden  kämpfen. 

2.  Wirthschaftliche.  a)  In  dem  wirthschaftlichen  Kampfe 
zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  wollen  wir  ver- 
söhnend und  ausgleichend  wirken,  durch  Besprechung  und  Hin- 
weis auf  wirthschaftliche  Nothstände  zur  Besserung  auf  fried- 
lichem Wege  ohne  Strikes  und  Boykotts  Veranlassung  geben 
und  ein  vertrauensvolles  Verhältniss  herzustellen  und  zu  er- 
halten suchen,  b)  Wir  wollen  die  gegebenen,  für  die  Arbeiter 
wichtigen  Gesetze  erklären  und  über  die  Bedeutung  derselben 
belehren,  Auskunft  und  Rath  ertheilen.  c)  Wir  wollen  der 
Arbeiterwohnungsfrage  dauernde  Aufmerksamkeit  widmen  und, 
wo  nöthig,  Abhilfe  schaffen,  d)  Wir  wollen  uns  der  besonderen 
wirthschaftlichen  Nothlage  unsrer  Mitglieder  nach  Kräften  an- 
nehmen durch  Arbeitsnachweis,  Unterstützung  in  Krankheits- 
und Sterbefällen,  Darlehen,  e Wir  wollen  der  Heranbildung 
der  Lehrlinge  in  Industrie  und  Handwerk,  sowie  der  wirth- 
schaftlichen Ausbildung  der  Mädchen  dauerndes  Interesse  wid- 
men. f)  Wir  wollen  den  Sinn  für  Sparsamkeit  und  Genügsam- 
keit wecken  und  pflegen. 

3.  Vaterländische,  ai  Wir  wollen  vaterländische  Ge- 
sinnung durch  Vorträge,  Feste  und  Lieder  pflegen,  b)  dagegen 
die  vaterlandsfeindlichen  Bestrebungen  beleuchten  und  brand- 
marken, wo  immer  sie  auftreten. 

4.  Sittliche,  a)  Wir  wollen  kämpfen  gegen  die  Unsitt- 
lichkeit, b)  Trunksucht  und  Völlerei,  c)  Spielwuth,  d)  schlechte 
Lektüre,  e)  gegen  Roheit  und  Gemeinheit  in  Gesinnung  und 
That,  f)  gegen  die  Lieblosigkeit,  die  Selbstsucht  und  den'  Mate- 
rialismus. 

5.  Religiöse,  a)  Die  evangelischen  Arbeitervereine  müssen 
von  ihren  Mitgliedern  Treue  gegen  das  evangelische  Bekennt- 
niss  und  Bethätigung  desselben  im  Leben  fordern;  b)  sie  haben 
Belehrung  über  wichtige  religiöse  Fragen  zu  ertheilen;  c)  sie 
suchen  eine  sittlich-religiöse  Erneuerung  unsers  ganzen  Volks- 
lebens herbeizuführen. 

Dies  Programm  ist  ja  reich  an  praktischen  Aufgaben; 
dass  aber  ihre  Erledigung  nicht  im  Stande  ist,  die  „soziale 
Frage“  zur  endgültigen  Regelung  zu  bringen,  ist  selbst- 
verständlich. 

Vergleicht  man  das  Programm  mit  den  zuerst  formu- 
lirten  Zielen,  so  tritt  eine  Entwicklung  deutlich  hervor.  Am 
meisten  ist  die  Thatsache  von  Bedeutung,  dass  die  Vereine 
immer  mehr  ihre  Kampfstellung  gegen  Rom  in  die  gegen  die 
Sozialdemokratie  verändert  und  in  V erbindung  damit  ihren 
früheren  vorwiegend  religiösen  Charakter  mit  einem  immer 
mehr  blos  sozialen  vertauscht  haben.  Augenblicklich  befinden 
sie  sich  deutlich  in  einer  bedeutsamen  Krisis.  Es  macht  sich 
unter  der  vorwiegend  sozial  gerichteten  grossen  Mehrheit 
eine  doppelte  Strömung  geltend,  eine  mehr  konservative, 
manchesterliche,  den  Arbeitgebern  freundlicher  gesinnte 
und  eine  radikalere,  arbeiterfreundliche,  mit  Gedanken- 
gängen, die  hier  und  da  denjenigen  der  Sozialdemokratie 
mcht  fern  bleiben.  Diese  letztere  Richtung  fordert  gegen- 
wärtig die  Aufstellung  eines  geschlossenen,  prinzipiell  be- 
gründeten Programms.  Sie  hat  namentlich  in  Südwest-  und 
Süddeutschland  ihre  Anhänger. 


Arbeiterzustände. 


Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Maurer  Deutschlands. 

Die  Bearbeitung  eines  sozialstatistisch  bisher  noch 
nicht  behandelten  Gebietes  liegt  uns  in  den  „Statistischen 
Erhebungen  über  die  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der 
Maurer  Deutschlands  für  das  Jahr  1890“  vor,  welche  im 


Aufträge  des  achten  Maurerkongresses  zu  Gotha  von  dem 
derzeitigen  ^Generalbevollmächtigten  A.  Dammann  zu- 
sammengestellt und  bearbeitet  wurden1). 

Die  Veröffentlichung  ähnelt  in  ihrer  Anlage  den  vor- 
angegangenen Statistiken  deutscher  Gewerkschaften.  Auch 
in  ihr  ist  der  Abdruck  des  Fragebogens  unterlassen,  der 
doch  die  Unterlage  jeder  Kritik  einer  statistischen  Erhebung 
ist.  Die  Ergebnisse  werden  für  jeden  Ort  und  dann  in 
einer  Zusammenstellung  für  das  ganze  Reich  wiedergegeben. 
Bei  der  Statistik  aus  den  einzelnen  Orten  wurde  leider  die 
übrigens  nicht  streng  durchgeführte  alphabetische  Gruppi- 
rung  gewählt,  obgleich  die  Zusammenstellung  nach  der 
geographischen  Lage  viel  praktischer  gewesen  wäre.  Dass 
Orte  wie  Allenstein,  Colberg  und  Osterwick  den  gleichen 
Raum  einnehmen  wie  Hamburg,  Berlin  und  Breslau,  er- 
scheint uns  nicht  eben  nöthig.  Leider  fehlt  auch  ein  ganzes 
Land:  Bayern.  Hoffentlich  gelingt  es  bis  zum  Zeitpunkt 
einer  späteren  Wiederholung  der  Aufnahme  entweder  die 
Organisation  auszudehnen  oder  für  die  Statistik  der 
Centralorganisation  auch  die  Lokalorganisationen  zu  inter- 
essiren. 

Eine  eingehendere  Bearbeitung  der  Gesammtresultate 
hätte  den  Werth  der  Arbeit  bedeutend  erhöht.  So  wäre 
eine  Gruppirung  der  Orte  und  der  sich  in  ihnen  ergebenen 
Daten  nach  Bundesstaaten  und  grösseren  Verwaltungsbe- 
zirken, nach  der  Einwohnerzahl  der  Städte,  leicht  möglich 
gewesen  und  hätte  eine  Gruppirung  des  Materials  nach  den 
Preisen  für  Brod,  Fleisch  und  Wohnungsmiethe  für  ein 
Zimmer  versucht  werden  können. 

Man  hätte  auch  die  Orte,  in  denen  bedeutendere 
Arbeitseinstellungen  stattgefunden  haben,  denen  gegenüber 
stellen  können,  wo  solche  in  den  der  Erhebung  vorange- 
gangenen Jahren  nicht  vorgekommen  waren.  Eine  Kombi- 
nation der  Lohnhöhe  mit  der  üblichen  Arbeitszeit  wäre 
gleichfalls  nützlich  gewesen. 

Wir  machen  diese  Bemerkungen,  welche  ebenso  aut 
ähnliche  Publikationen  zutreffen,  um  eine  vertiefende  Be- 
arbeitung der  sehr  nützlichen  Erhebungen  der  deutschen 
Gewerkschaften  anzuregen.  Der  Werth  der  Gewerkverein- 
statistik könnte  ohne  grosse  Mühe  noch  leicht  sehr  erheb- 
lich gesteigert  werden.  Hoffentlich  widmet  sich  die 
Generalkommission  der  deutschen  Gewerkschaften  ent- 
sprechend den  Beschlüssen  des  Halberstädter  Gewerkschafts- 
kongresses bald  dieser  Aufgabe  und  erzielt  auf  Grund  ihres 
moralischen  Gewichtes  die  Gleichartigkeit  der  Publikationen 
und  die  möglichste  Ausbeutung  des  Materials.  Wenn  die 
Generalkommission  deutscher  Gewerkschaften  noch  einen 
Schritt  weiter  ginge  und  die  Bearbeitung  des  sozialstatis- 
tischen Rohmaterials  selbst  in  die  Hände  nehmen  würde, 
so  wäre  dies  schon  aus  rein  praktischen  Erwägungen  sehr 
zu  begrüssen.  jeder  Bearbeiter  statistischer  Aufnahmen 
einer  Gewerkschaft  muss  sich  jetzt  mühsam  in  die  Technik 
der  Aufbereitung  hineinfinden,  er  kann  dieser  Aufgabe  nie- 
mals ungetheilte  Aufmerksamkeit  schenken,  da  er  nur  nach 
Schluss  seiner  Berufsthätigkeit  als  Arbeiter  oder  Gewerk- 
schaftsbeamter einige  Stunden  in  der  Woche  der  Bearbeitung 
des  statistischen  Materiales  widmen  kann.  Daraus  ergeben 
sich  eine  Reihe  leicht  vermeidbarer  Nachtheile:  spätes  Er- 
scheinen, ungenügende  Durcharbeitung,  mit  der  Ungeübtheit 
des  Bearbeiters  verknüpfte  Zeitvergeudung  Die  Vortheile, 
die  dem  entgegen  stehen,  eingehende  Kenntniss  der  Technik 
des  Gewerbes,  der  Personen,  welche  die  Aufnahme  be- 
werkstelligten u dergl.,  werden  im  Falle  der  Einsetzung 
einer  berathenden  Kommission,  welche  dem  Bearbeiter  zur 
Seite  steht,  auch  bei  der  von  uns  vorgeschlagenen  Art  der 
Bearbeitung  nicht  verloren  gehen.  Von  Seite  der  Gewerk- 
schaft könnte  aber  eingewandt  werden,  dass  auf  die  agita- 
torische Verwerthung  des  Materials  im  Interesse  der  Organi- 
sation für  den  Fall  der  Bearbeitung  durch  ausserhalb  des  Ge- 

l)  Hamburg  1892,  Verlag  von  A.  Dammann.  164  S.  8°. 
Ausser  dieser  Publikation  liegt  über  dieses  Gebiet  nur  die 
Dissertation  Oldenburg’s:  „Das  deutsche  Bauhandwerk  der 

Gegenwart“  vor.  Dieselbe  ist  ein  Theil  einer  grösseren  Arbeit, 
deren  Erscheinen  (1888)  für  einen  späteren  Zeitpunkt  in  Aussicht 
gestellt  wurde. 


312 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  25. 


werbes  stehender  Personen  verzichtet  werden  müsste. 
Dieser  Einwand  würde  uns  wenig  stichhaltig  erscheinen, 
vor  allem  deshalb  weil  die  direkte  agitatorische  Ausnützung 
in  den  Statistiken  der  deutschen  Gewerkschaften  bis  nun 
keinen  breiten  Raum  einnimmt,  dieselbe  uns  überhaupt  nicht 
vortheilhaft  erscheint , da  jede  Statistik  desto  stärkeren  Ein- 
druck macht,  je  mehr  man  die  Thatsachen  selbst  und  aus- 
schliesslich wirken  lässt  und  endlich  nichts  im  W ege  stehen 
würde,  dass  die  Leiter  der  Organisation  in  Vor-  oder  Schluss- 
bemerkungen zu  den  Veröffentlichungen  ihrer  Statistik  die 
sich  ergebenden  Folgerungen  ziehen. 

Die  hier  angedeuteten  Mängel  ergeben  sich  naturge- 
mäss  aus  der  mangelnden  Organisation  der  deutschen  Ge- 
werkschaftsstatistik, mehr  oder  minder  berechtigen  alle  bis- 
herigen  Publikationen  dieser  Art  zu  den  gleichen  Aus- 
setzungen. Trotzdem  haben  wir  uns  über  jede  neue  litte- 
rarische  Erscheinung  auf  diesem  Gebiete  zu  freuen  und 
zwar  aus  dem  doppeltem  Grunde,  weil  jede  Erhebung 
uns  als  Beweis  des  Ernstes  und  der  Folgerichtigkeit  des 
Vorgehens  der  deutschen  Gewerkschaften  erscheinen  muss, 
dann  aber  auch  weil  sie  trotz  aller  Mängel  das  Dunkel  über 
unsere  Arbeiterverhältnisse  aut  hellt. 

An  der  vorliegenden  Statistik  hätten  wir  im  Be- 
sonderen zu  bemängeln,  dass  diese  die  Arbeiter  des  ganzen 
Gewerbes  berührende  Untersuchung  allem  Anschein  nach 
nur  auf  die  Mitglieder  der  centralisirten  Organisation  be- 
schränkt wurde,  und  dass  man  es  unterliess,  die  Lage  der 
Hilfsarbeiter  statistisch  zu  erforschen. 

Zu  kritischen  Bemerkungen  geben  auch  die  Haus- 
haltungsbudgets Anlass.  Obgleich  an  151  Orten  Haus- 
haltungsbudgets, richtiger  hiesse  es  Ausgabenrechnungen, 
eingeliefert  wurden,  werden  nur  18  aus  9 Olten  publizirt, 
was  mit  Sparsamkeitsrücksichten  entschuldigt  wird.  Eine 
statistische  Uebersicht  über  die  brauchbaren  Budgets  oder 
zum  mindesten  Durchschnittsberechnungen  aus  Gruppen 
der  Budgets  je  nach  der  Kinder  zahl  bezw.  den  Civilstand 
der  Arbeiter,  sowie  mit  Rücksicht  auf  die  Lohnhöhe  und 
die  Zeiten  der  Arbeitslosigkeit  hätten  sich  aber  leicht  an- 
fertigen lassen. 

Den  Ausgaben  ist  nur  das  „durchschnittliche“^)  Arbeits- 
einkommen als  Maurer  entgegengestellt,  während  über  die 
übrigen  Einnahmequellen  leider  nicht  berichtet  wii  d,  diese 
müssen  aber  vorhanden  gewesen  sein,  da  die  Bilanzen  mit 
nur  vier  Ausnahmen  Defizite,  in  ihrer  Mehrzahl  solche  von 
mehreren  Hunderten  Mark  aufweisen,  demnach  nicht  mit 
dem  sehr  beschränkten  Kredit  der  Arbeiter  erklärt  werden 
können.  Wenn  in  den  Budgets  von  „durchschnittlichen“ 
Arbeitseinkommen  gesprochen  wird,  so  erscheint  die  An- 
nahme nicht  unberechtigt,  dass  bei  der  Aufstellung  der  Ein- 
nahmen ähnliche  Fehler  gemacht  wurden  wie  bei  der  Be- 
sprechung der  wöchentlich  wiederkehrenden  Ausgaben. 
Diese  wurden  blos  für  eine  Woche  aulgestellt  und  dann 
mit  52  multiplizirt.  Dieses  Verfahren  ist  durchaus  verfehlt, 
da  die  Art  der  Ernährung  und  damit  deren  Kosten  durch 
die  Jahreszeiten  und  durch  die  Verdiensthöhe,  bezw.  durch 
die  Zeiten  der  Arbeitslosigkeit  naturgemäss  beeinflusst  werden. 
Sicherlich  wird  doch  der  Maurer,  der  im  Hochsommer  auf  einem 
Baue  arbeitet,  andere  Mengen  von  alkoholischen  Getränken 
konsumiren,  als  in  den  Zeiten  der  Arbeitslosigkeit  im 
Winter.  Der  Konsum  wird  ferner  durch  Krankheiten  be- 
einflusst. Diese  Erwägungen  zwingen  uns,  nur  diejenigen 
Budgets  für  nützlich  zu  halten,  welche  sich  auf  tägliche 
genaue  Aufschreibungen  während  des  Verlaufes  eines  ganzen 
Jahres  stützen.  Ebensowenig  wie  bei  den  Ausgaben  lassen 
sich  die  Einnahmen  durch  die  Multiplikation  einer  Wochen- 
einnahme mit  der  Zahl  der  nicht  arbeitslosen  Wochen  fest- 
stellen, da  doch  speziell  im  Maurergewerbe  die  wechselnde 
Zahl  der  Ueberstunden  je  nach  der  Länge  des  I ages  das 
Lohneinkommen  erheblich  beeinflussen  kann. 

Das  Alter  der  an  der  Statistik  sich  betheiligenden 
Maurer  und  die  Zahl  der  arbeitslosen  Tage  wurden  für 
jeden  Ort  summirt,  die  Anführung  von  Durchschnittszahlen 
hätte  sich  aber  viel  mehr  empfohlen. 


An  der  Statistik  betheiligten  sich  in  202  Ortschaften 
7221  Maurer,  von  diesen  waren  1421  ledig  und  5800  ver- 
heiratliet,  mit  einem  Familienstände  von  durchschnittlich 
2,26  Kindern.  Das  Durchschnittsalter  der  sich  an  der 
Statistik  betheiligenden  war  32  Jahre  8 Monate  11  läge. 
Das  Arbeitseinkommen  betrug  im  Durchschnitte  858,46  M. 

In  150  Orten  blieb  es  unter  dem  Durchschnitte,  in  51  über- 
stieg es  denselben.  Am  niedrigsten  war  es  in  2 Orten: 
350 Im d 400  M.,  hierauf  folgen  1 1 Orte  mit  400—500,  42  mit 
500-600,  45  mit  600—700,  35  mit  700-800,  19  mit  800—900, 

14  mit  900—1000,  11  mit  1000—1100,  7 mit  1100—1200  und 
5 mit  1200—1400  M.  jährlichem  Arbeitseinkommen.  In 
48  Orten  wurde  der  Lohn  nach  Tagen,  in  145  nach  Stunden 
berechnet.  Der  Taglohn  betrug  in  15  Orten  2 3 M.,  in 
7 Orten  4 — 5 M.,  in  einem  5 — 5’/2  M.  Der  Stundenlohn  be- 
trug in  39  Orten  15—30  Pf.,  in  6 Orten  60  Pf.  Akkord- 
arbeit war  in  36  Orten  allgemein,  in  31  Orten  theil weise, 
in  17  nur  bei  Putzarbeiten,  in  90  überhaupt  nicht  üblich. 
Der  Akkordlohn  überstieg  den  Zeitlohn  in  31  Orten  um 
weniger  als  10  M.,  in  13  Orten  um  10—20  M.,  in  8 Orten 
um  20—60  M.,  in  9 Orten  um  65—95  M.,  in  4 Orten  um 

105 165  M.,  in  einem  um  205 — 210  und  285  290  M.  In 

865  Familien  trugen  Frau  und  Kinder  zur  Erschwingung 
des  Lebensunterhaltes  bei,  in  833  Haushaltungen  wurde 
Landwirthschaft,  in  385  ein  anderes  Nebengewerbe  be- 

Die  unfreiwillige  Feierzeit  belief  sich  aut  durchschnitt- 
lich 64,3  Arbeitstage,  verursacht  wurde  dieselbe  durch 
Arbeitsmangel  (21 ,5),  ungünstige  Witterung  (29,1)  Krankheit 

(5,8)  und  Strikes  (8  Tage).  . „ . 

Die  gegenseitige  Kündigungsfrist  betrug  m 91  Orten 
14  Tage,  in  2 Orten  8 Tage,  in  65  Orten  konnte^  das 
Arbeffsverhältniss  jederzeit  gelöst  werden.  Wegen  Nicht- 
einhaltung der  Arbeitsbedingungen  wurde  seitens  der  Ge- 
hilfen in  413  Fällen  Klage  erhoben,  107  waren  durch  plötz- 
liche Entlassung,  die  übrigen  durch  Vorenthaltung  des- 
Lohnes  verursacht.  In  218  Fällen  (52,8  pCt.)  wurde  zu 
Gunsten  der  klagenden  Gehilfen  von  dem  Gerichte  ent- 

Die  durchschnittliche  Ausgabe  für  die  Miethe  betrug 
129  18  M.  gegen  124,71  M.  im  Jahre  1889.  Im  Jahre  1890 
betrug  in  11  Orten  die  Miethe  30-60  M.,  in  49  Orten  60, 
bis  80  M.,  in  57  Orten  80—100  M.,  in  30  Orten  100—120  M.,; 
in  33  Orten  120— 140  M.,  in  19  Orten  140— 160  M.,  m 7 Orten 
160—190  M.  und  in  je  einem  Orte  190—200,  200—210,  210 
bis  220,  250—260  und  270—280  M.  In  56  Orten  waren  die, 
Miethpreise  seit  1889  gleich  geblieben,  in  14  waren  sie  ge- 
gefallen,  und  zwar  in  II  Orten  um  weniger  als  iy2  pGt.,  in 
zweien  um  2'/8  pCt.  und  in  einem  um  4l/2— 5 pCt.,  in 
131  Orten  war  die  Wohnungsmiethe  gestiegen  und  zwar 
in  42  Orten  um  weniger  als  1 '/2  pCt.,  in  65  Orten  um  /2 
bis  5 pCt.,  in  18  Orten  um  5-10  pCt,  in  dreien  um  11  bis 
16Vo,  in  2 um  24-24 V2  und  in  einem  um  29  pCt. 

In  Centralkassen  waren  2979,  in  lokalen  freien  Hilfs- 
kassen 1522,  bei  Ortskassen  2541,  bei  Innungskassen  37  , 
doppelt  gegen  Krankheit  waren  193  der  an  der  Statistik 

sich  betheiligenden  versichert. 

Auf  ca.  8 Gehilfen  kam  ein  Lehrling,  m 14  Orten 
waren  582  Arbeiterinnen  an  Bauten  beschäftigt. 

Die  Arbeitszeit  betrug  in  3 Orten  9—10,  m 79  Orten 
10,  in  25  Orten  10-11,  in  71  Orten  11  und  m 7 Orten  11 
bis  13  Stunden.  Der  Beginn  der  Arbeitszeit  fiel  in  8 Orten 
auf  5 Uhr  Morgens,  sonst  fast  ausnahmslos  aut  6 Uhr.  Die 
Frühstückspause  dauerte  überall  '/.Stunde,  ebensolange  in, 
176  Orten  die  Vesperpause,  welche  in  11  Orten  uberhaup 
nichtgebräuchlich  war,  die  Mittagspause  dauerte  m 144  Urten 
je  1,  in  32  je  1 '/2  und  in  1 1 Orten  je  2 Stunden.  Ueberstunden- 
arbeit  war  in  49  Orten  allgemein,  in  44  theilweise,  in  80 
Orten  überhaupt  nicht  üblich.  Sonntagsarbeit  war  m 44 
Orten  allgemein,  in  36  theilweise,  in  91  überhaupt  nicht  em- 
o-eführt.  In  je  einem  Orte  wurde  der  Stundenlohn  bei  Uebei- 
zeitarbeit  blos  um  1,  P/sj  2 und  3 Pf.,  in  17  Ben  um  , 
in  5 Orten  um  6—9,  in  22  Orten  um  10,  in  8 Orten  um 
12—18  und  in  einem  Orte  um  50  Pf.  erhöht.  Der  Stun  - 
lohn  wurde  bei  Sonntagsarbeit  erhöht  um  2— 3 Pf.  m 4,  u 


No.  25. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


313 


5 Pf.  in  13,  um  6 und  8 Pf.  in  je  einem,  um  10  Pf.  in  19, 
um  12 — 20  Pf.  in  10  und  um  25  Pf.  in  3 Orten,  in  vielen 
Orten  wurde  für  Lieberzeit  und  Sonntagsarbeit  kein  grösserer 
Lohn  gezahlt  wie  für  die  regelmässige  Werktagsarbeit. 

In  148  Orten  wurde  der  Lohn  wöchentlich,  in  28  alle 
14  Tage,  in  2 nach  vier  Wochen  und  in  einem  nach  Be- 
dürfniss  ausgezahlt,  in  163  Orten  war  der  Sonnabend,  in  13 
der  Sonntag  Zahltag.  In  25  Orten  wurde  vor  und  in  127 
nach  Feierabend  der  Lohn  ausgezahlt,  in  vier  Orten  fand 
die  Lohnauszahlung  im  Wirthshause  statt. 

In  Betreff  weiterer  Einzelheiten  müssen  wir  auf  das 
interessante  Schriftchen  selbst  verweisen. 

Ist  die  Statistik  der  deutschen  Maurerorganisation  auch 
nach  mancher  Richtung  verbesserungsfähig,  so  verdient  doch 
das  bis  nun  geleistete  alle  Anerkennung.  Erfreulich  ist  vor 
allem,  dass  die  Statistik  in  regelmässigen  Zwischenräumen 
wiederholt  werden  soll,  so  dass  Vergleichungen  über  die 
Entwicklung  der  Arbeits-  und  Lebensverhältnisse  der 
deutschen  Maurer  möglich  sein  werden.  Dies  wird  in 
gleichem  Masse  unserer  sozialen  Erkenntniss  wie  der 
Organisation  der  Maurer  zu  Gute  kommen. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Arbeitszeit  (1er  englischen  Eisenbahnbediensteten 

Der  Parlamentsausschuss  zur  Untersuchung  der  Arbeitszeit 
der  Eisenbahnbediensteten  hat  kürzlich  unter  Vorsitz  des 
Präsidenten  des  Handelsamtes,  Sir  M.  Hicks  Beach,  seinen 
Bericht  festgestellt.  Derselbe  tritt  der  Festsetzung  eines 
gesetzlich  geregelten  Arbeitstages  für  Eisenbahnbedienstete 
als  unausführbar  entgegen,  ist  jedoch  der  Ansicht,  dass  die 
Eisenbahngesellschaften  in  der  Beschränkung  der  Arbeits- 
zeit ihrer  Angestellten  noch  viel  weiter  gehen  sollten,  als 
sie  es  bisher  gethan.  Signalbeamte  und  Weichensteller  an 
Punkten,  wo  grosser  Verkehr  herrscht,  sollten  nicht  länger 
als  8 Stunden  per  Tag,  andere  Beamte  nicht  länger  als 
10  Stunden  per  Tag,  die  Zeit  für  Mahlzeiten  nicht  einge- 
rechnet, zu  arbeiten  haben.  Einzelne  Ausnahmen  werden 
angeführt.  Für  Maschinenführer,  Heizer  und  Schaffner  von 
Güterzügen  wird  eine  66  Stunden  per  Woche  oder  12  Stunden 
täglich  nicht  überschreitende  Arbeitszeit  vorgeschlagen. 
Die  Gesellschaften  sollten  angehalten  werden,  dem  Handels- 
amt regelmässige  Berichte  über  die  Arbeitszeit  ihrer  Be- 
diensteten einzureichen.  Wenn  ein  solcher  unbefriedigend 
ausfällt,  solle  das  Handelsamt  ermächtigt  werden,  die  Ge- 
sellschaft zur  Herabsetzung  der  Arbeitszeit  innerhalb  be- 
stimmter Frist  aufzufordern,  und  bei  weiterer  Weigerung 
derselben  die  Sache  vor  die  Eisenbahnkommissare  zu 
bringen,  welchen  das  Recht  zustehen  sollte,  die  Gesellschaft 
zur  Erfüllung  ihrer  Verpflichtung  durch  eine  Konventional- 
strafe von  20  Pfd  Sterl.  per  Tag  anzuhalten.  Der  Aus- 

1 schuss  spricht  sich  energisch  gegen  jede  Verminderung  der 
Verantwortlichkeit  der  Gesellschaften  für  die  Verwaltung 
ihrer  Bahnlinien  aus. 

■ " 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Internationaler  Bergarbeiter-Kongress  in  London.  Im 

Anschluss  an  unseren  Bericht  über  die  ersten  Verhandlungs- 
tage des  Londoner  Bergarbeiter-Kongresses  (vergl.  Sozial- 
politisches Centralblattes  No.  24,  S.  301)  fassen  wir  im 
Folgenden  die  noch  zu  registrirenden  Ergebnisse  der  beiden  , 
letzten  Tage  zusammen.  In  der  Sitzung  vom  9 d.  Mts. 
wurde  die  wichtige  Frage  des  Abstimmungsmodus  auf  den 
internationalen  Kongressen  erledigt.  Die  Engländer  schlu- 
gen vor,  dass  im  Ausschuss  des  Verbandes  nach  Nationen, 
im  Kongress  dagegen  nach  Köpfen  abgestimmt  werden  solle. 
Die  Deutschen  und  Belgier  Hessen  erklären,  dass  sie  wohl 
wüssten,  dass  durch  diesen  Modus  die  Engländer  stets  die 
Majorität  haben  würden,  da  sie  stets  die  meisten  Delegirten 
zu  allen  Kongressen  zu  entsenden  pflegten,  dass  sie 
aber  doch  dem  Vorschläge  zustimmen  wollten  in  der 
k Erwartung , dass  die  Majorität  die  Minorität  nicht 


vergewaltigen  werde.  Der  englische  Vorschlag  wurde 
darauf  gegen  die  Stimmen  der  I'  ranzosen  angenommen. 
Alsdann  ging  man  aut  die  Frage  des  Achtstundentages  für 
die  Arbeiter  über  Tage  zurück.  Die  Engländer  schlugen 
als  äusserstes  Entgegenkommen  die  folgende  Resolution 
vor:  „Der  Kongress  erklärt,  nachdem  er  den  Achtstunden- 
tag für  die  Arbeiter  unter  Tage  gefordert,  dass  er  den 
Arbeitern  über  Tage  helfen  wolle,  auch  ihrerseits  dieselbe 
Arbeitszeit  zu  erlangen.“  Die  Deutschen  Hessen  indessen 
durch  Schröder-Dortmund  erklären,  dass  sie  dieser  Reso- 
lution nicht  zustimmen  könnten,  sondern  dass  sie  unter 
die  Zwecke  des  internationalen  Verbandes  bestimmt  auf- 
cenommen  wissen  wollten,  dass  dieser  für  alle  beim  Berg- 
bau beschäftigten  Arbeiter,  gleichgültig  ob  über  oder  unter 
läge,  den  Achtstundentag  zu  erstreben  habe.  In  der  heu- 
tigen Vormittagsitzung  gelangte  man  endlich  zur  Ab- 
Stimmung  über  die  Frage.  Die  Deutschen,  Belgier  und 
Franzosen  nahmen  den  Antrag  Schröder  einstimmig  an, 
die  Engländer  verwarfen  ihn.  Da  man  sich  nun  aber  nicht 
einigen  konnte,  was  als  Beschluss  des^  Kongresses  zu 
proklamiren  sei,  da  die  Engländer  mehr  Köpfe  zählen,  als 
alle  anderen  Nationen  zusammen,  wurde  die  Abstimmung 
an  das  Geschäftskomitee  des  Kongresses  verwiesen,  damit 
dieses  eine  geeignete  Form  finden  solle.  Es  gelangte  als- 
dann die  Frage  des  internationalen  Strikes  zur  Erlangung 
des  Achtstundentages  zur  Verhandlung.  Die  englischen 
Delegirten  des  Northumberland  - Distrikts,  zu  dem  auch 
die  Durhamer  gehören,  welche  von  einem  gesetzlichen 
Achtstundentag  für  alle  Länder  und  Gegenden  nichts 
wissen  wollen,  schlugen  auch  hier  eine  allgemeine  Reso- 
lution vor,  welche  den  Bergleuten  aller  Länder  empfehlen 
sollte,  bei  sich  bietenden  Gelegenheiten  durch  Strikes 
in  erster  Linie  die  Verkürzung  der  Arbeitszeit  und  zwar 
vor  der  Erhöhung  der  Löhne  zu  fordern.  Sie  blieben  in- 
dessen mit  dieser  Resolution  bei  ihren  eigenen  Lands- 
leuten in  einer  Minderheit  von  8 gegen  46,  welche  mit 
den  Deutschen,  Belgiern  und  Franzosen  einen  Beschluss 
fassten,  welcher  besagt:  „Dass  der  Kongress  die  Möglich- 

keit ins  Auge  fasst,  durch  einen  internationalen  Strike 
aller  Bergarbeiter  den  Achtstundentag  zu  erringen,  dass  er 
aber,  ehe  dieser  äusserste  Schritt  unternommen  werde,  die 
Regierungen  aller  Länder  noch  einmal  auffordert,  Gesetze 
zu  erlassen,  welche  verhindern,  dass  Bergarbeiter  länger 
als  acht  Stunden  beschäftigt  werden.“ 

In  der  Schlusssitzung  des  Kongresses  brachte  der 
Engländer  Bailey  zunächst  einen  Antrag  ein,  welcher 
lautete:  „Dieser  Kongress  ist  der  Meinung,  dass  der  erfolg- 
reichste Weg,  welcher  den  Bergarbeitern  einen  Achtstunden- 
tag sichern  kann,  der  der  Gesetzgebung  ist.“  Die  Northumber- 
länder  Hessen  durch  das  Parlamentsmitglied  Fenwick  er- 
klären, dass  sie  von  einem  Gegenantrag  absehen  und  sich 
damit  begnügen  würden,  den  Antrag  Bailey  abzulehnen. 
Die  darauf  erfolgende  Abstimmung  ergab,  dass  38  Engländer 
für  den  Antrag  Bailey  und  fünf  gegen  denselben  stimmten. 
Diese  Zahlen  zeigen  genau,  in  welchem  numerischen  A er- 
hältniss  die  englischen  Bergarbeiter  einem  gesetzlichen 
Eingriff  in  die  Regelung  der  Arbeitszeit  gegenüberstehen. 
Die  Franzosen  und  Belgier  nahmen  den  Antrag  einstimmig 
an,  die  Deutschen  enthielten  sich  der  Abstimmung.  Hier- 
auf wurden  die  Statuten  des  internationalen  Verbandes  mit 
den  getroffenen  Aenderungen  einstimmig  angenommen  und 
damit  die  Gründung  des  Verbandes  ausgesprochen.  Zum 
Vorsitzenden  des  Verbandes  wurde  Burt,  zum  Sekretär 
Pickard  durch  Zuruf  wiedergewählt.  Die  übrigen  Mitglieder 
des  Ausschusses  werden  von  den  einzelnen  Nationen  ge- 
wählt. Der  nächste  Kongress  soll  im  Jahre  1893  in  Brüssel 
gehalten  werden.  Der  am  Morgen  an  das  Geschäftskomitee 
zurückverwiesene  Beschluss,  betreffend  den  Achtstundentag 
für  die  Arbeiter  über  Tage,  wurde  dadurch  erledigt,  dass 
man  beschloss,  die  Frage  dem  nächsten  Kongress  zu  über- 
weisen. Nach  den  üblichen  Dankesreden  schloss  der  \ lze- 
präsident  Woods  alsdann  den  dritten  internationalen  Berg- 
arbeiterkongress 

Der  XI  ordentliche  Verbandstag  der  deutschen  Gewerk- 
vereine (Hii  ’Sch-Duncker).  In  der  Pfingstwoche  tagte  zu  Mann- 
heim der  Kongress  der  deutschen  Gewerkvereine.  Ausser  den 
Verbandsbeamten  waren  44  Delegirte  erschienen  Leber  die 
Agitationsthätigkeit  des  Verbandes  theilte  Dr.  Max  Hirsch  mit, 
dass  seit  1889  im  Aufträge  der  Verbandsleitung  in  150  Orten 
öffentliche  Vorträge  gehalten  und  für  Agitation  7000  M.  veraus- 
gabt wurden.  Der  Redner  rühmte  die  Arbeitslosenunterstützung 
der  Gewerkvereine  und  trat,  vor  etrikes  warnend,  sie  aber  nicht 
direkt  verwerfend,  für  Einigungsämter  ein.  Nach  einem  \ or- 


314 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  25 


trage  des  Verbandsanwaltes  Dr.  M Hirsch  über  die  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung wurde  folgende  vom  Referenten  beantragte 
Resolution  angenommen : 

.,Der  Verbandstag  erklärt  es,  entsprechend  unserm  Grund- 
satz der  praktischen  Arbeiterreform,  als  eine  der  wichtigsten 
Aufgaben  der  deutschen  Gewerkvereine,  auf  alle  Weise  zur 
Ausführung  der  Arbeiterschutzgesetze  mitzuwirken;  hierzu  ist 
insbesondere  erforderlich:  1)  Festsetzung  aller  Verletzungen  des 
Gesetzes  und  geeignetes  Erstreben  der  Abhilfe  je  nach  den 
Umständen  durch  Herantreten  an  die  Unternehmer,  Anzeige  an 
die  Gewerbeinspektoren,  Besprechung  in  den  Versammlungen 
in  der  Gewerk  Vereins-  und  allgemeinen  Presse.  2)  Hinzuwirken 
bei  Bundesrath  und  Regierungen  dahin,  dass  die  gesetzlichen 
Befugnisse  zur  Beschränkung  der  Arbeitszeit  in  gesundheits- 
schädlichen Gewerben  baldmöglichst  ausgeübt  werden  durch 
sachliche  Informationen  und  Petitionen  3)  Hinzuwirken  auf  die 
Beseitigung  zweifelhafter  und  dehnbarer  Bestimmungen  und  auf 
Fortbildung  des  Gesetzes  in  der  Richtung  wirklichen  Arbeiter- 
schutzes. Der  Verbandstag  fordert  alle  Mitglieder,  Ortsvereine, 
Ortsverbände  und  Generalräthe,  die  Mitglieder  durch  Meldung 
an  die  Vorstände,  dringend  auf,  in  diesem  Sinne  unablässig 
thätig  zu  sein  und  namentlich  auch  Fühlung  mit  den  staatlichen 
Gewerbeinspektionen  zu  suchen.  Der  Verbandstag  richtet 
schliesslich  an  diese  Beamten  die  Bitte,  ihrerseits  in  Erfüllung 
ihres  hochwichtigen  uncl  schwierigen  Amtes  mit  den  Organen 
und  Gliedern  unserer  Gesammtorganisation  in  Verbindung  zu 
treten.“ 

In  der  Debatte  über  diese  Resolution  wurde  von  verschie- 
denen Rednern  sehr  beklagt,  dass  die  guten  Bestimmungen  des 
Gesetzes  durch  Fabrikordnungen  wieder  in  Frage  gestellt  werden 
und  dass  die  Fabrikordnungen  einseitig  von  den  Fabrikanten 
festgestellt  werden,  ohne  dass  man  die  Arbeiter  auch  nur  höre 

Nach  einem  Referate  des  Reichstagsabgeordneten  Dr. 
Schneider  (Potsdam)  über  die  eingetragenen  Berufsvereine  und 
den  preussischen  Ministerialerlass  über  die  Ausstandsversiche- 
rungskassen gelangte  nachstehende  Resolution  einstimmig  zur 
Annahme: 

„Der  XI.  ordentliche' Verbandstag  der  deutschen  Gewerk- 
vereine erblickt  in  der  gesetzlichen  Anerkennung  der  Berufs- 
vereine eine  Förderung  der  gerechten  Arbeiterinteressen  und 
ein  Mittel  zur  Sicherung  des  sozialen  Friedens 

Der  Verbandstag  hofft,  dass  der  deutsche  Reichstag  den 
Gesetzentwurf  betreffend  eingetragener  Berufsvereine  als  geeig- 
nete Grundlage  für  die  gesetzliche  Regelung  der  Rechtsverhält- 
nisse der  Gewerkvereine  in  der  neuen  Session  alsbald  annehmen 
und  dass  auch  die  verbündeten  Regierungen  demselben  ihre 
Zustimmung  nicht  versagen  werden. 

Gleichzeitig  spricht  der  Verbandstag  seine  Befriedigung 
darüber  aus,  dass  die  jahrelang  fortgesetzten  Petitionen  der 
Gewerkvereine  durch  die  in  dem  Gesetzentwurf  geschaffene 
Grundlage  für  die  gesetzliche  Anerkennung  der  Berufsvereine 
ihrer  Berücksichtigung  näher  gerückt  sind“ 

Im  Jahre  1893  soll  in  allen  Verbandvereinen  das  Fest  des 
fünfundzwanzigjährigen  Bestehens  der  Organisation  gefeiert 
werden. 


in  folgender 
Geschäftsgruppe 


Kolonialwaren-,  Landes- 
produkte-, Eisen-,  Kurz-, 
Materialw.-,  Droguen-, 
Cigarren-  und  Tabak- 
handlungen en  detail . . 
Manufakturwaaren-  und 
Garderobegeschäfte  . . . 
Kolonialwaar.-,  Droguen- 
u.  Kohlenhandl  en  gros 
Gerbereien  u.  Lederhand- 
lung-, Brauereien,  Bier- 
un  d Weinhandlungen 
und  Seifengeschäfte  . . 
Stickerei-  u. Konfektions- 
geschäfte,sowie  Agentur 
in  Stickereien  u.  Spitzen 
Webereien  m Einschluss 
der  Gardinenwebereien, 
Gardinengesch.  en  gros, 
Agenturen  in  Garnen 
und  Webwaaren,  sowie 

Bleichereien 

Maschinenbauer.,  Näh- 
maschinenhandlungen, 
Buchhandlungen,  Ge- 
schäftsbücherfabriken, 
Optiker-,  u.  Mechanike- 

geschäfte 

Bankgeschäfte 

Reisende  in  Stickereige- 
schäften und  Webereien 

überhaupt  


Handlungsgehilfen  im  Alter  von 
16 — 20  J.  I 2i — 25  J.  26  — 30J.  über  30  J, 


— 'f*  tJ  'S 


N !ä-so 


25 


994 


3 933 
1 900 


0T0 


12  970  17  964 
1 560  6 1250 


3 700 


1020 


2 800  — — 


54  951  70  1301 


33  1336 


4 1425 
6 1458 

I 

5 1490 


51340  — — 
— 1 - 2 1078 

6 1400  4 1455 


990  6 1458 


QoO 


" O 

*5 ; c-S 


37 


1502  16  1809 


16  1530  13  1555 


5 1460 
211650 


1 1900 
21350 

4 1800 


über- 

haupt 


34 

9 
20 

10 

177 

87 


1021 

1135 

1172 

1233 

1282 

1306 


13  1362 
9 1372 


11 


1632 


101  949  148  1271  73  1476  48  1619  370  1268 

l 


Die  freie  Station  ist  in  diese  Gehälter  mit  600  M.  jährlich, 
also  ziemlich  hoch,  eingerechnet.  Im  Allgemeinen  steigen  nach 
dieser  Ermittlung  die  Gehälter  mit  den  Altersklassen,  jedoch 
nicht  über  1900  M.,  auch  für  über  30  jährige  Gehilfen  nicht,  von 
denen  Dr.  Dietrich  annimmt,  dass  sie  meist  verheirathet  seien. 
Sind  das  schon  sehr  magere  Einkommensverhältnisse,  so  noch 
viel  mehr  diejenigen  der  16— 20 jährigen  Kommis,  die  nicht  über 
1000  M.  beziehen  und  von  denen  einer  in  der  Manufakturbranche 
sogar  nur  mit  560  M angestellt  war.  Ein  Gehalt  von  unter 
I0Ö0  M.  kommt  übrigens  auch  in  der  vierten  Geschäftsgruppe 
bei  zwei  26— 30  jährigen  Gehilfen  vor.  Auch  auf  Grund  dieser 
Ziffern  wird  man  sagen  dürfen,  dass  sich  die  Einkommensver- 
hältnisse der  Handlungsgehilfen  nicht  viel  von  denjenigen  der 
gewerblichen  Arbeiter  unterscheiden,  zumal,  da  der  Kommis 
auf  Kleidung  und  Repräsentation  sehr  viel  verwenden  muss. 


Gewerkverein  schwedischer  Dienstmädchen  in  Chi- 
cago. In  Chicago  hat  sich  eine  Union  schwedischer  Dienst- 
mädchen gebildet,  welche  beabsichtigen,  während  des  Welt- 
ausstellungsjahres den  Wochenlohn  von  4 auf  10  Dollars 
zu  steigern. 


Kaufmännische  Bewegung. 


Ein  Kongress  von  Delegirten  aller  im  Handelsge- 
werbe arbeitenden  Berufe  wird  für  den  Anfang  September 
von  sozialdemokratischer  Seite  nach  Berlin  berufen. 

In  Hamburg  wurde  Ende  Juni  eine  auf  sozialistischem 
Boden  stehende  gewerkschaftliche  Organisation  unter  dem 
Namen  „Vorwärts“  Verein  für  Handlungsgehilfen  gegründet. 
In  Berlin  besteht  eine  ähnliche  Organisation  schon  seit 
mehreren  Jahren.  Sie  hat  eine  Zeit  lang  auch  ein  eigenes 
Publikationsorgan  gehabt. 


I 


Kaufmännische  Zeugnisse  und  Schiedsgerichte.  Der 

„Verband  kaufmännischer  Vereine  Badens  und  der  Pfalz“ 
fasste  auf  seinem  am  15.  Mai  in  Pforzheim  abgehaltenen 
Verbandstage  u.  A.  folgenden  Beschluss:  „Der  Verbandstag 
steht  dem  beim  Reichstage  eingebrachten  Antrag  des  Ab- 
geordneten Goldschmidt  auf  gesetzliche  Feststellung  des 
Rechtes  der  Handlungsgehilfen  auf  Zeugnisse  im  Handels- 
gesetzbuch sympathisch  gegenüber,  glaubt  aber,  dass  erst 
durch  Errichtung  kaufmännischer  Schiedsgerichte  das  Recht 
der  Gehilfen  auf  Zeugnisse  wirksam  gesichert  wird.“ 

Gehaltsverhältnisse  der  Handlungsgehilfen  In  der 
„Kaufmännischen  Presse“  (Frankfurt  a M ) veröffentlicht  Doktor 
Dietrich-Plauen  eine  Statistik  der  Saläre,  welche  in  Plauen  an 
Handlungsgehilfen  mit  unter  2000  M.  Gehalt  gezahlt  werden. 
Als  Material  wurden  die  Angaben  der  Prinzipale  zur  Invaliditäts- 
und Altersversicherung  benutzt,  die  von  der  Ortskrankenkasse 
eingefordert  waren.  Zu  bedauern  ist,  dass  nicht  die  wirklich 
gezahlten,  sondern  nur  die  Durchschnittsgehälter  angegeben 
sind.  Danach  bezogen 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Verordnung  über  die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe 
für  Preussen. 

Die  Minister  des  Innern,  der  geistlichen,  Unterrichts-  und 
Medizinalangelegenheiten,  und  für  Handel  und  Gewerbe  haben 
unter  dem  10.  Juni  in  Ausführung  der  Vorschriften  des  Reichs- 
gesetzes vom  i.  Juni  1891  (Novelle  zur  Gewerbeordnung)  nach- 
stehende Anweisung , betreffend  die  Sonntagsruhe  im  Handels- 
gewerbe, erlassen: 

„1.  Feststellung  der  zulässigen  Beschäftigungszeit. 

(§§  105b  Abs.  2,  41a  R.  G O.) 

1.  Die  Feststellung  der  fünf  Stunden,  während  welcher 
im  Handelsgewerbe  an  Sonn-  und  Festtagen  die  Beschäftigung 
von  Gehilfen,  Lehrlingen  und  Arbeitern  und  ein  Gewerbebetrieb 
in  offenen  Verkaufsstellen  zulässig  ist,  erfolgt  für  den  Umfang 
der  Regierungsbezirke  durch  die  Regierungspräsidenten,  für  die 


No.  25. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


315 


Stadt  Berlin  durch  den  Polizeipräsidenten.  Sie  ist — abgesehen 
von  den  unter  Ziffer  5 zugelassenen  Ausnahmen  — für  alle 
Zweige  des  Handelsgewerbes  einheitlich  zu  treffen 

2.  Die  Feststellung  der  Beschäftigungszeit  erfolgt  durch 

Bestimmung  des  Anfangs-  und  des  Endpunktes  derselben  mit 
dem  Vorbehalte,  dass  die  Beschäftigungszeit  durch  eine  von  der 
Orts-Polizeibehörde  — nach  Ziffer  3 - für  den  Hauptgottes- 

dienst festzusetzende  Pause  von  in  der  Regel  zwei  Stunden 
unterbrochen  werde. 

Der  Anfangspunkt  der  Beschäftigungszeit  ist  in  der  Regel 
auf  7 Uhr  Vormittags,  der  Endpunkt  auf  2 Uhr  Nachmittags 
festzusetzen.  Die  Bestimmung  ein  s früheren  Anfangs-  und 
Endpunktes  — öf'g  und  V/->  oder  6 und  I Uhr  — sei  es  tür  das 
ganze  Jahr,  sei  es  nur  für  das  Sommerhalbjahr,  ist  zulässig,  falls 
nach  den  örtlichen  Verhältnissen  die  Zeit  vor  7 Uhr  Vormittags 
für  das  Handelsgewerbe  nicht  bedeutungslos  ist. 

3.  Die  für  den  Hauptgottesdienst  festzusetzende  Pause 
wird  durch  die  Orts-Polizeibehörde  nach  Benehmen  mit  den 
kirchlichen  Behörden  bestimmt  und  öffentlich  bekannt  gemacht. 
Sie  soll  nicht  nur  die  Dauer  der  gottesdienstlichen  Feier,  son- 
dern auch  die  für  etwaige  Vorbereitungen,  sowie  für  den  Kirch- 
gang erforderliche  Zeit  vor  und  nach  der  gottesdienstlichen 
Feier  umfassen.  Im  Allgemeinen  werden  im  Ganzen  zwei  Stun- 
den hierfür  genügen. 

In  Gemeinden,  in  denen  mehrere  Kirchengemeinden  des- 
selben oder  verschiedenen  Bekenntnisses  sich  befinden,  oder  in 
denen  der  Gottesdienst  in  verschiedenen  Sprachen  abgehalten 
wird,  ist  darauf  hinzuwirken,  dass  der  Hauptgottesdienst  in  den 
verschiedenen  Kirchengemeinden,  Bekenntnissen  und  Sprachen 
thunlichst  zu  gleicher  Stunde  abgehalten  wird.  Wo  dieses  Er- 
gebnis nicht  erzielt  werden  kann,  bleibt  den  höheren  Verwal- 
tungsbehörden überlassen,  nach  der  Besonderheit  der  obwal- 
tenden Verhältnisse  über  die  Festsetzung  der  für  den  Haupt- 
gottesdienst freizulassenden  Pause  nähere  Bestimmung  zu  treffen. 

4.  In  Ortschaften,  in  denen  zwei  Stunden  für  die  Abhal- 
tung des  Hauptgottesdienstes  und  die  Zeit  des  Kirchganges 
nicht  ausreichen,  kann  die  für  den  Hauptgottesdienst  bestimmte 
Pause  über  zwei  Stunden  hinaus  verlängert  werden.  In  solchen 
Fällen  ist  der  Anfangspunkt  der  zulässigen  Beschäftigungszeit 
entsprechend  früher  (vor  7 Uhr1  zu  legen.  Ein  Hinausschieben 
des  Endpunktes  über  2 Uhr  ist  nur  in  Ausnahmefällen  und  nicht 
über  2i, 2 Uhr  hinaus  zuzulassen 

5.  Eine  Feststellung  der  fünfstündigen  Arbeitszeit,  die  von 
der  in  Ziffer  2 und  4 bestimmten  abweicht,  darf  nur  erfolgen 

a)  für  die  Zeitungsspedition,  für  welche  es  sich  empfiehlt, 
die  fünfstündige  Beschäftigungszeit  vor  Beginn  des  Hauptgottes- 
dienstes. etwa  auf  die  Stunden  von  4 bis  9 Uhr  Vormittags  zu 
legen; 

b)  für  den  Handel  mit  Blumen  und  Kränzen.  Für  diesen 
können  die  Beschäftigungsstunden  dem  örtlichen  Bedürfnisse 
entsprechend  gelegt  werden,  jedoch  so,  dass  der  Schluss  spätestens 
um  4 Uhr  Nachmittags  eintritt; 

c)  für  den  gesammten  Handelsverkehr  in  Badeorten,  Luft- 
kurorten und  Plätzen  mit  starkem  Touristenverkehr.  Für  diese 
Plätze  darf  die  Festsetzung  der  fünfstündigen  Beschäftigungszeit 
für  die  Dauer  der  Saison  je  nach  dem  örtlichen  Bedürfnis«  mit 
der  Einschränkung  erfolgen,  dass  der  Schluss  der  Beschäftigung 
spätestens  um  5 Uhr  Nachmittags  stattfinden  muss.  Diese  Vor- 
schrift findet  indess  auf  grössere  Städte,  die  gleichzeitig  Bade- 
orte sind,  wie  Aachen,  Wiesbaden  u.  ä.  keine  Anwendung. 

Auch  in  den  unter  a bis  c erwähnten  Fällen  ist  die  für 
den  Hauptgottesdienst  festgesetzte  Zeit  (Ziffer  3)  jedenfalls  frei- 
zulassen. 

6.  Bei  statutarischer  Feststellung  der  durch  Statut  einge- 
schränkten Beschäftigungszeit  haben  die  Regierungspräsidenten 
darauf  hinzuwirken,  dass  nur  solche  Statuten  die  Bestätigung 
des  Bezirksausschusses  erhalten,  die  eine  wirksamere  als  die 
gesetzliche  Sonntagsruhe  herbeizuführen  geeignet  sind.  Dies 
gilt  beispielsweise  nicht  von  Statuten,  durch  welche  die  Arbeits- 
stunden in  mehr  als  zwei  Abschnitte  getheilt  oder  vorwiegend 
auf  den  Nachmittag,  insbesondere  den  späteren  Nachmittag, 
gelegt  werden  sollen. 

II.  Zulassung  einer  verlängerten  ‘Beschäftig ungszeit 

(§  105  b) 

1.  Von  der  Ermächtigung,  für  die  letzten  vier  Wochen  vor 
Weihnachten,  sowie  für  einzelne  Sonn-  und  Festtage,  an  denen 
örtliche  Verhältnisse  einen  erweiterten  Geschäftsverkehr  er- 
forderlich machen,  eine  Vermehrung  der  Beschäftigungsstunden 
bis  auf  zehn  Stunden  zuzulassen,  ist  nur  mit  der  Begrenzung 
Gebrauch  zu  machen,  dass  für  keinen  Ort  an  mehr  als  jährlich 
sechs  Sonn-  oder  Festtagen  eine  verlängerte  Beschäftigungszeit 
zugelassen  werden  darf. 

2.  Die  Bestimmung  der  Sonn-  und  Festtage,  für  welche 
eine  erweiterte  Beschäftigungszeit  zugelassen  werden  soll,  erfolgt 
durch  die  höheren  Verwaltungsbehörden  (Oberpräsidenten 
Regierungspräsidenten)  oder  mit  deren  Ermächtigung  durch  die 
unteren  Verwaltungsbehörden.  Es  empfiehlt  sichj  für  diejenigen 
Sonntage,  an  denen  allgemein  ein  erweiterter  Geschäftsverkehr 
stattfindet,  namentlich  also  für  einige  Sonntage  vor  Weihnachten, 
die  Verlängerung  der  Beschäftigungszeit  einheitlich  für  den  Lhn- 
fang  der  Provinzen  oder  der  Regierungsbezirke  zuzulassen,  im 


übrigen  aber  die  Gestattung  einer  verlängert  n Arbeitszeit  den 
unteren  Verwaltungsbehörden  zu  überlassen. 

3.  Dem  Ermessen  der  höheren  Verwaltungsbehörden  bleibt 
die  Bestimmung  darüber  überlassen, 

a)  ob  die  vermehrte  Beschäftigungszeit  für  alle  Zweige 
des  Handelsgewerbes  zu  gestatten  oder  auf  einzelne  Zweige  zu 
beschränken  ist, 

b)  um  wieviel  Stunden  eine  Uebersclircitung  der  fünf 
Arbeitsstunden  zuzulassen  ist. 

Letzteres  mit  der  Massgabe,  dass  bis  zu  der  gesetzlich  zu- 
lässigen Obergrenze  von  10  Stunden  nur  in  Ausnahmefällen  zu 
gehen,  und  dass  die  Beschäftigung  in  der  Regel  nicht  über 
sechs  Uhr  und  niemals  über  sieben  Uhr  Abends  hinaus  zuzu- 
lassen ist. 

II.  Ausnahmen  auf  Grund  des  § 105  e. 

Ausnahmen  für  Handelsgewerbe  auf  Grund  des  § 105e 
a.  a.  O.  sollen  nur  von  dem  Regierungspräsidenten  — in  Berlin 
von  dem  Polizeipräsidenten  — und  nur  in  folgendem  Umfange 
zugelassen  werden : 

1.  für  diejenigen  Sonntage  und  Festtage,  an  denen  gesetzlich 
eine  fünfstündige  Beschäftigungszeit  zulässig  ist: 

a)  Der  Verkauf  von  Back-  und  Konditorwaaren,  von 
Fleisch  und  Wurst,  der  Milchhandel  und  der  Betrieb  der  Vor- 
kosthandlungen darf  ausser  den  allgemein  zugelassenen  fünf 
Stunden  schon  vor  deren  Beginn,  von  fünf  Uhr  Morgens  ab, 
gestattet  werden. 

bi  Für  denVerkauf  von  Back-  und  Konditorwaaren,  sowie 
tür  den  Milchhandel  darf  ferner  bis  auf  Weiteres  noch  eine 
weitere  nach  den  örtlichen  Verhältnissen  festzusetzende  Stunde 
des  Nachmittags  freigegeben  werden. 

2.  F'ür  den  ersten  Weihnachts-,  Oster-  und  Pfingsttag: 

a)  Der  Handel  mit  Back-  und  Konditorwaaren,  mit  Fleisch 
und  Wurst,  mit  Vorkostartikeln  und  mit  Milch  darf  von  5 LTir 
Morgens  bis  12  Uhr  Mittags  — jedoch  ausschliesslich  der  für 
den  Hauptgottesdienst  festgesetzten  Unterbrechung  — zugelassen 
werden. 

b)  Der  Handel  mit  Kolonialwaaren,  mit  Blumen,  mit 
Tabak  und  Cigarren,  sowie  mit  Bier  und  Wein  darf  während 
zweier  Stunden  — jedoch  nicht  während  der  Pause  für  den 
Hauptgottesdienst  und  nicht  über  12  Uhr  Mittags  hinaus  — ge- 
stattet werden. 

c)  Hinsichtlich  der  Zeitungsspedition  darf  dieselbe  Rege- 
lung eintreten,  wie  an  sonstigen  Sonn-  und  Festtagen  (s.  o.  I 5a). 

IV.  Ausnahmen  von  dem  Verbote  des  § 55a. 

Die  unteren  Verwaltungsbehörden  werden  ermächtigt,  das 
Feilbieten  von  Waaren  auf  öffentlichen  Wegen,  Strassen,  Plätzen 
und  an  anderen  öffentlichen  Orten  oder  von  Haus  zu  Haus  an 
Sonn-  und  Festtagen  in  folgendem  Umfange  zuzulassen: 

1.  das  Feilbieten  von  Milch,  Fischen,  Obst,  Backwaaren 
und  sonstigen  Lebensmitteln,  insoweit  es  bisher  schon  ortsüblich 
war,  bis  zum  Beginn  der  mit  Rücksicht  auf  den  Hauptgottes- 
dienst für  die  Beschäftigung  im  Handelsgewerbe  festgesetzten 

TTll  r->C?  O O 

Unterbrechung, 

2.  das  Feilbieten  von  Blumen,  Backwaaren,  geringwerthigen 
Gebrauchsgegenständen,  Erinnerungszeichen  und  ähnlichen 
Gegenständen 

a)  bei  öffentlichen  Festen,  Truppenzusammenziehungen 
oder  sonstigen  aussergewöhnlichen  Gelegenheiten, 

b)  für  solche  Ortschaften,  in  denen  an  Sonn-  und  Fest- 
tagen regelmässig  durch  Fremdenbesuch  ein  gesteigerter  Ver- 
kehr stattfindet. 

Im  Falle  der  Ziffer  2 darf  das  Feilbieten  während  des 
Gottesdienstes  — sowohl  des  vor-  als  des  nachmittägigen  — 
nicht  zugelassen  und  im  übrigen  auf  einzelne  Stunden  beschränkt 
werden. 

V.  Sonstige  Bestimmungen. 

1.  Die  selbstthätigen  Verkaufsapparate  die  sogenannten 
Automaten  — , mittels  deren  namentlich  Konfitüren,  Cigarren, 
Streichhölzer  und  ähn  iche  Gegenstände  abgesetzt  werden, 
müssen  als  offene  Verkaufsstellen  im  Sinne  des  § 41a  der 
Gewerbeordnung  angesehen  werden.  Die  Besitzer  derselben 
werden  deshalb  darauf  aufmerksam  zu  machen  sein,  dass  sie 
sich  strafbar  machen,  wenn  sie  nicht  geeignete  Vorkehrungen 
treffen,  um  die  Entnahme  der  feilgebotenen  Gegenstände  an 
Sonn-  und  Festtagen  ausserhalb  der  zulässigen  Beschäftigungs- 
zeit  unmöglich  zu  machen. 

2.  Die  Konditoren , die  Kleinhändler  mit  Branntwein, 
sowie  andere  Kaufleute,  welche  gleichzeitig  eine  Schankgeneh- 
migung besitzen,  sind  in  Bezug  auf  ihren  kaufmlfinischen  Be- 
trieb den  gleichen  Beschränkungen  wie  die  übrigen  Kaufleute 
unterworfen  Wenn  sie  daher  ihr  kaufmännisches  Gewerbe 
ausserhalb  der  zulässigen  Stunden  betreiben,  so  ist  ihre  Be- 
strafung auf  Grund  des  § 146  a der  Gewerbeordnung  herbei- 
zuführen Sie  werden  ferner  anzuhalten  sein,  in  den  Schau- 
fenstern oder  in  den  Ladenthüren  Verkaufsgegenstände  während 
der  Stunden,  während  welchen  der  kaufmännische  Betrieb 
untersagt  st,  nicht  zur  Schau  zu  stellen.“ 

In  einem  gleichzeitig  an  die  königlichen  Oberpräsidenten 
gerichteten  gemeinsamen  Erlasse  der  drei  Minister  werden  die- 
selben ersucht,  wegen  Anweisung  der  na.'hgeordneten  Behörden 
und  wegen  Veröffentlichung  der  obigen  Anweisung  das  Weitere 
schleunigst  zu  veranlassen,  und  ferner  dafür  Sorge  zu  tragen 


316 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  25. 


dass  die  erforderlichen  Bestimmungen  unverzüglich  erlassen 
werden,  und  dass  unter  allen  Umständen  die  Festsetzung  der 
fünf  Stunden,  in  denen  regelmässig  die  Beschäftigung  an 
Sonn-  und  Festtagen  gestattet  ist,  noch  vor  dem  1 Juli  d.  J. 

erfoigt  m Einzdnen  wird  zu  der  Anweisung  noch  Folgendes 

bemerkt.  ^ ziffer  L Hinsichtlich  der  Feststellung  der  Beschäf- 
tigungsstunden ist  angeregt  worden,  zwischen  dem  Gomptoir- 
und  dem  in  offenen  Verkaufsstellen  thätigen  Personen  zu  unter- 
scheiden und  für  das  erstere  die  Beschäftigungsstunden  ohne 
Berücksichtigung  des  Hauptgottesdienstes  und  demzufolge  ohne 
Unterbrechung  festzusetzen.  Dieser  Anregung  kann  nicht  ent- 
sprochen werden,  da  die  gesetzlich  geforderte  Berücksichtigung 
des  Hauptgottesdienstes  nicht  nur  im  Interesse  der  ausseren 
Heilighaltung  der  Sonn-  und  Festtage  vorgeschrieben  ist,  son- 
dern auch  den  Zweck  verfolgt,  dem  kaufmännischen  Personal 
— und  zwar  auch  dem  im  Comptoirdienst  beschäftigten  - die 
Möglichkeit  eines  regelmässigen  Besuchs  des  Hauptgottes- 

d lenstes  Zu  Ziffer  III  Ausser  für  die  in  Ziffer  III,  1 der  An- 
weisung berücksichtigten  Zweige  des  Handelsgewerbes  sind 
mehrfach  noch  andere  Ausnahmen  auf  Grund  des  iS  105e  der 
Gewerbeordnung  befürwortet  worden,  so  namentlich  für  den 
Handel  mit  Tabak  und  Cigarren,  Kolonial waaren  Apotheker- 
waaren,  chirurgischen  Instrumenten,  Konfitüren,  Selterwasser 
in  sogenannten  Selterbuden.  Hiervon  wird  zunächst  der  Ver- 
kauf von  Apothekerwaaren  als  „Arzneimitteln“  im  Hinblick  aut 
8 6 der  Gewerbeordnung  und  der  Ausschank  von  Selterswasser 
in  Selterbuden  als  Schankgewerbe  gemäss  8 105  i a.  a O.  durch 
die  Vorschriften  über  die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe 
nicht  oetroffen.  Für  die  übrigen  erwähnten  Artikel  kann  ein 
Bedürfniss  zur  Zulassung  von  Ausnahmebestimmungen  aut 
Grund  des  8 105  e nicht  anerkannt  werden,  weil  das  1 ublikum 
durch  die  für  den  Handel  freigegebenen  fünf  Stunden  aus- 
reichende Gelegenheit  erhält,  seinen  Bedarf  daran  zu  decken. 

Von  einer  Seite  ist  angeregt  worden,  für  die  Spedition 
frischer  Fische  und  frischen  Obstes  mit  Rücksicht  darauf,  dass 
diese  dem  Verderben  leicht  ausgesetzten  Waaren  schnell  be- 
fördert werden  müssen,  eine  zehnstündige  Beschäftigungszeit 
an  Sonn-  und  Festtagen  zuzulassen.  Ein  Bedürfniss  für  eine 
solche  Ausnahmevorschrift  liegt  jedoch  nicht  vor,  da  die  keinen 
Aufschub  duldende  Spedition  von  frischem  Obst,  insoweit  sie 
nicht  als  Verkehrsgewerbe  gemäss  § 105  i a.  a.  O.  freigegeben 
ist,  nach  § 105  c 'Ziffer  4 daselbst  kraft  Gesetzes  zulässig 

sein  wird.  , ..  . 

3.  Zu  Ziffer  II.,  III.  und  IV  Durch  die  Anweisung 
sollen,  wie  wir  ausdrücklich  hervorheben,  nur  die  Grenzen, 
über  welche  hinaus  Ausnahmen  nicht  zuzulassen  sind,  fest- 
o-ele^t  werden.  Die  Behörden  sind  nicht  genöthigt,  Ausnahmen 
fn  dem  in  der  Anweisung  gestatteten  Umfange  zuzulassen,  sie 
werden  vielmehr  zu  prüfen  haben,  ob  nicht  unter  Berück- 
sichtigung der  örtlichen  Verhältnisse  ihrer  Verwaltungsbezirke 
mit  geringeren  Ausnahmen  dem  Bedürfnisse  genügt  wer- 
den  kann  “ 


Kaufmännische  Sonntagsruhe.  Von  der  Befugniss  der 
neuen  Gewerbeordnung,  die  kaufmännische  Sonntagsarbeit 
durch  Ortsstatut  eventuell  unter  fünf  Stunden  zu  beschrän- 
ken, haben  bisher,  soweit  öffentlich  bekannt  geworden  ist, 
folo-ende  Städte  Gebrauch  gemacht:  München  (Schluss 

1 Uhr  Mittags),  Bamberg  (desgl.),  Nürnberg  (desgl.), 
Stuttgart  (desgl.),  Fürth  (desgl.);  in  den  meisten  dieser 
Städte^  ist  man  der  vom  Kaufmännischen  Verein  Frank- 
furt a.  M.  ausgegangenen  Anregung  gefolgt  und  hat  die 
Arbeitszeit  für  Komtore  kürzer  (1—2  Stunden)  normirt,  als 
für  Verkaufsgeschäfte  (3—4  Stunden).  Nachträgliche  Er- 
hebungen über  die  jetzige  Sonntagsarbeit  sind  nochmals  in 
Stuttgart  und  Berlin  veranstaltet  worden.  Ueber  erstere 
giebt  eine  im  Sozialpolitischen  Centralblatt  No.  15  S.  197 
besprochene  Schrift  von  Lautenschläger  Auskunft.  Für  die 
Reichshauptstadt  vergleiche  die  Ausführungen  in  dem  Auf- 
satz über  die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerde  in  No.  22 
des  Sozialpolitischen  Centralblattes,  S.  277  ff. 


Arbeiterversicherung. 


Konferenz  der  Vertreter  der  deutschen  Invalidität^-  und 
Alters  Versicherungsanstalten.  Die  im  Reichsversicherungsamte 
zusammengetretene  Konferenz  von  \ ertietern  der  In\  aliditäts- 
und  Altersversicherungsanstalten  berieth  die  Frage  der  Beitrags- 
sätze zu  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  und  der 
Anlegung  eines  Theiles  der  Kapitalien  eventuell  zum  Baue  von 
Arbeiter  Wohnungen  Die  „Nordd.  Allgem.  Zeitung“  bemerkt 
zum  Programme  der  Konferenz:  „Nach  den  gesetzlichen 


Bestimmungen  müssen  in  der  ersten  Lohnklasse  14  Pfennige, 
in  der  zweiten  20,  in  der  dritten  24  und  in  der  vierten  30  Pfennige 
für  die  Woche  gezahlt  werden.  Indessen  sind  diese  Beiträge  ; 
nur  für  die  erste  Beitragsperiode,  die  auf  zehn  Jahre  bemessen 
ist,  festgestellt.  Mit  dem  1.  Januar  1901  würde  die  zweite 
Beitragsperiode  beginnen  und  von  da  an  andere  Sätze  ein- 
gefordert werden  können.  Die  Höhe  dieser  Sätze  wird  dann 
nicht  mehr  durch  das  Gesetz,  sondern  durch  den  Ausschuss 
einer  jeden  Versicherungsanstalt  nach  Anhörung  des  Vorstandes 
festgestellt.  Es  ist  gesetzlich  nur  vorgeschrieben,  dass  dabei 
Ausfälle  oder  Ueberschüsse,  welche  sich  aus  der  Erhebung  der 
bisherigen  Beiträge  rechnungsmässig  herausgestellt  haben,  in  [ 
der  Weise  zu  berücksichtigen  sind,  dass  durch  die  neuen  Bei- 
träge eine  Ausgleichung  eintritt.  Die  Berathung  im  Reichsver- 
sicherungsamt dürfte  daher  den  Zweck  haben,  die  rechnerischen 
Unterlagen  zu  einem  möglichst  gleichmässigen  Vorgehen  der 
einzelnen  Versicherungsanstalten  auf  diesem  Gebiete  zu  liefern. 

Es  ist  übrigens  im  Gesetze  vorgesehen,  dass  die  Versicherungs- 
anstalten schon  innerhalb  der  ersten  10  Jahre  andere  Beitrags- 
sätze, als  sie  das  Gesetz  vorschreibt,  beschliessen  können.  Ob 
die  Verhältnisse  die  eine  oder  andere  Versicherungsanstalt  hierzu 
zwingen  werden,  bleibt  abzuwarten.  — Nicht  minder  wichtig  ist 
die  Frage  der  Verwendung  der  Kapitalien  der  Versicherungs- 
anstalten für  die  Anlage  von  Arbeiterwohnungen.  Im  Allge- 
meinen dürfen  die  verfügbaren  Gelderder  Versicherungsanstalten 
nur  in  öffentlichen  Sparkassen  oder  wie  Gelder  bevormundeter 
Personen  angelegt  werden.  Indessen  ist  mit  Rücksicht  auf  den 
Umfang  der  zur  Ansammlung  bei  den  Versicherungsanstalten 
gelangenden  Kapitalien  für  diese  noch  ausserdem  bestimmt,  dass 
der  vierte  T'heil  des  Anstaltsvermögens  mit  behördlicher  Ge- 
nehmigung in  anderen  zinstragenden  Papieren  oder  in  Grund- 
stücken angelegt  werden  darf.  Im  Wortlaute  des  Gesetzes  wäre 
demnach  ein  Hinderniss  für  die  eventuelle  Verwendung  eines 
Tlieils  des  Vermögens  der  Versicherungsanstalten  für  Arbeiter- 
wohnungen  nicht  zu  finden  Es  möchte  zu  erwarten  sein,  dass 
die  Versicherungsanstalten  einen  Theil  ihrer  verfügbaren  Gelder 
zu  dem  genannten  Zwecke  künftig  verwenden. 

Der  sechste  ord.  deutsche  Berufsgenossenschaftstag  wurde 
unter  dem  Vorsitze  des  Abg.  Roesicke  am  10.  Juni  in  Hamburg 
abgehalten.  Der  grösste  Theil  der  42  dem  Verbände  angehören-  , 
den  gewerblichen  Berufsgenossenschaften  war  vertreten,  ferner 
das  Reichskanzleramt  durch  den  Staatssekretär  von  Boetticher 
und  den  Unterstaatssekretär  von  Rottenburg  und  das  Reichs-  , 
versicherungsamt  durch  seinen  Präsidenten  Dr.  Bödiker.  Von 
den  übrigen  Ehrengästen  ist  Professor  Lindstedt  (Chnstiania) 
zu  nennen,  der  im  Aufträge  seiner  Regierung  eine  Reise  zum 
Studium  der  Sozialgesetzgebung  nach  Deutschland  unternommen  , 
hat.  Aus  dem  Jahresberichte  ging,  wie  wir  einem  Berichte  der 
„Vossischen  Ztg.“  entnehmen,  dem  wir  in  der  Hauptsache  folgen, 
hervor,  dass  die  vorläufige  Verschiebung  der  Errichtung  eigener 
Unfallkrankenhäuser  sich  zu  empfehlen  scheint,  dass  ein  For- 
mular für  die  Berichte  der  Beauftragten  ausgearbeitet  ist  und  ; 
dass  die  Frage  der  Unterkunft  für  die  mehrerwähnte  Sammlung  , 
der  Unfallverhütungsvorkehrungen  1 im  Reichsversicherungsamt)  ; 
noch  unentschieden  bleiben  muss.  Betreffs  der  Arbeitsvermitte-  [ 
lung  für  invalide  Arbeiter  hat  noch  nicht  viel  geschehen  können,  1 
da  es  den  Anschein  hat,  als  ob  die  Arbeiter  aus  der  Einmischung 
des  Verbandes  vielleicht  eine  Beeinträchtigung  ihrer  Renten  be-  , 
fürchten;  doch  soll  in  Berlin,  als  an  dem  geeignetsten  Orte,  ein 
Versuch  damit  gemacht  werden,  sobald  eine  sachliche  Vor- 
prüfung die  nöthigen  Unterlagen  bietet. 

Zur  eigentlichen  Tagesordnung  sprach  zuerst  Direktor  . 
Landmann  (Berlin)  über  die  Ausarbeitung  von  Normal-Unlall- 
verhtitungs Vorschriften,  welche  in  der  Vorbereitung  begriffen 
sind  Die  letztere  erfolgt  nach  10  Gruppen  getrennt,  deren 
jede  einem  bewährten  Fachmann  übertragen  ist.  Die  Gruppen 
vertheilen  sich  auf  Betriebsanlagen,  Feuersgefahr  und  Heizung, 
auf  Motoren,  Transmissionen,  Aufzüge,  Arbeitsmaschinen,  Irans- 
| portwesen,  Ausrüstung  der  Arbeiter,  Arbeitsordnungen  und  \ or- 
soro-e  für  Verletzte.  — Dr.  Eras  (Breslau)  wünscht  bei  dieser 
Frage  womöglich  auch  die  persönlichen  Eigenschaften  testge- 
stellt zu  sehen,  welche  in  den  verschiedenen  Betrieben  von  dem 
einzelnen  Arbeiter  verlangt  werden  sollen. 

Zum  zweiten  Punkt  der  Tagesordnung,  betreffend  die 
Rechte  und  Pflichten  der  Genossenschaften  in  Bezug  aut  die 
Novelle  zum  Krankenversicherungsgesetz  hielt  Dr.  Blasius-Berlin 
einen  längeren  durch  Abbildungen  erläuterten  \ ortrag,  m 
welchem  er  die  Schäden  einer  mangelhaften  Behandlung  der  , 
Verletzten  nachwies  und  die  Nothwendigkeit  betonte,  dass  die 
Berufsgenossenschaften  sobald  als  thunlich  (also  schon  vor  der  i 
13.  Woche  nach  Eintritt  des  Unfalls)  den  Heilungsprozess  selbst 
in  die  Hand  nehmen,  womöglich  eigene  Unfallkrankenhäuser 
einrichten  und  die  genaueste  Feststellung  jedes  einzelnen  Un- 
falles im  medizinischen  Sinne  sich  zur  Aufgabe  machen.  Ls 
ist  nicht  genug,  dass  man  einfach  auf  Grund  des  Gesetzes  einen 
Arbeiter  zum  Rentner  macht;  viel  besser  ist  es,  moralischer  und 
humaner,  ihm  seine  ganze  Erwerbsfähigkeit  wiederzugeben, 
damit  er  wieder  arbeiten  kann.  Im  weiteren  Verlaufe  der  Ver- 
handlungen  machte  Kommerzienrath  Roesicke-Berlin  der  V er- 
sammlung  darüber  Mittheilung,  dass  kürzlich  zwischen  dem 
Aerzteverein  und  den  Berufsgenossenschaften  Verhandluno'en 
über  die  Stellung  der  Aerzte  zu  den  Berufsgenossenschaften 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


317 


No.  25. 


und  die  Beschaffung  von  ärztlichen  Obergutachten  stattgefunden 
haben.  Die  Versammlung  erklärt  ihr  Einverständnis  mit  dem 
vom  Ausschuss  eingenommenen  Standpunkte.  Direktor  Schle- 
singer (Berlin)  beleuchtet  einige  Mängel  des  jetzigen  Verfahrens 
bei  Unfällen  und  wünscht  eine  strengere  Ueberwachung  der 
Unfallanmeldungen,  sowie  stärkere  Zuziehung  der  Vertrauens- 
ärzte und  eine  Begünstigung  der  Unfallkrankenhäuser. 

Eine  Entschliessung  im  Sinne  dieser  Vorschläge,  welche 
den  I erufsgenossenschaften  empfohlen  wird,  veranlasste  den 
Staatsminister  Dr.  von  Boetticher  zu  der  mit  grossem  Beifall 
aufgenommenen  Erklärung,  dass  bei  der  Novelle  zum  Unlall- 
versicherungsgesetz vielleicht  darauf  Bedacht  zu  nehmen  sein 
werde,  ob  nicht  die  Beschaffung  der  Mittel  zu  eigenen  Unfall- 
krankenhäusern aus  vorhandenen  Beständen  oder  aber  durch 
Heranziehung  der  Mitglieder  zu  besonderen  Beiträgen  sich  werde 
irgendwie  ermöglichen  lassen. 

Eine  lebhafte  Erörterung  rief  die  Frage  der  Unfallatteste 
und  der  ärztlichen  Obergutachten  hervor,  wozu  der  Ausschuss 
u.  a.  eine  Entschliessung  unterbreitete,  wonach  in  den  ärztlichen 
Attesten  die  Feststellung  der  Erwerbsunfähigkeit  der  Verletzten 
nach  Prozenten  nur  auf  Erfordern  der  berufsgenossenschaft- 
lichen Organe  erfolgen  solle.  Da  bei  dem  vielfachen  Für  und 
Wider  eine  Verständigung  nicht  herbeizuführen  war,  wurde 
diese  prinzipiell  wichtige  Bestimmung  fallen  gelassen,  hin- 
gegen der  erste  Theil  der  Resolution  angenommen,  der  die 
Zustimmung  zu  der  mit  den  Vertretern  des  Aerztebundes  ge- 
pflogenen Verhandlung  (vom  Februar  1891)  ausspricht. 

Ueber  die  öffentlich-rechtliche  Stellung  der  Berufsgenossen- 
schaften verlas  Rechtsanwalt  Lindenberg-Berlin  ein  Gutachten, 
welches  zu  dem  Schlüsse  kam,  dass  den  Berufsgenossenschaften 
das  Recht  einer  Korporation  zustehe,  da  sie  rechtlich  nothwen- 
dige  öffentliche  Genossenschaften  seien,  denen  die  Erfüllung 
staatlicher  Aufgaben  übertragen  ist.  Wenn  das  Oberverwal- 
tungsgericht das  im  Gegensatz  zum  Kammergericht  in  einem 
bestimmten  Falle  (Steuerangelegenheit)  nicht  anerkannt  hat,  so 
ist  zu  hoffen,  dass  das  nicht  aufrecht  erhalten  bleibt.  Baumeister 
Bandke,  Vorsitzender  der  Tiefbauberufsgenossenschaft,  macht 
darauf  aufmerksam,  dass  die  Praxis  des  preussischen  justizministers 
sich  mit  der  vorgetragenen  Anschauung  nicht  decke,  da  derselbe 
neuerdings  im  Gegensatz  zum  Reichsversicherungsamt  den  Vor- 
ständen das  Recht  nicht  zugestanden  habe,  durch  die  Gerichte 
zeugeneidliche  Vernehmungen  in  Unfallsachen  zu  erfordern, 
obschon  eben  dieselben  Gerichte  auf  Antrag  des  Schiedsgerichts 
dem  gleichen  Ersuchen  nachkommen  müssten.  Es  entsteht  also 
nur  eine  bedenkliche  Verzögerung  in  der  Rentenfestsetzung  zum 
Nachtheil  der  Verletzten.  Der  Ausschuss  wird  nach  längerer 
Verhandlung  beauftragt,  alle  Schritte  zu  thun,  um  den  Berufs- 
genossenschaften zur  Anerkennung  ihrer  bezüglichen  Rechte  zu 
verhelfen. 

Baumeister  Freese  (Hamburg)  besprach  die  Unzuträglich- 
keiten bei  der  Versicherung  von  Regiebauarbeitern,  die  darin 
bestehen,  dass  diese  Arbeiten  oft  gar  nicht  angemeldet  und 
keine  Prämie  gezahlt  werde,  dass  aber,  sobald  ein  Unfall  ein- 
tritt,  der  Versuch  gemacht  wird,  eine  bestimmte  Genossenschaft 
mit  den  Schäden  des  Betriebes  zu  belasten.  Nach  einem  Antrag 
Felisch  (Berlin)  soll  nun  in  Zukunft  beim  Beginn  jeder  derarti- 
gen Arbeit  eine  schriftliche  Erklärung  abgegeben  werden,  woraus 
zu  ersehen  ist,  wem  die  Ausführung,  die  Verantwortung  und  Unfälle 
zuzurechnen  sind.  Schliesslich  wurde  das  Reichsversicherungs- 
amt ersucht,  auf  der  Weltausstellung  in  Chicago  die  deutschen 
Einrichtungen  und  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Arbeiter- 
versicherung insbesondere  der  Unfallverhütung  in  geeigneter 
Form  zur  Vorführung  zu  bringen. 

Die  nächste  Generalversammlung  soll  in  Stuttgart  abge- 
halten werden. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 

Wohnhausstatistik  des  deutschen  Reiches.  Unter  den 
vorläufigen  Ergebnissen  der  Volkszählung  vom  1.  Dezember  1890 
wird  im  soeben  erschienenen  zweiten  „Vierteljahrshefte  zur 
Statistik  des  deutschen  Reiches“  eine  Tabelle  über  die  Häuser 
und  Haushaltungen  am  1 Dezember  1890  publizirt.  Demnach 
wurden  mit  Einschluss  von  Helgoland  gezählt  5 790  689  bewohnte 
und  122  109  unbewohnte  Häuser,  ferner  41  442  hauptsächlich  oder 
gewöhnlich  zu  Wohnzwecken  nicht  dienende  Gebäude,  3825 
Hütten,  Bretterbuden,  Zelte  etc,  12  606  bewegliche  Baulich- 
keiten (Wagen,  Schiffe,  Flösse  etc.)  im  Ganzen  5 970  671  zur 
Wohnung  dienende  oder  bestimmte  Gebäude.  Auf  ein  Quadrat- 
kilometer kamen  11,05  zur  Wohnung  dienende  oder  bestimmte 
und  10,82  bewohnte  Gebäude.  Auf  I bewohntes  Gebäude  kamen 
1,82  Haushaltungen  und  8,45  Personen.  Die  meisten  Personen 


kamen  auf  1 bewohntes  Gebäude  in  Berlin  (52,64  , hierauf  folgen 
in  Preussen  die  Regierungsbezirke  Danzig  (11,10)  und  Bromberg 
(1 1,08),  ferner  Königsberg  (10,75),  Arnsberg  ( 10,68),  Potsdam  (10;52i, 
Breslau  (10,51),  Stettin  (10  49)  und  Posen  (10,18).  Im  Königreiche 
Sachsen  kommen  10  80  Personen  auf  ein  bewohntes  Gebäude 
und  zwar  in  den  Kreishauptmannschaften  Dresden  11,36,  Leipzig 
11,25  und  Zwickau  11,85.  In  Mecklenburg-Strelitz  kommen  10,08 
und  in  Hamburg  17,17  Personen  auf  eine  bewohnte  Baulichkeit. 
Die  niedrigsten  Zahlen  finden  sich  aut  je  eine  Baulichkeit  in 
Preussen,  in  Helgoland  (4,00),  Sigmaringen  (5,11)  und  in  den 
Regierungsbezirken  Aurich  (6,15),  Coblenz  (6,20),  Stade  (6,26), 
Trier  (6,67),  Aachen  (6,86)  und  Münster  (6,96);  dann  in  Bayern 
(6,87)  und  zwar  in  Schwaben  (6,01),  Unterfranken  (6,18),  Nieder- 
bayern (6,42)  und  in  der  Pfalz  (6,45);  in  Württemberg  (7,01)  und 
zwar  im  Donaukreis  (6,25),  Jagstkreis  (6,45)  und  Schwarzwald- 
kreis (6,52);  in  Baden  (7,52)  und  zwar  im  Bezirke  Konstanz  (6,55) 
und  im  Bezirke  Freiburg  (6,92);  in  Hessen  (7,06)  und  am  niedrig- 
sten in  Oberhessen  (5,92),  dann  in  Sachsen- Weimar  (6,50).,  Olden- 
burg (6,38),  Sachsen-Coburg-Gotha  (6,88),  Schwarzburg-Sonders- 
hausen  (6,31)  Schwarzburg-Rudolstadt  (6,85),  Waldeck  (6,55)  und 
in  Elsass-Lothringen  (6,23). 

Der  Berliner  Frauenverein  Oetavia  Hill  will  nach  dem 
Vorgänge  der  Oetavia  Hill  in  London  die  Verwaltung  von 
Wohnungen  der  unbemittelten  Bevölkerung  in  Berlin  durch 
gebildete  wohlwollende  Damen  übernehmen  und  wird  zu  diesem 
Zwecke  mit  den  Eigenthümern  von  Häusern  mit  kleineren  Woh- 
nungen geeignete  Vereinbarungen  treffen.  Er  hofft,  auf  diese 
Weise  nicht  nur  eine  bessere  Gestaltung  der  Mieths Verhältnisse 
der  unbemittelten  Bevölkerung  herbeizuführen,  sondern  auch 
erforderlichenfalls  den  Miethern  in  geeigneter  Weise  mit  Rath 
und  That  zur  Seite  stehen  zu  können.  Soweit  es  zu  letzterem 
Zwecke  nothwendig  erscheint,  wird  der  Verein  besondere  Ver- 
anstaltungen zur  Hebung  der  häuslichen  Gesundheitspflege, 
Erziehung  der  Kinder  u.  s.  w treffen,  im  Uebrigen  aber  es  sich 
angelegen  sein  lassen,  mit  bereits  bestehenden  Vereinen  Fühlung 
zu  nehmen,  damit  deren  Einrichtungen  von  den  Miethern  benutzt 
werden.  Die  Mitgliedschaft  wird  durch  Zahlung  eines  Jahres- 
beitrages von  mindestens  5 M.  oder  eines  einmaligen  Beitrages 
von  mindestens  150  M.  erworben.  Damen  können  die  Mitglied- 
schaft auch  lediglich  durch  praktische  Thätigkeit  in  den  Vereins- 
aufgaben erwerben.  Der  Verein  übernimmt  einen  bereits  ein- 
gerichteten Fröbel’schen  Volkskindergarten  als  besondere  Ver- 
anstaltung. 


Soziale  Hygiene. 


Eine  neue  Gewevbekrankheit.  In  dem  in  No.  20  der 
Veröffentlichungen  des  kaiserl.  Gesundheitsamtes  (19.  Mai 
1892)  publizirten  Berichte  des  Regierungs-  und  Medizinal- 
rath Dr.  Tenholt  über  das  öffentliche  Gesundheitswesen  im 
Regierungsbezirke  Arnsberg  während  der  Jahre  1886 — 88 
findet  sich  folgende  Mittheilung: 

„Eine  anscheinend  neue  Gewerbekrankheit  wurde  in 
der  Roburitfabrik  zu  Witten  beobachtet.  Roburit  ist  ein 
Gemenge  von  chlorhaltigen  Dinitrobenzol  und  Dinitronaph- 
talin  mit  salpetersaurem  Ammoniak.  Die  .Stoffe  werden 
unter  Erwärmung  im  Wasserbade  mit  einander  vermengt. 
Ende  1887  erkrankten  die  Hälfte  bis  zwei  Drittel  aller  Ar- 
beiter (70—80)  unter  heftigen  Verdauungsstörungen,  ver- 
bunden mit  asthmatischen  Beschwerden,  Lähmungserschei- 
nungen in  den  unteren  Extremitäten  und  Benommenheit 
des  Kopfes.  Bei  ekelhaft  süssem  Geschmack  im  Munde 
erfolgt  häufig  Erbrechen  schwarzer  Massen  und  Ausleerung 
übel  riechender  Stuhlgänge.  Die  schwersten  Formen  gingen 
nach  4 — 5 W^ochen,  die  übrigen  nach  8 — 14  Tagen  in  Ge- 
nesung über.“ 

Steigerung  tles  Alkoholkonsums  in  der  Schweiz.  Nach- 
dem in  der  ersten  Zeit  nach  Einführung  des  Alkoholmonopols 
der  Alkoholkonsum  in  der  Schweiz  gesunken  war,  wird  jetzt 
eine  kleine  Steigerung  konstatirt. 

Die  eidgenössische  Alkoholverwaltung  hat  im  Jahre  1891 
einen  Einnahmeüberschuss  von  6013  488  Frcs.,  wobei  unter  den 
Ausgaben  ein  Betrag  von  950  000  Frcs.  für  Amortisation  enthalten 
ist.  Der  Konsum  von  Branntwein  (50grädig)  in  der  Schweiz  für 
1891  wird  von  der  Verwaltung  auf  6,32  1 per  Kopf  berechnet, 
gegen  6,27  1 im  )ahre  1890. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Kraun  in  Berlin. 


318 


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F.  Uppenborn. 


||p  ^rbtitpriitniPäung 
nnti  (Irpniiifntion  in  |piitfd)lmiii. 


011 

Dr.  Max  Hirsch, 


. „ , , „ ,,r.  Uniualf  brr  ©Bulfrfjttt  ©EiuErk-©£teim\ 

Verlag  der  Manz’schen  k.  und  k.  Hof-Verlags-  und  Universitäts-Buchhandlung  in  Wien  MifgÜEb  öes  lEUfisffagES. 


Die 


ÖsterreichiseheHandelspolitik 


iprciö  50  SJJf. 


im  neunzehnten  Jahrhunderte. 


Von 


3u  berieten  bunt)  alte  SBudibmibfuitgen  nnb 
biird)  bie  (£rpebiücu§=Steflen  bev  „93oPf§=3eituiig". 
5Kad)  (Shifaibung  Ooit  50  1)3 f.  in  SBriefmorfeit  erfolgt 
bie  gufetibmtg  ber  iBvodjuve  franco  per  fßoft  burrf) 
bie  SjpebrttoitS  * Stellen  ber  „S3oIf8  * 3dtunfl'\  - 
S3erlht  W„  ßronenftr.  46,  unb  Ihilioioftv.  105. 


IDr.  -A_d.olf  Beer, 

k.  k.  Ministeruürath  und  Reichstags- Abgeordneter. 


Gr.  8.  39'/2  Bogen.  Preis  brosebirt  12  Mark. 


Zum  ersten  Male  wird  in  diesem  Werke  eine  Darstellung  der  leitenden  Gesichts- 
punkte österreichischer  Handels-  und  Zollpolitik,  ausschliesslich  auf  handschriftlichen 
Quellen  fussend,  gegeben.  Besonders  ausführlich  werden  die  Bestrebungen  Oester- 
reichs zur  Bildung  einer  Zolleinigung  mit  dem  deutschen  Zollvereine  geschildert.  Das 
Werk  liefert  auch  für  die  Würdigung  der  österreichischen  Politik  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten manchen  Beitrag  und  dürfte  auch  in  weiteren  Kreisen  lebhaftes  Interesse  er- 
wecken. 


jfrei  ilatib  ’ 

pdpfdjrift  p füiDming  tim  frifüliriicu 


^u|iatofürm* 


Drgait  bES  ©EtdfdiBit  Buitbr»  für  BobEit- 
bEftfjrEform. 

(frfdjcittt  jeben  ÜNontag. 


U.  (ÜmtfEntag,  2krlagdbnd)banblnng  in  SBerün 


21  b o n n e m e n t § b e b i tt  g u n g e n : 

m.  0,80 


Iranknuicrfttlieiunijögefc^ 


uont  15.  Üuni  1883, 

i»  ber  Raffung  ber  9?  r» belle  hont  10.  2(yrU  1892. 

Sett=2(uagalie  mit  Slnnicvfimgen  unb  ©adpicgifter 
0011 

(E.  luni  IVtu'Mhc, 

Äaif.  ©et).  Dbev=9!cgierung§'9iat(),  oovtv.  9iaü)  im  Dteidjäanit  beb  ^sintern 

SBievte  gcitiftliri)  nutgcavbcitctc  2(ufl<tgc. 

9[afii)Enformat;  ravlonnirl.  preis  2 H5B. 


23ei  allen  fßoftanftalteu  (91v.  2272 
ber  SgoltjeitungMifte')  . . . . 
33ei  bivelter  ih'euäbanb]enbung: 

in  2>eutfd)taiib  unb  Deftevreid) . 

int  Sßeltpoftöerein 

3u  «Berlin  bei  freier  gufei'bung  ■ • 


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Wxt  (Bspebtltun 

M.  üvelts,  SfaUfrf|mfarJH\  55. 


Hugo 


Frankel, 

Antiquariat  fürRechts-u. Staatswissenschaft, 

|Berlin  N.  24,  Elsasserstr.  36, 


empfiehlt  sich  zur  Beschaffung  aller  in  sein 


Specialfach  einschlagender  Literatur. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  27.  Juni  1892. 


Nummer  26. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT 


DasKorporationsrechtund  die 
Gewerkvereine  in  Deutsch- 
land. Von  Dr  Arthur  Cohen. 
Soziale  Wirtlischaftspolitik  n. 
Wirthscliaftsstatistik : 

Die  sozialpolitischen  Aufgaben  der 
deutschen  Gemeindeverwaltun- 
gen. Von  Dr.  Max  Quarck. 

Ergebnisse  einer  landwirtschaft- 
lichen Berufsstatistik  für  Belgien. 
Arbeiterzustäncle : 

Die  Grubenkatastrophe  in  Przibram. 
Von  Dr.  Leo  Verkauf. 

Kommission  für  Arbeitsstatistik. 

Amtliche  Erhebungen  der  Arbeit- 
losigkeit. 

Arbeiterverhältnisse  der  hessischen 
Cigarrenindustrie 
Kaufmännische  Bewegung: 

Jahresversammlung  des  deutschen 
Verbandes  kaufmännischer  Ver- 
eine in  Köln. 

Gewerbliche  Fortbildungsschulen 
für  Kaufleute. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Der  Achtstundentag  in  Australien. 

Zum  Koalitionsrecht  der  Arbeiter 
in  Deutschland. 

Neue  Gesindeordnung  für  das 
Königreich  Sachsen. 


Sonntagsruhe  für  das  Handelsge- 
werbe im  Grossherzogthum 
Hessen. 

Sonntagsruhe  für  das  Handels- 
gewerbe in  Berlin. 

Ortsstatut  über  die  Sonntagsruhe 
im  Handelsgewerbe  für  Frank- 
furt a.  M. 

Arbeiterschutzvorschriften  für  Fell- 
z.urichtereien. 

Arbeiterversicherung: 

Ausdehnung  der  Krankenversiche- 
rung durch  Ortsstatut. 

Rechnungsergebnisse  der  staat- 
lichen Unfallversicherung  in 
Niederösterreich. 

Zur  Frage  der  Arbeiterversicherung 
in  England. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Wohnungsstatistik  in  Worms. 

Wohnungszustände  inFrankfurt  a.M. 

Litteratur: 

Protokoll  der  Verhandlungen  des 
ersten  Kongresses  der  Gewerk- 
schaften Deutschlands. 

Piirsch,  Max,  Leitfaden  mit  Muster- 
statuten für  freie  Htilfskassen. 
Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Das  Korporationsrecht  und  die  Gewerk- 
vereine in  Deutschland. 


Während  unser  Assoziationsrecht  überall  da,  wo  es 
sich  darum  handelt,  den  Interessen  der  Industrie,  des  Han- 
dels und  Verkehrs  entgegenzukommen,  den  Bedürfnissen 
verhältnissmässig  raschen  Schrittes  folgte,  befindet  sich 
unser  Arbeitervereinsrecht  — abgesehen  vielleicht  vom 
Hilfskassengesetze  — noch  in  einem  rudimentären  Zustande, 
der  mit  dem  gesteigerten  Klassenbewusstsein  und  der  heu- 
tigen Klassenmacht  des  deutschen  Arbeiterstandes  in 
krassem  Widerspruche  steht.  In  einer  früheren  Nummer 
des  Sozialpolitischen  Centralblattes1)  wurden  die  Mängel 
des  politischen  Vereinsrechts  dargelegt.  Aehnlich  zurück- 
geblieben wie  dieses  ist  das  privatrechtliche  Vereinsrecht 
— zum  Unterschied  von  ihm  Korporationsrecht  genannt. 


0 No.  11:  Die  Lage  der  deutschen  Gewerkschaften.  Von 
Dr.  Adolf  Braun. 


Im  Gebiete  des  gemeinen  Hechts  herrschen  auch  hier 
noch  die  römischen  Grundsätze.  Das  Schlimmste  dabei  ist, 
dass  über  den  Kardinalpunkt,  ob  die  Vereine  zur  Erlan- 
gung der  juristischen  Persönlichkeit  der  staatlichen  Ge- 
nehmigung bedürfen,  die  Ansichten  auseinandergehen.  D e 
Theorie  neigt  mehr  zur  Verneinung  dieser  Frage,  während 
die  Praxis  mit  verschwindenden  Ausnahmen  den  entgegen- 
gesetzten Standpunkt  einnimmt.  Auch  die  Partikularrechte 
waren  auf  dem  in  Rede  stehenden  Gebiete  wenig  schöpfe- 
risch Das  preussische  Landrecht  bestimmt,  dass  ein  Verein 
juristische  Persönlichkeit  nur  durch  Verleihung  seitens  des 
Königs  erhalten  könne.  Der  Code  civil  schweigt.  Nur 
zwei  deutsche  Staaten  — Sachsen  und  Bayern  — haben 
Spezialgesetze  erlassen.  Nach  dem  sächsischen  Gesetze, 
die  juristischen  Personen  betreffend,  vom  15.  Januar  1868 
erlangen  Personenvereine  die  juristische  Persönlichkeit 
durch  Eintragung  in  ein  eigenes  „Genossenschaftsregister“. 
Die  Eintragung  darf  nicht  verweigert  werden,  wenn  die 
Statuten  den  durch  das  Gesetz  selbst  gestellten,  ledig- 
i lieh  formellen,  Anforderungen  entsprechen.  Nur  wenn 
der  Verein  Zwecke  verfolgt,  die  sich  auf  öffent- 
liche Angelegenheiten  beziehen,  darf  die  Eintragung 
erst  nach  Genehmigung  des  Ministeriums  des  Innern  ge- 
schehen. Bayern,  das  in  Bezug  auf  den  polizeilichen  Cha- 
rakter des  „Vereinsrechts“  unter  den  deutschen  Staaten 
mit  in  erster  Reihe  steht,  hat  das  liberalste  „Korporations- 
recht“ in  Deutschland.  Das  bayerische  Gesetz  vom 
29.  April  1869,  die  privatrechtliche  Stellung  von  Vereinen 
betreffend,  verleiht  den  Personen-Vereinigungen,  die  durch 
das  zuständige  Landgericht  feststellen  lassen,  dass  ihre  Sta- 
tuten gewissen,  formellen,  Anforderungen  Genüge  leisten, 
die  Rechte  der  juristischen  Persönlichkeit  („Anerkannter 
Verein“). 

Auch  im  norddeutschen  Bund  und  deutschen  Reiche 
fehlte  es  nicht  an  Vorschlägen  zu  einer  Bundes- beziehungs- 
weise reichsgesetzlichen  Regelung. 

Am  4.  Mai  1869  legte  Schulze-Delitzsch  einen  darauf 
bezüglichen  Entwurf  dem  Reichstage  vor.  Wir  können  uns 
die  Darlegung  seines  Inhalts  aus  dem  Grunde  ersparen, 
weil  das  eben  erwähnte  bayerische  Gesetz  ihm  genau 
nachgebildet  ist.  Der  norddeutsche  Reichstag  nahm  den 
Schulze’schen  Entwurf  an,  der  deutsche  liess  ihn  fallen,  als 
seitens  des  Vertreters  der  Regierungen  die  Erklärung  ab- 
gegeben wurde,  dass  im  Kreise  der  Regierungen  gegen  ihn 
prinzipielle  Bedenken  geäussert  worden  seien,  deren  wich- 
tigste sich  auf  Hereinziehung  der  religiösen  und  politischen 
Vereine  bezögen  und  gegen  dieVerleihung  korporativer 
Rechte  an  die  sogenannten  Gewerkvereine  ge- 
richtet seien.  In  ein  neues  Stadium  trat  die  Angelegen- 


320 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  26. 


heit  mit  der  Einsetzung  einer  Kommission  für  Ausarbeitung 
eines  bürgerlichen  Gesetzbuches  für  das  deutsche  Reich. 
Dieselbe  entschied  sich,  wie  bekannt,  dafür,  dass  die 
Landesgesetze  die  Bedingungen  bestimmen  sollen,  unter 
denen  Personenvereinigungen  das  Korporationsrecht, 
die  juristische  Persönlichkeit , zustehen  soll , oder  mit 
andern  Worten:  dass  es  beim  Alten  bleiben  solle.  Dem 
trat  mit  aller  Schärfe  und  Entschiedenheit  der  deutsche 
Juristentag  des  Jahres  1888  entgegen. 

Hauptsächlich  unter  dem  Einflüsse  von  Gierke  be- 
schloss er: 

„Das  bürgerliche  Gesetzbuch  hat,  unter  Vorbehalt 
der  "besonderen  Reichs-  und  Landesgesetze  über  einzelne 
Körperschaftsgattungen,  allgemeine  Bestimmungen  über 
Erwerb  und  Verlust  der  Körperschaftsrechte  zu  treffen. 
Es  hat  dabei  das  Prinzip  der  freien  Körperschaftsbildung 
zu  Grunde  zu  legen.  Privatrechtliche  Körperschaften, 
welche  nicht  unter  ein  Spezialgesetz  fallen  — Vereine 
für  ideale  Zwecke  und  wirthschaftliche  Vereine,  wenn 
sie  nicht  auf  einen  kaufmännischen  oder  gewerblichen 
Geschäftsbetrieb  gerichtet  sind  — erlangen  die  öffentliche 
Anerkennung  ihrer  Persönlichkeit,  wenn  sie  auf  Grund 
gesetzlicher  Normativbestimmungen  in  ein,  von  den  Ge- 
richten geführtes  Vereinsregister  eingetragen  sind.“ 

Verworfen  wurde  dagegen  der  beschränkende  Antrag: 

„Hinsichtlich  der  politischen  und  religiösen  Vereine 
können  landesgesetzliche  Ausnahmebestimmungen  vorbe-  j 
halten  werden.  Betreffs  der  Religionsgesellschaften  und 
geistlichen  Genossenschaften  bleiben  die  Landesgesetze  un- 
berührt.“ 

Von  den  Vereinen,  welche  bei  der  Reform  des  Kor-  | 
porationsrechtes  in  Betracht  kommen,  leiden  am  Meisten  j 
die  Berufs  vereine  unter  der  gegenwärtig  herrschenden 
Unsicherheit  und  Zersplitterung  des  Rechtszustandes  und 
unter  der  Kleinlichkeit,  mit  der  man  anerkannten  Zwecken 
den  sichern  Boden  des  privatrechtlichen  Schutzes  vorent- 
hält. Während  rein  politische  und  religiöse  Vereine  durch 
die  Macht  der  in  ihnen  zum  Ausdruck  kommenden  Ideen 
in  den  Stand  gesetzt  sind,  den  Mangel  der  juristischen  Per- 
sönlichkeit leicht  zu  verschmerzen,  während  wissenschaft- 
liche, gesellige  Vereine  etc.  dadurch  gedeckt  sind,  dass  ihre 
Bestrebungen  nicht  so  tief  in  das  Leben  des  einzelnen  Mit- 
gliedes eingreifen,  über  sein  Wohl  und  Wehe  nicht  un- 
mittelbar entscheiden,  empfinden  die  Berufsvereine  und 
unter  ihnen  besonders  die  der  Arbeiter,  die  Gewerk- 
vereine, den  Mangel  des  Klagerechts,  den  Mangel  der 
Erwerbs-  und  Verpflichtungsfähigkeit  sehr  hart.  Unter- 
stützungsfonds, Strikegelder  etc.  stehen  nicht  im  Eigenthum 
des  Gewerkvereins  als  solchen,  sondern  im  gemeinsamen 
Eigenthum  sämmtliclier  Mitglieder  ’),  so  dass  gegebenen 
Falls  diese  sämmtlich  klagend  auf  treten  bezw.  vertreten 
sein  müssten.  In  der  Praxis  hilft  man  sich  gewöhnlich 
dadurch,  dass  man  den  Vorstand  zur  „Vermögensver- 
waltung“, in  der  auch  die  Prozessführung  mitinbegriffen  ist, 
ermächtigt.  Schwieriger  und  unangenehmer  ist  die  Lage, 
wenn  es  sich  um  die  Erwerbung  oder  Verpfändung  von 
Grundbesitz  oder,  was  bei  den  Cxewerkvereinen  allerdings 
wohl  selten  Vorkommen  mag , um  den  Anfall  von  Ver- 
mächtnissen handelt.  Sollen  sämmtliche  Mitglieder  des 
Gewerkvereins  ihre  Namen  in  die  öffentlichen  Bücher  ein- 
tragen lassen?  Der  Verein  der  Hutmacher  kaufte  \or 
einiger  Zeit  eine  Fabrik  um  435  000  M.,  mit  95  000  M. 
Anzahlung,  und  liess  sie  auf  den  Namen  einiger  Mitglieder 
eintragen. 

i Die  Kranken  Unterstützungsfonds  können  als  freie 
Hilfskassen  organ  sirt  werden  und  besitzen  dann  natürlich  juri- 
stische Persönlichkeit. 


Wie  aber,  wenn  in  einem  solchen  Falle  der  Vorstand 
mit  Tod  abgeht,  oder  wenn  er  das  Vermögen  veruntreut, 
indem  er  die  Fabrik  an  Aussenstehende  verkauft  und  sie 
auf  deren  Namen  eintragen  lässt?  Dass  unter  diesen  Un- 
sicherheiten der  rechtlichen  Lage  und  Umständlichkeiten 
der  Vermögensverwaltung  auch  der  Kredit  der  Gewerk- 
vereine nicht  nur  nach  aussen,  sondern  auch  bei  ihren 
Mitgliedern  leiden  muss,  kann  nicht  zweifelhaft  erscheinen. 

Die  Wichtigkeit  der  Korporationsfrage  gerade  für  die 
Berufsvereine  hat  zu  der  sich  auch  sonst  aufdrängenden 
Idee  der  Erlassung  eines  Spezialgesetzes  für  diese  V ereine 
nach  dem  Muster  des  französischen  loi  sur  les  syndicats 
professionnels  vom  21.  März  1884  geführt.  In  der  vorigen 
Reichstagssession  brachte  der  Abgeordnete  Max  Hirsch 
einen  Gesetzentwurf,  betreffend  die  eingetragenen  Berufs- 
vereine ein,  wonach  Vereinigungen  von  nicht  geschlossener 
Mitgliederzahl,  welche  die  Förderung  der  Berufsinteressen 
und  gegenseitige  Unterstützung  ihrer  Mitglieder  bezwecken, 
durch  Eintragung  in  ein  Register  beim  zuständigen  Gerichte 
die  Körperschaftsrechte  erlangen'  können,  und  im  Jahre  1890 
vertrat  Brentano  im  Verein  für  Sozialpolitik  unter  Zu- 
stimmung dieses  Vereins  einen  ähnlichen  Gedanken. 

Einen  kleinen  Schritt  nach  vorwärts  that  die  Frage 
durch  einen  Beschluss  der  gegenwärtig  tagenden  Kommission 
für  die  zweite  Lesung  des  Entwurfs  des  bürgerlichen  Gesetz- 
buches. Die  Kommission  hatte  sich  schon  vorher  mit  dem 
preussischen  Staatsministerium  in  Verbindung  gesetzt,  um 
Anhaltspunkte  darüber  zu  gewinnen,  wie  sich  die  preussische 
Regierung  zu  dem  im  Schosse  der  Kommission  laut  ge- 
wordenen Wunsche  nach  reichsrechtlicher  Regelung  der . 
Frage  des  Erwerbs  des  Korporationsrechts  stelle.  Leider 
wardas  Ergebniss  ein  negatives.  Die  preussische  Regierung  ! 
hielt  an  dem  schon  in  den  Bemerkungen  des  preussischen 
Justizministers  zum  Entwürfe  dargelegten  Standpunkte  lest, 
dass  „aus  den  mit  der  Lage  des  öffentlichen  Vereinsrechts 
zusammenhängenden  politischen  Gründen  eine  reichsrecht- 
liche Regelung  des  Erwerbs  und  Verlusts  der  privatrecht- 
lichen Rechtsfähigkeit  von  Vereinen  nicht  angängig  sei.“ 
Die  Kommission  kam  zu  nachstehenden  Beschlüssen:1' 

§ 41.  „Vereine  zu  gemeinnützigen,  wohlthätigen,' 
geselligen,  wissenschaftlichen,  künstlerischen  oder  anderen; 
nicht  auf  einen  wirthschaftlichen  Geschäftsbetrieb  ge- 
richteten Zwecken  erlangen  Rechtsfähigkeit  durch  Ein- 
tragung in  das  Vereinsregister  des  zuständigen  Amts- 
gerichts oder  durch  staatliche  A erleihung.“ 

§ 57  g.  „Die  Verwaltungsbehörde  kann  gegen  die  Ein- 
tragung Einspruch  erheben,  wenn  der  \ erein  nach  dem 
öffentlichen  Vereinsrecht  unerlaubt  ist  oder  verboten 
werden  kann,  oder  wenn  er  einen  politischen,  sozial- 
politischen oder  religiösen  Zweck  verfolgt. 

Wird  Einspruch  erhoben,  so  hat  das  Amtsgericht 
denselben  unter  Aussetzung  der  Eintragung  dem  Vor- 
stande mitzutheilen.  Der  Einspruch  kann  im  Wege  des 
Verwaltungsstreitverfahrens,  wo  ein  solches  nicht  besteht,! 
im  Wege  des  Rekurses  nach  Massgabe  der  §§  20,  21  der 
Gewerbeordnung  angefochten  werden.“ 

§ 48  i.  „Der  Verein  kann  aufgelöst  werden,  wenn 
er  durch  gesetzwidrige  Beschlüsse  der  Mitgliederversamm- 
lung oder  durch  gesetzwidriges  Verhalten  des  Vorstandes 
das  Gemeinwohl  gefährdet.“ 

In  den  sozialpolitischen  Vereinen  sind  nach  dem 
eigenen  Ausspruch  der  Kommission  die  Gewerkvereine  in- 
begriffen. _ . 

Man  wird  die  Besserung,  die  der  so  modifizirte  Ent- 
wurf gegenüber  den  gegenwärtig  herrschenden  Zuständen 


i)  Wir  folgen  hier  dem  Referate 
den  Jahrb.  f.  Nat  -Oek.  u.  Stat.  III.  F.  3. 


des  Assessors  Greift’  in 
Bd.  S.  543  ff. 


No.  26. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


321 


bringen  würde,  was  die  Gewerkvereine  anlangt,  nicht  als 
eine  bedeutende  bezeichnen  können.  Die  Verwaltungs- 
behörden werden  nach  wie  vor  die  Möglichkeit  besitzen, 
Arbeitervereine,  denen  sie  mit  der  Waffe  des  Vereinsrechts1) 
nicht  beikommen  können,  mit  der  Verweigerung  des  Kor- 
porationsrechts zu  benachtheiligen.  Nur  das  eine  wird  als 
Fortschritt  empfunden  werden,  dass  die  Behörden  ge- 
zwungen sein  werden,  bei  dem  Kampf  gegen  die 
Arbeitervereine  das  Visir  offen  zu  halten,  indem  sie  bei 
Einlegung  des  Einspruchs  eingestehen  müssen,  dass 
lediglich  „der  politische  oder  sozialpolitische  Zweck“ 
des  Vereins  die  Ursache  abgegeben.  Das  Referat  des 
Assessors  Greift  lässt  durchblicken,  dass  sich  die  Kom- 
mission selbst  gern  auf  den  wesentlich  freieren  Standpunkt 
ihrer  Minorität  gestellt  hätte,  dass  sie  aber  Bedenken  trug, 
die  Erreichung  des  Ziels  für  die  Nicht-Gewerkvereine  durch 
Ausserachtlassung  der  den  Gewerkvereinen  ungünstigen 
Stimmung  der  Regierungen  zu  gefährden;  man  müsse  sich 
auf  einen  Boden  stellen,  auf  dem  ein  Entgegenkommen  der 
Regierungen  zu  hoffen  sei.  Es  frägt  sich  freilich,  ob  es 
nicht  besser  wäre,  die  Wunde  bliebe  auch  in  der  nächsten 
Zeit  noch  offen,  als  dass  sie  schlecht  geheilt  wird.  Dass  es 
ein  vergebliches,  die  gegenwärtig  herrschende  Erbitterung 
der  Arbeiterklasse  nur  vermehrendes  Bemühen  ist,  sich  dem 
nach  grösserer  Vereinsfreiheit  gerichteten  mächtigen  Zug 
der  Zeit  entgegen  zu  stemmen,  darüber  sollte  man  sich 
doch  endlich  einmal  klar  sein.  Dass  aber  dieser  Drang 
durch  eine  Regelung,  wie  sie  die  Kommission  für  den  Ent- 
wurf eines  bürgerlichen  Gesetzbuches  empfiehlt,  nicht  zur 
Ruhe  kommen  wird,  dies  vorherzusehen  erfordert  keine  be- 
sondere prophetische  Begabung. 

Augsburg.  Arthur  Cohen. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  sozialpolitischen  Aufgaben  der  deutschen  Gemeinde- 
verwaltungen. 

Eine  Zeit  lang  hat  in  der  deutschen  Sozialgesetz- 
gebung das  Bestreben  vorgeherrscht,  sozialpolitische  Auf- 
gaben, an  deren  Lösung  man  sich  im  Grossen  nicht  wagte, 
den  Gemeindeverwaltungen  zur  Erledigung  zu  überlassen. 
So  stellte  es  die  frühere  Reichsgewerbeordnung  in  das 
Belieben  der  Gemeinden,  gewerbliche  Schiedsgerichte  zu 
errichten  oder  nicht.  Aber  die  Kommunalverwaltungen 
machten  von  dieser  Befugniss  keinen  sehr  reichlichen  Ge- 
brauch, so  dass  man  an  massgebender  Stelle  die  Noth- 
wendigkeit  einer  reichsgesetzlichen  Regelung  einsah,  das  in 
dieser  Zeitschrift  mehrfach  besprochene  Gesetz  vom  Jahre 
1891  erliess  und  damit  einen  Schritt  weiter  zur  Einführung  der 
Gewerbegerichte  über  den  Kopf  der  Gemeindeverwaltungen 
hinweg  that.  Auch  die  neueste  sozialpolitische  Praxis  liefert 
wieder  ein  Beispiel  von  der  bis  jetzt  noch  sehr  geringen  sozial- 
politischen Befähigung  der  Kommunalverwaltungen.  Von 
der  Möglichkeit,  die  Sonntagsruhe  für  das  Handelsgewerbe 
durch  Ortsstatut  unter  die  bekannten  reichsgesetzlichen 
5 Stunden  so  einzuschränken,  wie  es  die  Mehrzahl  der 
Interessenten  in  den  grossen  Städten  wünscht,  hat  nur  eine 
ganz  kleine  Zahl  von  Verwaltungen  grösserer  Städte  Ge- 
brauch gemacht;  rühmlich  sind  besonders  süddeutsche 
Kommunalverwaltungen,  wie  Frankfurt  a.  M.,  Stuttgart  und 
Augsburg  zu  nennen.  Im  Uebrigen  entsprach  die  kommu- 

')  Nach  den  Beschlüssen  der  Kommission  soll  das  „Ver- 
einsrecht“ durch  das  bürgerliche  Gesetzbuch  nicht  berührt 

| werden. 

I 


nale  Thätigkeit  auf  diesem  Gebiete  nicht  den  Erwartungen, 
die  man  im  Reichstag  auf  sie  setzen  zu  dürfen  glaubte. 
Weitere  Beispiele  dafür,  dass  in  den  Kommunal  Verwaltungen 
namentlich  der  grossen  Städte  Norddeutschlands  eine  ge- 
wisse Schwerfälligkeit  sozialpolitischen  Aufgaben  gegenüber 
herrscht,  Hessen  sich  aus  der  kommunalen  Praxis  von  Berlin, 
Hamburg,  Bremen  u.  s.  w.  in  grosser  Anzahl  beibringen. 
Das  ist  jedoch  nicht  der  Zweck  dieser  Zeilen.  Dieselben 
sollen  vielmehr  einen  lehrreichen  Vorgang  der  allgemeinen 
Beachtung  empfehlen,  der  sich  kürzlich  in  der  Praxis  einer 
süddeutschen  Gemeindeverwaltung  abspielte  und  meines 
Erachtens  den  Weg  anzeigt,  auf  welchem  zu  einer  Besse- 
rung der  nicht  gerade  sehr  erquicklichen  bisherigen  Ver- 
hältnisse gelangt  werden  kann. 

Am  2.  Juni  d.  J.  hatte  das  Mitglied  des  Bürgeraus- 
schusses Kloss  in  Stuttgart  bei  den  bürgerlichen  Kollegien 
dieser  Stadt  folgenden  Antrag  gestellt: 

„Die  bürgerlichen  Kollegien  wollen  beschliessen , dass 
„1.  den  bei  der  Stadtverwaltung  beschäftigten  Arbeitern,  soweit 
dieselben  nicht  mit  fortlaufendem  Taggeld  angestellt  oder  nur 
vorübergehend,  für  weniger  als  eine  Woche  aushilfsweise  be- 
schäftigt werden,  für  jede  Woche,  auch  wenn  arbeitsfreie  Fest- 
oder Feiertage  in  dieselbe  fallen,  der  volle  Lohn  für  6 Tage 
gezahlt  wird ; 2.  mit  Rücksicht  auf  die  allgemeine  Theuerung 
der  Arbeitslohn  für  alle  städtischen  Arbeiter  mit  Wirkung  vom 
1.  Juli  1892  ab  um  5 bis  lOpCt.  erhöht  wird;  3.  die  regelmässige 
Arbeitszeit  für  alle  städtischen  Arbeiter  auf  täglich  10  Stunden 
festgesetzt  wird,  sowie  dass  Ueberstunden,  wenn  solche  unver- 
meidlich sind,  mit  um  20  pCt.  erhöhtem  Stundenlohn  vergütet 
werden;  Arbeiter,  welche  seither  nach  Arbeitsstunden  ausgelohnt 
wurden,  erhalten,  sofern  die  Arbeitszeit  seither  10  Stunden  über- 
stieg, für  den  lOstündigen  Arbeitstag  den  gleichen  Lohnsatz 
wie  seither  für  11  Stunden  unter  Hinzurechnung  des  auf  ihre 
Lohnklasse  entfallenden  prozentualen  Aufschlages;  4.  städtische 
Arbeiten  nur  an  solche  Unternehmer  vergeben  werden  dürfen, 
welche  sich  verpflichten,  bei  Ausführung  dieser  Arbeiten  die 
lOstündige  Arbeitszeit  ebenfalls  einzuhalten,  sowie  dass  die 
städtischen  Aufsichtsbeamten  angewiesen  werden,  die  Einhaltung 
dieser  Vertragsbestimmung  zu  überwachen.“  Diese  Anträge 
wurden  an  die  Bauabtheilung  zur  Vorberathung  für  die  ge- 
meinschaftliche Sitzung  der  Kollegien  verwiesen.  Die  Bau- 
abtheilung aber  erstattete  durch  Stadtbaurath  Kölle  in  der 
Sitzung  des  Gemeinderathes  vom  15.  Juni  d.  J.  ihr  Referat.  In 
demselben  ist  ausgeführt,  dass  nach  der  für  die  verschiedenen 
Zweige  der  städtischen  Verwaltung  aufgestellten  Lohnstatistik 
im  Ganzen  541  Arbeiter  in  Betracht  kommen,  wenn  von  den- 
jenigen Arbeitern  und  Vorarbeitern  abgesehen  werde,  welche 
entweder  einen  Jahresgehalt  oder  ein  fortlaufendes  Taggeld  be- 
ziehen. Die  angestellten  Berechnungen  über  den  Aufwand,  wel- 
cher sich  nach  dem  Anträge  Kloss  ergeben  würde,  hätten 
gezeigt,  dass  im  Ganzen  78  000  M.  Mehrkosten  entstehen 
würden  Es  würde  also  eine  Erhöhung  des  Aufwands  um  etwa 
16  pCt.  der  ganzen  seitherigen  Summe  eintreten.  Zu  Ziffer  1 
des  Antrages  wurde  bemerkt:  die  Bezahlung  eines  fortlaufenden 
Taglohnes  in  der  Woche  für  arbeitsfreie  Fest-  oder  Feiertage 
widerspreche  vollständig  dem  seither  bei  der  städtischen  Bau- 
verwaltung sowohl  als  bei  den  Privatbauunternehmern  einge- 
führten Zahlungsmodus.  Die  Aenderung  müsste  nothwendiger- 
weise  auch  aut  etwaige  Regentage  ausgedehnt  werden.  Dann 
würde  aber  die  Verwaltung  an  solchen  Tagen  die 
Arbeiter  nicht  mehr  in  der  Hand  haben,  wenn  die- 
selben wissen,  dass  sie  auch  ohne  Arbeitsleistung 
ihren  vollen  Lohn  bekommen.  (!)  Im  Interesse  der  Aui- 
rechterhaltung  der  Ordnung  schon  (!)  sei  daher  dieser  Punkt 
des  Antrages  als  undurchführbar  zu  bezeichnen.  Zu  Ziffer  2 
wird  ausgeführt,  dass  bei  der  Mehrzahl  der  städtischen  Arbeiter 
in  den  letzten  Jahren  Lohnerhöhungen  stattgefunden  haben  und 
zwar:  bei  der  Strassenbauinspektion  im  Frühjahr  1890  um  10  Pf. 
oder  rund  4 pCt.  pro  Arbeitstag,  im  Frühjahr  1891  um  20  Pf. 
oder  rund  8 pCt.,  zusammen  also  um  12  pCt. ; bei  der  Kanal- 
bauinspektion im  April  d.  J um  10  Pf.  oder  rund  4 pCt.  pro 
Arbeitstag;  beim  Hochbauamt  im  März  v.J.  um  10  Pf.  oder  rund 
4 pCt.  pro  Arbeitstag.  Im  Allgemeinen  sei  zu  sagen,  dass  die 
städtischen  Arbeiter  den  ortsüblichen  Taglohn  erhalten  und  dass 
insbesondere  die  bei  der  Kanalbauinspektion,  beim  Strassen- 
reinigungsamt,  bei  der  Latrineninspektion  und  beim  Bauamt  der 
städtischen  Wasserwerke  verwendeten  Arbeiter  sehr  gut  bezahlt 
seien.  Sodann  sei  zu  berücksichtigen,  dass  der  Dienst  bei  der 
Stadt  ein  ungleich  leichterer  sei,  als  bei  Privatunternehmern 
und  dass  die  städtische  Verwaltung  vielfach  als  Ver- 
sorg ungsanstalt  für  minder  kräftige  und  weniger 
tüchtige,  zum  Theil  alte  und  gebrechliche  Leute  zu 
dienen  habe.  (!)  Aus  diesen  Gründen  und  Angesichts  des 
Umstandes,  dass  die  vorgeschlagene  Lohnerhöhung  einen  Auf- 
wand von  rund  40  000  M.  erfordern  würde,  hält  Stadtbaurath 
Kölle  die  von  Herrn  Kloss  in  Ziffer  2 beantragte  Lohnerhöhung 
nicht  für  angezeigt.  Zu  Punkt  3 des  Antrages,  die  Reduktion 
der  täglichen  Arbeitszeit  betreffend,  wird  bemerkt,  dass  zwar 
das  Hochbauamt  und  das  Bauamt  der  städtischen  Wasserwerke 


322 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  26. 


nur  eine  lOstündige  Arbeitszeit  haben,  dass  aber  beim  Tief- 
bauamt von  der  bisher  üblichen  1 1 s fündigen  Arbeits- 
zeit nicht  abgegangen  werden  könne,  einmal,  weil 
der  Geschäftsbetrieb  beim  Tiefbauamt  diese  Dauer  der  Ar- 
beitszeit erheische  und  dann,  weil  es  bedenklich  wäre, 
von  der  ortsüblichen  Arlpeitszeit  abzugehen.  (!)  Ls 
sei  sehr  zu  berücksichtigen,  dass  im  Sommer  die  Haupt- 
geschäfte und  die  Bauausführungen  zu  vollziehen  seien  und 
dass  im  Winter  die  Arbeitszeit  bis  auf  7 Stunden  des  Tages 
in  Folge  der  Tageskürze  zurückgehe.  Trotzdem  unterscheide 
sich  der  Winterlohn  seither  vom  Sommerlohn  nur  sehr  wenig, 
im  Maximum  um  20  Pf.  pro  Tag.  Es  wäre  jedenfalls  an  der 
llstündigen  Arbeitszeit  testzuhalten  und  müsste  dann  lisch 
dem  Antrag  Kloss  die  11.  Stunde  als  U «Überstunde  mit  Auf- 
schla°*  vergütet  werden.  Thatsächlich  würde  nach  den  beim 
Tiefbauamt  gemachten  Erfahrungen  eine  durchschnittliche 
Arbeitszeit  von  10  Stunden  pro  Tag  nicht  überschritten  werden, 
denn  es  betrage  an  etwa  30  Tagen  die  Arbeitszeit  im  Winter 
8 Stunden,  an  etwa  60  Tagen  im  Winter  9 Stunden,  an  etwa 
90  Tagei  im  Frühjahr  und  Herbst  10  Stunden  und  an  etwa 
120  Tagen  im  Sommer  11  Stunden.  Stadtbaurath  Kölle  würde 
es,  um  allen  Ungleichheiten  und  Differenzen  vorzubeugen,  für 
das  Beste  halten,  nach  den  Arbeitsstunden  auszu- 
bezahlen, wie  dies  zur  Zeit  schon  bei  verschiedenen  Privat- 
Unternehmern  eingeführt  sei  und  bei  denselben  sich  als  prak- 
tisch  bewährt  habe.  Wenn  man  dann  den  seitherigen  Sommer- 
lohn (für  eine  llstündige  Arbeitszeit'  für  eine  lOstündige 
Arbeitszeit  der  Berechnung  des  Stundenlohnes  zu  Grunde  lege, 
so  würde  man  eine  thatsächliche  Aufbesserung  im  Jahresver- 
dienst um  ca.  3—5  pCt.  erhalten.  Der  Mehraufwand  bei  der 
Bauverwaltung  wäre  etwa  10  000  M.  Zu  Ziffer  4 des  Antrages 
wird  bemerkt,  dass  auch  bei  Vergebung  der  städtischen  Arbeiten 
im  Akkord  die  angeregte  Verpflichtung  auf  10  stündige  Ar- 
beitszeit den  Bauunternehmern  aufzuerlegen,  entspreche  ein- 
mal nicht  den  bisherigen  Bedingungen,  sodann  sei  es  als 
eine  allzuweitgehende  Einmischung  in  deren  Dispo- 
sitionen anzusehen  und  erscheine  umsoweniger  durchführbar, 
als  diese  Unternehmer  sich  bei  ihren  anderen  Privatarbeiten 
unter  Umständen  einer  längeren  Arbeitszeit  bedienen,  auch  sei 
im  Interesse  der  rascheren  Abwickelung  der  städti- 
schen Bauarbeiten  eine  Verkürzung  der  Arbeitszeit  keines- 
wegs zu  wünschen.  (!)  Stadtbaurath  Kölle  glaubt  sonach, 
dass  unter  den  obwaltenden  Umständen  dem  Anträge  Kloss 
eine  Folge  nicht  gegeben  werden  könne.  Wenn  man  etwas 
thun  wolle,  so  könnte  man  etwa  die  vorgeschlagene  Stunden- 
löhnung, welche  mit  der  Zeit  bei  der  städtischen  Verwaltung 
ja  doch  eingeführt  werden  müsse,  in  Anwendung  bringen. 

Soweit  das  amtliche  Referat  über  den  Antrag,  das  ich 
ausführlicher  wiedergegeben  habe,  weil  es  einen  sehr  lehr- 
reichen Einblick  nicht  blos  in  den  Regiebetrieb  einer  deut- 
schen Mittelstadt,  sondern  auch  in  die  Grundsätze  erlaubt, 
nach  welchen  dieser  kommunale  Betrieb  gegenwärtig  ver- 
waltet wird.  Dass  diese  Grundsätze  rein  privatkapitalistische 
sind,  erhellt  auf  den  ersten  Blick.  Noch  lehrreicher  ge- 
staltete sich  aber  die  Debatte  über  Antrag  und  Referat  im 
Gemeinderathe.  Auf  formelle  Bedenken,  die  wegen  der 
bereits  abgeschlossenen  Aufstellung  des  Gemeindeetats 
und  wegen  der  schon  auf  3 Jahre  erfolgten  Vergebung  der 
städtischen  Hochbauarbeiten  an  Unternehmer  erhoben  wur- 
den, soll  hier  nicht  näher  eingegangen  werden.  Bezüglich 
der  Nothwendigkeit  der  im  Antrag  Kloss  verlangten  Lohn- 
erhöhung tappte  man  allseitig  im  Dunkeln.  Denn  Niemand 
konnte  mit  positivem  Material  in  der  Hand  nach- 
weisen  oder  bestreiten,  dass  den  städtischen  Arbeitern  zur 
Hebung  ihres  Standard  of  life  die  Erhöhung  nothwendig 
sei.  Es  fehlte  auf  der  einen  Seite  nicht  an  Stimmen,  die 
der  Erhöhung,  wenn  sie  nothwendig  sei,  sympathisch 
gegenüberstanden  und  die  versicherten,  dass  der  Kosten- 
punkt nicht  ausschlaggebend  für  sie  sein  werde.  Auf  der 
anderen  Seite  operirte  man,  wie  das  Referat  der  Bauabthei- 
lung, mit  den  schon  erfolgten  Lohnerhöhungen,  die  doch 
nur  beweisen,  dass  der  Lohn  früher  noch  schlechter  war, 
oder  mit  der  „Zufriedenheit11  der  Arbeiter,  mit  der  freilich 
die  Gemeinderäthe  geringe  Fühlung  haben  dürften.  Inter- 
essant war  nur  die  Angabe,  dass  unter  den  541  städtischen 
Arbeitern  etwa  200  ältere  Leute  seien,  die  man  arbeiten 
lasse,  um  sie  zu  versorgen,  die  man  aber  nicht  mehr  be- 
schäftigen könne,  wenn  höherer  Lohn  eingetührt  würde, 
weil  dann  ihre  Leistungen  zu  gering  seien.  Für  die  in 
Frage  stehende  Angelegenheit  scheint  uns  dieses  Argument 
weniger  wichtig  zu  sein,  als  für  eine  Charakteristik  des 
jetzigen  Versorgungswesens  für  alle  Arbeiter;  das- 
selbe scheint  recht  im  Argen  zu  liegen,  wenn  alte,  invalide 
Leute  noch  in  diesem  Maasse  angespannt  werden  müssen, 


damit  sie  nicht  dem  Elend  anheim  fallen.  Der  vom  Bauamt 
vorgeschlagenen  technischen.  Vervollkommnung  nur  nach 
Stunden  zu  zahlen,  stimmte  man  allgemein  zu.  Die  grund- 
sätzlich wichtigste  Feststellung  der  Diskussion  war  aber 
folgende:  man  gestand  allgemein  zu,  dass  man  keine  Füh- 
lung mit  den  städtischen  Arbeitern  habe.  Der  Vor- 
sitzende wollte  deshalb  „einzelne  bessere  Arbeiter  über 
ihre  Wünsche  gehört“  haben;  er  erwähnte  später,  dass  dies 
vielleicht  die  Vorstandsmitglieder  der  von  der  Stadt 
für  ihre  Arbeiter  einzurichtenden  Betriebskrankenkasse 
sein  könnten.  Anderen  Mitgliedern  der  Verwaltung  ge- 
nügte dies  nicht;  schliesslich  wurde  ein  Antrag,  welcher 
auf  die  Errichtung  eines  Ausschusses  der  städtischen 
Arbeiter  ging  und  mit  welchem  sich  die  Verwaltung  in 
solchen  Angelegenheiten  ins  Vernehmen  setzen  soll,  der 
Bauabtheilung  „zur  Erwägung“  überwiesen.  Das  positive 
Ergebniss  der  Verhandlungen  war  also  ziemlich  mager. 

Die  symptomatische  Bedeutung  der  Berathung  in  Stutt- 
gart reicht  jedoch  weit  über  das  erzielte  Ergebniss  und  den 
lokalen  Wirkungskreis  des  süddeutschen  Gemeinderathes 
hinaus.  Sie  geht  meines  Erachtens  dahin,  dass  der  Apparat 
der  heutigen  Gemeindeverwaltung  in  Deutschland  dringend 
einer  Ergänzung  bedarf,  wenn  die  Kommunen  anders  ihren 
wachsenden  sozialen  Aufgaben  besser  als  bisher  gerecht 
werden  sollen.  Eine  Zeit  lang  hat  man  in  der  Gemeinde- 
und  Selbstverwaltung  sehr  geringschätzig  von  der  Bureau- 
kratie  im  Staate  gesprochen.  Jetzt  macht  sich  dieselbe 
Bureaukratie  vielfach  in  Gemeindeangelegenheiten  be- 
merkbar, wenn  es  sich  um  neue  sozialpolitische  Aufgaben 
handelt.  Ich  sehe  hier  ganz  davon  ab,  auf  die  materielle 
Berechtigung  oder  Nichtberechtigung  solcher  Anträge,  wie 
des  Kloss’schen  für  Stuttgart,  einzugehen.  Das  würde  die 
Frage  nur  verwirren.  Es  handelt  sich  hier  zunächst  nur 
darum,  dass  bei  den  meisten  Kommunalverwaltungen  über- 
haupt noch  kein  Spezial-Organ  geschaffen  ist,  welches 
sozialpolitische  Gemeindeangelegenheiten  sachverständig 
und  berufsmässig  behandelt.  Die  Bauabtheilung  (der  man 
z.  B.  auch  in  Wiesbaden  die  Vorberathung  der  Sonntags- 
ruhe für  das  Handelsgewerbe  zuwies!)  ist  sicher  nicht  die 
richtige  Stelle,  und  ad  hoc  zusammengewürfelte  Kommis- 
sionen, von  denen  aus  Anlass  der  städtischen  Berathungen 
über  Sonntagsruhe  ebenfalls  merkwürdige  Dinge  erzählt 
werden  könnten,  sind  es  auch  nicht.  Hie  und  da  stehen 
wohl  besser  befähigte  und  geschulte  Einzelreferenten  aus 
der  Reihe  der  Magistrats-  oder  Gemeindebeamten  zur  Ver- 
fügung; aber  sie  können  die  sozialpolitischen  Geschäfte  nur 
im  Nebenamt  besorgen,  weder  zum  Vortheil  der  Sache  noch 
zu  ihrer  eigenen  Befriedigung.  Es  drängt  sich  mit  andern 
Worten  die  Nothwendigkeit  auf,  dass  die  grösseren  Städte 
an  die  Errichtung  eigener  sozialpolitischer  Aemter 
gehen,  die  in  passende  Verbindung  mit  dem  statistischen 
Amte  der  Stadt  sowie  mit  einer  städtischen  Arbeiterver- 
tretung zu  bringen  wären;  letztere  lässt  sich  vielleicht  aus 
den  Arbeiterbeisitzern  der  gewerblichen  Schiedsgerichte 
schaffen,  da  diese  Gerichte  nach  dem  neuen  Gesetz  ohne- 
dies von  den  Städten  zu  begutachtenden  Behörden  gemacht 
werden  können.  Die  Stadt  Cöln  ist  vor  einiger  Zeit  nach 
Blätternachrichten  an  die  Errichtung  eines  solchen  Amtes 
gegangen;  über  die  Ausgestaltung  des  Planes  ist  mir  jedoch 
nichts  Näheres  bekannt  geworden.  Hier  handelt  es  _ sich 
auch  nicht  darum,  die  Einzelheiten  festzustellen,  die  sicher 
mancher  Modifikation  fähig  sind.  Es  sollte  nur  auf  das 
dringende  Bedürfniss  hingewiesen  werden,  das  in  dieser 
Beziehung  vorliegt  und  nach  dessen  Befriedigung  nicht  nur 
die  V orarbeiten  für  sozialpolitische  Entschliessungen  der 
Gemeindeverwaltungen  sachgemässer  und  gründlicher  er- 
ledigt werden  würden,  als  dies  z.  B.  beim  Antrag  Kloss  in 
Stuttgart  der  Fall  war,  sondern  auch  die  Initiative  der  Stadt- 
pehörden  selber  geweckt  und  in  die  richtigen  Bahnen  ge- 
eitet  werden  dürfte.  Die  Reform  des  Gemeindewahlrechts 
cann  hier  nicht  behandelt  werden;  sie  bildet  auch  ein  Stück 
les  Problems.  Die  Errichtung  sozialpolitischer  Aemter  in 
len  Städten  würde  aber  sicher  auch  die  staatliche  Sozial- 
politik von  unten  her  auffrischen  und  verjüngen. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


No.  26. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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Ergebnisse  einer  landwirtschaftlichen  Berufsstatistik 
für  Belgien.  Nach  den  jetzt  veröffentlichten  Ergebnissen  der 
amtlichen  Zählung  von  1890  sind  in  der  Landwirtschaft  Belgiens 
insgesammt  1 199319  Personen  beschäftigt,  darunter  982  124  Fa- 
milienmitglieder und  217  195  landwirtschaftliche  Arbeiter  und 
Arbeiterinnen;  21 ,77  "/o  ‘1er  Bevölkerung  widmen  sich  der  Land- 
wirtschaft. Der  durchschnittliche  Lolin  beträgt  für  männliche 
Arbeiter  ohne  Ernährung  2,40  Francs,  mit  Ernährung  1,25  Francs, 
und  für  die  Arbeiterinnen  ohne  Ernährung  1,21  Francs,  mit  Er- 
nährung 0,71  Francs.  Auf  6 472  845  in  den  Kataster  eingetragene 
Parzellen  kommen  910396  landwirtschaftliche  Betriebe,  von 
denen  472  471  ein  halbes  Hektar  und  weniger  Ausdehnung  hatten. 
Der  Gesammtwerth  der  landwirtschaftlichen  Produktion  ist  auf 
1650  976  374  Fr.  abgeschätzt.  Belgien  hat  378  457  Hektar  Heide, 
Baumschulen,  Obstgärten  und  489  423  Hektar  Wald. 


Arbeiterzustände. 


Die  Grubenkatastrophe  in  Przibram. 

Der  am  31.  Mai  kurz  nach  Beginn  der  Mittagsschicht 
im  Przibramer  Bergwerke  ausgebrochene  Brand  hat  eine 
reiche  Ernte  gehalten.  Von  den  eingefahrenen  807  Mann 
vermochten  nur  488  sich  zu  retten,  319  fanden  den  Er- 
stickungstod. 287  Wittwen,  678  Kinder  unter  14  Jahren 
und  64  Kinder  zwischen  14 — 16  Jahren  trauern  um  ihre 
Ernährer. 

Die  unmittelbare  Ursache  der  schrecklichen  Katastrophe 
scheint  nunmehr  festzustehen:  es  ist  ein  durch  Nachlässig- 
keit hervorgerufener  Brand  der  Zimmerung,  die  gefiirch- 
tetste  Art  der  Grubenbrände.  Ein  Bergmann,  der  seiner 
Strafe  entgegensieht,  hat  vor  der  Ausfahrt  nach  Schluss 
der  Morgenschicht  bei  Auswechslung  des  Dochtes  seiner 
Petroleumlampe  den  noch  brennenden  Rest  des  alten  Doch- 
tes in  eine  Bretterverschalung  vor  dem  Füllorte  des  29.  Ho- 
rizontes des  Mariaschachtes  geworfen  und  dadurch  das 
Zimmerwerk  in  Brand  gesetzt. 

Nebst  der  unmittelbaren  Veranlassung  scheint  es  aber 
noch  eine  Reihe  von  mittelbaren  Ursachen  gegeben  zu 
haben,  durch  welche  die  Katastrophe  so  riesige  Dimensionen 
annehmen  konnte.  Insbesondere  die  Rettungsmassregeln 
sollen  Mancherlei  zu  wünschen  übrig  gelassen  haben. 

Es  ist  bekannt,  dass  Przibram  die  tiefsten  Schächte 
der  Welt  besitzt.  Insbesondere  die  hier  in  Betracht  kom- 
menden reichen  über  1000  Meter  unter  Tage,  der  Maria- 
schacht, in  welchem  der  Brand  zum  Ausbruch  kam,  hat 
eine  Tiefe  von  1110  Metern.  Böse  Wetter  kommen  in  den 
Gruben  nur  selten  vor.  Das  hat  dazu  geführt,  dass  bis 
heute  offene  Petroleumlampen  statt  der  Sicherheits-  oder 
Wetterlampen  in  ausschliesslicher  Verwendung  stehen.  Bei 
den  ersteren  ist  die  Versuchung  sie  zu  öffnen,  unvorsichtig 
zu  hantiren  u.  dergl.  zweifellos  eine  grössere,  als  bei  den 
letzteren.  Gewiss  entsprechen  die  bis  jetzt  konstruirten 
Sicherheitslampen  noch  immer  nicht  allen  an  sie  zu  stel- 
lenden Anforderungen ; dass  sie  aber  den  offenen  Petroleum- 
lampen vorzuziehen  sind,  wird  kaum  bezweifelt. 

Die  tieferen  Regionen  der  Przibramer  Schächte  sind 
sehr  trocken,  was  eine  Folge  der  höheren  Temperatur  und 
des  geringen  Wasserandranges  ist.  Ob  es  da  angemessen 
war,  bei  den  alten  Zimmerungsmethoden  zu  verbleiben  und 
Nahrung  für  jeden  zufälligen  Funken  zu  schaffen,  möchte 
man  sehr  bezweifeln.  Es  giebt  heute  Gruben  genug,  welche 
die  Holzverkleidung  durch  Ausmauerung  oder  durch  Ausbau 
in  Eisen  ersetzt  haben.  Wenn  irgendwo,  so  mussten  in 
Schächten  von  solcher  Tiefe,  wie  die  Przibramer,  die  bei 
einem  Brande  unter  allen  Umständen  die  Bergleute  gefähr- 
den, die  weitgehendsten  Vorsichtsmassregeln  getroffen  wer- 
den, und  zu  solchen  scheint  uns  insbesondere  die  Ersetzung 
der  Holzverkleidung  durch  Ausmauerung  zu  gehören. 

Nach  Mittheilungen,  die  in  die  Oeffentlichkeit  gedrun- 
gen sind,  sollen  auch  die  Einrichtungen  zur  Förderung  der 
Arbeiter  keineswegs  der  Grösse  des  Bergwerkes  und  der 
Natur  des  Betriebes  entsprechen.  Die  Aufzüge  sollen  „von 


vorweltlicher  Konstruktion  sein,  wie  sie  selbst  beim  primi- 
tivsten Bergbau  in  der  Neuzeit  nirgends  Verwendung  finden“. 
Die  Richtigkeit  dieser  Behauptung  vermöchte  man  nur  an 
Ort  und  Stelle  zu  prüfen.  Was  aber  unter  allen  Umständen 
ebenso  primitiv  als  verderblich  erscheint,  sind  die  sonder- 
baren Signalvorschriften  für  die  unter  Tage  beschäftigten 
Personen.  Raschheit  sollte  man  hier  in  erster  Reihe  vor- 
aussetzen dürfen.  Statt  dessen  findet  man,  dass  das  Zeichen 
in  so  vielen  Glockenschlägen  besteht,  als  der  Nummer  des 
Laufes  entspricht.  Wer  sich  im  30.  Horizonte  befindet, 
muss  30  Mal  die  Glocke  ziehen,  wenn  er  zu  Tage  gefördert 
werden  will.  Das  mag  in  gewöhnlichen  Zeitläufen  genügen, 
aber  in  Momenten  der  Gefahr,  wo  schnelles  Handeln  noth- 
wendig  ist,  jede  Sekunde  Zögerung  über  Tod  und  Leben 
entscheidet,  kann  eine  so  ursprünglich  gemüthliche  Kom- 
munikation mit  der  Aussenwelt  viel  Verderben  herauf- 
beschwören. 

Dazu  kommt  noch,  dass  keinerlei  Möglichkeit  besteht, 
von  Aussen  rasch  und  zuverlässig  die  Arbeiter  von  dem 
Vorhandensein  einer  Gefahr  zu  verständigen.  Aus  den  Er- 
zählungen der  geretteten  Bergleute  ergiebt  sich,  dass  viele 
Personen  ganz  ruhig  in  einem  Zeitpunkte  ihrer  Arbeit  ob- 
lagen, als  die  Gefahr  schon  aufs  Höchste  gestiegen  war. 
Es  liegt  wohl  nicht  ausserhalb  des  Bereiches  der  Möglich- 
keit, solche  Vorrichtungen  zu  treffen,  welche  eine  bessere 
Kommunikation  zwischen  Grube  und  Aussenwelt  ermög- 
lichen. 

Am  meisten  Anwürfe  werden  gegen  die  Art  der  Rettungs- 
aktion erhoben.  Nicht  als  ob  der  persönliche  Muth  der 
Beamten  in  Frage  käme.  Aber  jene  Geistesgegenwart,  jene 
Beherrschung  der  Verhältnisse  soll  gefehlt  haben,  die  gerade 
bei  plötzlichen  Unglücksfällen  noth wendig  ist,  ohne  welche 
man  der  Elemente  nicht  Herr  zu  werden  vermag.  In 
einem  Schreiben,  das  aus  Arbeiterkreisen  stammt,  wird 
darüber  gesagt: 

„Eine  Gefahr  für  die  Bergleute  bestand  jedoch  zu 
dieser  Zeit  noch  nicht,  weil  der  Rauch  durch  den  Luft- 
schacht abzog  und  sich  nicht  in  die  Quergänge  verbreitete. 
Erst  als  die  Bergverwaltung  von  dem  Feuer  Kenntniss  er- 
hielt und  grosse  Wassermassen  in  den  Schacht  hinabwerfen 
liess,  wurde  dem  Rauche  der  Abzug  nach  Oben  abge- 
schnitten und  der  zurückgetriebene  Qualm  erfüllte  nun  die 
Seitenschächte,  wodurch  dann  erst  die  eminente  Gefahr  für 
die  eingefahrenen  Bergleute  heraufbeschworen  wurde.“ 

Diese  Darstellung  scheint  grosse  Wahrscheinlichkeit 
für  sich  in  Anspruch  nehmen  zu  dürfen.  Man  muss  nur 
die  Sachlage  in  Betracht  ziehen.  Der  Brand  entstand  in 
einem  sogenannten  ausziehenden  Schachte,  aus  welchem 
die  Luft,  die  durch  die  einziehenden  Schächte  hineinge- 
langt, wieder  abströmt.  Naturgemäss  musste  das  Feuer  die 
erwärmte  Luft  in  stärkerem  Masse  hinaustreiben  und  den 
Rauch  mit  sich  führen.  Gelang  es  aber  die  einziehenden 
Schächte  einige  Zeit  rauchfrei  zu  erhalten,  so  war  die 
Rettung  aller  oder  der  meisten  Arbeiter  möglich.  Diese 
Auffassung  wurde  in  einem  Vortrage  über  die  Katastrophe 
auch  von  Professor  Posepny  vertreten.  Er  äusserte  sich 
nach  Mittheilungen  der  Tagesblätter: 

„Wie  ich  mir  die  Sache  vorstelle,  so  hätte,  wenn  eine 
Verständigung  mit  den  in  der  Grube  befindlichen  Personen 
möglich  gewesen  wäre,  der  Austritt  der  Brandgase  auf  die 
Schächte  mit  ausziehendem  Luftstrom  beschränkt  werden 
können.  Im  Mariaschachte  war  der  Luftstrom  ohnedies 
aufsteigend,  welche  Aufwärtsbewegung  in  Folge  der  Er- 
wärmung der  Luft  durch  den  Brand  nur  befördert  wurde. 
Ja,  vielleicht  hätten  eingehängte  sogenannte  Feuerkübel 
oder  Feuerkörbe,  von  denen  ich  nicht  weiss,  ob  sie  vor- 
handen waren,  die  Schnelligkeit  der  Aufwärtsbewegung  der 
Gase  unterstützen  können,  wenigstens  bis  zu  dem  Momente, 
da  die  Mannschaft  ausgefahren  worden  wäre,  was  ganz  ge- 
wiss um  8 Uhr  Abends  erfolgen  musste.  ...  In  der  ersten 
Zeit  des  Brandes  pflegt  die  Kohlensäure  durch  das  Kohlen- 
oxydgas mitgerissen  zu  werden  und  erst  bei  längerer 
Stagnation  des  Luftzuges  sondert  sich  dieselbe  als  spezifisch 
schwerer  ab  und  senkt  sich  in  die  tiefen  Räume.  In  der 
ersten  Zeit  wäre  somit  die  Hauptaufgabe  gewesen,  den 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  26. 


Brandgasen  einen  Ausweg  zu  verschaffen  und  dieselben 
am  Eindringen  in  die  benachbarten  Grubenräume  zu  ver- 
hindern, was  vielleicht  durch  die  Verstärkung  des  Zuges 
an  den  Schächten  mit  ausziehender  Luft,  also  am  Maria- 
und  Prokopischachte  möglich  gewesen  wäre.“ 

So  vorsichtig  Professor  Posepny  sich  äussert,  es  ist 
doch  zu  erkennen,  dass  er  zu  einem  ähnlichen  Resultate 
gelangt,  wie  der  aus  den  Kreisen  der  Arbeiter  herrührende 
Brief.  Die  Rathlosigkeit  scheint  also  zu  der  verkehrtesten 
Massregel,  zum  Hinunterwerfen  der  Wassermassen  in  den 
brennenden  Mariaschacht  geführt  zu  haben.  Der  Rauch 
wurde  so  am  Austritt  gehindert,  er  suchte  einen  Ausweg 
und  drang  in  die  einziehenden  Schächte,  den  Anna-, 
Adalbert-  und  Franz  Josefschacht,  in  welchen  dann  auch 
die  Leichen  aller  Verunglückten  vorgefunden  wurden. 

Die  Przibramer  Katastrophe  hat  mit  Klarheit  gezeigt, 
wie  verderblich  die  Vereinigung  der  verwaltenden  und 
überwachenden  Thätigkeit  in  einer  Hand  ist.  Dem  Ver- 
waltungsbeamten, der  an  den  unwandelbaren  Gang  des 
büreaukratischen  Organimus  gewöhnt  ist,  mangelt  jener 
unbefangene,  freie  Blick,  der  die  Fehler  am  Bestehenden 
erkennt 'und  den  einfachsten  Weg  zu  ihrer  Beseitigung 
herausfindet.  Und  mit  geringen  Mitteln  Hessen  sich  oft 
wichtige  Massnahmen  für  die  Sicherheit  der  Bergleute 
treffen.  Da  kann  nur  durch  Einführung  des  Inspektorates 
und  Unterstützung  desselben  durch  Arbeitsdelegirte  Wandel 
geschaffen  werden. 

Die  Todten  lassen  sich  nicht  wieder  ins  Leben  zurück- 
rufen, der  Schmerz  und  das  Unglück  der  Hinterbliebenen 
sind  nicht  mehr  gut  zu  machen;  aber  für  die  Lebenden 
kann  ein  grösseres  Mass  von  Sicherheit  geschaffen,  kann 
ähnlichen  Katastrophen  vorgebeugt  werden.  Ob  der  gute 
Wille  dazu  vorhanden?  Wir  wagen  es  nicht,  mit  einem 
entschiedenen  Ja  zu  antworten. 

Wien.  Leo  Verkauf. 


Kommission  für  Arbeitsstatistik.  Die  auf  Grund  des 
Regulativs  vom  1.  April  d.  J.  errichtete  Kommission  für 
Arbeitsstatistik  trat,  wie  wir  dem  „Reichsanzeiger“  ent- 
nehmen, am  23.  d.  M.  unter  dem  Vorsitze  des  Unterstaats- 
sekretärs Dr.  von  Rottenburg  im  Reichstagsgebäude  zu  ihrer 
ersten  Sitzung  zusammen.  Vor  dem  Beginn  derselben  wur- 
den die  Mitglieder  der  Kommission  von  dem  Staatssekretär 
des  Innern,  Staatsminister  Dr.  von  Boetticher  begrüsst, 
welcher  in  kurzen  Worten  auf  die  Bedeutung  der  neuen 
Einrichtung  hinwies  und  den  bevorstehenden  Verhand- 
lungen einen  erspriesslichen  Erfolg  wünschte. 

Die  Kommissionsmitglieder:  der  Unterstaatssekretär  im 
königlich  preussischen  Ministerium  für  Handel  und  Gewerbe 
Lohmann,  der  Regierungsrath  im  königlich  bayerischen 
Ministerium  des  Innern  Rasp,  der  Regierungsrath  im  könig- 
lich sächsischen  Ministerium  des  Innern  Morgenstern,  der 
Oberregierungsrath  im  königlich  württembergischen  Mi- 
nisterium von  Schicker,  der  Vorstand  der  grossherzoglich 
badischen  Fabrikinspektion  Oberregierungsrath  Dr.  Wöris- 
hoffer,  sowie  die  Reichstagsabgeordneten  Biehl,  Dr.  Hart- 
mann, Dr.  Hirsch,  Hitze,  Schippel  und  Siegle  — waren 
vollzählig  erschienen. 

Als  Kommissar  des  Reichskanzlers  wohnt  der  Geheime 
Regierungsrath  Dr.  Wilhelmi,  als  Kommissar  des  Ministers 
für  Handel  und  Gewerbe  der  Regierungsassessor  Dönhoff 
den  Sitzungen  bei. 

Die  Tagesordnung  ist  folgende: 

1.  Anhörung  der  Kommission  über  die  Geschäfts- 
ordnung. 

2.  Gutachtliche  Aeusserung  der  Kommission  über 
Erhebungen  in  Betreff  der  Arbeitszeit  im  Bäckerei-  und 
Konditoreigewerbe,  im  Müllergewerbe  und  im  Handels- 
gewerbe. 

Die  Verhandlungen  werden  voraussichtlich  drei  Tage 
dauern.  Sobald  die  Berichte  über  dieselben  vorliegen, 
werden  wir  auf  dieselben  zurückkommen. 

Amtliche  Erhebungen  über  Arbeitslosigkeit.  Während 
der  ersten  Monate  dieses  Jahres  hat  das  „Sozialpolitische 
Centralblatt“  mehrfach  Angaben  über  den  Umfang  der  Arbeits- 
losigkeit veröffentlicht,  welche  zu  jener  Zeit  in  Folge  der  all- 
gemeinen Krisis  u.  a.  von  den  Gemeindeverwaltungen  von 


Elberfeld,  Barmen,  Cöln,  Erfurt  und  Magdeburg  gemacht 
wurden.  Bezüglich  letzterer  Stadt  werden  diese  Veröffent- 
lichungen jetzt  sehr  instruktiv  ergänzt  durch  eine  Stelle  des 
soeben  veröffentlichten  Jahresberichtes  für  1891  des  preussischen 
Fabrikinspektors  für  'Magdeburg,  Dr.  Sprenger.  Derselbe 
schreibt:  „Ueber  den  Umfang  der  vorgekommenen  Entlassungen 
und  Arbeitseinschränkungen  in  Magdeburg  Hess  der  Herr  Re- 
gierungspräsident auf  meine  Bitte  Erhebungen  anstellen  Diese 
erstreckten  sich  auf  49  Fabriken  mit  8663  erwachsenen  männ- 
lichen, 8 weiblichen  und  439  jugendlichen,  zusammen  9130  Ar- 
beitern. Die  Erhebungen  ergaben  Folgendes:  In  21  von  den 
49  Fabriken  mit  zusammen  6864  Arbeitern  betrug  die  Zahl  der 
Entlassenen  891,  d h.  13  pCt.  der  in  den  betreffenden  Fabriken 
beschäftigten  Arbeiter  oder  9,8  pCt.  der  Arbeiter  aller  Fabriken, 
auf  welche  die  Erhebungen  ausgedehnt  waren.  In  3 Fabriken 
wurden  1080  Arbeiter  in  abgekürzten  Schichten  beschäftigt,  und 
zwar  in  Schichten  von  5,  7 und  8 Stunden  Dauer  Es  wurden 
hauptsächlich  unverheirathete  Arbeiter  entlassen,  welche  sich 
ausserhalb  nach  anderweiter  Arbeit  umsehen  konnten.  Die  Ver- 
kürzung der  Schichten  wurde  vorgenommen,  um  weiteren  Ent- 
lassungen vorzubeugen  Es  war  dies  eine  Massregel,  welche 
nach  den  mir  aus  den  Kreisen  der  Arbeiter  zugegangenen  Nach- 
richten von  dem  grössten  Theile  der  Arbeiterschaft  selbst  sehr 
o-ebiUGt  wurde,  da  die  meisten  Arbeiter  aus  Kameradschal tlich- 
keit  gern  auf  einen  Theil  des  bisherigen  Verdienstes  verzichten 
wollten,  wenn  Anderen  dadurch  eine  fortdauernde  Einnahme 
o-esichert  werde.  Die  Entlassungen  betrafen  im  Wesentlichen 
Fabriken,  welche  sich  mit  der  Herstellung  von  Dampfmaschinen 
und  Lokomobilen  beschäftigen,  sowie  Fabriken  zur  Herstellung 
von  Armaturen.  In  die  oben  angeführten  Zahlen  sind  aber  auch 
eine  Anzahl  mittlerer  und  kleinerer  Fabriken  mit  eingerechnet, 
welche  Neueinrichtungen  und  Reparaturen  für  Zuckerfabriken 
machen  und  alljährlich  zum  Herbst,  nach  Beginn  der  Zucker- 
kampagne, Arbeiter  in  grösserer  Zahl  entlassen  Kurz  vor 
Weihnachten  belebte  sich  das  Geschäft  wieder  etwas,  so  dass 
in  Folge  eingelaufener  Aufträge  die  Arbeit  in  einigen  Fabriken 
wieder  zunahm.“  Es  wäre  dringend  nöthig,  dass  solche  Er- 
hebungen  unter  Zuziehung  der  Arbeiter  allgemein  und  perio- 
disch wiederholt  würden. 

Arbeiterverhältnisse  der  hessischen  Cigarrenindustrie. 

Wie  aus  dem  neuen  Jahresbericht  für  1891  des  hessischen 
Fabrikinspektors  für  die  Provinz  Starkenburg  und  den  Kreis 
Worms  hervorgeht,  bildet  in  diesen  Bezirken  die  Cigarren-  , 
fabrikation  einen  hervorragenden  Industriezweig.  In  den 
Cigarrenfabriken  des  Kreises  Oflenbach  werden  sowohl  männ- 
liche als  weibliche  Personen  mit  der  Arbeit  des  Rollens  der 
Cigarren  beschäftigt,  während  das  Wickeln  grösstentlieils 
von  weiblichen  Arbeitern  ausgeübt  wird.  Im  Kreise  üarm- 
stadt,  in  den  Cigarrenfabriken  an  der  Bergstrasse,^  in  Lorsch 
und  in  König  i-  O.  sind  die  Roller  männlichen  Geschlechts, 
während  in  Viernheim  und  Lampertheim  der  weitaus  grösste  . 
Theil  der  Roller  weiblichen  Geschlechts  ist.  Die  männlichen  , 
Arbeiter  der  letztgenannten  Orte  suchen  Verdienst  in  den  be-  ; 
nachbarten  badischen  chemischen  Fabriken.  Die  Haus-  , 
industrie  ist  in  der  Cigarrenfabrikation  nicht  stark  vertreten. 
Sie  wird  hauptsächlich  von  weiblichen  Personen,  ehemaligen  , 
Fabrikarbeiterinnen,  ausgeübt  und  zwar  in  solchen  Gegenden, 

wo  männliche  und  weibliche  Arbeiter  das  Rollen  in  den  Fabriken 

erlernen.  Die  Arbeiterinnen  werden  mit  Rollen  von  Cigarren 
zu  Hause  beschäftigt,  weil  sie  einen  Haushalt  zu  besorgen 
haben  und  nicht  mehr  an  der  Arbeit  in  der  Fabrik  theilnehmen 
können.  Vereinzelt  kommt  auch  vor,  dass  männliche  Personen, 
welche  wegen  Krankheit  oder  körperlicher  Fehler  nicht  im 
Stande  sinch  in  einer  Fabrik  Arbeit  zu  nehmen,  in  der  Wohnung 
mit  Rollen  für  eine  Fabrik  beschäftigt  sind.  Ferner  giebt  es 
auch  selbständige  Cigarrenmacher,  welche  Tabak  kaufen  und 
daraus  in  ihrer  Wohnung,  meist  aber  in  besonderen  kleinen 
Werkstätten  mit  Hilfe  von  Familienmitgliedern,  oder  mit  Hüte 
eines  oder  weniger  Gehilfen  Cigarren  anfertigen  und  selbst 
vertreiben.  Eine  Zunahme  der  Zahl  der  in  der  Hausindustrie 
mit  Cigarrenmachen  beschäftigten  Personen  ist  nicht 
nehmen,  weil  die  Hausindustrie  meist  minderwertmgere  Arbeit 
und  eine  weniger  vortheilhafte  Ausnützung  des  Rohmateiials 
ergiebt,  als  die  Arbeit  bei  strenger  Aufsicht  in  der  Fabrik.  JJie 
Hausindustrie  wird  deshalb  von  den  Fabrikanten  nicht  be- 
günstigt oder  auszudehnen  gesucht, _ und  es  erhalten  auch  viei- 
lach  die  Hausarbeiter  einen  geringeren  Stücklohn  als  die 
Arbeiter  in  der  Fabrik.  Eine  Ausdehnung  der  Krankenver- 
sicherungspflicht auf  die  Hausgewerbetreibenden  der  Cigarren- 
industrie durch  statutarische  Bestimmungen  von  Gemeinden 
oder  Gemeindeverbänden  hat,  soweit  dem  Inspektor  bekann  , 
bis  jetzt  nicht  stattgefunden,  wäre  aber  sicher  zu  wünschen. 
Der  zweite  hessische  Aufsichtsbeamte  (für  die  Provinzen 
Rhein-  und  Oberhessen)  schreibt  zu  demselben  Gegenstände. 
„In  Giessen  und  den  umliegenden  Ortschaften  befinden  sicn 
eine  ziemlich  grosse  Anzahl  von  Cigarrenfabriken,  in  welchen 
meistens  Mädchen  beschäftigt  werden.  Uff  Verdienst  ist 
nicht  gross,  richtet  sich  nach  Fleiss  und  Geschicklichkeit  un 
schwankt  zwischen  6 und  12  M.  pro  Woche.  In  vielen  ballen, 
besonders  in  Giessen  selbst,  haben  die  Arbeiter  zur  Fabrik  eine 
Wegstrecke  von  '/a  bis  1 Stunde,  manchmal  noch  mehr,  zuruck- 
zulegen,  welcher  Umstand  indessen,  bei  der  sitzenden  Stellung, 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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No.  26. 


zu  welchen  die  meisten  ihre  Beschäftigung  zwingt,  der  Gesund- 
heit zuträglich  ist.  Die  Arbeitszeit  in  den  Fabriken  ist  fast 
durchweg  ganz  regelmässig,  in  der  Regel  9 oder  10  Stunden 
täglich,  ohne  Pausen;  Ueberstunden  und  Sonntagsarbeit  kommen 
fast  nicht  vor.  Hat  eine  Arbeiterin  zu  Hause  entweder  im 
Haushalt  selbst  oder,  was  im  Sommer  häufiger  vorkommt,  im 
Feld  Arbeit,  so  erhält  sie  in  den  meisten  Fällen  von  dem  Fabri- 
kanten die  Erlaubniss  hierzu.  Manches  Mädchen,  welches  sich 
verheirathet,  arbeitet  als  Frau  für  die  Fabrik  zu  Hause  weiter, 
kann  dabei  ihren  Haushalt  besorgen  und  ihre  Kinder  beauf- 
sichtigen (?)  und  verdient  sich  dabei  noch  manchen  Pfennig. 
Es  ist  nichts  seltenes,  dass  Arbeiterinnen  20,  30  und  mehr  Jahre 
lang,  ebenso  dass  ganze  Familien  in  derselben  Fabrik  arbeiten. 
Ihre  Nahrungsweise  ist  bescheiden;  diejenigen  welche 
über  Mittag  wegen  des  weiten  Heimwegs  in  der  Fabrik  verbleiben, 
trinken  ihren  mitgebrachten  Kalfee  mit  Brod,  etwa  auch  Wurst 
oder  Eier  zum  Mittagessen,  in  vielen  Fabriken  ist  hierzu  ein 
besonderer  Aufenthaltsraum  vorhanden.  Die  Hauptmahlzeit, 
Suppe,  Kartoffel,  seltener  Fleisch,  wird  Abends  dann  zu 
Hause  eingenommen.  Die  Eltern  der  meisten  dieser  Mädchen 
besitzen  ein  Häuschen,  Ackerland  und  etwas  Vieh;  sie  sind 
arm,  aber  nicht  elend.  In  Burkhardsfelden,  einem  recht 
armen  Ort  bei  Giessen,  ist  auch  eine  Cigarrenfabrik,  in  welcher 
unter  den  Arbeiterinnen  sich  mehrere  Frauen  befinden, 
welche  Kinder  haben.“  Die  Verhältnisse  werden  hier  offen- 
bar vom  Fabrikinspektor  sehr  nachsichtig  beurtheilt. 


Kaufmännische  Bewegung. 


Jahresversammlung-  des  deutschen  Verbandes  kauf- 
männischer Vereine  in  Köln.  Am  12.  d.  M.  fand  in  Köln  die 
öffentliche  Versammlung  des  Verbandes  Kaufmännischer  Vereine 
unter  dem  Vorsitz  des  Verbandvorstehers  Edmund  Lotz-Koburg 
statt.  Bei  Beginn  der  Verhandlung  waren  48  Delegirte  an- 
wesend, welche  29  Vereine  vertraten,  ausserdem  6 Gäste  von 
eingeladenen,  nicht  dem  Verbände  angehörenden  Vereinen. 
Geh.  Regierungsrath  Dr.  Wilhelmi-Berlin  war  als  Vertreter  der 
Minister  v.  Bötticher  und  v.  Berlepsch  anwesend. 

Aus  den  Verhandlungen,  die  sich  u.  a.  auf  die  Methode 
der  von  der  Kommission  für  Arbeitsstatistik  geplanten  Enquete 
über  das  Handelsgewerbe,  das  Krankenversicherungsgesetz,  die 
Schulfrage,  die  Organisationsfrage  des  Unterstützungswesens 
erstreckten,  sei  Folgendes  nach  dem  Bericht  der  „Kaufmännischen 
Presse“  spezieller  hervorgehoben.  Hinsichtlich  der  Sonntagsruhe 
wurde  über  das  mangelnde  Entgegenkommen  der  städtischen  Ver- 
waltungen geklagt  und  von  Dr.  Quarck-Frankfurt  ausgeführt,  dass 
die  Handelskammern  — die  doch  Vereinigungen  von  Prinzipalen 
seien  — immer  noch  mehr  Verständniss  für  die  Sonntagsruhe  ge- 
zeigt haben,  da  nach  einer  Veröffentlichung  des  Prof.  Dr.  van  der 
Borght  von  52  Handelskammern  37  für  ortsstatutarische  Regelung 
der  Sonntagsarbeit  in  Engrosgeschäften  und  ebensoviele  für  den 
Schluss  um  1 Uhr  in  den  übrigen  Geschäften  sich  ausgesprochen 
haben.  Das  stimmt  so  ziemlich  mit  den  Wünschen  der  kauf- 
männischen Vereine,  und  wenn  die  Gemeindeverwaltungen  trotz- 
dem kein  Verständniss  für  diese  Wünsche  zeigen,  so  folge  daraus, 
dass  es  kein  glücklicher  Griff  war,  sie  mit  der  Regelung  zu  be- 
trauen. Der  Verbandsvorsteher  Lotz  macht  darauf  aufmerksam, 
dass  auch  nach  dem  1.  Juli  noch  Ortsstatute  zur  Einschränkung 
der  Sonntagsarbeit  eingeführt  werden  können.  Es  wird  als- 
dann nachstehende  Resolution  mit  allen  gegen  3 Stimmen  ange- 
nommen: 

„Die  Jahresversammlung  des  Deutschen  Verbandes  Kauf- 
männischer Vereine  spricht  der  Reichsregierung  ihren  Dank 
dafür  aus,  dass  sie  die  neuen  Bestimmungen  über  die  Sonntags- 
ruhe für  das  Handelsgewerbe  bereits  für  den  1.  Juli  d.  J.  in 
Kraft  gesetzt  hat.  Sie  bedauert,  dass  durch  die  V erwaltungen 
der  Gemeinden  und  weiteren  Kommunalverbände  bisher  kein 

grösserer  Gebrauch  von  der  weitergehenden  statutarischen 
eschränkung  der  kaufmännischen  Sonntagsarbeit  gemacht 
worden  ist  und  fordert  die  Verbandsvereine  auf,  je  nach  Lage 
ihrer  örtlichen  Verhältnisse  mit  Entschiedenheit  für  die  statu- 
tarische Regelung  weiter  zu  wirken  “ 

In  der  Zeugnisszwangfrage  und  Minimalkündigungsfrist 
wird  nach  kurzer  Begründung  durch  G.  Unkart-Hamburg  nach- 
stehende vom  Vorstand  vorgeschlagene  Resolution  einstimmig 
angenommen: 

„Die  Jahresversammlung  des  Deutschen  Verbandes  Kauf- 
männischer Vereine  erklärt  die  gesetzliche  Einführung  einer 
Minimalkündigungsfrist  für  ein  dringendes  Bedürfniss,  das 
möglichst  rasch  noch  vor  der  allgemeinen  Revision  des  H.-G.-B 
befriedigt  werden  sollte.  Die  Regelung  wäre  nach  folgenden 
Grundsätzen  vorzunehmen:  1.  Die  Kündigungsfristen  müssen 

in  jedem  Falle  für  beide  Theile  gleich  sein.  2.  Die  Verein- 
barung einer  kürzeren  Kündigungsfrist  als  einer  gegenseitig 
monatlichen,  d.  h.  einer  Kündigung  am  letzten  Tage  eines 


Monats  auf  den  ersten  Tag  des  zweitfolgenden  Monats,  ist 
nicht  zulässig.  3.  Für  Probeengagements  und  Aushülfestellen, 
die  nicht  über  drei  Monate  dauern,  können  kürzere  Kündi- 
gungsfristen vereinbart  werden.“ 

Gewerbliche  Fortbildungsschulen  für  Kaufleute.  Die 

zahlreichen  Jahresberichte  deutscher  kaufmännischer  Vereine, 
welche  in  den  letzten  Wochen  erschienen  sind,  enthalten^ 
wieder  viele  Belege  für  die  mangelhafte  fachliche  Ausbildung 
der  jungen  Kaufleute  in  Deutschland.  Dieselbe  wird  nament- 
lich vom  Hamburger  Verein,  sowie  von  verschiedenen  rheini- 
schen Korporationen  bitter  getadelt  und  u.  A.  auch  der  über- 
mässigen Ausnutzung  der  jungen  Leute  in  den  Verkaufs- 
geschäften zugeschrieben,  welche  den  Lehrlingen  und  Gehilfen 
Zeit  und  Lust  zur  fachlichen  und  allgemeinen  Fortbildung  völlig 
benehmen.  Aus  dieser  Sachlage  hat  kürzlich  der  „Verband 
kaufmännischer  Vereine  Badens  und  der  Pfalz“  die 
richtige  Konsequenz  gezogen,  indem  er  auf  seinem  am  15.  Mai 
zu  Pforzheim  abgehaltenen  Verbandstage  eine  Eingabe  an  die 
badische  Regierung  mit  folgenden  Forderungen  beschloss: 
„I.  Es  möge  auf  Grund  des  § 120  der  Gewerbeordnung  für  eine 
gleichmässige  und  entgegenkommende  Anerkennung  der  von 
Kaufmännischen  Vereinen  oft  mit  grossen  Opfern  bereits  er- 
richteten Kurse  und  Handelsschulen  als  Anstalten  gesorgt 
werden,  die  der  gewerblichen  Fortbildungsschule  gleichberechtigt 
sind  und  deren  Besuch  allenthalben  von  der  Pflicht  zur  Theil- 
nahme  am  gewerblichen  Fortbildungsunterricht  befreit.  Es 
empfiehlt  sich  vielleicht  in  dieser  Richtung  der  Erlass  einer 
einheitlichen  Instruktion  an  die  unteren  Verwaltungsbehörden 
seitens  des  hohen  Ministeriums.  II  Es  möge  in  den  Etat  des 
Ministeriums  für  Justiz,  Kultus  und  Unterricht  ein  Betrag 
für  Staatsbeihilfe  an  die  bereits  bestehenden  Fortbildungs- 
schulen der  Kaufmännischen  Vereine  eingestellt  werden, 
welcher  den  für  die  gewerblichen  Fortbildungsschulen  aufge- 
wendeten Mitteln,  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  ent- 
sprechend, mindestens  gleichkommt,  und  es  möchten  bei  der 
Vertheilung  dieser  Beihilfe  die  Kurse  und  Schulen  der  Kauf- 
männischen Vereine  ausgiebig  bedacht  werden.  Hierbei  mag 
der  Hinweis  darauf  gestattet  sein,  dass  in  Württemberg  der 
Staat  die  Kosten  sämmtlicher  kaufmännischen  Fortbildungs- 
schulen trägt,  dass  Preussen  doch  wenigstens  ca.  13  000  M. 
Beihilfe  an  kaufmännische  Fortbildungsschulen  gewährt,  dass 
der  Bundesrath  der  Schweiz  im  letzten  Jahre  einen  Betrag  von 
60  000  Frcs  zur  Vertheilung  für  Unterrichtszwecke  an  Kauf- 
männische Vereine  gebracht  hat,  und  dass  Direktor  H Schmitt 
in  seiner  neuen  Schrift  „Das  kaufmännische  Fortbildungsschul- 
wesen Deutschlands“  (Berlin  1892,  S.  27)  sagen  kann:  „Somit 
ist  also  in  Bayern  und  Baden  die  finanzielle  Förderung  des 
kaufmännischen  Fortbildungsschulwesens  seitens  des  Staates  am 
geringsten,  in  Württemberg  und  Sachsen  dagegen  am  kräftigsten“. 

III.  Es  möge  dort,  wo  städtische  oder  staatliche  Fort- 
bildungsschulen bestehen  oder  noch  errichtet  werden,  den  Ge- 
meinden nahegelegt  werden,  dass  sie  mindestens  ein  Vorstands- 
mitglied des  am  Platze  bestehenden  Kaufmännischen  Vereins 
in  das  Kuratorium  der  Schule  als  Mitarbeiter  heranziehen  Dies 
geschieht  theilweise  (Lahr),  theilweise  aber  (wie  in  Freiburg 
und  Pforzheim)  nicht.  Die  Vorstandsmitglieder  kaufmännischer 
Vereine  dürften  durch  ihre  Einblicke  in  die  Unterrichtskurse, 
das  Stellenvermittelungs-  und  Unterstützungswesen  ihrer  Ver- 
eine von  den  Bildungsbedürfnissen  der  jungen  Kaufleute  besser 
unterrichtet  sein,  als  ausserhalb  des  Vereins  stehende  Kaufleute. 

IV.  Es  möchte  von  der  Grossherzoglichen  Regierung  bei  den 
Stadtverwaltungen  dahin  gewirkt  werden , dass  letztere  auf 
Grund  des  § 120  des  R.-G.-O.  ortsstatutarische  Vorschriften  er- 
lasse, nach  welchen  junge  Kaufleute  noch  drei  Jahre  nach 
Zurücklegung  des  schulpflichtigen  Alters  (statt  zwei  Jahre  nach 
§ 1 des  badischen  Gesetzes  vom  18.  Februar  1874)  verpflichtet 
sind,  eine  kaufmännische  Fortbildungsschule  zu  be- 
suchen. Hierzu  ist  zu  bemerken  dass  der  (etzige  zweijährige 
Fortbildungsschulzwang  den  jungen  Kaufmann  in  den  meisten 
Fällen  bereits  vor  Beendigung  der  praktischen  Lehre,  die  be- 
reits drei  Jahre  dauert,  also  in  einem  Alter  von  16  Jahren  ent- 
lässt, in  welchem  seine  Ausbildung  kaum  schon  genügend  ab- 
geschlossen sein  kann,  da  sich  die  Anforderungen  an  den 
heutigen  Kaufmann  von  Jahr  zu  Jahr  steigern,  wobei  der  ausge- 
dehnte Schulzwang  auch  in  sittlicher  Beziehung  eine  gute 
Wirkung  auf  die  jungen  Leute  äussern  würde.“  Der  anwesende 
Vertreter  der  badischen  Regierung  versprach  die  eingehende 
Berücksichtigung  obiger  Wünsche.  Dass  die  süddeutschen 
kaufmännischen  Vereine  diese  Frage  gründlicher  in  Angriff 
nehmen,  erklärt  sich  daraus,  dass  sich  dort  der  Fortbildungs- 
schulzwang bereits  seit  einer  Reihe  von  Jahren  bewährte  und 
der  Standpunkt  der  blossen  Selbsthilfe  überhaupt  schon  seit 
längerer  Zeit  verlassen  ist.  Auf  dem  letzteren  steht  dagegen 
noch  ausschliesslich  eine  Reihe  norddeutscher  Vereine  in  Ham- 
burg, Lübeck  und  Bremen,  und  der  neue  Jahresbericht  des 
Hamburger  Vereins  erklärt  sich  deshalb  gegen  den  Fortbildungs- 
schulzwang.  Eine  Art  vermittelnden  Standpunktes  nimmt  der 
„Verband  kaufmännischer  Vereine  Rh  einland- West- 
falens“ ein,  welcher  zu  gleicher  Zeit,  wie  der  süddeutsche,  in 
Bochum  tagte  und  auf  welchem  zwar  drei  Vereine  für  den 
Zwang  pläcfirten,  der  in  Preussen  noch  nicht  existirt,  schliesslich 
aber  folgende  Resolution  angenommen  wurde:  „Obligatorische 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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kaufmännische  Fortbildungsschulen  müssen  sich  naturgemäss 
auf  jugendliche  Schüler  und  die  niedrigsten  Unterrichtsfächer 
(Deutsch,  Rechnen  und  einfache  Buchführung)  beschränken.  Die 
kaufmännischen  Vereine  können  diese  Schulen  nicht  direkt 
unterstützen;  sie  einzuführen  ist  Sache  der  Gemeinden,  da  sie 
den  Handwerker-Fortbildungsschulen  gleichzustellen  sind.  Die 
Aufgabe  der  kaufmännischen  Vereine  ist  es,  in  bisheriger  \\  eise 
mit  ganzer  Kraft  auf  die  Einrichtung  von  höheren  Schulen  hin- 
zuwirken,  oder,  wo  dieselben  nicht  gegründet  werden  können, 
für  besondere  Klassen  mit  höheren  Unterrichtszielen  für  tort- 
geschrittene Schüler  zu  sorgen.  Das  höhere  kaufmännische 
Schulwesen  wird  von  der  Einführung  obligatorischer  Schulen 
Nutzen  ziehen,  wenn  damit  die  Unterrichtszeit  auf  die  Tageszeit 
verlebt  wird.“  Uebrigens  beginnen  auch  schon  die  Vertretungen 
kaufmännischer  Prinzipale  für  den  Fortbildungsschulzwang  einzu- 
treten. Die  Handelskammer  in  Halber stadt  beschäftigte  sich 
kürzlich  in  einem  amtlichen  Bericht  mit  den  üblen  Bildungs- 
Verhältnissen  der  jungen  Kaufleute  und  kam  dabei  zu  folgendem 
Schlüsse:  „Was  demgegenüber  heute,  wo  die  Technik  des  Han- 
dels eine  ganz  andere  geworden,  gefordert  werden  muss,  sind: 
obligatorisch  einzuführende  kaufmännische  Fortbil- 
dungsschulen, Anstalten,  in  denen  der  bereits  in  einem  kauf- 
männischen Geschäfte  thätige  junge  Mann  neben  seiner  prak- 
tischen Arbeit  Gelegenheit  zu  einer  theoretischen  Ausbildung 
und  Weiterbildung  findet  — es  ist  mit  anderen  Worten  als  ein 
dringendes  Bedürfniss  zu  bezeichnen,  dass  das,  was  der  Hand- 
werkslehrling  und  -Gehilfe  in  den  Gewerbeschulen  und  in  den 
gewerblichen  Fachklassen  findet,  was  der  praktische  Landwirth 
in  Winterschulen  und  von  Wanderlehrern  hört,  auch  für  den 
Handelslehrling  und  Handelsgehilfen  angestrebt  werde:  seine 
Einführung  in  die  Grundbegriffe  der  Handelswissenschaften,  die 
Erweckung  und  Erweiterung  seiner  Anschauungen  mit  der  Er- 
klärung der  wichtigsten  Erscheinungen  seines  Berufsgebiets,  ein 
Unterricht  in  praktischen  Disciplinen,  Buchführung,  Sprachlehren 
u.  s w.,  kurz  eine  Hebung  des  Bildungs-  und  Kenntnissniveaus 
vermittelst  eines  methodischen  kaufmännischen  Schulunterrichts, 
durch  welchen  das  Interesse  und  die  Liebe  für  den  Beruf  ge- 
hoben und  mit  den  gegebenen  Anregungen  vor  Allem  auch  das 
Bedürfniss  nach  eigener  selbständiger  Weiterbildung  geweckt 
werden  könnte.“ 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Der  Achtstundentag  in  Australien.  Als  im  vorigen 
Jahre  in  englischen  und  deutschen  Fachzeitschritten  Nach- 
richten über  den  Achtstundentag  und  seine  relativ  starke 
Ausbreitung  in  Australien  auftaüchten,  wurden  dieselben 
von  mancher  Seite  angezweifelt,  und  selbst  von  in  Australien 
lebenden  Deutschen  in  Abrede  gestellt  „dass  der  Acht- 
stundentag in  ganz  Australien  herrsche“.  Das  war  freilich 
von  keiner  .Seite  behauptet  worden;  nur  seine  ungemein 
starke  Vorherrschaft  in  Victoria  und  Neuseeland,  wo  drei- 
viertel der  Arbeiterschaft  sich  seiner  erfreuen,  und  seine 
Verbreitung  in  ansehnlichen  Theilen  der  Arbeiterschaft  der 
übrigen  Kolonien  war  behauptet  worden. 

Es  liegen  nunmehr  einige  neuere  offizielle  statistische 
Publikationen  vor,  welche  diese  Version  vollinhaltlich  be- 
stätigen. Auf  Wunsch  des  Unterhauses  ist  vom  englischen 
Kolonialamte  am  20.  Dezember  1890  an  die  Gouverneure 
der  Kolonien  die  Aufforderung  ergangen,  demselben  die  in 
ihren  Amtsgebieten  geltenden  Gesetze  über  die  Arbeitszeit 
der  erwachsenen  Personen,  ferner  die  daselbst  faktisch 
herrschende  Zahl  der  Arbeitsstunden  und  der  Löhne  der 
verschiedenen  Arbeiterkategorien  mitzutheilen.  Die  Ant- 
worten der  Gouverneure  hegen  nunmehr  (15.  März  1892) 
gesammelt  in  einem  „Return  showing  any  Laws  or  Regu- 
lations  affecting  the  Hours  of  Adult  Labour  in  each  ot  the 
Colonies,  also  showing  in  each  Colony  the  Hours  worked 
per  Day,  and  Wages  paid  in  various  Industries,  so  far  as 
the  same  can  be  ascertained“  vor.  Im  Zusammmenhange 
mit  verwandten  Publikationen  ergiebt  sich  folgende  Ge- 
staltung der  Arbeitszeit  in  den  australischen  Kolonien: 

Westaustralien  hat  lediglich  geantwortet,  dass  es  keine 
Gesetze  über  Arbeitszeit  erlassen  habe.  Dem  Blaubuche 
für  1890  (Perth  1891)  p.  200  ist  aber  zu  entnehmen,  dass 
Strassenarbeiter  8 Stunden,  Setzer  in  verschiedenen 
Druckereien  ungleich  lange,  alle  übrigen  Arbeiter  9 Stunden 
arbeiten.  Südaustralien  besitzt  gleichfalls  keine  die  Arbeits- 
zeit der  Erwachsenen  regulirenden  Gesetze.  „Gelernte 
Arbeiter  (mechanicsj  arbeiten  8 Stunden  im  I age“  (Earl  of 
Kintore  an  Lord  Knutsford  p.  5). 


Die  Angaben  für  Neu-Süd-Wales  beziehen  sich  im 
„Return“  auf  1889.  Von  den  daselbst  angeführten  219 
Arbeiterkategorien  arbeiten  97  durch  44  48  Stunden,  41 

durch  48—55  Stunden  und  nur  81  mehr  als  55  Stunden.  Zu 
der  ersten  Kategorie  gehören  Bergarbeiter,  städtische  Be- 
dienstete, ferner  alle  Angehörigen  der  polygraphischen,  der 
Bau-  und  der  Metallgewerbe.  Neuere  Angaben  für  1890 
finden  sich  im  offiziellen  „Annual  Register“  und  m Cogh- 
lan’s  „Wealth  and  Progress  of  New-South-Wales  1890/1“, 
Sydney,  1892,  S.  709.  Von  deR  daselbst  aufgezählten  343 
Arbeiterkategorien  gemessen  den  faktischen  Achtstundentag 
224,  also  65  pCt.  der  Gesammtzahl  gegen  44  pCt.  im  Vor- 
jahre. Noch  detaillirtere  Angaben  sind  anlässlich  des 
Censuswerkes  von  Neu-Süd-W ales  zu  erwarten.  Von  dem- 
selben ist  bisher  die  erste  Lieferung  erschienen.  Der 
„Census  und  Industrial  Returns  Act  of  1891“  gab  nämlich 
dem  Regierungsstatistiker  die  Vollmacht,  zum  Zwecke  einer 
Arbeitsstatistik  alle  Fabriken,  Werkstätten,  Bergwerke 
u.  s.  w.  besuchen  zu  dürfen,  und  verhängte  Strafen  gegen 
Unternehmer,  welche  ihm  den  Eintritt  oder  wahrheits- 
«remässe  Angaben  verweigern  würden.  In  sieben  Berichten 
über  ebenso  viele  Industriezweige  ist  nunmehr  das  aut 
diesem  Wege  gesammelte  Material  dargestellt.  Für  die 
Arbeitszeit  ergiebt  sich  daraus  folgendes: 

Fabrikmässige  Schneiderei  ....  8V4  Std.  täglich  ausser  am 

Samstage;  an  diesem  nur 

41/2  Std. 

Frauenhüte,  Frauenkleidermacherei  9 Std.;  Samstags  4 Std. 
Weissnäherei  in  der  Werkstatt  . . 8 ’/4  » » „ 

Wolltuch fabrikation IOV2  » » » 

HemdeXbrikation  ! '.  '.  «Vr-^S1/»  Std.  in  der  Woche. 

Von  Neu-Seeland  schreibt  der  Regierungsstatistiker 
unter  dem  13.  März  1891:  Es  giebt  sonst  (ausser  der  ge- 

setzlichen Regelung  der  Arbeitszeit  der  Frauen  und  in 
Bergwerken)  keine  derartigen  Bestimmungen.  „Aber  ver- 
möge  allgemeiner  Zustimmung  und  Praxis  sind  8 Stunden 
seit  vielen  Jahren  die  anerkannte  Arbeitszeit  für  alle  Lohn- 
arbeiter (for  any  wage-earners).  Die  Statuten  vieler  Ge- 
werkvereine setzen  die  Arbeitszeit  auf  8 Stunden  per  4 ag  , 
oder  48  Stunden  per  Woche  fest;  aber  eine  Arbeiterver- 
bindung der  Bäcker  hat  dieselbe  mit  10  Stunden  ange- 
setzt“. 

In  Queensland  bestimmt  eine  Verordnung,  dass  in  den 
Staatseisenbahnwerkstätten  die  Arbeitszeit  48  Stunden  per 
Woche  betragen  solle  („Return“,  S.  20  ff.).  Von  30  ange- 
führten Gewerben  beträgt  die  Arbeitszeit  8 Stunden  m b,; 
9 Stunden  in  1 1 Gewerben.  Bäcker  und  Kellner  haben  die 
längste  Arbeitszeit  (Samstags  16-20  Stunden,  sonst  8 bis 
17  Stunden).  _ _ i 

Von  Victoria  sagt  der  Chef  der  Gewerbeinspektion 
Mr.  Harrison  Ord  (12  März  1891),  dass  „die  meisten  Ge- 
werbe  zu  Gewerkvereinen  verbündet  sind  und  daselbst  die 
Arbeitszeit  der  Männer  in  der  Regel  auf  genau  8 Stunden 
beschränkt  ist.“  In  der  Kleiderkonfektion  werden  zwar 
beim  Saisonbedarfe  Ueberstunden  bewilligt,  aber  „die  Zahl 
derselben  ist  nicht  gross,  und  faktisch  ist  _ die  Zahl  der 
Arbeitsstunden  der  Arbeiterinnen  in  registrirten  tabnken 
48  per  Woche.“  Es  ist  zu  bedauern,  dass  eine  genauere 
Nachweisung  der  Arbeitszeit,  welche  der  Sekretär  der 
Trades  Hall  in  Melbourne  versprochen  hat,  nicht  zum  Ab- 
drucke gelangt  ist.  Jedenfalls  legen  diese  Belege  Zeugmss 
ab  nicht  nur  für  die  starke  Verbreitung  des  Achtstunden- 
tages in  den  Gewerben  Australiens,  sondern  sogar  für  die 
stetige  Erweiterung  seines  Geltungsgebietes. 

Zum  Koalitionsrecht  der  Arbeiter  in  Deutschland. 

Vor  dem  Gewerbegericht  in  Mainz  stand  Anfang  Juni  d.  Js. 
folgender  grundsätzlich  wichtige  Fall  zur  Verhandlung. 
Ein  Schriftsetzer  klagte  gegen  einen  dortigen  Buchdrucke- 
reibesitzer auf  Zahlung  einer  Entschädigung  von  46  M„ 
weil  er  ohne  Kündigung  entlassen  worden  sei.  Der  Bucn- 
druckereibesitzer  gab  die  plötzliche  Entlassung  zu  bestritt 
jedoch,  zur  Zahlung  einer  Entschädigung  verpflichtet  zu 
sein,  und  erklärte  dies  folgendermassen  In  seinem  Ge- 
schäft beschäftige  er  prinzipiell  keine  Setzer,  welche  dem 
Unterstützungsverein  deutscher  Buchdruckei  angehören, 
und  er  lege  jedem  neu  eintretenden  Gehilfen  eine  solche 
Frage  vor.  Diese  Frage  habe  er  auch  dem  Kläger  vor- 
o-eleo-t,  worauf  dieser  laut  und  vernehmlich  antwortete: 
„Nein,  ich  bin  nicht  Mitglied  des  Verbands“.  In  Folge  des 


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Inkrafttretens  der  Gewerbenovelle  habe  er  jetzt  eine  Ar- 
beitsordnung eingeführt,  welche  die  Klausel  enthält,  dass 
jeder  Gehilfe,  welcher  sich  als  dem  Verbände  nicht  ange- 
hörig bezeichnet  hat  und  dennoch  Mitglied  ist  oder  wird, 
sofort  entlassen  werden  kann  (Es  ist  schwer  verständlich, 
wie  die  Gewerbebehörde  diese  ungesetzliche  Arbeitsord- 
nung passiren  lassen  konnte.  D.  Red.)  Als  dem  Kläger 
diese  Arbeitsordnung  zur  Unterschrift  vorgelegt  worden 
sei,  da  habe  er  erklärt,  er  unterschreibe  dieselbe  nicht, 
denn  er  sei  Mitglied  des  Unterstützungsvereins.  Da  er  den 
Kläger  nur  engagirt  habe  in  der  festen  Voraussicht,  dass 
derselbe  nicht  dem  Verbände  angehöre,  indem  er  ihn  sonst 
nicht  in  Arbeit  gestellt  hätte,  so  habe  er  sich  zur  plötzlichen 
Entlassung  berechtigt  gehalten.  Der  Kläger  gab  zu,  Mit- 
glied des  Unterstiitzungsvereins  bei  seinem  Eintritt  ge- 
wesen zu  sein,  ferner  dass  er  dies  auf  Befragen  verschwie- 
gen habe,  dies  bilde  aber  keinen  Grund  zur  plötzlichen 
Entlassung  im  Sinne  der  Gewerbeordnung.  Das  Gewerbe- 
gericht entschied  in  letzterem  Sinne  und  verurtheilte  den 
Unternehmer  dem  Klageantrag  gemäss.  Diese  Entschei- 
dung ist  für  die  Entwicklung  der  deutschen  Arbeiterver- 
bände sehr  wichtig. 

Neue  Gesindeordnung  für  das  Königreich  Sachsen.  In 
ihrer  letzten  Session  haben  sich  die  sächsischen  Landstände  mit 
einer  von  der  Regierung  vorgeschlagenen  und  sich  in  sehr 
mässigen  Grenzen  haltenden  Revision  der  sächsischen  Gesinde- 
ordnung zu  befassen  gehabt.  Die  revidirte  Gesindeordnung  ist 
jetzt  in  Kraft  getreten  und  entnehmen  wir  derselben  die  nach- 
folgenden Hauptbestimmungen.  Wer  einen  Dienstboten  zum 
Zurücktritt  von  dem  eingegangenen  Gesindevertrage  oder  zum 
Verlassen  eines  von  ihm  bereits  angetretenen  Dienstes,  ohne 
dass  für  eines  oder  das  Andere  eine  gesetzmässige  Ursache  be- 
steht, zu  bewegen  sucht,  verfällt  in  eine  Geldstrafe  bis  zu  150  M. 
oder  Haftstrafe  bis  zu  6 Wochen.  Bei  jedem  Dienstboten  gilt 
als  Regel,  dass  er  seine  ganze  Zeit  und  Thätigkeit  dem  Dienste 
der  Herrschaft  zu  widmen  habe.  Insbesondere  hat  das  Gesinde 
alle  und  jede  seinen  Kräften  und  Verhältnissen  nicht  unange- 
messenen Verrichtungen  nach  dem  Willen  der  Dienstherrschaft 
zu  leisten,  auch  wenn  es  vorzugsweise  zu  einer  bestimmten 
Dienstleistung  oder  unter  einer  eigenthümlichen  Benennung  ge- 
miethet  worden  ist.  Häusliche  Dienste  und  Verrichtungen  hat 
das  Gesinde  nicht  nur  den  eigentlichen  Familiengliedern,  sondern 
auch  den  in  bestimmten  Verhältnissen  zu  denselben  oder  als 
Gäste  im  Hause  sich  aufhaltenden  Personen  zu  leisten.  Auch 
eine  ausdrückliche  Beschränkung  des  Vertrages  auf  besondere 
Dienstverrichtungen  befreit  dasselbe  nicht  von  der  Verrichtung 
anderer  Arbeiten,  als  zu  denen  es  sich  vermiethet  hat,  es  wäre 
denn,  dass  der  Dienstbote  sich  bedungen  hätte,  zu  gewissen 
Arten  von  Diensten  niemals  verwendet  zu  werden.  Ebenso  ist 
bei  ausserordentlichen  Vorfällen,  wodurch  die  gewöhnliche  Ord- 
nung im  Hauswesen  der  Dienstherrschaft  gestört  wird,  ingleichen 
bei  unaufschieblich  dringenden  Arbeiten  in  der  Wirthschaft, 
namentlich  in  der  Heu-  und  Getreideernte,  das  sämmtliche  Haus- 
und Wirthschaftsgesinde  die  nöthigen  Dienstverrichtungen  zu 
übernehmen  und  auch  bei  solchen  Arbeiten  mit  Hand  anzulegen 
schuldig,  für  welche  es  eigentlich  nicht  angestellt  ist.  Wenn 
unter  dem  Gesinde  darüber  Streit  entsteht,  welches  von  ihnen 
diese  oder  jene  Arbeit  zu  übernehmen  schuldig  sei,  so  entschei- 
det das  Gebot  der  Herrschaft.  Das  Gesinde  ist  ohne  Erlaubniss 
der  Herrschaft  nicht  berechtigt,  die  ihm  aufgetragenen  Geschäfte 
durch  Andere  verrichten  zu  lassen.  Ein  Dienstbote  ist  verbun- 
den, nach  der  bei  der  Dienstherrschaft  bestehenden  häuslichen 
Ordnung  sich  zu  richten,  insbesondere  zu  der  üblich  feststehen- 
den Zeit  sich  zur  Ruhe  zu  begeben  und  früh  aufzustehen.  Er 
darf  unter  dem  Vorgeben,  dass  er  noch  Arbeit  zu  verrichten 
habe,  wider  Willen  der  Dienstherrschaft  nicht  über  die  Zeit,  zu 
welcher  sich  die  Familie  des  Dienstherrn  zur  Ruhe  begiebt, 
aufbleiben.  Kein  Dienstbote  darf  ohne  Erlaubniss  der  Dienst- 
herrschaft in  seinen  eigenen  Verrichtungen  ausgehen  oder  Ver- 
gnügungsorte besuchen,  und  die  von  der  Dienstherrschaft  dazu 
auf  gewisse  Zeit  gegebene  Erlaubniss  darf  nicht  überschritten 
werden.  Jeder  Dienstbote  muss  sich  gefallen  lassen,  dass  die 
Dienstherrschaft  in  seiner  und  eines  Zeugen  Gegenwart  seine 
Lade,  Koffer  oder  sonstige  Behältnisse  seiner  Sachen  öffne. 
Ueber  die  sittliche  Aufführung  des  Gesindes  steht  der  Dienst- 
herrschaft das  Recht  der  Aufsicht  zu;  den  diesfallsigen  Zurecht- 
weisungen und  Verboten  der  Dienstherrschaft  hat  sich  jeder 
Dienstbote  zu  fügen.  Auch  sind  die  Dienstboten  bis  zum  voll- 
endeten 17.  Lebensjahre  der  elterlichen  Zucht  der  Dienstherr- 
schaft unterworfen.  Die  Dienstherrschaft  ist  berechtigt,  dem 
Dienstboten  solchen  Aufwand,  den  sie  seinen  Verhältnissen  nicht 
angemessen  findet,  zu  untersagen,  und  es  kann  sich  der  Dienst- 
bote dagegen  nicht  mit  der  Ausrede  schützen,  dass  es  für  sein 
eigenes  Geld  geschehe.  Dienstboten,  die  sich  beharrlichen  Un- 
gehorsam und  Widerspenstigkeit  gegen  rechtmässige  Befehle 
der  Dienstherrschaft  oder  deren  Stellvertreter  zu  Schulden 
kommen  lassen,  oder  die  das  Nebengesinde  aufwiegeln  oder  zu 
Zänkereien  oder  üblen  Nachreden  gegen  die  Dienstherrschaft 
Ij  aufhetzen,  werden  mit  Geldstrafe  bis  zu  20  M.  oder  mit  Haft 


bis  zu  5 Tagen  bestraft.  Ueber  die  Vorgänge  in  der  Familie 
des  Dienstlierrn  muss  das  Gesinde  gegen  Jecfermann  strengstes 
Stillschweigen  beobachten,  wenn  nicht  die  Vorfälle  als  Ver- 
gehungen von  der  Art  sind,  dass  ein  Jeder  zur  Anzeige  derselben 
bei  der  Obrigkeit  sich  veranlasst  oder  verpflichtet  halten  kann. 
— Man  sieht,  dass  eine  Revision  im  arbeiterfreundlichen  Sinne 
die  Arbeit  von  vorn  beginnen  muss 

Sonntagsruhe  für  das  Handelsgewerbe  im  Gross- 
herzogthum  Hessen  Auch  für  das  Grossherzogthum  Hessen 
ist  nunmehr  ein  Erlass  des  Ministeriums  des  Innern  und  der 
Justiz  an  die  Kreisämter  ergangen,  der  die  vom  1.  Juli  an 
nach  § 105  b der  R.-G.-O.  in  Kraft  tretende  Sonntagsruhe 
für  das  Handelsgewerbe  betrifft.  Die  amtliche  „Darmstädter 
Zeitung“  veröffentlicht  denselben  unterm  20.  Juni  d.  Js.  Da- 
nach sollen  die  Kreisämter  für  ihren  ganzen  Bezirk  Anfang 
und  Schluss  der  sonntäglichen  Arbeitszeit  möglichst  auf 

6 Uhr  früh  und  1 Uhr  Nachmittags,  nur  ausnahmsweise  auf 

7 Uhr  früh  und  2 Uhr  Nachmittags  festsetzen.  Sie  sollen 
ferner  darauf  hinwirken,  dass  nur  Ladengeschäfte  von  den 
vollen  fünf  Stunden  Gebrauch  machen,  alle  übrigen  Handels- 
gewerbe sollen  sich  mit  2 — 3 Stunden  Arbeitszeit  begnügen. 
In  letzterem  Punkte  geht  die  Anweisung  über  die  preussische 
hinaus,  was  im  Interesse  der  Sonntagsruhe  zu  begrüssen  ist. 
Die  Ausnahmen  von  der  Sonntagsruhe  sind  ganz  ebenso 
umgrenzt,  wie  in  der  preussischen  Verordnung. 

Sonntagsruhe  für  (las  Handelsgewerbe  in  Berlin.  Der 

königliche  Polizeipräsident  hat  unterm  20.  d.  M.  die  Verordnung 
über  die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  für  den  Stadtkreis 
Berlin  erlassen.  Die  Bestimmungen  derselben  lauten:  § 1.  Fest- 
stellung der  gesetzlich  zulässigen  fünfstündigen  Beschäftigungs- 
zeit. Im  Handelsgewerbe  dürfen  Gehilfen,  Lehrlinge  und  Ar- 
beiter am  ersten  Weihnachts-,  Oster-  und  Pfingsttage  überhaupt 
nicht,  im  Fiebrigen  an  Sonn-  und  Festtagen  nicht  vor  7 Uhr 
Vormittags  und  nicht  nach  2 LThr  Nachmittags,  sowie  nicht 
während  der  für  den  Hauptgottesdienst  bestimmten  Zeit  be- 
schäftigt werden.  Für  den  Hauptgottesdienst  ist  die  Zeit  von 
10 — 12  Uhr  Vormittags  bestimmt.  "Abweichend  von  der  Regel 
des  ersten  Absatzes  dürfen  die  daselbst  bezeichneten  Personen 
in  dem  Handelsgewerbe  der  Zeitungsspeditionen  nicht  vor  4 Uhr 
früh  und  nicht  nach  9 Uhr  Vormittags  beschäftigt  werden. 
Sobald  durch  statutarische  Bestimmung  für  einzelne  Zweige 
des  Handelsgewerbee  die  zulässige  Beschäftigungszeit  über  das 
gesetzliche  Mass  eingeschränkt  wird,  verlieren  die  vorstehenden 
Vorschriften  hinsichtlich  dieser  Gewerbezweige  ihre  Gültigkeit. 
§ 2.  Zulassung  einer  verlängerten  Beschäftigungzeit.  An  den 
beiden  letzten  Sonntagen  vor  Weihnachten,  dem  letzten  Sonn- 
tage vor  Ostern  und  ctem  letzten  Sonntage  vor  Pfingsten  dürfen 
im  Handelsgewerbe  die  im  § 1 Absatz  1 bezeichneten  Per- 
sonen, abgesehen  von  der  ebendaselbst  festgesetzten  Zeit,  noch 
von  2 Uhr  Nachmittags  bis  6 Uhr  Abends  beschäftigt  werden. 
Die  gleiche  Verlängerung  der  Beschäftigungszeit  findet  für 
den  Handel  mit  Blumen  und  Kränzen  auch  an  dem  zum 
Gedächtniss  der  Gestorbenen  bestimmten  Sonntage,  sowie 
am  31.  Dezember,  sofern  dieser  Tag  auf  einen  Sonntag 
fällt,  Anwendung.  § 3.  Ausnahmen  von  der  Regel  des  § 1. 
1.  An  denjenigen  Sonntagen,  an  welchen  im  Handelsgewerbe 
die  Beschäftigung  der  Gehilfen,  Lehrlinge  und  Arbeiter  während 
fünf  Stunden  zugelassen  ist,  darf  deren  Beschäftigung  über  den 
in  § 1 Abs.  1 vorgeschriebenen  Zeitraum  hinaus  a)  im  Betriebe 
des  Handels  mit  Back-  und  Konditorwaaren,  mit  Fleisch  und 
Wurst,  mit  Milch,  sowie  im  Betriebe  der  Vorkosthandlungen: 
schon  um  5 Uhr  Morgens  beginnen,  b)  im  Betriebe  des  Handels 
mit  Back-  und  Konditorwaaren,  sowie  des  Handels  mit  Milch 
bis  um  3 Uhr  Nachmittags  dauern.  2.  Am  ersten  Weihnachts-, 
Oster-  und  Pfingsttage  darf  die  Beschäftigung  der  unter  No.  1 
bezeichneten  Personen  a)  im  Betriebe  des  Handels  mit  Back- 
und  Konditorwaaren,  mit  Fleisch  und  Wurst,  mit  Milch  und  mit 
Vorkostwaaren:  von  5 Uhr  Morgens  bis  zum  Beginne  der  für  den 
Hauptgottesdienst  bestimmten  Zeit,  b)  im  Betriebe  des  Handels 
mit  Kolonialwaaren,  mit  Blumen,  mit  Tabak  und  Zigarren,  sowie 
mit  Bier  und  Wein:  während  der  letzten  beiden  Stunden  vor 
dem  Beginne  der  für  den  Hauptgottesdienst  bestimmten  Zeit, 
c)  im  Betriebe  der  Zeitungsspedition  von  4—9  Uhr  Vormittags 
stattfinden.  § 4.  Beschränkung  des  Gewerbebetriebes  im  stehen- 
den Handel.  Soweit  nach  den  vorstehenden  Bestimmungen  Ge- 
hilfen, Lehrlinge  und  Arbeiter  im  Handelsgewerbe  an  Sonn-  und 
Festtagen  nicht  beschäftigt  werden  dürfen,  ist  gemäss  §41a  der 
Reichsgewerbeordnung  an  diesen  Tagen  in  offenen  Verkaufs- 
stellen, zu  welchen  auch  die  selbstthätigen  Verkaufsapparate  ge- 
hören, der  Gewerbebetrieb  verboten.  § 5.  Beschränkung  des 
Gewerbes  des  nicht  stehenden  Handels.  Von  dem  Verbote  des 
§ 55  a Absatz  I der  Reichsgewerbeordnung  wird  auf  Grund  des 
Absatz  2 daselbst  ausgenommen:  1.  das  Feilbieten  von  Milch 
auf  öffentlichen  Wegen,  Strassen  und  Plätzen  an  allen  Sonn- 
und  Festtagen  für  die  Zeit  bis  zum  Beginne  der  für  den  Haupt- 
gottesdienst bestimmten  Stunden,  2.  das  Feilbieten  von  Blumen, 
Backwaaren,  Obst,  Spielwaaren,  geringwerthigen  Gebrauchs- 

§ egenständen  und  ähnlichen  Sachen  auf  öffentlichen  Wegen, 
trassen  und  Plätzen  an  den  beiden  letzten  Sonntagen  vor 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  26. 


Weihnachten  bis  um  6 Uhr  Abends  mit  Ausschluss  der  für  den 
Hauptgottesdienst  bestimmten  Zeit  Die  besonderen  polizei- 
lichen Vorschriften  hinsichtlich  der  Abhaltung  des  Weihnachts- 
marktes werden  durch  die  Bestimmung  unter  No.  2 nicht  be- 
rührt. § 6.  Diese  Verordnung  tritt  am  1.  Juli  d J.  in  ivralt. 

Ortsstatut  über  die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe 
für  Frankfurt  a.  M In  ihrer  Sitzung  vom  21  Juni  d.  Js 
haben  Magistrat  und  Stadtverordnete  der  Stadt  Frankfurt 
a Main  nach  mannigfachen  Verhandlungen  mit  den  Kirchen- 
behörden und  nach  wiederholten  Vorstellungen  eines  Komitees 
von  Mitgliedern  der  fünf  kaufmännischen  \ ereine  das  bereits 
früher  an  dieser  Stelle  mitgetheBe  Ortsstatut  über  che  kauf- 
männische Sonntagsruhe  so  beschlossen,  dass  lediglich 
2l/o  Stunden  als  Arbeitszeit  am  Sonntag  für  sammtliche 
Handelsgeschäfte  erlaubt  sind,  und  zwar  che  Stunden  von 
'/oll  Uhr  Vormittags  bis  1 Uhr  Nachmittags.  Damit  ist  die 
fünfstündige,  vom  Reichsgesetz  zugelassene  Arbeitszeit  aut 
die  Hälfte  verkürzt  und  eine  Zerreißung  der  Stunden  m 
zwei  Theile  glücklich  vermieden.  Unerfüllt  geblieben  ist 
allein  der  Wunsch  der  Vereine,  für  Komptore  eine  kürzere 
Arbeitszeit  festzusetzen,  als  für  Ladengeschäfte  lm  Ueb- 
rio-en  haben  bis  jetzt  uns  noch  Stuttgart  und  Augsburg 
(Arbeitszeit  10—1  Uhr)  eine  ähnlich  glückliche  Regelung 
der  Sonntagsarbeit  im  Handelsgewerbe  aulzuweisen,  B rank- 
furt  a.  Main  aber  ist  die  einzige  grössere  Stadt  m R reussen, 
welche  bis  jetzt  von  ihrer  ortsstatutarischen  Befugmss  in  so 
einsichtiger  Weise  Gebrauch  gemacht  hat. 

Arbeiterschulz  Vorschriften  für  Fellzurichtereien. 

Die  Weissenfelser  Kürschnergehilfen  ersuchten  am  23.  Juli 
v.  Ts.  die  Merseburger  Regierung,  anzuordnen,  dass  die 
Fellzurichterei  wegen  ihrer  Gesundheitsschädhchkeit  aus 
der  Hausindustrie  in  die  Werkstätten  verlegt  weide,  wie 
den  Petenten  am  23.  Mai  d Js.  vom  Gewerberath  mitge- 
theilt  wurde,  hat  die  Regierung  eine  Untersuchung  der  An- 
o-eleo-enheit  durch  den  Gewerberath,  den  Kreisphysikus 
und^die  Polizeibehörde  angeordnet,  welche  die  Wirkung 
hatte,  dass  eine  bezügliche  Polizeiverordnung  erlassen 
werden  wird  Die  Weissenfelser  Kürschnergehilfen  er- 
suchen nun  die  Regierung,  dass  man  sie  bei  Abfassung 
dieser  Polizeiverordnung  höre  oder  andernfalls  dieselbe  da- 
hingehend  formulire,  dass  1.  die  W erkstätten  zur  Fellzu- 
richterei von  der  menschlichen  Wohnung  getrennt  sein 
müssen,  2.  dieselben  vier  Meter  Höhe  besitzen,  und  3.  für 
jeden  Arbeiter  9 Kubikmeter  Luftraum  vorhanden  sein 
muss.  Weiter  wird  um  Beschleunigung  des  Erlasses  der 
Polizeiverordnung  gebeten. 


Arbeiterversicherung. 


Ausdehnung  der  Krankenversicherung  durch  Ortsstatut. 

Der  Gemeinderath  von  Stuttgart  hat  in  seiner  Sitzung  vom 
15.  [uni  d.  Js.  beschlossen,  den  Krankenversicherungszwang  zu 
erstrecken  auf  die  in  Betrieben  und  im  Dienste  der  Stadtge- 
meinde  beschäftigten  Personen,  auf  welche  die  Anwendung  des 

§1  des  neuen  Krankenversicherungs-Gesetzes  nicht  durch  ander- 
weite reichsgesetzliche  Vorschrift  erstreckt  ist,  so  dass  in  Zukunft 
auch  versicherungspflichtig  werden:  die  im  Strassenreimgungs- 
dienst,  bei  der  Berufsfeuerwache,  im  Fuhrdienst  der  Latrinen- 
anstalt, auf  Messen,  Märkten,  in  der  Gewerbe-  und  Botenhalle 
beschäftigten  Personen,  die  Schutzmänner,  Forst-  und  Steuer- 
wächter, Stadtaufwärter,  Kanzleigehilfen;  ferner,  den  Versiche- 
runmszwang  zu  erstrecken  aut  Handlungsgehilfen  und 
Handlungslehrlinge  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  die  ihnen 
nach  Art.  60  des  Handelsgesetzbuches  zustehenden  Rechte  durch 
Vertrao-  beseitigt  worden  sind  oder  nicht,  sowie  neben  den  in 
der  Landes-  und  Forstwirtschaft  beschäftigten  Arbeitern  (auf 
welche  die  Versicherungspflicht  schon  ausgedehnt  ist)  auf  die 
darin  beschäftigten  Betriebsbeamten;  für  alle  bei  der  Stadt  be- 
schäftigten versicherungspflichtigen  Personen  soll  eine  besondere 
Betriebskrankenkasse  errichtet  werden.  Der  im  Sinne  dieser 
Beschlüsse  bereits  aufgestellte  Entwurf  eines  Ortsstatuts  wurde 
vorbehaltlich  der  Zustimmung  des  Bürgerausschusses  genehmigt. 

Rechmuigsergebnisse  der  staatlichen  Unfallversicherung 
in  Niederösterreich.  Die  staatliche  Unfallversicherung  ist  be- 
kanntlich in  Oesterreich  abweichend  vom  Deutschen  Reiche 
nicht  in  Berufsgenossenschaften  organisirt,  die  sich  über  das 
ganze  Land  erstrecken,  sondern  in  territorialen  V ersicherungs- 
anstalten, welche  den  Versicherungsanstalten  der  reichsdeutschen 


Invaliditäts-  und  Altersversicherung  ähneln.  Nun  scheint  sich 
die  österreichische  Organisation  der  Unfallversicherung  ad- 
ministrativ und  finanziell  weit  besser  zu  bewähren,  als  die  be- 
rufso'enossenschaftliche  im  Deutschen  Reiche.  Wir  entnehmen 
dies&  dem  Bericht,  welchen  der  Vorstand  der  Arbeiter-Unfall- 
versicherungsanstalt  für  Niederösterreich  über  die  Anstaltsge- 
bahrung  im  Jahre  1891  vorgelegt  hat  An  Versicherungsbeiträgen 
sind  917  293  fl.  vereinnahmt  worden,  welchen  die  im  Abfindungs- 
wecre  an  private  Versicherungsanstalten  behufs  Ablösung  der 
übernommenen  Versicherungsverträge  geleisteten  f rämien- 
hinauszahlungen  in  der  Höhe  von  23  606  fl.  gegenüberstehen,  so 
dass  sich  die  reine  Brutto-Prämieneinnahme  auf  917  057  fl.  stellt. 
Weiters  wurde  an  Kapitalszinsen  29  709  fl.,.  an  Strafgeldern 
2054  fl.  eingenommen.  Zu  Lasten  der  Anstalt  ist  in  erster  Reihe 
das  Entschädigungserforderniss,  und  zwar  ein  durch  die  Ent- 
schädiguno-sreserve  des  Jahres  1890  nicht  bedecktes  Erforderniss 
für  Unfälle  aus  dem  Jahre  1890  mit  243184  fl.,  dann  das  Er- 
forderniss für  Unfälle  aus  dem  Jahre  1891  in  der  Höhe  von 
646  862  fl.,  somit  ein  das  Rechnungsjahr  belastendes  Gesammt- 
Entschädigungserforderniss  von  890  046  fl  zu  verzeichnen.  Die 
Rentenabstattungen  für  die  bereits  im  Jahre  1890  begründeten 
Entschädigungsrenten  an  Versicherte  der  niederösterreichischen 
Anstalt  und  Versicherte  der  berufsgenossenschaftlichen  Untall- 
versicheruno-sanstalt  der  österreichischen  Eisenbahnen  beziffern 
sich  mit  24  934  fl.  An  Kosten  für  Unfallerhebungen  wurden 
5892  fl.,  für  vertrauensärztliche  Entlohnungen  3152  fl.,  für  Ent- 
schädwungs-Auszahlungsprovisionen  an  das  Postsparkassenamt 
und  die  Krankenkassen  7891  fl.  verbraucht.  Die  Verwalt  ungs- 
kosten belaufen  sich  auf  69  808  fl.,  d.  i.  auf  7,612  Perzent 
der  reinen  Brutto-Prämieneinnahme  Weiters  wurden  veraus- 
gabt an  Staatsgebühren  (Kosten  der  Gewerbeinspektoren)  370011., 
an  Schiedsgerichtskosten  2348  fl.,  für  die  Verwaltung  des 
niederösterreichischen  Bezirks-Krankenkassenverbandes  1004  fl. 
und  für  die  Subvention  für  das  Gewerbe-hygienische  Museum 
und  sonstige  Unterstützungen  600  fl.  Danach  bleiben  die  V cr- 
waltungskosten  der  Unfallversicherung  in  Oesterreich  weit  unter 
den  riesigen  Summen,  welche  die  deutschen  Berufsgenossen- 
schaften brauchen,  und  man  hat  daher  noch  Mittel  zur  Unter- 
stützung der  Gewerbehygiene  u.  s.  w.  Die  Aufsicht  der  Ge- 
werbeinspektoren dürfte  auch  wirksamer  sein,  als  die  von  Unter- 
nehmern beauftragte.  Der  Bericht  enthält  noch  eine  Statistik 
der  versicherten  Betriebe  und  der  vorgekommenen 
Unfälle.  Derselben  ist  zu  entnehmen,  dass  bei  der  Anstalt  im 
Berichtsjahre  19  131  Betriebe  mit  209  886  Arbeitern  und  einer 
Lohnsumme  von  68  689  445  fl.  versichert  waren,  wonach  sich  im 
Vergleiche  zu  den  statistischen  Ergebnissen  des  Jahres  1890  die 
Zahl  der  versicherten  Betriebe  um  3456,  d.  i.  22,05  Perzent,  die 
Zahl  der  Arbeiter  um  14060,  d.  i.  7,18  Perzent,  und  die  ver- 
i sicherte  Lohnsumme  um  12  979  997  fl.,  d.  l.  23,29  Perzent,  erhöht 
hat.  Von  6373  angemeldeten  Betriebsunfällen  boten  2101  Unfälle 
oder  33  Perzent  zur  Entschädigung  Anlass,  während  4272  Bälle, 
das  sind  67  Perzent  aller  Betriebsunfälle,  keine  Belastung  der 
Anstalt  zur  Folge  hatten.  Von  den  2101  Entschädigungsfallen 
führten  1635  zu  vorübergehender,  357  zu  dauernd  theilweiser,, 
13  zu  dauernd  gänzlicher  Erwerbsunfähigkeit;  in  96  iodestallen 
wurde  eine  Rente  an  155  Hinterbliebene  und  zwar  an 
46  Wittwen,  98  Kinder  und  11  Ascendenten  bezahlt.  Von  be- 
sonderem Interesse  erscheint  die  Gegenübers'tellung;  der  von  den 
einzelnen  Betriebsgattungen  vereinnahmten  Jahres-Nettopramien 
und  der  durch  Unfälle  des  Jahres  1891  verursachten  Belastung 
der  Anstalt,  aus  welcher  Zusammenstellung  hervorgeht,  dass, 

beispielsweise  die  Entschädigungssätzen  in  der 

Gruppe  der  land-  und  forst wirtschaftlichen  Betriebe 
17  800  fl.  betrugen  und  daher  mehr  als  fünfmal  so  gross 
waren  als  die  Nettoprämien-Einnahmen  per  3250  fl.,  dass  die 
Entschädigungen  in  der  Gruppe  der  Bauunternehmungen 
per  83  507  fl.  sich  mehr  als  dreimal  so  gross  als  die  Nettopramien 
per  27  402  fl.  erwiesen  und  dass  schliesslich  den  Entschädigungen 
in  der  Gruppe  der  baulichen  Nebengewerbe  per  25  870  ff. 
eine  Nettoprämien-Einnahme  von  nur  10  304  fl.  gegenüberstand. 
Diese  Beobachtung  bezüglich  der  Gewerbe  mit  der  grössten 
Unfallhäufigkeit  entspricht  ganz  den  Erfahrungen  die  man  in 
Deutschland  gemacht  hat. 

Zur  Frage  der  Arbeiterversicherung  in  England.  Einem 

Schreiben  des  österreichischen  Generalkonsulats  in  Liverpool 
an  das  „Handelsmuseum“  vom  16.  Juni  d.  J.  entnehmen  wir  die 

folgende  Mittheilung:  . , „ , . 

Bekanntlich  hat  unlängst  das  einflussreiche  Parlaments- 
mitglied, Herr  [.  Chamberlain,  die  Erlassung  eines  Gesetzei 
wegen  Errichtung  eines  Staatspensions-  und  Versicherungs- 
fonds für  die  Arbeiter  in  Anregung  gebracht  und  eine 
Bill  dem  Parlamente  vorgelegt,  welches  den  Entwurf  einen 
Komitee  zur  Begutachtung  überwiesen  hat.  Dieses  Gutachten 
ist  soeben  erschienen;  es  schlägt  Folgendes  vor.  die  gese  z 
o-ebende  Gewalt  und  die  einzelnen  Gemeinden  sollen  jahrlicl 
eine  bestimmte  Summe  für  einen  Arbeiter-Staatspensions-  um 
Versicherungsfonds  bewilligen  und  die  Verwaltung  dieser  Bond: 
den  Postämtern  übertragen.  Jeder  männlichen  Person,  die  n 
einer  Postamtssparkasse  Lstr.  2,10  vor  Erreichung  des  25.  Jahre: 
zu  obigem  Zwecke  deponirt,  sollen  seitens  des  Staatspensions 
fonds  10  Lstr.  gutgeschrieben  werden,  und  falls  sie  vierzig  Jalirt 
hindurch  10  sff.  jährlich  in  gedachter  Sparkasse  für  den  Fonc 


No.  26. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


329 


erlegt,  soll  sie  beim  65  Jahre  eine  Pension  von  13  Lstr.  jährlich 
erhalten. 

} Ferner  wird  proponirt,  dass  jede  männliche  Person  auch 

mehr  als  13  Lstr  bekommen  kann,  wenn  sie  vor  dem  25.  Jahre 
statt  Lstr  2,10  Lstr.  3,10  in  obiger  Sparkasse  erlegt;  die  Pension 
wird  dann  statt  13  Lstr.  Lstr.  24,10  betragen,  und  wenn  die 
Person  zwischen  dem  25.  und  65  Jahre  ausser  den  10  sh.  jähr- 
lich noch  5 Lstr.  bezahlt,  so  vergrössert  sich  ihre  Pension  bis  auf 
27  Lstr.  jährlich. 

Bezüglich  einer  Versicherung  auf  den  Todesfall  beantragt 
das  Komitee:  Falls  eine  männliche  Person  in  die  Postsparkasse 
vor  Erreichung  des  25.  Jahres  5 Lstr.  erlegt,  sollen  ihr  seitens 
des  Staatspensionsfonds  15  Lstr.  kreditirt  werden,  und  wenn  sie 
in  den  folgenden  vierzig  Jahren  1 Lstr.  jährlich  in  die  Post- 
sparkasse bezahlt,  soll  sie  beim  65.  Lebensjahre  eine  Pension 
von  13  Lstr.  per  Jahr  beziehen;  doch  wenn  sie  vor  Erlag  der 
dritten  Rate  von  1 Lstr.  stirbt,  werden  die  erwähnten  5 Lstr. 
der  Wittwe  oder  der  vom  Verstorbenen  autorisirten  Person  aus- 
gefolgt. Sollte  sie  nach  Deponirung  der  dritten  Jahresrate  von 
1 Lstr.  sterben  und  eine  Wittwe  und  ein  oder  mehrere  Kinder 
hinterlassen,  so  soll  erstere  5 sh.  wöchentlich  für  die  Dauer  von 
26  Wochen  und  jedes  Kind  unter  zwölf  Jahren  2 sh  per  Woche 
bis  zum  zwölften  Jahre  erhalten,  aber  der  gesammte  Betrag  in 
einer  Familie  darf  20  sh.  wöchentlich  während  der  ersten 
26  Wochen  oder  8 sh.  während  der  nachfolgenden  Wochen  nicht 
übersteigen.  Hinterlässt  der  Verstorbene  blos  eine  Frau,  so  hat 
diese  Anspruch  auf  5 sh.  per  Woche  während  26  Wochen  und 
die  Interessen  von  2V2  Perzent  jährlich  des  Restes  der  von  ihm 
deponirten  Summe.  Stirbt  er  nach  Erlag  der  dritten  Rate  von 
1 Lstr.,  ohne  Frau  und  Kinder  zurückzulassen,  dann  kann  eine 
von  ihm  vorschriftsmässig  designirte  Person  den  Betrag  von 
5 Lstr.  beheben. 

Jede  männliche  Person  kann  auch  eine  höhere  Pension 
als  13'  Lstr.  jährlich  sicherstellen,  und  zwar  um  5 sh.  4 d.  mehr 
per  Jahr  für  jedes  Pfund  Sterling  über  die  obcitirten,  vor  dem 
25.  Lebensjahre  eingezahlten  5 Lstr.,  oder  sie  erhält,  falls  sie 
zwischen  dem  25.  und  65.  Lebensjahre  statt  1 Lstr.  jährlich  mehr 
zahlt,  für  jede  10  sh.  über  1 Lstr.  Lstr.3,6,8  mehr  per  Jahr,  als  bereits 
angegeben.  Tritt  ihr  Tod  vor  Erreichung  des  65.  Lebensjahres 
ein,  so  werden  die  nachträglich  deponirten  Beträge  und  mehr 
bezahlten  jährlichen  Raten  sammt  2/o  perzentigen  jährlichen 
Interessen  der  Wittwe  oder  dem  Bevollmächtigten  hebst  den 
anderen  ihnen  gebührenden  Summen  eingehändigt. 

IHat  sich  eine  männliche  Person  bei  einer  anderen  Anstalt 
eine  Pension  von  wenigstens  Lstr.  6,10  jährlich  sichergestellt, 
und  deponirt  sie  in  einer  Postsparkasse  vor  Erreichung  des 
25.  Lebensjahres  Lstr.  1,10,  so  erhält  sie,  wenn  65  Jahre  alt, 
Lstr.  6,10  per  Jahr. 

Das  Gutachten  des  parlamentarischen  Komitees  enthält 
ähnliche  Vorschläge  auch  für  weibliche  Personen  unter  25  Jahren 
und  für  solche  beiderlei  Geschlechts  über  25  Jahre. 

— 

Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 


Wohnungsstatistik  in  Worms.  In  Worms  haben  die 
Stadtverordneten  beschlossen,  eine  Besichtigung  der  Woh- 
nungen aller  Fabrik-  und  gewerblichen  Arbeiter  vornehmen 
zu  lassen  und  zwar  nicht  nur  in  der  Art,  wie  das  in  den 
grösseren  badischen  Städten  für  alle  kleinen  Wohnungen 

[geschehen,  nämlich  zur  Prüfung  der  Wohnung  wegen 
etwaiger  Schädigung  an  Gesundheit  und  Sittlichkeit,  son- 
dern in  einer  viel  weiter  gehenden  Weise. 

Die  einzelnen  Räume  werden  nach  Flächen-  und 
Kubikinhalt  gemessen  und  die  Bewohner  nach  Zahl,  Alter 
und  Geschlecht  aufgenommen.  Die  Resultate  sollen  dann 
von  einem  Statistiker  bearbeitet  werden. 

Wohnungszuslände  in  Frankfurt  a.  Main.  Ueber  un- 
glaublich verlotterte  Wohnungsverhältnisse  wurde  in  einer 
Versammlung  der  organisirten  Schuhmacher  Frankfurts  a.  M. 
berichtet.  Ein  Gehilfe  warf  die  Frage  auf,  ob  es  den  Meistern 
gestattet  sei,  drei  Personen  in  einem  Bett  schlafen  zu  lassen. 
Sämmtliche  Redner  konstatirten  darauf,  wie  die  Frankfurter 
„Volksstimme“  in  No.  142  vom  19.  Juni  1892  mittheilt,  „dass 
dies  nicht  vereinzelt  vorkäme,  sondern  dass  das  Zusammen- 
schlafen bei  den  meisten  Schuhmachern  vorherrschend  sei, 
und  dazu  noch  in  Winkeln,  die  jeder  Beschreibung  spotten.“ 
Der  Vorstand  der  Gehilfenorganisation  wird  nun  die  Sani- 
tätsbehörde um  gründliche  Revision  der  Schlaf-  und  Arbeits- 
räume der  Schuhmacher  angehen. 


Litteratur. 


Protokoll  der  Verhandlungen  des  ersten  Kongresses  der  Ge- 
werkschaften  Deutschlands.  Abgehalten  zu  Halberstadt  vom 
14.  bis  18.  März  1892  Hamburg.  C.  Legien  1892  8"  95  S. 

Obgleich  über  den  für  die  deutsche  Gewerkschaftsbewegung 
überaus  wichtigen  Kongress  in  Halberstadt  die  Tagespresse  und 
auch  diese  Zeitschrift  eingehende  Berichte  gebracht  haben, 
empfiehlt  sich  doch  das  Studium  des  offiziellen  Kongressproto- 
kolles.  Aus  demselben  erkennt  man  genauer  die  in  der  deutschen 
Gewerkschaftsbewegung  vorhandenen  Richtungen  und  die  Fähig- 
keiten ihrer  Vertreter.  Das  Protokoll  ist  auch  werthvoll  durch 
eine  Reihe  von  sonst  schwer  zugänglichen  Aktenstücken  und 
durch  die  Uebersicht  über  die  gewerkschaftlichen  Organisationen. 
Wer  die  deutsche  Gewerkschaftsbewegung  verfolgt,  wird  das 
kleine  Schriftchen  nicht  entbehren  können. 

Hirsch,  Dr.  Max  Mitglied  des  Reichstags,  Leitfaden  mit 
Muster-Statuten  für  freie  Hülfskassen.  Unter  beson- 
derer Berücksichtigung  der  Krankenversicherungsnovelle  für 
bestehende  und  neu  zu  gründende  Kassen  bearbeitet. 
Berlin  1892.  J.  J.  Heine’s  Verlag.  8’.  32  S. 

Die  kleine  Schrift  ist  ebenso  nützlich  als  sie  zeitgemäss 
kommt.  Sie  sollte  von  allen  Vorständen  der  freien  Hilfskassen 
und  von  den  an  der  Erhaltung  derselben  interessirten  Mitgliedern 
eifrig  studirt  und  bei  der  jetzt  überall  im  Gange  befindlichen 
Revision  der  Statuten  der  freien  Kassen  zu  Rathe  gezogen 
werden.  Auf  eine  leider  etwas  zu  kurz  gerathene  Geschichte 
der  freien  Hilfskassen,  in  der  auch  auf  deren  Bedeutung  hinge- 
wiesen wird,  folgt  eine  klare  Auseinandersetzung  über  die  freien 
Kassen  und  die  Krankenversicherungsnovelle.  An  diese  Kapitel 
schliessen  sich  sehr  werthvolle  Statutenentwürfe  für  freie  und 
zentralisirte  Kassen  und  der  Entwurf  eines  Vertrages  zwischen 
Hilfskassen  und  Aerzten  Mit  einem  Auszuge  aus  dem  Gesetze, 
in  dem  alle  für  die  Umwandlung  der  Kassen  wichtigen  Bestim- 
mungen angeführt  sind,  schliesst  das  Heftchen.  Der  bekannte 
Standpunkt  des  Verfassers  kommt  auch  in  dieser  Schrift  zum 
Ausdruck,  dies  soll  aber  diejenigen  Krankenkassenvorstände, 
welche  denselben  nicht  theilen,  nicht  hindern,  dieselbe  zu  Rathe 
zu  ziehen. 


Eingesendete  Schritten. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Arbeiterausschüsse,  Industriegenossenschaften  und  Einigungs- 
ämter. Gutachten  der  Handels-  und  Gewerbekammer  zu 
Brünn.  Brünn,  1892.  Selbstverlag.  8n.  46  S. 

Arndt,  Fr,  Pfarrer,  Die  sozialen  Nothstände  auf  dem 
flachen  Lande  und  die  innere  Mission.  Leipzig  1889. 
H G.  Wallmann.  8».  S.  112—158. 

Botschaft  des  Regierungsrathes  des  Kantons  St.  Gallen  an 
den  Grossen  Rath  desselben  zum  Gesetzesvor- 
schlag betr.  Schutz  der  Arbeiterinnen  und  die 
Arbeit  der  Bediensteten  in  Ladengeschäften  und 
Wirth. sc  haften.  Vom  6.  Mai  1892.  St  Gallen  (1892).  8°. 
16  S.  und  1 Tabelle. 

Ettinger,  Dr.  M.,  Einfluss  der  Goldwährung  auf  das  Ein- 
kommen der  Bevölkerungsklassen  und  des  Staates. 
Eine  sozialpolitische  Studie.  Wien  und  Leipzig,  1892. 
M.  Breitenstein.  8°.  175  S. 

Hirsch,  Dr.  Max,  Anwalt  der  deutschen  Gewerkvereine  und 
Mitglied  des  Reichstages,  Die  Arbeiter-Bewegung  und 
Organisation  in  Deutschland.  2 Aufl.,  11. — 15.  Tausend. 
Berlin  1892.  Verlag  der  „Volks-Zeitung“,  Aktiengesellschaft. 
80.  30  S. 

Kaff,  Sigmund,  Redakteur  des  „Arbeiterschutz“,  Gesetzes- 
sammlung des  „Arbeiterschutz“  Wien,  Verlag  des 
„Arbeiterschutz“.  Heft  1,  Das  Gewerbeinspektoren- 
gesetz. Wien,  1891.  kl  8°.  20  S Heft  2,  Die  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung. 1892.  kl.  8°.  61  S. 

Kautsky,  Karl,  und  Schoenlank,  Bruno,  Grundsätze  und 
Forderungen  der  Sozialdemokratie.  Erläuterungen 
zum  Erfurter  Programm.  Berlin,  1892.  Verlag  der  Expedition 
des  „Vorwärts“,  gr.  8°.  64  S. 

Schmoller,  Gustav,  Die  preussische  Seidenindustrie  im 
1 8.  Jahrhundert  und  ihre  Begründung  durch  Frie- 
drich den  Grossen.  (Sonderabclruck  aus  der  Beilage  zur 
Allgemeinen  Zeitung  No.  117  u.  120  vom  19.  u.  23.  Mai  1892.) 
München,  1892.  J.  G.  Cotta  Nachfolger.  8°.  38  S. 

Zimmermann,  Dr.  Alfred,  Geschichte  der  preussisch- 
deutschen  Handelspolitik.  Aktenmässig  dargestellt. 
Oldenburg  und  Leipzig,  1892.  Schulze’sche  Hof  buchhandlung. 
8".  V und  850  S. 


Verantwortlich  ftir  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


330 


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über  Krankenaufnahme  und  Bestand  in  den  Krankenhäusern  von  54  Städten  der 
Provinzen  Westfalen,  Rheinland  und  Hessen-Nassau  etc.  etc. 

Abonnements  auf  den  XI.  Jahrgang  nehmen  alle  Buchhandlungen  und  Post- 
anstalten zum  Abonnementspreise  von  M.  10.—  pro  anno  entgegen.  Die  bereits 
erschienenen  Jahrgänge  können  zum  Preise  von  M 10.—  pro  Jahrgang  nachbezogen 
werden.  

Verlag  der  Manz'schen  k.  und  k.  Hof-Verlags-  und  Universitäts-Buchhandlung  in  Wien. 


Elemente 


der 


Volks  wirthschaftslehre. 

Von 

Dr.  W.  Neurath, 

Professor  an  der  k.  k.  Hochschule  für  Bodenkultur  in  Wien. 

Zweite  Auflage 

(grösstentheils  neu  bearbeitet  und  vermehrt).  XXVI  und  487  Seiten  8°. 

Preis  2 M.  50  Pf. 


3.  ®uttenlflfl,  glertagebudflionUung  m Sjerlin.- 
$emnäcf)ft  erfdjeint  her  MOHtlllClttar  311m 

iranhcuücrftdicnutpijefeli 

nenn  22.  Hirni  1888, 


No.  26. 


Verlag  oon  jyerbinanb  (5nfe  in  Stuttgart 

Soeben  evfdjienen: 


uom 


15.  3hmi  1883 


10.  Mpril  1892, 
itcbft  benbicÄranfcnuerfid)crungbetrcfrcnbcn 
93eftimmungen  bcö  ©efehc6  0011t  5.  SOlai  1886. 

■Öerausgegeben  unh  erläutert  non 

Dr.  f>anl  Kül|nc, 

©ericTjtS*  Slffeffor. 

ihueite,  nütltg  nmgearbeiiefe  34nftage. 

8°.  gcljeftet  Ulark  5.—. 

3m  Verlag  non  ®uncfer  & .fmntblot  in 
Seipjig  erfdjien  foeben  unh  faun  huvef)  jebe 
33u(f)günhlung  bezogen  inerben : 

Stiibicii  über  hie  Bufunft  De? 
©dtonefeng. 

Sinn 

M.  3 t iu  e it. 

Tex.  8°.  91  Seifen.  Preis  2 Mark- 

3)ie  Sd)rift  enthält  uöflig  neue  ©efidjtdpunfte 
uttb  33orfrf)läge. 


fu\  Xanb 

poüjenfüjriTt  p förtiErung  tim  friMdjr  n 

Drgan  bes  Benlfdjen  Bunbes  für  Boben- 


beliljreform. 

©rfdjcint  iebeit  ällontag. 


3tb  omt  einen  1 18  b eb  in  gun  gen: 

23ei  allen  ißoftanftalteu  (SRr.  2272 

ber  tßoftjeitungslifte)  ....  IDtf.  0,80 
«Bei  hirefter  ÄreiHbaubfenbung: 

in  ©enifdjlanh  mib  Oefterreid) . „ 1,20 

im  SBeltpoftnerein 1,50 

3n  SBerlin  bei  freier  3'iRtihung  . . ,,  1,— 

JEHe  (Bxpebifion 

1.  febs,  3tnü$üitzibzv$x.  55. 


®EnD(ffn[ttinftlidirr  ftpciltt. 


3 c i t f dir « 1 1 


in  ber  Raffung  ber  fftoneüe  uom  10.  Ipvil  1892  unh  bie  baffelbe  ergänjenben  reicf)3red)ttid)en  für  ein  fojiai  = reformat.  <Scnoiienf*aften>efcn. 

»eftimmungen.  - Ejgnet  ^ vorzüglich  zoiD  Inseriren, Z 

föJtt  Einleitung  mib  ©rläutenutgen  „ . , . . 

luefl  er  md)t  nur  melen  ©efdjaftMeuten,  fonbern 

aucl)  flohen  Beamten  ©utSbefifeern  u.  f.  in.  ju 

©efid)t  fommt. 

(Srfcbeint  am  1.  unh  15-  jeben  SDiouat»  unb  toftet 

«liierte  gnmlidi  nuigcarbcitctc  üluflngc  — - - ' 


D011 


(£.  tum  JDovMkc, 

Äaii.  ©ei).  Dber.SlegicrumjS'Diatf),  uortr.  Dlatf)  im  SReidjSamt  bes  Innern. 


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Bktien-©ßJVUl'rfjaft 

«Berlin  SW.,  ftöniggvä$erftrafte  70. 


Verantwortlich  für  den  Änzei^entheil : O.  Schuchardt  in  Berlin,  — Druck  von  H.  S.  Hermann  tn  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  4.  Juli  1892. 


Nummer  27. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT 


L)ie  Anfänge  der  deutschen 
Arbeiterstatistik.  Von  Dr. 
Heinrich  Braun. 

Ein  Wort  über  soziale  Frei- 
heit. Von  Dr.  Georg  Simmel. 
Soziale  Wirtschaftspolitik  u. 
W irth  Schaftsstatistik : 

Regelung  der  Lohnfristen. 

Kommunale  Besteuerung  des  Reichs- 
fiskus. 

Arbeiterwanderungen  im  Innern 
Deutschlands. 

Das  französische  Unternehmerthum 
und  das  Gesetz  Bovier-Lapierre. 

Die  Auswanderung  der  deutschen 
Kolonisten  aus  Russland  nach 
Nordamerika. 
Arheiterzustände: 

\ erhandlungen  der  Kommission  für 
Arbeiterstatistik. 

Wirkungen  der  Frauenarbeit  in 
Fabriken. 

Wirkungen  verkürzter  Arbeitszeit  in 
der  westdeutschen  Textilindustrie. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel 


Gesundheitliche  Nachtheile  der 
Beschäftigung  jugendlicher  Ar- 
beiter. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Die  deutschen  Gewerkschaftsorga- 
nisationen. Von  C.  Legien. 

GdWerbeinspektion: 

Mangelhaftigkeit  der  Fabrikauf- 
sicht durch  Polizeibehörden. 

Die  Ausgaben  für  die  eidgenössi- 
schen Fabrikinspektoren. 

Arbeiterversicherung: 

Altersversicherung  der  Hausin- 
dustriellen. 

Unfallversicherung  des  Handwerks. 

Armenwesen: 

Die  Elberfelder  Armenpflege  in 
Oesterreich. 

Vermischtes: 

Oeffnung  der  Londoner  Museen 
am  Sonntag. 

Eingesendete  Schriften. 


ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Anfänge  einer  deutschen  Arbeiterstatistik. 


Die  Kommission  für  Arbeiterstatistik  ist  am  23.  Juni 
und  den  beiden  folgenden  Tagen  zum  ersten  Mal  in  Thätig- 
keit  gewesen.  Die  ihr  vorgelegte  Aufgabe  bestand  in  der 
„Anhörung  der  Kommission  über  die  für  dieselbe  zu  er- 
lassende Geschäftsordnung  und  in  der  gutachtlichen 
Aeusserung  über  Erhebungen  bezüglich  der  Arbeitszeit  etc. 
im  Bäcker-  und  Konditor-,  Müllerei-  und  Handelsgewerbe.“ 
Die  Unselbständigkeit  und  Abhängigkeit  der  Kom- 
mission, welche  einen  ihrer  wesentlichen  Mängel  bildet, 
tritt  auch  in  dieser  Formulirung  der  Tagesordnung  her- 
vor. Die  Kommission  wird  „angehört“  und  sie  darf  sich 
„gutachtlich“  äussern.  Damit  ist  im  Wesentlichen  die 
Späre  ihres  Einflusses  umschrieben;  irgend  welche  Ver- 
pflichtung, die  Wünsche  und  Beschlüsse  der  Kommission 
auszuführen,  besteht  für  die  Behörden  in  gar  keiner  Weise. 
Wenn  diese  Verhältnisse  dazu  geeignet  sind,  die  Bedeu- 
tung der  an  manchen  Stellen  mit  optimistischen  Hoff- 


nungen begrüssten  Institution  auf  das  äusserste  einzu- 
schränken, so  sind  doch  die  Thatsache  an  und  für  sich 
und  die  begleitenden  Umstände,  unter  denen  hier  einmal 
von  Reichswegen  eine  Befassung  mit  der  Arbeiterstatistik 


stattfindet,  wichtig  genug,  um  der  Thätigkeit  der  Kom- 
mission Aufmerksamkeit  zu  widmen. 

Bekanntlich  können  nach  § 120e  Absatz  3 der  deut- 
schen Gewerbeordnung  tür  solche  Industriezweige,  in  wel- 
chen durch  übermässige  Arbeit  die  Gesundheit  der  Arbeiter 
gefährdet  wird,  Dauer,  Beginn  und  Ende  der  täglichen 
Arbeitszeit  und  der  zu  gewährenden  Pausen  seitens  des 
Bundesraths  vorgeschrieben  werden. 

Der  trostlose  Zustand  unserer  offiziellen  Statistik  und 
die  daraus  entspringende,  eine  der  grössten  Gefahren  bil- 
dende Unwissenheit  über  unsere  sozialen  Zustände  machte 
die  Durchführung  jener  Bestimmung  für  den  ganzen  Kreis 
der  voraussichtlich  in  Betracht  kommenden  Gewerbe  un- 
möglich. Freilich  existirten  eine  Reihe  privater  Unter- 
suchungen, welche  in  einzelnen  Industrien  so  arge  Uebel- 
stände  nachgewiesen  hatten,  dass  wenigstens  hier  ein  un- 
verzügliches Einschreiten  geboten  gewesen  wäre.  Allein 
die  Regierungen  Hessen  sich  durch  dieselben  zur  Anwen- 
dung jenes  Paragraphen  der  Gewerbeordnung  nicht  be- 
stimmen, sondern  entschieden  sich  zunächst  für  die  In- 
angriffnahme von  Untersuchungen  über  die  Frage,  für 
welche  Gewerbe  die  Bestimmung  desselben  in  Kraft  gesetzt 
werden  solle,  und  schufen  sich  zu  diesem  Zweck  in  der 
Kommission  für  Arbeiterstatistik  das  ihnen  geeignet  er- 
scheinende  Organ. 

Wir  wollen  hier  die  von  uns  wiederholt  besprochene1) 
Unzulänglichkeit  der  speziellen  Ausgestaltung,  welche  diese 
Kommission  erhalten  hat,  bei  Seite  lassen.  Die  erspriess- 
liche  Wirksamkeit  der  letzteren  wird  noch  durch  ein 
anderes  Moment  sehr  ungünstig  beeinflusst,  welches  darauf 
hinweist,  dass  der  Weg,  welchen  die  Regierungen  zur  Er- 
langung arbeitsstatistischer  Kenntnisse  eingeschlagen  haben, 
von  vornherein  verfehlt  war. 

Dieses  Moment  liegt  in  der  Natur  von  ad  hoc,  aus- 
schliesslich für  einen  genau  bestimmten  Zweck  unternom- 
menen statistischen  Erhebungen. 

Freilich  wird  jede  Statistik,  wie  sie  aus  Massnahmen 
der  Gesetzgebung  und  Verwaltung  hervorgeht,  regelmässig 
auch  im  Hinblick  auf  künftige  Akte,  sei  es  der  Gesetz- 
gebung, sei  es  der  Verwaltung,  unternommen.  Allein  es 
wird  regelmässig  eine  nachtheilige  Wirkung  erzeugen,  wenn 
dies  nicht  als  ein  allgemeiner,  mit  statistischen  Erhebun- 
gen naturgemäss  verbundener  Zweck,  sondern  als  eine 
bestimmte,  von  vornherein  genau  bezeichnete  Absicht 
sich  darstellt.  In  einem  solchen  Falle  wird  nur  all- 
zu leicht  die  Methode  der  Erhebung  nicht  nach  den  in 
der  Statistik  erprobten,  unparteiischen  Grundsätzen,  son- 

’)  Vergl.  Sozialpolitisches  Centralblatt  Bd.  1,  S.  113  fg.  und 
Archiv  tür  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik.  Bd.  5,  S.  145  fg. 


332 


SOZIALPOLI  TISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  27. 


dern  in  einer  dem  zu  erzielenden  Resultat  absichtsvoll  an- 
gepassten Weise  gewählt,  die  Ergebnisse  der  Untersuchung 
werden  dadurch  in  jedem  Stadium  ihrer  Erhebung  und 
Feststellung  direkt  und  indirekt  beeinflusst,  und  zuletzt  end- 
lich wird  das  öffentliche  Urtheil  in  einer  solchen  Statistik 
nicht  die  zuverlässige  Grundlage  erblicken  können,  welche 
dieselbe  darbieten  sollte. 

Die  fatale  Thatsache,  dass  die  Regierungen,  statt  schon 
früher  ihr  Augenmerk  auf  eine  gründliche  und  tadelfreie 
Sozialstatistik  zu  richten,  erst  in  einem  Augenblick,  in 
welchem  die  von  ihnen  selbst  herbeigeführte  Gesetzgebung 
eine  Kenntniss  der  Arbeiterzustände  voraussetzte,  zu  einer 
Statistik  ad  hoc  schritten,  hat  zu  sehr  unbefriedigenden 
Massnahmen  geführt.  Von  der  Kommission  für  Arbeiter- 
statistik haben  wir  seiner  Zeit  nachgewiesen,  wie  wenig 
ihre  Organisation  den  Ansprüchen  genügt,  die  nach 
dem  Vorgang  anderer  Länder  in  den  Einrichtungen  für  die 
soziale  Statistik  sich  bewährt  haben,  und  wie  verfehlt  die 
Methode  ist,  durch  den  von  den  Regierungen  passend  be- 
fundenen Wahlmodus  und  die  Zusammensetzung  der  Mit- 
glieder dieser  Kommission  die  Garantie  der  Unabhängigkeit 
und  gleichzeitig  Selbstständigkeit  und  exekutivische  Gewalt 
zu  verweigern. 

Wie  die  Gestalt  der  Kommission,  so  erwecken  auch  ihre 
bisherigen  Arbeiten  für  das  unternommene  Werk  manche  Be- 
sorgniss.  Die  Kommission  hat  zwei  Fragebogen  für  das 
Bäcker-  und  Konditor-  und  für  das  Handelsgewerbe  fest- 
gestellt und  die  Vorarbeiten  für  einen  dritten,  demnächst 
definitiv  zu  erledigenden,  auf  die  Müllerei  bezüglichen 
Fragebogen  geliefert.  Diese  Fragebogen,  deren  wesent- 
lichen Inhalt  die  Leser  in  dem  weiter  unten  folgenden  Be- 
richt über  die  Verhandlungen  der  Kommission  finden,  sind, 
(diese  Erhebung,  wie  sie  ist,  nun  einmal  angenommen),  zweck- 
mässig aufgestellt.  Die  Fragebogen  sollen  Unternehmern 
wie  Arbeitern  in  gleicher  Zahl  zur  Beantwortung  vorge- 
legt und  ihr  Ergebniss  vervollständigt,  resp.  richtiggestellt 
werden  durch  auf  die  schriftliche  Erhebung  folgende  münd- 
liche Vernehmungen  wiederum  von  Unternehmern  und  Ar- 
beitern sowie  sonstigen  Sachverständigen.  Mit  Rücksicht 
auf  den  grossen  Umfang  der  betreffenden  Gewerbe  — 
(nach  der  Berufszählung  von  1882  waren  im  Bäcker-  und 
Konditorgewerbe  53  178,  im  Müllergewerbe  40  515  und  im 
Handelsgewerbe  über  155  000  Betriebe  mit  Gehilfen  vor- 
handen) — und  um  den  Abschluss  der  Untersuchungen 
nicht  allzuweit  hinauszuschieben,  sollen  die  Fragebogen 
nicht  für  jeden  einzelnen  Betrieb,  sondern  nach  dem  System 
von  Stichproben  beantwortet  werden,  und  nur  in  einer 
Anzahl  grosser,  mittlerer  und  kleiner  Städte  wie  in  einer 
Reihe  ländlicher  Ortschaften  der  verschiedenen  Bundes- 
staaten für  etwa  10  pCt.  der  Gesammtzahl  der  Betriebe 
zur  Vertheilung  kommen. 

Ganz  im  Allgemeinen  betrachtet  könnte  man  mit  dem 
in  Aussicht  genommenen  Modus,  selbst  mit  dem  der 
Stichproben  sich  einverstanden  erklären,  wenn  nicht  gerade 
hier  Alles  von  der  Durchführung  im  Einzelnen  abhinge. 
Nach  dieser  Seite  sind  aber  zum  Theil  gar  keine,  zum  Theil 
nur  unzureichende  Garantien  geboten.  Die  mündliche  Ver- 
nehmung ist  gewiss  unerlässlich  und  vermöchte  viele  Mängel, 
die  der  schriftlichen  Erhebung  anhaften  werden,  auszu- 
gleichen. Aber  in  Betreff  derselben  ist  Alles  vage  und 
unbestimmt  geblieben.  Der  § 5 des  Regulativs  für  die 
Errichtung  der  Kommission  spricht  derselben  die  Befugniss 
zu,  Auskunftspersonen  zu  vernehmen.  In  der  der  Kom- 
mission vorgelegten  Denkschrift  heisst  es  in  dieser  Hinsicht, 
es  werde  zu  erwägen  sein,  ob  im  einzelnen  Fall  die  Ver- 
nehmungen entweder  durch  die  Kommission  selbst  oder 
durch  einen  aus  ihrer  Mitte  gewählten  Ausschuss  oder,  auf 
Vermittelung  des  Reichskanzlers,  durch  die  Ortsbehörden 


oder  besondere  von  den  Bundesregierungen  zu  beauftragende 
Beamte  vorgenommen  werden  sollen.  Danach  kann  es  leicht 
geschehen,  dass  die  Kommission  sich  vielleicht  darauf  be- 
schränkt, solche  Personen  zu  vernehmen,  die  in  oder  nahe  bei 
Berlin  wohnen,  und  im  übrigen  Deutschland  untergeordnete 
Verwaltungsorgane,  vielleicht  gar  die  Polizei  die  Stelle  eines 
englischen  parlamentarischen  Ausschusses  bei  uns  vertreten 
wird.  Aber  angenommen  auch  die  Fragestellung  wäre  ge- 
eigneten Organen  anvertraut,  so  bleibt  immer  noch  die 
Schwierigkeit,  die  aufgerufenen  Zeugen  zu  wahrheits- 
gemässen  Aussagen  zu  verhalten.  Dazu  fehlt  jede  gesetz- 
liche Handhabe,  und  da  sehr  häufig  Interessenkollisionen 
sich  ergeben  werden,  ist  es  nur  zu  wahrscheinlich,  dass  in 
vielen  Fällen  die  Aussagen  der  betheiligten  Zeugen  an 
Vertrauenswürdigkeit  es  werden  fehlen  lassen. 

Nicht  geringeren  Schwierigkeiten  wird  die  schriftliche 
Erhebung  in  Folge  des  Systems  der  Stichproben  begegnen. 
Eine  sozialstatistische  Untersuchung,  welche  durch  das  letztere 
Verfahren  auf  der  einen  Seite  erleichtert,  aber  auf  der  anderen 
wesentlich  erschwert  wird,  bedarf  zu  ihrer  glücklichen  Aus- 
führung der  geeigneten  Organe:  einmal  zur  Wahl  der  um 
ihres  typischen  Charakters  willen  zum  Untersuchungsobjekt 
geeigneten  Bezirke,  dann  aber  insbesondere  innerhalb 
der  einzelnen  Orte  zur  Wahl  derjenigen  Personen,  an 
welche  die  Fragebogen  vertheilt  werden  sollen.  In  Bezug 
auf  die  Unternehmer  ergeben  sich  hier  kaum  Schwierig- 
keiten, da  die  Kommission  sich  auf  Antrag  der  Abgeord- 
neten Hirsch  und  Hitze  dahin  geeinigt  hat,  dass  dort,  wo 
eine  Erhebung  stattfindet,  sämmtliche  Betriebe  befragt 
werden.  Dagegen  soll,  sofern  in  diesen  Betrieben  eine 
Mehrzahl  von  Arbeitern  vorhanden  ist,  der  Fragebogen  : 
immer  nur  einem  Arbeiter  gegeben  werden.  Es  leuchtet  ( 
ein,  dass  das  System  der  Stichproben  gerade  dort  leicht  n 
Schiffbruch  leiden  kann,  wo  das  Schwergewicht  der  ganzen 
Erhebung  ruht:  bei  der  Befragung  der  Arbeiter.  Bisher 
ist  bei  allen  arbeitsstatistischen  Untersuchungen,  mögen 
sie  von  Behörden  oder  Privaten  und  in  welchem  Land 
auch  immer  vorgenommen  sein,  festgestellt  worden,  dass  f 
den  Auskünften  der  Arbeiter  eine  unvergleichlich  höhere  j 
Verlässlichkeit  innewohnt,  als  denen  der  Unternehmer.  ; 
Das  ist  psychologisch  sehr  einfach  zu  erklären.  Der  Ar- 
beiter weiss  sich  frei  von  der  Schuld  an  den  schlechten  , 
Zuständen,  die  in  einem  Betrieb  herrschen  mögen,  und 
kann  uninteressirt  darüber  sich  äussern.  Dagegen  ist 
der  Unternehmer  an  abnorm  ungünstigen  Verhältnissen  in 
seinem  Etablissement  regelmässig  direkt  schuld,  und  ihm 
mangelt  begreiflicher  Weise  die  Unbefangenheit,  die 
Schäden  darzulegen.  Auf  der  anderen  Seite  ist  -von  den 
Arbeitern  alles  eher  zu  fürchten  als  Schwarzmalerei.  Der 
Arbeiter  ist  leider  zu  sehr  gewöhnt  an  elende  Zustände, 
als  dass  er  in  seiner  Beurtheilung  mit  strengem  Massstab 
hantirte,  dazu  kommt,  dass  viele  Arbeiter  aus  falschver- 
standener Scham  sich  geneigt  zeigen,  ihre  Verhältnisse 
I eher  in  einem  besseren  Licht  zu  schildern  als  diese  es  ver- 
dienen würden,  und  endlich  sind  es  regelmässig  relativ 
günstig  situirte  Arbeiter,  die  sich  an  der  Statistik  betheili- 
gen und  von  ihr  erfasst  werden.  Das  Loth  der  Statistik 
dringt  nicht  allzutief  ein  in  das  unergründliche  Meer  unseres 
gesellschaftlichen  Elends. 

Aus  all’  diesen  Gründen  kann  es  für  die  Untersuchun- 
gen der  Kommission  nichts  Wichtigeres  geben,  als  sich  zu 
vergewissern,  dass  die  Arbeiter  in  zweckmässiger  Auswahl 
zur  Beantwortung  der  Fragebogen  und  in  der  Folge  auch 
zur  mündlichen  Vernehmung  herangezogen  werden.  Soll 
dies  gelingen,  so  giebt  es  dazu  nur  einen  Weg.  Man  ziehe 
die  Organisationen  der  Arbeiter  zur  Mitwirkung  heran.  In 
der  der  Kommission  vorgelegten  Denkschrift  ist  dies  auch 
als  eine  Eventualität  hingestellt  worden;  es  wird  dort  von 


No.  27. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


333 


den  „Krankenkassen -Vorständen  oder  anderen  geeigneten 
Arbeiterorganisationen“  gesprochen. 

Hier  berühren  wir  einen  Punkt,  an  dem  sich  eine 
verkehrte  Sozialpolitik  auf  das  augenfälligste  offenbart. 
Die  Verfolgung  der  gewerkschaftlichen  Vereine  der  Ar- 
beiter bestraft  sich  jetzt  an  der  Regierung  selbst  Ge- 
zwungen, an  deren  Unterstützung  zu  appelliren,  wenn  die 
unzulängliche  Arbeit  der  Kommission  auch  nur  in  den  ihr 
aufs  engste  gesteckten  Grenzen  nicht  unfruchtbar  verlaufen 
soll,  findet  sie  sich  einem,  Dank  dem  ungestümen  Eifer, 
mit  welchem  sie  diese  vortrefflichen  Organisationen  Jahr- 
zehnte lang  bedrängte,  nunmehr  einem  ungenügenden, 
relativ  spärlich  entwickelten  Vereinsleben  der  Arbeiter 
gegenüber 

Kein  Zweifel,  ob  die  Regierung  sich  entschliesst, 
eine  Arbeitsstatistik  in  vollem  Umfang  ins  Werk  zu 
setzen,  oder  ob  sie  sich  damit  begnügt,  die  Kommission 
für  Arbeiterstatistik  walten  zu  lassen,  zweierlei  ist  geboten, 
den  Gewerkschaften  muss  endlich  unbeschränkte  Freiheit 
der  Bewegung  gewährt  werden,  und  wäre  es  aus  keinem 
anderen  Grund,  als  weil  auch  die  staatliche  Arbeitsstatistik 
ihrer  als  Hilfskräfte  nicht  entbehren  kann,  und  der  Arbeits- 
statistik selbst  muss  durch  eine  grössere  Machtvollkommen- 
heit, welche  den  ausführenden  Organen  in  Bezug  auf  die 
schriftliche  wie  die  mündliche  Erhebung  eingeräumt  wird, 
eine  weitere  gleichfalls  unerlässliche  Garantie  des  Erfolgs 
dargeboten  werden. 

Noch  eine  Betrachtung  drängt  sich  angesichts  der  un- 
zulänglichen und  in  mehr  als  einer  Hinsicht  unbefriedigen- 
den Anfänge  einer  deutschen  Arbeiterstatistik  auf.  Wie 
die  Arbeitergesetzgebung  ihre  eigentliche  Quelle  in  der 
Arbeiterbewegung  hat  und  mit  dem  Fortschritt  der  letzteren 
selber  fortschreitet,  so  wird  es  an  unserem  Beispiel  klar, 
dass  auch  die  amtliche  deutsche  Arbeiterstatistik  veranlasst 
ist  durch  die  aus  den  Kreisen  der  Arbeiter  hervorgegangenen 
statistischen  Untersuchungen.  Insbesondere  haben  die 
Enquete  Bebel’s  über  die  Lage  der  Bäcker  und  die  Unter- 
suchung Käppler’s  über  die  Zustände  in  der  Müllerei  die  Ver- 
anlassung geboten,  dass  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik 
in  erster  Linie  gerade  die  Erhebungen  über  die  Bäcker  und 
Müller  aufgetragen  worden  sind.  Und  diese  Statistik 
zielt  in  weiterer  Konsequenz  auf  eine  Verstärkung 
des  Arbeiterschutzes  ab.  Bei  dieser  sinnenfälligen  Sach- 
lage ist  nicht  zu  verstehen,  dass  die  leitenden  Persön- 
lichkeiten in  der  Arbeiterbewegung  sich  nicht  dazu 
bereit  finden,  die  arbeitsstatistische  Arbeit,  welche  in  den 
Kreisen  der  Arbeiter  so  fleissig  und  in  manchen 
Fällen  mit  anerkennenswerthen  Erfolgen  betrieben  wird,  zu 
organ isiren.  Die  von  Arbeitern  unternommenen  Statisti- 
ken leiden  in  Folge  des  Mangels  einer  einheitlichen,  syste- 
matischen und  methodischen  Leitung  an  zahlreichen  Ge- 
brechen, die  wohl  vermieden  werden  könnten,  wenn  ein 
centrales  statistisches  Bureau  in  der  Art  einzelner  ameri- 
kanischer Aemter  geschaffen  würde  welches  die  isolirt  thäti- 
gen  und  in  der  Statistik  und  Nationalökonomie  zu  wenig  ge- 
schulten Kräfte  leitete.  Bei  der  ansehnlichen  Zahl  wissen- 
schaftlich gebildeter  Statistiker,  die  ihre  Kräfte  der  Ar- 
beiterbewegung widmen,  bei  der  ausserordentlich  grossen 
Zahl  eminent  begabter  Hilfskräfte,  welche  unter  den  Ar- 
beitern vorhanden  sind  und  endlich  bei  den  grossen  materiellen 
Mitteln,  welche  den  organisirten  Arbeitern  zur  Verfügung 
stehen,  wäre  es  leicht,  ein  musterhaftes  Bureau  ins 

1 Leben  zu  rufen.  Gewiss,  ein  solches  würde  nicht  das 
leisten  können,  was  die  staatliche  Statistik,  falls  für  sie  alle 
verfügbaren  Mittel  in  Bewegung  gesetzt  wurden,  vermöchte. 
Aber  es  hiesse  das  Kind  mit  dem  Bade  ausschütten,  wenn 
diese  Erwägung  zum  Hinderniss  für  die  Errichtung  eines 
solchen  Bureaus  würde.  In  Wirklichkeit  könnte  ein  solches 


aus  dem  Schooss  der  Arbeiterbewegung  hervorgegangenes 
sozialstatistisches  Bureau  der  Arbeiterstatistik  sehr  werth- 
volle Dienste  leisten.  Es  würde  aber  gleichzeitig  zu  einem 
wirksamen  Mittel,  die  träge  Entwicklung  der  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung zu  befördern  und  schlösse  eine  nach 
allen  Seiten  sich  geltend  machende,  überaus  heilsame 
agitatorische  Wirkung  in  sich.  Wenn  man  paradox  sein 
will,  könnte  man  sagen,  ein  solches  Bureau  würde  in 
gewissem  Sinne  mehr  leisten  als  ein  staatliches.  Denn 
nicht  nur  leistete  es  all  das,  was  wir  eben  erwähnten,  es 
würde  auch  unausweichlich  den  Staat  zwingen,  selbst  ein 
solches  Amt  einzurichten,  ein  desto  vollkommeneres,  je 
vollkommener  die  Leistungen  der  Arbeiter  wären,  genau 
so  wie  ihre  tastenden  statistischen  Leistungen  zu  den  unzu- 
länglichen Anfängen  einer  Arbeiterstatistik  in  der  Reichs- 
kommission geführt  haben. 

In  unserem  Vorschläge  liegt  für  die  leitenden  Per- 
sonen der  Arbeiterbewegung  eine  Aufgabe  vor,  die  im 
ernstesten  Sinne  positiv  und  nützlich  wirken  und  ein  all- 
seitig empfundenes,  allgemeines  Bedürfniss  befriedigte.  Es 
ist  merkwürdig,  dass  dies  noch  nicht  als  eine  Verpflichtung 
empfunden  wurde,  obwohl  Kongress  um  Kongress  die  For- 
derung immer  von  Neuem  erhob.  Würde  die  Erfüllung 
derselben  endlich  erfolgen,  dann  böten  die  Anfänge  der 
deutschen  Arbeiterstatistik  erfreulichere  Aussichten,  als 
die  Reichskommission  sie  zu  eröffnen  vermag. 

Berlin.  Heinrich  Braun. 


Ein  Wort  über  soziale  Freiheit. 


Gelegentlich  des  französischen  Gesetzentwurfes,  der 
es  den  Unternehmern  verbietet,  Arbeiter  auf  Grund  ihrer 
Zugehörigkeit  zu  einer  Gewerkschaft  zu  entlassen,  entrollt 
Herr  Leo  Frankel  in  No.  24  dieser  Zeitschrift  die  Frage 
nach  dem  Rechte  der  persönlichen  Freiheit  im  Abschluss 
des  Arbeitsvertrages.  Trotzdem  diese  Frage  eine  eminent 
praktische  geworden  ist  — mehr  als  sie  je  vor  oder  seit 
dem  Uebergange  zur  Gewerbefreiheit  war  — vielleicht  aber 
gerade  weil  ihre  praktische  Bedeutung  so  gross  ist,  mag 
eine  theoretische  Erörterung  der  Prinzipien,  aus  denen  sie 
beantwortet  werden  kann,  nicht  ganz  nutzlos  sein. 

Nachdem  das  Gesetz  den  Arbeitern  die  unbeschränkte 
„Freiheit“  gegeben  hat,  sich  in  Syndikaten  zusammenzu- 
schliessen,  machen  die  Unternehmer  von  ihrer  „Freiheit“ 
Gebrauch,  die  Mitglieder  solcher  Syndikate  zu  entlassen, 
resp.  nicht  anzustellen.  Gegen  den  Antrag,  dieses  Ver- 
fahren unter  Strafe  zu  stellen,  erhoben  die  Unternehmer 
Protest  im  Namen  der  Freiheit,  die  ihnen  gestatten  müsste, 
mit  wem  sie  wollten  Verträge  zu  schliessen  oder  sie  zu 
kündigen.  Herr  Frankel  vergleicht  das  Verfahren  der 
Unternehmer  mit  der  Erzwingung  einer  bestimmten  poli- 
tischen Wahl,  indem  es  nach  dem  gleichen  Prinzip  doch 
dem  Arbeitgeber  freistehen  müsste,  die  Arbeiter  zu  ent- 
lassen, die  in  einem  dem  seinen  entgegengesetzten  Sinne 
wählten;  und  ebenso  wie  dieser  Zwang  unter  der  Maske 
der  Freiheit  gesetzlich  verboten  sei,  ebenso,  meint  er,  müsse 
es  auch  jener  sein.  Nicht  ganz  mit  Recht,  wie  mir  scheint. 
Wäre  nämlich  das  Wählen  wirklich  ein  blosses  Recht  des 
Einzelnen,  so  wäre  nicht  abzusehen,  weshalb  der  Unter- 
nehmer nicht  den  Verzicht  des  Arbeiters  auf  dasselbe 
ebenso  zur  Bedingung  seines  Vertrages  mit  ihm  machen 
dürfte,  wie  er  es  bezüglich  anderer  Rechte  thut.  Es  ist 
zweifellos  ein  „Recht“  des  Einzelnen,  sich  zu  betrinken 
oder  Vormittags  spazieren  zu  gehen;  dennoch  sagt  der 


334 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  27. 


Unternehmer:  einen  Arbeiter,  der  nicht  auf  diese  Rechte 
verzichtet,  stelle  ich  nicht  an  — und  ist  zweifellos  dazu 
berechtigt.  Und  genau  so  könnte  er  es  auch  mit  dem 
Rechte  der  politischen  Wahl  halten.  Allein  dieses  Recht 
ist  zugleich  oder  vor  allem  eine  Pflicht;  der  Staat  hat  ein 
Interesse  daran,  dass  jeder  nach  seiner  Ueberzeugung 
wähle,  und  legt  dies  jedem  als,  wenigstens  moralische, 
Pflicht  auf,  deren  irgend  wie  gestaltete  Beeinträchtigung 
er  deshalb  bestraft.  Denn  es  wäre  ein  Widerspruch  der 
staatlichen  Macht  gegen  sich  selbst,  zu  gestatten,  dass 
jemand  an  derjenigen  Handlung  gehindert  werde,  die  sie 
selbst  von  ihm  verlangt.  Auf  jedes  Recht,  das  wirklich 
blos  ein  Recht  ist,  darf  man  verzichten  und  es  als  Gegen- 
leistung in  den  Kaut  geben,  denn  darum  ist  es  ja  eben  ein 
Recht,  d.  h.  etwas,  worüber  ich  Herr  bin.  Erst  sobald  in 
das  Recht  sich  Pflichten  mischen,  hört  die  Freiheit  der 
Verfügung  auf;  darum  erklärt  auch  unser  Recht  einen  \ er- 
trag, nach  dem  sich  jemand  zum  Sklaven  eines  anderen  er- 
klärt, für  null  und  nichtig,  weil  der  Sklave  nicht  nur  an 
der  Ausübung  seiner  Rechte  gehindert  ist  — das  kann  er 
freiwillig  aut  sich  nehmen  — sondern  auch  an  der  Aus- 
übung derjenigen  Pflichten,  die  die  Allgemeinheit  von  ihm 
verlangt.  Wenn  der  Staat  also  den  Arbeiter  verhindert, 
auf  sein  Recht,  einer  Gewerkschatt  beizutreten,  zu  ver- 
zichten — und  er  thut  dies,  indem  er  einen  derartigen  Ver- 
trag als  für  den  Arbeitgeber  strafbar  erklärt  — so  kann  er 
dies  nur  von  dem  Gesichtspunkt  aus,  dass  jener  Beitritt 
kein  blosses  Recht  im  gewöhnlichen  Sinne,  sondern  eine 
Pflicht  ist. 

An  diesem  Punkt  öffnet  sich  ein  Blick,  in  dem  die 
gesammte  Sozialpolitik  erst  von  einem  einheitlichen  Funda- 
ment getragen  erscheint.  Die  Erhöhung  des  Lebensniveaus 
ist  nicht  nur  ein  individuelles  Recht  des  Arbeiters,  sondern 
seine  soziale  Pflicht;  er  darf  nicht  nur  für  sie  kämpfen, 
er  soll  für  sie  kämpfen.  Erst  von  hier  gesehen  sind  die 
Waffen,  die  man  ihm  für  diesen  Kampf  in  die  Hand  giebt, 
wie  das  Koalitionsrecht,  nicht  Gunst  und  Gnade,  sondern 
die  logische  Konsequenz  davon,  dass  wenn  die  Gesammt- 
heit  jemandem  eine  Pflicht  auferlegt,  sie  ihm  auch  die 
Mittel  zu  ihrer  Erfüllung  gewähren  muss.  Je  mehr  die 
Irrthümlichkeit  der  individualistischen  Weltanschauung  er- 
kannt wird;  je  tiefer  man  in  die  enge  Wechselwirkung  aller 
Sozialelemente  hineinblickt,  die  an  jede  Handlung  eines 
Jeden  irgend  welche  Folgen  tür  die  Gesammtheit  knüpft, 
um  so  lebhafter  wird  das  Interesse  der  Gesammtheit  auch 
an  den  freien  Handlungen  der  Individuen  und  um  so  mehr 
also  fällt  jedes  Dürfen  unter  den  Gesichtspunkt  des  Sollens. 
Diese  Ausdehnung  des  Pflichtbegriffs  giebt  dem  Leben  des 
Einzelnen  eine  ungeahnte  Weihe,  indem  sie  jede  seiner 
Handlungen  von  den  Beziehungen  zum  grossen  Ganzen  ge- 
tragen sein  und  seine  individuellste  That  als  integrirenden 
Theil  eines  unermesslichen  sozialen  Lebens  erkennen  lässt. 
Nun  wird  erst  der  eigentliche  Sinn  davon  verständlich, 
dass  der  Staat  die  Freiheit  eines  Jeden  schützt:  er  hat  dies 
Interesse,  wenn  die  Freiheit  die  Bedingung  der  Pflicht- 
erfüllung gegen  die  Gesellschaft  ist.  Darum  schützt  er 
diese  Freiheit  auch  nicht  unbedingt,  sondern  giebt  in  all 
den  Fällen  zu,  dass  der  Einzelne  seine  Freiheit  verkauft 
oder  unterdrücken  lässt,  in  denen  die  Bedingtheit  seiner 
Pflichterfüllung  durch  diese  Freiheit  noch  nicht  erkannt 
ist.  Die  französischen  Befürworter  jenes  Antrags  würden 
es  nicht  für  strafwürdig  halten  wenn  ein  Unternehmer  er- 
klärt: ich  stelle  keine  Juden,  oder,  ich  stelle  keine  Christen 
an  — weil  ihnen  die  Zugehörigkeit  zu  einer  Kirche  keine 
Pflicht  ist,  sondern  nur  eine  Freiheit  schlechthin  und  des- 
halb keinen  Schutz  seitens  des  Staates  fordern  kann. 

Hier  aber  zeigt  es  sich,  dass  alles  formale  Recht,  alle 
logische  Prinzipienmässigkeit  sehr  bald  an  eine  Grenze  der 


Anwendbarkeit  kommt,  wo  nur  ein  materieller  Willensakt, 
ein  logisch  unbegründbares  Sic  volo  die  Gestaltung  der 
Verhältnisse  bestimmt.  Wenn  wir  schon  jedem  das  Recht 
auf  Pflichterfüllung  zusprechen  und  die  Freiheit  jedes 
andern  insoweit  beschränken:  so  folgt  doch  selbst  aus 

diesem  allgemeinen  Prinzip  keineswegs  mit  gleicher  Sicher- 
heit, welches  denn  nun  die  realen  Pflichten  des  Einzelnen 
sind.  Wir  haben  vorausgesetzt,  dass  die  Erhöhung  seines 
Lebensniveaus  und  die  Mittel  derselben  zu  erstreben  die 
Pflicht  des  Arbeiters  sei  und  dass  deshalb  dieser  gegenüber 
die  Freiheit  des  Unternehmers  ihre  Grenze  fände.  Wie 
aber  wenn  man  dies  leugnet?  Wenn  man  diese  Bestrebung 
nicht  für  eine  Pflicht,  sondern  für  ein  blosses  Recht  im 
subjektiven  Sinne,  eine  Freiheit  schlechthin  erklärt,  ver- 
gleichbar dem  religiösen  Bekenntniss?  Man  glaube  nicht, 
dass  diese  individualistische  Ansicht  logisch  oder  prinzipiell 
zu  widerlegen  ist.  Denn  dazu  bedürfte  es  für  sie  und  ihre 
Gegnerin  gemeinsam  anerkannter  Obersätze  — die  sie  nicht 
haben;  jede  kann  ihr  Recht  der  andern  gegenüber  nur  be- 
weisen durch  Berufung  auf  Prinzipien,  deren  Gültigkeit 
diese  ja  eben  ableugnet.  Man  gebe  sich  keiner  Illusion 
darüber  hin:  die  prinzipielle  Festsetzung  des  Maasses  von 
Freiheit  und  sozialer  Verpflichtung  der  Einzelnen  ist  nicht 
aus  irgend  welchen  Rechtsprinzipien,  ist  nicht  als  begriff- 
lich nothwendig  zu  demonstriren.  Die  Grenze  zwischen 
Pflicht  und  Freiheit  legt  jeder  an  den  Punkt,  an  den  sitt- 
licher Charakter  und  persönliches  Interesse  ihn  weisen,  und  , 
erst  wenn  sie  gesetzt  ist,  kann  logische  Ueberlegung  die 
Einzelheiten  gesetzlicher  Bestimmung  von  ihr  ableiten. 
Als  das  Todesurtheil  Ludwigs  XVI.  gefällt  werden  sollte,  ; 
verlangten  einzelne  gemässigtere  Stimmen,  der  Konvent 
solle  auf  den  Richtertitel  verzichten  und  nur  „aus  Gründen 
des  Staatswohles“  entscheiden.  Dem  lag  das  richtige  Ge-  ' 
fühl  zu  Grunde,  dass  in  den  letzten  und  höchsten  Fragen 
alle  formal-rechtliche  Deduktion  versagt  und  die  materielle 
Bestimmung  über  das,  was  gut  und  erforderlich  ist,  an  ihre 
Stelle  zu  treten  hat.  Wenn  heute  den  Unternehmern  das  I 
Recht  genommen  wird,  frei  zu  bestimmen,  aus  welchen  | 
Motiven  sie  ihre  Arbeiter  anstellen  oder  entlassen  wollen,  j 
so  habe  man  den  Muth,  dies  einfach  „aus  Gründen  des  ; 
Staatswohles“  zu  verfügen,  ohne  sich  eines  streng  logischen  ; 
Rechtes  dazu  anzumassen.  Denn  dieses  hätte  man  nur 
unter  der  Voraussetzung,  dass  die  so  gewonnene  Macht  und 
Lebenserhöhung  der  Arbeiter  deren  Pflicht  ist;  ob  sie  dies 
aber  ist,  ist  nicht  wieder  logisch  zu  deduziren,  sondern  ist 
vielmehr  der  letzte,  nur  durch  den  sittlichen  Willen  zu 
fixirende  Punkt,  der  oder  dessen  Verneinung  jeder  Deduktion 
in  sozialen  Dingen  erst  zum  Grunde  liegt. 

Um  uns  aber  für  die  Grenzsetzung  zwischen  Recht 
und  Pflicht  einen  möglichst  ungetrübten  Blick  zu  bewahren, 
thun  wir  gut,  uns  immer  vor  Augen  zu  halten,  dass  auch 
die  persönliche  Freiheit  ein  aus  bestimmten  geschichtlichen 
Gründen  entstandenes  Ideal  ist.  Trotz  aller  Heiligkeit,  von 
der  sie  umgeben,  trotz  alles  Enthusiasmus,  der  daran  ge- 
knüpft ist,  kann  man  doch  überzeugt  sein,  dass  sie  nur  ein 
Mittel  zu  bestimmten  sozialen  und  persönlichen  Zwecken 
ist  und  vielleicht  durch  ganz  andere  Ideale  abgelöst  werden 
wird,  wenn  diese  sich  als  geeignetere  Mittel  zu  jenen 
Zwecken  heraussteilen  würden.  Das  theologische  Interesse 
an  der  menschlichen  Freiheit,  die  den  Urheber  der  Welt 
von  der  Verantwortung  für  die  Sünde  und  das  Elend  in  ihr 
entlasten  sollte;  die  Spekulationen  der  Philosophen  über  die 
metaphysische,  der  Kausalverknüpfung  der  Dinge  entzogene 
Seele;  endlich  das  Interesse  der  herrschenden  Klassen,  für 
die  die  Freiheit  eben  die  Bedingung  ihrer  Herrschaftsübung 
war  und  die  zugleich  die  furchtbare  Macht  besitzen,  was 
für  sie  vortheilhaft  ist,  zum  sittlichen  Ideal  für  die  Gesammt- 
heit auszuprägen  — das  alles  hat  sich  vereinigt,  um  die 


No.  27. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


335 


Freiheit  des  Einzelnen,  als  absolutes  Ideal,  jenseits  aller 
relativen  Werthe  zu  stellen  und  ihre  Maximisirung  zum 
Maassstab  alles  sonst  Erreichten  zu  machen.  Es  wird 
niemand  den  Werth  leugnen,  den  diese  Idealisirung  der 
Freiheit  für  die  innere  und  äussere  Geschichte  der  euro- 
päischen Völker  gehabt  hat,  und  niemand  kann  sagen, 
welche  Rolle  ihr  in  der  weiteren  Kulturentwicklung  noch 
Vorbehalten  ist.  Aber  die  Einsicht  in  die  Ursachen  dieser 
Idealisirung  ist  selbst  eine  Befreiung  vom  Dogma.  Mit  ihr 
erscheint  es  wenigstens  möglich,  andere  Ideale  neben,  über 
das  der  persönlichen  Freiheit  zu  setzen;  denn  überall  wo 
man  zu  erkennen  begann,  dass  ein  Ideal  ein  blos  historisch 
gewordenes  ist,  war  dies  ein  Anzeichen,  dass  es  ein 
blos  historisches  zu  werden  begann.  So  ist  vielleicht 
die  innere  Lockerung  des  Freiheitsideales  auch  praktisch 
wichtig,  damit  man  nicht  mehr  mit  der  dogmatischen  Be- 
rufung auf  dasselbe  praktische  Fragen  zu  entscheiden 
meine.  Vielleicht  erleichtert  das  den  Appell  an  die  höchsten 
sozialen  Werthe,  zu  denen  auch  die  Freiheit  nur  ein 
historischer  Durchgangspunkt  ist  und  die  in  letzter  Instanz 
die  Grenze  zwischen  Rechten  und  Pflichten  des  Einzelnen 
zu  setzen  haben  — nicht  nach  dem  hier  versagenden 
Schema  eines  formalen  Rechtes,  sondern  aus  den  Gründen, 
aus  denen  überhaupt  jedes  Recht  erst  quillt  — „aus  Gründen 
des  Staatswohles“. 

Berlin  Georg  Simmel. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Regelung  der  Lohnfristen.  Der  preussische  Gewerberath 
für  den  Regierungsbezirk  Oppeln  tlieilt  in  seinem  neuen 
Jahresbericht  für  1891  S.  111)  folgende  Beobachtungen  und  Vor- 
schläge zur  Regelung  der  Lohnfristen  in  seinem  Bezirke  mit, 
die  auch  für  das  Allgemeine  von  Wichtigkeit  sind:  „Die  Ein- 

führung kürzerer  Löhnungsfristen  wird  durch  das  zeitraubende 
Abrechnungswesen,  welches  die  Akkordarbeit  im  Gefolge  hat, 
erschwert.  Auf  den  meisten  Werken  ist  es  deshalb  immer  noch 
üblich  monatlich,  und  zwar  um  die  Mitte  des  Monats  für  den 
voraufgegangenen  Monat,  zu  löhnen  und  am  Ende  des  Monats 
eine  Vorschusszahlung  auf  den  in  dem  abgelaufenen  Monat  ver- 
dienten Lohn  zu  gewähren.  Vielfach  sincl  zwei  und  drei  der- 
artige Vorschusszahlungen  eingeführt  worden.  Eine  vierwöchent- 
liche Löhnung  mit  einmaliger  Vorschusszahlung  lässt  sich  meines 
Erachtens  mit  Rücksicht  auf  die  Gewohnheiten  der  hiesigen 
Bevölkerung  nicht  als  zweckmässig  und  den  Bedürfnissen 
entsprechend  bezeichnen.  Es  hat  nicht  nur  für  den  oberschlesi- 
schen Arbeiter,  sondern  auch  für  andere  Menschen  Schwierig- 
keiten, die  ihnen  für  einen  grösseren  Zeitraum  zufliessenden 
Einnahmen  haushälterisch  zu  verwerthen.  Achttägige  Löhnungen 
entsprechen  gleichfalls  nicht  dem  Interesse  des  Arbeiters,  und 
zwar  aus  dem  Grunde,  weil  er  dann  zu  keiner  Zeit  so  viel  Geld 
in  die  Hände  bekommt,  dass  er  die  monatliche  Miethe  oder  in 
grösseren  Zeiträumen  wiederkehrende  Ausgaben  für  Beschaf- 
fung von  Kleidungsstücken  u.  dergl.)  ohne  Schwierigkeit  leisten 
kann,  wenn  er  nicht  gerade  besonders  sparsam  ist.  Hingegen 
entspricht  es  den  wirthschaftlichen  Bedürfnissen  und  Gepflogen- 
heiten des  Arbeiters,  wenn  er  einmal  monatlich  eine  grössere 
Summe  Geldes  und  2 — 3 mal  einen  kleineren  Betrag,  der  für  die 
Beschaffung  der  täglichen  Bedürfnisse  ausreicht,  in  die  Hände 
bekommt.  Monatliche  Löhnung  mit  2 — 3 Vorschuss- 
zahlungen ist  deshalb  meines  Erachtens  diejenige  Löh- 
nungsart, die  den  Interessen  der  Arbeiter  am  Meisten 
entspricht.  Die  vierwöchentliche  Abrechnung  erspart  den 
Industriellen  nicht  nur  Arbeit,  sondern  sie  ist  auch  ein  ge- 
lindes Hinderniss  für  eine  übertriebene  Freizügigkeit. 
Wenn  es  auch  im  Interesse  des  Arbeiters  liegt,  dass  ihm  die 
Möglichkeit  gesichert  bleibt,  seine  Arbeitskraft  möglichst  unge- 
hindert da  zu  verwerthen,  wo  sie  ihm  am  besten  bezahlt  wird, 
so  hat  doch  der  häufige  Uebergang  von  einem  Werke  zum 
andern  nicht  nur  wirthschaftliche  Nachtheile  für  den  Arbeiter, 
sondern  er  ist  auch  hinderlich  für  die  Entwickelung  eines  guten 
Verhältnisses  zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeiter  und  geeignet, 
Unfälle  herbeizuführen,  da  die  Unfallgefahr  für  einen  Arbeiter 
in  einem  Betriebe,  wo  er  so  zu  sagen  zu  Hause  ist,  weniger 


gross  ist,  als  in  einem  fremden.“  Ob  die  Arbeiter  selbst  die 
letzten,  angeblich  „in  ihrem  Interesse“  gemachten  Ausführungen 
so  ohne  Weiteres  unterschreiben,  möchten  wir  einigermassen 
bezweifeln. 


Kommunale  Besteuerung  des  Reichsfiskus.  Im  Reichs- 
schatzamt  ist  man  gegenwärtig  mit  der  Ausarbeitung  eines 
Gesetzentwurfs  betreffend  die  kommunale  Besteuerung  des 
Reichsfiskus  beschäftigt.  Derselbe  wird  namentlich  für 
ärmere  Gemeinden  von  Bedeutung  sein.  Für  diese  bedeutete 
die  Freilassung  der  Reichsanstalten  (Postämter,  Marine- 
werften u.  s.  w.)  nicht  selten  die  Freilassung  der  reichsten 
Gemeindeangehörigen  zu  Ungunsten  der  ärmeren.  Die 
Kommunalzuschläge  haben  ihre  drückende  Höhe  _ unter 
Anderem  auch  aus  dem  Grunde  erreicht,  weil  noch  immer 
zu  viel  Befreiungen  juristischer  Personen  bestehen.  Das 
preussische  Kommunalsteuer-Nothgesetz,  welches  in  dieser 
Beziehung  bereits  einen  Fortschritt  bezeichnete,  hat  doch 
die  Steuerpflicht  des  Reichsfiskus  nicht  ausgesprochen.  Die 
preussische  Regierung  geht  von  der  Ansicht  aus,  dass  das 
Reich  durch  das  Gesetz  vom  25.  Mai  1873  nur  die  Erlaub- 
niss  zur  Besteuerung  der  in  seinem  Eigenthum  befindlichen 
Gegenstände,  und  zwar  entsprechend  dem  landesfiska- 
lischen, gegeben  habe,  und  dass  im  Uebrigen  ohne  eine 
solche  Erlaubniss  die  Landesgesetzgebung  den  Reichsfiskus 
nicht  steuerpflichtig  machen  könne.  Diese  Auffassung  ist 
zwar  nicht  richtig.  “ Anstalten  des  Reichsfiskus  unterliegen 
an  sich  der  Steuergesetzgebung  des  Landes,  in  _ welchem 
sie  sich  befinden.  Das  Reichsgesetz  von  1873  giebt  nicht 
eine  Erlaubniss  zu  einer  ausnahmsweisen  Besteuerung,  son- 
dern will  nur  eine  ausnahmsweise  Grenze  der  Besteuerung 
feststellen.  Im  Uebrigen  hat  jede  Landesgesetzgebung  an 
sich  das  Recht,  innerhalb  dieser  Grenzen  die  Materie  zu 
regeln.  Dieses  Recht  ist  freilich  ein  Grund  mehr,  das  Zu- 
standekommen eines  allgemeinen  Reichsgesetzes  über  diese 
nicht  unwichtige  Materie  zu  wünschen. 

Arbeiterwanderungen  im  Innern  Deutschlands.  Zur  Sta- 
tistik und  Beschreibung  der  sozialen  Wanderungen  im  Innern 
Deutschlands  giebt  der  Gewerberath  für  die  Provinz  Posen  m 
seinem  neuen  Jahresberichte  für  1891  einen  bemerkenswerthen 
Beitrag.  Er  schreibt:  „Der  Abzug  der  Arbeiter  nach  dem  Westen 
ist  noch  immer  ein  bedeutender,  angeblich  Industrie  und  Land- 
wirtschaft der  östlichen  Provinzen  schwer  schädigender.  Er- 
fahrungsmässig  ist  der  Zuzug  ausländischer,  russischer  unci 
theilweise  galizischer  Arbeitskräfte  _ nicht  annähernd  im  Stande 
gewesen,  jene  Schädigung  auszugleichen.  Insbesondere  aus  dem 
Kreise  Schildberg  wird  hierüber  Klage  geführt.  An  Stelle  der 
von  dort  nach  Sachsen  gegangenen  2480  inländischen  Arbeiter 
sind  nur  150  russische  daselbst  eingezogen,  von  denen  97  aus 
verschiedenen  Gründen  im  Laufe  der  Zeit  wieder  entlassen 
wurden.  Im  Kreise  Lissa  betrug  der  Abgang  einheimischer  Ar- 
beitskräfte durch  Sachsengängerei  174,  der  Zuzug  aus  Russland 
und  Oesterreich  (Galizien)  dagegen  nur  118.  Im  Jahresberichte 
des  landwirthschaftlichen  Provinzialvereins  für  die  Provinz  Posen 
wird  der  Abgang  durch  Sachsengängerei  aus  der  Provinz  Posen 
zusammen  auf  etwa  15  000  Personen  geschätzt.  Wenngleich 
neuerdings  im  Osten  theilweise  die  Löhne  nicht  wesentlich  hinter 
den  im  Westen  gezahlten  zurückstehen  (insbesondere  in  Anbe- 
tracht der  grösseren  Billigkeit  der  Lebensmittel  im  hiesigen 
Bezirk),  wird  es  gleichwohl  schwer  halten,  die  leider  einmal  ans 
Wandern  gewöhnte  und  durch  den  Reiz  des  Neuen  angezogene 
Bevölkerung  an  eine  grössere  Sesshaftigkeit  zurück  zu  gewöhnen. 
Eine  Erschwerung  der  notorischen  Verführung  der  Arbeiter 
durch  die  im  Lande  umherziehenden  Agenten,  Ausweisung  der 
Letzteren,  gesetzliche  Massnahmen  zur  Erschwerung  des  Kon- 
traktbruchs und  dergleichen  staatliche  Mittel  würden  vielleicht 
eine  Besserung  im  Laufe  der  Zeit  herbeizuführen  geeignet  sein, 
fürs  Erste  aber  gegenüber  der  eingewurzelten  alten  Gewohnheit 
sich  als  machtlos"  erweisen.“  Im  Anschluss  an  diese  Notiz  ist 
nur  sehr  zu  bedauern,  dass  der  Aufsichtsbeamte  nicht  positivere 
Angaben  über  die  Lohnhöhe,  die  Umstände,  welche  die  Arbeiter 
zum  „Kontraktbruch“  treiben,  sowie  über  die  „notorische  Ver- 
führung durch  Agenten“  macht.  Mindestens  die  Radikalmass- 
regel  der  „Ausweisung“  solcher  Agenten  müsste  doch  etwas 
mehr  begründet  werden,  als  durch  blosse  Anschuldigungen. 
Uebrigens  macht  der  preussische  Gewerberath  für  die  Regierungs- 
bezirke Breslau  und  Liegnitz  bezüglich  der  Löhne  ebenfalls 
in  seinem  neuen  Berichte  für  1891  eine  Mittheilung,  welche 
gerade  umgekehrt  lautet,  wie  diejenige  des  Posener  Beamten. 
Er  schreibt  nämlich:  „Eine  Erhöhung  der  Arbeitslöhne  hat  nur 
in  wenigen  Industriezweigen,  und  auch  da  nur  ortsweise  statt- 
gefunden. Im  Allgemeinen  stehen  die  Löhne  in  kleinen 
und  abgelegenen  Orten  unverhältnissmässig  niedrig 
gegenüber  denen  in  grösseren  Städten,  und  wird  da- 
durch der  Zug  der  Arbeiter  nach  grösseren  Städten 
begünstigt.“  Solche  Widersprüche  gehören  zu  den  herge- 
brachten Eigenthümlichkeiten  des  preussischen  Berichtsbandes. 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  27. 


Das  französische  IJnternehmerthnm  und  das  Gesetz 
Bovier-Lapierre.  Es  war  vorauszusehen,  dass  das  Unter- 
nehmerthum alles  aufbieten  werde,  um  das  von  der  Kammer 
votirte  Gesetz,  das  die  Arbeitgeber,  die  sich  der  Ausübung 
der  vom  Syndikatsgesetze  vom  21.  März  1884  den  Arbeitern 
zuerkannten  Rechte  entgegenstemmen,  mit  Gefängniss  oder 
Geldstrafe  belegt,  im  Senate,  dem  es  gegenwärtig  vorliegt, 
zu  Falle  zu  bringen.  Den  Anfang  machte  die  Pariser 
Handelskammer.  Ihr  folgte  das  Gross  der  übrigen  Handels- 
kammern sowie  der  Unternehmersyndikate.  Wir  sind  weit 
entfernt  davon,  ihnen  das  Recht  absprechen  zu  wollen, 
gegen  ein  Gesetz  zu  agitiren,  das  ihre  Machtvollkommenheit 
beschränkt,  so  sehr  wir  auch  dasselbe  im  Interesse  einer 
friedlichen  sozialen  Entwickelung  befürworten,  Was  man 
aber  billiger  Weise  verlangen  kann,  ist,  dass  sie  dabei 
ebenso  offen  und  ehrlich  zu  Werke  gehen,  wie  dies  die 
Arbeiter  thun.  Diesen  fällt  es  nie  und  nirgends  im  Kampfe 
um  ihre  Interessen  ein,  die  Unternehmer  vorzuschieben, 
während  das  Unternehmerthum  in  solchen  Fällen  stets  das 
Interesse  der  Arbeiterschaft  im  Muxrde  führt  und  von  Frei- 
heit, Eintracht  und  Brüderlichkeit  spricht. 

In  der  Versammlung,  welche  die  Vertreter  der  Unter- 
nehmerverbände eigens  zum  Zwecke  ihrer  Stellungnahme 
gegen  das  Gesetz  Bovier-Lapierre  vor  Kurzem  in  Paris  ab- 
hielten, haben  sie  nämlich  folgenden  Beschluss  gefasst: 

„Die  Versammlung  der  Handels-  und  (Unternehmer-) 
Syndikatskammern  Frankreichs,  sich  dem  Anträge  der 
Pariser  Handelskammer  anschliessend  und  ebenso  besorgt 
um  die  Interessen  der  Arbeiter  wie  um  die  der 
Arbeitgeber,  protestirt  energisch  gegen  das  Gesetz 
Bovier-Lapierre  als  eine  Verletzung  der  Freiheit,  des 
sozialen  Friedens  und  des  Geistes  der  Eintracht 
und  Brüderlichkeit,  der  unter  allen  Arbeitern,  auf 
welcher  Stufe  der  sozialen  Leiter  sie  auch  stehen  mögen, 
herrschen  muss  und  verlangt  vom  Senate,  dass  es  dieses 
Gesetz,  dessen  Hauptwirkung  darin  bestände,  die  grösste 
Unordnung  und  Zerrüttung  in  unsere  Nationalindustrie  zu 
bringen,  aufs  Neue  ablehnen.“ 

Gegenüber  diesem  ablehnenden  Beschluss  der  Unter- 
nehmerverbände lässt  sich  zwar  auch  auf  zustimmende  Be- 
schlüsse anderer  und  zwar  massgebenderer  weil  unpartei- 
ischer Körperschaften  hinweisen.  So  hat  der  Generalrath 
des  Seinedepartements  in  seiner  Eröffnungssitzung  vom 
20.  Juni  1.  J.  einen  Dringlichkeitsantrag  angenommen,  welcher 
verlangt,  dass  das  Parlament  das  Bovier-Lapierre’sche  Ge- 
setz, „bestimmt  dem  Syndikatsgesetze  von  1884  seine  Trag- 
weite und  Sanktion  zu  geben“,  in  möglichster  Bälde  votire. 
Es  steht  jedoch  zu  befürchten,  dass  wenn  nicht  von  allen 
Seiten  solche  Beschlüsse  kommen,  so  dass  sie  die  öffentliche 
Meinung  stark  beeinflussen,  der  Senat  sich  auch  diesmal 
Eins  mit  dem  Unternehmerthum  fühlen  und  den  Entwurf 
abermals  zurückweisen  wird.  Es  wäre  denn,  dass  er  den 
Unternehmerverbänden  damit  ein  Schnippchen  schlüge,  in- 
dem er  sich  in  Wirklichkeit  „ebenso  besorgt  um  die  Inter- 
essen der  Arbeiter  wie  um  die  der  Arbeitgeber“  zeigte  und 
eine  „Verletzung  der  Freiheit  sowie  des  sozialen  Friedens“ 
hintanzuhalten  suchte. 

Die  Auswanderung  der  deutschen  Kolonisten  aus 
Russland  nach  Nordamerika.  Die  Ssaratower  Blätter  — das 
Amtsblatt  („Ssaratowskija  Gubernskija  Wedomosti“)  und 
der  „Ssaratowskij  Listok“  — bringen  interessante  Mittheilun- 
gen über  die  Auswanderung  der  Deutschen  aus  Russland. 
Die  Kolonisten,  sagt  das  Amtsblatt,  verkaufen  für  einen 
Spottpreis  ihr  Hab  und  Gut  und  reisen  in  die  Vereinigten 
Staaten  ab.  Mehrere  Familien,  welche  früher  nach  Amerika 
übersiedelt  sind,  fordern  ihre  Landsleute  auf,  dasselbe  zu 
thun.  Für  die  Reise  sind  100—140  Rubel  per  Mann  nöthig 
und  „offenbar  können  viele  Kolonisten  solche  immense  (?) 
Mittel  nicht  aufbringen“  und  müssen  in  Russland  bleiben. 
Alle  wohlhabenden  Kolonisten  werden  aber  wahrscheinlich 
bald  nach  Amerika  übersiedeln.  In  diesem  Jahre  reisen 
30  Familien  (120 — 150  Seelen)  fort.  Zur  Ansiedelung  werden 
vornehmlich  die  Staaten  Kansas  und  Washington  gewählt. 

Die  Emigrationsbewegung,  berichtet  der  Ssaratowskij 
Listok,  ergreift  immer  stärker  und  stärker  die  deutsche 
Bevölkerung  der  Gouvernements  Ssaratow  und  Ssamara. 
Täglich  sieht  man  in  Ssaratow  durchreisende  Auswanderer. 
Der  Berichterstatter  des  genannten  Blattes  sagt,  dass  die 
ihm  begegnenden  Auswanderer  unentgeltliche  Schiffskarten 
mit  sich  führten,  welche  sie  von  ihren  Verwandten  bekom- 
men hatten.  Ihr  ganzes  Gepäck  bestand  aus  2 — 3 „Säck- 
chen“ auf  je  eine  Familie. 


Noch  früher  berichteten  russische  Blätter,  dass  viele 
Deutsche  aus  den  Gouvernements  Ssaratow  und  Ssamara 
durch  den  Nothstand  gezwungen  worden  sind,  für  den 
Winter  zu  ihren  Landsleuten  in  den  südrussischen  Gouverne- 
ments Cherson  und  Taurien  überzusiedeln,  um  sich  bei 
ihnen  verpflegen  zu  lassen. 


Arbeiterzustände. 


Verhandlungen  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik. 

Die  Kommission  für  Arbeiterstatistik  erledigte,  wie  wir 
dem  Reichs-Anzeiger  entnehmen,  in  ihrer  Sitzung  vom  23.  d.  M. 
zunächst  den  ersten  Gegenstand  der  Tagesordnung,  in  dem 
sie  sich  über  die  Geschäftsordnung  äusserte.  Der  § 8 des  Re- 
gulativs vom  1.  April  schreibt  vor,- dass  die  Geschäftsordnung 
zunächst  vorläufig,  demnächst  nach  Anhörung  der  Kommission 
endgültig  vom  Reichskanzler  zu  erlassen  ist.  Die  der  Kommission 
mitgeth eilte  vorläufige  Geschäftsordnung  fand  in  allen  wesent- 
lichen Punkten  Zustimmung.  Es  wurde  anerkannt,  dass  diese 
sich  durchgehends  innerhalb  der  durch  das  Regulativ  gezogenen 
Grenzen  halte. 

Von  einer  Seite  wurde  angeregt,  in  die  Geschäftsordnung 
eine  Bestimmung  aufzunehmen,  nach  welcher  die  Kommission 
in  ihrer  Mehrheit  den  Zusammentritt  der  Kommission  zu  be- 
schliessen  befugt  sein  sollte  Seitens  des  Vorsitzenden  wurde 
demgegenüber  geltend  gemacht,  dass  es  den  Mitgliedern  trei 
stände,  Anträge  auf  Einberufung  der  Kommission  zu  stellen, 
dass  aber  ein  Zusammentreten  der  Kommission  nach  dem  Re- 
gulativ nur  auf  Anordnung  oder  mit  Genehmigung  des  Reichs- 
kanzlers zulässig  sei.  Diese  Bestimmung  sei  selbstredend  auch 
für  die  der  Kommission  angehörenden  Mitglieder  des  Reichstags 
bindend,  zumal  ihre  Wahl  erfolgt  sei,  ohne  dass  gegen  das  Re- 
gulativ irgend  ein  Einwand  erhoben  worden  sei. 

Des  weiteren  wurde  die  Frage  erörtert,  ob  und  in  wel- 
chem LTmfange  der  Kommission  oder  einzelnen  Mitgliedern  die 
Befugniss  zustände,  Anträge  auf  Vornahme  neuer  Erhebungen 
zu  stellen.  In  Uebereinstimmung  mit  den  dahin  gehenden  Aus- 
führungen des  Vorsitzenden  erkannte  die  Kommission  an,  dass 
solche  Anträge  zulässig  wären,  sich  jedoch  innerhalb  der  durch 
das  Regulativ  für  die  Zuständigkeit  der  Kommission  gezogenen 
Grenzen  zu  halten  haben  würden. 

Die  Frage,  ob  nicht  für  die  Kommission  ein  besonderes 
Bureau  einzurichten  wäre,  fand  ihre  Erledigung  durch  die  Mit- 
theilung des  Vorsitzenden,  dass  die  bureaumässigen  Arbeiten 
von  Beamten  des  Reichsamts  des  Innern,  die  statistischen 
Arbeiten  im  Kaiserlichen  Statistischen  Amt  erledigt  werden 
würden 

Hinsichtlich  der  Stellung  der  nach  § 5 des  Regulativs  zu 
den  Sitzungen  der  Kommission  zuzuziehenden  Arbeitgeber  und 
Arbeiter  erklärte  sich  die  Kommission  nach  längerer  Verhand- 
lung in  ihrer  Majorität  darin  einverstanden,  dass  diesen  nach 
der  Fassung  des  Regulativs  nur  berathende  Stimmen,  also  nicht 
das  Recht  der  selbständigen  Antragstellung  zustehe 

Zu  § 9 der  Geschäftsordnung  wurde  von  einer  Seite  die 
Aufnahme  einer  Bestimmung  beantragt,  wonach  die  Kommission 
oder  der  Vorsitzende  befugt  sein  sollte,  Mitglieder  der  Kom- 
mission mit  Erledigung  einzelner  ihr  obliegenden  Geschäfte  zu 
beauftragen.  Dieser  Vorschlag  fand  die  Zustimmung  der  Kom- 
mission. ....  r- 

Bezüglich  der  von  einigen  Mitgliedern  angeregten  frage 
der  Oeffentlichkeit  der  Verhandlungen  bemerkte  der  Vorsitzende, 
dass  es  keinem  Kommissionsmitgliede  verwehrt  wäre,  Mitthei- 
lungen über  die  Verhandlungen  der  Kommission  nach  aussen 
gelangen  zu  lassen  Allerdings  aber  müsste  der  "V  orbehalt  ge- 
macht werden,  dass  in  Fällen  eines  zwingenden  sachlichen  Be- 
dürfnisses den  Mitgliedern  der  Kommission  die  Verpflichtung 
der  Verschwiegenheit  auferlegt  werden  könnte.  Diese  Auffas- 
sung fand  die  Zustimmung  der  Kommission. 

Zu  § 12  des  Regulativs  wurde  von  einer  Seite  der  Wunsch 
geäussert,  dass  der  Reichstag  von  den  Verhandlungen  der  Kom- 
mission Mittheilung  erhalten  möchte. 

Bei  der  Berathung  des  zweiten  Gegenstandes  der  1 ages- 
Ordnung:  „gutachtliche  Aeusserung  der  Kommission  über  die  in 
Aussicht  genommenen  Erhebungen  in  Betreff  der  Arbeitszeit  im 
Bäckerei-  und  Konditoreigewerbe,  im  Müllerei-  und  im  Handels- 
gewerbe“ wurde  zunächst  die  prinzipielle  Frage  erörtert,  in 
welcher  Weise  die  statistischen  Erhebungen  herbeigeführt 
werden  sollten.  Die  Kommission  entschied  sich  für  die  Auf- 
stellung von  Fragebogen,  welche  sowohl  an  Arbeitgeber  wie  an 
Arbeitnehmer  zur  Beantwortung  gegeben  werden  sollten,  und 
unterzog  demnächst  den  ihr  vorgelegten  Entwurf  eines  das 
Bäckerei-  und  Konditoreigewerbe  betreffenden  Fragebogens 
einer  eingehenden  Prüfung.  Die  Hineinbeziehung  auch  des 
Konditoreigewerbes  in  die"  in  Aussicht  genommene  Erhebung 
hielt  die  Kommission  für  zweckmässig,  zumal  dieses  Gewerbe 


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mit  dem  Bäckereigewerbe  häufig  gemeinsam  betrieben  würde. 
Nach  eingehender  Berathung  wurden  im  wesentlichen  Anschluss 
an  den  Entwurf  folgende  Fragen  für  die  auszusendenden  Frage- 
bogen empfohlen : 

An  wieviel  Tagen  der  Woche  werden  Backwaaren  her- 
gestellt? 

Wird  täglich  einmal  oder  mehrmals  frische  Waare  her- 
gestellt? 

Wieviel  Personen  überhaupt  ausser  dem  Geschäftsinhaber 
sind  regelmässig  in  der  Bäckerei  (Konditorei)  und  in  dem  da- 
mit verbundenen  Ladengeschäft  beschäftigt?;  ferner  Fragen 
über  die  Zahl  der  Werkführer  (Schliesser  u.  s.  w.),  der  Gesellen, 
der  Lehrlinge  und  der  ungelernten  Arbeiter,  über  ihre  Beschäfti- 
gungszeit und  über  die  ihnen  regelmässig  gewährten  Ruhezeiten 
von  mindestens  24  Stunden. 

Der  Sitzung  wohnte  ausser  den  bereits  anderweit  namhaft 
gemachten  Kommissionsmitgliedern  auch  der  vom  Reichskanzler 
zum  Mitglied  der  Kommission  ernannte  Direktor  des  Kaiser- 
lichen Statistischen  Amts  Geheime  Regierungs-Rath  Dr  von 
Scheel  bei. 

In  der  Sitzung  vom  24.  d.  M.  wurde  die  Berathung  über 
den  Fragebogen  bezüglich  der  Erhebungen  im  Bäckerei-  und 
Konditoreigewerbe  zu  Ende  geführt.  Die  Kommission  entschied 
sich  nach  längerer  Debatte  für  den  Vorschlag,  für  die  mit 
Bäckereien  und  Konditoreien  verbundenen  Ladengeschäfte  fol- 
gende Fragen  in  den  Fragebogen  aufzunehmen: 

„Wie  viele  gegen  Lohn  beschäftigte  Personen  sind  aus- 
schliesslich für  den  Verkauf  im  Laden  angenommen?“ 

„Wie  lange  dauert  die  Verkaufszeit  an  den  Wochen- 
tagen ?“ 

Sodann  wurde  erörtert,  ob  es  sich  empfehle,  auch  Fragen 
bezüglich  des  Lehrlingswesens  und  der  Wohnungs Verhältnisse 
zu  stellen 

Rücksichtlich  des  Lehrlingswesens  empfahl  die  Kommission 
folgende  Fragen:  „Wird  der  Lehrvertrag  schriftlich  geschlossen  ?“ 
„Wird  Lehrgeld  bezahlt?“  „Wie  lange  dauert  die  Lehrzeit?“ 
„Besuchen  die  Lehrlinge  eine  Fachschule,  Fortbildungsschule, 
Sonntags-  oder  Feiertagsschule?“  Wenn  ja,  „an  welchen  Tagen 
der  Woche  und  zu  welchen  Tagesstunden?“ 

Die  Frage  nach  den  Wohnungs  Verhältnissen  empfahl  die 
Kommission  auf  diejenigen  Gesichtspunkte  zu  beschränken, 
welche  mit  dem  Zwecke  der  in  Aussicht  genommenen  Erhebung, 
die  Feststellung  der  Arbeitsdauer,  in  unmittelbarem  Zusammen- 
hänge Ständen.  Nach  eingehender  Berathung  wurden  folgende 
Fragen  vorgeschlagen:  „Wohnung  beim  Meister  haben  wie 

viele  Lehrlinge?  wie  viele  Gesellen?“  Vollständige  Kost  beim 
Meister  haben  wie  viele  Lehrlinge?  wie  viele  Gesellen ?“  „Theil- 
weise  Kost  beim  Meister  haben  wie  viele  Lehrlinge?  wie  viele 
Gesellen?“ 

Ausserdem  wurde  es  für  zweckmässig  erachtet,  die  Er- 
hebung auch  über  die  Frage  der  Bäckerei-  und  Konditorei- 
gewerbe zur  Anwendung  gelangenden  Arbeitsmaschinen  auszu- 
dehnen. 

1 In  der  Nachmittagssitzung  vom  24.  d.  Mts.  erörterte  die 

Kommission  für  Arbeiterstatistik  zunächst  die  Frage,  ob  für  die 
Bäckereien  mit  Tag-  und  Nachtschichten  die  Ausgabe  eines 
besonderen  Fragebogens  zu  empfehlen  sei.  Mit  Rücksicht  auf 
die  geringe  Anzahl  der  Betriebe  dieser  Art  wurde  die  Frage 
verneint 

Darauf  ging  die  Kommission  zur  Berathung  des  ihr  vor- 
gelegten Entwurfs  eines  Fragebogens  für  das  Handelsgewerbe 
(nur  für  Geschäfte  mit  offenem  Laden)  über.  Zu  demselben 
waren  von  dem  Referenten  eine  Reihe  von  Abänderungsanträgen 
eingebracht. 

Die  erste  Nummer  des  Fragebogens  in  der  von  der  Kom- 
mission gutgeheissenen  Fassung  bezieht  sich  auf  die  Zahl  der 
in  offenen  Ladengeschäften  thätigen  Personen  und  zwar  geschie- 
den nach  der  Stellung  (Gehilfen  — Lehrlinge),  nach  dem  Alter 
(über  oder  unter  16  Jahren)  und  dem  Geschlecht  Ueber  die 
Arbeitszeit  wurden  nach  längerer  Debatte  folgende  Fragen  zur 
Aufnahme  in  den  Fragebogen  empfohlen: 

»Wie  lange  ist  beim  regelmässigen  Geschäftsbetriebe  an 
1 Wochentagen  der  Laden  für  das  Publikum  geöffnet?“  „Wie 
lange  sind  die  zu  1 bezeichneten  Personen  beim  regelmässigen 
Betriebe  an  Wochentagen  im  Geschäft  beschäftigt?“  „Wie  viele 
von  den  zu  1 bezeichneten  Personen  haben  täglich  eine  bestimmte 
Mittagspause?  wie  lange?“  „Ist  der  Laden  zu  Zeiten  besonderen 
Geschäftsandranges  länger  geöffnet  als  zu  2 angegeben?  Wenn 
ja:  an  wieviel  Tagen  etwa  im  Jahr?  und  an  solchen  Tagen  um 
wieviel  Stunden  länger?“ 

Zur  Ermittelung  der  hinsichtlich  der  Kündigungsfristen 
bestehenden  Verhältnisse  wurde  die  Aufnahme  folgender  Fragen 
empfohlen:  „Ist  für  die  Gehilfen  eine  andere  Kündigungsfrist 
als  die  sechswöchentliche  des  Handelsgesetzbuchs  vereinbart? 
für  wie  viele?  welches  ist  die  Kündigungsfrist?“  „Ist  die  Kün- 
digungsfrist für  beide  Theile  gleich?  wenn  nicht,  wie  ist  das 
Verhältniss  geordnet?“ 

j . Die  in  der  Sitzung  vom  23.  d.  M.  bezüglich  der  Lehrlinge 
m Bäckereien  und  Konditoreien  formulirten  Fragen  sind  nach 
Ansicht  der  Kommission  auch  in  den  Fragebogen  für  das 
[ Handelsgewerbe  aufzunehmen.  Ebenso  stimmt  die  für  diesen 
t*  ragebogen  bezüglich  der  Wohnungs  Verhältnisse  von  der  Kom- 
1 mission  vorgeschlagene  Frage  mit  der  entsprechenden  für  das 


Bäcker-  und  Konditoreigewerbe  ihrem  wesentlichen  Inhalt  nach 
überein. 

Hiermit  waren  die  Erörterungen  über  den  Fragebogen  für 
das  Handelsgewerbe  zu  Ende  geführt  Die  weitere  Berathung 
wurde  auf  den  folgenden  Vormittag  vertagt. 

In  der  Sitzung  vom  25.  d.  M.  berieth  die  Kommission  zu- 
nächst über  den  ihr  vorgelegten  Fragebogen  bezüglich  der  Er- 
hebungen über  die  Arbeitszeit  in  Getreidemühlen.  Hierbei 
wurde  von  verschiedenen  Seiten  ausgeführt,  dass  nach  den  ge- 
machten Wahrnehmungen  nicht  nur  bei  Getreidemühlen,  sondern 
u a.  auch  bei  den  Öelmiihlen  und  Sagemühlen  Klagen  über 
übermässige  Arbeitszeiten  laut  geworden  seien,  welche  die  Aus- 
dehnung der  Untersuchung  auf  diese  Betriebe  wiinschenswerth 
erscheinen  liessen.  Die  Kommission  beschloss,  den  Reichskanzler 
zu  ersuchen,  auch  über  die  Arbeitszeit  in  Oelmühlen  und  Säge- 
mühlen Erhebungen  in  Aussicht  zu  nehmen  und  über  den  Ent- 
wurf eines  diesen  Erhebungen  zu  Grunde  zu  legenden  Frage- 
bogens demnächst  die  Kommission  gutachtlich  zu  hören. 

Zu  dem  vorgelegten  Entwurf  eines  Fragebogens  über  die 
Arbeitszeit  in  Getreidemühlen  wurden  von  mehreren  Seiten 
j Abänderungsanträge  gestellt  Nach  längerer  Berathung  erachtete 
die  Kommission  es  für  rathsam,  dass  diese  Anträge  vor  der 
I Beschlussfassung  einer  Prüfung,  eventuell  unter  Zuziehung  von 
Sachverständigen,  unterzogen  würden.  An  der  Hand  dieser 
Prüfung  würde  sodann  ein  neuer  Fragebogen  aufzustellen  und 
| der  Kommission  zur  Begutachtung  vorzulegen  sein.  Es  wurde 
; beschlossen,  ein  dahin  gehendes  Ersuchen  an  den  Reichskanzler 
zu  richten. 

In  der  Nachmittagssitzung  wurde  die  Frage,  in  welcher 
Weise  die  Erhebungen  mittels  der  beratbenen  Fragebogen 
vorzunehmen  seien,  einer  eingehenden  Erörterung  unterzogen. 
Hierbei  ergab  sich  Uebereinstimmung  darüber,  dass  die  Er- 
hebungen sich  nicht  auf  alle  Betriebe  erstrecken  können,  dass 
man  sich  vielmehr,  um  in  absehbarer  Zeit  zu  einem  Ergebniss 
zu  gelangen,  mit  Stichproben  begnügen  müsse.  Die  Kommission 
hält  es  für  ausreichend,  in  jedem  Bundesstaat  etwa  10  pCt  der 
vorhandenen  Betriebe  in  die  Erhebungen  einzubeziehen..  Die 
Auswahl  dieser  Betriebe  würde  nach  Ansicht  der  Kommission 
zweckmässig  in  der  Weise  erfolgen,  dass  jede  Landesregierung 
in  ihrem  Gebiet  eine  Anzahl  von  Ortschaften,  — unter  ent- 
sprechender Berücksichtigung  der  grossen,  mittleren  und  kleinen 
Städte  und  der  ländlichen  Orte  — , in  den  grossen  Städten  je- 
doch nur  einzelne  räumlich  abgegrenzte  Bezirke,  — bestimme, 
in  welchen  für  alle  Betriebe  der  betreffenden  Art  Fragebogen 
behufs  Beantwortung  auszugeben  seien  und  zwar  für  die  eine 
Hälfte  der  Betriebe  an  die  Arbeitgeber,  für  die  andere  Hälfte 
an  die  Arbeitnehmer.  Aushändigung  und  Einsammlung  der 
Fragebogen  würde  durch  die  Ortsbehörden  erfolgen  können. 
Die  weitere  Behandlung  der  Angelegenheit  wird  sich  nach  der 
Ansicht  der  Kommission  so  zu  gestalten  haben,  dass  bis  zum 

1.  Oktober  d.  J.  die  Fragebogen  für  jeden  Bundesstaat  von  den 
Landes -Centralbehörden  dem  Kaiserlichen  Statistischen  Amt 
übersandt  werden,  dass  das  letztere  die  eingegangenen  Ant- 
worten zusammenstellt  und  dass  auf  Grund  eines  die  Ergeb- 
nisse dieser  Bearbeitung  zusammenfassenden  Berichts  die 
Kommission  in  eine  erneute  Berathung  des  Gegenstandes 
eintritt,  um  sich  über  die  Vornahme  mündlicher  Vernehmungen 
oder  sonstiger  besonderer  Ermittelungen  schlüssig  zu  machen. 

Die  von  einem  Mitgliede  angeregte  Frage,  ob  es  nicht 
zweckmässig  sein  werde,  schon  bei  den  thatsächlichen  Er- 
hebungen auch  die  organisirten  Verbände  zu  befragen,  wurde 
von  der  Kommission  mit  Rücksicht  darauf  verneint,  dass  es 
nicht  wohl  thunlich  sei,  alle  derartige  Verbände  zu  hören,  dass 
die  Befragung  einiger  aber  zweifellos  die  LTnzufriedenheit 
und  das  Misstrauen  der  anderen  erregen  würde  Dagegen 
wurde  ausdrücklich  konstatirt,  dass  es  jedem  Verein  wie  jedem 
Privatmann  freistehe,  dem  Reichskanzler  oder  der  Kommission 
im  Anschluss  an  den  Inhalt  der  Fragebogen,  welche  Jeder- 
mann zugänglich  sein  würden,  entsprechende  Mittheilungen  zu 
machen. 

Die  Erhebungen  bezüglich  des  Handelsgewerbes  empfahl 
die  Kommission  einstweilen  auf  folgende  fünf  Zweige  zu  be- 
schränken: 1 Handel  mit  landwirthschaftlichen  Produkten; 

2.  Handel  mit  Kolonial-,  Ess-  und  Trinkwaaren;  3 Tabak-  und 
Cigarrenhandel;  4.  Handel  mit  Manufaktur-  und  Schnittwaaren; 
5.  die  in  der  Gewerbestatistik  als  Handel  mit  gemischten 
Waaren  bezeichneten  Betriebe. 

Nach  Erledigung  der  Tagesordnung  wurde  von  einem 
Mitgliede  der  Kommission  der  Antrag  auf  Anregung  einer 
Untersuchung  über  die  Arbeitszeit  u.  s.  w.  in  der  Hausindustrie 
gestellt.  Ein  anderes  Mitglied  beantragte,  bei  dem  Reichskanzler 
die  Vornahme  lohnstatistischer  Erhebungen  in  Vorschlag  zu 
bringen.  Der  Vorsitzende  stellte  in  Aussicht,  beide  Anträge  auf 
die  Tagesordnung  der  nächsten  Sitzung  zu  setzen 


Wirkungen  der  Frauenarbeit  in  Fabriken.  Eine  packende 
Schilderung  der  demoralisirenden  Wirkungen,  welche  die  Be- 
schäftigung weiblicher  Arbeiter  in  den  heutigen  Fabriken  nament- 
lich auf  ledige  Mädchen  ausübt,  giebt  der  preussische  Gewerbe- 
rath für  den  Regierungsbezirk  Schleswig  in  seinem  soeben 
amtlich  veröffentlichten  Bericht  für  1891  mit  folgenden  Sätzen: 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  27. 


„Nach  den  Andeutungen  eines  Arbeitgebers,  welcher  308  Ar- 
beiterinnen beschäftigt,  hätten  manche  von  ihnen  gar  keine 
eigene  Wohnung,  sondern  übernachteten  einfach  bei  ihren 
jeweiligen  Liebhabern  und  blieben  auch  zeitweise  von  der 
Arbeit  so  lange  fort,  als  diese  Liebhaber  ihrer  nicht  überdrüssig 
würden.  Erst  wenn  das  Letztere  einträte,  suchten  sie  wieder 
von  Neuem  um  Arbeit  nach.  Die  Aufseherin,  eine  energische 
Frau,  klagte  über  die  Schwierigkeit,  unter  dieser  Gesellschaft 
Ordnung  "zu  halten.  Der  Arbeitgeber  betonte  ferner,  dass 
sobald  er  nur  ein  paar  Arbeiterinnen  mehr  brauchen  könne, 
sie  sich  gleich  zu  Hunderten  meldeten,  wohingegen  es  um  so 
schwerer  wäre,  ordentliche  Dienstmädchen  zu  erhalten.  Die 
Arbeitgeber,  welche  Arbeiterinnen  beschäftigen,  sind  sehr  häufig 
der  Ansicht,  dass  sich  zu  Fabrikarbeiterinnen  im  Allgemeinen 
nur  Mädchen  von  geringerem  sittlichem  Fonds  hergeben,  denen 
die  mit  dem  Fabrikbetriebe  verbundene  Freiheit  am  Abend  viel 
zu  verlockend  ist,  als  dass  sie  sich  als  Dienstmädchen  ver- 
mietheten,  und  dass  es  gar  nichts  Seltenes  wäre,  dass  die  heim- 
liche Prostitution  in  der  täglichen  Fabrikarbeit  nur  den  er- 
wünschten Deckmantel  suche.  Der  technische  Leiter  einer  der 
bedeutendsten  hiesigen  Fabriken  theilte  mir  mit,  dass  die  Ehen 
verschiedener  seiner  Arbeiter  mit  früheren  Arbeiterinnen  einer 
in  der  Nähe  befindlichen  anderen  Fabrik  oft  höchst  unglück- 
liche wären  Diese  Arbeiter  wären  tüchtige,  nüchterne  Leute 
gewesen,  die  sich  bald  nach  der  Verheiratung  dem  Trünke 
ergeben  hätten,  da  ihre  Frauen  sich  weder  mit  dem  Lohne  ihrer 
Männer  annähernd  einzurichten,  noch  das  Geringste  vernünftig 
zu  kochen  verständen,  sowie  ihren  Hausfrauenpflichten  über- 
haupt nicht  ernstlich  nachzukommen  bestrebt  wären.  Er  machte 
für  diese  Erscheinungen  in  erster  Linie  die  Fabrikarbeit  der 
Mädchen  verantwortlich,  und  behauptete,  dass,  wenn  ein 
in  die  Fabrik  eintretendes  Mädchen  noch  eine  gewisse  Moral 
dorthin'  mitbringe,  ihm  diese  binnen  kürzester  Zeit  von  der 
übrigen  sittlich  verwahrlosten  Gesellschaft  sicher  ausgetrieben 
würde.  Einige  verheirathete,  alte  Arbeiterinnen,  die  mit  ihren 
Männern  zusammen  in  Zuckerfabriken  arbeiten,  erklärten  eben- 
falls unabhängig  von  einander,  dass  die  Sittlichkeit  in  den 
Kasernen  trotz  aller  Strafen  durch  das  entgegenkommende  Ver- 
halten der  jungen  Arbeiterinnen  den  Männern  gegenüber  mit- 
unter gar  zu  arg  gefährdet  wäre  und  hielten  deshalb  den  Aus- 
schluss der  unverh eirat heten  Arbeiterinnen  von  den 
Zuckerfabriken  für  wünschenswerth.  Nach  dem,  was  ich 
auf  diesem  Gebiet  namentlich  in  Altona  erfahren  habe,  bin 
ich  ebenfalls  überzeugt,  dass  die  grosse  Ausdehnung,  welche 
die  heutige  Fabrikarbeit  der  Mädchen  gewonnen  hat,  allerdings 
in  mehr  als  einer  Hinsicht  ein  sehr  ernstes  Moment  in  der 
ganzen  heutigen  Arbeiterfrage  bildet,  welches  um  so  schwerer 
in’s  Gewicht  "fällt,  als  einzelne  Industriezweige  ihrem  ganzen 
Wesen  nach  lediglich  auf  Arbeiterinnen  angewiesen  sind,  und 
daher  jeder  Versuch,  diesem  schweren  LTebelstande  beizukommen, 
von  vornherein  ziemlich  aussichtslos  erscheinen  muss.“  Diese 
Mittheilungen  enthalten  offenbar  manches  Wahre  mit  viel  Irr- 
thümlichem  gemischt;  ausserdem  übertreiben  sie  wohl  etwas 
mit  Bezug  auf  die  Unsittlichkeit  ..dieser  Gesellschaft“,  der 
Fabrikmädchen,  indem  sie  Beschwerden  aus  Unternehmerkreisen 
beinahe  wörtlich  wiedergeben.  Der  Nachweis  dafür,  dass  „ein- 
zelne Industriezweige  ihrem  ganzen  Wesen  nach  lediglich  auf 
Arbeiterinnen  angewiesen  sind“,  dürfte  beim  heutigen  Stande 
des  Maschinenwesens  technisch  ziemlich  schwierig  zu  erbringen 
sein  Die  Billigkeit  der  weiblichen  Arbeitskraft  wird  vielmehr 
von  den  Unternehmern  geschätzt,  und  aus  diesem  Grunde  füllen 
dieselben  ihre  Arbeitsräume  mit  weiblichen  Wesen,  die  dann 
erst  durch  ihre  ungünstigen  Arbeitsbedingungen  und  durch  die 
verrohende  Wirkung  übermässiger  und  frühzeitiger  Ausnutzung 
zur  Prostitution  getrieben  werden.  Auch  bezüglich  der  A.bhilte 
urtheilt  der  Aufsichtsbeamte  zu  pessimistisch.  Die  Arbeiterinnen- 
bewegung wird  schon  mit  der  Zeit  dafür  Sorge  tragen,  dass 
„jeder  Versuch  diesem  schweren  Uebelstande  beizukommen“, 
nicht  so  „aussichtslos“  mehr  erscheinen  muss 

Wirkungen  verkürzter  Arbeitszeit  in  der  west- 
deutschen Textilindustrie  Die  alte  Erfahrung,  dass  ver- 
nünftig verkürzte  Arbeitszeit  durchaus  nicht  gleichbedeutend 
mit  Verminderung  der  Arbeitsleistung  ist,  wird  von  Neuem 
bestätigt  durch  eine  Stelle  des  Jahresberichtes  für  1891, 
den  der  preussische  Gewerberath  für  die  Regierungsbezirke 
Minden  und  Münster  soeben  amtlich  erstattet  hat.  Da 
heisst  es:  „Für  das  Jahr  1890  wurde  berichtet,  dass  in  den 
Baumwollspinnereien  zu  Rheine,  in  Rücksicht  auf  die  neuen 
Bestimmungen  der  Gewerbeordnung,  die  tägliche  Arbeits- 
zeit vorläufig  auf  1 1 V2  Stunden  herabgesetzt  worden  war, 
um  die  Leistungsfähigkeit  der  Arbeiter  allmählig  der 
kürzeren  Arbeitszeit  entsprechend  zu  steigern.  Der  Ge- 
werbeinspektor berichtet,  dass  nunmehr  in  einer  grösseren 
Zahl  von  Fabriken  der  Textilindustrie,  gegen  Ende  des 
Berichtsjahres,  die  Arbeitszeit  von  1 1 ’/s  auf  H Stunden 
gekürzt  worden  ist.  Nach  den  Angaben  einzelner  Fabrik- 
inhaber soll  eine  Mindererzeugung  in  Folge  dieser 
Herabsetzung  der  Arbeitszeit  bei  der  Weberei  überhaupt 
nicht,  bei  der  Spinnerei  nur  in  geringem  Umfange 


eingetreten  sein,  und  man  erwartet,  dass  durch  geeignete 
Betriebsänderungen  auch  in  den  Spinnereien  die  frühere 
Leistung  wieder  erreicht  werden  wird.“ 

Gesundheitliche  Nachtheile  der  Beschäftigung  jugend- 
licher Arbeiter.  Ueber  diesen  Gegenstand  gingen  die  bisherigen 
Berichte  der  preussischen  Fabrikinspektoren  mit  wenigen  Aus- 
nahmen immer  sehr  flüchtig  hinweg.  Darin  scheint  eine  Wendung 
zum  Besseren  eintreten  zu  sollen.  Wenigstens  berichtet  über 
gesundheitsnachtheilige  Einflüsse  bei  der  Beschäftigung  jugend- 
licher Arbeiter  der  Gewerbeinspektor  für  den  Bezirk  Barmen  • 
aus  seinen  bisherigen  Beobachtungen  im  neuesten  Berichtsband 
für  1891  Folgendes:  „Der  Einfluss  der  Fabrikarbeit  auf  die 

körperliche  Entwickelung  macht  sich  im  hiesigen  Bezirk,  be- 
sonders in  einzelnen  Knopf-  und  Blechwaarenfabriken 
geltend.  Die  einseitige  Kraftanstrengung  und  Körperhaltung 
bei  der  Beschäftigung  jugendlicher,  besonders  weiblicher  Ar- 
beiter an  den  Stangen,  Scheeren,  Pressen  u.  s.  w.  benachteiligen  1 
die  Gesundheit.  Ferner  giebt  die  Beschäftigung  jugendlicher 
Arbeiter  in  den  mit  Tiegelgiesserei  und  Temperofenbetrieb 
verbundenen  Formereien  zu  Bedenken  Veranlassung.  Die 
Luft  ist  ausserordentlich  heiss  und  trocken,  und  die  Arbeit 
wird  mit  nur  nothdürftig  oder  gar  nicht  bekleidetem  Oberkörper 
verrichtet.  Auffallend  ist  in  den  Industrien  zur  Herstellung  von  i 
schmiedbarem  Guss  zu  Baubeschlägen,  Schlössern  und  Schlüsseln 
der  häufige  Wechsel  der  Arbeitsstelle  bei  den  jugendlichen 
Arbeitern.  Die  Arbeitsbücher  weisen  oft  in  einem  Monat  bis 
zu  drei  Arbeitsstellen  aut.  Häufig  ist  mit  dem  Wechsel  der 
Arbeitsstelle  auch  ein  Wechsel  der  Beschäftigungsweise  ver- 
bunden, so  dass  es  den  Anschein  gewinnt,  dass  der  häufige  ) 
Wechsel  der  Arbeitsstelle  und  der  Beschäftigungsweise  bei  den  1 
sogenannten  Formerlehrlingen  der  obengenannten  Industrie 
seinen  Grund  zum  Theil  in  dar  ungesunden  Beschäftigung  hat, 
die  zu  Rheumatismus  und  Krankheiten  der  Luftwege  V eran- 
lassung  giebt.“  Na  h der  Versicherung  des  Aufsichtsbeamten 
soll  diesen  Punkten  demnächst  erhöhte  Aufmerksamkeit  zuge- 
wandt werden.  Das  wäre  im  höchsten  Grade  nicht  blos  für 
den  Aufsichtsbezirk  Barmen  nothwendig. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Die  deutschen  Gewerkschaftsorganisationen. 

Der  Arbeiterbewegung  im  allgemeinen  und  in  Deutsch- 
land der  Gewerkschaftsbewegung  im  besonderen  wird  in 
allen  Schichten  der  Bevölkerung  gegenwärtig  das  leb- 
hafteste Interesse  entgegengebracht.  Die  gewerkschaftliche 
Organisation  konnte  unter  dem  Drucke  des  Sozialisten- 
gesetzes und  kann  bei  den  in  Deutschland  vorhandenen 
Gesetzesbestimmungen  über  die  Vereinsbildung,  besonders; 
aber  bei  der  den  gesetzlichen  Bestimmungen  durchaus  nicht 
entsprechenden  Handhabung  dieser  Gesetze  durch  die  Be- 
hörden, nur  unter  den  grössten  Schwierigkeiten  sich  ent- 
wickeln. Die  Unternehmer  sehen  in  jeder  Organisation  auf 
gewerkschaftlichem  Gebiet  einen  natürlichen  Gegner  und 
wenden,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  jedes  Mittel  an,  um  den 
Fortschritt  der  Organisationen  zu  hemmen.  Während  die 
Arbeiter  mit  Rücksicht  auf  den  § 153  der  Gewerbeordnung 
bei  der  Agitation  unter  den  Berufsgenossen  mit  der  grössten 
Vorsicht  vorgehen  müssen,  ist  es  den  Unternehmern 
unbenommen,  die  Arbeiter  durch  jeden  möglichen  Druck 
zum  Austritt  aus  den  Organisationen  zu  zwingen.  1 rotz- 
dem  aber  wird  die  Gewerkschaftsorganisation  bestehen 
bleiben  und  sich  weiter  entwickeln,  denn  sie  ist  bei  den  « 
gegenwärtigen  wirtschaftlichen  Verhältnissen  eine  Noth- 
wendigkeit.  ,Sie  wird  durch  Erhöhung  des  Lohnes 
und  Verkürzung  der  Arbeitszeit  die  Lage  der  Ar- 
beiter zu  verbessern  und  durch  regelmässige  Auf- 
nahme von  Statistiken  die  Lage  der  Arbeiterklasse  klar- 
zustellen suchen,  um  auch  diejenigen  Kreise  für  die  Emanzi- 
pationsbestrebungen der  Arbeiter  zu  interessiren,  die  bis; 
dahin  allen  diesen  Bestrebungen  feindlich  gegenüber  standen; 
dann  aber  werden  die  Organisationen  darüber  zu  wachen 
haben,  dass  die  Arbeitgeber  nicht  das  Wenige  was  zum 
Schutze  der  Arbeiter  durch  die  Gesetzgebung  in  Deutsch- 
land geschaffen  ist,  illusorisch  machen  und  umgehen.  I m 
beurteilen  zu  können,  inwieweit  die  in  Deutschland  be- 
stehenden Organisationen  dieser  Aufgabe  gerecht  zu  werden 
vermögen,  ist  es  nothwendig  ein  Bild  von  der  Stärke  und 
Leistungsfähigkeit  der  Gewerkschaften  in  ihrer  Gesammt- 
heit  zu  geben.  Von  der  Generalkommission  der  Gewerk- 
schaften Deutschlands  ist  eine  Zusammenstellung  über  den 


No.  27. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


339 


Stand  der  Bewegung  am  Ende  des  Jahres  1891  gemacht 
worden. 

Nach  dieser  Statistik  bestanden  Ende  1891  in  Deutsch- 
land 61  Centralorganisationen  und  in  vier  Berufen  war 
eine  Organisation  in  Form  des  Vertrauensmännersystems 
vorhanden.  Von  den  61  Central  vereinen  sind  die  Zahlen 
über  die  Anzahl  der  Mitglieder,  die  Jahreseinnahme,  die 
verschiedenen  Ausgaben,  sowie  Beitragshöhe  und  Ver- 
mögensstand am  Schluss  des  Jahres,  nur  von  52  in  der  Zu- 
sammenstellung angeführt.  Diese  52  Organisationen  hatten 
eine  Mitgliederzahl  von  168  104  In  der  statistischen  Zu- 
sammenstellung fehlten  die  nachstehend  genannten  Berufe 
mit  dem  beigefügten  Mitgliederstand.  Bergarbeiter  (West- 
falen, 45  000),  Bergarbeiter  (Saarrevier,?),  Dachdecker  (570), 
Gasarbeiter  (?),  Maler  (6603),  Porzellanmaler  (?),  Schuhmacher 
(9371),  Tabakarbeiter  (14389)  und  Tapezierer  (1800).  Die 
Gesammtzahl  der  in  den  Centralvereinen  organisirten  Ar- 
beiter betrug  demnach  245  837.  Von  den  durch  Vertrauens- 
männer centralisirten  Berufen  sind  über  drei  nähere  An- 
gaben gemacht.  Diese  hatten  8560  Mitglieder.  Die  in  der 
Statistik  angeführten  55  Organisationen  haben  eine  Ge- 
sammtmitgliederzahl  von  176664  Mit  den  Mitglieder- 
beständen der  Organisationen,  welche  in  der  Statistik  nicht 
angeführt  sind,  die  aber  mit  der  Generalkommission  Fühlung 
haben,  erhalten  wir  die  Summe  von  254  397  organisirten 
Arbeitern.  Eine  Uebersicht  über  die  Zahl  der  Mitglieder 
in  Lokalvereinen,  die  mit  einer  Centralstelle  keinen  Ver- 
kehr unterhalten,  fehlt  vollständig.  Es  dürften  in  diesen 
Organisationen  in  Deutschland  wenig  über  30  000  Arbeiter 
sein.  Wenn  wir  die  in  den  Hirsch-Duncker’schen  Gewerk- 
vereinen, die  eine  andere  Tendenz  als  die  mit  der  General- 
kommission Verbindung  haltenden  Organisationen  haben, 
befindlichen  Arbeiter  mit  ca.  65  000  hinzurechnen,  so  kommen 
wir  zu  dem  Resultat,  dass  in  Deutschland  ungefähr  350  000 
Arbeiter  gewerkschaftlich  organisirt  sind.  In  der  von  der 
Generalkommission  gemachten  Zusammenstellung  ist  neben 
der  Zahl  der  in  den  einzelnen  Berufen  organisirten  Arbeiter 
auch  die  Zahl  der  in  den  Industriezweigen  thätigen  Per- 
sonen angegeben.  Diese  Zahlen  können  jedoch  keinen  An- 
spruch auf  Genauigkeit  machen,  da  sie  theils  dem  statisti- 
schen Jahrbuch  für  das  Deutsche  Reich  von  1884  entnommen, 
theils  in  den  einzelnen  Organisationen  abgeschätzt  sind  und 
nur  selten  auf  statistischen  Aufnahmen  beruhen.  So  sind 
in  den  Angaben  in  der  Statistik  für  das  Deutsche  Reich 
fast  immer  auch  die  in  den  einzelnen  Berufen  beschäftigten 
Hilfsarbeiter  in  der  Gesammtzahl  angeführt,  während  diese 
Hilfsarbeiter  nicht  immer  in  den  Organisationen  Aufnahme 
finden,  hier  vielmehr  nur  mit  den  geschulten  Arbeitskräften 
gerechnet  wird.  In  den  in  der  Statistik  angeführten  55  Be- 
rufen werden  3 079  698  Arbeiter  beschäftigt,  von  denen 
176  664  gleich  5,73  pCt.  organisirt  sind. 

In  den  einzelnen  Berufen  waren  die  Arbeiter  in 
folgender  Weise  mit  nachstehendem  Prozentverhältn  ss  zu 
den  im  Gewerbe  thätigen  Personen  organisirt:  Bäcker  1200 

(1.1) ,  Barbiergehilfen  600  (3,8',  selbständige  Barbiere  370 

(1.5) ,  Bauarbeiter  (Hilfsarbeiter)  2500  (1,7),  Bergleute  in 
Sachsen  7500  (26),  Bildhauer  2976  (59),  Böttcher  5000  (19), 
Brauer  1300  (2,4),  Buchbinder  3250  10,5),  Buchdrucker  17  000 
(53),  Bürstenmacher  1356  (18),  Cigarrensortirer  650  (32,5), 
Drechsler  2589(9),  Fabrikarbeiter  2000 (?),  Fabrikarbeiterinnen 
900  (?),  Formenstecher  und  Tapetendrucker  550  (27,5), 
Former  1785  (5),  Gärtner  1100  (3,7),  Lohgerber  1000  (5), 
Weissgerber  1675  (67),  Glaser  1700  r 20, 1 ),  Glasarbeiter  1561 
(3),  Glacehandschuhmacher  2300  (76,7),  Gold-  und  Silber- 
arbeiter 2200  (11),  Hafenarbeiter  4513  (5,6).  Holzarbeiter 
(Hilfsarbeiter)  500  (1,6),  Hutmacher  und  Kürschner  4000  (20), 
Konditoren  400  (4),  Korbmacher  1400  (14),  Kupferschmiede 
2600  (37),  Lithographen  4452  (23),  Maurer  10  215  (3),  Metall- 
arbeiter 23  158  (6,9),  Müller  1200  (1,7),  Posamentire  530  (3', 
Sattler  1450  (4,5),  Schiffszimmerer  und  Werftarbeiter  3033 
(18),  Schmiede  2500  (3,1),  Schneider  7700  (6,4',  Seiler  500 

(5.5) ,  Steinmetzen  2000  (2,9',  Steinsetzer  1941  (17),  .Stell- 
macher 600  (2,2),  Textilarbeiter  3500  (0,7),  Tischler  16  600 
(10,3),  Vergolder  1100  (11),  Ziegler  250  (0,2),  Zimmerer  9800 

(6.1) ,  Musikinstrumentenarbeiter  2000  (5),  Stuckateure  1860 
(31),  Töpfer  4700  (18).  _ 

Die  im  Verhältnis  zu  der  Zahl  der  im  Berufe  be- 
schäftigten Arbeiter  am  besten  dastehende  Organisation  ist 
gegenwärtig  die  der  Handschuhmacher  mit  76,7  pCt.,  dann 
folgen  die  Weissgerber  mit  67  pCt.,  dann  die  Bildhauer  mit 
59  pCt.  und  die  Buchdrucker  mit  53  pCt.  Am  schlechtesten 
organisirt  sind  die  Ziegler  mit  0,2  pCt.,  dann  folgen  die 
Textilarbeiter  mit  0,7  pCt.  und  die  Bäcker  mit  1,1  pCt. 


Die  in  den  einzelnen  Organisationen  gezahlten  Bei- 
träge sind  ausserordentlich  verschieden.  Den  höchsten 
Beitrag,  50  Pf.  pro  Woche,  zahlen  die  Buchdrucker,  den 
niedrigsten,  20  Pf.  pro  Monat,  die  Fabrikarbeiterinnen. 
(Diese  Organisation  wird  sich  in  nächster  Zeit  dem  Verband 
der  Fabrikarbeiter  anschliessend  An  Wochenbeiträgen 
werden  bezahlt:  50,  45  und  35  Pf.  in  je  einer  Organisation 
25  Pf.  in  2,  20  Pf.  in  3,  15  Pf.  in  15,  10  bis  15  PL  in  2 und 
10  Pf.  in  7 Organisationen.  An  Monatsbeiträgen:  75  und 
60  Pf.  in  je  einer  Organisation,  50  Pf.  in  5,  40  Pf.  in  3, 
35  Pf.  in  1,  30  Pf.  in  3,  25  Pf.  in  2 und  20  Pf  in  1 Organi 
sation.  Die  Beiträge  sind,  gegenüber  den  Aufgaben  der 
Organisationen,  fast  durchgängig  zu  niedrig,  doch  werden 
fast  in  allen  Gewerkschaften  regelmässig  oder  bei  be- 
sonderen Veranlassungen  Extrabeiträge  erhoben.  So  bei 
den  Maurern  in  den  Sommermonaten  regelmässige  Extra- 
beiträge von  20  Pf.  bis  zu  1 M.,  bei  den  Zimmerern  von 
jeder  Mark  Arbeitsverdienst  pro  Woche  1 Pf.  Die  auf 
diese  Weise  und  durch  Verbandsbeiträge  zusammenge- 
brachte Jahreseinnahme  der  52  Central  vereine  stellte  sich 
auf  1 088  856  M.,  in  den  Organisationen  mit  Vertrauens- 
männern auf  27  732  M.,  zusammen  auf  1 116  588  M.  Von 
den  in  der  Statistik  nicht  angeführten  Organisationen  sind 
über  die  Jahreseinnahmen  folgende  Zahlen  bekannt:  Berg- 
arbeiter 77  880  M.,  Fabrikarbeiter  7203  M.,  Maler  27  563  M., 
Tabakarbeiter  ca.  135  345  M.,  in  den  genannten  59  Organi- 
sationen ergab  sich  demnach  für  1891  eine  Jahreseinnahme 
von  1 364  579  M.  Dies  kommt  einer  Beitragsleistung  pro 
Mitglied  und  Jahr  von  5,30  M.  gleich.  Die  Organisationen, 
welche  in  der  Statistik  mit  Angabe  der  Jahreseinnahme 
angeführt  sind,  hatten  für  1891  eine  Gesammteinnahme  von 
1 010  612  M.,  was  bei  der  hierbei  zur  Berechnung  kommen- 
den Mitgliederzahl  eine  Beitragsleistung  von  7,74  M.  pro 
Mitglied  und  Jahr  ergiebt. 

Diese  Jahreseinnahme  entspricht  aber  keineswegs  den 
von  den  deutschen  Arbeitern  alljährlich  für  gewerkschaft- 
liche Zwecke  aufgebrachten  Summen.  Es  fehlen  darin  die 
in  den  einzelnen  Städten  für  lokale  Unternehmungen,  Unter- 
stützung hilfsbedürftiger  Kollegen  und  dergl.  geleisteten 
Beiträge.  Besonders  aber  fehlen  die  Angaben  über  die  für 
Strikes  durch  freiwillige  Beiträge  aufgebrachten  Mittel.  In 
den  meisten  Organisationen  werden  die  Geldmittel  zur 
Unterstützung  der  Ausstände  getrennt  von  der  Organisation, 
durch  Sammellisten  oder  regelmässige  Beiträge  zu  einem 
Centralstrikefonds  aufgebracht.  Der  grösste  Theil  der  für 
diese  Zwecke  nothwendigen  Gelder  wird  von  den  Arbeitern 
am  Ausstandsorte  geleistet  und  ist  eine  Kontrolle  hierüber 
gegenwärtig  noch  nicht  möglich.  Da  auch  in  den  Central- 
organisationen über  diese  Seite  der  Bewegung  keine,  oder 
nur  ausnahmsweise  statistische  Daten  geführt  worden  sind, 
so  lässt  sich  ein  genaues  Bild  hierüber  nicht  geben.  So 
weit  festgestellt  worden  ist,  wurden  in  den  Jahren  1890/91 
durch  freiwillige  Beiträge  für  Strikes  von  den  deutschen 
Arbeitern  819  000  M.  aufgebracht.  Nehmen  wir  hiervon 
als  Ausgabe  für  1891  die  Hälfte,  was  wohl  ziemlich  zu- 
treffen wird,  da  diejenigen  Organisationen,  welche  1890 
Strikes  durchzuführen  hatten,  nur  vereinzelt  Angaben  ge- 
macht haben,  so  erhalten  wir  mit  den  aus  den  Verbands- 
kassen gemachten  Aufwendungen  für  das  Jahr  1891  eine 
Ausgabe  für  Strikeuntersttitzung  von  1 447  289  M Aus  den 
Verbandskassen  wurde  gezahlt  I 037  789  M.  Können  diese 
Zahlen  auch  keinen  Anspruch  auf  absolute  Genauigkeit 
machen,  so  sind  sie,  wie  aus  den  Ausführungen  hervorgeht, 
eher  zu  niedrig  als  zu  hoch  angegeben.  Bemerkenswerth 
ist  noch,  dass  in  den  beiden  letzten  Jahren  fast  alle  Aus- 
stände durch  das  Vorgehen  der  Arbeitgeber,  Lohnreduzirung, 
Massregelung  oder  das  Verlangen,  die  Arbeiter  sollten  aus 
den  Organisationen  austreten,  hervorgerufen  wurden. 

Die  Gewerkschaften  in  Deutschland  suchen  ihre  Auf- 
gabe, trotz  der  enormen  Aufwendungen  für  Strikes,  nicht 
ausschliesslich  in  dem  Kampf  um  besseren  Lohn  und 
Arbeitsbedingungen,  sondern  haben  ihr  Augenmerk  auch 
darauf  gerichtet,  die  Nothlage  der  Mitglieder  durch  Unter- 
stützungen zu  mildern.  Von  den  in  der  Statistik  angeführten 
Centralvereinen  gewähren  12  ihren  Mitgliedern  Arbeitslosen- 
unterstützung von  50  bis  150  Pfg.  pro  Tag.  Die  Ausgaben 
für  diese  Unterstützung  stellten  sich  in  diesen  Organisationen 
(mit  Ausnahme  der  Buchdrucker,  die  mit  Rücksicht  auf 
ihren  Ausstand  hierüber  keine  Angaben  machen  konnten) 
im  letzten  Jahre  auf  64  290  M.  Reiseunterstützung  wird  in 
allen  Organisationen  gewährt,  jedoch  nicht  überall  aus  der 
Hauptkasse,  sondern  theilweise  aus  den  Kassen  der  Zweig- 
vereine gezahlt.  Die  aus  den  Centralkassen  für  Reise- 


340 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  27. 


Unterstützung  gezahlte  Summe  betrug  für  1891  144  338  M. 
Zur  Unterstützung  an  gemassregelte  Mitglieder  wurden  in 
den  55  Organisationen  14  737  M.  gezahlt.  Auch  die  Ge- 
währung von  Rechtsschutz  ist  als  eine  Unterstützung  zu 
betrachten,  die  den  Mitgliedern  direkt  zu  Gute  kommt  und 
wurden  hierfür  10  843  M.  verwandt. 

Die  Gewerkschaften  betrachten  diese  Unterstützung 
nicht  als  Zweck  der  Vereinigung,  sondern  als  Mittel  zum 
Zweck  und  hierin  stehen  sie  im  Gegensatz  zu  den  erwähn- 
ten Hirsch-Duncker’schen  Gewerkvereinen.  Trotzdem  aber 
muss  man  unbedingt  zugestehen,  dass  durch  diese  Unter- 
stützungen manche  Noth  und  Sorge  beseitigt  worden  ist 
und  diese  Thatsache  sollte  dazu  beitragen,  dass  die 
Gegner  der  Gewerkschaften  diesen,  wenn  auch  nicht  Sym- 
pathie, so  doch  eine  weniger  schroff-ablehnende  Haltung 
zeigen. 

Dadurch,  dass  die  Gewerkschaften  es  sich  angelegen 
sein  lassen,  auch  für  die  Bildung  ihrer  Mitglieder  zu  sorgen, 
beweisen  sie  gleichfalls,  dass  sie  mit  dazu  beitragen  wollen, 
das  Wissen  und  die  Sittlichkeit  unter  der  Bevölkerung  zu 
heben.  So  besitzen  fast  alle  Organisationen  Fachzeitungen, 
die  sich  bemühen,  aufklärend  und  bildend  unter  den  Mit- 
gliedern zu  wirken.  In  32  von  52  Centralvereinen  erhielten 
die  Mitglieder  die  Fachzeitung  gratis.  Die  Ausgabe,  die 
hierdurch  den  Hauptkassen  erwächst,  stellte  sich  im  vorigen 
Jahre  auf  154  015  M.  Rechnet  man  hierzu  die  Ausgabe  für 
Agitation,  d.  h.  dafür,  dass  den  Arbeitern  in  den  ver- 
schiedensten Gegenden  belehrende  Vorträge  in  den  Ver- 
sammlungen gehalten  werden,  wofür  im  letzten  Jahre  in 
den  55  Organisationen  24  846  M.  aufgewandt  wurden,  so 
wird  man  zugestehen  müssen,  dass  der  Einfluss  der  Gewerk- 
schaften auf  die  Erziehung  und  höhere  geistige  Entwickelung 
der  Mitglieder  ein  bedeutender  ist.  Die  Ausgabe  für  Agi- 
tation ist  gleichfalls  nicht  in  ihrer  wahren  Höhe  angegeben, 
da  vielfach  in  den  Organisationen  von  der  Hauptkasse 
getrennte  Agitationsfonds  bestehen.  So  gaben  die  Maurer 
im  vorigen  Jahre  allein  aus  einem  besonderen  Fonds  circa 
8000  M.  für  agitatorische  Zwecke  aus. 

Die  Verwaltungskosten  in  den  Haupt-  und  Zweig- 
verwaltungen inkl.  Aufwendungen  für  Kongresse  und 
Generalversammlungen,  sowie  Ergänzung  von  Bibliotheken 
und  Anschaffung  sämmtlichen  Verwaltungsmaterials,  stellten 
sich  in  44  Organisationen,  von  denen  Angaben  gemacht 
sind,  auf  155  676  M. 

An  Kassenbestand  besassen  die  55  Organisationen  am 
Schluss  des  Jahres  1891  427  058,81  M.  Am  günstigsten  stehen 
hier  die  Hutmacher  mit  215  000  M.,  dann  folgen,  die  Mit- 
gliederzahl in  Betracht  gezogen,  die  Bildhauer  mit  28  694  M., 
dann  die  Kupferschmiede  mit  21  273,92  M.  Bemerkenswert]! 
ist,  dass  selbst  die  Organisationen,  die  in  den  letzten  Jahren 
grosse  Strikes  ununterbrochen,  wie  die  Weissgerber,  oder 
doch  wiederholt,  wie  die  Handschuhmacher  durchzuführen 
hatten,  heute  trotzdem  noch  ein  beträchtliches  Vereins- 
vermögen aufweisen.  Bei  den  Weissgerbern  beträgt  das- 
selbe 2,20  M.,  bei  den  Handschuhmachern  6,70  M.  pro  Kopf 
der  Mitglieder.  Einzelne  Gewerkschaften  sind  jedoch  durch 
Strikes  in  ihren  Vermögensverhältnissen  zurückgekommen. 
Im  Allgemeinen  lässt  sich  bemerken,  dass  die  Organisationen 
in  den  letzten  beiden  Jahren  ungemein  gelitten  haben. 
Nicht  nur  dass  in  Folge  der  wirtschaftlichen  Krise  und 
der  damit  verbundenen  Arbeitslosigkeit  die  Zahl  der  Mit- 
glieder zurückgegangen  ist,  es  wurden  auch  die  Kräfte  der 
organisirten  Arbeiter  oft  bis  aufs  Aeusserste  durch  die  von 
den  Unternehmern  heraufbeschworenen  Kämpfe  angestrengt. 
Es  ist  ein  charakteristisches  Zeichen  der  Gegenwart,  dass 
in  den  ungünstigen  wirthschaftlichen  Perioden  die  Unter- 
nehmer eine  Kürzung  des  Lohnes  und  eine  Verlängerung 
der  Arbeitszeit  erstreben  und  haben  die  Gewerkschaften 
alle  Mühe,  dieses  abzuwehren. 

Trotzdem  aber  lässt  sich  mit  Zuversicht  behaupten, 
dass  die  Kräfte  der  Organisationen  keineswegs  völlig  ge- 
schwächt sind.  Diese  werden  nach  wie  vor  jeden  Angriff 
mit  der  bisherigen  Energie  zurückweisen.  Der  Opfermuth 
und  die  Standhaftigkeit  der  Arbeiter  bei  den  Ausständen 
lässt  erkennen,  dass  man  sich  völlig  bewusst  ist,  dass  ein 
Zurückweichen  der  Gewerkschaften  gleichbedeutend  mit 
der  Gefährdung  der  Existenz  jedes  Arbeiters,  zunächst  aber 
derjenigen  der  organisirten  Arbeiter  ist.  Das  Bild,  welches 
wir  in  dieser  Statistik  von  der  gewerkschaftlichen  Bewegung 
in  Deutschland  erhalten,  lässt  erkennen,  dass  noch  sehr 
Vieles  auf  diesem  Gebiete  zu  verbessern  ist,  und  dass  die 
Organisationen  sich  zum  grössten  1 heil  im  Anfangsstadium 
der  Entwickelung  befinden.  Sicher  aber  ist,  dass  die  Ge- 


werkschaften in  einzelnen  Berufen  schon  heute  einen  Ein- 
fluss auf  die  Gestaltung  der  Arbeitsverhältnisse  auszuüben 
vermögen  und  dass  dieser  Einfluss  bei  weiterer  Entwickelung 
wachsen  wird. 

Hamburg.  C.  Regien. 


Gewerbeinspektion. 

Mangelhaftigkeit  der  Fabrikaufsicht  durch  Polizeibehör- 
den. Im  „Sozialpolitischen  Centralblatt“  ist  schon  mehrfach  betont 
worden,  dass  die  Polizeibehörden  sehr  wenig  qualifizirt  für  die 
gewerbliche  Inspektionsthätigkeit  sind.  Der  neueste  Bericht 
des  preus.sischen  Gewerberathes  für  den  Regierungsbezirk  Kassel 
über  das  Jahr  1891  liefert  einen  neuen  und  sehr  drastischen  Beleg 
hierfür.  Dieser  Beamte  schreibt  aus  dem  anscheinend  vorher  be- 
sonders vernachlässigten  Bezirk:  „Dabei  habe  ich  ferner  die  auf- 
fällige und  recht  ungünstige  Erfahrung  machen  müssen, 
dass  eine  grosse  Zahl  von  Polizeibehörden  in  der  irrigen  An- 
nahme, dass  nicht  die  Zurücklegung  des  14.  Lebensjahres,  son- 
dern die  Entlassung  aus  der  Schule  die  Grenze  zwischen  den 
beiden  Kategorien  der  Kinder  und  der  jungen  Leute  bilde,  den 
ersteren  Arbeitsbücher  statt  Arbeitskarten  ausstellen,  darunter 
solchen  die  erst  im  letzten  Viertel  des  Kalenderjahres  das 
14.  Lebensjahr  erreichten.  Hieraus  leiteten  viele  Arbeitgeber, 
allerdings  ebenfalls  irrthümlicher  Weise,  die  Berechtigung  für 
sich  ab,  diese  nicht  mehr  schulpflichtigen  Kinder  10  Stunden, 
statt  nur  6 täglich,  beschäftigen  zu  dürfen.  In  einzelnen 
Kreisen  war  diese  Gewohnheit  eine  fast  allgemeine. 
Soweit  ich  solche  Uebertretungen  der  gesetzlichen  Bestimmungen 
nach  dem  I.  Juli  noch  vorfand,  habe  ich  sowohl  persönlich  auf 
Abstellung  gedrungen,  als  auch  die  Landräthe  ersucht,  die 
Polizeibehörden  ihrer  Kreise  noch  ausdrücklich  auf  diese  irr- 
thümliche  Auslegung  des  Gesetzes  hinzuweisen.  Es  hatte 
dies  allerdings  in  einzelnen  Fällen  die  Folge,  dass  die  betreffen-  1 
den  Kinder  aus  der  Arbeit  entlassen  wurden,  weil  die  Arbeit- 
geber sie  bei  6 ständiger  Arbeitsdauer  angeblich  nicht  beschäf- 
tigen. Da  vom  1.  April  1892  ab  die  Neuausstellung  von  Arbeits- 
karten überhaupt  ihr  Ende  nimmt,  und  allgemein  nurmehr  ; 
Arbeitsbücher  ausgestellt  werden,  wird  eine  vermehrte  Auf- 
merksamkeit darauf  zu  richten  sein,  dass  die  Arbeitgeber  das  , 
Alter  der  von  ihnen  anzunehmenden  Arbeiter  nicht  blos  nach  f 
dem  Besitze  eines  Buches  oder  einer  Karte  bemessen,  und  dass,  , 
entsprechend  dem  § 134,  Absatz  2 der  Gewerbeordnung,  Arbeiter 
unter  14  Jahren,  auch  wenn  sie  aus  der  Schule  entlassen  sind, 
nur  6 Stunden  beschäftigt  werden. ‘‘  Man  braucht  dieser  ein- 
fachen Mittheilung  nur  noch  anzufügen,  dass  das  Gewerbegesetz, 
welches  die  gar  nicht  misszuverstehenden  Vorschriften  bezüglich 
der  jugendlichen  Arbeiter  enthält,  seit  mehr  als  10  Jahren  in  < 
Kraft  steht.  Wenn  die  Polizei  trotzdem  seinen  Sinn  so  „irr- 
thümlich  auszulegen“  vermochte,  so  kann  sie  unmöglich  das  j 
geeignete  Aufsichtsorgan  sein. 

Die  Ausgaben  für  die  eidgenössischen  Fabrikinspek- 
toren. In  der  eidgenössischen  Staatsrechnung  für  das  Jahr 
1891  werden  unter  Posten  F VI  Fabrikwesen  48  342  Frcs. 
90  Cent.  (Voranschlag  40  300  Frcs.  und  Nachtragscredite 
8000  Frcs.)  verrechnet.  Hievon  entfallen  auf  die  Besoldun- 
en  der  drei  Inspektoren  18  000,  auf  die  der  Adjuncten  des 
Kreises  4500  Frcs.  und  des  III.  Kreises  3000  Frcs.,  der 
Assistent  des  III.  Kreises  bezog  3000  und  der  Kanzlist  des- 
selben Kreises  2100  Frcs.,  so  dass  für  die  Gehalte  der  In- 
spectionsbeamten  30  600  Frcs.  verausgabt  wurden.  An 
Reiseentschädigungen  wurden  14  042  Frcs.  90  Cent,  und  für 
Aushilfe,  Expertisen,  Anschaffungen  undKopiaturen  3700Frcs. 
verauslagt.  In  der  Staatsrechnung  für  1890  wurden  für  die 
Gehalte  der  Fabrikinspektoren  und  der  ihnen  unterstellten 
Beamten  20  250  Frcs.  ( — 10  350  Frcs.)  und  für  das  Fabrik- 
wesen überhaupt  41  017,42  Frcs.  ( — 3282,58  Frcs.)  verausgabt. 


Arbeiterversicherung. 

Altersversicherung  der  Hausindustriellen.  Die  Frage 

der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  der  Hausindustriellen 
kam,  wie  die-„National-Zeitung“  berichtet,  am  20.  Juni  erneut 
im  Reichs  versicherungsamt  zur  Entscheidung.  Die  \ erhand- 
lung  bot  das  besondere  Interesse,  dass  der  Geheime  Kommer- 
zienrath  VVebsky  als  Mitglied  des  Vorstandes  der  schlesischen 


No.  27. 


SOZTAI  .POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


341 


Versicherungsanstalt  für  die  Versicherungspflicht  und  da- 
mit Rentenberechtigung  einer  Hausspulerin  plädirte,  wäh- 
rend der  Staatskommissar  die  entgegengesetzte,  auch  vom 
Schiedsgericht  angenommene  Meinung  vertrat.  Der  Ge- 
richtshof hielt  auch  im  vorliegenden  Falle  seine  früheren, 
die  Versicherungspflicht  verneinenden  prinzipiellen  Ent- 
scheidungen aufrecht,  wobei  der  Vorsitzende  Präsident 
Bödiker  erklärte,  es  werde  Sache  des  Bundesraths  sein,  zu 
erwägen,  ob  und  in  welcher  Weise  die  Versicherungspflicht 
auf  die  Hausindustriellen  der  Textilindustrie  auszudehnen 
sei.  Zur  Zeit  schiebe  das  Gesetz  dem  Reichsversicherungs- 
amt einen  Riegel  dagegen  vor,  dass  es  eine  solche  Ver- 
sicherungspflicht ausspreche.1' 

Unfallversicherung  des  Handwerks.  Die  Nahrungsmittel- 
Industrie-Berufsgenossenschaft  hat  in  ihrer  letzten  Generalver- 
sammlung beschlossen,  beim  Bundesrathe  einen  Antrag  auf 
Ausscheidung  der  Gruppe  des  Fleischgewerks  und  Bildung  einer 
eigenen  Fleischerei-Berufsgenossenschaft  zu  stellen.  Bisher  giebt 
es,  wenn  man  von  dem  Mühlengewerbe  absieht,  nur  eine  Hand- 
werker-Berufsgenossenschaft, nämlich  die  der  Schornsteinfeger. 
Bisher  haben  die  aus  dem  Schoosse  der  Berufsgenossenschaften 
hervorgegangenen  Anträge  auf  Aenderung  ihres  Bestandes  beim 
Bundesrathe  sowohl  wie  beim  Reichsversicherungsamte,  welches 
vom  Bundesrathe  in  diesen  Fragen  stets  um  sein  Gutachten 
ersucht  wurde,  wenig  Anklang  gefunden.  Sie  sind  durchweg 
abgelehnt  worden.  Es  ist  aber  möglich,  dass  dem  Anträge  auf 
Errichtung  einer  eigenen  Fleischer  - Berufsgenossenschatt  mit 
Rücksicht  auf  die  geplante  Einbeziehung  des  gesummten  Hand- 
werks in  die  Unfallversicherung  ein  anderes  Schicksal  zu  Theil 
wird.  Den  letzten  Satz  äussern  Blätter,  welche  der  Regierung 
nahe  stehen.  Müsste  man  aus  dieser  Andeutung  schliessen,  dass 
die  Unfallversicherung  des  Handwerks  ebenfalls  berufsgenossen- 
schaftlich organisirt  werden  soll,  statt  im  Anschlüsse  an  die 
Krankenversicherung,  wodurch  allein  eine  Vereinfachung  des 
Ungeheuern  Versicherungs-Apparates  herbeigeführt  zu  werden 
vermag,  so  könnten  nicht  früh  genug  gegen  jene  Absicht 
im  Interesse  der  Versicherung  selbst  Einwendungen  erhoben 
werden. 


Armenwesen. 


Die  Elberfelder  Armenpflege  in  Oesterreich. 

/Mit  dem  Jahre  1889  führte  die  nordböhmische  .Stadt 
Trauten  au  als  erste  der  österreichischen  Städte  die 
Elberfelder  Armenpflege  ein.  Der  Versuch,  der  unter  ver- 
ständnisvoller Uebernahme  dieses  Systems  und  weit  ent- 
fernt von  einfacher  Nachahmung  unternommen  wurde,  ge- 
lang vollständig.  In  Folge  der  literarischen  Berücksich- 
tigung dieses  Falles  wurde  die  österreichische  Regierung 
auf  denselben  aufmerksam.  Das  Ministerium  des  Innern 
machte  mit  Erlass  vom  18.  August  1890  von  demselben 
den  Statthaltern  Mittheilung,  weiche  ihrerseits  wieder  die 
politischen  Bezirksbehörden  und  Städte  in  Kenntniss 
setzten.  Dadurch  entstand  eine  gewisse  Bewegung,  welche 
bei  dem  erforderlichen  Nachdrucke  leicht  zu  einem  guten 
Erfolg  hätte  führen  können.  Es  wendeten  sich  die  Bezirks- 
hauptmannschaften von  Aussig,  Böhm.  Brod,  Eger,  Hohen- 
elbe,  Joachimsthal,  Königgrätz,  Kullenberg,  Landskron, 
Laun,  Leitmeritz,  Luditz,  Moldenhain,  Münchengrätz,  Po- 
litschka,  Przibram,  Reichenau,  Smichow  und  Starkenbach 
(alle  in  Böhmen  gelegen)  und  die  Städte  resp.  Bürger- 
meistereien von  Baden,  Fischamend,  Krems,  St.  Pölten, 
Wiener-Neustadt  in  Niederösterreich,  von  Bärringen,  Jaro- 
mer,  Jicin,  Karbitz,  Königinhof,  Krumau,  Leipa,  Raudnitz, 
Rokitzau,  Saaz,  Senftenberg,  Tepl  in  Böhmen,  dann  von 
Linz  endlich  zahlreiche  Privatpersonen  an  die  Stadt 
Trautenau  um  Uebersendung  ihrer  „Denkschrift“  und 
„Armenordnung“  — und  damit  war  mit  einer  einzigen  Aus- 
nahme die  Bewegung  zur  Ruhe  gelangt.  Diese  Ausnahme 
betrifft  Wiener-Neustadt,  welche  thatsächlich  bereits  ihre 
Armenverwaltung  nach  Elberfelder  System  und  zwar  nach 
Trautenauer  Muster  eingerichtet  hat.  Ueberdies  hat  auch 
die  Stadt  Reichenberg  seit  1.  Januar  1892  sich  entschlossen, 
zu  dieser  Einrichtung  zu  greifen.  Abgesehen  von  diesen 
praktischen  Erfolgen  wird  wohl  hie  und  da  von  der  Elber- 
felder Einrichtung  gesprochen,  es  werden  Studienreisen 
nach  Trautenau  und  nach  Deutschland  unternommen,  so 


auch  von  Wien  aus,  aber  alle  diese  Bestrebungen  sind  vor 
der  Hand  noch  nicht  zur  Klärung  gelangt. 

In  Trautenau  ist,  wie  bemerkt,  der  Versuch  geglückt, 
was  neuerlich  wieder  daraus  ersichtlich  ist,  dass  die 
Armenziffer  stetig  zurückgeht ; sie  steht  heute  auf  0,6  °/0f, 
der  Bevölkerung  und  davon  stehen  70  % Personen  im 
Alter  von  50-  90  Jahren.  Von  ganz  besonderem  Vorzug 
ist  die  Reorganisirung  der  sogenannten  Weihnachts- 
bescheerungen  für  die  Armen,  welche  seitens  der  Stadt 
alljährlich  als  wesentlicher  Bestandtheil  der  Armenpflege 
vorgenommen  werden  und  auf  einer  genauen  Konskription 
der  armen  Schulkinder  unter  Mitwirkung  der  Eltern  der- 
selben sowie  der  Schulbehörde  beruhen,  und  zwar  nicht 
als  Schau-  und  Rührstücke  in  öffentlichen  Lokalen  unter 
grossem  Pompe,  sondern  in  der  Familie  der  Armen  durch 
die  Eltern.  Ebenso  wie  in  Elberfeld  ist  auch  in  Trautenau 
ein  Frauenverein,  und  zwar  seit  dem  1.  März  1891  ins 
Leben  getreten,  welcher  seine  Thätigkeit  genau  nach 
diesem  Vorbilde  entfaltet. 

Leider  wird  eine  ganz  befriedigende  Thätigkeit  nach 
Elberfelder  System  in  Oesterreich  doch  immer  durch  das 
veraltete  Heimathsgesetz  beinträchtigt  werden,  welches  die 
Gemeinden  nöthigt,  einerseits  für  die  Versorgung  ihrer 
auswärts  befindlichen  Zuständigen  an  andere  Gemeinden 
Entschädigungen  zu  zahlen,  oder  dieselben  im  Schubwege 
zugesendet  zu  erhalten,  und  andererseits  Personen,  die  mit 
der  Stadt  in  gar  keinem  sozialen  Kontakt  stehen,  sei  es 
selbständig  oder  auf  Rechnung  anderer  Gemeinden  zu  ver- 
pflegen. Dass  hiermit  das  streng  geschlossene  Elberfelder 
System  einigermassen  durchbrochen  werden  muss,  ist  un- 
ausbleiblich. 


Vermischtes. 


Oeffnung  <ler  Londoner  Museen  am  Sonntag.  Gegen  die 
puritanische  Sonntagsheiligung  in  England  macht  sich  eine 
Reaktion  geltend,  wie  u.  a eine  Versammlung  von  3000  Mit- 
gliedern von  Arbeiterklubs,  Gewerkvereinen  etc.  bewies,  die 
vor  Kurzem  in  St.  James,  Hall,  Piccadilly,  London  stattfand. 
Zu  den  Rednern  gehörte  u.  a.  Tom  Mann,  der  gegen  die 
Schliessung  von  Museen  und  ähnlichen  Anstalten  an  dem  Tage 
protestirte,  an  welchem  die  grosse  Masse  der  Bevölkerung  allein 
Müsse  habe,  solchen  Nutzen  von  diesen  Einrichtungen  zu  ziehen, 
um  die  Lasten,  welche  die  Steuerzahler  dafür  zu  tragen  haben, 
zu  kompensiren.  Schliesslich  wurde  mit  allen  gegen  eine 
Stimme  eine  Resolution  angenommen,  in  welcher  die  Regierung 
aufgefordert  wurde,  für  Oeffnung  der  Museen  am  Sonntag  zu 
sorgen. 


Eingesendete  Schritten. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Geschäfts- Bericht  des  Vorstandes  der  Hanseatischen 
Versicherungsanstalt  für  In validitäts-  und  Alters- 
versicherung in  Lübeck  für  die  Zeit  vom  I.  August  1890 
bis  31.  December  1891.  Hamburg.  4°.  Selbstverlag.  37  S. 

Kühne,  Dr.  Paul,  Gerichts  - Assessor,  Krankenversiche- 
rungsgesetz vom  15.  Juni  1883/10  April  1892  nebst 
den  die  Krankenversicherung  betreffenden  Bestim- 
mungen des  Gesetzes  vom  5.  Mai  1886,  herausgegeben 
und  erläutert.  Zweite  völlig  umgearbeitete  Auflage.  Stuttgart, 
1892.  Fr.  Enke.  8°.  XIV  und  260  S. 

Miller,  Dr.  med.  Eugen,  prakt.  und  Landwehrassistenzarzt 
I.  Klasse,  Die  Prostitution.  Ansichten  und  Vorschläge 
auf  dem  Gebiete  des  Prostitutionswesens  zusammengestellt 
und  im  Hinblicke  auf  den  jüngst  erschienenen  kaiserlichen 
Erlass  veröffentlicht  (Münchener  medizinische  Mittheilungen 
VI.  Reihe,  5.  Heft.)  München,  1892.  j.  F.  Lehmann.  8°. 

,1  und  114  S. 

Queker,  Ch.  de,  Secretaire  de  la  Bourse  de  travail  de  Bruxelles, 
Etudes  sur  les  questions  ouvrieres  au  point  de  vue 
de  l’intervention  des  pouvoirs  publics,  dans  les  differents 
pays  industriels  et  en  Belgique.  Bruxelles,  1892.  Imprimerie 
des  institutions  de  prevoyance.  8°.  IV  und  641  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin, 


342 


ANZEIGEN 


No.  27. 


frcr&er’fdje  IBerlafl&fianMmifl,  grciburn  im  SBreiägc 


©öm§,  Dr.  jur. 

^ciitföjcn  9Scid)t§. 


Soeben  ift  erfd)ieuen  imb  bnrd)  alle  Vitdjljanblungen  31t  begießen: 

ber  ge  fantut  teu  9(rli  e 1 1 er  fl  ef  ctifleli  1111  fl  de« 

ßntbaltenb  bie  2lrbeiter  = Verficf)eruitgi  = 11  n b 
. , , © et)  u ij  g e f e tj  g e b u n g , b.  Ij.  fämmtlic^e  9teid)dge= 

feige  über  Siranfen»,  Unfall»,  SnoalibitätS»  nnb  3Uterd=$krfid)erung,  £itet  VII  ber  ©e= 
meybeorbmutg,  ©efeij  betr.  bie  ©emerbegeridjte,  fomie  einige  fleinere  ©efelge,  nebft  beit 
Veid)3=2[ubfüt)rnngo=Verorbmtngeu,  §3efamttmad)ungen  beö'  Vunbesvatlpi,  9Utnbfd)teibeu 
bed  9teid)d=2Serfid)erungdamtd  1111b  ©Haffen  bed  3iei(^)d=ißoftamtd,  nad)  bent  neueften 
Staub  ber  ©efeiggebung,  fomie  als  Stnfjang  bad  iReidgdgefeti  betr.  bie  ©rmerbd»  nnb 
fffiirtbfdjaftdgenoffenfdgaften,  bie  einfdfiagigen  ÜBeftintinnngen  and  bent  ^anbeldgefetgbnd), 
©trafgefetgbud),  ©erid)td=S5erfaffungdgefe^  u.  f.  f.  Vitt  alpfjabetifdiem  ©adjregifter, 
©efebedregifter.  dponologifdjem  nnb  ftgfteinatifdiem  SnlgaltdoerreidjniB  fomie  einer  lieber» 
fidjt  ber  ©tvafbeftimmungen  nnb  ber  unmittelbar  in  bad  ($toil=  ttnb  ftkocefnedfi  ein» 
greifenben  Vovfdiriften  ber  fotialen  ©efeije. 

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Hermann  Walther. 

Walther  & Apolants  Verlagsbuchhandlung,  Berlin  W.,  Kleiststr.  16/17. 

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Dr.  Paul  Hinneberg. 

XIII.  Jahrgang.  Preis  vierteljährlich  7 Mark.  Erscheint  jeden  Sonnabend. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten. 


Die  Deutsche  Litteraturzeitung  erblickt  ihren  eigenthümlichen  Beruf  darin, 
vom  Standpunkt  der  deutschen  Wissenschaft  aus  eine  kritische  U ebersicht  über 
das  gesammte  literarische  Leben  der  Gegenwart  zu  bieten.  Sie  sucht  im 
Unterschied  von  den  Fachzeitschriften  allen  denen  entgegenzukommen,  welchen  es 
Bedürtniss  ist,  nicht  nur  mit  den  Fortschritten  ihres  Faches,  sondern  auch  mit  der 
Entwickelung  der  übrigen  Wissenschaften  und  mit  den  hervorragenden  Leistungen 
der  schönen  Literatur  vertraut  zu  bleiben. 

In  ihren  Mittheilungen  bringt  die  Deutsche  Litteraturzeitung  eine  Uebersicht 
über  den  Inhalt  in-  und  ausländischer  Zeitschriften,  wie  sie  in  dieser  Reich- 
haltigkeit sonst  nirgends  geboten  wird,  ferner  ständige  Berichte  über  die  Thätigkeit 
gelehrter  Gesellschaften,  Nachrichten  über  wissenschaftliche  Entdeckungen  und  lite- 
rarische Unternehmungen,  Personalnotizen  und  Vorlesungsverzeichnisse. 

Durch  die  Unterzeichnung  aller  Besprechungen  mit  dem  vollen  Namen  des 
Referenten  bietet  die  Deutsche  Litteraturzeitung  die  Gewähr  einer  gediegenen 
und  würdigen  Kritik. 


OF  POLITICAL  AND  SOCIAL  SCIENCE. 


The  Official  Journal  of  the  American  Academy  oj  Political 
and  Social  Science. 


Is  indispensable  to  all  who  are  in  any  way  interested  in  the  great 
questions  of  the  day. 

The  ANNALS  contains  articles  on  economic,  political,  social,  historical 
and  legal  subjects;  reports  of  the  discussions  at  the  meetings  of  the  Academy ; 
personal  notes,  about  the  workers  in  the  field  of  political  and  social  Science, 
and  Reviews  of  the  latest  books  treating  of  these  questions. 


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®iefe  Sluggnbe  enthält  ade  big  311111  heutigen  Sage 
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Von 

Dr.  (£. 

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am  ©iatiftifdjen  Stmt  bev  ©tabt  SBerliu. 

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^beiftterfebr. 

Von 

Dr.  Brt'fl|ult>  UlitfjaEl. 

Vreis  2 Vtarf. 


Stuf  Free  to  all  Members  of  the  Academy. 

Address 

American  )\cademy  oj  political  and  5°cial  _5c^eace, 

STATION  B,  PHILADELPHIA. 


Hugo  Frankel, 

A ntiquariat  fürRechts-u. Staatswissenschaft, 

Berlin  N.  24,  Elsasserstr.  36, 

empfiehlt  sich  zur  Beschaffung  aller  in  sein 
Specialfach  einschlagender  Literatur. 


Verantwortlich  Ihr  den  Aäzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  11.  Juli  1892. 


Nummer  28. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT 


Zur  Auswanderungsfrage  in 
Russland.  Von  P.  v.  Struve. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  u. 
W irthscliaftsstatistik : 

Die  Gutszertrümmerungen  inBayern. 
Von  Dr.  Arthur  Cohen. 

Arbeiterausschüsse  in  Oesterreich. 

Minimallöhne  für  städtische  Ange- 
stellte in  Zürich. 

Arbeiterzustände: 

Zur  Entwicklung  der  Hausindustrie 
in  Preussen.  Von  Dr.  Max 
Quarck. 

Arbeitslosigkeit  in  Chemnitz. 

Eine  englische  Denkschrift  über  die 
Arbeitslosigkeit. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Arbeitsordnungen  als  Strikeanlässe. 

Unternehmerverbände: 

1 )er  Centralverband  der  Industriel- 
lei<  Oesterreichs. 


Internationales  Kartell  der  Papier- 
fabrikanten. 

Handwerkerfragen : 

Innungsbewegung  im  Fleischerge- 
werbe. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Arbeiterschutzmassregeln  für  die 
Wiener  Verkehrsanlagen. 

Arbeitszeit  der  englischen  Eisen- 
bahnbediensteten. 

Arbeiterversicherung: 

Die  Ergebnisse  der  österreichischen 
Krankenversicherung  im  Jahre 
1890.  Von  Dr.  Adolf  Braun. 

Reform  der  deutschen  Unfallver- 
sicherung. 

Normalstatut  der  Ortskrankenkassen 
im  Deutschen  Reich. 

Soziale  Hygiene: 

Hygienische  Untersuchungen  der 
Buchdruckereien  in  Preussen. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zur  Auswanderungsfrage  in  Russland. 

Die  Auswanderungsfrage  ist  einer  der  wundesten 
Punkte  des  wirthschaftlichen  Lebens  Russlands.  Man  hat 
mehrere  Wanderbewegungen  zu  unterscheiden.  Erstens 
findet  eine  grosse,  noch  sehr  ungenügend  registrirte1)  Aus- 
wanderung der  russischen  Bauern  nach  dem  Süden  und 
Osten,  d.  h.  nach  dem  Kaukasus,  West-  und  Ostsibirien 
statt.  Zweitens  dauert  die  Emigrationsbewegung  unter  den 
polnischen  Bauern  noch  immer  fort  und  zeigt  dieselbe  in 


')  In  den  80er  Jahren  wurde  eine  Art  Inspektion  der 
inneren  Auswanderung  geschaffen.  Zuerst  wurde  ein  Aus- 
wanderungsbureau mit  einem  Auswanderungsbeamten  in  ßatraki 
(Gouvernement  Ssimbirsk)  errichtet.  Das  Bureau  sollte  die 
Auswanderer,  welche  den  genannten  Punkt  passiren,  registriren 
und  ihnen  eventuell  mit  Rathschlägen  etc.  zur  Hilfe  kommen. 
Dieses  Bureau  wurde  später,  als  die  Zahl  der  durchreisenden 
Auswanderer  stark  abgenommen  hatte,  aufgehoben  und  es 
wurden  drei  neue  Bureaus  in  Orenburg,  Tjumen  und  Tomsk 
errichtet.  Die  Thätigkeit  der  Auswanderungsbeamten  verdient 
alle  Anerkennung,  ihre  Berichte  enthalten  die  einzige  fortlau- 
fende Statistik  der  inneren  Wanderungen,  aber  die  Kräfte  dieser 
Beamten  reichen  nicht  aus  zur  Bewältigung  der  schweren  an 
sie  gestellten  Aufgaben.  Im  Jahre  1889" wurden  6 Auswande- 
rungsbeamte definitiv  ernannt. 


einigen  Gouvernements  nur  eine  ganz  geringe  Abnahme1  i. 
Drittens  hat  als  unmittelbare  Folge  des  Nothstandes  die 
Auswanderungsbewegung  auch  die  deutschen  Kolonisten 
in  den  östlichen  russischen  Gouvernements  sehr  stark  er- 
griffen. Und  an  vierter  Stelle  ist  die  Auswanderung  der 
russischen  Juden  hauptsächlich  nach  England,  Palästina  und 
Amerika  zu  nennen. 

Die  drei  ersten  Bewegungen  sind  Ausflüsse  sozialer 
und  zwar  agrarischer  Missstände,  während  die  vierte  zum 
Theile  politischen  Ursachen  entspringt.  Plier  werden  wir 
uns  nur  mit  der  inneren  Auswanderung  der  russischen 
Bauern  befassen.  Dieselbe  beschäftigt  schon  seit  langer 
Zeit  sowohl  die  Regierung2)  - als  auch  die  nationalökono- 
mische Literatur'*)  und  die  Presse4).  An  diesem  Phänomen 
tritt  in  normalen  Zeiten  die  Unhaltbarkeit  der  agrarischen 
Zustände  am  schroffsten  hervor.  Der  sich  mit  dem  An- 
wachsen der  Bevölkerung  immer  stärker  entwickelnde 
Mangel  an  verfügbarem  Grund  und  Boden  und  die  oft 
totale  Erschöpfung  des  letzteren  durch  Jahrzehnte  lange 
primitive  Bewirtschaftung  machen  die  Existenz  des  Bauern 
ganz  unsicher  und  geben  ihn  der  Ausbeutung  durch  reiche 

b (Jeher  die  Auswanderungsbewegung  im  Gouvernement 
Ssuwalki  liegt  eine  ausführliche  statistische  Untersuchung 
des  Warschauer  Professors  G.  Sinronenko  (auf  Grund  einer 
amtlichen  Enquete)  vor.  Dieselbe  giebt  folgende  Daten:  im 
Jahre  1889  betrug  die  Gesammtzahl  der  nach  Amerika  ausge- 
wanderten  Personen  2947,  im  Jahre  1890:  3765  und  in  den  8 ersten 
Monaten  des  Jahres  1891:  2494  (Trudy  Warschawskago  Statistit- 
scheskago  komiteta.  Wypusk  V.  Sarabotki  krestjan  i emigra- 
zija  w Ameriku  w gubernijach  Zarstwa  Polskago  etc.  Warschau 
1891,  Tabelle  auf  S.  123 — 130  und  S.  139  ). 

2)  Schon  im  Jahre  1881  war  die  Auswanderungsfrage 
Gegenstand  einer  Beratung  durch  eine  Kommission  von  Ver- 
tretern der  „Zemstwo“,  welche  übrigens  nur  zu  geringen  prak- 
tischen Resultaten  führte. 

3)  Die  innere  Wanderung  der  russischen  Bauern  kann  eine 
ziemlich  grosse  Litteratur  aufweisen.  Wir  nennen:  Gjrigorjew 
„Die  Auswanderung  der  Bauern  des  Gouvernement’  Rjasan“, 
Romanoff  „Die  Auswanderung  der  Bauern  des  Gouvernement 
Wjatka“,  Gurwitsch  „Die  Auswanderung  der  Bauern  nach 
Sibirien“,  Issajeff  „Die  Auswanderung  in  der  russischen  Volks- 
wirtschaft“, mehrere  Aufsätze  von  Jadrinzeff.  Im  Jahre  1891 
wurde  durch  die  Initiative  des  russischen  Nationalökonomen 
Professor  Issajeff  eine  „Gesellschaft  für  Unterstützung  der  not- 
leidenden Auswanderer“  ins  Leben  gerufen.  Was  die  Thätig- 
keit dieses  Vereines  anbetrifft,  so  gehört  dieselbe  an  und  für  sich, 
insofern  sie  reine  Wohltätigkeit  ist,  nicht  dem  Kreise  sozial- 
politischer Betrachtung  an.  Aber  der  Verein  bezweckt  auch  die 
Erforschung  der  Auswanderungsfrage  und  es  wurde  von  ihm 
eine  Kommission  eingesetzt,  welche  ein  bezügliches  Programm 
ausarbeiten  sollte.  An  dieser  Arbeit  haben  u.  A.  Prof.  Issajeff 
und  A.  Kauffmann,  der  Verfasser  einer  ausführlichen  wirthschafts- 
statistischen  Untersuchung  über  die  Lage  der  Ivronbauern  in 
Westsibirien,  theilgenommen. 

4)  Unter  dem  Ministerium  des  Grafen  Tolstoi,  welcher 
rücksichtslos  jede  selbständige  Regung  der  Gesellschaft  und  der 
Presse  bekämpfte,  war  die  Diskussion  über  die  Auswanderungs- 
frage in  den  Zeitungen  eine  Zeit  lang  verboten. 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  28. 


Standesgenossen  preis.  So  geht  die  Loslösung  des 
Produzenten  von  den  Produktionsmitteln  aus  der 
unhaltbaren  Produktionsweise,  aus  der  wilden  Raubwirth- 
schaft  und  der  Dreifelderwirthschaft  mit  unerbittlicher 
Konsequenz  hervor.  Andererseits  kann  bei  der  Ver- 
armung1 2) der  Bauern  — von  anderen  Momenten  wie  z.  B. 
dem  Gemeindebesitze -J)  ganz  abgesehen  — der  Uebergang 
zu  einer  rationellen  Bewirthschaftung  des  Bodens  nur  sehr 
langsam  und  eben  nur  unter  der  Voraussetzung 
einer  theilweisen  P r oletar isi r un  g der  Landbe- 
völkerung sich  vollziehen.  Dabei  tritt  ein  zeitweiliger 
Rückgang  der  ganzen  Landwirthschaft,  eine  gewisse  Ver- 
ödung ein;  als  sprechendes  Beispiel  kann  die  für  das 
Gouvernement  Ssamara  konstatirte  Abnahme  des  Viehstandes 
während  der  letzten  20 — 25  Jahre  dienen. 

Diese  Verhältnisse  treiben  die  Bauern  mit  elementarer 
Gewalt  aus  der  Heimath  und  so  entstehen:  1.  Die  perio- 

dischen Sommerwanderungen  der  ländlichen  Proletarier, 
der  ländlichen  „Reservearmee“  nach  dem  Süden  und  Süd- 
osten Russlands , wo  im  Grossen  und  Ganzen  ein  ent- 
schiedener Mangel  an  Arbeitskräften  vorhanden  ist,  und 
2.  die  definitive  Auswanderung  nach  dem  Süden  und  dem 
Osten.  Der  Verdienst  der  ländlichen  Arbeiter,  welche  im 
Sommer  nach  dem  Süden  (aus  den  Gouvernements  Kursk, 
Orel,  Rjasan  u.  a.  nach  den  Gouvernements  Cherson, 
Taurieh,  in  die  Länder  der  donischen  und  kubanischen 
Kosaken  etc.)  ziehen,  hängt  vollständig  von  dem  jeweiligen 
Ernteausfall  ab.  Im  Jahre  1885  ergoss  sich  ein  grosser 
Strom  der  Arbeiter  nach  dem  Süden,  aber  die  Ernte  war 
eine  schlechte  und  die  Mehrzahl  der  Arbeiter  bekam  keine 
Arbeit  und  musste  unverrichteter  Sache  heimkehren.  Im 
nächsten  Jahre  ist  die  Ernte  viel  besser  ausgefallen,  aber 
die  „Reservearmee“  wusste  das  nicht  und  wollte  sich  nicht 
dem  Risiko  einer  mühevollen  und  erfolglosen  Wanderung 
unterziehen.  Die  Löhne  haben  deshalb  eine  enorme  Höhe 
erlangt.  Während  im  Jahre  1887  sich  die  Geschichte  vom 
Jahre  1885  wiederholt  hatte,  ist  im  Jahre  1888  wieder  ein 
grosser  Mangel  an  Arbeitern  eingetreten  und  der  Taglohn 
hat  die  Höhe  von  4 — 5 Rubel  erreicht3).  So  schwankt  der 
Lohn  der  ländlichen  Arbeiter  thatsächlich  von  0 — 5 Rubel. 
Wir  haben  diese  Thatsachen  angeführt,  um  die  Unsicherheit 
der  Existenz  der  ländlichen  Arbeiter  zu  charakterisiren. 
Ueberhaupt  sind  die  wirthschaftlichen  Verhältnisse  noch 
vollkommen  im  Flusse,  haben  sich  keineswegs  stabilisirt, 
und  dieses  Gepräge  der  Unsicherheit  trägt  das  ganze  wirth- 
schaftliche  Leben  in  Russland. 

Parallel  mit  diesen  Arbeiterwanderungen  geht  die 
Auswanderung  nach  dem  Osten  und  dem  Süden.  Im  Jahre 
1889  sah  sich  die  Regierung  gezwungen,  ein  Gesetz  über 
die  innere  Auswanderung  zu  erlassen.  Die  Haupttendenz 
desselben  geht  dahin,  die  Auswanderung  unter  staatliche 
Kontrolle  zu  stellen  und  dadurch  einerseits  unvorsichtige 
und  unbegründete  Auswanderungsversuche  zu  verhindern, 

P Als  Ausgangspunkt  dieser  Verarmung  wird  allgemein 
— von  der  reaktionären  Presse  und  einigen  anderen  Ausnahmen 
abgesehen  — die  Unzulänglichkeit  der  Grundantheile,  welche 
die  Bauern  bei  der  Befreiung  im  Jahre  1861  erhalten  haben  und 
die  ganz  unverhältnissmässige  Höhe  der  auf  den  Bauern  lasten- 
den Steuern  und  Abgaben  angenommen. 

2)  Die  Frage  über  die  Rolle  des  Gemeindebesitzes  in  dieser 
Beziehung  ist  eine  sehr  strittige.  Vor  Kurzem  ist  der  bekannte 
Moskauer  Nationalökonom  N.  Kablukow  in  „Russkija  Wedo- 
mosti“  (1892  No.  73)  mit  einem  Artikel  aufgetreten,  wo  er  ent- 
schieden die  Meinung  über  die  Unvereinbarkeit  des  Gemeinde- 
besitzes mit  dem  Fortschritte  der  landwirthschaftlichen  Technik 
bekämpft.  Aber  auch  die  entgegengesetzte  Ansicht  ist  ziemlich 
stark  vertreten. 

')  Diese  Thatsachen  sind  der  jüngst  erschienenen  anonymen 
Schriit  „Neuroschai  i narodnoje  bedstwie“  (Missernte  uncl  Volks- 
noth),  als  deren  Verfasser  der  Petersburger  Departements- 
direktor im  Finanzministerium,  Herr  Ermoloff,  genannt  wird, 
entnommen. 


andererseits  immer  ein  gewisses  Gleichgewicht  zwischen 
der  Auswanderungsbewegung  und  dem  den  Auswanderern 
offenstehenden  Areal  zu  erhalten').  Wir  können  hier  nicht 
den  ganzen  Inhalt  des  Gesetzes  wiedergeben  (die  Haupt- 
bestimmungen siehe  bei  Jollos,  Die  nationalökonomische 
Gesetzgebung  Russlands  in  den  Jahren  1888 — 1890,  Conrads 
Jahrbücher,  1891.  Dritte  Folge,  1.  Band,  S.  105  ff.)  und  an 
ihm  eine  ausführliche  Kritik  üben:  eine  solche  würde  uns 
zu  weit  führen.  Im  Ganzen  enthält  das  Gesetz  vom  Jahre 
1889  neben  unhaltbaren  auch  wichtige  und  zwar  vom 
sozialpolitischen  Standpunkte  entschieden  zu  beherzigende 
Bestimmungen.  Seine  prinzipielle  Bedeutung  liegt  darin, 
dass  es  der  Auswanderungsbewegung  von  Gesetzeswegen 
die  grossen  unbenutzten  Ländereien  des  Staates  eröffnet 
hat.  Leider  aber  trifft  die  Voraussetzung,  welche  dem 
ganzen  Gesetze  zu  Grunde  liegt,  nämlich  dass  die  aus- 
wandernden Bauern  Mittel  zur  Auswanderung  besitzen,  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  nicht  zu.  Isajeff  und  nach  ihm 
Jadrinzeff  (Westnik  Evropy.  August,  1891.  „Zehn  Jahre  der 
Auswanderung“,  S.  790—  826 1 schätzen  den  Prozentsatz  der 
unbemittelten  und  hilfsbedürftigen  Auswanderer  auf  ca.  50, 
von  welchen  die  Hälfte  (also  25  pCt.)  Bettler  sind-).  Was 
die  Ansiedelung  anbetrifft,  so  enthält  das  Gesetz  vom  Jahre 
1889  wichtige  Begünstigungen:  es  sichert  sogar  den  Ein- 
wanderern ein  Unterstützungsdarlehen  für  Bestellung  der 
Aecker  und  eigenen  Unterhalt.  Aber  es  muss  in  der 
materiellen  Unterstützung  der  Auswanderung3)  viel  weiter 
gegangen  werden,  denn  die  Einwanderung  der  Bettler 
birgt  grosse  soziale  Gefahren  in  sich;  es  ist  schon  in 
manchen  sibirischen  Gegenden  eine  grosse  Zunahme  der  : 
Steuerrückstände  als  Resultat  der  Einwanderung  von  unbe- 
mittelten Bauern  aus  Russland  konstatirt  worden.  Aber  : 
jede  bedeutende  materielle  Förderung  der  Auswanderungs- 
bewegung  kann  nur  in  einem  innigen  Zusammenhänge  mit  i 
anderen  durchgreifenden  sozialpolitischen  Reformen  gedacht  ' 
werden  und  wird  mit  so  grossen  Ausgaben  verbunden  sein, 
dass  in  der  nächsten  Zukunft  die  Regierung  sich  nicht 
anders  als  ablehnend  verhalten  wrird.  Es  tritt  da  noch  ein  ; 
anderes  Moment  hinzu,  nämlich  dass  die  Auswanderung:  < 

d.  h.  das  Abströmen  von  billigen  Arbeitskräften  keines-  ; 
wegs  im  Interesse  des  grossen  und  mittleren  Grundbesitzes  j 
liegt;  die  Bevorzugung  der  Interessen  des  Adels  ist  aber 
die  Signatur  der  Regierungspolitik  der  letzten  Jahre. 

L Es  muss  aber  darauf  hingewiesen  werden,  dass  dieses 
Ziel  weit  besser  durch  eine  statistische  Untersuchung  der  Aus- 
wanderungsfrage erreicht  werden  könnte,  d.  h.  durch  eine  ein- 
malige annähernde  Feststellung  der  Zahl  solcher  Bauern,  welche 
nur  durch  Auswanderung  ihre  wirthschaftliche  Lage  verbessern 
können  und  durch  eine  Feststellung  des  Areals,  welches  den 
Einwanderern  zur  Verfügung  gestellt  werden  könnte.  Aber  da- 
bei sieht  man  gleich,  dass  die  Auswanderungsfrage  nur  als 
Glied  einer  umfassenden  sozialpolitischen  Aktion  gelöst  werden 
kann. 

2)  Da  die  Grundantheile  in  der  Regel  noch  nicht  abgelöst 
sind  und  auf  denselben  sehr  oft  nicht  unbedeutende  Steuer-  und 
Abgabenrückstände  lasten,  spricht  das  Gesetz  vom  Jahre  1889 
nur  von  einer  unentgeltlichen  Abtretung  der  Grundantheile 
durch  die  auswandernden  Mitglieder  an  die  Heimathgemeinde, 
wobei  die  letztere  alle  mit  dem  betreffenden  Grundstücke  ver- 
bundenen Lasten  übernimmt.  Eine  Entschädigung  für  die  Ab- 
tretung des  Grundloses  an  die  Gemeinde  ist  zwar  juridisch 
nicht  ausgeschlossen,  dürfte  aber  in  Praxi  ziemlich  selten  Vor- 
kommen. So  ist  der  Auswanderer  thatsächlich  auf  den  Erlös 
aus  der  Veräusserung  des  Hauses  und  des  dürftigen  Mobiliars 
angewiesen. 

*)  Vor  der  Bauernbefreiung  hat  die  Regierung  die  Aus- 
wanderung der  Fronbauern  materiell  unterstützt  und  geleitet. 

Im  Jahre  1882  ist  ein  Projekt  der  Kolonisirung  des  Ussuri- 
gebietes  aufgestellt  und  theilweise  ausgeführt  worden.  Es 
werden  jährlich  250  Familien  per  Schiff  nach  Wladiwostok  ge- 
bracht und  bekommen  dort  Land  und  staatliche  Naturalunter- 
stützung (Arbeitsinstrumente,  Samen  etc.);  sie  erhalten  auch  auf 
20  Jahre  Befreiung  von  allen  Steuern  und  Abgaben.  In  der 
letzten  Zeit  wird  aber  von  den  Auswanderern  in  Odessa  ein 
gewisser  Census  600  Rubel  Baargeld)  verlangt  (vergl.  Jadrinzeff, 

L c.  S.  801). 


No.  28. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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Die  Unzulänglichkeit  des  Gesetzes  vom  Jahre  1889 
wird  durch  die  unten  angeführten  statistischen  Daten  klar 
bewiesen.  Fast  die  ganze  Bewegung  findet  sozusagen 
ausserhalb  des  Gesetzes  statt,  weil  die  Interessenten  das- 
selbe entweder  nicht  kennen  oder  ignoriren. 

Im  Jahre  1891  wurden  in  Tomsk  3683  Auswanderer- 
familien mit  21  603  Seelen  registrirt  (Russkija  Wedomosti, 
1892,  No.  85),  aber  der  offizielle  statistische  Ausweis  fügt 
noch  hinzu,  dass  nach  der  Einstellung  der  Flussschiffahrt 
noch  20  000  Seelen  den  Weg  in  den  Altai -Kreis  eing;e- 
schlagen  haben,  aber  nicht  registrirt  werden  konnten.  Diese 
Zahl  dürfte  aber  keineswegs  alle  Auswanderer  umfassen  - 
und  das  ganz  abgesehen  von  denjenigen,  welche  per  Schiff 
Odessa  verlassen  haben.  Wenn  man  bedenkt,  mit  welchen 
Hindernissen  und  Strapazen  die  Auswanderung  verbunden 
ist,  so  erscheint  sogar  die  Zahl  40  000  als  ganz  stattlich; 
Jadrinzeff  schätzt  das  jährliche  Kontingent  der  Auswanderer 
nach  Sibirien  für  das  Dezennium  1880 — 1890  auf  40  000. 
Wenn  auch  diese  Zahl  entschieden  zu  klein  ist,  so  kann 
man  jedenfalls  annehmen,  dass  die  Auswanderungsbewegung 
1891  und  1892  eher  zu-  als  abgenommen  hat.  Das  bestäti- 
gen die  neuesten  Mittheilungen  der  Presse  und  die  Kund- 
gebungen und  Massregeln  der  Regierung.  2099  von  2972 
Auswandererfamilien  (also  70  pCt.)  ’)  hatten  nicht  mehr  als 
zehn  Rubel  (resp.  nichts)  mit  und  66  pCt.  — keine  offi- 
zielle Erlaubniss  zur  Auswanderung,  wie  sie  im  Auswande- 
rungsgesetze vom  Jahre  1891  gefordert  wird.  Die  grosse 
Mehrzahl  (78  pCt.)  der  Auswanderer,  welche  das  Gouverne- 
ment Tom.-.k  passirten,  hat  die  Auswanderung  auf  Grund  von 
vorherigen  schriftlichen  Ermittelungen  unternommen,  that- 
sächlich  also  aufs  Gerathewohl. 

Die  vorjährige  Missernte,  deren  wirthschaftliche  Folgen 
geradezu  unermesslich  sind2),  konnte  auch  auf  die  Aus- 
wanderungsbew'egung  nur  fördernd  einwirken.  Im  laufen- 
den Jahre  hat  der  Minister  des  Innern  im  Einvernehmen 
mit  den  Ministern  des  kaiserlichen  Hofes  und  der  Staats- 
domänen die  Austheilung  der  Grundstücke  an  die  ausge- 
wanderten  Bauern  aus  den  Staatsdomänen  und  aus  den 
Gründen  des  kaiserlichen  Kabinets  auf  unbestimmte 
Zeit  sistirt  und  dabei  den  Behörden  streng  vorgeschrieben, 
jede  ungesetzliche  Auswanderung  zu  verhindern  und  solche 
Bauern,  welche  ohne  Erlaubniss  ausgewandert  sind,  in  die 
Heimath  — auf  Kosten  der  betreffenden  Gemeinden  — ab- 
zuschieben. Ferner  wird  den  Verwaltungsbeamten,  den 
„Zemski  natschalniki“,  eingeschärft,  dass  sie  das  Gebahren 
der  bäuerlichen  Selbstverwaltung  in  Sachen  der  Austheilung 
von  Reisepässen  streng  überwachen  sollen,  damit  dieselben 
nicht  als  Legitimationen  zur  Auswanderung  benützt 
werden3).  In  den  Motiven  zu  dieser  Verordnung  (nach 
der  Juriditscheskaja  Gazeta  abgedruckt  in  Russkija 
Wedomosti  1892,  No.  87)  wird  ausgeführt,  dass  bei  dem 
starken  Andrange  der  Auswanderer  in  den  letzten  Jahren 
sich  bereits  ein  Mangel  an  fertig  vermessenen  Grund- 

b Die  Untersuchung  erstreckte  sich  also  nicht  auf  alle 
registrirten  Auswanderer. 

2)  In  diesem  Sinne  hat  sich  vor  Kurzem  der  Präsident 
der  russischen  kaiserlichen  Freien  Oekonomischen  Gesellschaft, 
Baron  von  Korf,  ausgesprochen.  Er  sagte  in  seinem  Vortrage, 
in  welchem  er  die  Lage  des  Gouvernements  Kursk  auf  Grund 
persönlicher  Beobachtungen  schilderte,  dass  er  es  „nicht  be- 
greife“, was  weiter  folgen  wird. 

:f)  Diese  Reisepässe  haben  Giltigkeit  nur  für  eine  be- 
stimmte Zeit;  die  Mehrzahl  der  ohne  Erlaubniss  ausgewanderten 
Bauern  ist  mit  solchen  Pässen  versehen  und  die  Regierung  sah 
sich  bis  jetzt  gezwungen,  solche  Auswanderung  als  fait 
accompli  hinzunehmen.  Denn  ein  Abschieben  dieser  Leute 
hat  sich  vom  sozialpolitischen  Standpunkte  als  ganz  unhaltbar 
herausgestellt  und  diese  Erkenntniss  hat  ihren  Ausdruck  in  den- 
jenigen Bestimmungen  des  Gesetzes  vom  Jahre  1889  gefunden, 
welche  die  vorangegangene  ungesetzliche  Auswanderung  sozu- 
sagen sanktioniren. 


stücken  herausgestellt  hat.  Dieser  Mangel  sei  auf  die  Un- 
zulänglichkeit der  vorhandenen  Vermessungsmittel  zurück- 
zuführen und  in  der  nächsten  Zukunft  nicht  zu  beseitigen. 
Andererseits  sei  in  dem  laufenden  Jahre  in  Folge  des  Noth- 
standes  eine  Vermehrung  der  Zahl  der  Auswanderer  zu 
erwarten.  Da  aber  die  Kosten  der  Auswanderung  nur  aus 
der  Veräusserung  der  Habseligkeiten  der  Bauern  bestritten 
werden,  deren  Werth  wiederum  in  Folge  des  Nothstandes 
gesunken  ist,  so  rufe  der  vermehrte  Andrang  der  Aus- 
wanderer berechtigte  Befürchtungen  hervor. 

Diesem  Zirkular  folgte  vor  Kurzem  ein  anderes, 
welches  speziell  die  Auswanderung  nach  dem  Kaukasus  zu 
verhindern  vorschreibt;  gleichzeitig  wurden  die  Gouverneure 
der  kaukasischen  Gouvernements  aufgefordert,  arbeitslose 
Auswanderer  resp.  eingewanderte  Landarbeiter  in  die  Hei- 
math abzuschieben  (Russkija  Wedomosti,  1892,  No.  142).  Der 
Gouverneur  des  kubanischen  Gebietes  hat  seinerseits  die 
Centralregierung  ersucht,  den  Andrang  der  Bauern  aus  dem 
Nothstandsgebiete  in  das  kubanische  Gebiet  zu  verhindern, 
da  die  betreffenden  Bauern  daselbst  keine  Arbeit  finden 
können. 

Der  stellvertretende  Gouverneur  von  Tomsk  kon- 
statirte  in  einem  Zirkular,  welches  der  Ssibirski  Westnik 
(Russkija  Wedomosti,  1892,  No.  102)  zum  Abdrucke  brachte, 
dass  schon  seit  Ende  August  1891  aus  den  hungernden 
Gouvernements  in  sein  Gouvernement  und  weiter  — nach 
Ostsibirien  eine  Auswanderungsbewegung  begonnen  hat. 
„Die  Kräfte  der  Auswanderer“,  sagt  das  offizielle  Schrift- 
stück, „sind  erschöpft,  ihre  Beschuhung  und  Bekleidung  ist 
abgetragen,  so  dass  sie  weder  Schuhe  noch  warme  Kleidung 
besitzen.  Nicht  mehr  als  1 pCt.  der  Auswanderer  hat  ganz 
heruntergekommene  Pferde  und  diese  krepiren  unterwegs; 
diejenigen  Bauern,  welche  ihre  Pferde  verlieren,  verkaufen 
ihre  elenden  Habseligkeiten  und  setzen  ihren  Weo-  wie 
andere  zu  Fuss  fort.  Sie  gehen  in  Gruppen  von  2 bis  3 
Familien;  in  der  Mehrzahl  sind  es  Männer,  einige  haben 
auch  Frauen  und  kleine  Kinder  mit,  welche  in  Fetzen  ein- 
gehüllt, entweder  auf  kleinen  Handschlitten  gefahren  oder 
von  den  Frauen  auf  den  Händen  getragen  werden.  Unter 
den  Auswanderern  grassiren  Krankheiten:  Diphteritis, 

Typhus  etc.,  mit  welchen  sie  die  passirten  Ortschaften  und 
deren  Einwohner  infiziren.  .Sie  nähren  sich  ausschliesslich 
vom  Bettel  und  es  kommt  vor,  das  ganze  Trupps  sich  bei 
den  Vorstehern  der  Gemeinden  melden  und  ohne  weiteres 
Nachtquartier  und  Beköstigung  fordern.  Sie  werden  dann 
in  den  Häusern  der  Dorfbewohner  untergebracht.  In  den 
Dörfern  am  Moskauer  Trakt  hat  sich  sogar  die  Sitte  einge- 
bürgert, in  jedem  Haus  das  Brot  in  doppelter  Quantität  zu 
backen,  speziell  um  es  den  Armen  zu  vertheilen.“  So  der 
stellvertretende  Gouverneur  von  Ton».  Wenn  man  sich 
dabei  noch  das  schon  so  oft  geschilderte  masslose  Elend 
der  heimkehrenden  Auswanderer  („obratnyi  pereselenzi“) 
vergegenwärtigt1),  so  bekommt  man  ein  Bild,  welches  an 
Düsterkeit  kaum  übertroffen  werden  kann. 

Die  Peterburgskija  Wedomosti  berichten  über  die 
Wirkung  des  Nothstandes  auf  die  Auswanderungsbew^egung: 
„Im  vorigen  Jahre  hat  die  Volksphantasie,  verwirrt  durch 
den  Hunger,  alle  möglichen  Grenzen  überschritten.  Die 
Auswanderer  gingen  und  sehnten  sich  in  die  „Indischen 
Länder“,  nach  Brasilien,  nach  Afghanistan,  nach  Japan.  . . . 
Den  grössten  Prozentsatz  der  Auswanderer  stellen  die 
Gouvernements  Tambow,  Kursk,  Woronesch,  Tschernigoff 
und  Poltawa,  eben  diejenigen  Gouvernements  welche  in 


')  Bei  der  Armuth  der  Auswanderer,  bei  ihrem  niedrigen 
Bildungsgrad,  bei  ihrer  gänzlichen  Unkenntniss  der  Verhältnisse, 
welche  sie  im  Osten  erwarten  und  der  daraus  resultirenden 
Planlosigkeit  der  Auswanderung,  finden  missglückte  Auswande- 
rungsversuche leider  nur  zu  oft  statt. 


346 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  28. 


der  offiziellen  Nomenklatur  als  die  „schwarzerdigen“  be- 
zeichnet werden.“ 

Die  oben  angeführten  Massregeln,  durch  welche  die 
Auswanderungsbewegung  — so  weit  das  in  den  Händen 
der  Regierung  liegt  — bis  auf  weiteres  sistirt  wird,  dürften 
wohl  in  der  wirtschaftlichen  und  finanziellen  Situation  be- 
gründet sein.  Was  die  Abschiebung  der  Auswanderer  und 
der  wandernden  Landarbeiter  anbetriftt,  so  kann  diese 
Massregel  nur  einen  polizeilichen  Sinn  haben.  Die 
Bauern  wandern  aus,  weil  ihre  Existenz  in  der  Heimath 
unsicher  resp.  ganz  unmöglich  geworden  ist.  Was  kann 
da  eine  Abschiebung  helfen,  wo  es  sich  um  Massenarmuth 
handelt?  Immer  deutlicher  zeigt  sich  die  Notwendigkeit, 
die  Frage  endlich  in  ihrem  ganzen  Umfange  aufzuwerfen. 
Die  Auswanderungsfrage  und  die  Landarbeiterfrage  können 
nur  mit  der  gesammten  Bauernfrage  wirklich  gelöst 
werden.  Diese  neue  Bauernfrage  ist  bedeutend  schwieri- 
ger als  die  Frage  der  Bauernbefreiung  es  war,  denn  man 
hat  hier  mit  viel  komplizirteren  wirtschaftlichen  Zuständen 
zu  rechnen,  aber  wir  glauben  eine  allgemeine  Ueberzeugung 
auszusprechen,  wenn  wir  sagen,  dass  ihre  Lösung  in 
gleichem  Masse  dringend  ist.  Es  liegt  in  der  Macht 
des  Staates,  die  Geburtswehen  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaftsordnung für  Russland  zu  lindern. 

P.  v.  Struve. 


Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Die  Gutszertrümmerungen  in  Bayern. 

Ein  Lieblingthema  der  „konservativen  Sozialpolitiken, 
das  von  diesen  von  Zeit  zu  Zeit  immer  wieder  aufgegriffen 
wird,  sind  die  „Gutszertrümmerungen“. 

Zuletzt  ist  es  vom  deutschen  Landwirthschaftsrath  im 
Jahre  1889  und  von  der  29.  Wanderversammlung  bayerischer 
Landwirte  zu  Landshut  im  Jahre  1890  zum  Gegenstand 
von  Resolutionen  gemacht  worden.  Letztere  gab  den  An- 
stoss  zu  Erhebungen,  die  die  bayerische  Regierung  über  die 
Gutszertrümmerungen  der  Jahre  1888—1890  veranstaltet  hat. 
Leider  wird  die  Brauchbarkeit  und  Vergleichbarkeit  dieser 
Statistik  durch  den  engen  Rahmen  beeinträchtigt,  den  man 
ihr  gegeben.  Es  wurden  nämlich  nur  solche  Gutszertrüm- 
merungen berücksichtigt,  welche  dazu  geführt  haben,  dass 
ein  bäuerliches  Anwesen  als  solches  nicht  mehr 
fortbesteht.  Zertrümmerungen  von  Anwesen,  bei  welchen 
ein  sogenanntes  „Hintergut“  verblieb,  waren  also  ebenso 
ausgeschlossen,  wie  solche  von  Zwerggütern  und  Lati- 
fundien. 

In  den  drei  Jahren  1888,  1889  und  1890  wurden  in 
Bayern  1415  ländliche  Anwesen  mit  einem  Areal  von 
14  054,06  ha  zertrümmert,  das  ist  0,21  pCt.  der  sämmtlichen 
landwirtschaftlichen  Betriebsstätten  und  0,24  pCt.  der  ge- 
sammten landwirtschaftlich  bebauten  Fläche.  Von  diesen 
1415  Fällen  waren  bei  905  gewerbsmässige  Unterhändler  an 
der  Zertrümmerung  beteiligt;  ihre  Zahl  wird  auf  637  an- 
gegeben. Die  meisten  Zertrümmerungen,  nämlich  350 
(Prozentverhältniss  zur  Fläche:  0,37),  fanden  im  Kreis 

Schwaben,  die  wenigsten,  nämlich  8 (Prozentverhältniss  zur 
Fläche:  0,01),  in  der  Pfalz  statt. 

Die  statistische  Erhebung  aus  den  Jahren  1888 — 1890 
ist  nicht  die  erste  in  Bayern.  Schon  1844  fand  eine  solche 
für  die  Jahre  1825 — 1844  statt.  Die  Gesammtzahl  der 
Güterzertrümmerungen  betrug  damals  42  1 66  mit  427  287  ha, 
in  3169  Fällen  unter  Beteiligung  von  Unterhändlern;  bei 
1244  Fällen  wurde  ein  nachtheiliger  wirtschaftlicher  Ein- 
fluss konstatirt.  Die  Zahlen  sind  also  ungleich  höher  wie 


bei  der  letzten  Untersuchung;  jedoch  lässt  sich  hieraus 
nicht  mit  Sicherheit  auf  eine  Besserung  der  Verhältnisse 
schliessen,  wegen  der  oben  erwähnten  Begrenzung  der 
neueren  Erhebung. 

Die  Statistik  über  die  Gutszertrümmerungen  im  Jahre 
1890  wurde  nicht  veröffentlicht,  sondern  es  wurden  nur  ihre 
Hauptergebnisse  vom  Minister  des  Innern  in  der  Landtags- 
sitzung vom  19.  Dezember  1891  bekannt  gegeben  und  so- 
dann das  ganze  Material  dem  Generalkomitee  des  land- 
wirtschaftlichen Vereins  in  Bayern  zur  gutachtlichen 
Aeusserung  übermittelt.  Hier  referirte  der  jüngst  verstorbene 
Helferich')  mit  dem  bei  ihm  gewohnten  feinen  Sinn  für 
Thatsachen  und  für  das  praktisch  Erreichbare.  Helferich 
sprach  sich  gegen  Strafmassregeln  und  für  die  Grundsätze 
des  noch  jetzt  bestehenden  württembergischen  Gesetzes 
vom  23.  Juni  1853  aus.  Dieses  Gesetz  verbietet  die  Ver- 
steigerung von  Grundstücken  in  Wirthshäusern  und  setzt 
mit  zwingender  Wirkung  eine  mindestens  3-tägige  Reuezeit 
für  den  Käufer  fest.  Die  wichtigste  Bestimmung  enthält 
aber  Art.  1 1 : wer  ein  oder  mehrere  Grundstücke  im  Flächen- 
gehalt von  mindestens  10  Morgen  (—  3,45  ha)  aus  einer 
Hand  durch  Kauf  oder  Tausch  erwirbt,  soll  die  ersten 
3 Jahre  nicht  mehr  wie  den  vierten  Theil  veräusserungs- 
weise  davon  abtrennen  dürfen2).  Es  sind  vom  Gesetz  Aus- 
nahmen zugelassen  worden,  die  wir  nicht  weiter  in  Betracht 
ziehen  wollen. 

Fast  gleichzeitig  mit  der  württembergischen  Regierung, 
nämlich  ebenfalls  im  Jahre  1852,  hatte  die  bayerische  dem 
Landtag  einen  Gesetzentwurf  unterbreitet,  der  eine  dem 
Art.  1 1 des  württembergischen  Gesetzes  analoge  Vorschrift 
enthielt  und  ausserdem  die  gewerbsmässige  Zertrümmerung 
unter  Strafe  stellte.  Aber  während  letzterer  Vorschlag  vom 
Landtag  angenommen  wurde,  wurde  jene  Vorschrift  mit 
grosser  Mehrheit  abgelehnt.  Die  Strafnorm  bestand  bis  zur 
Einführung  des  Strafgesetzbuchs  von  1861;  sie  erlag  — 
trotz  der  Bemühungen  der  bayerischen  Regierung  sie  auf-  , 
recht  zu  erhalten  — den  liberalisirenden  Ideen  der  60  er 
Jahre. 

Helferich  verspricht  sich  von  einer  Uebertragung  der  ' 
Prinzipien  des  württembergischen  Gesetzes  nach  Bayern 
durchaus  nicht  die  Verhinderung  aller  schädlichen  Zer- 
trümmerungen, aber  er  glaubt,  man  könne  den  gewerbs- 
mässigen Güterschlächtern  das  Geschäft  so  erschweren,  dass  ; 
es  in  der  Hauptsache  lahm  gelegt  würde,  und  stützt  sich  > 
dabei  auf  die  in  Württemberg  von  „authentischer  Seite“ 
gemachte  Beobachtung,  dass  die  Gesuche  um  Erlaubniss,  ; 
vor  Ablauf  der  Sperrfrist  zu  verkaufen,  fast  aufgehört  und  , 
die  Gutszertrümmerungen  sich  sehr  vermindert  haben,  so- 
wie auf  eine  Bemerkung  der  Kreisregierung  von  Schwaben, 
dass  neuerdings  mehrere  gewerbsmässige  Güterhändler  aus 
Württemberg  den  Schauplatz  ihrer  Thätigkeit  nach  Bayern 
verlegt  haben.  Dieselbe  Regierung  klagt  darüber,  dass  von 
Notaren  noch  in  später  Abendstunde  auf  die  Protokollirung 
der  betreffenden  Verträge  eingegangen  und  es  dadurch  den 
Händlern  erleichtert  wird,  dem  durch  alle  Schliche  „breit 
geschlagenen“  und  „mürbe  gewordenen“,  auch  wohl  „be- 
denklich angezechten“  Landmann  keinen  Moment  zur 
ruhigen  Ueberlegung  und  zum  Rücktritt  freizulassen.  Dies 
würde  allerdings  für  die  Einführung  einer  Reuefrist  sprechen. 

Im  Allgemeinen  aber  ist  es  sehr  fraglich,  ob  man  den 
Güterzertrümmerungen  in  Bayern  mit  einem  den  württem- 
bergischen Bestimmungen  nachgebildeten  Gesetze  auf  die 
Dauer  mit  Erfolg  entgegentreten  kann.  Es  wäre  freilich 
an  sich  wünschenswerth , dass  man  die  wucherischen 
Manipulationen,  die  blutsaugerischen  Schliche  und  Kniffe 
der  gewerbsmässigen  Güterschlächter  unmöglich  machen 
könnte.  Vielleicht  lässt  sich  auch  ein  WTeg  finden,  sie  zu 
erschweren.  Aber  das,  was  man  mit  einem  Gesetz  gegen 
die  Güterzertrümmerungen  eigentlich  in  erster  Linie  be- 


')  Zeitschrift  des  landwirtschaftlichen  Vereins  in  Bayern. 
April  1892.  I.  Beilage. 

2)  Eine  ähnliche  Bestimmung  hatte  ein  jetzt  aufgehobenes 
preussisches  Gesetz  von  1875,  wonach  der  Käufer  eines  Gutes 
erst  nach  Jahresfrist  wieder  verkaufen  konnte. 


No.  28. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


347 


zweckt  und  was  auch  in  Bayern  eingestandenermassen  der 
Ausgangs-  und  Zielpunkt  der  ganzen  Bewegung  ist,  — der 
Verminderung  der  Bauerngüter  Einhalt  zu  thun  — , lässt 
sich  entweder  überhaupt  nicht  erreichen  oder  nur  mit  dem 
Opfer  der  gewaltsamen  Hemmung  einer  schliesslich  doch 
unaufhaltsamen  wirthschaftlichen  Entwicklung.  Es  lässt 
sich  nämlich  die  Thatsache  nicht  aus  der  Welt  schaffen, 
dass  Altbayern,  bisher  der  Typus  eines  agrarischen 
Landes,  einer  immer  grösseren  Industrialisirung  entgegen- 
geht. München  mit  seinem  ungemein  raschen  grossstädti- 
schen und  industriellen  Wachsthum  hat  bereits  seine  Um- 
gebung ihres  rein  ländlichen  Charakters  entkleidet  und 
droht,  immer  weitere  Kreise  in  den  Bann  seines  wirthschaft- 
lichen Einflusses  zu  ziehen.  Zahlreich  sind  die  Fabrik- 
unternehmungen, die  in  den  letzten  10 — 15  Jahren,  meistens 
wegen  des  billigen  Bodens  und  der  niederen  Löhne,  in 
Oberbayern  auf  dem  platten  Lande  entstanden  sind.  Auch 
diejenigen  Theile  des  Königreichs,  welche  schon  bislang 
eine  entwickelte  Industrie  besassen,  vor  allem  Schwaben 
und  Mittelfranken,  zeigen  eine  unverkennbare  Tendenz  zur 
weiteren  Verdrängung  des  agrarischen  Elements,  zur  Hin- 
austragung der  Industrieen  in  ländliche  Gegenden,  zur 
Durchdringung  des  Bauernstandes  mit  modernen  — kapi- 
talistischen oder  sozialistischen  — Ideen.  Der  erleichterte 
Verkehr  würfelt  die  städtische  und  ländliche  Bevölkerung 
durcheinander.  Der  „Bauernknecht“  wandert  in  die  Stadt, 
durch  die  höheren  Löhne  und  das  freiere  Leben  angelockt, 
der  städtische  Arbeiter  durchzieht  bei  ungünstiger  Kon- 
junktur das  Land,  Arbeit  suchend.  Der  „Oekonom“  siedelt 
sich,  sobald  es  ihm  die  Verhältnisse  einigermassen  erlauben, 
in  der  Stadt  an,  des  bequemen  Lebens  und  der  Ver- 
gnügungen halber.  Dass  bei  solcher  Sachlage  die  alte  Sitte 
der  Geschlossenheit  der  Bauerngüter  sich  lockern,  dass  die 
Idee  von  der  Heiligkeit  des  väterlichen  Erbes  immer  mehr 
dahin  schwinden  muss,  ist  klar.  Nicht  also  die  Unreellität 
einiger  Güterhändler,  sondern  der  eigene  Wunsch  des 
Bauernstandes,  in  letzter  Linie  die  Hereinziehung  des  platten 
Landes  in  den  Strudel  des  modernen  Erwerbslebens,  wo 
der  Grundsatz  gilt:  „mit  möglichst  wenig  Kosten  ein  mög- 
lichst grosser  Gewinn“,  der  Sieg  des  Konkurrenzprinzips 
über  das  Herkommen  ist  es,  was  die  Bauerngüter  bedroht. 
Gegen  solche  Mächte  aber  „ist  kein  Kraut  gewachsen“. 

Augsburg.  Arthur  Cohen. 


Arbeiterausscliüsse  in  Oesterreich.  Nach  Mittheilungen, 
die  in  seiner  letzten  Generalversammlung  vom  19.  Juni  d.  J. 
gemacht  wurden,  hat  der  Verein  der  österreichisch- 
ungarischen Papierfabrikanten  bezüglich  des  Gesetz- 
entwurfes, betreffend  die  Einführung  von  Arbeiterausschüssen, 
Fabriksgenossenschaften  und  Einigungsämtern,  die  vom  Gewerbe- 
ausschusse  des  Abgeordnetenhauses  gestellten  Fragen  dahin 
beantwortet,  „dass  bei  der  Papierindustrie  eine  Noth wendigkeit 
für  einen  gesetzlichen  Zwang  zur  Errichtung  von  Arbeiteraus- 
schüssen absolut  nicht  vorhanden  ist,  wesshalb  den  Unternehmern 
die  freiwillige  (fakultative)  Bildung  von  Arbeiterausschüssen  je 
nach  örtlichen  Verhältnissen  und  Bedarf  umsomehr  überlassen 
werden  kann,  als  die  Papierindustrie  in  ihrer  überwiegenden 
Majorität  dieser  Institution,  sobald  deren  Durchführung  den 
Unternehmern  überlassen  ist,  freundlich  gegenübersteht  Für 
die  Errichtung  von  Fabriksgenossenschaften  macht  sich  nicht 
nur  gar  kein  Bedürfniss  geltend,  vielmehr  muss  die  zwangs- 
weise Errichtung  solcher  Genossenschaften  als  der  nothwendigen 
Fabriksdisziplin  abträglich  und  zu  einer  direkten  Schädigung 
des  bis  nun  ungetrübten  Einvernehmens  aller  arbeitenden  Fak- 
toren führend  erkannt  werden“. 

Minimallöhne  für  städtische  Angestellte  in  Zürich. 

Wir  berichteten  bereits  im  Sozialpolitischen  Central- 
blatt, dass  der  Nationalrath  Vogelsanger  in  der  Abge- 
ordnetenversammlung zur  Feststellung  des  Statuts  für  die 
Gemeinde  (Gross-)  Zürich  die  Einführung  eines  Minimal- 
taglohnes von  4 Frcs.  für  die  Arbeiter  in  städtischen 
Diensten  beantragt  hat.  Am  11.  Juni  wurde  sein  Antrag 
mit  46  gegen  38  Stimmen  angenommen.  Ausserdem 
wurde  einem  Anträge  Graf’s  entsprechend  der  Minimal- 
lohn für  Handwerker  auf  4'^  Eres,  festgesetzt  und 
durch  Annahme  eines  Antrags  Dr.  Amsler’s  der  Antrag 
Vogelsangers  noch  bedeutend  erweitert.  Der  Antrag 


lautete:  „Für  Bauunternehmer  und  Akkordanten,  welche 
von  der  Stadt  Arbeiten  übernehmen,  sind  obige  Grundsätze 
ebenfalls  massgebend  und  es  sind  bezügliche  Bestimmungen 
in  die  Verträge  aufzunehmen.  Die  städtischen  Behörden 
haben  die  Erfüllung  dieser  Pflichten  zu  überwachen  und 
dafür  zu  sorgen,  dass  die  Arbeiter  dieser  Unternehmer  aus 
den  von  der  Stadt  bezogenen  Beträgen  vertragsgemäss  aus- 
bezahlt  werden.“ 


Arbeiterzustände. 


Zur  Entwickelung  der  Hausindustrie  in  Preussen. 

Im  Allgemeinen  waren  und  sind  die  Mittheilungen 
über  die  Hausindustrie,  ihre  Ausdehnung,  Ab-  oder  Zu- 
nahme, ihre  Arbeiterverhältnisse  u.  s.  w.  in  den  Berichten 
der  preussischen  Fabrikinspektoren  recht  dünn  gesät, 

| während  z.  B.  einzelne  österreichische  Gewerbeinspektoren 
schon  als  Anhänge  zu  ihren  amtlichen  Berichten  ganze 
Spezialstudien  über  dortige  Hausindustrien  lieferten.  Auch 
die  neuesten,  vor  Kurzem  ausgegebenen  „Jahresberichte 
der  Königlich  Preussischen  Regierungs-  und  Gewerbe- 
räthe  für  1891,  Amtliche  Ausgabe“  (Berlin,  1892,  W.  J. 
Bruer)  enthalten  keine  solche  Beigaben,  wie  die  öster- 
reichischen Referate.  Aber  sie  bringen  doch  einiges 
Material  mehr  als  früher,  namentlich  über  das  Verhältniss 
der  Fabrikindustrie  zur  Hausindustrie,  und  diese  Angaben 
sollen  im  Nachfolgenden  zusammengestellt  und  in  ihrer 
wirthschaftlichen  Bedeutung  gewürdigt  werden. 

Einen  allgemeinen  Situationsbericht  aus  der  Textil- 
hausindustrie seines  Bezirks  giebt  zunächst  der  Gewerbe- 
inspektor für  Sigmaringen,  indem  er  schreibt:  „Die 

Lage  der  Arbeiter  der  Hausindustrie  ist  wegen  des  einge- 
tretenen flauen  Geschäftsganges  in  der  Trikotbranche  inso- 
fern ungünstiger  geworden,  als  weniger  Aufträge  erfolgen, 
und  in  Folge  dessen  die  Stücklöhne  einen  wenn  auch 
nur  geringen,  Rückgang  erlitten  haben.  Der  Verdienst, 
hauptsächlich  der  Arbeiterinnen,  in  dieser  Industrie  ist 
überhaupt  ein  verhältnissmässig  geringer.  Es  muss 
vom  frühen  Morgen  bis  spät  in  die  Nacht  gearbeitet  werden, 
um  80  Pf.  bis  1 M.  zu  verdienen.  Der  Umstand,  dass  die 
Arbeiter  und  Arbeiterinnen  der  Hausindustrie  meistens  An- 
gehörige kleiner  Landwirthe  und  Gewerbetreibenden  sind 
und  bei  diesen  Beköstigung  und  Wohnung  haben,  trägt 
aber  wesentlich  dazu  bei,  dass  diese  Nachtheile  weniger 
schwer  empfunden  werden.“  Uebermässig  lange  Arbeitszeit 
und  sehr  geringer  Verdienst  bilden  also  auch  hier  die  her- 
vorragenden Merkmale  der  Hausindustrie.  Was  das  „weniger 
schwere  Empfinden  dieser  Nachtheile“  und  die  Begründung 
desselben  durch  den  Inspektor  betrifft,  so  wird  diese  Seite 
der  Sache  wohl  wissenschaftlich  richtiger  umgekehrt  zu 
beurtheilen  sein:  eben  weil  die  betreffenden  Arbeiterinnen 
billige  Verpflegung  bei  ihren  Angehörigen  haben,  bilden 
sie  besonders  geeignetes  Ausnutzungsmaterial  für  die  Unter- 
nehmer. Noch  genauere  Daten  über  die  Ausbreitung  der 
hausindustriellen  Lohnarbeit  und  ihre  Bezahlung  geben 
aber  zwei  norddeutsche  Gewerbeinspektoren.  Zunächst 
schreibt  der  Gewerberath  für  Pommern:  „Bemerkens- 

werth ist  die  Beschäftigung  zahlreicher  Mädchen  und 
Frauen  in  Stettin  und  nächster  Umgebung  durch  die 
grossen  Konfektions-  und  Zuschneidegeschäfte  in 
Stettin.  Dort  bestehen  18  Engrosgeschäfte  für  Herren- 
und  Knabenkonfektion,  2 für  Damenmäntel,  3 für  Damen- 
kleider, 4 für  Weisswaaren.  Die  3 Damenkleidergeschäfte 
arbeiten  nur  auf  Bestellung  und  beschäftigen  zusammen 
gegen  60  Mädchen  und  Frauen,  aber  nur  im  Geschäft  selbst. 
Letztere  verdienen  täglich  1 M.  bis  2 M.,  im  Durchschnitt 
1,50  M.,  je  nach  der  Leistung.  In  der  Herren-  und 
Knabenkonfektion  beschäftigen  einige  grössere  Ge- 
schäfte bis  zu  70,  kleinere  bis  zu  30  Mädchen  und  Frauen 
mit  Hausarbeit.  Die  .Stoffe  werden  im  Geschälte  zuge- 
schnitten und  vorgerichtet  und  von  den  Arbeiterinnen  zu 
Hause  fertig  genäht.  Schwere  Herrensachen  werden  an 
Schneidermeister  vergeben,  welche  Gesellen  halten.  Für 
das  Nähen  von  Kinder-  und  Knabenanzügen  wird  für  den 
Anzug  30  bis  80  Pf.  bezahlt,  im  Durchschnitt  50  Pf.  Durch- 
schnittlich verdient  ein  Mädchen,  welches  ohne  Hilfe 
arbeitet,  wenn  es  fleissig  und  geübt  ist,  10  bis  12  M.,  bei 


348 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  28 


besseren  Anzügen  bis  zu  15  M.  wöchentlich.  Nach  Aus- 
weis der  Bücher  verdiente  eine  Familie  von  Vater,  Mutter 
und  2 Töchtern  wöchentlich  gegen  45  M.  Der  Vater  ist 
jedoch  schon  alt  und  besorgt  nur  die  Ausgänge.  Eine 
andere  Frau  mit  2 Töchtern  verdiente  40  Iris  50  M.  Für 
das  Nähen  von  gedruckten  Parchendhemden  (ordinäre 
Waare)  wird  1,50  bis  2 M.  für  das  Dutzend  bezahlt.  Geübte 
Arbeiterinnen  nähen  wöchentlich  6 bis  7 Dutzend.  Für 
weisse  baumwollene  Hemden  mit  fünf  Knöpfen  werden  1,50 
bis  3 Mark  für  das  Dutzend,  je  nach  Ausschmückung,  für 
gute  halbleinene  Hemden  mit  Besatz  2 bis  3 M.  für  das 
Dutzend  bezahlt.  Dabei  nähen  sehr  geübte  Arbeiterinnen 
täglich  bis  1 Dutzend  Hemden.  Persönliche  Besprechung 
mit  einer  geübten  Arbeiterin  ergab,  dass  diese  mit  Hilfe 
einer  jüngeren  Schwester  und  der  Mutter  von  Dienstag 
Morgen  bis  Donnerstag  Abend,  bei  einer  Arbeitszeit  von 
7 Uhr  Morgens  bis  7 Uhr  Abends  und  I Stunde  Mittags- 
pause, 40  Hemden  gefertigt  hat.  Zwei  junge  Mädchen, 
welche  zusammen  haushalten,  haben  ohne  weitere  Hilfe  in 
zwei  Tagen  zusammen  10,10  M.  verdient.  Sie  sind  sehr 
fleissig  und  arbeiten  manchmal  von  5 Uhr  Morgens  bis 
10  Uhr  Abends,  besorgen  aber  zugleich  ihren  Haushalt. 
Die  Löhne  in  hiesigen  Fabriken  für  Arbeiterinnen  betragen 
1 bis  1 ,40  M.  täglich,  also  6 bis  8,40  M.  wöchentlich,  während 
fleissige  geübte  Maschinennäherinnen  bis  zu  15  M.  wöchent- 
lich verdienen  können.  Handnäherinnen  verdienen  aller- 
dings nur  5 bis  8 M.  wöchentlich,  mit  Ausnahme  geschick- 
ter Monogrammstickerinnen,  deren  Verdienst  bis  auf  2 M. 
täglich  steigt.  Die  Zahl  der  in  dieser  Weise  beschäftigten 
Frauen  und  Mädchen  in  Stettin  und  den  Vororten  schwankt 
nach  meiner  Schätzung,  je  nach  der  Saison,  zwischen  600 
und  1000.“  Das  Bestreben  dieser  Schilderung  ist  offenbar, 
die  Lohnverhältnisse  der  haus  industriellen  Arbeiterinnen  in 
und  um  Stettin  in  einem  möglichst  vortheilhaften  Lichte 
erscheinen  zu  lassen.  Nur  krankt  die  Darstellung  an  eini- 
gen nicht  unwesentlichen  Lücken.  Für  drei  Hausarbeite- 
rinnen  ist  die  Arbeitszeit  mit  1 1 Stunden  für  eine  bestimmte 
Sorte  Arbeit  angegeben.  Bei  zwei  anderen  Hausarbeiterinnen 
wurde  eine  tägliche  Arbeitszeit  von  „manchmal“  17  Stunden 
brutto  ermittelt.  Welche  Arbeitszeit  trifft  nun  für  die 
Mehrzahl  der  hausindustriellen  Kleiderarbeiterinnen  zu? 
Es  ist  nicht  unmöglich,  dass  dies  mehr  mit  der  übermässig 
ausgedehnten  der  Fall  ist,  als  mit  der  kürzeren  1 1 ständigen. 
Dann  erscheinen  Tagesverdienste  von  „1,50  bis  2 M.“  für 
ordinäre  Parchenthemden,  die  wohl  die  Masse  bilden,  bei 
„geübten“  Arbeiterinnen  nicht  sehr  hoch  Es  kommt  aber 
hinzu,  dass  die  Arbeiterinnen  aller  Wahrscheinlichkeit  noch 
Unkosten  der  Arbeit,  vielleicht  gewisse  Zuthaten,  mindestens 
aber  Arbeitsraum,  Licht  und  Heizung  und  Werkzeuge 
stellen  müssen.  Wenn  dies  zutrifft,  so  verschwindet  bei 
näherem  Zusehen  sehr  schnell  der  Glanz,  den  die  an- 
scheinend hohen  Lohnziffern  auf  den  ersten  Blick  ver- 
breiteten. Endlich  ist  auch  noch  die  Frage  offen,  ob  die 
Beschäftigung  regelmässig  oder  mit  unfreiwilligen  Pausen 
stattfindet  und  ob  nicht  die  Arbeit  des  Ablieferns  ebenfalls 
in  Anschlag  gebracht  werden  muss.  Kurz  - — es  wäre  sehr 
dankenswerth,  wenn  der  Gewerberath  für  Pommern  in 
seinem  nächsten  Berichte  alle  diese  Dinge  recht  gründlich 
auf  klärte.  Vielleicht  kommt  er  dann  zu  ähnlichen  Ergeb- 
nissen, wie  sein  Kollege  in  Magdeburg.  Derselbe  schreibt: 
„Für  die  niedrigen  Löhne,  welche,  namentlich  an  Arbeite- 
rinnen, bisweilen  bezahlt  werden,  seien  folgende  Beispiele 
angeführt.  In  Genthin  ist  ein  Unternehmer  ansässig,  welcher 
für  berliner  Engrosgeschäfte  Borden  und  Besätze  für  Damen- 
Konfektionsartikel  anfertigen  lässt.  Er  beschäftigt  gegen 
100  Arbeiterinnen,  welche  in  den  benachbarten  Dörfern 
wohnen.  In  Genthin  selbst  finden  sich  nur  sehr  wenige 
Frauen,  welche  für  die  gezahlten  Löhne  Arbeit  übernehmen. 
Die  Frau  des  Unternehmers,  eine  geschickte  und  geübte 
Arbeiterin  in  diesem  Fache,  entwirft  die  Muster  und  fertigt 
grössere  Probestücke.  Nach  der  darauf  verwendeten  Zeit 
berechnet  sie  die  zu  zahlenden  Arbeitslöhne,  indem  sie 
einen  Satz  von  10  Pf.  für  die  Stunde  zu  Grunde  legt. 
Die  weniger  geschickten  ländlichen  Arbeiterinnen  können 
diesen  Höchstlohn  natürlich  nicht  erreichen.  Nach 
den  Angaben  des  Unternehmers  verdienen  die  Arbeite- 
rinnen wöchentlich  durchschnittlich  3 bis  höchstens 
4 M.  Die  Anzahl  der  Stunden,  die  zur  Erreichung 
eines  solchen  Verdienstes  aufgewendet  werden  muss,  ist 
schwer  festzustellen,  da  es  sich  um  eine  Hausindustrie 
handelt.  In  Aschersleben  sind  mehrere  grössere  Papier- 
waaren-  und  1 )th enfabriken,  welche  Arbeiterinnen  theils  in, 
theils  ausserhalb  der  Fabrik  beschäftigen.  Namentlich 


Diiten  für  Ivolonialwaarengeschäfte,  Cigarrenbeutel  u.  s.  w. 
werden  viel  im  Hause  geklebt  Die  Arbeiterinnen,  meist 
Frauen  von  Arbeitern  und  auch  ältere  Wittwen,  welche 
ihre  kleinen  Wirthschaften  nebenbei  besorgen  und  die 
Kinder  mit  zur  Arbeit  heranziehen,  erhalten  die  zuge- 
schnittenen Papiere  und  den  Kleister,  kleben  die  Diiten  in 
ihren  Wohnungen  und  liefern  sie  fertig  wieder  ab.  Sie  er- 
halten je  nach  Art  und  Grösse  der  Düten  15  bis  40  Pf.  für 
je  Tausend  Stück.  Nach  den  Umfragen,  welche  ich  bei 
10  Arbeiterinnen  in  ihren  Wohnungen  gehalten  habe,  stellt 
sich  der  Verdienst  für  die  Stunde  auf  7,5  bis  8 Pf. 
Der  Mann  einer  dieser  Arbeiterinnen,  welche  2 Kinder  im 
Alter  von  1 und  3 Jahren  zu  versorgen  hatte,  arbeitete  in 
der  Fabrik  gegen  einen  Wochenlohn  von  15  M.,  die  Frau 
verdiente  50  Pf.  täglich  mit  Diitenkleben  nebenbei.  Für 
eine  Wohnung  von  2 Zimmern  und  Küche  zahlte  dieses 
Ehepaar  120  M.  jährlich.  Nach  den  Mittheilungen  der  Frau 
hatte  es  nach  einer  kleineren  und  billigeren  Wohnung  ge- 
sucht, eine  solche  aber  nicht  gefunden.“  Das  sind,  wie 
Jeder  zugestehen  wird,  Lohnverhältnisse,  die  ganz  ausser- 
gewölmlich  traurig  genannt  werden  müssen.  Sie  werden 
„nach  Angaben  des  Unternehmers“  geschildert,  sind  also 
gewiss  nicht  zu  schwarz  gefärbt;  und  was  die  Arbeitszeit 
der  ausgenutzten  Frauen  betrifft,  so  macht  die  Wendung, 
dass  dieselbe  „schwer  festzustellen“  sei,  der  Gewissenhaftig- 
keit des  magdeburger  Aufsichtsbeamten  alle  Ehre.  Der- 
selbe verfährt  hierin  weit  vorsichtiger,  als  der  pommersche 
Referent,  und  dass  die  Arbeitszeit  eine  besonders  kurze  sei, 
soll  gewiss  mit  der  Aeusserung  nicht  gesagt  sein. 

Soweit  die  Angaben  über  die  Statistik  der  preussischen 
Hausindustrie.  Besonders  auffällige  Symptome,  die  für  das 
Bestreben  gewisser  Unternehmer,  die  Hausindustrie  aus- 
zudehnen, sprechen,  werden  aber  nun  noch  von  zwei  weite- 
ren Beamten  berichtet.  Es  schreibt  nämlich  der  Gewerberath 
für  Berlin  und  Charlottenburg:  „Auffällig  ist  es  mir 
gewesen,  dass  einzelne  Fabriken,  besonders  solche  zur  An- 
fertigung von  Konfektionsartikeln,  ihren  Arbeiter.stand  plötz- 
lich bedeutend  verringerten,  während  die  Ausdehnung  des 
Geschäftes  selbst  dieselbe  blieb.  Die  angestellten  Ermitte- 
lungen führten  zu  der  Vermuthung,  dass  der  grösste  Theil 
der  entlassenen  Arbeiter  im  Hause  beschäftigt  wird,  und 
dass  die  Absicht,  sie  von  den  Beiträgen  zur  Invaliditäts- 
und Altersversicherung,  vielleicht  auch  von  den  Beiträgen 
zur  Unfallversicherung  zu  befreien,  auf  die  Aenderung  nicht 
ohne  Einfluss  gewesen  ist.  Ich  werde  es  mir  angelegen 
sein  lassen,  dieser  Angelegenheit  näher  zu  treten.“  Man 
wird  zugeben,  dass  die  Beweggründe  der  Ausdehnung  der 
Hausindustrie,  welche  der  Beamte  vermuthet,  eines  hohen 
sozialpolitischen  Interesses  nicht  entbehren  und  kann  seinen 
weiteren  Mittheilungen  nur  mit  grosser  Spannung  entgegen- 
sehen. Nach  einer  anderen  Richtung  ergänzt  werden  diese 
Daten  durch  eine  Stelle  im  Berichte  des  Gewerberathes 
für  Ost-  und  Westpreussen.  Dieselbe  lautet:  „Die  Haus- 
arbeit scheint  in  den  grösseren  Städten  hauptsächlich  in 
Königsberg  nicht  unerheblich  zugenommen  zu  haben. 
Zu  den  ausserhalb  der  Fabriken  geleisteten  Arbeiten  gehört 
besonders  das  Kleben  von  Zündholzschachteln, 
Düten  und  Kartonnagen,  das  Sortiren  und  Putzen  von 
rohen  Bernsteinstücken,  die  Anfertigung  von  Nähe- 
reien, Stickereien  u.  s.  w.  Es  wird  dieser  Hausarbeit 
in  Zukunft  eine  grössere  Aufmerksamkeit  zugewendet 
werden  müssen,  da  die  Zunahme  weniger  auf  die  Abneigung 
der  Mädchen,  in  den  Fabriken  zu  arbeiten  und  als  Fabrik- 
arbeiterinnen zu  gelten,  als  auf  das  Bestreben  von  Arbeit- 
gebern zurückzuführen  sein  dürfte,  sich  durch  Einschrän- 
kung der  in  ihren  Werkstätten  beschäftigten  Zahl  von 
Arbeiterinnen  und  jugendlichen  Arbeitern  den  Vorschriften 
der  Gewerbeordnung  bezüglich  der  täglichen  Arbeitsdauer, 
Beschaffenheit  und  Grösse  der  Arbeitsräume  u.  s.  w.  mög- 
lichst zu  entziehen.“  Der  letzte  Satz  des  Aufsichtsbeamten 
dürfte  an  Deutlichkeit  nichts  zu  wünschen  übrig  lassen. 

Nur  wäre  die  „grössere  Aufmerksamkeit“,  welche 
der  letztgenannte  Beamte  diesen  wichtigen  Verhältnissen 
„in  Zukunft“  zuwenden  will,  möglichst  zu  verallge- 
meinern. Das  preussische  Handelsministerium  hätte  wohl 
die  dringende  Aufgabe,  alle  Inspektoren  an  der  Hand 
der  Aeusserungen  des  Beamten  für  Ost-  und  Westpreussen 
zur  schleunigen  und  eingehenden  Beobachtung,  sowie  gründ- 
lichen Berichterstattung  über  eine  etwaige  Ausdehnung  der 
Hausarbeit  in  Preussen  zu  veranlassen,  die  in  der  Haupt- 
sache eine  Umgehung  der  Arbeiterversicherungs-  und 
Arbeiterschutzvorschriften  bedeuten  würde.  Schlüsse  auf 
die  Nothwendigkeit  gesetzgeberischer  Massnahmen,  die  in 


No.  28. 


SOZIALPOl .ITISCHES  CENTRALBLATT. 


349 


Gestalt  einer  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  auf  die 
Hausindustrie  von  der  volksthümlichen  Sozialpolitik  schon 
sehr  lange  gefordert  werden,  dürften  sich  dann  sehr  rasch 
ergeben.  Selbstverständlich  müsste  bei  der  Beobachtung 
und  der  Berichterstattung  zwischen  den  bekannten  zwei 
Kategorien  der  Hausarbeit  scharf  unterschieden  werden: 
Der  Hausarbeit  auf  eigene  Rechnung  und  mit  Material,  das 
der  Hausindustrielle  selbst  beschafft,  und  der  Hausarbeit 
auf  fremde  Rechnung  mit  fremdem  Material.  So  berichtet 
der  Gewerberath  für  Aachen  und  Trier  von  Selbsthilfe- 
massnahmen selbständiger  Hausindustrieller  seines  Bezirkes 
Folgendes:  „Auf  dem  „Hochwald“  im  Landkreis  Trier,  wo 
die  Industrie  sehr  spärlich  vertreten  ist,  ernähren  sich  viele 
Leute  durch  Schmieden  von  Nägeln  in  Hausarbeit.  In 
den  letzten  Jahren  war  der  Verdienst  dieser  fleissigen 
Nagelschmiede  sehr  zurückgegangen,  was  zum  grössten 
Theil  dem  Umstande  zugeschrieben  wurde,  dass  immer 
grössere  Theile  des  sauer  Verdienten  in  den  Händen  ge- 
wisser Zwischenhändler  verblieben.  Im  Laufe  des  Bericht- 
jahres bildeten  sich  nun  in  Hermeskeil  und  Nonnweiler 
„Genossenschaften  der  Nagelschmiede  mit  unbeschränkter 
Haftpflicht.“  Diese  Vereinigungen  bezwecken  „die  gemein- 
schaftliche Beschaffung  der  zur  Anfertigung  der  Nägel  er- 
forderlichen Rohstoffe  für  die  Mitglieder  und  den  gemein- 
schaftlichen Verkauf  der  daraus  von  den  Mitgliedern  ge- 
fertigten Nägel,  sowie  die  sittliche  Hebung  der  Mitglieder.“ 
Den  beiden  Genossenschaften  traten  sofort  die  meisten 
Nagelschmiede  der  obengenannten  Ortschaften  und  der 
Umgegend  bei,  so  dass  die  Vereinigung  jetzt  rund  300  Mit- 
glieder zählt,  welche  mit  der  Neueinrichtung  ganz  be- 
sonders zufrieden  sind.  Mancher  Nagelschmied  des  Hoch- 
waldes erzählte  mir  mit  freudigem  Stolz,  dass  sein  Verdienst 
jetzt  mindestens  doppelt  soviel  betrage,  wie  vor  einem 
Jahre.“  Bezüglich  dieser  selbständigen  Hausindustriellen 
wäre  die  Dringlichkeit  einer  aufmerksamen  Beobachtung 
und  eines  eventuellen  gesetzgeberischen  Eingreifens  wohl 
nicht  ganz  so  gross,  als  bezüglich  der  Lohnhausarbeiter. 
Ter  Wunsch  jedes  Arbeiterfreundes  kann  es  nur  sein,  dass 
die  auf  diese  Weise  scharf  umgrenzte  und  wichtige  Auf- 
gabe von  der  preussischen  Gewerbeverwaltung  entschlossen 
in  Angriff  genommen  wird. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Arbeitslosigkeit  in  Chemnitz.  Der  Chemnitzer  Verein 
,. Arbeit  für  Bettler  und  vorübergehende  Beschäftigungslose“ 
unterstützte  durch  Nachweis  von  gelegentlicher  Arbeit  u s.  w. 
im  Jahre  1890/91  3599  Personen  gegen  5229  im  Jahre  1891/92.  Die 
Zahl  der  Unterstützten  hat  sich  im  Laufe  eines'Jahres  um  45  pCt. 
vermehrt.  4651  der  Unterstützten  entstammten  dem  deutschen 
Reiche,  von  welchen  nur  1837  die  sächsische  Staatsangehörigkeit 
besassen,  496  waren  Oesterreicher  und  86  sonstige  Ausländer. 
Die  verhältnissmässig  geringe  Zahl  der  Sachsen  illustrirt  die 
allgemeine  wirtschaftliche  Depression  und  nicht  nur  die  des 
Ortes  Chemnitz,  sie  kann  auch  als  Beweis  für  die  Stärke  der 
inneren  Wanderungen  betrachtet  werden,  welche  soziale  Noth 
intensiver  gestaltet.  Nur  70  der  Unterstützten,  also  ca.  I1/?  pCt., 
waren  Strafentlassene.  Nach  dem  Alter  vertheilten  sich  die 
Unterstützten  wie  folgt: 


Alter: 

U nters 
1892 

tiitzte: 

1891 

15- 

-16 

Jahre  . . . 

82 

55 

17- 

-18 

y>  ... 

846 

582 

19- 

-20 

j,  ... 

1366 

733 

21- 

-22 

i)  ... 

775 

462 

23- 

-25 

5)  ... 

539 

404 

26- 

-30 

))  ... 

493 

414 

31- 

-35 

5) 

287 

219 

36- 

-40 

206 

179 

41- 

-45 

V)  ... 

320 

162 

46- 

-50 

5)  ... 

123 

111 

51- 

-55 

jj  ... 

117 

113 

56- 

-60 

D ... 

45 

45 

61- 

-65 

55  .... 

23 

18 

66- 

-70 

))  ... 

6 

2 

71- 

-75 

1 

— . 

Nach  den  Geweifäen  gruppirten  sich  die  Unterstützten 
wie  folgt: 


1892 

1891 

Handarbeiter.  . . . 

794 

616 

Schlosser  

485 

267 

Tischler 

244 

129 

Schneider 

232 

160 

Bäcker  

183 

129 

Weber 

174 

160 

1892 

1891 

Schuhmacher  . . . 

169 

139 

Sattler 

163 

139 

Fabrikarbeiter  . . . 

141 

179 

Klempner  .... 

139 

95 

Schmiede 

1 17 

60 

Maurer 

103 

85 

Buchbinder  . . . 

89 

55 

Brauer  

81 

40 

Fleischer  .... 

82 

91 

Dreher 

77 

43 

Strumpfwirker  . . 

76 

64 

Dekorationsmaler  . . 

59 

30 

Porzellanmaler  . . . 

51 

12 

Steinmetzen  . . . 

49 

30 

Zimmerleute  .... 

46 

60 

Töpfer 

46 

60 

Bergarbeiter  .... 

44 

54 

Gärtner 

43 

42 

Stellmacher  .... 

42 

29 

Glasmaler 

41 

24 

Spinner 

40 

12 

Cigarrenarbeiter  . . 

40 

32 

Schriftsetzer  .... 

37 

19 

Barbiere 

32 

31  u.  s.  w. 

Bei  den  Arbeitern  aller  Gewerbe,  fünf  blos  ausgenommen,  steigerte 
sich  die  Zahl  der  Unterstützten. 

Nach  Monaten  geordnet  gruppirt  sich  die  Gesammtzahl 
folgendermassen : 

1891:  April  354  Personen,  Mai  286,  Juni  473,  Juli  451,  August 

507,  September  439,  Oktober  538,  November  470,  Dezem- 
ber 464. 

1892:  Januar  447,  Februar  423,  März  377  Personen. 

Der  Verein  verabreichte  942  Portionen  Frühkaffee,  1190 
Frühstücke,  887  Mittagessen,  3197  Nachmittagskaffee,  4027  Abend- 
brote, 4548  Nachtquartiere.  In  den  meisten  Fällen  gab  man  den 
Beschäftigungslosen  also  Abendbrot  und  Nachtquartier,  auch 
Kleidungstücke,  Röcke  und  dergleichen,  an  baarem  Gelde  nur 
252  M.  15  Pf. 

Eine  englische  Denkschrift  über  die  Arbeitslosigkeit. 

Eine  interessante  Denkschrift  über  die  Arbeitslosigkeit  hat  der 
Stadtdistriktsvorstand  von  Bermondsey  kürzlich  dem  Premier- 
minister Salisbury  zugeschickt.  Die  Denkschrift  glaubt,  dass 
die  Ursachen  der  Arlfeitslosigkeit,  die  dem  Vorstand  in  den 
letzten  Jahren  viel  zu  schaffen  machte,  daran  liegen,  dass  das 
grosse  Heer  von  Arbeitern,  welche  im  Postamt,  in  den  Staats- 
departements, in  den  Parks,  den  Gefängnissen,  der  Armee, 
Marine  und  Polizei  beschäftigt  sind,  ausserordentlich  lange 
Arbeitszeit  haben,  während  ihre  Löhne  entsetzlich  niedrig  sind. 
Die  grossen  Aktiengesellschaften,  welche  London  mit  Gas, 
Wasser  u.  s.  w.  versorgen  und  den  Verkehr  halb  monopolisiren, 
haben  das  böse  Beispiel,  welches  die  Regierung  ihnen  gegeben 
hat,  nachgeahmt.  Im  Eisenbahndienst  ist  die  Arbeitszeit  noch 
länger  als  im  Postamt  und  die  gezahlten  Löhne  sind  wahre 
Hungerlöhne  Die  Denkschrift  macht  die  Regierung  für  diesen 
Zustand  der  Dinge  verantwortlich  Auch  die  Schnapskneipen 
tragen  viel  Schuld  an  der  bestehenden  Arbeitslosigkeit.  Das 
Volk  müsse  direkt  mitzureden  haben,  ob  und  wem  Schank- 
gerechtigkeiten ertheilt  werden  sollten. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Arbeitsordnungen  als  Strikeanlässe.  Den  vom  Sozialpoli- 
tischen Centralblatt  schon  erwähnten  Fällen,  in  welchen  die  vom 
neuen  Gewerbegesetz  vorgeschriebenen  Arbeitsordnungen  Aus- 
stände veranlasst  haben,  reiht  sich  ein  neuer  an,  über  welchen 
halbamtliche  badische  Blätter  folgende  Darstellung  bringen: 
„Aus  Anlass  der  Erlassung  der  neuen  Arbeitsordnungen  in  den 
Fabriken  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  1 Juni  1891  hat  im 
Lande  (Baden)  nur  eine  Arbeitseinstellung  stattgefunden,  welche 
wohl  deswegen  grösseres  Aufsehen  erregt  hat.  Sie  betraf  eine 
der  namhaftesten  Eisengiessereien  des  Landes,  diejenige  von 
Flink  in  Mannheim.  Auch  diese  Arbeitseinstellung  ist  nach  nur 
kurzem  Bestehen  am  17.  Juni  beendigt  worden,  nachdem  schon 
in  einer  am  10.  d.  M.  unter  Zuzug  eines  Vertreters  der  Fabrik- 
inspektion stattgehabten  Verhandlung  zwischen  dem  Arbeit- 
geber und  einigen  Abgeordneten  der  Arbeiter  eingehende  Be- 
sprechungen über  die  Grundlagen  einer  Verständigung  statt- 
gefunden hatten.  Bezüglich  der  Arbeitsordnung  hancfelte  es 
sich  hierbei  nur  um  untergeordnete  Differenzpunkte,  über  die 
ohne  Schwierigkeit  Verständigung  herbeigeführt  werden  konnte. 
Das  weitere  Verlangen  der  Arbeiter  nach  Einsetzung  eines 
ständigen  Arbeiterausschusses,  welches  bisher  von  dem  Arbeit- 
geber abgelehnt  worden  war,  -wurde  von  demselben  zugestanden, 
und  es  wurden  bezüglich  dieses  Ausschusses  die  wichtigeren 


350 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  28. 


Bestimmungen  vereinbart.  Das  Verlangen  nach  Entlassung  des 
Giessmeisters,  welches  zudem  mit  den  eigentlichen  Differenz- 
punkten nicht  zusammenhing,  war  unannehmbar  und  wurde 
fallen  gelassen.  Von  den  im  Prinzip  zwischen  dem  Arbeitgeber 
und  sämmtlichen  Ausständigen  geschlossenen  Ausgleiche  musste 
nur  Einer  ausgenommen  werden,  der  sich  böswillige  und  be- 
leidigende Verunglimpfungen  des  Arbeitgebers  durch  die  Presse  | 
hatte  zu  Schulden  kommen  lassen  Die  Verzögerung  der  end- 
gültigen Beilegung  des  Ausstandes  nach  den  gemeinsamen  Ver- 
handlungen entstand  dadurch,  dass  verlangt  wurde,  die  Aus- 
ständigen sollten  sämmtlich,  mit  Ausnahme  des  Genannten, 
sofort  wieder  in  die  Arbeit  eintreten.  Die  Erfüllung  dieser 
Bedingung  lag  ausserhalb  der  Macht  des  Arbeitgebers,  da 
einerseits  sein  Geschäft  seit  dem  Ausstande  in  Folge  von 
Zurückziehens  oder  Rückgängigmachens  von  Aufträgen  abge- 
nommen hatte,  andererseits  einzelne  Arbeiter  neu  eingestellt 
worden  waren.  Er  konnte  nur  Zusagen,  so  viel  Arbeiter  wieder 
aufzunehmen,  und  keinen  Fremden  mehr  einzustellen,  so  lange 
noch  einer  der  früheren  Arbeiter  ohne  Beschäftigung  sei  Nach 
einigem  Zögern  wurde  auf  diese  nach  den  Verhältnissen  noth- 
wendige  und  ausserhalb  jeder  Willkür  liegende  Art  der  Wieder- 
aufnahme der  Arbeit  ei'ngegangen  Die  Beilegung  des  Aus- 
standes ist  dem  an  den  Tag  gelegten  guten  Willen  des  Arbeit- 
gebers sowohl,  wie  der  Arbeiter  und  den  besonders  am  Schlüsse 
in  der  gleichen  Richtung  eintretenden  Bemühungen  der  Führer 
der  Arbeiter  zu  danken.“ 


Unternehmerverbände. 


Der  Central  verband  der  Industriellen  Oesterreichs. 

Die  Statuten  des  Centralverbandes  der  Industriellen  Oester- 
reichs haben  die  vom  österreichischen  Vereinsgesetz  er- 
forderliche Bescheinigung  am  15.  Juni  erhalten.  Nach  dem 
Statut  können  nur  solche  Vereine,  respective  Verbände, 
Mitglieder  des  Centralverbandes  sein,  „welche  statuten- 
gemäss  die  Interessenvertretung  einer  bestimmten  Industrie 
(Branche)  bezwecken.“  Einem  Verein  wird  jährlich  die 
Geschäftsführung  übertragen,  welcher  mit  zwei  anderen 
das  ständige  Komitee  bildet.  Alljährlich  findet  ein  gemein- 
samer Verbandstag  statt,  auf  welchem  sich  jeder  Verein 
(Verband)  durch  vier  Delegirte  vertreten  lassen  kann.  Die 
übrigen  Bestimmungen  des  Statuts  beziehen  sich  auf  die 
durch  das  Vereinsgesetz  vorgeschriebenen  formalen  Bedin- 
gungen. Die  „Neue  Freie  Presse“  vergleicht  den  österreichi- 
schen Centralverband  mit  dem  Centralverband  deutscher  In- 
dustrieller in  Berlin  und  bemerkt:  Der  Zweck  und  die  Mittel 
sind  allerdings  hier  wie  dort  die  gleichen;  in  der  Organi- 
sation jedoch  weichen  beide  Institute  nicht  unwesentlich 
von  einander  ab.  Der  deutsche  Centralverband  ist  auf  viel 
breiterer  Basis  aufgebaut;  es  können  ihm  nicht  nur  Vereine 
beitreten,  „welche  wirtschaftliche,  technische  und  kauf- 
männische Zwecke  verfolgen“,  sondern  auch  „Handels-  und 
Gewerbekammern  und  ähnliche  Verbindungen,  Erwerbs- 
gesellschalten, Firmen  und  einzelne  Personen  (Industrielle 
und  Freunde  der  Industrie)“.  Der  österreichische  Central- 
verband  besteht  lediglich  aus  Fachverbänden,  welche  nur 
je  eine  Stimme  haben. 

Internationales  Kartell  der  Papierfabrikanten.  Ein 

solches  wird  geplant  und  für  die  Rentabilität  der  Industrie  als 
dringend  notwendig  bezeichnet  in  Aeusserungen,  welche  auf 
der  19.  Generalversammlung  des  „Vereins  österreichisch-unga- 
rischer Papierfabrikanten  in  Wien“  (19.  Juni  d.  J.)  fielen.  Die 
Mehrheit  der  Anwesenden  sprach  sich  dahin  aus,  dass  es  zur 
Besserung  der  Lage  der  Papierindustrie,  respektive  behufs  Ent- 
lastung des.  Marktes  wünschenswert  sei,  eine  allgemeine  Be- 
triebsreduktion, sei  es  auf  dem  Wege  gemeinsamer  freiwilliger 
Beschränkung  der  Produktion  oder  durch  die  gesetzliche  Ein- 
führung der  Sonntagsruhe,  auch  bei  der  Papierindustrie,  für  den 
Fall  eintreten  zu  lassen,  wenn  diese  Massregel,  d.  i.  die  Betriebs- 
reduktion im  Wege  internationaler  Vereinbarung  auch  bei  den 
anderen  Industriestaaten  des  Kontinents  zu  erzielen  wäre. 


Handwerkerfragen. 


Inmingsbewegung  im  F 1 ei  scjherge  werbe.  Am  23.  und 

24.  Juni  d.  J.  tagte  in  Metz  der  XV.  deutsche  Fleischer- 
verbandstag, dem  rund  900  Innungen  mit  22  000  Mit- 
gliedern angehören.  Erschienen  waren  103  Delegirte  aus 


allen  Theilen  Deutschlands.  Es  wurde  eine  ganze  Anzahl 
von  Beschlüssen  gefasst,  von  denen  die  meisten  in  Gestalt 
von  Anträgen  dem  Bundesrath  zugehen  werden.  Eine  lange 
Erörterung  entspann  sich  über  die  staatliche  Viehversiche- 
rung.  Man  einigte  sich  dahin,  die  Reichsversicherung  für 
Verluste  durch  Tuberkulose  zu  erstreben.  Schliesslich 
wurde  ein  neues  Statut  für  die  Verbandsbücher  angenommen. 
Die  Verbandsbücher  sind  Eigenthum  des  Verbandes  und 
sollen  denjenigen  Gesellen  zeitweilig  oder  dauernd  entzogen 
werden,  welche  Veruntreuungen  u.  s.  w.  begangen  oder  an 
sozialdemokratischen  Umtrieben  sich  betheiligt  haben ! 
Dresden  wurde  als  Ort  der  nächstjährigen  Zusammenkunft 
gewählt. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Arbeiterscbutzmassregcln  für  die  Wiener  Verkehrs- 
anlagen.  Anlässlich  der  Berathung  der  Regierungsvorlage 
über  die  Wiener  Verkehrsanlagen  ist  im  österreichischen 
Abgeordnetenhause  eine  Reihe  von  Schutzmassregeln  für 
die  beim  Baue  beschäftigten  Arbeiter  vorgeschlagen  wor- 
den. Es  sind  dies  zunächst  ein  Antrag  der  Abgeordneten 
Baernreither  und  Russ,  wonach  die  Arbeiterschutzbestim- 
mungen des  sechsten  Hauptstückes  der  Gewerbeordnung 
auf  alle  Arbeitspersonen  ausgedehnt  werden  sollen,  die  bei  den 
Wiener  Bauten  beschäftigt  sein  werden,  und  ein  besonderer 
Gewerbeinspektor  zur  Ueberwachung  dieser  Arbeiten  eingesetzt 
werden  soll,  ferner  ein  Antrag  des  Abgeordneten  Kaizl  auf  all- 
gemeine Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  ohne  Rücksicht  auf 
die  Wiener  Bauten;  endlich  Resolutionen,  welche  den  Ausschluss 
von  Nichtösterreichern  und  Subunternehmern,  Schaffung  von 
kleinen  Bauloosen  und  die  Festsetzung  eines  Minimallohnes  von 
fl.  1.30  im  Vereine  mit  einer  Maximalarbeitszeit  von  10  Stunden 
verlangen. 

Sämmtliche  Anträge  wurden  vom  Abgeordnetenhause  dem 
Gewerbeausschusse  zur  Berichterstattung  zugewiesen,  welcher 
sich  kürzlich  seiner  Aufgabe  entledigt  hat.  (Referent  Abgeord- 
neter Baernreither.)  Der  Ausschuss  empfiehlt  dem  Hause,  den 
Antrag  Baernreither  - Russ  nebst  einer  Resolution  anzunehmen, 
durch  welche  die  Regierung  aufgefordert  wird,  bei  Ausführung 
der  erforderlichen  Bau-,  Erd-  und  Wasserarbeiten  durch  ver- 
tragsmässige  Bestimmungen  die  Gleichstellung,  bezw.  Unter- 
ordnung sämmtlicher  Bei  diesen  Arbeiten  beschäftigten  Personen 
unter  die  Gewerbeordnung  zu  sichern  und  bei  diesen  Personen 
auch  die  Handhabung  der  Vorschriften  über  den  Maximal- 
arbeitstag, das  Verbot  der  Kinderarbeit  und  der  Nachtarbeit  bei 
Frauen  sowie  die  Einschränkung  der  Arbeit  jugendlicher  Per- 
sonen durch  Vereinbarung  mit  den  Unternehmern  und  auf  dem 
Wege  der  Arbeitsordnungen  zu  veranlassen;  hierbei  soll  jedoch 
dem  Handelsminister  freistehen,  dieselben  Ausnahmen  zu- 
zulassen, welche  die  Gewerbeordnung  als  statthaft  bezeichnet. 

Endlich  solle  die  Regierung  auf  die  sanitären  Verhältnisse 
und  die  Unterkunft  der  aus  Anlass  der  Ausführung  der  Ver- 
kehrsanlagen sicli  in  Wien  ansammelnden  Arbeiter  ihre  Auf- 
merksamkeit richten,  wenn  nöthig  Begünstigungen  für  die  An- 
lage provisorischer  Unterkunftsbauten  gewähren  und  die  Auf- 
nahme erkrankter  Arbeiter  in  die  Spitäler  zu  sichern.  Hin- 
sichtlich des  Antrages  Kaizl  solle  sich  das  Haus  bis  zum  Ein- 
langen genügender  Materialien  seitens  der  Handelskammern, 
Genossenschaften  und  Gewerbebehörden  die  Entscheidung  Vor- 
behalten. Die  erwähnten  Resolutionsanträge  lehnt  der  Aus- 
schuss ab;  es  wurde  lediglich  eine  neue  Bestimmung  in  das 
von  den  Abgeordneten  Baernreither  und  Russ  beantragte  Gesetz 
aufgenommen;  demach  ist  der  für  die  Wiener  Verkehrsanlagen 
einzusetzende  Gewerbeinspektor  verpflichtet,  in  dem  von  ihm 
alljährlich  zu  erstattenden  Berichte  genaue  Angaben  über  die 
Lohn-,  Wohnungs-  und  Sanitätsverhältnisse  der  bei  diesen 
Bauten  beschäftigten  Arbeiter  sowie  über  die  Art  der  Arbeits- 
vergebung und  über  die  Arbeitszeit  zusammenzustellen 

Arbeitszeit  der  englischen  Eisenbahnbediensteten. 

Der  Parlamentsausschuss  zur  Untersuchung  der  Arbeitszeit 
der  Eisenbahnbediensteten  hat  kürzlich  unter  Vorsitz  des 
Präsidenten  des  Handelsamtes,  Sir  M.  Hicks  Beach,  seinen 
Bericht  festgestellt.  Derselbe  tritt  der  Festsetzung  eines 
gesetzlich  geregelten  Arbeitstages  für  Eisenbahnbedienstete 
als  unausführbar  entgegen,  ist  jedoch  der  Ansicht,  dass  die 
Eisenbahngesellschaften  in  der  Beschränkung  der  Arbeits- 
zeit ihrer  Angestellten  noch  viel  weiter  gehen  sollten,  als 
sie  es  bisher  gethan.  Signalbeamte  und  Weichensteller  an 
Punkten,  wo  grosser  Verkehr  herrscht,  sollten  nicht  länger 
als  8 Stunden  per  Tag,  andere  Beamte  nicht  länger  als 
10  Stunden  per  Tag,  die  Zeit  für  Mahlzeiten  nicht  einge- 


No.  28. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


351 


rechnet,  zu  arbeiten  haben.  Einzelne  Ausnahmen  werden 
angeführt. 

Für  Maschinenführer,  Heizer  und  Schaffner  von  Güter- 
zügen wird  eine  66  Stunden  per  Woche  oder  12  Stunden 
täglich  nicht  überschreitende  Arbeitszeit  vorgeschlagen. 
Die  Gesellschaften  sollen  angehalten  werden,  dem  Handels- 
amt regelmässige  Berichte  über  die  Arbeitszeit  ihrer  Be- 
diensteten einzureichen.  Wenn  ein  solcher  unbefriedigend 
ausfällt,  solle  das  Handelsamt  ermächtigt  werden,  die  Ge- 
sellschaft zur  Herabsetzung  der  Arbeitszeit  innerhalb  be- 
stimmter Frist  aufzufordern,  und  bei  weiterer  Weigerung 
derselben  die  Sache  vor  die  Eisenbahnkommissäre  zu  brin- 
gen, welchen  das  Recht  zustehen  sollte,  die  Gesellschaft 
zur  Erfüllung  ihrer  Verpflichtung  durch  eine  Konventional- 
strafe von  20  Pfd.  Sterl.  per  Tag  anzuhalten.  Der  Ausschuss 
spricht  sich  energisch  gegen  jede  Verminderung  der  Ver- 
antwortlichkeit der  Gesellschaften  für  die  Verwaltung  ihrer 
Bahnlinien  aus. 


Arbeiterversicherung. 

Die  Ergebnisse  der  österreichischen  Kranken- 
versicherung im  Jahre  1890. 

Ueber  die  Gebarung  und  Ergebnisse  der  Krank- 
heitsstatistik der  nach  dem  Gesetze  vom  30.  März  1888 
(Krankenversicherung  der  Arbeiter)  eingerichteten  Kranken- 
kassen im  Jahre  1890  veröffentlichen  die  „Amtlichen  Nach- 
richten des  K.  K.  Ministeriums  des  Innern  betreffend  die 
Unfallversicherung  und  die  Krankenversicherung  der  Ar- 
beiter“ in  ihrer  Nummer  vom  1.  Mai  den  ersten  Theil,  aus 
dem  wir  die  wichtigsten  Daten  hier  zusammenfassen. 

Während  der  ersten  ganzjährigen  Gebarungsperiode 
der  obligatorischen  Krankenversicherung  ( 1 890)  befand  sich 
dieselbe  noch  vielfach  im  Stadium  der  Entwicklung.  Die 
ungünstigen  Morbiditätsverhältnisse1)  (Influenza)  zu  Beginn 
des  Jahres  übten  auf  den  finanziellen  Stand  der  Kassen 
naturgemäss  einen  starken  Einfluss.  87,9  pCt.  der  Kassen- 
beiträge MO  096  740  fl.),  welche  11489  862  fl.  betrugen, 
wurden  als  Krankenunterstützungen  u.  dergl.  ausbezahlt. 
Die  Reservefonds  stiegen  von  4 028  789  fl.  auf  5 047  805  fl. 
Nahezu  ein  Drittheil  der  Kassen  (818)  schlossen  mit  höheren 
Jahresausgaben  als  Jahreseinnahmen  ab,  das  Defizit  bei 
denselben  betrug  123  065  fl.,  während  1031  Kassen  ihren 
Reservefonds  20  und  mehr,  891  weniger  als  20  pCt.  der 
laufenden  Kassenbeiträge  zuführen  konnten. 

Bringen  wir  die  Mitgliederzahl  der  Kassen  zu  diesen 
Ueberschüssen  und  Defiziten  in  Beziehung,  so  zeigen  sich 
eigenthümliche  Resultate.  Wir  ordnen  hier  die  Kassen- 
kategorien nach  ihrer  Mitgliederzahl  und  erhalten  dann: 


Krankenkassen 

Durch 

liehe 

d 

Kassen 

schnitt- 

Zahl 

er 

Mit- 

glieder 

Zahl  der 
Mit- 
glieder 
einer 
Kasse 

Durch 

lic 

Ueber- 

schuss2 

einer 

fl. 

schnitt- 

her 

Defizit 

Kasse 

fl. 

Durchschnitt- 
lieh er 

UjberV  Defizit 
schuss^l 

auf  ein 

Kassenmitglied 
fl.  i fl. 

Bezirkskassen  . . 

545 

550606 

1010 

755,80 

199,80 

0,75 

0,20 

Betriebskassen  . . 

1427 

505642 

354 

514,76 

104,75 

1,45 

0,30 

Vereinskassen  . 
Genossenschafts- 

53 

261336 

4931 

857,68 

2003,59 

0,17 

0,41 

kassen  

632 

230578 

365 

350,87 

45,42 

0,96 

0,12 

Baukassen  

3 

663 

221 

17,00 

887,66 

0,08 

3,87 

Alle  Kassen  .... 

2660 

1548825 

582 

531,89 

148,81 

0.91 

0,26 

Wir  ersehen  aus  vorstehender  Tabelle,  dass  der  Ueber- 
schuss  der  Kassen  auf  den  Kopf  des  Versicherten  berechnet 
bei  den  Betriebskassen  um  0,54  fl.  und  bei  den  Genossen- 
schaftskrankenkassen um  0,04  fl.  grösser,  bei  den  Bezirks- 
krankenkassen um  0,16  fl.,  bei  den  Vereinskrankenkassen 
um  0,74  fl.  und  bei  den  wegen  ihrer  unbedeutenden  Mit- 
gliederzahl nicht  weiter  in  Betracht  gezogenen  Baukranken- 


1) In  dem  Berichte  heisst  es  merkwürdiger  Weise  mit 
Konsequenz:  Morbilitätsverhältnisse. 

2)  Der  Ueberschuss,  der  in  der  obigen  Tabelle  nach  Ab- 
zug des  Defizits  berechnet  ist,  ist  diesen  Berechnungen  ohne 
Abzug  des  Defizits  zu  Grunde  gelegt. 


kassen  um  0,83  fl.  geringer  war  als  der  durchschnittliche 
Ueberschuss  überhaupt.  Zum  durchschnittlichen  Defizit 
fehlten  den  Genossenschaftskrankenkassen  0;14  fl.,  den  Be- 
zirkskassen 0,06  fl  pro  Kopf  der  Mitglieder,  es  wurde  über- 
schritten von  den  Betriebskrankenkassen  um  0,04  fl.  und 
von  den  Vereinskrankenkassen  um  0,15  fl.  pro  versichertes 
Mitglied. 

Diese  Ergebnisse  könnten  leicht  ein  abfälliges  Urtlieil 
über  die  versicherungstechnischen  Grundlagen  der  öster- 
reichischen Krankenversicherung  oder  wenigstens  bezüglich 
einzelner  Kategorien  derselben  veranlassen.  Uns  scheint 
dies  aber  nicht  am  Platze  zu  sein,  da  das  Berichtsjahr  in 
Folge  der  Influenzaepidemie  ein  durchaus  exeptionelles  war, 
und  die  Krankenversicherung  sich  erst  einleben  musste, 
Erfahrungen  bez.  der  Verwaltung  der  Krankenkon- 
trolle etc.  noch  nicht  in  genügendem  Masse  gemacht  waren. 
Das  einzige  etwa,  was  sich  auf  Grund  dieser  Ergebnisse 
empfehlen  liesse,  wäre  höchstens  die  Auflassung  der  Bau- 
krankenkassen, deren  geringe  Zahl  und  Mitgliederstärke  es 
gestattet,  auf  diesem  Wege  die  Organisation  der  Kranken- 
versicherung weit  einfacher  zu  vereinfachen. 

Auf  1000  Mitglieder  am  1.  Januar  kamen  am  31.  De- 
zember 1890 


bei  den  Bezirkskrankenkassen  ....  1099, 

„ ,,  Betriebskrankenkassen  ....  1076, 

„ „ Genossenschaftskrankenkassen.  1187, 

„ „ Vereinskrankenkassen  . . . . 1115, 

„ sämmtlichen  Kassen 1107. 


Die  Zahl  der  gegen  Krankheit  überhaupt  versicherten 
stieg,  von  einer  Unterbrechung  im  Februar  abgesehen, 
stetig  bis  zum  1.  Juli  auf  1180,  sie  blieb  im  August  stationär 
und  sank  dann  bis  zum  31.  Dezember  auf  1107. 

Auf  1000  Versicherte  kamen  781  Männer  und  219  Frauen, 
in  den  Betriebskrankenkassen  der  Tabakfabriken  897  Frauen, 
in  den  Krankenkassen  der  Eisenbahnen  979  Männer  auf 
1000  Versicherte. 

Das  österreichische  Kranken -Versicherungsgesetz 
schreibt  als  Regel  vor,  dass  20  pCt.  der  Kassenbeiträge  den 
Reservefonds  zugeführt  werden  sollen.  Diese  starke  Do- 
tirung  des  Reservefonds  wird  kaum  in  den  günstigsten 
Jahren  stattfinden  können.  In  dem  ausserordentlich  un- 
günstigen Jahre  1890  konnte  keine  Kassenkategorie  dem 
Gesetze  nach  dieser  Richtung  Rechnung  tragen.  Die  Be- 
triebskrankenkassen führten  14,52  pCt.,  die  Genossenschafts- 
krankenkassen 1 1 ,74  pCt.  und  die  Bezirkskrankenkassen 
8,67  pCt.  ihrer  Einnahmen  den  Reservefonds  zu,  während  die 
Vereinskrankenkassen  denselben  keine  Beiträge  zuführten, 
sondern  2,63  pCt.  ihrer  Kassenbeiträge  denselben  entnehmen 
mussten.  Die  relativ  hohe  Reservefonddotirung  der  Betriebs- 
krankenkassen erklärt  sich  aus  ihrer  geringen  Belastung 
mit  Verwaltungskosten  und  aus  dem  Umstande,  dass  nur 
die  privaten  Unternehmungen  mit  besten  Morbiditäts-  und 
Mortalitätsverhältnissen  Betriebskassen  errichteten,  während 
die  ungünstig  gestellten  zum  grossen  Theile  schon  vor  der 
Einführung  des  Krankenkassengesetzes  ihre  Arbeiter  bei 
den  Vereinskassen  versichert  hatten. 

Auf  ein  Mitglied  kamen  im  Jahre  1890  an  laufenden 


bei  den 

Beiträgen  der 

Mit-  Unter- 

glieder ; nehmer 

zu- 

sammen 

Ein- 

nahmen 

über- 

haupt 

Bezirkskrankenkassen  . . 

4,14 

2,21 

6,35 

6,57 

Betriebskrankenkassen  . . 

5,25 

2,73 

7,98 

9,03 

Baukrankenkassen  . . . 

Genossenschaftskranken- 

5,06 

2,48 

7,54 

8,16 

kassen  

4,80 

2,33 

7,13 

7,58 

Vereinskrankenkassen  . . 

7,53 

1,30 

8,83 

9,27 

Bei  allen  Krankenkassen  . 

5,17 

2,25 

7,42 

7,98 

Die  Ausgaben  vertheilen  sich  folgendermassen:  für 
Krankengeld  6 144113  fl.  (54,2  pCt.  der  Gesammtausgaben), 
für  ärztliche  Hilfe  1800  023  fl.  (15,9  pCt.),  für  Medikamente 
1374  528  fl.  (12,1  pCt.),  für  Spitalverpflegung  444322  fl. 
(3,9  pCt.),  für  Beerdigungskosten  333  754  fl.  (2,9  pCt.),  für 
vorstehende  Ausgabenposten  zusammen  10  09674011.  (89pCt.), 
für  Verwaltungskosten  897  97811.  (7,9  pCt.),  für  andere  Aus- 
gaben 346  009  fl.  (3,1  pCt.) 

Auf  die  einzelnen  Krankenkassen  vertheilen  sich  diese 
Ausgaben  in  Prozenten  der  Gesammtausgaben  folgender- 
massen. 


352 


SOZIALPOLITISCHES  CENTR  AI  .BLATT. 


No.  28. 


Bei  den  Krankenkassen 


Bezirks- 

,,  , • , Genossen- 

Betriebs-j  schafts. 

Krankenkassen 

Vereins- 

Krankengeld 

45,4 

55,2 

51,8 

65,8 

Aerztl. -Hilfe 

17,4 

19,1 

12,6 

10,6 

Medikamente  .... 

11,1 

14,8 

10,0 

10,5 

Spitalverpflegung  . . . 

5,1 

2,5 

7,2 

25 

Beerdigungskosten  . . 

2,0 

3,0 

3,7 

3,7 

Zusammen 

81,0 

94,6 

85,3 

93,1 

Verwaltungskosten  . . 

15,8 

1,0 

13,0 

5,3 

übrige  Ausgaben  . . . 

3,2 

4,4 

1,7 

1,6 

Von  anderen  Gesichtspunkten  aus  gruppirt  ergeben 
sich  folgende  Relativzahlen: 


Be- 

zirks- 

Be-  Ge'  Ver- 

, • , nossen-  • r 

tnebs-  schafts-  eins‘ 

Krankenkassen 

bei 

allen 

Krankengeld 

in  pCt.  der  laufenden  Beiträge 

43,0 

2,73 

54,4 

49,0 

3,49 

70,8 

53,5 

in  fi.  auf  ein  Mitglied  . . . 

4,35 

6,25 

3,97 

Aerztliche  Hilfe 
in  pCt.  wie  bei  Krankengeld 

16,5 

18,9 

11,9 

0,85 

11,4 

15,7 

in  fl.  „ „ „ 

1,05 

1,51 

1,01 

1,16 

Medikamente 

in  pCt.  wie  bei  Krankengeld 

10,5 

14.6 

9,5 

11,4 

11,9 

in  fl.  „ „ „ 

0,67 

1,16 

0,67 

1,01 

0,89 

Spital  Verpflegung 
in  pCt.  wie  bei  Krankengeld 

4,8 

2,4 

6,8 

2,6 

3,9 

in  fl.  „ „ 

0,31 

0,20 

0,49 

0,23 

0,29 

Beerdigungskosten 
in  pCt.  wie  bei  Krankengeld 

1,9 

2,9 

3,4 

4,0 

2,9 

in  fl.  ,,  ,,  ,, 

0,12 

0,23 

0,25 

0,35 

0,21 

Zusammen 

in  pCt.  wie  bei  Krankengeld 

76,7 

93,2 

80,6 

100,2 

87,9 

in  fl.  „ „ 

4,88 

7,45 

5,75 

8,85 

6,52 

Verwaltungskosten 
in  pCt.  wie  bei  Krankengeld 

15,0 

1,0 

12,3 

5,8 

7,8 

in  fl. 

0,95 

0,07 

0,88 

0,51 

0,58 

Die  übrigen  Ausgaben 
in  pCt.  wie  bei  Krankengeld 

3,0 

4,4 

0,35 

1,6 

1,6 

3,0 

0,22 

in  fl.  „ „ „ 

0,19 

0,11 

0,14 

Ein  anderes  Bild  ergiebt  sich,  wenn  man  die  Kosten 
der  ärztlichen  Hilfe  und  der  Medikamente  auf  den  Kranken- 
tag bezieht: 


Kosten  eines 

Krankheitstages  in  fl.  ö.  W. 

Krankenkassen 

überhaupt 

ärztliche  Hilfe 

Medikamente 
an  d.  Mitgl. 

Bezirks-  .... 

0,77 

0,17 

0,11 

Betriebs-  .... 

0,74 

0,16 

0,12 

Genossenschafts-. 

0,94 

0,14 

0,12 

Vereins-  .... 

0,80 

0,10 

0,09 

Alle 

0,79 

0,15 

0,11 

Ueber  die  Morbidität  giebt  folgende  Tabelle  näheren 
Aufschluss,  in  der  in  Relativzahlen  die  statistisch  erfass- 
baren Erscheinungen  sich  gruppirt  finden: 


Be- 

zirks- 

Be-  ( Ge;  Ver- 

triebH  schafts-  eins- 
Krankenkassen 

Alle 

Es  erkrankten  von  1000  Mitgl. 

36,6 

47,0 

27,5 

47,4 

40,5 

männliche 

36,7 

48,4 

27,6 

48,7 

40,5 

weibliche 

35,6 

44,0 

27,3 

43,7 

40,4 

Es  entfielen  Erkrankungsfälle 

auf  1000  Mitglieder  .... 

42,2 

59,9 

32,8 

61,0 

49,8 

männliche 

42,4 

62,6 

32,8 

62,7 

49,9 

weibl.  excl.  Entbindung 

41,2 

53,9 

33,2 

56.2 

49,5 

Es  starben  von  1000  Mitgl.  . 

0,79 

1,15 

0,92 

1,38 

1,03 

männliche 

0,79 

1,12 

0,95 

1,37 

1,00 

weibliche 

0,79 

1.23 

0,73 

1,40 

1,12 

Es  entfielen  Krankentage  auf 

1 Mitglied 

5,93 

9,00 

5,62 

9,96 

7,57 

auf  ein  männliches  . . 

5,81 

8,93 

5,61 

9,92 

7,32 

auf  ein  weibliches  excl. 

Entbindungen  . . . 

6,70 

9,14 

5,65 

10,07 

8,44 

Be- 

zirks- 

Be-  Ge'  Ver- 

. ■ u nossen- 

triebs'  schafts-  eins’ 

Krankenkassen 

Alle 

Durchschnittliche  Kranken- 
tage auf  1 Mitglied  . . . 

14,0 

15,0 

17,1 

16,3 

15,2 

auf  ein  männliches  . . 

137 

14,3 

17,1 

15,8 

14,7 

auf  ein  weibliches  excl. 
Entbindungen  . . . 

16.3 

17.00 

17,0 

17,9 

17,1 

Es  entfielen  Entbindungen  auf 
100  weibl.  Mitglieder  . . . 

5,93 

8.24 

5,55 

10,41 

7,90 

Auf  ein  weibl.  Mitgl.  entfielen 
Krankentage  f.  Entbindung. 

1.62 

2.26 

1,45 

2,27 

2,04 

Es  entfielen  Kranken  tage  über- 
haupt auf  ein  Mitglied  . . 

6,15 

9,71 

5,83 

10,56 

8,01 

auf  ein  männliches  . . 

5,81 

8,93 

5,61 

9,92 

7,32 

auf  ein  weibliches  excl. 
Entbindungen  . . . 

8,32 

11,40 

7,10 

12,34 

10,48 

Auf  die  Verschiedenheit  der  Morbidität  und  Mortalität 
sind  wohl  in  erster  Linie  die  erheblichen  Abweichungen 
der  einzelnen  Kassen  in  der  folgenden  Tabelle  zurückzu- 
führen : 


Krankenkassen 

Krankheits- 

tages 

Kosten  eines 
Erkrankungs- 
falles 

in  fi.  ö.  W. 

Sterbefalles 

Bezirks-  . . . 

0,77 

11,04 

15,04 

Betriebs-  .... 

0,74 

11,88 

20,35 

Genossenschafts-. 

0,94 

16,33 

26  91 

V ereins-  .... 

080 

13,33 

25,56 

Alle 

0,79 

12,22 

20,96 

Damit  sind  im  Wesentlichen  die  Ergebnisse  der  be- 
sprochenen Publikationen  erschöpft.  Eine  Ergänzung  der- 
selben: Scheidung  des  krankheitsstatischen  Materials  nach 
Alter,  Beschäftigungsart  und  Krankheitsform  wird  für  einen 
späteren  Zeitpunkt  in  Aussicht  gestellt. 

So  interessant  die  versicherungstechnischen  Ergebnisse 
der  österreichischen  Krankenkassenstatistik  sind,  so  wenig 
berechtigen  sie  aus  den  oben  angegebenen  Gründen  vorerst 
zu  einer  eingehenden  kritischen  Untersuchung.  Eines  sei 
nur  bemerkt,  die  Befürchtungen  der  Vereinskassen,  dass 
das  Krankenversicherungsgesetz  ihre  Lage  bedeutend  ver- 
schlechtern wird,  haben  sich  vorerst  wenigstens  bewahr- 
heitet. Wenn  die  nächsten  Jahre  nicht  bedeutend  günstigere 
Ergebnisse  für  die  österreichischen  Vereinskassen  zeitigen, 
dürften  diese  seit  langem  auf  dem  Prinzipe  der  Kassen- 
freiheit bestehenden  Institutionen  gefährdet  sein  und  Oester- 
reichs Krankenversicherung  sowie  die  Deutschlands  sich 
zum  Systeme  der  Zwangskasse  entwickeln. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Reform  der  deutschen  Unfallversicherung.  Die  Vor- 
arbeiten, welche  zur  Umgestaltung  der  Unfallversicherung 
vorgenommen  werden,  erstrecken  sich  nach  Mittheilungen 
der  Regierungsorgane  auf  zwei  Gebiete.  Einmal  wird  be- 
absichtigt, einen  Gesetzentwurf  über  die  schon  lange  ge- 
wünschte und  geplante  Ausdehnung  der  Unfallversicherung 
auf  das  Handwerk  und  zweitens  eine  Novelle  zu  der  bereits 
vorhandenen  Unfallversicherungsgesetzgebung  auszuarbei- 
ten. Was  die  letztere  betrifft,  so  sind  im  Laufe  der  nun- 
mehr bereits  nahezu  siebenjährigen  Praxis  den  Berufs- 
genossenschaften  sowohl  von  Seiten  der  Arbeitgeber  wie 
der  Versicherten  vielfache  Wünsche  nach  Abänderungen 
ausgesprochen,  welche  nunmehr  zur  Berücksichtigung 
kommen  sollen.  Auch  hat  der  Reichstag  mehrfach  Veran- 
lassung genommen,  einzelne  auf  die  Unfallversicherung  be- 
zügliche Fragen  theils  bei  den  Berathungen  des  Etats  des 
Reichsversicherungsamtes,  theils  bei  anderen  Gelegenheiten 
zu  diskutiren.  Es  liegt  demnach  für  die  Ausarbeitung  der 
Novelle  ein  reiches  Material  vor.  Die  Ausdehnung  der  Un- 
fallversicherung auf  das  Handwerk  ist  von  den  berufenen 
Vertretern  des  letzteren  mehrfach  nicht  blos  als  zweck- 
mässig, sondern  als  nothwendig  bezeichnet  worden  Die 
Arbeiten  an  beiden  gesetzgeberischen  Werken  sind  bereits 
so  weit  gediehen,  dass  sie  demnächst  werden  zum  vorläufi- 
gen Abschluss  gebracht  werden  können.  Dem  Vernehmen 
nach  wird  auch  hier  die  Reichsregierung,  wie  sie  es  in 
früheren  ähnlichen  Fällen  gethan  hat,  bevor  die  Gesetz- 


No.  28. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLA  I T. 


853 


entwürfe  im  Bundesrath  zur  Berälhung  gelangen,  dieselben 
veröffentlichen,  damit  allen  Interessenten  ausgiebige  Ge- 
legenheit gegeben  wird,  sich  über  die  einzelnen  Fragen  zu 
äussern,  und  damit  diese  ihre  etwaigen  Wünsche  nach 
anderweitiger  Gestaltung  der  verschiedenen  Bestimmungen 
rechtzeitig  den  zuständigen  Stellen  kundgeben  können. 

Normalstatut  für  Ortskraiikenkassen  im  Deutschen  Reich. 

Der  Bundesrath  hat  sich  mit  der  Berathung  des  Entwurfs 
eines  Normalstatuts  für  Ortskrankenkassen  beschäftigt.  Nach 
dem  neuen  Kranken  versieh  erungsgeffetze  müssen  bekanntlich 
sämmtliche  Kassen  ihre  Statuten  bis  zum  1.  Januar  1893,  dem 
Tage  des  völligen  Inkrafttretens  der  Novelle,  den  abgeänderten 
Bestimmungen  angepasst  haben  Das  neue  Normal"statut  soll 
den  Ortskrankenkassen  diese  Arbeit  erleichtern.  Nach  Erlass 
des  Krankenversicherungsgesetzes  vom  15.  Juni  1883  war  ausser 
fiir  die  Orts-  auch  für  die  Fabrikkrankenkassen  ein  solches 
Statut  veröffentlicht.  Man  scheint  diesmal  von  einer  Revision 
des  letzteren  absehen  zu  wollen,  weil  für  die  Fabrikkranken- 
kassen nur  wenige  und  unwesentliche  Aenderungen  in  der 
Novelle  getroffen  sind  Der  Inhalt  des  neuen  Normalstatuts 
für  die  Ortskrankenkassen  ist  natürlich  ebenso  wie  derjenige 
des  alten  in  keiner  Weise  verbindlich,  weder  für  Diejenigen, 
welchen  die  Errichtung  oder  Abänderung  des  Kassenstatuts 
obliegt,  noch  für  die  Behörden,  welchen  die  Genehmigung 
zusteht.  Bei  der  grossen  Verschiedenheit  der  Verhältnisse,  auf 
welche  bei  der  Errichtung  von  Kassenstatuten  für  Ortskranken- 
kassen Rücksicht  zu  nehmen  ist,  kann  auch  kein  Entwurf  ge- 
gegeben  werden,  welcher  ohne  Aenderung  für  jede  Ortskranken- 
kasse verwendbar  wäre.  Es  wird  daher  jede  Bestimmung 
daraufhin  zu  prüfen  sein,  ob  sie  unverändert  in  das  Statut  für 
eine  bestimmte  Kasse  aufgenommen  werden  kann.  Während 
einerseits  der  ins  Auge  gefasste  neue  Entwurf  von  der  Voraus- 
setzung ausgeht,  dass  eine  Ausdehnung  der  Versicherungspflicht 
auf  die  im  § 2 des  Krankenversicherungsgesetzes  bezeichneten 
Klassen  von  Personen  nicht  erfolgt  ist,  sind  darin  andererseits 
durchgehends  die  Verhältnisse  von  Ortskrankenkassen  berück- 
sichtigt, welche  für  mehrere  verwandte,  dem  Bereiche  des 
Handwerks  angehörende  Gewerbszweige  errichtet  sind.  Das 
Statut  wird  jedoch  auch  für  Kassen,  welche  nur  für  einen 
Gewerbszweig,  sowie  für  solche,  welche  für  sämmtliche  Ge- 
werbszweige in  einer  Gemeinde  errichtet  werden  sollen,  eine 
ausreichende  Anleitung  bieten.  Was  durch  gesetzliche  Vor- 
schrift in  der  Weise  geregelt  ist,  dass  den  einzelnen  Kassen- 
statuten ein  Spielraum  für  besondere  Bestimmungen  nicht 
zugelassen  wird,  z.  B.  Vorschriften  über  die  Beaufsichtigung  j 
und  Schliessung  der  Kassen,  soll  in  das  Statut  nur  soweit  auf-  ! 
genommen  werden,  als  es  nothwendig  erscheint,  um  das  Ver-  ! 
ständniss  der  getroffenen  Bestimmungen  zu  sichern  oder  den 
Kassenmitgliedern  eine  ausreichende  Kenntniss  ihrer  Rechte 
und  Pflichten  zu  vermitteln.  Musterstatuten  für  die  eingeschrie- 
benen Hilfskassen  wurden  auch  bekanntlich  sowohl  für  die 
Hamburger  Krankenkassenkonferenz  als  von  Dr.  Max  Hirsch 
ausgearbeitet. 


Soziale  Hygiene. 


Hygienische  Untersuchungen  der  Buchdruckereien  in 
Prenssen.  Der  preussische  Handelsminister  hat  Untersuchungen 
über  die  sanitären  Verhältnisse  in  den  Buchdruckereien  anstellen 
lassen;  das  Schriftstück,  welches  die  Untersuchung  anordnet, 
hat  folgenden  Wortlaut: 

Während  des  letzten  Buchdruckerausstandes  ist  von  den 
Ausständigen  zur  Begründung  ihrer  Forderung  einer  Verkürzung 
der  Arbeitszeit  vielfach  darauf  hingewiesen  worden,  dass  die 
Gesundheitsverhältnisse  der  Buchdrucker  in  Folge  ihrer  ange- 
strengten und  ungesunden  Thätigkeit  besonders  ungünstig  seien, 
wie  sich  namentlich  daraus  ergebe,  dass  ein  unverhältnissmässig 
grosser  Prozentsatz  von  ihnen  an  der  Lungenschwindsucht  ster- 
ben. Letztere  Behauptung  wird  für  die  Buchdrucker  in  Berlin 
durch  das  Ergebniss  mehrerer  in  jüngster  Zeit  angestellter 
Untersuchungen  bestätigt.  So  ist  von  dem  Direktorium  der 
Reichsdruckerei  festgestellt  worden,  dass  von  den  Todesfällen, 
welche  während  der  Jahre  1881  bis  1891  unter  den  in  der 
Reichsdruckerei  beschäftigten  Personen  vorgekommen  sind,  sich 
61.81  pCt.  auf  Lungenleiden  und  dann  wieder  32,72  auf  Lungen- 
schwindsucht zurückführen  lassen.  Das  Ergebniss  dieser  für  die 
Reichsdruckerei  aufgestellten  Statistik  deckt  sich  im  Wesent- 
lichen mit  denjenigen  der  Untersuchungen  des  Dr.  H.  Albrecht 
(zu  vergleichen  der  Aufsatz:  „Die  Berufskrankheiten  der  Buch- 
drucker“ in  Schmollers  Jahrbüchern  für  Gesetzgebung,  Verwal- 
tung und  Volkswirtschaft  im  Jahrgang  1891,  Heft  2,  S.  213  ff.), 
wonach  von  der  Gesammtzahl  der  in  den  Jahren  1857  bis  1889 


gestorbenen  Kassenmitglieder  der  Berliner  Ortskrankenkasse  der 
Buchdrucker  48,13  pCt.  der  Lungenschwindsucht  erlegen  sind. 
Das  auch  durch  frühere  Untersuchungen  ermittelte,  verhältniss- 
mässig  häufige  Vorkommen  von  Erkrankungen  der  Athmungs- 
organe  unter  den  Buchdruckern  wird  von  Albrecht,  Hirt  und 
Anderen  namentlich  auf  die  mangelhafte  Reinigung  und  Lüftung 
der  Arbeitsstätten  zurückgeführt.  Eine  besonders  sorgfältige 
Reinigung  der  Setzersäle  wird  deshalb  für  nothwendig  erachtet, 
weil  der  in  ihnen  verbreitete  Bleistaub,  wenn  er  eingeathmet 
und  verschluckt  werde,  oder  wunde  Hautstellen  berühre,  den 
Organismus  vergifte.  Hierdurch  werde  dann  bewirkt,  dass  der 
an  sich  gefahrlose,  nicht  verletzende  Staub,  indem  er  mit 
schlaffen,  des  Widerstandes  unfähigen  Organen  in  Berührung 
komme,  leicht  chronisch-entzündliche  Zustände  der  Lunge  er- 
zeuge. Was  die  Lüftung  anlangt,  so  wird  bemerkt,  dass  in  den 
Setzersälen  die  Hitze  in  Folge  der  vielen  Gasflammen  sich  oft 
zu  einer  kaum  erträglichen  Höhe  steigere,  dass  die  Empfindlich- 
keit gegen  Temperaturunterschiede  die  Buchdrucker  vielfach  das 
Oeffnen  der  Fenster  oder  die  Benutzung  der  Lüftungseinrich- 
tungen vermeiden  lasse  und  dass  in  Folge  hiervon  die  Empfäng- 
lichkeit für  Erkältungen  eine  grössere  werde  und  der  Staub, 
sowie  die  mit  dem  Auswurfe  Lungenschwindsüchtiger  in  Ecken 
und  Winkel  gerathenen  Krankheitskeime  leichter  in  den  Luft- 
raum und  durch  diesen  in  die  Lungen  gelangten.  Mit  Rücksicht 
hierauf  wird  zu  erwägen  sein,  ob  zur  Verbesserung  derGesund- 
heitsverhältnisse  der  Buchdrucker  auf  Grund  des  § 120e  Abs.  i 
der  Gewerbeordnung  in  der  Fassung  des  Reichsgesetzes  vom 
1.  Juni  1891  für  Buchdruckereien  neue  Vorschriften  namentlich 
über  Mindestluftraum,  Lüftung  und  Reinigung  der  Arbeitssäle 
vom  Bundesrath  zu  erlassen  sein  würden,  wie  es  für  Cigarren- 
fabriken bereits  geschehen  ist.  Um  übersehen  zu  können,  ob 
für  den  Erlass  solcher  Vorschriften  ein  allgemeines  Bedürfniss 
vorliegt,  ist  es  mir  erwünscht,  über  die  Gesundheitsverhältnisse 
der  Buchdruckereigehilfen  auch  in  anderen  Städten  als  Berlin 
zuverlässiges  statistisches  Material  zu  erhalten.  Ew.  Hochwohl- 
geboren ersuche  ich  daher  ergebenst,  durch  Vermittelung  der 
im  dortigen  Bezirke  bestehenden  Orts-(Betriebs-)Krankenkassen 
für  Buchdrucker  gefälligst  feststellen  zu  lassen,  welcher  Prozent- 
satz der  seit  Errichtung  der  Kasse  oder  — in  Ermangelung  der 
erforderlichen  Unterlagen  für  die  ganze  Zeit  — innerhalb  eines 
anderen  näher  anzugebenden  Zeitraumes  verstorbene  Kassen- 
mitglieder der  Lungenschwindsucht  und  sonstigen  Lungenleiden 
erlegen  sind. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Cohen,  Dr.  jur.  Gustav,  Ueber  die  Strafgewalt  des  Staates. 
Ein  mahnendes  Wort  an  alle  Diejenigen,  welche  ein  thätiges 
Interesse  an  der  Entwicklung  des  öffentlichen  Lebens 
nehmen,  insbesondere  Parlamentarier,  Volkswirthschaftler 
und  Juristen.  Hannover,  1892.  Pli.  Cohen.  8°.  31  S. 

Eschenbach,  A.,  Für  Börsenreform.  Berlin,  1892.  Putt- 
kammer & Mühlbrecht,  gr.  8’.  II  und  56  S. 

Fritz,  Peter,  XIII.  Gesetzesartikel  vom  Jahre  1891  über 
die  Sonntagsruhe  der  gewerblichen  Arbeiter.  Mit 
Erläuterungen  und  Anmerkungen.  2.  mit  der  neuesten 
Ministerial  - AusfLihrungs  - Verordnung,  vermehrte  Auflage. 
Budapest,  1892  Moritz  Rath.  8".  19  S. 

XIV.  Gesetzesartikel  vom  Jahre  1891  über  die 
Unterstützung  in  Krankheitsfällen  der  gewerb- 
lichen Fabriksangestellten.  Mit  Erläuterungen,  An- 
merkungen und  Parallelstellen.  1.  Heft  mit  der  am  11.  März 
1892  erlassenen  Durchführungs-Verordnung  vermehrte  Aus- 
gabe. Budapest,  1892.  Moritz  Rath.  8°.  59  S. 

Hallier.  Prof.  Dr.  Ernst,  Die  sozialen  Probleme  und  das 
Erbrecht.  Eine  rechtsphilosophische  Studie.  München,  1892. 
Dr.  E.  Albert  & Cie.  8U.  45  S. 

Jäger,  Adolf,  Pastor,  Die  soziale  Frage  nach  ihrer  wirth- 
schaftlichen  und  ethischen  Seite.  III.  Band.  I.  Theil. 
Neu-Ruppin,  1892.  Ruch  Petrenz.  8".  VIII  und  120  S. 

Ley,  Conrad  Albrecht,  A.  Bebel  und  sein  Evangelium. 
Sozialpolitische  Studie.  3.  gänzlich  umgearbeitete  Auflage. 
Düsseldorf  (1892).  L.  Schwan.  8°.  VIII  und  104  S. 

The  Ben  Tillet,  Election  Fuiul.  London,  1892.  Fabian  Society. 
4n.  Flugblatt. 

The  ninih  animal  Report  of  the  work  of  the  Fabian  Society 
fort  the  year  endet  31  st  March  1892.  Also  the  Basis  and 
Rules  of  the  Society  and  a Summary  of  the  Reports  of  all 
other  Fabian  Societies.  London,  1892.  Fabian  Society.  8n  23  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


354 


ANZEIGEN. 


No.  28. 


SPHINX 

B)unat5|ü|vift  für  en-  mttr  Qktptesielnm. 

(Serttralorgcm  für  beit  JbealtSrmiS  in  neujeitlic^er  natiimliftifd)er  Raffung. 

perauS g e g e beit  non 

Hübbe-  Schleiden, 

Dr.  J.  U. 

2)ie  ©pl)üu;  ääijlt  311  iljren  ^Mitarbeitern  eine  Sinjal)!  ber  erften,  tbeal  beufenben  unb 
f djriftftcUcrifdj  luie  fünftterifd)  teiftungsfähigen  Ärcifte  ®eutfc^Ianbs  unb  ©eftcrreidjs,  wie: 

ß«tt§  Strnotb,  Dr.  (fugen  ®ret)er,  Arthur  Jitger,  Dr.  tpugo  ©oering,  Prof.  Dr. 
©ruft  »aüier,  Dr.  ft-raitj  .Startmann,  ftarl  Äieen)  etter,  Dr.  Mapl).  non  ft'oeber, 
Dr.  Subü).  £ul)Ienbctf,  Dr.  ©arl  bu  tyrel,  Steffel,  '}3.  St  Stofegger,  SJtorife 

©arrtere,  ©eorg  ©bere,  SJtnrtin  ©reif,  ©buarb  0.  .fjartmann  (mit  Slusnabme  ber 
ilnfterblidjfeitsfragej,  .Stto  n.  Vcirner,  öerntantt  u.  Singg,  ©mit  ißefcljfau,  Julius 
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I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  18.  Juli  1892. 


Nummer  29. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

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Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT 


Die  Arbeiter  Statistik  der 
preussischen  Gewerbein- 
spektorenberichte für  das 
Jahr  1891.  Von  Dr.  Max 
Quarck. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik: 

Die  sozialstatistischen  Ergebnisse 
der  schweizer  Rekrutirung  im 
Herbste  1890.  Von  Dr.  Adolf 
Braun. 

Arbeitsnachweis  in  Karlsruhe. 

Minimallohn  und  Arbeitsvermitte- 
lung  in  Gross-Zürich. 

Arbeiterzustände: 

Zur  Kritik  der  Arbeitsstatistik  der 
deutschen  Gewerkvereine  für  das 
Jahr  1891. 

Die  Lage  der  Arbeiter  im  Wupper- 
thale. 

Fabrikarbeiterlöhne  in  Sachsen- 
Altenburg. 

Statistik  der  Leipziger  Buchdrucker- 
lehrlinge. 

Forderung  der  Arbeitsstatistik  für 
Paris. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Kommunales  Programm  der  fran- 
zösischen Arbeiterpartei. 


Kaufmännische  Bewegung: 

Organisation  der  Angestellten  im 
Handelsgewerbe. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Möglichkeit  der  Arbeitszeitver- 
kürzung. 

Sonntagsruhe  für  die  Landarbeiter 
der  k.  preussischen  Domänen. 

Beschränkung  der  Sonntagsarbeit 
auf  Schiffen. 

Entscheidung  des  schweizerischen 
Bundesrathes  über  den  Inhalt 
von  Arbeitsordnungen. 

Gewerbeinspektion : 

Die  Berichte  der  schweizerischen 
Fabrikinspektoren  für  1890  und 
1891.  Von  Kantonsstatistiker 
Fl.  Naef. 

Arbeiterversicherung: 

Die  eingeschriebenen  Hilfskassen 
und  die  Krankenkassennovelle. 

Krankenstatistik  der  oberschlesi- 
schen Knappschaftsvereine. 

Litteratur: 

Görres,  Dr.  jur.  K , Handbuch  der 
gesammten  Arbeitergesetzgebung 
des  deutschen  Reiches. 

Bart,  O.  te,  Die  Versicherungs- 
pflicht nach  dem  Invaliditäts- 
und Altersversicherungsgesetz. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Arbeiterstatistik  der  preussischen  Ge- 
werbeinspektoren-Berichte  für  I891. 

Keine  leichte  Aufgabe  ist  es,  aus  den  in  dieser  Zeit- 
schrift schon  mehrfach  erwähnten,  neuen  preussischen  Ge- 
werbeinspektoren-Berichten  für  1891  eine  arbeiterstatistische 
Uebersicht  zu  geben.  In  No.  15  des  „Sozialpolitischen 
Centralblattes“  wurde  an  dieser  Stelle  dargelegt,  dass  die 
sächsische  Gewerbeinspektion  neben  derjenigen  einiger 
kleinerer  Staaten  die  einzige  ist,  welche  fortlaufend  eine 
sozialpolitisch  verwerthbare  Arbeiterstatistik  liefert,  — das 
Studium  der  neuesten  preussischen  Berichte  kann  Jeden,  der 
es  gründlich  wissen  will,  darüber  belehren,  wie  unzureichend 
dieser  wichtige  Zweig  von  der  preussischen  Gewerbe- 
inspektion gepflegt  wird. 

Selbstverständlich  ist  zunächst  für  Jeden,  der  die  Art 
der  Herausgabe  der  Inspektorenberichte  seitens  der  Central- 
stelle kennt,  dass  der  amtliche  Band  trotz  seiner  Dickleibig- 
keit nicht  die  geringste  zusammenfassende  Darstellung  des 
etwa  vorhandenen  arbeiterstatistischen  Materials  enthält. 
Alles  ist  im  Text  und  in  den  Beilagen  auf  die  Einzelberichte 


zerstreut.  Lässt  man  sich  dadurch  nicht  abschrecken  und 
beginnt  die  Sammelarbeit  nachträglich  von  Seite  zu  Seite, 
so  findet  man,  dass  drei  und  ein  halber  Aufsichtsbezirk 
überhaupt  keine  brauchbaren  Ziffern  liefern.  Es  sind  dies 
Oppeln,  Schleswig,  Münster  und  Minden  sowie  der  Regie- 
rungsbezirk Köln  aus  dem  Inspektionsbezirk  Köln-Koblenz. 
Der  Inspektor  des  Bezirks  Oppeln  giebt  sich  redliche  Mühe, 
alljährlich  eine  schöne  tabellarische  Uebersicht  über  die  in 
seinem  Bezirk  geleisteten  Schichten  und  verdienten  Löhne 
zu  liefern.  Was  nützt  dieses  Material  aber,  wenn  man 
seinem  neuesten  Berichte  über  die  Gesammtzahl  der  er- 
wachsenen männlichen  Arbeiter  gar  Nichts,  und  über  die 
jugendlichen  bezw.  kindlichen  Arbeiter  nur  sehr  Unvoll- 
kommenes entnehmen  kann.  In  der  einen  Tabelle  trennt 
der  Beamte  nämlich  wohl  kindliche  und  jugendliche,  aber 
nicht  männliche  und  weibliche  Arbeiter;  in  der  anderen 
thut  er  das  letztere,  aber  nicht  das  erstere.  Der  Schleswiger 
Inspektor  findet  uns  mit  der  Bemerkung  ab,  dass  „bemer- 
kenswerthe  Veränderungen  nicht  eingetreten  sind“,  der 
Gewerberath  für  Minden  und  Münster  macht  über  die  Zahl 
der  erwachsenen  Arbeiter  gar  keine  und  über  jugendliche 
und  kindliche  Arbeiter  ähnlich  unvollständige  Angaben,  wie 
der  Inspektor  für  Oppeln.  Für  den  Regierungsbezirk  Köln 
endlich  ist  erst  jetzt  eine  Zählung  im  Gange.  Lediglich 
aus  den  übrigen  Bezirken  ist  nachfolgende  Uebersicht  zu- 
sammengestellt, deren  Mängel  dem  Verfasser  nicht  unbe- 
kannt sind,  die  er  aber  in  der  glücklichen  Lage  ist,  sammt 
und  sonders  auf  seine  Gewährsmänner,  die  preussischen 
Gewerberäthe,  zurückführen  zu  können. 

(Siehe  umstehende  Tabelle.) 

Die  oben  erwähnten  Mängel  dieser  Uebersicht  be- 
stehen darin,  dass  Angaben  über  die  erwachsenen  Arbeiter, 
ohne  welche  sich  die  Zahlen  der  jugendlichen  und  kind- 
lichen Arbeiter  niemals  richtig  beurtheilen  lassen,  aus  nicht 
weniger  als  acht  Bezirken  gänzlich  fehlen  und  für  drei  [Be- 
zirke nur  für  das  Jahr  1891  vorhanden  sind,  im  vorliegenden 
Berichtsbande  wenigstens.  Bleiben  also  nur  fünf  Bezirke, 
nämlich  Berlin -Charlottenburg -Teltow,  Breslau-Liegnitz, 
Magdeburg,  Merseburg-Erfurt  und  Sigmaringen  mit  einer 
vollständigen  Arbeiterstatistik,  und  auch  Sigmaringen  ge- 
hört nur  halb  dazu,  weil  der  dortige  Inspektor  männliche 
und  weibliche  Arbeiter  in  allen  Kategorien  nicht  trennt. 
So  reduzirt  sich  das  brauchbare  Material  eigentlich  auf  vier 
Bezirke.  Aber  auch  aus  dieser  kleinen  Zahl  sind  -wieder 
zwei  auszuscheiden,  weil  hier  bei  den  jugendlichen  Arbeitern 
entweder  die  Geschlechter  nicht  getrennt  oder  die  ge- 
trennten Zahlen  nicht  auch  für  1890  zur  Vergleichung  her- 
angezogen sind  (Merseburg-Erfurt  bezw.  Magdeburg).  Und 
so  bleiben  also  schliesslich  ganze  zwei  Bezirke  von  den 


356 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


Nu.  29. 


Es  betrug  die  Zahl 


im 

Aufsichtsbezirk 

der  erwachsenen  Arbeiter 

der  j u 

gendlichen  Arbeiter 

der  kindlichen  Arbeiter 

männliche 

weibliche 

männliche 

weibliche 

männliche 

weibliche 

1890 

1891 

1890 

1891 

1890 

1891 

1890 

1891 

1890 

1891 

1890 

1891 

1.  Ost-  und  Westpreussen  . . . 

— 

— 

— 

1 089 

1 062 

776 

842 

54 

17 

24 

22 

2.  Posen ... 

— 

31  307 

— 

3 947 

1890: 

1 345 

1890 

: 50 

1891  : 

1 289 

1891 

: 23 

3.  Berlin-Charlottenburg-Teltow  . 

122  866 

125  320 

36  639 

38  460 

4 663 

5 125 

3 243 

3 180 

68 

55 

9 

12 

4.  Frankfurt  a./O. -Potsdam  . . . 

— 

- 

— 

— 

3 590 

3 345 

2 526 

2 091 

438 

434 

258 

206 

5.  Pommern 

— 

— 

— 

— 

1 183 

1111 

467 

453 

124 

47 

44 

32 

6.  Breslau-Liegnitz 

100816 

117  434 

45  638 

44  536 

6 631 

7 498 

3 549 

3 443 

425 

411 

281 

179 

7.  Magdeburg 

61  369 

61  847 

8 070 

7 179 

1890: 

4 501 

1890 

102 

1891  : 

4 888 

1891 

40 

? 

4 069 

P 

819 

? 

29 

: ? 

11 

8.  Merseburg-Erfurt 

69  132 

71  300 

13813 

13  894 

1890: 

7 739 

1890 

442 

1891  : 

7913 

1891 

421 

9.  Hannover 

— 

— 

— 

— 

3 670 

4015 

1 079 

1 155 

257 

220 

145 

132 

10.  Arnsberg 

— 

— 

— 

— 

8 394 

9 003 

1 457 

1 527 

205 

198 

88 

54 

11.  Kassel 

— 

25  227 

— 

6318 

— 

2 793 

— 

1 356 

— 

144 

— 

50 

12.  Wiesbaden 

— 

— 

— 

— 

2 220 

— 

965 

— 

46 

— 

36 

13.  Koblenz 

— 

19219 

— 

2 177 

— 

1 814 

— 

612 

— 

115 

— 

63 

14.  Düsseldorf 

— 

— 

— 

— 

1890: 

18  376 

1890 

481 

1891  : 

17  364 

1891 

393 

15.  Aachen-Trier 

— 

5 433 

4 834 

2 627 

2 386 

33 

38 

16 

6 

16.  Sigmaringen 

1890: 

4 551 

1890 

430 

1890 

: 12 

1991  : 

4 454 

1891 

374 

1891 

: 21 

gesammten  19,  für  welche  die  Inspektionsbeamten  wissen- 
schaftlich verwerthbare  Zahlenangaben  lieferten.  Ein  sehr 
trauriges  Resultat!  Dass  die  Zahlen  für  1890  oder  für  die 
gesondert  zu  haltenden  Arbeiterkategorien  dabei  vom  Be- 
arbeiter vielfach  erst  durch  Subtraktion  oder  Addition  be- 
rechnet werden  mussten,  möge  nur  nebenbei  erwähnt  sein. 

Von  den  beiden  Bezirken  mit  vollständiger  Statistik 
(Berlin-Charlottenburg  und  Breslau-Liegnitz)  soll  deshalb 
bei  einer  kurzen  Besprechung  unserer  Tabelle  ausgegangen 
werden.  Was  Berlin-Charlottenburg  anbetrifft,  so  fällt 
zunächst  die  Verminderung  der  Kinder  und  der  jugend- 
lichen weiblichen  Arbeiter  wohlthuend  auf,  während  sich 
die  Zahl  der  männlichen  erwachsenen  und  jugendlichen 
Arbeiter,  die  letzteren  nicht  gerade  anormal,  vermehrte, 
und  nur  die  Zahl  der  erwachsenen  weiblichen  Arbeiter 
auffallend  stark  zunahm.  Diese  ungesunde  Mehrung  der 
Frauenarbeit  wird  im  Bericht  des  Gewerberathes  auch  für 
die  einzelnen  Kreise  des  Bezirkes  noch  näher  nachgewiesen; 
es  betrug  nämlich  die  Vermehrung  bezw.  Verminderung 
(+  bezw.  — ) in  Prozenten  ausgedrückt  gegen  das  Vorjahr 

bei  den  Männern  bei  den  Frauen 

für  Berlin +1,8  +5,7 

„ Charlotten  bürg  . . — 5,8  + 3.0 

„ Teltow  u.  s.  w.  . . +5,5  + 5,0. 

Also  nur  in  dem  mehr  ländlichen  Theile  des  Aufsichts- 
bezirkes eine  Vermehrung  der  Männerarbeit,  welche  die- 
jenige der  Frauenarbeit  übersteigt;  in  Berlin  ein  ganz 
bedenkliches  Ueberwiegen  der  Entwickelung  der  Frauen- 
beschäftigung, in  Charlottenburg  sogar  eine  Verminderung 
der  Männer,  der  eine  Vermehrung  der  Frauen  gegenüber- 
steht — Niemand  wird  in  diesen  Dingen  erfreuliche 
Symptome  erkennen.  Nach  einer  Erklärung  derselben 
sucht  man  im  Text  des  Berichtes  freilich  vergebens;  der 
Gewerberath  der  Reichshauptstadt  scheint  es  nicht  als 

seine  Aufgabe  zu  betrachten,  solchen  wichtigen  Fragen 
nachzugehen.  Im  Bezirk  Breslau-Liegnitz,  dem  zweiten 
mit  vollständiger  Arbeiterstatistik  im  vorliegenden  Berichts- 
bande, ist  die  Entwickelung  eine  weit  gesündere.  Eine 
namhafte  Vermehrung  der  Beschäftigung  männlicher  er- 
wachsener und  jugendlicher  Arbeiter,  demgegenüber  eine 


Abnahme  der  Frauenarbeit,  sowie  der  Beschäftigung 
jugendlicher  weiblicher  und  kindlicher  Personen.  Doch 
fallen  auch  hier  in  Folge  spezieller  Nachweisungen  des 
arbeitsstatistisch  sehr  fleissigen  und  gewissenhaften  Auf- 
sichtsbeamten Schatten  in  das  erquickliche  Gesammtbild:  , 
im  Bezirk  Liegnitz  vermehrte  sich  die  Zahl  der  beschäf- 
tigten Kinder,  und  zwar  der  Mädchen,  von  1890  auf  1891 
um  beinahe  68  Prozent,  von  81  auf  136,  freilich,  ohne  dass  ! 
auch  hier  näher  zu  ersehen  wäre,  welcher  Geschäftszweig 
diese  ungesunde  Fieranziehung  kindlicher  Kräfte  verur- 
sachte. Wann  wird  die  preussische  Gewerbeinspektion 
diesen  Dingen  endlich  sorgfältiger  nachgehen? 

Aus  den  übrigen  Bezirken  lassen  sich  vollends  an  der 
Hand  unserer  Uebersicht  nur  eben  die  Punkte  herausheben,  { 
an  welchen  eine  bessere  Statistik  und  Forschung:  einzusetzen  < 
hätte;  sozialpolitische  Urtheile  sind  bei  der  Lückenhaftigkeit 
des  Materials  gänzlich  unzulässig.  In  Ost-  und  Westpreussen 
fällt  die  Mehrung  der  weiblichen  jugendlichen  Arbeiter  auf, 
in  Merseburg-Erfurt  wäre  festzustellen,  welches  Geschlecht 
die  Kosten  der  Zunahme  jugendlicher  Arbeit  trägt,  in  Minden, 
Münster  und  Sigmaringen,  warum  die  Zahl  der  Kinder  zu- 
nahm, da  in  allen  übrigen  Bezirken  eine  erfreuliche  Ver- 
minderung der  absoluten  Kinderzahl  stattfand,  während  sich 
freilich  das  Verhältniss  zu  den  erwachsenen  Arbeitern  nur 
in  den  oben  besonders  erwähnten  Distrikten  berechnen 
lässt.  Die  neuen  Spezialerhebungen  in  den  Bezirken 
Koblenz  und  Kassel  werden,  wenn  man  sie  regelmässig 
jährlich  wiederholt,  die  Grundlage  für  interessante  Ver- 
gleichungen in  den  nächsten  Jahren  geben.  Schon  jetzt 
stellte  der  Gewerberath  für  Kassel  fest,  dass  in  den  Glas- 
hütten, Metall waaren-,  Maschinen-,  Textil-,  Papier-,  Stuhl- 
und  Stock-,  Cigarren-  und  Tabakfabriken,  sowie  in  den 
Buchdruckereien  seines  Bezirkes  eine  ganz  anormale  Heran- 
ziehung jugendlicher  Kräfte  stattfand,  die  bis  26  Prozent 
der  beschäftigten  Arbeiter  überhaupt  ausmachten.  Solche 
Feststellungen  müssen  alle  Jahre  systematisch  fortgesetzt 
werden,  wenn  die  Inspektion  wirklich  Material  für  die  Ge- 
setzgebung liefern  will. 

Nach  allen  diesen  Aussetzungen  soll  nicht  verkannt 
werden,  dass  sich  eine  Besserung  in  den  arbeiterstatistischen 


No.  29. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


357 


Erhebungen  der  preussischen  Gewerbeaufsichtsbeamten 
vollzieht.  Früher  wurden  Angaben  über  die  erwachsenen 
Arbeiter  überhaupt  höchst  selten,  Mittheilungen  über  die 
jugendlichen  Arbeiter  nur  alle  zwei  Jahre  gemacht.  Die 
neuen  Berichte  sind  in  diesen  Beziehungen  schon  reich- 
haltiger, und  die  als  Anlagen  14  und  15  dem  Berichtsbande 
für  1891  beigegebenen  Anweisungen  und  Formulare  des 
Regierungspräsidenten  aus  dem  Bezirk  Köln  können  als 
Muster  für  alle  übrigen  Distrikte  dienen,  nach  welchen  die 
Verwaltungsbehörden  den  Aufsichtsbeamten  die  nöthigsten 
Unterlagen  alljährlich  liefern.  Nur  ist  damit  noch  lange 
nicht  Alles  gethan.  Bemerkungen  der  Gewerberäthe  für 
Ost-  und  Westpreussen  und  Kassel  lassen  die  Nachweise 
der  Verwaltungsbehörden  ebenfalls  noch  als  sehr  mangel- 
haft erscheinen.  Es  müssen  also  den  Inspektoren  mehr 
arbeitsstatistische  Kräfte  zugewiesen  werden,  welche  end- 
lich eine  laufende  preussische  Arbeiterstatistik  herstellen 
helfen,  die  des  ersten  deutschen  Staates  würdig  ist. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  sozialstatistischen  Ergebnisse  der  schweizer 
Rekrutirung  im  Herbste  1890. 

Ueber  die  physische  Beschaffenheit  der  Bevölkerung 
fehlen  uns  allgemeine  sozialstatistische  Erhebungen.  Nur 
für  das  männliche  Geschlecht  vor  seinem  Eintritt  in  die 
volle  Manneskraft  werden  gelegentlich  des  Aushebungsge- 
schäftes in  den  Ländern  mit  allgemeiner  Wehrpflicht  Er- 
hebungen über  die  körperliche  Beschaffenheit  mit  Rück- 
sicht auf  Grösse,  Körperumfang,  Ausbildung  der  Extremi- 
täten, Gesundheit  der  Sinnes-  und  Athmungsorgane  etc. 
vorgenommen.  In  der  Schweiz  und  in  Oesterreich  werden 
die  Ergebnisse  dieser  Erhebungen  in  leicht  zugänglichen 
Publikationen  veröffentlicht. 

Die  soeben  erschienene  85.  Lieferung  der  schweize- 
rischen Statistik:  „Ergebnisse  der  ärztlichen  Rekruten- 

untersuchung im  Herbste  1890“'),  enthält  eine  Tabelle  mit 
den  Verhältnisszahlen  nach  Berufsarten.  Diese  Verhältniss- 
zahlen  beruhen  zum  weitaus  grössten  Theile  auf  dem  Ge- 
sammtergebniss  der  Jahre  1884-  1890,  nur  bezüglich  des 
Brustumfanges  auf  Ergebnissen  der  Jahre  1886 — 1890  und 
die  Angaben  über  den  Oberarmumfang  auf  Ergebnissen 
der  Jahre  1885—1890.  Mit  Ausnahme  der  Angaben  über 
die  Diensttauglichkeit  beziehen  sich  die  Daten  ausschliess- 
lich auf  Männer  des  jeweilig  jüngsten  Rekrutirungsj ahr- 
ganges. Wir  finden  in  Tabelle  2 die  allgemeinen  Verhält- 
nisse der  Dienstuntauglichkeit  und  die  Gründe  der  Untaug- 
lichkeit bei  den  im  Herbste  1892  untersuchten  Rekruten 
nach  dem  Berufe  der  letzteren  geordnet  und  ausserdem  für 
die  Jahre  1884—1890  (bezw.  1885—1890  und  1886—1890)  die 
Dienstuntauglichen  ihrer  Zahl  nach  und  die  Ergebnisse  der 
Untersuchung  ihrer  Körperlänge,  Brust-  und  Oberarmum- 
fangs wie  Sehschärfe  auch  nach  Berufen  gruppirt. 

Bevor  wir  auf  die  Einzelheiten  eingehen,  mögen  die 
allgemeinen  Resultate  der  Erhebung  in  Kürze  vorgeführt 
werden. 

Die  Untersuchungen  haben,  da  sie  mit  dem  Meter- 
band vorgenommen  werden,  im  Allgemeinen  weit  mehr 
Anspruch  auf  Exaktheit  als  andere  sozialstatistische  Er- 
hebungen, doch  dürfen  die  Schwierigkeiten  technischer 
Natur  nicht  vollkommen  übersehen  werden  insbesondere 
bei  den  Messungen  des  Brust-  und  Oberarmumfanges,  der 
je  nach  Haltung  der  Muskeln  und  Luftinhalt  der  Athmungs- 

i)  Herausgegeben  vom  Statistischen  Bureau  des  eidge- 
nössischen Departements  des  Innern.  Bern,  1892.  4".  49  S. 


organe  auch  bei  grösster  Sorgfalt  des  untersuchenden 
Arztes  wechselt  und  deshalb  oft  nicht  mit  vollster  Genauig- 
keit festgestellt  werden  kann.  Man  begnügte  sich  in  der 
Schweiz  früher  für  jeden  dienstuntauglich  erklärten  Stellungs- 
pflichtigen einen  Untauglichkeitsgrund  namhaft  zu  machen. 
Von  statistischer  Seite  wurde  aber  mit  berechtigtem  Nach- 
druck darauf  aufmerksam  gemacht,  wie  mangelhaft  und 
irreführend  diese  Angaben  seien,  wenn  sie  dafür  benutzt 
werden  wollten,  die  Häufigkeit  der  verschiedenen  Untaug- 
lichkeitsgründe für  die  verschiedenen  Gegenden  und  Berufe 
festzustellen.  Seit  dem  Jahre  1884  sollen  nun  alle  Untaug- 
lichkeitsgründe festgestellt  werden,  aber  in  der  Praxis 
bürgerte  sich  diese  Uebung  erst  langsam  ein  und  auch 
heute  kann  noch  nicht  behauptet  werden,  dass  die  einzelnen 
Untersuchungskommissionen  diesen  Anordnungen  vollständig 
nachkommen.  Aber  die  Ergebnisse  der  Erhebungen  zeigen 
doch,  dass  die  Untersuchungen  immer  genauer  werden, 
was  folgende  auch  sonst  bemerkenswerthe  Tabelle  beweist: 


Untersuchungs- 

jahr 

Zahl  der 
untauglich 
Erklärten 

Gesammtzahl  Auf  je  100 

der  festge-  Untaugliche 

stellten  Ün-  kamen  Untaug- 
tauglichkeits-  ! lichkeits- 
gründe  gründe 

1884  . . . 

9358 

10  208 

109 

1885  . . . 

9548 

11  691 

122 

1886  . . 

8976 

11  520 

128 

1887  . . . 

8473 

11  142 

132 

1888  . . . 

8431 

1 1 705 

139 

1889  . . . 

8521 

12  074 

142 

1890  . . . 

8997 

12  867 

143 

Im  Herbste  1890  stellten  sich  30  348  Personen,  von 
diesen  stammten  23  101  aus  dem  Jahre  1871  und  7247  aus 
älteren  Jahrgängen.  5842  wurden  zurückgestellt  und  zwar 
4123  auf  ein  Jahr  und  1719  auf  2 Jahre,  sonst  wurden 
24  506  junge  Männer  endgültig  beurtheilt,  15  509  derselben 
wurden  für  diensttauglich  befunden,  8997  für  dienstuntaug- 
lich erklärt.  Von  den  Diensttauglichen  entstammten  3311 
älteren  Jahrgängen. 

Die  12  867  Untauglichkeitsgründe  vertheilten  sich 
folgendermassen : 

Es  wurden  zurückgestellt  2507  Rekruten  wegen 
mangelhafter  körperlicher  Entwicklung,  Schwäche,  Anämie 
u.  dergl.,  2048  wegen  Kropf,  1712  wegen  Sehschwäche  ohne 
Kurzsichtigkeit,  1116  wegen  Plattfuss,  847  wegen  Hernien, 
836  wegen  Augenleiden,  555  wegen  Verstümmelungen  der 
unteren  Gliedmassen,  415  wegen  Kurzsichtigkeit,  326  wegen 
Schweissfuss,  325  wegen  Krankheiten  des  Herzens  und  der 
grösseren  Gefässe,  257  wegen  geistiger  Beschränktheit,  234 
wegen  Verstümmelung  oder  Gebrechen  der  oberen  Glied- 
massen, 229  wegen  Missbildung  des  Brustkorbes,  156  wegen 
Skrophulose,  Rhachitis  und  Caries,  139  wegen  mangelnder 
Gehörsschärfe  u.  dergl.,  131  wegen  Krampfadern  und  Bein- 
geschwüren, 130  wegen  Krampfadernbruch,  1 13  wegen  nicht 
näher  bestimmten  Krankheiten  der  Athmungsorgane,  93 
wegen  Epilepsie,  84  wegen  nicht  gesondert  angeführten 
Leiden  der  Harn-  und  Geschlechtsorgane,  81  wegen  nicht 
angeführter  oder  unbestimmter  Krankheiten  oder  Gebrechen, 
79  wegen  Schwindsucht,  71  wegen  Taubheit  und  Stumm- 
heit, 65  wegen  Hautkrankheiten,  58  wegen  Nasen-,  Mund- 
und  Rachenleiden,  51  wegen  Stottern,  40  wegen  Rheumatis- 
mus oder  Gicht,  je  34  wegen  nicht  gesondert  angeführter 
Leiden  der  Verdauungsorgane  und  wegen  Fettleibigkeit, 
33  wegen  unbestimmter  Krankheiten  des  Nervensystems, 
31  wegen  Missbildung  oder  Krankheiten  des  Schädels,  16 
wegen  Geisteskrankheit,  13  wegen  Blindheit  beider  Augen, 
5 wegen  Syphilis,  1 wegen  Alkoholismus  und  2 wegen 
anderer  Intoxikationen. 

Bei  der  Berufsscheidung  werden  78  Berufe  berück- 
sichtigt, hierzu  kommt  noch  eine  79.  Gruppe,  welche  32 
Berufe  mit  zusammen  nur  269  Untersuchten  umfasst.  Es 
würde  den  Rahmen  dieser  Zeitschrift  überschreiten,  wollten 
wir  die  Ergebnisse  der  Untersuchung  für  sämmtliche  Berute 
hier  vorführen,  wir  müssen  uns  deshalb  bescheiden,  auf  die 


358 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  29. 


angeführte  Quelle  zu  verweisen  und  die  durch  Zahl  der 
Untersuchten  oder  besonders  charakteristische  Ergebnisse 
bemerkenswerthe  Bernte  nach  den  wichtigsten  Untauglich- 
keitsgründen anzuführen,  wobei  wir  einige  Gruppen,  wo 
dies  nöthig  erschien,  zusammen  fassten. 

Die  zahlreichste  Gruppe  (12  723)  bilden  die  Land- 
arbeiter mit  Ausschluss  der  Gärtner.  Während  von  den 
30  348  überhaupt  Untersuchten  1 92,5  °/00  überhaupt  zurück- 
gestellt wurden,  stellte  man  von  den  Landarbeitern  191,95  %„ 
zurück,  so  dass  der  Unterschied  im  allgemeinen  Gesund- 
heitszustände der  Landarbeiter  und  der  männlichen  schweize- 
rischen Bevölkerung  überhaupt  im  stellungspflichtigen  Alter 
nur  ein  ganz  unbedeutender  zu  Gunsten  der  Landarbeiter 
ist.  Der  Grund  dieser  im  ersten  Augenblicke  im  Wider- 
spruche mit  den  herrschenden  Ansichten  stehenden  Er- 
scheinung beruht  auf  zwei  Ursachen,  erstens  auf  dem  Um- 
stande, dass  die  Schäden  gesundheitsgefährdender  Be- 
schäftigungen im  jugendlichen  Alter  noch  nicht  so  stark 
in  die  Erscheinung  treten  wie  in  späteren  Jahren  und  dann 
in  der  T hatsache,  dass  die  schweizer  Industrie  eine  topo- 
graphisch weit  mehr  dezentralisirte  ist,  als  die  Englands 
und  Deutschlands,  somit  die  industriellen  Arbeiter  weniger 
unter  den  ungesunden  Folgen  der  Konzentrirung  in  Gress- 
städten leiden  als  die  Arbeiter  in  anderen  Ländern. 

Bei  den  3802  für  untauglich  erklärten  Landarbeitern 
wurden  5347  Untauglichkeitsgründe  konstatirt.  Die  be- 
merkenswerthesten  derselben  sind:  Bei  999  mangelhafte 

körperliche  Entwicklung,  Schwäche,  Anämie  u.  dergl.,  bei 
965  Kropf,  bei  11 29  Schwäche  und  andere  Leiden  des  Auges, 
bei  342  Hernien,  bei  108  Verstümmelung  oder  Gebrechen 
der  oberen  Gliedmassen,  bei  890  verschiedene  Leiden  der 
unteren  Gliedmassen,  bei  59  Skrophulose,  Rhachitis,  Caries 
und  bei  178  geistige  Beschränktheit. 

Für  die  Nahrungsmittelindustrie  (Müller,  Bäcker, 
Zuckerbäcker,  Chocoladenarbeiter,  Metzger,  Bierbrauer  und 
Tabakarbeiter)  ergaben  sich  folgende  Resultate: 

Von  1408  Rekruten  (605  Bäckern1)  wurden  für  untaug- 
lich erklärt  401  (175),  demnach  284,8  %9  (289,3  u/00).  Das 
Untauglichkeitsverhältniss  ist  demnach  bei  diesen  Gewerben 
um  mehr  als  50  °/0  ungünstiger  als  bei  der  Gesammtbe- 
völkerung  und  bei  der  Landwirthschaft.  Es  wurden  in 
diesen  Gewerben  untauglich  befunden  wegen  mangelhafter 
körperliche  Schwäche,  Anämie  u.  dergl.  71  (32),  wegen 
Gebrechen  an  den  Augen  147  (67),  wegen  Missbildung  der 
Wirbelsäule  und  des  Brustkorbs  7 (4),  wegen  Kropf  67  (36), 
wegen  Hernien  55  (21 ),  wegen  Krankheiten  oder  Diformi- 
täten  der  unteren  Extremitäten  137  (52). 

Von  1093  Schneidern  und  Schuhmachern  wurden  378 
für  untauglich  erklärt,  demnach  345,9  %0  und  zwar  151  Re- 
kruten wegen  mangelhafter  körperlicher  Entwicklung, 
Schwäche,  Anämie  etc.,  87  wegen  Augenleiden,  89  wegen 
Kropf,  30  wegen  Hernien,  81  wegen  Gebrechen  an  den 
unteren  Gliedmassen. 

Von  778  im  Baugewerbe  thätigen  Rekruten  (Bau- 
meister und  Bauunternehmer,  Kalk-  und  Ziegelbrenner, 
Asphalt-  und  Cementarbeiter,  Steinhauer,  Maurer  und 
Gypser,  Dachdecker)  wurden  239  für  untauglich  erklärt 
(307,2 1 /00)  und  zwar  wegen  mangelhafter  Körperschwäche  etc. 
64,  wegen  Augenleiden  68,  wegen  Kropf  60,  wegen  Hernien 
15,  wegen  Gebrechen  an  den  unteren  Extremitäten  59. 

Aon  1217  dem  Llolzbearbeitungsgewerbe  (Säger, 
Zimmerleute,  Schreiner,  Glaser  und  Drechsler)  angehörenden 
Stellungspflichtigen  wurden  336  (276,1  u/  „)  militäruntauglich 
befunden  und  zwar  58  wegen  mangelhafter  körperlicher 
Entwicklung,  Schwäche  und  Anämie,  1 1 1 wegen  Gebrechen 
an  den  Augen,  94  wegen  Kropf,  43  wegen  Hernien,  86  wegen 
Mängel  an  den  unteren  Extremitäten. 

Unter  196  Buchdruckern  wurden  57  (290,8  ft/no)  für  un- 
tauglich erklärt,  hiervon  12  wegen  mangelhafter  körper- 
licher Entwicklung  etc.  und  25  wegen  verschiedener  Augen- 
leiden. 

Von  1426  der  Textilindustrie  (Spinner,  Weber  u.  dgl. 

')  Die  Zahlen  in  den  Klammern  beziehen  sich  auf  die  Bäcker. 


Sticker,  Färber,  Bleicher,  Ausrüster,  Zeugdrucker)  ange- 
hörenden Stellungspflichtigen  wurden  507  (355,5  %0)  als 
militäruntauglich  befunden  und  zwar  206  wegen  mangel- 
hafter körperlicher  Entwickelung  u.  dergl.,  155  wegen  Ge- 
brechen an  den  Augen  und  108  wegen  Mangel  an  den 
unteren  Extremitäten. 

Von  1278  Uhrmachern  wurden  344  (269,1  %0)  für  un- 
tauglich erklärt  u.  z.  95  wegen  mangelhafter  körperlicher 
Entwickelung,  122  wegen  Augenleiden,  38  wegen  Kropf, 
241  wegen  Hernien  und  96  wegen  Mangel  an  den  unteren 
Extremitäten. 

Von  1151  in  der  Metallindustrie  (Kupferschmiede, 
Mechaniker,  Eisengiesser,  Schmiede,  Büchsenmacher,  Feilen- 
hauer und  Schleifer)  thätigen  Stellungspflichtigen  wurden 
272  (236,1 1°/nn)  untauglich  erklärt  und  zwar  49  wegen  man- 
gelhafter körperlicher  Entwickelung  u.  dgl.,  84  wegen  ver- 
schiedener Augenleiden,  64  wegen  Kropf,  34  wegen  Her- 
nien, 91  wegen  Gebrechen  an  den  unteren  Extremitäten 
und  7 wegen  Gebrechen  an  den  oberen  Extremitäten. 

Unter  584  Fabrikarbeitern  ohne  nähere  Bezeichnung 
wurden  262  (448,6  °/00J  für  untauglich  erklärt  u.  z.  120 
wegen  mangelhafter  körperlicher  Entwickelung,  74  wegen 
Gebrechen  an  den  Augen,  71  wegen  Kropf,  32  wegen  Her- 
nien, 66  wegen  Mängel  bei  den  unteren  Gliedmassen. 

Betrachten  wir  endlich  einige  Gruppen  der  liberalen 
Berufsarten  (Advokaten  und  Notare,  öffentliche  Beamte  und 
Angestellte,  Aerzte , Zahnärzte,  Thierärzte,  Geistliche, 
Lehrer  und  Studenten).  Unter  1209  in  diesen  Berufen 
thätigen  Stellungspflichtigen  befanden  sich  297  (245,7U/0U) 
militäruntaugliche  Personen.  81  wurden  wegen  mangel- 
hafter körperlicher  Entwickelung,  1 70  wegen  Gebrechen  an 
den  Augen,  46  wegen  Kropf,  30  wegen  Herzleiden  für  , 
militäruntauglich  befunden. 

Wir  müssen  es  uns  versagen  von  den  zahlreichen 
weiter  mitgetheilten  sozialstatistischen  Einzelheiten  weiteres 
mitzutheilen  und  schliessen  unser  Referat  mit  einem  Ver-  1 
gleiche  der  Diensttauglichkeit  in  einer  Reihe  wichtiger  , 
Berufe.  t 

Von  je  100  in  den  Jahren  1884—1890  endgültig  Beur-  ; 
theilten  waren  bleibend  untauglich:  67  ohne  Beruf  oder 
ohne  Angabe  desselben,  60  Korb-  und  Sesselflechter,  57 
Tabakarbeiter,  56  Schneider,  50  Spinner,  Weber  u.  dergl., 

49  Buchbinder,  48  Angehörige  „anderer“  chemischer  Ge- 
werbe, 48  Tagelöhner  ohne  nähere  Bezeichnung,  46  Geist- 
liche, 44  Bürstenbinder,  je  43  Sticker,  Schuhmacher,  Hut- 
macher, je  42  „andere“  Metallarbeiter,  Dienstmänner  und  : 
Holzhacker,  je  41  Haarschneider,  Vergolder  und  Rahmen- 
macher, je  40  Buchdrucker,  Steindrucker,  Kupferstecher,  ' 
Photographen , Zeugdrucker , Bildhauer , Holzschnitzer, 
Papierarbeiter,  öffentliche  Beamte  und  Angestellte,  je  39 
Dienstboten,  Flach-  und  Dekorationsmaler,  Zuckerbäcker 
und  Chocoladenarbeiter,  je  38  Landarbeiter,  Kalk-  und 
Ziegelbrenner,  Drechsler,  Gold-  und  Silberarbeiter,  Färber, 
Bleicher,  Ausrüster,  Sieb-,  Leisten-  und  Rechenmacher,  je 
37  Zeugdrucker,  Glasarbeiter,  je  36  Waldarbeiter,  Köhler, 
Handelsleute,  Schreiber  und  dergl.,  Post-  und  Telegraphen- 
arbeiter und  Angestellte , je  35  zum  Gastwirthschafts- 
gewerbe  gehörende  Personen,  Messerschmiede  und  Ban- 
dagisten, Spengler,  Tapezierer  und  Matrazenmacher , je  34 
Säger,  Schreiner,  Glaser,  Sattler,  Hafner,  Küfer,  je  33  Berg-, 
Kohlen-,  Steinbruch-  und  Salinenarbeiter,  Gärtner,  Dach- 
decker, Uhrmacher,  je  32  Bäcker,  Maurer  und  Gypser, 
Kaminfeger,  Feilenhauer  und  Schleifer,  Musikinstrumenten- 
macher, je  31  Steinhauer,  Kupferschmiede,  Eisengiesser, 
Advokaten  und  Notare,  je  30  Fischer,  Müller,  Gerber,  A\Tag- 
ner,  Strassen-  und  Gewässerarbeiter,  Lehrer,  je  29  Bau- 
meister und  Bauunternehmer,  Optiker  und  Kleinmechaniker, 
Studenten,  je  28  Asphalt-  und  Cementarbeiter,  Schlosser, 
Mechaniker,  Eisenbahnarbeiter  und  Angestellte , je  27 
Schmiede  und  Apotheker,  je  26  Maschinentechniker,  Ar- 
beiter und  Angestellte  des  Fuhrwesens,  Zimmerleute,  je 
25  Metzger,  Bierbrauer,  22  Büchsen-  und  Waffenschmiede, 

21  Schiffer  und  Flösser,  15  Aerzte  und  Chirurgen,  12  Hand- 
langer ohne  nähere  Bezeichnung,  1 1 Thierärzte. 


No.  29. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI .BLATT. 


359 


So  wenig  manche  dieser  Zahlen,  da  in  ihnen  das  I 
Gesetz  der  „grossen  Zahl“  nicht  zum  Ausdruck  kommt, 
auch  zu  weiteren  Schlüssen  berechtigen,  so  sind  sie  doch 
als  werthvoller  Betrag  zu  einer  Vergleichung  der  Gesund- 
heitsverhältnisse in  den  verschiedenen  Berufen  von  Werth. 
Es  darf  aber  bei  ihnen  nicht  ausser  Acht  gelassen  werden, 
dass  die  meisten  Personen,  über  die  Angaben  vorliegen, 
erst  4 — 5 Jahre  in  ihrem  Berufe  thätig  sind,  dass  der  Ein- 
fluss des  Berufes  auf  den  Gesundheitszustand  und  die  phy- 
sische Beschaffenheit  bei  einer  Untersuchung  in  späteren 
fahren  viel  schärfer  zum  Ausdrucke  käme. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Arbeitsnachweisaustalt  in  Karlsruhe.  Die  Karlsruher  An- 
stalt hat  auch  für  die  ersten  sechs  Monate  des  Jahres  1892  befriedi- 
gende Betriebsergebnisse  zu  verzeichnen.  Die  Zahl  sämmtlicher 
Einschreibungen  hat  sich  auf  1646  belaufen,  von  denen  549,  also 
2 pCt.  mehr  als  im  verflossenen  Jahre,  befriedigt  werden  konnten. 
Hiervon  entfallen  auf  gewerbliche  Arbeiter  307  und  auf  gewerb- 
liche Arbeitsuchende  892.  Bei  den  ersteren  betrug  die  Zahl  der 
Befriedigten  207  oder  67  pCt.  bezw.  5pCt.  mehr  als  im  Vorjahre 
und  bei  den  letzteren  243  oder  27  pCt.,  hier  ist  die  Prozentzahl 
die  gleiche  geblieben.  Der  Rückgang  in  den  Einschreibungen 
hat  seinen  Grund  vor  allem  in  der  noch  immer  andauernden 
Geschäftsstille,  sowie  auch  darin,  dass  viele  Arbeitsuchende  auf 
eine  Einschreibung  verzichtet  haben,  nachdem  ihnen  auf  ihre 
Nachfrage  nach  Arbeit  vorläufig  ein  verneinender  Bescheid  ge- 
geben werden  musste  Die  "Zahl  derselben  berechnet  sich 
nach  Hunderten  und  manchen  mag  der  Zustand  seiner  vorüber- 
gehenden vollständigen  Mittellosigkeit  zu  diesem  Verhalten  ge- 
zwungen haben.  Die  Benützung  der  Anstalt  durch  Betheiligte, 
welche  ausserhalb  Karlsruhe  wohnen  (im  Ganzen  98  Fälle)  ist 
eher  in  der  Zunahme  begriffen.  Von  der  Einrichtung  des  halben 
Abonnements  zu  1 M.  mit  fünf  Abschnitten  wurde  häufiger  Ge- 
brauch gemacht.  Ihre  Gesammtzahl  beläuft  sich  auf  26,  zu 
denen  15  ganze  Abonnements,  darunter  fünf,  die  von  auswärts 
hinzugetreten  sind.  Der  Verkehr  mit  einzelnen  Filialen,  wie 
Kehl,  Pforzheim,  Gernsbach,  Ettlingen,  Durlach  u s.  w.  hat  sich 
bereits  zu  einem  für  die  Arbeitvermittlung  im  allgemeinen  sehr 
förderlichen  und  für  die  Zukunft  vielversprechenden  gestaltet. 
Die  Zahl  sämmtlicher  Einschreibungen  bei  denselben  beläuft 
sich  auf  142.  Auswärts  wohnenden  Arbeitgebern,  welche  an  der 
raschen  Zuweisung  der  erforderlichen  Arbeitskräfte  ein  grosses 
Interesse  haben  und  unter  Umständen  auch  zur  Bestreitung  der 
Reisekosten  bereit  sind,  kann  die  Benützung  der  Filialen  ihres 
Bezirks  nur  dringend  empfohlen  werden.  Auch  wurden  29  Ge- 
suche um  Vermittlung  von  Stellen  für  entlassene  Gefangene 
eingereicht. 

Minimallohii  und  Arbeitsvermittlung  in  Gross- Zürich. 

In  der,  abgesehen  von  der  Volksabstimmung,  nunmehr  zum 
Beschluss  erhobenen  Gemeindeordnung  sind  zwei  sozial- 
politisch beachtenswerthe  Bestimmungen  festgesetzt  worden. 
Nach  Art.  152  bestimmen  nicht  die  Aufseher  und  unter- 
geordneten Beamten  sondern  der  Stadtrath  die  Lohnansätze 
der  im  Taglohn  beschäftigten  Bediensteten  und  Arbeiter. 
Dabei  ist,  als  Mindestlohn,  nicht  etwa  als  gleichmässiger 
Normal-,  auch  nicht  als  Maximallohn,  und  zwar  bei  zehn- 
stündigem Arbeitstag  für  erwachsene  Handlanger  ein  An- 
satz von  Fr.  4 und  für  erwachsene  Handwerker  ein  Ansatz 
von  Fr.  4,50  zu  Grunde  zu  legen.  Bei  der  Anstellung  sind 
.Schweizerbürger  in  erster  Lime  zu  berücksichtigen.  Ausser- 
dem sollen  Einrichtungen  für  die  Arbeitsvermittlung  ge- 
troffen werden,  sei  es  in  Form  eines  städtischen  Arbeits- 
nachweisebureaus oder  einer  Arbeitsbörse. 


Arbeiterzustände. 


Zur  Kritik  der  Arbeitsstatistik  der  deutschen  Gewerk- 
vereine für  das  Jahr  1891. 

Wenige  Wochen  vor  Zusammentritt  der  Reichskom- 
mission für  Arbeiterstatistik  erschien  die  Arbeitsstatistik  der 
deutschen  (Hirsch-Duncker’schen)  Gewerkvereine  für  das 
Jahr  1891  1).  Die  Hirsch-Duncker’schen  Gewerkvereine 

b Nach  den  Angaben  der  Gewerk-  und  Ortsvereine  Zu- 
sammengestellt von  Alb.  Pioch  und  Carl  Schumacher,  Mitglieder 
des  Centralrathes  und  mit  Erläuterungen  herausgegeben  von 
Dr.  Max  Hirsch,  Verbandsanwalt.  Berlin,  1892.  Selbstverlag  des 
Verbandes  der  deutschen  Gewerkvereine  gr.  8°.  108  S. 


können  das  unbestreitbare  Verdienst  in  Anspruch  nehmen, 
stets  für  die  Statistik  der  Arbeiterverhältnisse  Interesse  ge- 
zeigt zu  haben.  Schon  in  den  „Musterstatuten  der  deut- 
schen Gewerkvereine“  vom  Oktober  1868  ist  in  § 2 als  ein 
Hauptmittel  zur  Erreichung  des  Gewerkvereinszweckes 
„die  Aufstellung  und  Fortführung  einer  Arbeitsstatistik 
des  betreffenden  Gewerkes  und  hierauf  begründete  Arbeits- 
vermittlung“ angeführt  und  § 51  bestimmt  des  Näheren: 
„Die  Ortssekretäre  (die  geschäftsführenden  Beamten  der 
einzelnen  Ortsvereine)  haben  nach  Massgabe  allgemeiner 
Formulare  allmonatlich  über  die  Höhe  der  Löhne,  die 
Dauer  der  Arbeitszeit,  den  Gang  des  Geschäftes,  die  An- 
zahl der  Lehrlinge  und  alle  anderen  für  die  Lage  der  be- 
treffenden Arbeiter  an  ihrem  Orte  erheblichen  Verhältnisse 
nach  genauer  Erkundigung  an  den  Generalsekretär  (den 
geschäftsführenden  Beamten  des  ganzen  nationalen  Gewerk- 
vereines) zu  berichten  und  stellt  letzterer  daraus  die 
Arbeitsstatistik  des  Gewerkvereines  zusammen.“  Aber  erst 
im  Jahre  1879  wurde  aut  dem  Nürnberger  Verbandstage 
die  Aufnahme  einer  periodischen  Arbeitsstatistik  für  den 
ganzen  Verband  nach  einheitlichem  Schema  beschlossen. 
Der  Düsseldorfer  Verbandstag  von  1889  entschied,  dass  die 
statistischen  Aufnahmen  in  Zwischenräumen  von  drei  Jahren 
vorgenommen  werden  sollen.  Seit  dem  Jahre  1880  liegen 
fortlaufende  Hefte  der  Gewerkverbandsarbeitsstatistik  vor, 
welche  nach  wesentlich  gleichen  Gesichtspunkten  erhoben 
und  zusammengestellt  wurden.  Dieselbe  beruht  auf  direkten 
Angaben  der  Arbeiterorganisationen  selbst,  dehnt  sich  auf 
sehr  viele  Orte  und  eine  grosse  Zahl  von  Berufsgruppen 
aus,  so  dass  man  lobend  anerkennen  muss,  dass  die  Statistik 
der  Hirsch-Duncker’schen  Gewerkvereine  die  auf  der 
breitesten  Basis  beruhende  deutsche  Arbeiterstatistik  ist. 
Die  eben  erschienene  Publikation  ist  die  14.  in  der  Reihe 
der  arbeitsstatistischen  Veröffentlichungen  der  deutschen 
Gewerkvereine.  Die  ersten  13  folgten  rasch  aufeinander  in 
den  Jahren  1880 — 1887.  An  der  Statistik  betheiligten  sich 
im  Jahre  1880:  280,  1885/86:  604,  1887:  765  und  1891:  924 
Gewerkvereine.  Die  Statistik  des  Jahres  1891  dehnte  sich 
auf  16  Berufsgruppen  aus  und  zwar  auf  306  Gewerkvereine 
der  Maschinenbauer,  auf  129  der  Fabrik-  und  Handarbeiter, 
85  der  Tischler,  72  der  Schuhmacher,  45  der  Stuhlarbeiter, 
39  der  Klempner,  51  der  Schneider,  47  der  Bauhandwerker, 
31  der  graphischen  Berufe,  26  der  Cigarrenarbeiter,  24  der 
Berg-  und  Grubenarbeiter,  20  der  Töpfer,  1 1 der  Bildhauer, 
6 der  Schiffszimmerer,  12  der  Konditoren,  19  der  Kaufleute 
und  auf  I selbständigen  Ortsverein.  Von  1313  Ortsver- 
einen betheiligten  sich  924  an  der  Statistik. 

Die  Angaben  der  Statistik  beziehen  sich  auch  auf  den 
Monat  Dezember  1891,  erheblichere  Abweichungen  in  an- 
deren Monaten  sollten  besonders  erwähnt  werden. 

Bedauerlich  ist,  dass  befriedigende  Angaben  über  die 
Methode  der  Erhebung  fehlen.  Die  Fragebogen  scheinen 
nicht  von  den  einzelnen  Arbeitern,  sondern  von  den  Orts- 
vereinen ausgefüllt  worden  zu  sein.  In  welcher  Weise  der 
Ausfüller  des  Fragebogens  sich  seine  Informationen  ver- 
schafft hat,  lässt  sich  nicht  ersehen.  So  sehr  wir  auch 
mangels  besserer  Erhebungen  auch  diese  begrüssen  müssen, 
so  muss  doch  auf  augenfällige  Mängel  aufmerksam  gemacht 
werden. 

Abgesehen  von  freiwilligen  Angaben  über  sonstige 
Lohn-,  Arbeits-,  Einkommens-  und  Verbrauchsverhältnisse 
wird  in  Tabellenform  eine  Lohn-  und  Arbeitszeit-Statistik 
der  Gewerk-  und  Ortsvereine  und  eine  Zusammenstellung 
der  Angaben  nach  Gewerkvereinen  geordnet  geboten.  Ge- 
fragt wurde:  I.  nach  dem  durchschnittlichen  Wochenlohn 

I . für  erwachsene  Arbeiter,  2.  für  erwachsene  Arbeiterinnen, 
3.  für  jugendliche  Arbeiter  mit  Einschluss  der  Lehrlinge; 

II.  nach  dem  Akkordlohn,  und  zwar  1.  ob  diese  die  Regel 
bildet,  2.  u.  3.  auf  wieviel  sich  der  Wochenverdienst  eines 
erwachsenen  Akkordarbeiters  und  einer  erwachsenen  Ar- 
beiterin beläuft;  III.  ob  die  Löhne  im  Steigen  oder  Fallen 
begriffen  sind  bezw.  ob  sie  sich  nicht  verändert  haben; 
IV.  die  Lohnzahlung  anlangend,  wurde  nach  den  Lohnfristen 
und  nach  den  Zahlungsterminen  gefragt.  In  Bezug  auf  die 
Arbeitszeit  wurde  nach  der  durchschnittlichen  Stundenzahl 
der  Wochentagsarbeit  a)  für  erwachsene  männliche,  b)  für 
erwachsene  weibliche  Arbeiter  gefragt.  Ferner  wird  be- 
züglich der  Ueberarbeit  an  Wochentagen  gefragt,  ob  die- 
selbe überhaupt  stattfindet  und  wieviel  Stunden  sie  pro 
Tag  beträgt.  Endlich  sollte  erforscht  werden,  ob  die  Be- 
schäftigung im  Jahre  1891,  von  Einzelfällen  abgesehen, 
ungestört  war;  falls  sie  gestört  war,  sollte  Art  und  Ursachen 
der  Störung  ermittelt  werden,  und  zwar  ob  bezw.  wie  lange 


360 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  29. 


mit  beschränkter  Arbeitszeit  gearbeitet  wurde,  und  wie  viele 
Wochen  gänzlicher  Arbeitslosigkeit  a)  durch  die  „todte 
Saison“,  b)  durch  aussergewölmliche  Arbeitsstockungen, 
c)  durch  Arbeitsstreitigkeiten  verursacht  wurden. 

Bedauerlich  ist,  dass  nicht  zu  erfahren  ist,  auf  wie 
viele  Arbeiter  absolut  und  in  annähernden  Prozentzahlen 
überhaupt  an  den  betreffenden  Orten  und  in  den  betreffen- 
den Gewerben  die  Erhebungen  bezw.  Schätzungen  des 
„durchschnittlichen“  Wochenlohnes  und  des  Akkordlohnes 
sich  beziehen,  ob  die  Angaben  sich  nur  auf  Arbeiter  oder 
auch  auf  Werkführer  und  in  ähnlichen  Stellungen  befind- 
liche Personen  Bezug  haben,  wie  viele  Arbeiter  unter  und 
über  dem  Durchschnittsverdienste  entlohnt  wurden;  ferner 
vermissen  wir  die  Scheidung  von  gelernten  und  ungelernten 
Arbeitern.  Die  Antworten  auf  die  Frage,  wie  viel  Ueber- 
stunden  auf  den  Tag  entfielen,  musste  zu  falschen  Angaben 
führen,  es  hätte  nach  der  Zahl  der  Ueberstunden  im  Jahre 
oder  zum  mindesten  im  Monate  Dezember  1891  gefragt 
werden  müssen.  Auch  hätte  die  Ausdehnung  der  Sonntags- 
und Feiertagsarbeit  erforscht  werden  sollen.  Die  Fragen 
bezüglich  der  Arbeitszeit  und  der  Ueberstunden  hätten  für 
Akkord-  und  Zeitlohnarbeiter  geschieden  werden  sollen. 

Welche  Mängel  eine  sich  nicht  auf  ein  ganzes  Jahr 
erstreckende  Erhebung  über  die  Arbeiterverhältnisse  stets 
im  Gefolge  hat,  ergiebt  sich  z.  B.  aus  der  Beantwortung 
der  Frage  nach  dem  durchschnittlichen  Arbeitslöhne  durch 
die  Ziegeleiarbeiter  von  Heegermühle.  Dieselbe  lautet: 
„M.  8,  im  Sommer  M.  15—20“.  Beider  haben  sich  die  Be- 
antworter der  Fragen  sonst  nicht  die  Mühe  gegeben,  den 
Wechsel  der  Arbeitsbedingungen  nach  den  Jahreszeiten  zu 
charakterisiren,  so  geben  z.  B.  die  Ziegler  von  Uellnitz  bei 
Stassfurt  ihren  Wochenlohn  mit  10  M.  an,  sie  verdienen 
aber  bei  regelmässiger  Akkordarbeit  im  Sommer  14  M. 
Wie  viel  verdienen  sie  nun  im  Winter?  Dies  geht  nicht 
aus  der  Statistik  hervor,  ebensowenig,  ob  der  Lohnsatz  von 
14M.  für  die  regelmässige  Arbeitszeit  oder  für  dieselbe  mit 
Einschluss  eventueller  Ueberstunden  bezahlt  wird.  Angaben 
wie  die  der  Fabrik-  und  Handarbeiter  von  Schönbeck  a.  E., 
dass  der  durchschnittliche  Wochenlohn  15 — 24  M.  betrage, 
müssen  als  werthlos  angesehen  werden,  obgleich  sie  viel- 
leicht viel  mehr  auf  thatsächlichen  Erhebungen  beruhen, 
wie  anscheinend  sehr  genaue  Angaben  etwa  der  Bauhand- 
werker in  Königsberg  i.  Pr.,  welche  ihren  durchschnittlichen 
Wochenlohn  mit  M.  13,10  angeben. 

Zur  Beurtheilung  des  Werthes  der  Angaben  wäre, 
wie  schon  bemerkt,  entschieden  erforderlich,  zu  erfahren, 
auf  wie  viele  Arbeiter  und  welcher  Art  sich  die  Angaben 
beziehen.  Wenn  z.  B.  mitgetheilt  wird,  dass  Arbeite- 
rinnen der  graphischen  Berufe  und  der  Maler  in  Elbing 
durchschnittlich  pro  Woche  3 — 6,  in  Gera  aber  16  M.  ver- 
dienen, so  wird  dies  auf  dem  ersten  Blicke  die  Statistik  kaum 
besonders  glaubhaft  erscheinen  lassen,  obgleich  wohl  beide 
Angaben  richtig  sein  können,  so  z.  B.,  wenn  die  Arbeite- 
rinnen in  Elbing  mit  Falzen,  die  in  Gera  dagegen  als  Vor- 
arbeiterinnen den  betreffenden  Lohnsatz  verdienen. 

Ueber  das  Verhältniss  der  Tag-  zu  den  Akkordlöhnen 
fehlen  leider  auch  die  zur  Beurtheilung  der  Lohnangaben 
nöthigen  Daten.  Die  gleichmässige  Befragung  aller  Ge- 
werkvereinsmitglieder, so  sehr  sie  prinzipiell  richtig  ist, 
hat  auch  ihre  unleugbaren  Schattenseiten;  besondere  Spe- 
zialfragen für  die  einzelnen  Gewerbe  hätten  nicht  ver- 
mieden werden  sollen,  so  z.  B.  für  die  Bergarbeiter  be- 
züglich der  Arbeitszeit,  ob  über  oder  unter  der  Erde 
der  angegebene  Lohnsatz  verdient  wird,  ob  die  Einfahrt 
miteingerechnet  wird  oder  nicht,  ob  die  tägliche  Arbeits- 
zeit mit  der  Schicht  zusammenfällt  beziehungsweise  ob 
die  Zahl  der  Werktage  der  der  wöchentlichen  Schichten 
entspricht. 

In  Betreff  der  Lohnzahlung  hätte  interessirt,  ob  der 
Lohn  während  oder  nach  der  Arbeitszeit  ausgezahlt  wird. 

Eine  schärfere  Scheidung  nach  Berufsgruppen  fehlt 
auch;  so  finden  wir  eine  Gruppe  Maschinenbau-  und 
Metallarbeiter,  dann  eine  Klempner-  und  Metallarbeiter. 
Wäre  die  Statistik  mit  von  den  einzelnen  Arbeitern  direkt 
auszufüllenden  Zählkarten  aufgenommen  worden,  so  hätten 
sich  Klempner,  Former,  Schlosser,  Schmiede,  Dreher, 
Walzer,  Kupferschmiede  etc.  etc.  leicht  scheiden  lassen, 
so  erhalten  wir  aber  abgesehen  von  wenigen  Einzelan- 
gaben über  diese  Berufe  Zahlenangaben,  welche  einen 
Durchschnitt  ganz  verschiedener  nicht  combinirbarer 
Grössen  bilden.  Das  Gleiche  gilt  von  den  Gruppen  der 
Fabrik-  und  Handarbeiter,  der  Schuhmacher  und  Leder- 
arbeiter, der  graphischen  Berufe  und  Maler. 


Zur  Beurtheilung  der  Reallöhne  fehlt,  abgesehen  von 
vereinzelten,  meist  wenig  präzisen  freiwilligen  Angaben 
jeder  Anhaltspunkt.  Eine  Ergänzung  der  Lohnangaben 
durch  Haushaltungsbudgets  wäre  sehr  fruchtbringend  ge- 
wesen. 

Wenn  wir  in  so  eingehender  Weise  die  Mängel  dieser 
Statistik  hervorheben,  so  geschieht  dies,  weil  man  gerade 
jetzt,  wo  die  Arbeitsstatistik  von  Reichswegen  in  die  Hand 
genommen  wird,  an  die  mehr  privaten  Erhebungen  der 
Arbeiterorganisationen  die  höchsten  Ansprüche  stellen 
muss.  In  allen  Gewerkschaften  ist  man  der  Meinung, 
dass  auch  gegenüber  den  offiziellen  arbeitsstatistischen 
Erhebungen  von  den  Arbeitern  selbst  die  Statistik  ihrer 
Verhältnisse  weiter  gepflegt  werden  soll.  Und  dies  mit 
vollem  Rechte.  Dadurch  wird  nicht  nur  die  amtliche  Sta- 
tistik kontrollirt,  sondern  sie  wird  auch  gezwungen  sich 
immer  grössere  Aufgaben  zu  stellen.  Je  besser  die  statisti- 
schen Leistungen  der  Arbeiterorganisationen  sein  werden, 
desto  tiefer  wird  die  amtliche  Statistik  das  bisher  brach- 
liegende Gebiet  beackern. 


Die  Lage  (1er  Arbeiter  im  Wuppertliale.  Die  Gewerk- 
schaftskommission für  Elberfeld-Barmen  hat  eine  Statistik 
über  die  Lage  der  Arbeiter  im  Wupperthale  aufgenommen. 
Circa  ein  Sechstel  der  Arbeiter  dieser  Gegend  betheiligten 
sich  an  der  Erhebung. 

Die  Ausführung  derselben  fand  in  der  Weise  statt, 
dass  für  jede  Fabrik  resp.  Werkstelle  je  ein  Fragebogen 
bestimmt  war.  Die  Hauptfragen  bezogen  sich  auf  die  Zahl 
der  Arbeiter  resp.  Arbeiterinnen,  Arbeitszeit,  Pausen,  Lohn- 
höhe, Strafen  etc. 

Im  Ganzen  waren  950  Fragebogen  ausgegeben  worden, 
welche  sich  unter  18  Berufszweigen  verthenten.  Ausgefüllt 
zurückgekommen  sind  davon  jedoch  nur419.  DieGesammtzahl 
der  Arbeiter,  betreffs  welcher  Ermittelungen  angestellt  wor- 
den, beträgt  11627;  davon  7890  männliche,  2537  weibliche 
und  1200  jugendliche  Arbeiter  resp.  Lehrlinge. 

Wir  theilen  hier  die  interessantesten  Ergebnisse  der 
Statistik  mit:  132  männliche,  108  weibliche  und  82  jugend- 
liche Buchbinder  betheiligten  sich  an  der  Erhebung. 
Ihre  Arbeitszeit  (1 1 V2  Stunden)  wurde  durch  zahlreiche 
Ueberstunden  ausgedehnt.  Der  durchschnittliche  Arbeits-  * 
lohn  war  für  männliche  Arbeiter  15,40  M.,  für  weibliche  ' 
7,60  M.  116  Böttcher  gaben  ihren  Durchschnittslohn  bei 
lOstündiger  Arbeitszeit  mit  21,50  M.  an.  In  den  Brauereien 
ist  bei  längerer  Arbeitszeit  vielfach  noch  Naturallohn  üblich. 
Von  Ungelernten,  Fabrikarbeitern  betheiligten  sich  1874 
männliche,  340  weibliche  und  439  jugendliche  an  der  Stati- 
stik. Ihre  Arbeitszeit  wird  mit  10  und  11  Stunden  ange- 
eben,  über  Unregelmässigkeit  der  Pausen  und  Häufigkeit  | 
er  Ueberstunden  (5145  pro  Woche)  wird  Klage  geführt. 
Der  durchschnittliche  Lohn  betrug  für  männliche  Arbeiter 
17  M.,  für  weibliche  9,50  M.  und  für  jugendliche  7 M.  Ueber 
Häufigkeit  und  Höhe  der  Strafen  (bis  6 M.)  für  die  kleineren 
Versehen  wird  geklagt.  103  Maurer  hatten  bei  einer 
lO'Astündigen  Arbeitszeit  21  M.  Wochenlohn,  sie  mussten 
380  Ueberstunden  pro  Woche  arbeiten.  567  Metallarbeiter 
und  60  Lehrlinge  geben  ihre  Arbeitszeit  mit  9 '/2  bis  12  Stunden 
an  und  verzeichneten  ausserdem  1669  Ueberstunden  pro 
Woche.  Die  Löhne  variiren  zwischen  14,50 — 22,50  M.  Von 
Häufigkeit  und  Höhe  der  Strafgelder  (bis  zu  6 M.  in  den 
städtischen  Gas-  und  Wasserwerken),  sowie  von  zahlreichen 
Unfällen  wird  berichtet.  Schneider  (53  männliche,  9 weib- 
liche und  4 Lehrlinge)  geben  ihre  Arbeitszeit  mit  12 — 13 
Stunden  als  Regel  und  15 — 18  Stunden  als  Ausnahme  und 
ihren  Durchschnittslohn  mit  16,50  M.  an.  Sie  klagen  über 
die  Länge  der  todten  Saison.  Bei  den  Schuhmachern 
(52  Arbeiter)  herrscht  die  gleiche  Arbeitszeit  wie  bei  den 
Schneidern.  Neben  Kost  und  Wohnung,  über  welche  ge- 
klagt wird,  erhalten  sie  einen  Lohn  von  3 — 7 M.,  der 
Durchschnittslohn  soll  4,50  M.  nicht  erreichen.  83  erwachsene 
und  10  jugendliche  Stukkateure  geben  ihren  Durchschnitts- 
lohn bei  lOstündiger  Arbeitszeit  im  Sommer  mit  25  M.  an, 
im  Winter  sind  sie  meistens  ohne  Beschäftigung. 

994  männliche,  91  weibliche  und  39  jugendliche  in 
Färbereien  beschäftigte  Arbeiter  haben  eine  Arbeitszeit 
von  durchschnittlich  11  Stunden,  sie  verzeichneten  pro 
Woche  13  711  Ueberstunden,  der  Lohn  schwankt  für  er- 
wachsene Arbeiter  zwischen  13 — 18  M.  und  beträgt  für 
Arbeiterinnen  im  Durchschnitte  9,75  M.  Ueber  sehr  schlechte 
Behandlung,  häufige  Lohnstreitigkeiten  und  ungesunde 
Arbeitsräume  wird  Klage  geführt.  Von  den  übrigen  Textil- 


Nu.  29. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBI „ATT. 


361 


arbeitern  betheiligten  sich  2468  männliche,  1926  weibliche 
und  293  jugendliche  Arbeiter  an  der  Erhebung.  Ihre  durch- 
schnittliche Arbeitszeit  beträgt  1 1 Stunden.  Löhne  zwischen 
13  und  21  M.  wurden  notirt,  der  Durchschnittslohn  dürfte 
16  M.  kaum  übersteigen.  4107  U eberstunden  pro  Woche 
wurden  von  diesen  Arbeitern  verzeichnet.  In  den  Kiemen- 
drehereien, welche  hauptsächlich  Arbeiterinnen  beschäf- 
tigen beträgt  die  Arbeitszeit  12  Stunden.  Der  Lohn  über- 
steigt fast  nie  II  M. 

Bei  den  Tischlern  (951  Erwachsene,  158  Lehrlinge 
beträgt  der  Lohn  bei  einer  Arbeitszeit  von  9s/.j  resp.  lOStunden 
20  M.  Die  Zimmerleute  (124)  verdienten  bei  einer  1072  stän- 
digen Arbeitszeit  21  M.  in  der  Woche. 

Fabrikarbeiterlöhne  in  Sachsen-Altenburg.  In  seinem 
vor  Kurzem  erschienenen  Jahresbericht  für  1891  giebt  der 
Fabrik-  und  Berginspektor  für  das  Herzogthum  Sachsen-Alten- 
burg den  Versuch  einer  Lohnstatistik.  Nach  derselben  betrug 
der  vVochenlohn: 

für  Männer  für  Frauen 


höchster 

niedrigster 

höchster 

niedri 

gstev 

Dampfziegeleien  . . . 

• 24,— 

M. 

7,— M. 

14,- 

M. 

4,80 

M. 

Thonwaarentabriken 

. 28,— 

8 „ 

10,80 

6,— 

Porzellanfabriken  . . 

. 40,— 

9,-  „ 

18  — 

5- 

Maschinenfabriken  . . 

. 36,— 

7, — „ 

12,- 

7,— 

Webereien  u.  Spinnereien  45. — 

7,—  „ 

17,50 

5,— 

Knopffabriken  .... 

. 30,— 

V 

6,—  „ 

15,- 

11 

5,- 

11 

Harmonikalabriken  . . 

. 24,— 

9,-  ,, 

6,- 

5,- 

Wurstfabriken  .... 

. 23,- 

10,-  , 

Brennereien  .... 

. 26,- 

10,-  „ 

— 

— 

Cigarrenfabriken  . . . 

• 27,- 

11 

11 

17- 

11 

3,50 

Huttabriken 

. 40,— 

n 

10,-  „ 

15,— 

11 

4- 

11 

Sehr  richtig  sagt  der 

Aufsichtsbeamte, 

dass 

diese 

Zu- 

sammenstellung  der  Wochenverdienste  nur  ein  Bild  geben  kann 
von  dem,  was  ein  geschickter  und  fleissiger  Arbeiter  zu  er- 
reichen vermag,  und  mit  wie  wenig  andererseits  ein  weniger 
brauchbarer  auskommen  muss.' 


Statistik  der  Leipziger  Buchdruckerlehrlinge.  Der  deut- 
sche Buchdruckertarif  enthält  Bestimmungen  über  die  Zahl  der 
Lehrlinge,  welche  im  Verhältniss  zu  der  Zahl  der  Gehilfen 
stehen  müssen.  Zur  Kontrolle  der  richtigen  Durchführung  dieser 
Bestimmungen  hat  die  Tarif kommission  für  Leipzig  so  wie  in 
vorangegangenen  Jahren  auch  im  Jahre  1892  Erhebungen  vorge- 
nommen, welche  ergaben,  dass  in  38  Druckereien  neben  625  Ge- 
hilfen 229  Setzerlehrlinge,  demnach  85  mehr  als  die  Skala  zu- 
lässt, und  in  36  Druckereien  neben  195  Maschinenmeistern  133 
Druckerlehrlinge,  somit  56  mehr  als  die  Skala  zulässt,  beschäftigt 
wurden. 

Zum  Vergleiche  mit  den  Daten  früheren  Jahre  können  die 
folgenden  Zahlen  dienen: 

1886  1888  1889  1890  1891  1892 


Setzerlehrlinge  . . 

303 

319 

336 

326 

351 

412 

Druckerlehrlinge  . 

176 

185 

178 

178 

197 

220 

Giesserlehrlmge  . 

— 

— 

— 

— 

45 

43 

479 

504 

514 

504 

593 

675 

Die  Zahl  der  Setzerlehrlinge  hat  um  61  zugenommen, 
während  die  Anzahl  der  Druckerlehrlinge  um  23  gestiegen  ist. 

Zum  Vergleiche  mit  den  Vorjahren  dienen  folgende  Zahlen, 
sowohl  über  die  Anzahl  der  Firmen,  welche  gegen  die  Skala 
verstossen,  als  auch  über  die  Anzahl  der  überzähligen  Lehrlinge. 

1888  Setzerlehrlinge  28  Druckereien  63  überzählig 

Druckerlehrlinge  30  ,, 55 „ 

Summa  118  überzählig 

1889  Setzerlehrlinge  27  Druckereien  48  überzählig 

Druckerlehrlinge  27  ,, 39  „ 

Summa  87  überzählig 

1890  Setzerlehrlinge  24  Druckereien  41  überzählig 

Druckerlehrlinge  17  u 29  „ 

Summa  70  überzählig 

1891  Setzerlehrlinge  23  Druckereien  32  überzählig 

Druckerlehrlinge  24  ,2 35  „ 

Summa  67  überzählig 

1892  Setzerlehrlinge  38  Druckereien  85  überzählig 

Druckerlehrlinge  36  ,, _56 „ 

Summa  141  überzählig 

Da  den  in  der  ersten  Tabelle  aufgeführten  1618  Setzern 
412  Lehrlinge  und  den  481  Druckern  220  Lehrlinge  gegenüber- 
stehen, ist  das  Verhältniss  der  Gehilfen  zu  den  Lehrlingen 
wie  folgt: 

bei  den  Setzern  wie  5,24 : 1 
„ „ Druckern  „ 2,63 : 1 

Ein  Vergleich  mit  den  früheren  Jahren  giebt  folgendes  Bild: 
1878  1880  1885  1888  1889  1890  1891  1892 

Setzer  3,19:1  2,91:1  4,47:1  4:1  4,5:1  4,71:1  5,24:1  3,93:1 

Drucker  2,12:1  2,26:1  2,20:1  2 :1  2,5:1  2,74  :1  2,63  :1  2,19:1 

Nicht  mitgerechnet  sind  die  Volontäre,  deren  Zahl  34  beträgt. 


Forderung  der  Arbeitsstatistik  für  Paris.  Dem  Pariser 
Stadtrathe  liegt  folgender  Antrag  Dr.  Vaillant’s  und  Chan- 
viöre’s  vor: 

Der  Rath,  in  Erwägung 

dass,  wenn  nächstens  ein  städtisches  Bureau  für  Arbeits- 
statistik errichtet  wird,  ähnlich  demjenigen  der  Vereinigten 
Staaten,  so  weit  es  gesetzlich  gestattet  ist,  es  sehr  wichtig  ist, 
von  Anfang  an  die  Existenz-  und  Betriebsbestimmungen  fest- 
zustellen; 

dass  überdies,  wie  bei  der  Arbeitsbörse,  es  nöthig  ist,  dass 
das  vorgeschlagene  Institut  nicht  nur  bezwecke,  Aufklärung  zu 
schaffen,  die  Verhältnisse  zwischen  Kapital  und  Arbeit,  Lohn 
und  Geschäftsgewinn,  die  Bedingungen  der  Produktion,  der 
Vertheilung  der  Güter  und  Reichthümer,  den  Gesundheitszustand 
der  Industrie,  ihre  Gefahren,  die  Dauer  und  Bezahlung  der 
Arbeit,  die  Arbeitslosigkeit,  die  Ernährung,  die  Wohnungen,  die 
Gesundheit  der  Einzelnen,  sowie  der  Familien  und  Klassen  etc. 
etc.  kennen  zu  lernen,  und  dass  es  ebenso  nöthig  ist,  dass  das 
Institut  danach  trachte,  die  freie  Organisation  zu  begünstigen 
und  die  Arbeiterklasse  zu  vertheidigen; 

bezüglich  dieses  Punktes  ist  besonders  zu  beachten:  der 
Vortheil,  von  Anfang  an  die  Grundlagen  einer  Arbeiterstatistik 
durch  Erhebungen  und  Angaben  der  organisirten  und  vereinig- 
ten Arbeiter  zu  schaffen; 

die  Noth wendigkeit,  dass  die  Erhebungen,  Korrespondenzen 
und  Studien  ihren  ungehinderten  Fortgang  haben,  und  dass  der 
Sekretär,  der  damit  betraut  wird,  das  volle  Zutrauen  seiner 
Kameraden  und  Kollegen  habe,  dass  er  von  ihnen  gewählt  werde 
und  eine  tägliche  Entschädigung  von  8 Frs  oder  von  3000  Frs. 
per  Jahr  erhalte; 

die,  sowohl  im  Interesse  der  Arbeiterorganisation  als  auch 
im  Interesse  desWerthes  des  so  erhaltenen  und  dem  nationalen 
oder  städtischen  Bureau  übermittelten  statistischen  Materials 
liegende  Bedeutung,  dass,  sofern  der  Sitz  des  Sekretariates  in 
Paris  ist,  diese  Genossenschaften,  Gewerkschaften  und  Gewerk- 
schaftsbünde so  viel  als  möglich  die  Gesammtheit  ihrer  Mit- 
glieder im  Departement  und  in  der  Stadt  in  sich  fassen, 
beschliesst: 

Jede  Arbeiterkorporation  oder  Vereinigung  ähnlicher  Kor- 
porationen, die  als  Gewerkschaft  oder  Gewerkschaftsbund  orga- 
nisirt  ist  und  in  Paris  oder  im  Seine-Departement  mehr  als 
1000  Mitglieder  zählt,  die  aus  ihrer  Mitte  einen  in  Paris  wohn- 
haften Sekretär  wählt,  dessen  einzige  Aufgabe  es  ist,  alle  An- 
gaben, alle  auf  das  Leben  der  Arbeiter  bezüglichen  statistischen 
Angaben  zu  sammeln,  hat  das  Recht,  von  der  Stadt  Paris  eine 
jährliche  Entschädigung  von  3000  Frs.  zu  verlangen,  die  für  den 
Unterhalt  und  die  Thätigkeit  dieses  Arbeitersekretariates  bewil- 
ligt werden  unter  der  einzigen  Bedingung,  dass  ein  vierteljähr- 
licher summarischer  Bericht  über  die  erhaltenen  statistischen 
Angaben  dem  nationalen  Arbeitersekretariate,  der  Verwaltungs- 
kommission der  Arbeitsbörse,  sowie  dem  städtischen  statistischen 
Bureau  zur  Beglaubigung  übermittelt  werden  soll; 

die  jährliche  Subvention  für  das  Arbeitersekretariat  jeder 
Korporation  soll  vermehrt  werden  können,  falls  die  Wichtigkeit 
der  Arbeiten  und  Erhebungen  eine  Vermehrung  rechtfertigren, 
und  wenn  durch  die  Statistik  selbst  bewiesen  werden  sollte, 
dass  die  Arbeiter  der  Korporation,  sowohl  die  des  Departements 
als  die  in  Paris  in  ihrer  grossen  Mehrheit  der  durch  ihren 
Sekretär  beim  städtischen  statistischen  Bureau  vertretenen  Ge- 
werkschaftsorganisation beigetreten  sind. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Kommunales  Programm  der  französischen  Arbeiterpartei. 

Bei  den  letzten  am  1.  Mai  stattgefundenen  Gemeinderathswahlen 
in  Frankreich  haben  die  sozialistischen  Gruppen  in  einer  Reihe 
von  Gemeindevertretungen  die  Majorität,  in  einer  Anzahl  anderer 
ansehnliche  Minoritäten  erstritten.  Deshalb  wird  das  kommunale 
Programm  der  französischen  Arbeiterpartei  nicht  nur  ein  theo- 
retisches Interesse  beanspruchen.  Dasselbe  lautet  nach  dem 
„Vorwärts“: 

Art.  1 : Errichtung  von  Schüler  - Speisehallen,  wo  den 

Kindern  zwischen  den  Morgen-  und  den  Nachmittagsstunden  zu 
ermässigten  Preisen  oder  umsonst  eine  Fleischmahlzeit  verab- 
folgt wird  und  zweimal  im  Jahr,  zu  Anfang  des  Winters  und 
des  Sommers  eine  Vertheilung  von  Schuhwerk  und  Kleidungs- 
stücken stattfindet. 

Art.  2:  Einfügung  von  Klauseln  (in  die  die  Bedingungen 
für  die  Ausführung  städtischer  Arbeiten  enthaltenden  Verträge), 
welche  den  Arbeitstag  auf  8 Stunden  einschränken,  ein  durch 
den  Rath  im  Einvernehmen  mit  den  Arbeiterverbänden  festge- 
setztes Lohnminimum  garantiren  und  die  durch  ein  Dekret  von 
1848  abgeschaffte  Akkordarbeit  verbieten.  — Einrichtung  einer 
Inspektion  zur  Ueberwachung  der  Befolgung  dieser  Klauseln. 


362 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT, 


No.  29. 


Art.  3:  Arbeiterbörsen  zu  gründen,  die  von  den  Arbeiter- 
syndikaten und  den  korporativen  Gruppen  verwaltet  werden. 

Art  4:  Aufhebung  der  städtischen  Thorsteuern  auf  Lebens- 
mittel. 

Art.  5:  Befreiung  der  kleinen  Miethswohnungen  von  den 
auf  ihnen  lastenden  Mobiliar-  und  Personalsteuern  und  LTeber- 
wälzung  derselben  auf  die  grösseren,  progressiv  zu  besteuern- 
den Miethswohnungen.  — Reinigung  und  Ausbesserung  der  als 
ungesund  erkannten  Wohnungen  auf  Kosten  der  Eigenthümer. 

- Besteuerung  unbebauter  Flächen  gemäss  ihrem  Kaufpreise 
und  der  nicht  vermietheten  Lokalitäten  entsprechend  ihrem 
Miethspreise. 

Art.  6:  Vergebung  aller  Arbeiten  durch  die  Gemeinde- 

verwaltungen an  die  Arbeiterbörsen  oder  die  Syndikate  und 
Zurückziehung  aller  an  Vermittler  vergebenen  Vollmachten. 

Art  7:  Gründung  von  Entbindungsanstalten  mit  Wöchne- 
rinnen-Heimen  und  von  Asylen  für  Greise  und  Gebrechliche  — 
Asyle  für  nächtliche  Unterkunft  und  Vertheilung  von  Lebens- 
mitteln an  Durchreisende  und  an  Arbeiter,  die  auf  der  Suche 
nach  Arbeit  ohne  festen  Wohnsitz  sind. 

Art.  8:  Stellen,  an  denen  unentgeltliche  ärztliche  Hilfe 
geleistet  und  Arzneimittel  zu  herabgesetzten  Preisen  verkauft 
werden. 

Art.  9:  Erbauung  von  öffentlichen,  unentgeltlichen  Bade- 
und  Waschanstalten. 

Art.  10:  Schöptung  von  Pflegeanstalten  (Sanatorien)  für 
die  Kinder  der  Arbeiter  und  Sendung  und  Aufnahme  derselben 
in  diese  Anstalten  auf  Kosten  der  Gemeinde. 

Art.  11:  Stellen,  an  denen  unentgeltlicher  juristischer  Bei- 

rath in  allen  die  Arbeiter  betreffenden  Prozessen  gewährt  wird. 

Art.  12:  Entschädigung  für  die  Thätigkeit  im  Gemeinde- 
rath nach  der  Maximaltaxe  der  Arbeitslöhne,  damit  nicht  eine 
ganze  Klasse  von  Bürgern,  die  zahlreichste  Klasse,  diejenige, 
welche  nichts  als  ihre  Arbeitskraft  besitzt,  von  der  Verwaltung 
der  Gemeinde  ausgeschlossen  sei. 

Art.  13:  Unter  der  Voraussetzung,  dass  die  Rechtsprechung 
der  gewerblichen  Schiedsgerichte  (prud’hommes)  in  einem  den 
Interessen  der  Arbeit  entsprechenden  Sinne  umgeändert  wird. 
Entschädigung  der  Arbeiterschiedsrichter  nach  einer  Taxe,  die 
ihnen  völlige  Unabhängigkeit  gegenüber  dem  Unternehmerthum 
sichert. 

Art.  14:  Bekanntmachung  eines  amtlichen  Berichtes  über 
die  Gemeinderathssitzungen  und  Veröffentlichung  der  vom  Rath 
gefassten  Beschlüsse  durch  Anschlag 

Programmpunkte  die  nur  für  gewisse  Städte  in 
Betracht  kommen  (Programme  local). 

Art.  15:  Gründung  eines  Gasthauses  für  Seeleute  unter 
dem  Namen  Sailor’s  Home  (Seemanns-Heim),  um  der  schänd- 
lichen Ausbeutung,  der  die  in  Lohn  stehenden  Seeleute  wäh- 
rend ihres  Aufenthaltes  auf  dem  Festlande  zum  Opfer  fallen,  ent- 
gegenzutreten. 

Art.  16:  Aufstellung  von  Zelten  auf  den  Docks  und  den 
Quai’s  entlang,  um  den  arbeitsuchenden  Arbeitern  Schutz  und 
Zuflucht  zu  gewähren;  Einrichtung  von  Brunnen  und  Water- 
klosets  in  diesen  Zelten;  Umgebung  der  Dockbassins  mit  Schutz- 
geländern. 

Art.  17:  Zurückziehung  aller  den  Pferdebahn-,  Omnibus-, 
Gas-  und  Begräbnissgesellschaften  verliehenen  Konzessionen; 
Umwandlung  dieser  Monopole  in  kommunale  Arbeiten,  deren 
Ausführung  den  Arbeitersyndikaten  unter  der  Kontrolle  der  Ge- 
meindeverwaltung zu  übergeben  ist. 

Art.  18:  Strenge  Handhabung  der  gesetzlichen  Bestim- 
mungen, welche  den  Mitgliedern  der  vertretenden  Körperschaften 
verbieten,  Submissions-  und  Verkaufsgeschäfte  mit  der  Stadt 
abzuschliessen 

Art.  19:  Verbesserung  des  Reinigungsdienstes  und  Neu- 

organisation der  hygienischen  Kommissionen,  denen  mindestens 
2 Arbeiter  als  Mitglieder  angehören  müssen. 

Art  20:  Gründung  eines  Laboratoriums  zu  unentgeltlichen 
chemischen  LIntersuchungen 


Kaufmännische  Bewegung. 


Organisation  der  Angestellten  im  Handelsgewerbe. 

Handlungsgehilfen  und  Gehilfinnen,  Geschäftsdiener, 
Packer  u.  s.  w.  planen  die  Gründung  eines  Verbandes 
über  ganz  Deutschland.  Die  Konferenz  der  Delegirten  aus 
allen  Gegenden  Deutschlands,  welche  über  die  Gründung 
des  Verbandes  beschliessen  soll,  wird  am  1 I.  September  d.  J. 
in  Berlin  stattfinden.  Eine  Versammlung  von  Handlungs- 
gehilfen hat  sich  mit  einer  solchen  Zentralisation  aller  An- 
gestellten im  Handelsgewerbe  bereits  einverstanden  erklärt 
und  vier  Delegirte,  welche  noch  eine  Handlungsgehilfin 
hinzuziehen  sollen,  zu  der  Konferenz  gewählt.  Eine  Ver- 


sammlung von  Haus-  und  Geschäftsdienern,  Packern  u.  s.  w. 
erklärte  sich  mit  der  Gründung  eines  solchen  Verbandes 
gleichfalls  einverstanden  und  wählte  ihrerseits  sechs  Dele- 
o'irte.  Dieselben  wurden  zugleich  beauftragt,  für  die  Grün- 
dung einer  Zeitung  als  Verbandsorgan  zu  stimmen.  Die 
Versammlung  beauftragte  ferner  das  Bureau  der  Versamm- 
lung, das  Reichsamt  des  Innern  zu  ersuchen,  die  Forschungen 
der  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik  auch  auf  die 
Arbeitszeit  der  Hausdiener,  Packer,  Komptoirboten  auszu- 
delmen  — Die  Zahl  der  Haus-  und  Geschäftsdiener, 
Packer  u s.  w.  in  Berlin  wird  auf  35  000  angenommen. 
Davon  sind  1100  in  dem  „Verein  der  Haus-  und  Geschäfts- 
diener, Packer  u.  s.  w.“  und  weitere  600  im  „Verein  Ber- 
liner Hausdiener“  organisirt. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Möglichkeit  der  Arbeitszeitverkürzung.  Zu  den 

Stimmen  aus  dem  Lager  der  Unternehmer,  welche  das 
Sozialpolitische  Centralblatt  über  diesen  Gegenstand  schon 
gesammelt  hat,  fügen  wir  heute  drei  weitere.  Die  Handels- 
kammer von  Karlsruhe  schreibt  in  ihrem  neuesten  Jahres- 
berichte: „Die  Arbeiterzahl  der  Gesellschaft  für  Spinnerei 
und  Weberei  Ettlingen  (Badem  betrug  1200.  Die  Arbeits- 
zeit wurde  im  Hinblick  auf  die  am  1.  April  1892  in  Kraft 
tretende  Novelle  zu  Titel  VII  der  Gewerbeordnung  in  der 
Weberei  bereits  auf  11  Stunden  reduzirt,  ohne  dass  dadurch 
ein  Lohnausfall  konstatirt  werden  konnte,  da  die  im  Stück- 
lohn arbeitenden  Arbeiter  die  ausfallende  Stunde  durch  in- 
tensivere Thätigkeit  einzubringen  im  Stande  waren,  wäh- 
rend die  Taglöhne  für  11  Stunden  gleich  wie  vorher  für 
12  Stunden  zur  Auszahlung  gelangten.“  Ferner  findet  man 
im  kürzlich  erschienenen  Jahresbericht  der  Handelskammer 
Frankfurt  a.  M.  folgende  Stelle:  „In  Betreff  der  Arbeiter- 
verhältnisse (in  den  Schriftgiessereien)  wird  berichtet,  dass 
an  geschulten  Arbeitern  trotz  guter  Bezahlung,  welche  die 
in  vielen  anderen  Gewerbszweigen  sogar  erheblich  über- 
wiegt, fortdauernd  Mangel  herrscht.  Andrerseits  wird  aus- 
gesprochen, dass  man  mit  dem  in  einem  Theil  der  Schrift- 
giessereien eingeführten  neunstündigen  Arbeitstag  befrie- 
digende Erfahrungen  gemacht  habe.“  Und  endlich  berich- 
ten englische  Blätter,  dass  Herr  Allan,  der  Eigenthümer 
der  Scotia  Maschinenbauanstalt  in  Sunderland,  mit  der  , 
Einführung  des  achtstündigen  Arbeitstages  in  seiner  Fabrik 
nur  gute  Erfahrungen  gemacht  habe.  Als  vorsichtiger  Ge-  ; 
schäftsmann  behielt  er  anfangs  einen  Theil  des  Lohnes  mit  1 
Einwilligung  der  Arbeiter  zurück,  um  nicht  bei  dem  Ver- 
such zu  Schaden  zu  kommen,  allein  er  konnte  diese  Summe  ; 
in  der  letzten  Woche  den  Arbeitern  zurückzahlen.  Er  hatte  die 
Erfahrung  gemacht,  dass  eine  achtstündige  Arbeitszeit 
nicht  minder  im  Interesse  der  Fabrikanten,  wie  des  Arbeiters 
ist.  Gladstone  hatte  Allan  gebeten,  ihm  eingehenden  Be- 
richt über  seine  Erfahrungen  zukommen  zu  lassen,  und 
dies  hat  nun  Allan  gethan,  gleichzeitig  aber  sein  Bedauern 
ausgesprochen,  dass  Gladstone  der  Forderung  eines  acht- 
stündigen Normalarbeitstages  so  abgeneigt  sei.  Allan  war 
früher  selbst  Arbeiter. 

Sonntagsruhe  für  die  Landarbeiter  der  königl.  preus- 
sischen  Domänen.  Um  die  Sonntagsarbeit  der  landwirth- 
schaftlichen  Arbeiter  bei  Bewirthschaftung  ihrer  Deputat- 
länder zu  beschränken,  sind  die  Pächter  der  königlichen 
Domänen  aufgefordert,  hierbei  den  übrigen  Landwirthen 
mit  gutem  Beispiele  voranzugehen  und  ihren  Arbeitern  an 
den  Wochentagen  Zeit  zu  lassen,  ihre  kleinen  Aecker  zu 
bearbeiten  Hoffentlich  folgen  dieser  kleinen  Schutzvor- 
schrift für  ländliche  Arbeiter  bald  weitere  mit  Gesetzes- 
kraft nach 

Beschränkung  der  Sonntagsarbeit  auf  Schiffen  Der 

Regierungspräsident  von  Altona  hat  die  betheiligten  Kreise 
auf  ein  von  dem  Gouverneur  der  britischen  Kolonie  Strates 
Settlements  erlassenes  Gesetz,  betreffend  die  Beschränkung 
der  Sonntagsarbeit  an  Bord  von  Schiffen,  welche  sich  in 
den  Gewässern  der  Kolonie  befinden  (The  Sunday  labour 
Ordinance  1892)  aufmerksam  gemacht.  Die  wesentliche  Be- 
stimmung des  Gesetzes  ist,  dass  an  Sonntagen  keine  Fracht 


No.  29. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


363 


an  Bord  gebracht,  geladen,  verarbeitet  oder  entladen  wer- 
den soll ; doch  hat  der  Gouverneur  die  Befugniss,  unter 
besonderen  Umständen  hiervon  nach  seinem  Ermessen  Aus- 
nahmen zu  gestatten.  Die  Ausladung  von  Kohlen  soll  ge- 
stattet sein,  sofern  keine  Europäer,  Eurassier  ( Abkömmlinge 
von  Europäern  und  Asiaten)  oder  eingeborene  Christen 
dabei  beschäftigt  sind.  Auf  solche  Schiffe,  welche  im  Eigen- 
thum von  Nichtchristen  stehen  und  nur  von  solchen  be- 
dient werden,  findet  das  Gesetz  keine  Anwendung.  Da- 
gegen bezieht  es  sich  auf  alle  Dampf-  und  Segelschiffe  von 
europäischer  oder  amerikanischer  Konstruktion  oder  Bauart, 
mit  Ausnahme  von  Kriegsschiffen  der  Königin  von  Gross- 
britannien und  Irland  oder  einer  anderen  Regierung,  sowie 
von  solchen  Postschiffen,  welche  durch  Bekanntmachung 
des  Gouverneurs  davon  ausgenommen  werden.  Das  Gesetz 
ist  bereits  in  Kraft  getreten. 

Entscheidung  des  schweizerischen  Bnndesrathes  über 
den  Inhalt  von  Arbeitsordnungen.  Eine  Schifflistickerei  in 
St.  Gallen  wollte  in  ihrem  Fabriksreglement  ihren  Arbeitern 
untersagen,  binnen  3 Jahren  in  ein  Etablissement  einzu- 
treten, „wo  dergleichen  oderein  ähnlicher  Artikel  fabrizirt 
wird“,  ferner  sollten  alle  Anstände  zwischen  Unternehmern 
und  Arbeitern  endgültig  und  ausschliesslich  durch  ein 
Schiedsgericht,  bestehend  aus  je  einem  Vertreter  der  Par- 
teien und  einem  vom  Gerichte  bestimmten  Vorsitzenden 
entschieden  werden.  Nachdem  das  St.  Gallen’sche  Polizei- 
departement die  Genehmigung  des  Fabrikreglements  ver- 
weigerte, reichte  die  Firma  eine  Beschwerde  an  den  Bundes- 
rath ein,  welcher  sie  aber  als  unbegründet  abwies.  Der 
Bundesrath  erklärte,  dass  eine  Fabrikordnung  .sich  nur  auf 
das  Verhalten  der  Arbeiter  im  Geschäfte,  nicht  aber  auf 
beliebige  andere  Gegenstände  ausdehnen  dürfe,  er  bezieht 
sich  hierbei  auch  auf  frühere  Entscheidungen,  wonach  eine 
Fabrikordnung,  auch  wenn  sie  vom  Arbeiter  anerkannt  und 
unterschrieben  ist,  nicht  Vertragscharakter  hat. 

Bezüglich  des  Schiedsgerichtes  bemerkt  der  Bundes- 
rath, dass  nach  dem  eidg.  Fabrikgesetz  Art.  9 Al.  2 der 
zuständige  Richter,  demnach  nicht  ein  Schiedsgericht  die 
aus  dem  Arbeitsverhältnisse  entstehenden  Streitigkeiten  zu 
entscheiden  hat.  Es  heisst  dann  wörtlich  weiter: 

„Wenn  nun  die  Beschwerdeführer  in  ihrem  Fabrik- 
reglement ein  Schiedsgericht  vorsehen  und  die  ordentlichen 
Gerichtsinstanzen  ausschliessen,  so  schaffen  sie  ein  für  den 
Arbeitnehmer  unter  Umständen  höchst  ungünstiges,  durch 
das  Gesetz  nicht  gewolltes  Verhältniss.  Dieser  kann  bei 
Ausschluss  jeder  Vertretung  als  der  rechtlichunerfahrenere, 
sowie  auch  bei  einem  eventuell  nothwendig  gewordenen 
Wegzug  und  dergl.  in  Nachtheil  kommen 

Durch  die  Ausschliessung  der  ordentlichen  Gerichte 
würde  es  zudem  ermöglicht,  dass  die  schwersten  Zuwider- 
handlungen gegen  das  Gesetz  gar  nicht  zur  Kenntniss  der 
Behörden  kämen , und  dass  dessen  Wirkungen  vereitelt 
würden.“ 

Eine  Fabrikordnung  beruht  nach  dem  schweizeri- 
schen Bundesrathe  nicht  auf  übereinstimmender  gegen- 
seitiger Willensäusserung,  sondern  ist  ein  einseitiger  Akt, 
der  vom  Arbeiter  beanstandet,  aber  nicht  verhindert  wer- 
den kann. 

Gewerbeinspektion. 

Die  Berichte  der  schweizerischen  Fabrikinspektoren 
für  i8go  und  i8gi. 

Nach  den  soeben  im  Druck  erschienenen  Amts- 
berichten der  eidgenössischen  Fabrikinspektoren1),  standen 
Ende  1891  gegen  4400  Etablissements  unter  der  Fabrik- 
inspektion, im  Ganzen  400  mehr  als  vor  zwei  fahren. 
Diese  bedeutende  Zunahme  verdankt  ihren  Ursprung  zu 
einem  grossen  Theil  dem  Bundesrathsbeschluss,  welcher 
tiir  diejenigen  Betriebe,  welche  bisher  erst  mit  mehr  als 
25  Arbeiter  unter  das  Fabrikgesetz  fielen,  die  Grenzzahl 

K — - — 

')  Berichte  der  Schweiz.  Fabrikinspektoren  über  ihre  Amts- 
thätigkeit  in  den  Jahren  1890  und  1891.  Veröffentlicht  vom 
Schweiz.  Industrie-  und  Landwirthschaftsdepartement.  Aarau, 
1892.  H.  R.  Sauerländer. 


aut  10  heruntersetzte.  Wie  es  scheint,  lässt  aber  die  gleich- 
mässige  Ausführung  dieses  Beschlusses  noch  viel  zu  wün- 
schen übrig.  So  erklärt  der  Inspektor  des  II.  Kreises 
(Westschweiz),  dass  bei  einheitlicher  und  ernsthafter 
Durchführung  in  mehreren  Kantonen  des  Kreises,  beson- 
ders in  den  Gebieten  der  Uhrenindustrie,  doppelt  so  viele 
Etablissements  dem  Fabrikgesetz  unterstehen  müssten.  Diese 
ungleiche  Behandlung  erregt  begreiflicher  Weise  bei  den  Ge- 
schäftsinhabern grosse  Unzufriedenheit.  Auch  bezüglich 
derjenigen  Geschäfte,  welche  weniger  als  6 Arbeiter  be- 
schäftigen, aber  unter  das  Fabrikgesetz  zu  stellen  sind, 
weil  sie  aussergewöhnliche  Gefahren  für  Gesundheit  und 
Leben  bieten,  oder  den  unverkennbaren  Charakter  von 
Fabriken  aufweisen,  entstehen  viele  Anstände.  Gegen  ein 
strenges  Vorgehen  machen  die  Geschäftsbesitzer  häufig  die 
Einrede  der  schlechten  Geschäfte  und  des  gegenwärtigen 
Rückgangs  der  Industrie  geltend  Damit  kontrastirt  aber 
die  Klage  über  den  Arbeitermangel.  Versuche,  fremde 
Arbeiter  aus  Böhmen  und  Mähren  herbeizuziehen,  schlugen 
zum  Theil  nicht  zum  Vortheil  der  importirenden  Betriebe 
aus.  Auch  Italien  liefert  ein  bedeutendes  Kontingent  in 
die  schweizerischen  Fabriken,  so  in  Graubünden  und  den 
benachbarten  Gegenden,  wo  die  einheimische  Bevölkerung 
sich  mit  Vorliebe  der  Fremdenindustrie  zuwendet. 

Ueber  den  Gang  der  Industrie  wissen,  mit  Ausnahme 
der  Maschinenindustrie  und  des  Baugewerbes,  die  Inspek- 
toren leider  wenig  Erfreuliches  zu  berichten.  Besonders 
schwer  ist  die  Stickerei  von  der  Krisis  betroffen.  Die  Ur- 
sache derselben  ist  in  der  massenhaften  Produktion  geringer 
Waare  durch  unfähige  Arbeiter  zu  suchen.  Bereits  hat 
der  Ausscheidungsprozess  begonnen.  In  Schaaren  wenden 
sich  Sticker  wieder  der  Landwirthschaft  oder  sonst  einem 
für  sie  passenden  Beruf  zu;  aber  mancher  ist,  durch  die 
.Stickerei  verweichlicht,  unbrauchbar  für  alles  andere  ge- 
worden. Grosse  Anstrengungen  werden  in  jüngster  Zeit 
für  bessere  Ausnützung  der  Wasserkräfte  für  Industrie  und 
Gewerbe  gemacht.  Zahlreiche  Projekte  für  elektro-moto- 
rische  Kraftgewinnung  sind  aufgetaucht. 

Bezüglich  der  Arbeitsräume  zeigten  sich  namentlich  bei 
in  letzter  Zeit  dem  Fabrikgesetze  neu  unterstellten,  kleineren, 
dem  handwerksmässigen  Betriebe  sich  nähernden  Etablisse- 
ments am  häufigsten  grelle  Uebelstände  Es  fehlte  sowohl  an 
genügendem  Licht  als  an  Lüftung.  Von  Neubauten  erhalten 
die  Behörden  in  vielen  Fällen  immer  noch  zu  spät  oder 
gar  nie  Kenntniss,  weshalb  ein  strengeres  Vorgehen 
gegen  Unterlassung  der  Planvorlegung  empfohlen  wird. 
Immerhin  wird  konstatirt,  dass  bei  den  Neubauten  den 
hygienischen  Anforderungen  fast  anstandslos  entsprochen 
wird.  Schwieriger  gestaltet  sich  die  Sache  bei  Umbauten 
und  Reparaturen.  Beim  gegenwärtigen  ungünstigen  Ge- 
schäftsgang kostet  es  viel  Mühe,  die  Fabrikbesitzer  zu 
Aenderungen  zu  veranlassen,  daneben  gilt  es  manche  Vor- 
urtheile  zu  bekämpfen,  namentlich  hinsichtlich  der  Venti- 
lation. Als  Beispiel  wird  angeführt,  dass  ein  Fabrikant 
über  die  vom  Inspektorate  aufgestellten  Normen  für  Fa- 
brikbauten, die  ihm  zur  Begutachtung  überwiesen  wurden, 
zu  den  Forderungen  die  Ventilation  betreffend,  bemerkt: 
„Haben  sie  (die  Fabrikinspektoren)  wohl  auch  bedacht, 
dass  wir  in  der  Schweiz  von  vornherein  bessere 
Luft  haben,  als  die  Konkurrenz  in  jenen  (ausländischen) 
Verkehrs-Centren?“ ! 

Für  die  Jahre  1890  und  1891  werden  16  498  Unfälle 
verzeichnet,  wobei  indessen  vom  II.  Kreis  (Westschweiz) 
in  Folge  Erkrankung  des  früheren  Inspektors  nur  für  die 
Zeit  vom  1 . Juli  bis  31.  Dezember  1891  Angaben  gemacht 
werden  konnten.  Die  grosse  Vermehrung  der  Unfälle  ge- 
genüber den  Jahren  1888  und  1889  dürfte  nicht  etwa  in 
einer  Vermehrung  der  den  Arbeiten  bedrohenden  Gefahren 
und  auch  nur  theilweise  in  einer  Vermehrung  der  haft- 
pflichtigen Gewerbe,  als  vielmehr  in  der  erfreulichen  That- 
sache  ihren  Grund  haben,  dass  zur  Zeit  wenig  Unfälle 
mehr  Vorkommen  können,  ohne  zur  Kenntniss  der  Be- 
hörden zu  gelangen.  Sehr  beachtenswerth  sind  die  Bemer- 
kungen des  Inspektors  Dr.  Schüler,  wonach  eine  ungeheure 
Zahl  der  Unfälle  hätte  verhütet  werden  können.  Eine 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  29. 


Durchsicht  der  1890er  Untälle  zeigte,  dass  482  mal  dieselben 
höchst  wahrscheinlich  nicht  vorgekommen  wären  oder  nur 
geringe  Folgen  gehabt  hätten,  wenn  die  nöthigen  Schutz- 
vorrichtungen vorhanden  gewesen  oder  auch,  wenn  sie 
benützt  worden  wären.  Solche  Zustände  sind  nur  möglich 
bei  der  grenzenlosen  Gleichgültigkeit,  die  noch  so  häufig 
bei  Arbeitgebern  und  leider  auch  bei  Arbeitern  in  dieser 
Hinsicht  vorkommt.  Viele  Arbeitgeber  denken:  „Komme, 
was  kommen  mag,  meine  Arbeiter  sind  gegen  Unfall  ver- 
sichert“. Andere  lassen  die  Schutzvorrichtungen  durch 
die  Arbeiter  wieder  wegnehmen,  angeblich  weil  diese  be- 
haupten, sie  würden  durch  diese  Apparate  in  der  Arbeit 
gehindert.  Da  wie  bereits  erwähnt,  die  Angaben  des 
II.  Kreises  unvollständig  sind,  so  können  für  das  statistische 
Detail  der  Unfälle  nur  diejenigen  des  I.  und  III.  Kreises 
verwerthet  werden.  Bei  146  380  Arbeitern  treffen  in  diesen 
beiden  Kreisen  1 1 245  Unfälle  auf  Fabriken,  wovon  1382 
sich  auf  Arbeiter  unter  18  Jahren,  9349  Unfälle  auf  andere 
haftpflichtige  Betriebe  beziehen.  Die  Summe  der  ausge- 
richteten Entschädigungen  beläuft  sich  im  Jahre  1890  auf 
Fr.  792  280.  Die  Zahl  der  Unfälle  erreichte  wiederum  ihr 
Maximum  in  den  Industrien  der  Holz-  und  Metallindustrie, 
sodann  beim  Hochbau  und  beim  Eisenbahnbetrieb,  in  den 
Gruben  und  Steinbrüchen.  Mit  tödlichem  Ausgang  werden 
im  Fabrikbetrieb  51  und  in  anderen  haftpflichtigen  Be- 
trieben 98  aufgeführt.  Die  meisten  der  Todesfälle  fallen 
auf  Bauarbeiter  aller  Art.  Dr.  Schüler  hat  noch  ein- 
gehende Untersuchungen  angestellt  über  die  Vertheilung 
der  Unfälle  auf  die  verschiedenen  Wochentage  und  als 
unheilvollen  Tag  den  Montag,  theilweise  auch  den  Dienstag 
gefunden,  was  er  auf  die  Alkoholwirkung  zurückführt,  der 
Montag  wird  aber  eigentlich  gefährlich  nur  den  besser  be- 
zahlten Arbeitern.  Bei  den  Frauen  und  jugendlichen 
Arbeitern  der  Textilindustrie  steigt,  wohl  in  Folge  zu- 
nehmender Ermüdung,  die  Zahl  der  Unfälle  mit  dem  Vor- 
rücken der  Woche.  Auch  der  Samstag  ist  ein  gefährlicher 
Tag,  wohl  weil  er  Putztag  ist  und  das  Putzen  an  den  Ma- 
schinen vielfach  mit  grosser  Sorglosigkeit  vorgenommen 
wird.  Mit  vollem  Recht  rügt  Dr.  Schüler  die  häufig  feh- 
lenden Schutzvorrichtungen  gegen  Feuersgelahr  in  den 
Batteurräumen  der  Baumwollspinnerei. 

In  den  Haftpflichtfällen  sehen  sich  die  Fabrikinspek- 
toren sehr  oft  zur  Intervention  veranlasst.  Noch  vielfach 
werden  den  Arbeitern  ungesetzliche  Beiträge  zu  den  Ver- 
sicherungsprämien zugemuthet,  die  zahlreichen  Haftpflicht- 
Streitigkeiten  lassen  es  immer  dringender  wünschen,  dass 
bald  eine  andere  Organisation  der  Unfallversicherung  Platz 
greife,  welche  es  ermöglicht,  ohne  Prozesse  mit  ihrem  ver- 
bitternden Treiben  dem  Verletzten  sein  Recht  werden  zu 
lassen. 

Die  Arbeitszeit  ist  in  den  letzten  Jahren  in  vielen 
Betrieben  auf  10  Stunden  heruntergesetzt  worden.  So  fast 
durchweg  in  den  grossen  mechanischen  Werkstätten,  in 
sehr  vielen  Schlossereien,  Schreinereien,  Glasereien  u.  dergl., 
wo  die  Gewerkschaften  sehr  strenge  über  die  pünktliche 
Beachtung  des  10- Stundentages  wachen.  Während  in  den 
meisten  Werkstätten  der  Holzindustrie  ein  Zurückgehen 
der  Produktion  nicht  bemerkt  worden  sei,  klagen  verschie- 
dene Vertreter  der  Maschmenindustrie  über  Produktions- 
verminderung. Sie  behaupten,  dass  der  gute  und  fleissige 
Arbeiter  allerdings  in  10  Stunden  gleich  viel  leiste,  wie 
früher  in  1 1 Stunden,  dass  aber  diese  Leistungen  nament- 
lich dort  durch  das  Gros  der  mittelmässigen,  weniger 
fähigen  oder  gleichgültigen  Arbeiter  beeinträchtigt  werde, 
wo  man  sich  gegenseitig  in  die  Hand  arbeiten  müsse,  wie 
dies  z.  B.  beim  Bau  von  Maschinen  der  Fall  sei.  Es  sind 
aber  auch  von  Leitern  von  Maschinenfabriken  günstige 
Zeugnisse  abgegeben  worden.  Jedenfalls  soll  die  Leistung 
bei  Handarbeit  gleich  sein,  bei  reiner  Maschinenarbeit  wird 
sie  um  5 pCt.  geringer  taxirt.  „Bei  möglichst  guter  Ord- 
nung und  bequemer  Einrichtung  kann  fast  jeder  Unter- 
schied ausgeglichen  werden.  Was  den  Chef  die  Für- 
sorge hiefür  mehr  kostet  gewinnt  er  durch  den  Einfluss 
derselben  auf  die  moralische  Haltung  des  Arbeiters,“  so 
äusserte  sich  ein  sonst  gar  nicht  optimistisch  gestimmter 


Arbeitgeber.  Schreinereibesitzer,  Ofenfabrikanten  stimmten 
darin  überein:  „man  bemerkt  den  Unterschied  gegenüber 
den  früheren  IO1/,,  Stunden  kaum.“ 

In  der  Zündholzindustrie  des  Berner  Oberlandes  ist 
das  Trucksystem  immer  noch  in  Anwendung.  Nach  Ansicht 
dortiger  Fabrikanten  ist  es  ganz  selbstverständlich,  dass  es 
sich  die  Arbeiter  gefallen  lassen  müssen,  wenn  ihnen  50  pCt. 
des  Lohnes  in  Waaren  (meistens  Esswaaren)  und  nur  die 
andere  Hälfte  in  baarem  Gelde  ausgezahlt  wird.  Es  steht 
zu  hoffen,  dass  das  projektirte  Zündholzmonopol  diesen  mit 
den  anderen  argen  Missständen  der  Zündholzindustrie  gründ- 
lich beseitige. 

Um  Anstände  zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeiter  zu 
verhindern,  sind  in  mehreren  grösseren  Fabriken  der  Ost- 
schweiz Arbeiterkommissionen  geschaffen  worden.  Die- 
selben scheinen  aber,  obwohl  sie  von  den  Arbeitern  gewählt 
sind,  wenig  Kompetenzen  und  geringen  Einfluss  zu  besitzen, 
blos  als  Sprachrohre  für  die  Reklamationen  der  Arbeiter  zu 
dienen.  Die  grösste  Tragweite  wird  der  Form  beigelegt, 
in  welcher  das  schweizerische  Industriedepartement  den 
Streit  zur  Erledigung  brachte,  der  sich  zwischen  den  In- 
habern einiger  Maschinenbauanstalten  und  deren  Arbeitern 
über  die  Definition  von  Hilfsarbeit  und  Notharbeit  erhoben 
hatte.  Der  Entschluss,  zuerst  Vertreter  jeder  Partei  einzeln, 
dann  das  Für  und  Wider  verfechtend,  in  gemeinsamer  Ver- 
sammlung unter  Beizug  der  Inspektoren  anzuhören  und 
darauf  gestützt  die  Entscheidung  zu  fällen,  hat  vom  ersten 
Moment  an  beruhigend  und  versöhnend  gewirkt,  und  es 
dürften  auch  in  Zukunft  ähnliche  Streitigkeiten  mit  bestem 
Erfolge  in  dieser  Weise  erledigt  werden.  Sehr  anerkennend 
äussert  sich  Dr.  Schüler  über  die  durch  einen  fast  aus- 
schliesslich hierfür  bestimmten  Beamten  in  St.  Gallen  besorgte 
Ueberwachung  des  Vollzugs  des  Gesetzes,  wobei  die  Ge-  1 
schäfte  sich  ausserordentlich  prompt  abwickeln. 

Ueber  die  Wirksamkeit  des  kantonalzürichischen 
Fabrikinspektors  wird  gesagt,  dass  derselbe  nicht  nur  der  , 
Behörde  treffliche  Dienste  leistet,  sondern  auch  von  Arbei- 
tern und  Arbeitgebern  immer  mehr  beansprucht  wird,  was 
als  ein  Zeichen  des  bereits  erworbenen  Zutrauens  gelten  ' 
kann.  Es  wäre  zu  wünschen,  dass  auch  die  übrigen  in- 
dustriellen Kantone  dem  Beispiel  von  St.  Gallen  und  Zürich 
folgen  würden,  denn  mit  dem  Vollzug  des  Gesetzes  durch 
Lokal-  und  Bezirksbehörden  steht  es  vielorts  übel.  Die 
ausgesprochenen  Bussen  sind  meistens  so  minimine,  dass  j 
sie  gar  keine  abschreckende  Wirkung  haben.  Die  meisten 
Bussen  bewegen  sich  zwischen  5 und  20  Fr.  und  nur  in  , 
einem  (strafrechtlichen)  Falle  war  der  Bussenbetrag  höher  : 
als  100  Fr.  Es  zeigt  sich  eben  beim  Fabrikgesetz  wie  bei 
anderen  eidgenössischen  Gesetzen  der  Mangel  einer  einheit- 
lichen Vollziehungsverordnung.  Bei  der  beabsichtigten  Aus- 
dehnung der  Fabrikgesetzgebung  wird  eine  solche  um  so 
nöthiger  werden,  wenn  die  dieser  Gesetzgebung  zu  Grunde 
liegenden  Ideen  voll  und  ganz  zur  Geltung  kommen  sollen. 
Mit  Genugthuung  ersieht  man  übrigens  aus  den  Amts- 
berichten der  Fabrikinspektoren,  dass  sie  ihre  Aufgabe  voller 
Ernst  und  mit  grosser  Gewissenhaftigkeit  ausführen. 

Aarau.  E.  Naef. 


Arbeiterversicherung. 


Die  eingeschriebenen  Hilfskassen  und  die  Kranken- 
kassennovelle. In  der  letzten  Zeit  haben  eine  Reihe  von 
Generalversammlungen  freier  Hilfskassen  stattgefunden,  in 
welchen  über  die 'Stellung  zu  den  Anforderungen  der 
Krankenkassennovelle  Beschlüsse  gefasst  wurden.  Theils 
entschied  man  sich  für  Auflösung  der  Kassen,  theils  für 
ihre  Umwandlung  in  Zuschusskassen,  meist  aber  für  Er- 
haltung der  Kassen  unter  Vornahme  der  durch  das  Gesetz 
nöthig  gewordenen  Abänderungen  der  Statuten. 

Die  grösste  eingeschriebene  Hilfskasse,  die  Central- 
kranken- und  Sterbekasse  der  Tischler  und  anderer  gewerb- 


No.  29. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


.'(65 


Hoher  Arbeiter,  welche  mehr  als  80  000  Mitglieder  zählt, 
sprach  sich  mit  überwiegender  Majorität  für  die  Erhaltung 
der  Kasse  aus  und  beschloss  mit  knapper  Majorität,  sich  dem 
Gesetze  anzupassen.  Trotz  Erhöhung  der  Mitgliedsbeiträge 
musste  die  Krankenunterstützung  herabgesetzt  werden.  Die 
Kasse  soll  dem  zu  errichtenden  Krankenkassenverband  bei- 
treten, und  der  Vorstand  wurde  ermächtigt,  die  Verschmel- 
zung mehrerer  Kassen  herbeizuführen.  Ein  grosser  Theil  der 
Mitglieder  der  Kasse  konnte  sich  mit  den  Beschlüssen  der 
Generalversammlung  nicht  befreunden  und  forderte  Urab- 
stimmung der  Mitglieder  über  dieselben.  Diese  wird  zwar 
nicht  stattfinden,  doch  ist  eine  weitere  Generalversammlung, 
welche  neuerdings  über  die  Umgestaltung  der  Kasse  be- 
sehliessen  soll,  in  Aussicht  genommen. 

Die  Generalversammlung  der  allgemeinen  Kranken- 
und  Sterbekasse  der  deutschen  Drechsler  und  deren  Berufs- 
genossen beschloss  mit  knapper  Majorität  den  Fortbestand 
der  Kasse  in  alter  Form  und  beauftragte  den  Vorstand  da- 
hin zu  wirken,  dass  eine  allgemeine  Centralkasse  ins  Leben 
gerufen  werde  und  dass  die  Berufskasse  sich  an  dieselbe 
anschliessen  solle.  — 

In  der  Generalversammlung  der  allgemeinen  Deutschen 
Kranken-  und  Begräbnisskasse  für  Wirker,  Weber  etc. 
sprach  sich  wohl  eine  zwei  Drittel  Majorität  für  die  Auf- 
lösung der  Kasse  aus.  Da  aber  zu  einem  dahingehenden 
Beschlüsse  eine  4/s  Majorität  durch  die  Statuten  gefordert 
wird,  bleibt  die  Kasse  fortbestehen. 

Die  Buchdrucker  beschlossen  in  der  Generalversamm- 
lung ihrer  Krankenkasse,  dieselbe  aufzulösen,  ihre  Mitglieder 
werden  den  Ortskassen  beitreten.  Ergänzende  Kranken- 
unterstützung übernimmt  der  neugegründete  Verband  der 
deutschen  Buchdrucker. 

Die  Centralkranken-  und  Begräbnisskasse  der  Buch- 
binder beschloss  unter  Abänderung  der  Statuten  als  Hilfs- 
kasse weiter  zu  bestehen.  Den  gleichen  Beschluss  fasste 
die  Hilfskasse  des  Gewerkvereins  der  Stuhlarbeiter  in 
Spremberg. 

In  der  Generalversammlung  der  Central-Kranken-  und 
Sterbekasse  der  Maurer,  Steinhauer  und  Berufsgenossen 
Deutschlands  wurde  mit  3/r>  Majorität  die  Auflösung  der 
Kasse  beschlossen.  Da  aber  diese  Majorität  den  Kassen- 
statuten nach,  welche  bei  Anträgen  auf  Auflösung  4/5 
Majorität  nothwendig  machen,  nicht  ausreichte,  konnte  dem 
Anträge  nicht  stattgegeben  werden.  Die  Anträge  auf  Um- 
wandlung der  Kasse  in  eine  Zuschusskasse  wurden  hierauf 
abgelehnt.  Der  Antrag,  die  Beiträge  zu  erhöhen,  fand  bloss 
die  einfache,  nicht  aber  die  statutengemäss  erforderliche 
-/a  Majorität  und  erscheint  somit  als  abgelehnt.  Es  wurde 
ferner  beschlossen,  Steinhauer  wegen  ihrer  übergrossen 
Morbidität  nicht  mehr  in  die  Kasse  aufzunehmen  und  die 
Generalversammlung  fortzusetzen,  falls  von  Seite  der  Be- 
hörden gegen  die  von  der  Versammlung  angenommene 
Statutenvorlage  Einwendungen  erhoben  werden  sollten. 
Endlich  wurde  beschlossen,  dem  „Verbände  der  freien 
Krankenkassen  zur  Regelung  der  Arzt-  und  Medizinalange- 
legenheiten für  die  Ivrankenkassen-Mitglieder“  beizutreten. 
Die  Central-Kranken-  und  Begräbnisskasse  für  Frauen  und 
Mädchen  Deutschlands  entschied  sich  für  den  Weiterbestand 
als  freie  Hilfskasse. 

Die  Vorstände  der  Central-Kranken-  und  Sterbekasse 
des  deutschen  Glacehandschuhmacher- Verbandes  und  der 
Central-Ivranken-  und  Sterbekasse  der  Tabakarbeiter  em- 
pfehlen den  Generalversammlungen  Weiterbestand  der 
Kassen  als  freie  Hilfskassen.  Der  Vorstand  der  Hutmacher- 
krankenkasse empfieht  Umwandlung  in  eine  Zuschusskasse. 
Die  Generalversammlungen  der  grössten  Zahl  der  übrigen 
Kassen  dürften  in  der  nächsten  Zeit  stattfinden,  wir  werden 
dann  auch  ihre  Beschlüsse  registriren  und  einen  Ueberblick 
über  dieselben  geben.  Aber  auch  heute  kann  schon  gesagt 
werden,  dass  die  freien  Hilfskassen  in  Folge  der  ~Noth- 
wendigkeit,  die  Beiträge  zu  erhöhen  und  gleichzeitig  die 
Krankenkassengelder  zu  vermindern,  viele  Mitglieder  ver- 
lieren dürften.  ■ — 

Krankenstatistik  des  obersclilesisclien  Knappschafts- 
Vereines.  Die  „Veröffentlichungen  des  Kaiserlichen  Gesund- 
heitsamtes“ vom  6.  Juli  publiziren  einen  Auszug  aus  dem 
Sanitätsberichte  des  oberschlesischen  Knappschaftsvereines  für 
das  Jahr  1890.  Demselben  gehörten  am  Jahresschlüsse  69  149  Mit- 
glieder, darunter  8 628  weibliche  an,  hierzu  treten  noch  5 787  In- 
valide. 63  084  Mitglieder  gehörten  dem  bergmännischen  und 
6 065  dem  hüttenmännischen  Berufe  an. 


Erkrankt  sind  im  Laufe  des  Jahres  14  186  Vereinsmitglieder 
(und  1 541  Invaliden),  beim  Hüttenbetrieb  etwa  47,  beim  Berg- 
baubetrieb 18  pCt.  der  dabei  Beschäftigten. 

Den  wesentlichsten  Antheil  an  der  Krankheitsstatistik 
hatten,  wie  in  den  Vorjahren,  neben  Rheumatismus  (2000  Er- 
krankungen) die  Krankheiten  der  Verdauungs-  und  Athmungs- 
organe,  sowie  die  mechanischen  Verletzungen.  An  den 
Athmungsorganen  waren  2 071  Mitglieder  erkrankt,  davon  litten 
mehr  als  die  Hälfte  an  akuten  Katarrhen,  121  an  Lungen- 
schwindsucht, 487  an  Lungen-  und  Brustfellentzündung.  Mecha- 
nische Verletzungen  hatten  3 853  Personen  erlitten  und  zwar 
46,6  von  je  I 000  beim  Bergbaubetriebe,  9,1  von  je  1 000  beim 
Hütten  bet  riebe. 

Es  starben  in  Folge  von  Unfällen  53,  in  Folge  von  Krank- 
heiten 262  Vereinsmitglieder,  darunter  74  an  Lungenentzündung, 
67  an  Lungenschwindsucht,  17  am  Typhus. 

Hinsichtlich  der  Erkrankungsziffer  waren  die  Monate 
Januar,  Februar  und  März,  wie  im  Vorjahre,  die  ungünstigsten, 
die  Monate  Juni,  September,  Oktober,  wie  im  Vorjahre,  die 
günstigsten. 

Sämmtliche  Kranke  erforderten  zu  ihrer  Heilung  304  059 
Tage  oder  im  Durchschnitt  jeder  Kranke  18,4,  jeder  Lazareth- 
kranke  aber  21,3  Tage.  Die  Gesammtkosten  der  Krankenpflege, 
einschl.  Krankengeld  betrugen  616  793,05  M.,  d.  h.  auf  jeden 
Kranken  kamen  37,325  M.  und  auf  jeden  Lazarethkranken  einschl. 

| Krankengeld  43,225  M.  Von  der  Gesammtsumme  wurden  rund 
121224  M.  (ca.  20  pCt.)  für  Krankengelder,  29419  (ca.  4,8  pCt.i 
an  Aerztegehalt  und  rund  66  480  (10,8  pCt.)  für  Arzeneien,  Ver- 
bandstoffe und  sonstige  Behandlung,  ausschl.  Lazarethverpfle- 
gungskosten  verausgabt. 


Litteratur. 


Görres,  Dr.  jur.  K.,  Handbuch  der  gesammten  Arbeiter- 
gesetzgebung des  deutschen  Reiches.  Freiburg  i.  B., 
1892  Herder’sche  Verlagsbuchhandlung.  1.  Lieferung.  8°. 
160  S. 

Durch  die  Revision  der  Gewerbeordnung  und  des  Kranken- 
versicherungsgesetzes ist  das  vielbenützte  Buch  von  T.  Boediker, 
„Die  Gewerbe-  und  Versicherungsgesetzgebung  des  deutschen 
Reiches“  für  den  praktischen  Gebrauch  nicht  mehr  verwendbar, 
j Das  hier  angezeigte  Werk  dürfte  die  entstandene  Lücke  aus- 
I füllen.  Boediker’s  Buch  diente  mehr  dem  Geschäftsmanne, 
während  das  neue  Werk  wohl  diesem  auch  sehr  nützlich 
werden  kann,  aber  in  erster  Linie  den  speziellen  Interessenten 
unserer  Arbeitergesetzgebung  dienlich  sein  wird.  Handelsver- 
träge, Markenschutz-Literarkonventionen,  Press-,  Viehseuchen-, 
Nahrungsmittel-,  Markenschutz-  und  ähnliche  Gesetze,  welche 
für  den  Sozialpolitiker  ein  höchstens  sekundäres  Interesse  haben, 
hat  Görres  im  Gegensätze  zu  Boediker  nicht  aufgenommen,  da- 
gegen sollen  die  Arbeiterversicherungsgesetze , die  Arbeiter- 
schutzbestimmungen, das  Gesetz  über  die  Gewerbegerichte  etc. 
sowie  die  hierzu  erlassenen  Verordnungen  des  Reichskanzlers 
und  des  Bundesrathes  in  dem  Werke  enthalten  sein.  Das  erste 
Heft  enthält  das  Krankenversicherungsgesetz  in  der  alten  und 
neuen  Fassung,  das  Haftpflichtgesetz  vom  7.  Juni  1871  und  das 
Unfallversicherungsgesetz.  Hoffentlich  liegt  das  auf  4 — 5 Liefe- 
rungen berechnete  Werk  bald  vollständig  vor.  Es  wird  dann 
für  viele  ein  angenehmes  und  bequemes  Handbuch  sein,  in  dem 
man  alle  die  Arbeitergesetzgebung  betreffenden  Gesetze  in  einem 
Bande  gesammelt  findet,  besonders  wird  dies  der  Fall  sein, 
wenn  die  in  Aussicht  gestellten  Register  durch  gut  gewählte 
Schlagworte  die  Auffindung  der  gesuchten  und  mit  ihnen  in 
Zusammenhang  stehenden  Gesetzesbestimmungen  auch  dem 
weniger  Kundigen  erleichtern  werden. 

Bart,  O.  te,  Die  Versicherungspflicht  nach  dem  In- 
validitäts-  und  Altersversicherungsgesetz  vom 
22.  Juni  1889.  Berlin  1892,  Siemenroth  8c  Worms,  kl.  8°. 
72  S. 

Der  Verfasser  erläutert  an  der  Hand  oberbehördlicher 
Entscheidungen  die  Anleitung  des  Reichsversicherungsamtes 
vom  31.  Oktober  1890  und  die  betreffs  der  Befreiung  vorüber- 
gehender Beschäftigungen  und  der  Behandlung  gewisser  mit 
persönlichen  Dienstleistungen  beschäftigten  Personen  vom 
Bundesrathe  getroffenen  Anordnungen. 

Das  Schriftchen,  das  praktischen  Zwecken  dienen  will, 
erscheint  uns  sehr  nützlich,  sein  Werth  wird  durch  ein  aus- 
führliches Sachregister  erhöht.  Da  über  die  Frage  der  Ver- 
sicherungspflicht in  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung 
noch  immer  viel  Unklarheit  herrscht,  ist  das  Erscheinen  des 
Schriftchens  willkommen  zu  heissen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


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„EXPORT“ 

Organ  des  Central  Vereins  für  Handelsgeographie 

und  Förderung  Deutscher  Interessen  im  Auslande. 

XIV.  Jahrgang. 

Herausgegeben 

von 

R.  Jannasch, 

Dr.  jur.  et  p'hil. 

Redaktion  und  Expedition:  Berlin  W.,  Magdeburgerstrasse  36. 


Die  seit  1879  erscheinende  Wochenschrift  „Export“  ist  bestrebt,  die  Interessen 
des  deutschen  Exports  thatkräftig  zu  vertreten,  sowie  dem  deutschen  Handel  und  der 
deutschen  Industrie  wichtige  Mittheilungen  über  die  Handelsverhältnisse  des  Aus- 
landes in  kürzester  Frist  zu  übermitteln. 

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Der  Mangel  einer  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes  hat  sich  in  den 
letzten  Jahren  insbesondere  in  Folge  einschneidender  Umgestaltungen  und  Neubildungen  auf  dem 
Gebiete  des  österreichischen  Verwaltungsrechtes  nicht  nur  in  Kreisen  der  Studirenden,  sondern 
auch  aller  derjenigen,  die  am  öffentlichen  Leben  theilnehmen,  fühlbar  gemacht.  Es  sei  nur 
darauf  hingewiesen,  dass  seit  den  jüngsten  Neuregelungen  des  Militärrechtes,  des  Gewerberechtes, 
des  Arbeiterschutzrechtes  noch  keine  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes,  welche 
dieselben  berücksichtigen  würde,  erschienen  ist  und  dürfte  daher  obiges  Werk  den  interessirenden 
Kreisen  gewiss  willkommen  sein. 


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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  FI.  S.  Fiermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  25.  Juli  1892. 


Nummer  30. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr,  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


I.  Guttentaer,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT 


XVIII.  italienischer  Arbeiter- 
kongress. Von  Prof.  Dr.  Wer- 
ner Sombart. 

Soziale  Wirtlischaftspolitik  u. 
W irthscliaftsstatistik : 

Noch  ein  Wort  zum  Koalitions- 
recht der  Arbeiter  in  Frankreich. 
Von  Prof.  Dr.  v.  Schubert- 
Soldern. 

Zur  Frage  der  Einführung  der 
obligatorischen  Berufsgenossen- 
schaften in  der  Schweiz.  Von 
Kantonsstatistiker  E.  Naef. 

Obligatorische  Fortbildungsschulen 
für  Kellnerlehrlinge  und  Lauf- 
burschen in  Stuttgart. 

Grossbetriebe  im  französischen 
Detailhandel. 

Schweizerischer  Arbeiterbund  und 
schweizerisches  Arbeitersekre- 
tariat. 

Arbeiterzustände: 

Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter 
im  preussischen  Bergbau. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Bergarbeiterbewegung  in  Rhein- 
land-Westfalen und  im  Saar- 
revier. 


Katholische  Arbeitervereine  in 
Deutschland. 

Statistik  des  schweizerischen  Ge- 
werkschaftsbundes. 

LTnternehmerverbände : 

Deutscher  Tabakverein. 

Kaufmännische  Bewegung: 

Verbandstag  der  kaufmännischen 
Ver  :ine  Württembergs. 

Hand  werkerfra  gen : 

Regelung  der  Lehrzeit  im  öster- 
reichischen Kleingewerbe. 

Arbeiterversicherung: 

Die  Reform  der  österreichischen 
Bruderladen.  Von  Dr.  Leo 
Verkauf. 

fahres  - Versammlung  deutscher 
Zwangskassenverbände. 

Zur  Reform  der  deutschen  Unfall- 
versicherung. 

Zur  Statistik  der  deutschen  Inva- 
liditäts-  und  Altersversicherung. 

Arbeiterversicherung  der  Seeleute. 

Unfallversicherung  im  Tiefbau- 
gewerbe. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung: 

Missstände  in  Fabrikwohnungen. 
Wohnungszustände  in  Frank- 
furt a.  M. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


XVIII.  italienischer  Arbeiterkongress. 


Diese  Bezeichnung  für  den  Ende  Mai  in  Palermo  ab- 
gehaltenen Kongress,  über  den  erst  jetzt  die  italienische 
Arbeiterpresse  genauere  Berichte  veröffentlicht,  ist  nicht 
vollständig.  Vielmehr  müsste  sie  lauten:  „XVIII.  italieni- 

scher Arbeiterkongress  der  verbrüderten  und  der  mit  diesen 
sympathisirenden  Gesellschaften“;  XVIII.  congresso  operaio 
italiano  delle  societä  affratellate  ed  aderenti  ist  der  offizielle 
Titel.  Societä  affratellate  sind  diejenigen  Vereine,  welche 
Mitglieder  des  von  Mazzini  gegründeten  Patto  di  fratellanza 
sind,  aderenti  solche,  welche  zwar  nicht  als  Mitglieder  dem 
Patto  angehören,  wohl  aber  ein  dem  seinigen  verwandtes 
Programm  haben  und  mit  ihm  fraternisiren.  Die  Verhand- 
lungen des  Kongresses,  auf  dem  415  Brüdervereine  und 
274  Anschlussvereine,  wie  wir  der  Kürze  halber  sagen 
wollen,  durch  insgesammt  217  Delegirte  vertreten  waren, 
sind  höchst  lehrreich  wie  Alles,  was  die  Arbeiter-  und 
sozialistische  Bewegung  in  Italien  betrifft.  Diese  befinden 
sich  in  einem  Keim-  und  Gährungsprozesse;  die  Entwicklung 


j einer  Arbeiter-  bezw.  Sozialistenpartei  kann  nirgends  deut- 
j licher  verfolgt  werden,  als  eben  jetzt  in  Italien. 

Wir  beobachten  zur  Zeit  auf  der  Appeninenhalbinse 
J verschiedene  soziale  Strömungen,  die  zum  Theil  erst  ent- 
I stehen,  zum  Theil  bereits  in  einander  einmünden.  Die 
italienische  radikale  Demokratie  Mazzinischer  Observanz 
befindet  sich  in  einem  Häutungsprozesse;  sie  ist  eben  dabei, 
den  Uebergang  von  der  politischen  zur  sozialen  Demokratie 
| zu  vollziehen;  von  Kongress  zu  Kongress  wird  ihr  Programm, 
das  bis  vor  Kurzem  noch  wesentlich  einen  politischen  Inhalt 
hatte,  mit  sozialen  Elementen  mehr  durchsetzt.  Der  italie- 
! nische  Sozialismus  anderseits  fängt  an,  die  Klublokale  und 
Redaktionsstuben  zu  verlassen,  sich  auf  die  Strasse,  unter 
die  Massen  zu  begeben  und  versucht,  die  Arbeiterschaft  in 
Besitz  zu  nehmen,  die  zum  Theil  organisirt  aber  unpolitisch, 
zum  Theil  politisch-demokratisch  aber  nicht  organisirt,  zum 
grössten  Theil  aber,  und  das  gilt  vor  Allem  von  der  Land- 
bevölkerung, weder  organisirt  noch  politisch  gefärbt  ist. 

Für  den  Patto  di  fratellanza,  die  alte  bewährte  Or- 
ganisation des  „Meisters“  Mazzini,  dessen  Name  einstweilen 
noch  für  den  Italiener  einen  annähernd  gleich  zauberischen 
Klang  wie  der  Garibaldis  besitzt,  für  den  Patto  und  die  auf 
dem  Kongress  vereinten  Br üder vereine  ergiebt  sich 
aus  diesem  Stand  der  Dinge  eine  mehrfache  Aufgabe, 
i Einmal  und  vor  Allem  handelt  es  sich  darum,  im  eigenen 
Lager  Klarheit  über  Ziel  und  Zweck  zu  schaffen:  die  Stel- 
lung zur  Politik,  zur  sozialen  Frage,  zu  den  einzelnen 
Differenzpunkten  der  sozialen  Richtungen  zu  präcisiren. 
Sodann  kommt  es  darauf  an,  den  Anschluss  an  die  übrigen 
sozialpolitischen  Organisationen,  namentlich  die  sozialistischen 
Vereinigungen  bei  Zeiten  zu  finden,  ohne  die  Fühlung  mit 
der  rein  politischen  Demokratie  zu  verlieren;  endlich  aber 
liegt  ihm  daran,  den  breiten  Boden  der  Volks-  und  Arbeiter- 
massen als  Grundlage  zu  gewinnen,  d.  h.  die  Arbeiterschaft 
zu  mobilisiren  und  zu  organisiren.  Der  erste  Punkt  betrifft 
die  Prinzipienfrage,  das  Programm;  der  zweite  die  Taktik; 
der  dritte  die  Agitation.  Diese  drei  Punkte  sind  es  denn 
auch,  die  den  XVIII.  Kongress  zu  Palermo  vor  Allem  be- 
schäftigt haben. 

Die  Programmfrage  hat  sich  im  Laufe  der  letzten 
Kongresse  des  Patto  di  fratellanza  (1886  in  Florenz,  1889  in 
Neapel)  zu  der  Alternative  zugespitzt:  Individualisten  oder 
Kollektivsten  in  Bezug  auf  die  Eigenthumsordnung.  Jenes 
sind  diejenigen  Elemente,  welche  die  Nothwendigkeit  ein- 
sehen,  die  Mazzinischen  Gedankenreihen  zwar  mit  sozialen 
Gesichtspunkten  neu  zu  beleben,  welche  aber  den  indivi- 
dualistischen Grundanschauungen  des  Meisters  soweit  thun- 
lich  treu  biedren  wollen.  Aus  diesen  Vermittelungsbestre- 
bungen ergiebt  sich  denn  ein  reichlich  unklarer  Standpunkt. 


368 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  30. 


Die  abfällige  Kritik  der  heutigen  Eigenthums-  und  Wirth- 
schaftsordnung  wird  von  den  Sozialisten  herübergenommen; 
man  versucht  aber,  sich  mit  einer  Reihe  von  Klauseln  und 
Verlegenheitsphrasen  um  die  Konsequenzen  der  sozialisti- 
schen Kritik  herumzudrücken  und  das  „Prinzip  des  indivi- 
dualistischen Eigenthums“  aufrecht  zu  erhalten.  Demgegen- 
über zieht  die  kollektivistische  Gruppe  aus  der  sozialistischen 
Kritik  als  unabweisliche  Konsequenz  die  Forderung  der 
Vergesellschaftung  der  Produktionsmittel.  Hiei  folgen  die 
beiden  Tagesordnungen,  welche  je  die  Individualisten  und 
Kollektivsten  auf  dem  jüngsten  Kongresse  durch  ihre  Ver- 
treter beantragt  haben.  Sie  lauten  in  der  Ueber.setzung, 
wie  folgt: 

I.  Tagesordnung  der  Nicht-Kollektivisten: 

„Der  Kongress: 

In  Erwägung  dass  alle  sozialen  und  wirthschaftlichen 
Fragen  von  den  moralischen  und  politischen  untrennbar  sind, 
so  wie  dass  das  Ziel  der  Menschheit  die  gröstmöglichste  Voll- 
kommenheit der  Gesellschaft  und  des  Individuums  ist, 

In  Erwägung  dass  die  heutige  Institution  des  Eigenthums, 
welches  theils  von  Raub  und  Gewaltthaten  stammt,  theils  durch 
ungerechte  Vertheilung  sich  angehäuft  hat,  die  freie  Entwicklung 
der  menschlichen  Fähigkeiten  und  den  sozialen  Fortschritt 
hindert, 

In  Erwägung  dass  eine  solche  Institution  nur  legitim  und 
zweckentsprechend  ist,  wenn  sie  vollständig  der  geistigen  oder 
körperlichen  Arbeit  entstammt,  der  Arbeit,  welche  uns  allein 
adelt  und  welche  der  kommenden  Generation  einzig  Sporn  und 
Antrieb  sein  wird, 

In  Erwägung  dass  die  Arbeit  weder  frei  noch  ertragsfähig 
sein  kann,  wenn  sie  dem  Kapital  unterthan  ist,  dass  sie  andrer- 
seits wiederum  nicht  von  diesem  getrennt  werden  darf, 

In  Erwägung  dass  eine  Hauptquelle  des  modernen  Eigen- 
thums das  Erbrecht  ist  das  heute  in  der  Intestaterbfolge  mehr 
als  nöthig  ausgedehnt  und  mittelst  der  Testamentsbestimmungen 
fast  grenzenlos  ist,  während  es  nur  soweit  zugelassen  werden 
sollte,  als  es  die  Familie,  den  Sitz  der  Arbeit  und  die  erste  na- 
türliche Vereinigung,  zusammenhält,  der  Produktion  einen  natür- 
lichen Stimulus  gewährt,  und  so  lange  es  nur  das  persönliche 
Ergebniss  der  Arbeit  vermehren  wird; 

In  Erwägung  dass  die  Ausdrücke  „Freiheit  und  Vereini- 
gung“1) in  Wirklichkeit  die  Vereinigung  des  sozialen  und  indi- 
viduellen Besitzes  voraussetzen,  daher  folgerichtig  das  Zusam- 
menwirken des  Staates  und  der  einzelnen  Individuen,  sowie  die 
Gegenseitigkeit  und  Solidarität  der  Interessen, 
spricht  aus: 

dass  das  Leben  eines  jeden  Individuums  heilig  ist,  dass 
lol glich  allen  in  Gemässheit  der  verschiedenen  Thätigkeiten  der 
Erwerb  und  die  Ausübung  des  Eigenthumsrechts  gesichert  sein 
muss, 

dass  um  diesen  Zweck  zu  erreichen  in  dem  neuen  Staat 
den  wir  auf  streng  volksmässigen  Grundlagen  neu  ordnen  wollen, 
aller  Besitz,  — sei  es  Grundeigenthum  oder  anderes  — der  un- 
rechtmässig erworben  oder  ungerecht  vertheilt  worden  ist,  in 
die  Hände  der  Arbeiter  überführt  werden  muss,  damit  auf 
diese  Art  ihr  Recht  des  Eigenthums  auf  Grund  der  genossen- 
schaftlichen Arbeit  anerkannt,  ihnen  ihr  Recht  auf  Existenz 
gewahrt  und  jedem  nöthigen  Fortschritt  freie  Bahn  geöffnet 
werde ; 

dass  zu  diesem  Zweck  der  Wettbewerb  zwischen  der  pri- 
vaten Initiative  und  der  des  Staates  beitragen  müsse,  welch’ 
letzterer  aber  nur  existenzberechtigt  ist,  sofern  er  einer  hohen 
sozialen  Auffassung  entspricht,  sei  es  dadurch,  dass  er  durch 
die  Gemeinden  den  Genossenschaften  Kredit  gewährt,  sei  es 
indem  er  die  soziale  und  wirtschaftliche  Umgestaltung  dadurch 
erleichtert,  dass  er  den  Uebergang  des  öffentlichen  Eigenthums 
n die  Hände  der  Arbeitergenossenschaften  einleitet,  sei  es  dass 
er  mit  allen  erlaubten  Mitteln  die  Errichtung  von  landwirt- 
schaftlichen, industriellen  und  kommerziellen  Genossenschaften 
1 nterstützt,  dann  auch  durch  die  Einziehung  des  Bodens  und 
der  Produktionsmittel,  dort  wo  dieses  die  besonderen  Umstände 
der  Zeit  und  des  Ortes  erheischen,  damit  die  Bestrebungen  der 
italienischen  Demokratie  verwirklichend,  d.  h.  die  Arbeit  zum 
Herrn  des  Bodens  und  des  Kapitals  Italiens  machend. 

Und  schliesslich  hält  er  dafür,  dass  zu  solchem  Ende, 
nämlich  zur  energischen  Lösung  des  verwickelten  Problems  im 
fortschrittlichen  Sinne,  die  partiellen  Reformen  und  die  ausge- 


klügelten Kolonisationsbestrebungen,  welche  auf  einen  neuen 
Betrug  des  herrschenden  Systems  hinauslaufen,  vollständig  un- 
zulänglich sind,  und  dass  es  zudem  eines  gleichzeitigen  und  ge- 
schlossenen Zusammenwirkens  sämmtlicher  sozialer  und  politi- 
scher Richtungen,  wie  verschieden  sie  auch  von  einander  sein 
mögen,  bedarf,  um  die  Emanzipation  der  Arbeiter  zu  beschleunigen 
und  zu  sichern,  die  Emanzipation  der  Arbeiter,  die  den  höchsten 
Sieg  der  Gerechtigkeit  und  Civilisation  bedeutet.“ 

II.  Tagesordnung  der  Kollektivisten: 

„Der  Kongress: 

In  Erw'ägung  dass  das  bestehende  industrielle  System  eine 
fortwährende  und  steigende  kapitalistische  Belastung  auf  Kosten 
der  Arbeiter  bedeutet. 

In  Erwägung  dass  die  unmittelbaren  Ursachen  der  be- 
stehenden wirthschaftlichen  Uebelstände  im  Allgemeinen,  und 
im  Besondern  der  heutigen  Ausbeutung  der  Arbeit  durch  das 
Privatkapital  darin  zu  suchen  sind,  dass  die  Industrie  sich  in 
privaten  Händen  und  im  Dienste  der  individualistischen  Speku- 
lation befindet  d.  h.  in  dem  Mangel  einer  einheitlichen  nationalen 
Organisation  des  industriellen  Lebens;  — erwogen  dass  das 
einzige  Heilmittel  bei  dem  jetzigen  Industrialismus  nur  ein 
neues  industrielles  System  sein  kann,  welches,  auf  dem  Kollek- 
tiveigenthum fussend,  eine  nationale  zentralistische  Organisation 
der  Industrie  schafft,  das  zugleich  den  Produktionsbedarf  regelt 
und  den  gesellschaftlichen  Reichthum  vertheilt, 

erkennt  die  Nothwendigkeit  einer  Umwandlung  des  be- 
stehenden kapitalistischen  Privateigenthums  an  Produktions- 
mitteln und  Privatgrundeigenthum  in  Kollektiveigenthum  an.“ 

Wie  man  sieht,  lässt  die  erstere  Tagesordnung-  nichts 
an  Unklarheit,  die  letztere  wenig  an  Klarheit  zu  wünschen 
übrig.  Das  Interessante  ist  nun  folgendes:  Während  auf 
dem  Kongress  zu  Neapel  (1889)  die  von  Fratti  vertretene 
Tagesordnung  der  Individualisten,  die  der  diesjährigen  ganz 
ähnlich  war,  vom  Kongress  zum  Beschluss  erhoben  und 
diejenige  der  Kollektivisten  verworfen  wurde,  hat  sich  jetzt 
die  Lage  wesentlich  verändert.  Man  hat  zwar  die  kollek- 
tivistische Tagesordnung  nicht  angenommen,  aber  auch 
nicht  mehr  die  gegnerische,  sondern  hat  sich  auf  einen, 
wesentlich  politischen,  ökonomisch  nichtssagenden  Vermitt- 
lungsbeschluss geeinigt,  der  folgende  Fassung  hat: 

„Der  Kongress  nimmt  Kenntniss  von  den  seitens  der 
kollektivistischen  und  mazzinistischen  Republikaner  überreichten 
Tagesordnungen  und  stellt  fest: 

dass  in  der  Organisation  des  „patto  di  fratellanza“  alle 
diejenigen  national-ökonomischen  Schulen  Aufnahme  finden 
müssen,  die  als  erstes  und  nöthigstes  Mittel  zur  bestmög- 
lichen Lösung  der  sozialen  Frage  die  Regelung  der  poli- 
tischen Ordnung  auf  der  Basis  der  absoluten  Volkssouveränität 
annehmen; 

der  Kongress  spricht  auch  seine  Ueberzeugung  dahin  aus, 
dass  in  allen  gesellschaftlichen  Institutionen,  die  jetzt  auf 
Privilegium  beruhen,  nach  und  nach  eine  Umgestaltung  bis 
zur  vollständigen  politischen  und  sozialen  Emanzipation  voll- 
zogen werden  muss.“ 

Das  bedeutet  einen  entschiedenen  Sieg  der  Kollek- 
tivisten und  es  scheint  mir  nur  eine  Frage  der  Zeit  zu 
sein,  dass  der  Patto  di  fratellanza,  also  die  bei  weitem  be- 
deutendste politisch-soziale  Vereinigung  der  italienischen 
radikalen  Demokratie  den  kollektivistischen  Sozialismus 
offiziell  in  sein  Programm  aufnimmt.  Einstweilen  spinnt 
sich  die  Diskussion  des  Kongresses,  auf  dem  übrigens  die 
Kollektivisten  bereits  die  grosse  Mehrzahl  gebildet  haben 
sollen,  in  der  Weise  fort,  dass  man  die  Frage  aufwirft:  ist 
der  Mazzinianismus  nicht  doch  vielleicht  mit  dem  Kollek- 
tivismus verträglich?  Was  die  Einen  verneinen,  die  andern 
bejahen.  Zu  den  letzteren  gehört,  und  das  ist  gewiss  be- 
deutsam, der  Chefredakteur  der  „Emancipazione“,  des 
Hauptorgans  des  Mazzinianismus,  insbesondere  des  Patto  di 
fratellanza:  Felice  Albani.  Damit  erhält  seine  Zeitung 
naturgemäss  ebenfalls  eine  kollektivistische  Richtung.  In 
der  letzten  Nummer  vertheidigt  sich  das  Blatt  mit  allen 
Kräften  gegen  den  Vorwurf,  dem  Programm  des  „Meisters“ 
untreu  geworden  zu  sein,  weil  es  den  Kollektivismus  ver- 
fechte. Beides  sei  sehr  gut  zu  vereinigen. 


‘)  Libertä  ed  Assoziazione  — die  bekannte  Parole  Mazzinis. 


No.  30. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


369 


Es  ist  nun  aller  keineswegs  anzunehmen,  dass  die 
Kollektivsten,  auch  wenn  ihr  Einfluss  wächst,  etwa  gewillt 
wären,  die  in  sozialen  Dingen  Andersgläubigen  schroff  von  sich 
zu  stossen.  Im  Gegen theil,  man  bestrebt  sich  allseitig,  den 
Boden  gemeinsamen  Handels  nicht  unter  den  Füssen  zu 
verlieren,  man  fürchtet  Schismen  sehr.  Daher  betonen  die 
verschiedenen  sozialen  Richtungen  stets  mit  Nachdruck, 
dass  sie  ein  gemeinsames  Band  Zusammenhalte:  das  sei 
das  Streben  nach  politisch  radikal-demokratischer  Staats- 
verfassung , nach  „volkstümlichen“  politischen  Institu- 
tionen. Unter  dieser  Flagge  will  man  denn  auch  versuchen., 
die  sämmtlichen  in  Italien  bestehenden  republikanischen, 
demokratischen,  sozialistischen  und  Arbeiter-Vereine  zunächst 
zu  sammeln.  Dies  ist  der  Beschluss  des  Kongresses,  der  sich 
auf  die  Taktik  bezieht  und  ebenso  wie  in  der  oben  mit- 
getheilten,  auch  in  folgender  Tagesordnung  seinen  Ausdruck 
findet: 

„Der  Kongress  beschliesst,  dass  alle  Republikaner, 
welches  auch  die  wirtschaftliche  Richtung  sein  mag,  der 
sie  angehören,  wenn  sie  nur  die  Grundsätze  der  politischen 
Freiheit  und  ökonomischen  Gleichheit  anerkennen,  sich  als 
Brüder  betrachten,  sich  Toleranz  und  gegenseitige  Hilfe 
zusichern  und  vereint  dahin  streben,  den  gemeinsamen 
Idealen  zum  Siege  zu  verhelfen.“  Ferner  hat  der  Kongress 
eine  Spezialkommission  zu  dem  Zwecke  eingesetzt,  inner- 
halb 6 Monaten  mit  den  übrigen  nationalen  und  regionalen 
Arbeiterverbänden  in  Unterhandlung  zu  treten  behufs  Be- 
gründung einer  „Vereinigung  der  italienischen  Arbeiter“ 
(Federazione  dei  lavoratori  d’Italia)  und  zwar  auf  Grund 
der  Erwägung,  „dass  das  moderne  Leben  sich  ausdrückt  im 
Kampfe  des  Proletariats  gegen  den  Kapitalismus  zwecks 
Erlangung  wirthschaftlicher  Gerechtigkeit,  wozu  als  einziges 
Mittel  die  Besitznahme  der  politischen  Macht  tauglich  ist, 
sowie  dass  zu  diesem  Ende  das  gemeinsame  Vorgehen  aller 
italienischen  Arbeiter  nöthig  ist.“  Wie  man  sieht,  ist  der 
Rahmen,  in  den  man  eine  grosse  demokratische  Arbeiter- 
bewegung fassen  will,  thunlichst  weit  gesteckt.  Man  will 
vor  Allem  die  bereits  vorhandenen  Elemente  zusammen- 
schaaren,  in  der  Voraussicht  wohl,  dann,  wenn  erst  Alle 
unter  einen  Hut  gebracht  sind,  mit  Leichtigkeit  dem  kollek- 
tivistischen Sozialismus  ebenso  in  der  grösseren  Vereinigung 
zum  Siege  zu  verhelfen,  wie  jetzt  schon  innerhalb  des 
Patto  di  fratellanza. 

Der  dritte  wichtige  Beschluss  des  Kongresses  betrifft 
die  Art  und  Weise  der  Agitation  unter  den  bisher  noch 
völlig  unberührten  Volksmassen.  Er  bietet  nichts,  was 
besonderer  Erwähnung  werth  wäre:  es  wird  den  ein- 

zelnen Brüdervereinen  warm  empfohlen,  neue  Mitglieder  zu 
werben  und  neue  Arbeitervereine  zu  gründen,  wo  solche 
noch  nicht  bestehen;  in  sehr  abgelegenen  Orten  soll  ein 
besonderes  Augenmerk  darauf  gerichtet  werden,  Arbeiter- 
Abendschulen,  Fortbildungs-  und  gewerbliche  Fachkurse 
u.  dergl.  einzuführen,  „um  die  Masse  über  ihre  Rechte  und 
Pflichten  zunächst  aufzuklären“. 

So  ist  die  soziale  Bewegung  in  Italien  ohne  Zweifel 
in  ein  neues  Stadium  getreten.  Taktisch  das  eifrige  Be- 
streben, einen  Zusammenschluss  herbeizuführen,  zunächst 
unter  demokratisch-politischer  Flagge;  programmatisch  die 
Zurückdrängung  des  individualistischen  Mazzinianismus,  Vor- 
dringen des  sozialistischen  Kollektivismus.  Dass  dieser  kein 
Marxismus  ist,  geht  aus  dem  oben  mitgetheilten  Programm 
deutlich  hervor. 

Man  wird  mit  Interesse  die  soziale  Bewegung  in 
Italien  von  jetzt  ab  auch  bei  uns  verfolgen.  Mit  Span- 
nung darf  man  dem  XIX.  nationalen  Kongress  ent- 
gegensehen, der  in  Bologna  September-Oktober  1893  ab- 
gehalten werden  soll;  nicht  mehr  wie  bisher  nach  3, 


sondern  nur  nach  1'/?jähriger  Zwischenpause.  Auf  ihm 
wird  die  „Sozialistische  Arbeiterpartei  Italiens“  wahrschein- 
lich begründet  werden. 

Breslau.  Werner  Sombart. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Noch  ein  Wort  zum  Koalitionsrecht  der  Arbeiter 
in  Frankreich. 

Herr  Simmel l)  ist  auf  mancherlei  Umwegen  zu  dem 
Resultat  gelangt,  dass  dem  französischen  Arbeiter  das 
Recht  gebühre,  sich  in  Syndikaten  zu.sammenzuschliessen, 
ohne  durch  die  Arbeitgeber  darin  behindert  werden  zu 
dürfen.  Ohne  Zweifel  muss  jedes  Gesetz  aus  dem  Erfor- 
derniss des  Staatswohls,  besser  des  Allgemeinwohls  hervor- 
gehen, es  handelt  sich  nur  darum,  was  man  darunter  ver- 
stehen soll,  und  vor  Allem  darum,  was  die  herrschenden 
Klassen  darunter  verstehen  Ich  glaube  aber,  dass  es  ge- 
nügt, sobald  man  dem  Arbeiter  überhaupt  das  positive 
Recht,  sich  in  Syndikaten  zusammenzuschliessen,  zugesteht, 
sich  auf  den  Boden  der  positiven  Gesetzgebung  zu  stellen, 
um  den  Arbeitgebern  die  Pflicht  auferlegen  zu  müssen,  sie 
in  diesem  Recht  nicht  durch  Entlassungen  (resp  Nicht- 
anstellungen)  zu  beeinträchtigen. 

Man  muss  vor  Allem  zweierlei  Arten  von  Rechten 
unterscheiden.  Ich  habe  gewiss  das  Recht,  spazieren  zu 
gehen,  das  ist  aber  kein  positives  Recht;  kein  Gesetz 
spricht  mir  dieses  Recht  zu,  aber  auch  kein  Gesetz  spricht 
mir  dieses  Recht  ab.  Das  Recht,  „spazieren  gehen  zu 
dürfen“,  fällt  in  jene  Sphäre  meiner  Handlungen,  die  vom 
Gesetz  nicht  bestimmt  ist.  Ich  habe  aber  im  Allgemeinen 
das  Recht,  das  zu  thun,  was  mir  das  Gesetz  nicht  verbietet 
und  eben  deswegen  haben  alle  Andern  die  Pflicht,  mich 
darin  nicht  gewaltsam  zu  hindern,  denn  Gewalt  darf  nur 
der  Staat  brauchen,  jedes  Recht  auf  der  einen  Seite  ist 
Pflicht  auf  einer  andern,  die  Pflicht  erstreckt  sich  aber 
nur  so  weit,  als  das  Recht  geht.  Ich  habe  das  Recht,  auf 
einem  öffentlichen  Spazierweg  mich  auf  eine  Bank  zu 
setzen,  und  ein  Anderer  hat  das  Recht,  sich  ebenfalls  hin- 
zusetzen und  mir  vielleicht  dadurch  den  Aufenthalt  zu  ver- 
leiden. Ich  habe  gleichsam  nur  ein  negatives  Recht,  ich 
bin  nur  durch  das  Gesetz  nicht  verhindert,  mich  auf  diese 
Bank  zu  setzen,  der  Andere  darf  daher  nicht  von  mir  ver- 
langen, mich  zu  entfernen,  aber  er  hat  das  gleiche  Recht, 
auch  er  kann  sich  hinsetzen.  Wäre  die  Bank  mein,  dann 
würden  die  Gesetze  über  das  Eigenthum  mir  das  posi- 
tive Recht  geben,  sowohl  auf  der  Bank  zu  sitzen,  als  auch 
jeden  Andern  fortzuweisen.  Darnach  muss  auch  das  Koa- 
litionsrecht der  Arbeiter  gegenüber  den  Arbeitgebern  be- 
urtheilt  werden. 

Haben  die  Arbeiter  blos  das  negative  Recht,  sich  zu- 
sammenzuschliessen, weil  kein  Gesetz  besteht,  das  es  ihnen 
verbietet,  dann  dürfen  die  Arbeitgeber  sie  zwar  nicht  ge- 
waltsam daran  hindern,  aber  sie  können  ihrerseits  Alles 
das  dagegen  thun,  was  das  Gesetz  nicht  verbietet,  und 
dieses  verbietet  nur  Gewalt,  Betrug  u.  s.  w.,  in  der  Regel 
nicht  kontraktmässige  Entlassung  der  Arbeiter  aus  welchem 
Grunde  immer.  Auf  dem  Gebiete  der  durch  das  Gesetz 
nicht  beschränkten  Handlungen  kann  Jeder  thun,  was  er 
will.  Ist  aber  dem  Arbeiter  durch  ein  Gesetz  seine  Freiheit, 
sich  in  Syndikaten  zusammenzuschliessen,  gewährleistet, 
dann  ist  doch  wenigstens  dem  Geist  des  Gesetzes  nach 
allen  Andern  verboten,  dieses  Gesetz  durch  Gegenmass- 
regeln  illusorisch  zu  machen.  Es  wäre  doch  höchst  sonder- 
bar, dem  Einen  gesetzlich  ein  Recht  zuzugestehen  und 
einem  Anderen  wieder,  dass  er  dieses  Recht  thatsächlich 
zunichte  machen  kann;  ein  solches  Gesetz  hätte  gar  keinen 

1)  Vgl.  Simmel,  Ein  Wort  über  soziale  Freiheit  in  No.  27, 
S.  333  fg-  des  Sozialpolitischen  Central blatts. 


370 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  30. 


Sinn.  Wenn  aber  den  Arbeitgebern  das  Recht  zusteht, 
alle  Arbeiter,  die  an  Syndikaten  betheiligt  sind,  zu  ent- 
lassen, so  haben  sie  die  Macht,  es  den  Arbeitern  unmöglich 
zu  machen,  sich  an  ihnen  zu  betheiligen,  weil  die  Arbeiter 
dann  keinen  Verdienst  bekommen  können.  Wollte  man 
aber  die  Arbeiter  blos  gesetzlich  nicht  hindern,  sich  in 
Syndikaten  zusammenzuschliessen,  dann  war  kein  Gesetz 
noth wendig,  sondern  nur  eine  Aufhebung  aller  gesetzlichen 
Beschränkungen  dieser  Freiheit.  Dasselbe  gilt  in  Bezug 
auf  die  Freiheit  der  politischen  Wahlen;  diese  Freiheit  ist 
durch  das  Gesetz  nicht  nur  nicht  verhindert,  sondern  po- 
sitiv gewährleistet;  ihre  Beschränkung  ist  deswegen  ge- 
setzlich verboten.  Bietet  daher  das  vorhandene  Gesetz  in 
Frankreich  keine  Handhabe  gegen  die  Arbeitgeber,  Ent- 
lassungen von  Arbeitern  aus  oben  genanntem  Grunde  zu 
verhindern,  so  ist  es  eine  im  Geiste  des  Gesetzes  über  die 
Syndikate  der  Arbeiter  gelegene  Forderung,  eine  solche 
Handhabe  gesetzlich  zu  schaffen.  Mit  dem  Worte  persön- 
licher, sozialer  oder  menschlicher  Freiheit  lässt  sich  aber 
ebensowenig  etwas  begründen,  wie  mit  den  allgemeinen 
Menschenrechten.  Jeder  ist  soweit  frei,  als  ihn  nicht  Ge- 
setze des  positiven  Rechts,  der  Gesellschaft,  der  Sitte  be- 
schränken resp.  er  sich  durch  sie  beschränken  lässt.  Die 
Freiheit  ist  daher  allerdings  allein  ein  Produkt  historisch 
rechtlicher,  sozialer  und  ethischer  Entwicklung  der  Völker. 

v.  Schubert-Soldern. 


Zur  Frage  der  Einführung  der  obligatorischen  Berufs- 
genossenschaften in  der  Schweiz. 

Allgemein  fühlt  man  die  Nothwendigkeit  der  Organi- 
sation des  Gewerbewesens.  Die  alten  Zünfte  hatten  sich 
überlebt,  gegenüber  den  modernen  Betriebsformen  konnten 
sie  nicht  mehr  bestehen;  aber  der  grosse  Fehler  war,  dass 
man  nicht  den  neuen  Verhältnissen  entsprechende  Gebilde 
an  deren  Stelle  setzte,  so  dass  nun  eine  wilde,  für  das  Ge- 
werbe höchst  nachtheilige  Anarchie  entstand.  Wie  die 
neue  Organisation  vorgenommen  werden  soll,  darüber 
gehen  die  Meinungen  weit  auseinander.  Die  Einen  wollen 
alles  der  Freiwilligkeit  überlassen,  während  die  Anderen 
sich  einen  wirksamen  Erfolg  nur  von  obligatorischen 
Berufs  genösse  ns  cha  ft  en  versprechen.  Einer  der  rührig- 
sten Verfechter  der  letzteren  ist  der  Genfer  Favon.  In  der 
letzten  Session  der  eidgenössischen  Räthe  stellte  er  im 
Nationalrath  ein  Antrag  auf  Einführung  obligatorischer 
Berufsgenossenschaften,  welche  folgenden  Wortlaut  hatte: 

„Der  Bundesrath  ist  eingeladen,  Bericht  und  Anträge 
zu  stellen  über  die  Thunlichkeit,  den  Art.  31  der  Bundes- 
verfassung, der  den  Grundsatz  der  Handels-  und  Gewerbe- 
freiheit aufstellt,  zu  ändern,  um  die  Errichtung  von  obliga- 
torischen Berufsgenossenschaften  zu  ermöglichen,  welche 
die  Aufgabe  hätten: 

1 . die  Arbeitsverhältnisse  in  den  verschiedenen  Berufs- 
arten zu  reguliren; 

2.  die  Elemente  für  permanente  Schiedsgerichte  zu 
liefern,  welche  gesetzlich  alle  Anstände  zwischen 
Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  schlichten. 

Er  ist  insbesondere  eingeladen,  folgende  Punkte  zu 
prüfen: 

Ist  es  nützlich,  in  der  Schweiz  obligatorische  Berufs- 
genossenschaften zu  schaffen? 

Ist  es  vorzuziehen,  den  freien  Berufsgenossenschaften 
gesetzliche  Kompetenzen  einzuräumen,  um  in  jeden  Beruf 
zu  regeln: 

a)  den  Normalarbeitstag; 

b)  den  Minimallohn; 

c)  die  Lehrlingsverhältnisse,  und  um  über  die  strikte 
Vollziehung  des  Fabrikgesetzes  wie  auch  über  die 
sanitären  Verhältnisse  in  den  Werkstätten  zu  wachen. 

Zur  Begründung  brachte  Favon  nach  französischen 
Zeitungen  u.  A.  folgendes  vor: 


Die  Mittelklasse  verschwindet,  der  unabhängige  Ar- 
beiter, der  Fatjonschneider,  der  Dorfschuhmacher  haben 
schon  längst  der  Konfektion  weichen  müssen;  ähnlich  er- 
geht es  dem  Handweber,  sie  alle  werden  durch  die  Gross- 
industrie erdrückt.  Wie  lange  wird  es  dauern,  bis  der 
Bäcker  der  Brodfabrik  Platz  machen  muss?  Die  Mittel,  um 
trei  und  unabhängig  zu  leben  nehmen  immer  mehr  ab,  die 
Arbeiter  werden  je  länger  je  mehr  vom  Kapital  abhängig. 
Entweder  zu  verhungern  oder  sich  allen  Lohnbedingungen 
zu  unterwerfen,  das  ist  je  länger  je  mehr  das  Loos  der 
Arbeiter.  Einst  wurde  man  mit  einem  kleinen,  durch  per- 
sönliche Arbeit  erworbenen  Kapital  unabhängig,  heute  kann 
dieses  gleiche  Kapital  nur  fruchtbringend  werden,  wenn  es 
sich  unter  der  Form  von  Aktien  oder  Obligationen  der 
Masse  des  anonymen  Kapitals  anschliesst.  Dieses  saugt  die 
Ersparnisse  der  Kleinen  auf  und  es  bleiben  auf  der  anderen 
Seite  nur  noch  die  Lohnarbeit. 

Die  Konzentration  der  Kapitalien,  die  Organisation 
der  Arbeiter  hat  die  Bildung  von  Berufsgenossenschaften 
veranlasst.  Organisation  für  den  Krieg,  die  Strikes,  die 
heftigen  Debatten,  die  Drohungen,  der  Appell  an  die  revo- 
lutionäre Solidarität,  das  sind  die  Aussichten  für  die  Zukunft. 

Es  ist  nothwendig,  in  diese  Verhältnisse  einzugreifen. 
Freiwillige  Berufsgenossenschaften  taugen  hier  nichts, 
man  muss  den  Entscheiden  der  Berufsgenossenschaften  ge- 
setzliche Sanktion  geben.  Man  muss  sich  sagen,  dass  der 
Lohn  der  Arbeiter  nicht  eine  Waare  ist,  welche  dem  An- 
gebot und  der  Nachfrage  unterworfen  ist;  er  soll  nicht  die 
Grenze  der  Ungenügenden  erreichen,  jeder  muss  leben 
können.  Die  freiwillige  Berufsgenossenschaft  erreicht  das 
Ziel  nicht,  sondern  nur  die  obligatorische. 

Die  Befürchtungen,  welche  man  wegen  der  auswärti- 
gen Konkurrenz  hegt,  sind  haltlos,  denn  es  handelt  sich  ' 
hier  hauptsächlich  um  die  Konkurrenz  der  einheimischen 
Gewerbetreibenden  unter  sich.  Diese  muss  bekämpft 
werden.  Die  Organisation  soll  zu  diesem  Zwecke  zunächst  . 
ortsweise,  dann  kantonsweise,  dann  für  die  ganze  Schweiz 
und  schliesslich  international  erfolgen.  Man  überlasse  den 
Kantonen  das  Recht,  die  Berufsgenossenschaft  obligatorisch 
zu  erklären;  es  wird  natürlich  nur  da  geschehen  können, 
wo  die  Vorbereitungen  schon  vorhanden  sind.  Das  Beispiel 
wird  Nachahmung  finden. 

Indem  wir  die  Lehrzeit  reguliren,  verschliessen  wir 
den  Beruf  nicht  wie  zur  Zeit  der  Zünfte;  wir  verlangen  : 
nur  Garantie  für  die  berufliche  Erziehung,  um  tüchtige  i 
und  unabhängige  Arbeiter  zu  schaffen.  Was  den  Normal-  I 
arbeitstag  betrifft,  so  sehen  wir,  dass  derjenige  von  elf  < 
Stunden  zu  lang  ist.  Das  Gesetz  aber  kann  nur  allgemeine 
Bestimmungen  aufstellen,  die  Berufsgenossenschaften  sind 
dagegen  dazu  wie  geschaffen,  um  die  Arbeitszeit  den  An- 
forderungen der  verschiedenen  Berufsarten  anzupassen. 
Was  den  Lohn  betrifft,  so  ist  es  nothwendig,  dass  er  den 
Mann  mit  seiner  Familie  ernähre,  von  diesem  Gesetz  aus 
muss  die  Bestimmung  des  Minimallohnes  ausgehen.  — 

In  der  Diskussion  fand  der  Antrag  Favon  Unterstützung 
beim  Staatsrath  Comtesse  aus  Neuenburg  und  Steiger  aus 
St.  Gallen.  Letzterer  erinnerte  an  die  Erfolge  des  grossen 
ostschweizerischen  Stickereiverbandes.  Bekämpft  wurde 
der  Antrag  von  Tissot  aus  Neuenburg  und  vom  Bundesrath 
Dr.  Deucher.  Ersterer  stellte  sich  auf  den  Standpunkt  der 
vollen  unbeschränkten  Gewerbefreiheit.  Letzterer  verwies 
aut  die  bevorstehende  Revision  des  Artikels  der  Bundes- 
verfassung, der  von  der  Handels-  und  Gewerbefreiheit 
handelt,  wobei  denn  auch  die  Frage  der  Einführung  der 
obligatorischen  Berufsgenossenschaften  studirt  werden  soll. 

In  Folge  dessen  wurde  der  Antrag  mit  grosser  Mehrheit 
abgelehnt. 

Soviel  lässt  sich  heute  schon  sagen,  dass  die  reaktio- 
nären zünftlerischen  Regungen,  wie  sie  sich  in  Handwerker- 
kreisen hie  und  da  geltend  machen,  keinen  grossen  Erfolg 
haben  werden.  Von  einem  Obligatorium  der  Berufsge- 
nossenschaften in  der  Weise,  dass  von  Staatswegen  alle 
Gewerbe  zwangsweise  in  Berufsgenossenschaften  organisirt 
werden,  kann  nicht  die  Rede  sein,  noch  viel  weniger  wird 


No.  30. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


371 


I 

der  von  einzelnen  Berufsverbänden  verlangte  Befähigungs- 
nachweis eingeführt  werden.  Wohl  aber  wird  man  den 
gewerblichen  Interessen  verbänden,  welche  bereits  bestehen 
oder  sich  neu  bilden,  auf  ihr  Verlangen  gewisse  Kochte  für 
Regelung  der  Arbeitszeit,  des  Lohnes,  der  Lehrlingsverhält- 
nisse und  der  Gewerbepolizei  ertheilen.  Es  ist  aber  klar, 
dass  dies,  weil  sich  die  Verbände  meistens  über  mehrere 
Kantonsgebiete  erstrecken,  nicht,  wie  Favon  vorschlug,  von 
den  Kantonen,  sondern  einzig  nur  vom  Bund  zu  geschehen 
hat.  Daneben  sind  allerdings  gleichzeitig  das  Lehrlings- 
wesen, die  Sühn-  und  Schiedsgerichte  und  die  Gewerbepolizei 
analog  der  Fabrikpolizei  von  Gesetzes  wegen  allgemein  zu 
reguliren. 

Aarau.  E.  Naef. 


Obligatorische  Fortbildungsschulen  für  Kellnerlehrlinge 
und  Laufburschen  in  Stuttgart.  Durch  § 120  des  Reichsgesetzes 
vom  1.  Juni  1890,  betreffend  die  Abänderung  der  Gewerbeord- 
nung, ist  bekanntlich  die  Möglichkeit  geboten,  durch  statuta- 
rische Bestimmung  seitens  einer  Gemeinde  für  die  männlichen 
Arbeiter  unter  18  Jahren  auch  unter  den  Kellnern,  Hausknechten 
und  Laufburschen  in  Wirthschaften,  Köche  u.  s.  w.  die  Ver- 
pflichtung zum  Besuch  einer  Fortbildungsschule  zu  begründen. 
Welche  Motive  manche  Behörden  bei  Benutzung  dieser  Bestim- 
mung leiten,  davon  geben  folgende  Verhandlungen  zwischen 
Stuttgarter  Behörden  eine  Vorstellung.  Der  dortige  Gesammt- 
kirchengemeinderath  war  zu  der  Ueberzeugung  gelangt,  dass 
gerade  in  Bezug  auf  diese  jungen  Leute,  welche  das  ganze 
Jahr,  Sonntags  wie  Werktags  unausgesetzt  angespannt  und  der 
sittlichen  und  religiösen  Verwahrlosung  preisgegeben  sind,  die 
genannte  gesetzliche  Bestimmung  als  ein  geeignetes  Mittel 
dienen  könnte,  um  sie  unter  einen  sittlichen  erziehlichen  Ein- 
fluss zu  bringen,  und  richtete  daher  das  Ersuchen  an  die  Stutt- 
garter Gemeindebehörde,  die  Einrichtung  einer  solchen  zwangs- 
weisen Fortbildungsschule  in  Erwägung  zu  ziehen.  Er  würde 
sich  seinerseits,  beim  Zustandekommen  einer  solchen  Einrich- 
tung gerne  verpflichten,  anschliessend  an  den  Stundenplan  der 
Schule  eine  freiwillige  kirchliche  Unterweisung  in  Form 
eines  Lehrlingsgottesdienstes  oder  einer  Christenlehre  etwa  durch 
den  Jugendgeistlichen  anzufügen,  so  dass  den  jungen  Leuten 
zugleich  ein  Ersatz  für  den  sonntäglichen  Kirchenbesuch,  der 
ihnen  ja  thatsächlich  unmöglich  gemacht  ist,  geboten  wäre.  Die 
Zuschrift  des  Gesammtkirchengemeinderathes  wurde  in  der 
Sitzung  des  Stuttgarter  Gemeinderathes  vom  14.  Juli  d.  J.  mit 
dem  Anfügen  verlesen,  dass  der  Ortsschulrath  für  die  evange- 
lische Volksschule  u.  s.  w.  sich  am  20.  Juni  im  Grundsatz  gut- 
achtlich dafür  ausgesprochen  habe,  dass  hier  von  dem  Abs.  3 
des  § 120  der  Gewerbeordnung,  wonach  durch  statutarische 
Bestimmung  einer  Gemeinde  oder  eines  weiteren  Kommunal- 
verbandes für  männliche  Arbeiter  unter  18  Jahren  die  Verpflich- 
tung zum  Besuch  einer  Fortbildungsschule  begründet  werden 
kann,  Gebrauch  gemacht  werden  solle,  und  dass  dem  Gesammt- 
kirchengemeinderath  unter  Mittheilung  dieser  gutachtlichen 
Aeusserung  zu  erwidern  sein  werde,  dass  man  auf  die  von  ihm 
aufgeworfene  Frage  zurückkommen  werde,  wenn  die  zunächst 
anhängige  Frage  der  Einführung  eines  obligatorischen  Fort- 
bildungsunterrichtes entschieden'  sei.  Von  sämmtlichen  Mit- 
gliedern des  Kollegiums  wurde  das  Bedtirfniss  eines  obligato- 
rischen Fortbildungsunterrichtes  in  Stuttgart  für  junge  Leute, 

I welche  eine  Innungs-  oder  andere  Fortbikfungs-  oder  Fachschule 
nicht  freiwillig  besuchen,  ebenfalls  prinzipiell  anerkannt.  An- 
dererseits wurde  aber  auch  geltend  gemacht,  dass  man  dafür 
zu  sorgen  hätte,  dass  die  neue  Einrichtung  irgend  welchen 
konfessionellen  Beigeschmack  nicht  erhält  und  nicht  ein  gewisser 
Zwang  auf  die  Theilnehmer  der  obligatorischen  Fortbildungs- 
schule zum  Besuche  von  Gottesdiensten  u.  s.  w.  ausgeiibt  wird. 
Die  Schule  müsse  sich,  von  Religions-  und  Fachunterricht 
grundsätzlich  absehend,  auf  allgemein  bildende  Fächer  und 
insbesondere  auf  das  in  der  Schiffe  Gelehrte  beschränken  Nur 
zwei  Redner  machten  gegen  die  Ertheilung  dieses  Unterrichtes 
an  Werktagen  das  Bedenken  geltend,  dass  die  jetzt  schon  be- 
stehenden Schwierigkeiten,  ordentliche  Lehrer  bei  Handwerkern 
zu  finden,  sich  dann  noch  erheblich  vermehren  würden.  Der 
Antrag  des  Vorsitzenden,  dem  Gesammtkirchengemeinderath  in 
der  erwähnten  Weise  zu  erwidern,  wurde  hierauf  angenommen. 

Grossbetriebe  im  französischen  Detailhandel.  Das  Be- 
streben, dem  Ueberhandnehmen  des  kapitalkräftigen  Gross- 
betriebes (Riesenmagazine)  beim  Detailhandel,  welches  die 
kleinen  Kaufleute  ruinirt,  in  Frankreich  und  namentlich  in 
Paris  entgegenzuarbeiten,  hat  zur  Vorlage  einer  Reform  der 
Geschäftssteuer  geführt,  die  zur  Zeit  im  Pariser  Kammeraus- 
schusse  geprüft  und  behandelt  wird.  Der  Abgeordnete  Terrier 
theilte  letzthin  dem  Ausschüsse  die  von  der  Finanzverwaltung 
vorgeschlagene  Gruppirung  der  Artikel  in  den  grossen  Kauf- 
läden mit.  Darnach  sollten  zehn  Gruppen  für  Nahrungsmittel, 

I Toilettegegenstände,  Möbel,  Spielwaaren,  Wagen,  Kleider,  Er- 
ziehung, Hausgeräthe,  Kunstgegenstände  und  Gewerbe  geschaffen 
werden,  die  für  die  Berechnung  der  Patentsteuer  (Gewerbe- 


steuer) in  Betracht  zu  ziehen  wären.  Der  Ausschuss  fand  aber 
diese  Gruppen  zu  weit  und  genehmigte  deshalb  die  von  dem 
Pariser  Abgeordneten  Mesureur  in  Vorschlag  gebrachte  Ein- 
theilung  in  19  Gruppen.  Dabei  wurden  noch  folgende  Bestim- 
mungen angenommen.  Für  Geschäfte,  die  bis  zu  50  Angestellte 
beschäftigen,  bleibt  die  Taxe  ohne  Rücksicht  auf  die  Anzahl 
der  zum  Verkaufe  gelangenden  Artikel  auf  Frcs.  200  angesetzt. 
Für  Geschäfte  mit  51  bis  100  Angestellten  sind  für  jede  der 
vorhandenen  Waarengruppen  Frcs.  100,  für  Geschäfte  mit  101 
bis  200  Angestellten  Frcs.  200,  für  Geschäfte  mit  201  bis  300 
Angestellten  Frcs.  400,  für  solche  mit  301  bis  600  Angestellten 
Frcs.  1000,  für  die  mit  weniger  als  1800  Angestellten  Frcs.  1500, 
für  die  mit  weniger  als  2100  Angestellten  Frcs.  2000  und  für 
die  mit  mehr  als  2100  Angestellten  Frcs.  3000  einzuheben. 
Auch  die  Abgabe,  die  nach  der  Miethe  berechnet  wird,  soll  eine 
im  Verhältniss  zu  der  Zahl  der  Angestellten  stehenden  Steige- 
rung erfahren,  so  zwar,  dass  die  Magazine,  die  zwischen  50  und 
300  Angestellte  haben,  den  zehnten,  die,  welche  zwischen  300 
und  700  Angestellte  haben,  den  achten,  und  die  grossen  Ge- 
schäfte mit  mehr  Angestellten  den  siebenten  Theil  der  Miethe 
als  Zuschlag  zu  entrichten  hätten.  Die  Geschäftshäuser,  die, 
wie  z.  B.  die  Möbelhändler  und  Wagenfabrikanten,  grosse  Räume 
nöthig  haben,  sollen  dagegen  nur  den  zwanzigsten  Theil  der 
Miethe  zu  entrichten  haben. 

Schweizerischer  Arbeiterbund  und  schweizerisches 
Arbeitersekretariat.  Soeben  ist  der  vierte  und  fünfte 
Jahresbericht  des  leitenden  Ausschusses  des  schweizerischen 
Arbeiterbundes  und  des  schweizerischen  Arbeitersekretariats 
mit  dem  gedruckten  Protokoll  der  Verhandlungen  des 
Arbeitertages  in  Olten  zu  Ostern  1890  erschienen.  Der 
Jahresbericht  des  Ausschusses  behandelt  die  Stellungnahme 
des  Arbeiterbundes  zu  den  verschiedenen  in  den  eidge- 
nössischen Käthen  gestellten  sozialpolitischen  Motionen,  von 
denen  im  Sozialpolitischen  Centralblatt  mehrmals  die  Rede 
war.  Bezüglich  der  projektirten  Kranken-  und  Unfallver- 
sicherung und  der  in  der  Arbeiterschaft  abweichenden 
Meinungen  über  die  Ausdehnung  der  Versicherungspflicht 
warnt  der  Ausschuss,  die  Nebensache  zur  Hauptsache  zu 
machen  und  ermahnt  die  Arbeiter,  ihre  ganze  Kraft  gegen 
die  prinzipielle  Gegnerschaft  zu  konzentriren.  Da  es  sich 
hier  nicht  um  eine  politische  Streitfrage  handle,  sei  zu  er- 
warten, dass  der  schweizerische  Arbeiterbund  in  allen  seinen 
verschiedenen  Sektionen  für  die  gesetzliche  Durchführung 
des  Versicherungsgedankens  eintrete,  welcher  später,  wie  zu 
hoffen  sei,  auch  auf  die  wegen  Alters  und  Invalidität  arbeits- 
unfähigen Existenzen  hin  Ausdehnung  finde.  Dann  erst  werde 
man  sagen  können,  dass  die  grössten  Härten  und  Unbilligkeiten 
des  gegenwärtigen  Produktionssystems  von  Staats  wegen 
beseitigt  seien. 

Mit  Genugthuung  wird  der  Erhöhung  der  vom  Bunde 
gewährten  Subventionssumme  für  das  schweizerische 
Arbeitersekretariat  auf  20  000  Frcs.  erwähnt,  wodurch  die 
Anstellung  eines  französischen  Adjunkten  ermöglicht 
wurde.  Der  leitende  Ausschuss  bemerkt,  es  werde  der 
Förderung  der  gemeinsamen  Interessen  aller  Arbeiter  nur 
dienlich  sein,  wenn  die  Arbeiterorganisationen  der  welschen 
Schweiz  sich  zusammenthun,  sich  mehren  und  stärken,  in 
lebendigen  Kontakt  zu  einander  treten  und  dadurch  den 
Boden  der  öffentlichen  Meinung  zu  Gunsten  der  Arbeiter- 
frage bearbeiten.  Aber  der  Romanische  Arbeiterbund 
müsste  ein  Glied  des  allgemeinen  schweizerischen  Arbeiter- 
bundes sein  und  bleiben  und  in  diesem  die  ihm  mit  allen 
anderen  Sektionen  des  Bundes  gemeinsame  Organe  haben. 
„Wir  wollen  nicht  einen  welschen  und  einen  deutsch- 
schweizerischen Arbeiterbund,  wir  wollen  nicht  eine  Er- 
rungenschaft, welcher  die  gesammte  schweizerische  Arbeiter- 
schaft bereits  manchen  Erfolg  verdankt,  wieder  preisgeben 
und  uns  in  Sonderbünde  auflösen.“  Leider  scheinen  diese 
Ermahnungen  wenig  Eindruck  zu  machen.  Die  Sonderbe- 
strebungen der  romanischen  Sektionen  machen  sich  heute 
mehr  denn  je  bemerkbar  und  die  Trennung  ist  fast  unver- 
meidlich. 

Das  schweizerische  Arbeitersekretariat  beklagt  sich  in 
seinem  Berichte,  dass  die  Arbeiterpresse  von  seinen  statis- 
tischen Arbeiten  so  wenig  Notiz  nehme.  Dasselbe  hat  im 
Berichtsjahre  eine  Enquete  über  die  Stellungnahme  der 
Arbeiterschaft  zur  Bundesgesetzgebung  betreffend  Kranken- 
und  Unfallversicherung  durchgeführt,  welche  für  die  gesetz- 
geberischen Arbeiten  werthvolles  Material  bietet,  da  man 
es  hier  mit  Meinungs-  und  Willensäusserungen  zu  thun  hat, 
die  unmittelbar  aus  der  Masse  der  Arbeiterschaft  stammen. 
Eine  sehr  praktisch  ausgearbeitete  Instruktion  des  Sekre- 
tariats hat  die  Beantwortung  der  Fragebogen  sehr  er- 
leichtert. Es  sind  im  Ganzen  767  Fragehefte  beantwortet 
worden. 


372 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  30 


Der  neuangestellte  romanische  Sekretär,  welcher  sein 
Bureau  in  Biel  eingerichtet  hat,  aber  nach  Bedürfniss  auch 
aufs  Hauptbureau  nach  Zürich  berufen  werden  kann,  hat 
in  der  Uhren-Arbeiterbewegung  sehr  vieles  zur  zweck- 
mässigen Entwicklung  der  Arbeiterorganisation  gethan.  Es 
zeigt  sich,  dass  die  Vermengung  ganz  verschiedener  Ele- 
mente — Geschäftsinhaber,  Arbeiter  auf  eigene  Rechnung 
und  Lohnarbeiter  im  gleichen  Verband,  eine  durchaus 
falsche  Organisationsgrundlage  bildet. 

Von  den  Beamten  des  Arbeitersekretariats  wurden  im 
Ganzen  52  Vorträge  gehalten.  Die  Zahl  der  notirten 
Audienzen  ist  357,  diejenigen  an  Abenden  und  Sonntagen 
nicht  gerechnet.  Die  im  Berichtsjahr  vom  Arbeitersekretariat 
durchgeführte  Lohnstatistik  in  Winterthur  liegt  in  den 
tabellarischen  Zusammenstellungen  bereits  vor,  doch  ist 
noch  eine  Umarbeitung  nothwendig.  Im  neuen  Arbeits- 
programm figurirt  eine  Untersuchung  über  die  Einwirkung 
der  Krisen  auf  die  Arbeitsverhältnisse,  speziell  der  Krisen 
in  der  Uhrmacher-  und  Stickerindustrie.  In  der  letzten 
Sitzung  des  Bundesvorstandes  ist  das  Arbeitersekretariat 
eingeladen  worden,  den  vorkommenden  Verletzungen  des 
Vereinsrechts  der  Arbeiter  Aufmerksamkeit  zu  schenken, 
darüber  Akten  zu  sammeln  und  dem  eidgenössischen  Justiz- 
departement resp.  dem  Bundesrathe  jeweilen  davon  Mit- 
theilung zu  machen. 


Arbeiterzustände. 

Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter  beim  preussischen 

Bergbau. 

Eine  mechanisch  aus  den  neuesten  Jahresberichten 
der  preussischen  Gewerbeinspektoren  und  Bergbehörden 
für  1891  ausgeschriebene  Notiz  über  die  Zahl  der  jugend- 
lichen Arbeiter  auf  den  preussischen  Bergwerken,  wie 
sie  letzthin  die  Runde  durch  die  Tagespresse  machte, 
dient  der  sozialen  Erkenntniss  sehr  wenig.  An  dieser  Stelle 
wird  deshalb  auf  die  Wiedergabe  der  blossen  Zahlen  für 
1891  verzichtet  und  im  Nachfolgenden  versucht,  mit  Zu- 
hilfenahme früherer  Berichte  eine  vollständigere  Uebersicht 
über  die  Ausnutzung  jugendlicher  Arbeitskräfte  in  den  ge- 
sammten  Bergwerken  des  Königsreichs  Preussen  zu  geben. 
Diese  Uebersicht  kann  erst  mit  dem  Jahre  1879  beginnen, 
weil  erst  von  diesem  Zeitabschnitt  ab  gleichzeitig  mit  den 
damals  auf  Grund  der  1878  er  Gewerbeordnungsnovelle  zu- 
erst erscheinenden  Fabrikinspektorenberichten  ausGesammt- 
deutschland  eine  Veröffentlichung  der  einschlägigen  Zahlen 
stattfand.  Eine  Lücke  ergiebt  sich  sodann  noch  für  das 
Jahr  1885.  In  diesem  Jahre  verliess  man  das  System,  nach 
welchem  die  Berichte  der  Fabrikinspektoren  und  Bergbe- 
hörden gemeinsam  in  extenso  an  einer  Stelle  veröffentlicht 
wurden  und  ging  zu  den  sogenannten  „Amtlichen  Mitthei- 
lungen“ aus  den  Berichten  über,  zu  schmal  gehaltenen 
Auszügen,  bei  welchen  die  Berichte  der  Bergbehörden  gar 
nicht  mehr  berücksichtigt  wurden.  Erst  die  vom  Jahre  1888 
ab  wieder  separat  herausgegebenen  Jahresberichte  der 
preussischen  Aufsichtsbeamten  bringen  wieder  die  Fest- 
stellungen der  Bergbehörden,  und  zwar  auch  rückwärts  bis 
1886  einschliesslich.  Vielleicht  ist  es  einer  amtlichen  Stelle 
möglich,  mindestens  die  Lücke  für  1885  nachträglich  noch 
summarisch  auszufüllen.  Nach  unserer  Zusammenstellung 
zählte  man  nun: 


im 

Jahre 

Gesammt- 

belegschaft 

kindliche 

Arbeiter 

j ugendliche 
Arbeiter 

jugend- 

liche 

Arbeiter 

über- 

haupt 

m. 

w. 

zus. 

m. 

w. 

ZUS. 

1879 

1878:  232,064 

? 

? 

497 

? 

? 

6,703 

7,200 

1880 

? 

? 

? 

521 

? 

? 

7,822 

8,343 

1881 

? 

? 

? 

492 

? 

? 

8,090 

8,582 

1882 

? 

? 

p 

576 

? 

p 

8,609 

9,185 

1883 

p 

578 

68 

646 

8,855 

526 

9,381 

10,027 

1884 

? 

447 

23 

480 

8,818 

504 

9,322 

9,802 

1885 

? 

? 

? 

P 

? 

P 

P 

P 

1886 

? 

287 

26 

313 

7,288 

486 

7,774, 

8,087 

1887 

> 

293 

31 

324 

7,778 

546 

8,324 

8,648 

1888 

? 

263 

23 

286 

9,010 

538 

9,548 

9,834 

1889 

317,124 

283 

24 

307 

9,827 

544 

10,371 

10,678 

1890 

341,931 

297 

32 

329 

1 1 ,007 

732 

11,739 

12,068 

1891 

361,508 

268 

28 

296 

12,031 

653 

12,684 

12,980 

In  dieser  Uebersicht  offenbart  sich  eine  allmähliche 
aber  sehr  langsame  Verbesserung  der  Statistik  preussi- 
scher  Bergarbeiter.  Die  jugendlichen  Arbeiter  werden 
erst  vom  Jahre  1883  ab  nach  dem  Geschlecht  getrennt,  und 
regelmässige  Angaben  über  die  Stärke  der  Gesammtbeleg- 
schaft werden  erst  von  1889  ab  gemacht.  Nun  ist  aber 
nicht  blos  die  Ziffer  der  Gesammtbelegschaft,  sondern 
auch  die  Zahl  der  erwachsenen  männlichen  und  weib- 
lichen Arbeiter  getrennt  unbedingt  nothwendig  zur  rich- 
tigen Beurtheilung  der  Veränderungen,  welche  die  Ziffern 
der  jugendlichen  Arbeiter  von  Jahr  zu  Jahr  erleiden.  Es 
wäre  dringend  zu  wünschen,  dass  die  Arbeiterstatistik  der 
preussischen  Bergwerke,  die  ausserdem  die  verschiedenen 
Grubenarten  und  Bezirke  von  einander  trennen  müsste,  in 
diesen  Richtungen  künftig  gründlich  vervollkommnet  würde. 
Nachdem  dies  vorausgeschickt  ist,  kann  zu  einer  kurzen 
Erläuterung  unserer  Tabelle  übergegangen  werden.  Wenn 
es  zugleich  gestattet  ist,  die  uns  für  1878  in  den  Berichten 
vorhandene  Zahl  der  Gesammtbelegschaft  auch  für  1879 
als  ungefähr  zutreffend  anzunehmen,  so  ergiebt  sich  in 
erster  Linie,  dass  seit  1879  eine  Vermehrung  der  Gesammt- 
belegschaft nur  um  55  pCt.,  dagegen  eine  solche  der 
jugendlichen  Arbeiter  überhaupt  um  nicht  weniger  als 
80  pCt.  stattgefunden  hat  - eine  sehr  ungesunde  Erschei- 
nung, besonders  beim  Bergbau!  Allerdings  rührt  dieses 
Gesammtergebniss  von  der  beinahe  1 00  prozentigen  Zu- 
nahme der  jugendlichen,  14 — 16jährigen  Arbeiter  her,  wäh- 
rend die  Zahl  der  kindlichen,  12 — 14jährigen  Arbeiter  im 
Ganzen  abnahm,  bis  1888  beinahe  stetig,  um  1889  90  wieder 
etwas  anzuschwellen  und  1891  von  Neuem  abzunehmen. 
Aber  es  ist  jedenfalls  eine  hygienische  Anomalie  ersten 
Ranges,  dass  auf  preussischen  Bergwerken  überhaupt  noch 
ca.  300  Kinder,  und  darunter  ca.  30  Mädchen,  wenn  auch 
angeblich  mit  den  leichtesten  Arbeiten  und  lediglich  über 
Tage,  beschäftigt  werden  können.  Ferner  ist  die  regel- 
mässige Zunahme  weiblicher  jugendlicher  Kräfte  von  14 
bis  16  Jahren  kein  erfreuliches  Symptom.  Der  amtliche  • 
Kommentar  für  1891  meint,  die  Erscheinung  fände  u.  A. 
„in  dem  Bestreben  der  Zechenverwaltungen,  angesichts  j 
der  hohen  Löhne  für  Erwachsene  durch  Annahme  jugend- 
licher Arbeiter  Ersparnisse  zu  erzielen,  ihre  Erklärung“.  ! 
Die  volksthümliche  Sozialpolitik  kann  sich  aber  kaum  bei 
dieser  „Erklärung“  beruhigen.  An  dieser  Stelle  müssen  J 
diese  kurzen  Erläuterungen  zu  dem  erstmaligen  Versuch,  , 
eine  nach  Möglichkeit  vollständige  Uebersicht  über  die 
Entwicklung  der  jugendlichen  Arbeit  auf  preussischen 
Bergwerken  aufzustellen,  genügen.  Eingehendere  For- 
schungen über  das  Schwanken  der  einzelnen  Ziffern  in 
den  einzelnen  Jahren,  Bezirken  und  Grubenkätegorien  sind 
an  andere  Stelle  und  auf  die  Zeit  zu  verweisen,  in  welcher  ' 
die  preussischen  Bergbehörden  eine  vollkommenere  Ar- 
beiterstatistik liefern  werden,  nachdem  ihnen  das  Bild  \ 
der  gegenwärtigen,  unvollkommenen  zum  ersten  Male  vor-  1 
gehalten  worden  ist. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Bergarbeiterbewegung  in  Rheinland- Westfalen  und  im 
Saarrevier.  Neuerlich  ist  die  Bergarbeiterbewegung  in  West- 
deutschland aus  zwei  Ursachen  wieder  besonders  lebhaft  ge- 
worden Zunächst  fährt  eine  Anzahl  von  Zechen  fort,  mit  Hin- 
weisen auf  die  Misslichkeit  der  allgemeinen  wirthschaftlichen 
Lage  Arbeiter  zu  entlassen  und  die  Löhne  der  Beschäftigten  zu 
verringern.  Namentlich  das  Organ  der  westfälischen  Stein- 
kohlengrubenbesitzer, der  „Glückauf“  in  Essen  fordert  ganz 
offen  zu  Arbeiterentlassungen  auf,  indem  es  schreibt:  „Die  vor- 
handene Arbeiterzahl  steht  in  gar  keinem  Verhältnisse  zur  För- 
derung, und  es  ist  unbedingte  Pflicht  der  Grubenverwaltungen, 
die  erstere  ganz  energisch  zu  reduziren.  Sie  können  es  mit 
gutem  Gewissen  thun,  denn  sie  sind  nicht  schuld  daran,  dass 
dieselbe  so  über  Gebühr  gestiegen  ist.  Thun  sie  das  nicht,  dann 
tragen  sie  selber  die  Verantwortung,  wenn  die  Rentabilität  der 
Bergwerke  binnen  Kurzem  in  noch  ungünstigere  Bahnen  kommt, 
wie  sie  früher  war.“  Diese  Aulforderung  scheint  besonders  be- 
folgt worden  zu  sein  auf  der  Zeche  Herkules  bei  Essen;  denn 
die  Belegschaft  dieser  Grube  hat  wegen  unerwarteter  Kündigung 
einer  Anzahl  Kameraden  schon  mehrfach  erregte  Versammlungen 
abgehalten.  Ueber  die  letzte  vom  17.  Juli  berichtet  die  „Köln. 
Volksztg.“  Folgendes:  „Zunächst  berichtete  ein  Bergmann  über 
die  am  Mittwoch  stattgehabte  Besprechung  der  Deputation  mit 


No.  30. 


S< )ZIALPOLITISCHES  CENTRAT, BLATT. 


373 


dem  Herrn  Grubenrepräsentanten  Funke.  Letzterer  sei  den  zu 
ihm  entsandten  Bergleuten  in  so  freundlicher  Weise  begegnet, 
wie  man  das  von  keinem  Beamten,  selbst  nicht  dem  untersten, 
bisher  erfahren  habet!)..  Die  Deputation  habe  die  Wünsche  der 
Belegschaft  in  Bezug  auf  die  grossen  Wagen,  auf  das  Abbrechen 
der  Gedinge,  die  Verantwortlichkeit  für  gelieferte  Gezähestücke, 
Schichtdauer  u.  s.  w.  vorgebracht,  und  von  Herrn  Funke  die 
Erwiderung  erhalten,  dass  das  Vorgebrachte  doch  nur  unter- 
geordneter Natur  sei  (!).  Eine  bindende  Zusage  habe  Herr  Funke 
nicht  geben  wollen,  jedoch  bemerkt,  dass  ihm  sein  Entgegen- 
kommen von  den  Arbeitern  nicht  gut  gelohnt  sei.  Das  Eingehen 
auf  die  früher  vorgebrachten  Wünsche  derselben  habe  anscheinend 
dahin  geführt,  dass  er  jetzt  eine  grosse  Anzahl  Sozialdemokraten 
auf  der  Zeche  habe.  Letztere  Ansicht  des  Herrn  Grubenreprä- 
sentanten bezeichnete  Redner  als  nicht  zutreffend.  Ein  folgender 
Redner  theilte  mit,  dass  er  am  Freitag  die  Kündigung  mit  vielen 
anderen  Kameraden  erhalten  habe,  tro  tzdem  er  bereits  sieben 
Jahre  auf  „Herkules“  sei,  sich  niemals  etwas  habe  zu  Schulden 
kommen  lassen  und  sechs  Kinder  zu  versorgen  habe.  Einen 
Grund  für  die  Kündigung  habe  man  ihm  nicht  mittheilen  wollen; 
er  werde  denselben  von  dem  Herrn  Grubenrepräsentanten  er- 
fragen, der  stets  dem  Arbeiter  gegenüber  human  verfahren  sei 
und  gewiss  nicht  mit  dem  Verfahren  des  Herrn  Betriebsführers 
einverstanden  sei.  Gegen  Letzteren  richteten  die  darauf  folgen- 
den Redner,  welche  durchweg  verheirathet  -und  mit  starker 
Kinderzahl  gesegnet  sind,  wegen  der  ihnen  überreichten  Kün- 
digung und  der  ihnen  zu  Theil  gewordenen  Behandlung  bittere 
Klagen,  welche  nicht  geringe  Erregung  hervorriefen.  Von 
mehreren  Seiten  wurde  behauptet,  dass  gestern  und  vor  wenigen 
Tagen  noch  Leute  angelegt  worden  seien.  Die  Zahl  der  Ge- 
kündigten konnte  nicht  genau  ermittelt  werden,  da  den  Leuten 
die  Kündigung  einzeln  ausgesprochen  wurde;  sie  wird  auf  50—70 
angegeben.  Wie  es  heisst,  sollen  alle  diejenigen  durch  Kün- 
digung bestraft  werden,  welche  die  letzten  Versammlungen 
besuchten.  Ob  die  in  Aussicht  genommenen  Schritte  zur  Rück- 
gängigmachung der  Kündigung  von  Erfolg  begleitet  sein  werden, 
erscheint  fraglich.  Die  Thatsache,  dass  diese  Belegschaftsver- 
sammlung_  von  etwa  300  Personen,  also  ungleich  stärker  besucht 
war,  als  die  früheren,  lässt  erkennen,  dass  die  Unzufriedenheit 
eine  tiefgehende  ist.“  Da  sich  leicht  aus  diesen  Vorkomm- 
nissen eine  grössere  Bewegung  entwickeln  kann,  so  wurden  die 
Einzelheiten  genau  mitgetheilt.  Aehnlich  liegen  die  Verhältnisse 
im  Saarrevier,  nur  dass  man  dort  mehr  zu  Lohnreduktionen 
allein,  als  zu  Entlassungen  greifen  zu  wollen  scheint.  So  sind 
auf  der  lothringischen  Grube  Kleinrosseln  die  Löhne  soweit 
heruntergesetzt  worden,  dass  in  letzter  Zeit  beispielsweise  Tag- 
löhne von  2,20  M.  ausbezahlt  wurden.  Dabei  wird  von  den  Berg- 
leuten beklagt,  dass  der  durch  das  Vertrauen  der  Bergleute 
gewählte  Grubenausschuss  sich  der  Sache  nicht  annimmt,  über- 
haupt seit  den  zwei  Jahren  seiner  Wahl  noch  keine  gemeinsame 
Sitzung  mit  der  Direktion  gehabt  hat  Dieser  Ausschuss  dürfte 
auch  auf  Lohnfragen  kaum  einen  Einfluss  haben;  er  steht  be- 
kanntlich vollständig  unter  der  fiskalischen  Verwaltung. 

Neben  diesen  Vorkommnissen  geht  aber  als  zweiter  Grund 
für  eine  ziemlich  heftige  Bewegung  die  Unzufriedenheit  eines 
Theiles  der  westdeutschen  Bergleute  mit  ihren  Organisationen 
Im  Saarrevier  scheint  diese  Unzufriedenheit  allerdings  mehr 
künstlich  genährt  zu  werden  durch  die  Centrumspartei.  Ein 
in  St.  Johann  erst  dieser  Tage  von  einem  katholischen  Rechts- 
anwalt gemachter  Versuch,  den  sozialdemokratischen  Rechts- 
schutzverein zu  sprengen,  scheiterte  durchaus  am  Widerspruch 
der  Vertrauensmänner  der  Bergleute.  Ernster  sind  dagegen  wohl 
die  Differenzen  im  Lager  der  Bergarbeiter  in  Rheinland- 
Westfalen  zu  nehmen.  Wenigstens  fand  am  17.  Juli  d J.  zu 
Bochum  eine  sehr  ernsthafte  und  gründliche  öffentliche  Be- 
sprechung der  Vertrauensmänner  aus  Rheinland  und  Westfalen 
statt  behufs  Vorberathung  zu  der  am  31.  Juli  stattfindenden 
Generalversammlung  des  Deutschen  Bergarbeiter-Ver- 
bandes. Der  Vorsitzende  bat  bei  Eröffnung  der  Versammlung 
die  Erschienenen,  alle  persönlichen  Angriffe  im  Interesse  der 
Sache  zu  vermeiden,  damit  die  Versammlung  zum  Wohle  des 
Verbandes  und  aller  Bergarbeiter  zu  einem  gedeihlichen  Ab- 
schluss gelange.  Nachdem  von  verschiedenen  Vertrauensmännern 
eine  Abänderung  des  Statuts  für  durchaus  nothwendig  erklärt, 
ferner  die  jetzige  Leitung  des  Verbandes  und  die  Haltung  des 
Verbandsorgans  kritisirt  und  schliesslich  ein  ausführlicherer 
Rechenschaftsbericht  als  bisher  verlangt  worden,  wurde  ein- 
stimmig beschlossen , folgende  Resolutionen  der  nächsten 
Generalversammlung  zur  Beschlussfassung  zu  unterbreiten: 
1.  In  Erwägung,  dass  durch  das  Vorgehen  einzelner  leitender 
Personen  im  Verbandsvorstande  der  Verband  geschädigt  ist  und 
noch  wird,  spricht  die  Versammlung  denselben  ihren  Tadel  aus 
mit  dem  Hinweis,  dass  es  Pflicht  des  Vorstandes  ist,  den  Ausbau 
der  gewerkschaftlichen  Organisation  des  Verbandes  nach  Kräften 
zu  fördern  und  das  Verständniss  hierfür  zu  wecken.  2.  Es  wird 
eine  einjährige  Wahlperiode  und  die  direkte  Wahl  sämmtlicher 
Vorstandsmitglieder  verlangt  3 Das  überflüssige  Verbandsgeld 
soll  dem  Vorstande  des  Consum Vereins  leihweise  für  2Va  prozen- 
tige  Zinsvergütung  zur  Errichtung  von  Consumanstalten  über- 
lassen werden.  4.  Das  Verbandsbureau  soll  von  Gelsenkirchen 
nach  Bochum  verlegt  werden  5 Die  besoldeten  Vorstandsmit- 
glieder müssen  stets  auf  dem  Verbandsbureau  anzutreffen  sein. 
Agitationsreisen  sind  von  denselben  an  den  Werktagenmur  dann 


zu  unternehmen,  wenn  der  gesammte  Vorstand  dieselben  dazu 
ermächtigt.  Die  Dienststunden  sind  an  den  Werktagen  Morgens 
von  3 — 12,  Nachmittags  von  2 -7  Uhr  und  Sonntag  Morg(  m on 
8 — 11  Uhr  6.  Der  Verbandsvorsitzende  hat  vor  dem  Druck  des 
Verbandsorgans  sich  über  den  Inhalt  desselben  zu  orientiren, 
ob  politische  Anspielungen  vorhanden  sind  und  wenn  dieses  der 
Falf  ist,  dieselben  zu  entfernen.  Das  Verbandsorgan  soll  nur 
dem  bergmännischen  Interesse  dienen  und  nicht  für  eine  gewisse 
Partei  ausgebeutet  werden.  7.  Ein  genauerer  Rechenschafts- 
bericht, wie  früher,  ist  auszufertigen,  in  dem  die  einzelnen  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  angeführt  sind.  8.  Die  Verhandlungen 
auf  der  Generalversammlung  sind  nicht  früher  abzubrechen,  bis 
dieselben  zu  Ende  geführt  sind.  Desshalb  werde,  wenn  nicht 
ein  Tag  genügt,  zwei  zur  Tagung  derselben  verlangt.  9.  Die 
Tagung  der  Vorstandssitzungen  sind  durch  das  Verbandsorgan 
vorher  anzugeben,  damit  auch  Vertrauensmänner  Theil  daran 
nehmen  können.  Abgelehnt  wurden  die  Anträge  über  die  Ueber- 
nahme  der  Presse  Seitens  des  Verbandes  und  Unterstützung  der 
gemassregelten  Agitatoren  und  Vertrauensmänner  aus  der  Ver- 
bandskasse, weil  jeder  der  Unterstützungskasse  beitreten  könne, 
allseitig  getheiltaber  die  Beschwerde  darüber,  dass  der  Verbands- 
vorstand  viel  zu  spät  in  die  Agitation  über  die  Berggesetz- 
novelle eingetreten  sei.  Der  unparteiische  Beobachter  muss 
einen  grossen  Theil  dieser  sehr  sachlich  vorgebrachten  Klagen 
billigen. 

Katholische  Arbeitervereine  in  Deutschland.  In  No.  10 

des  Sozialpolitischen  Centralblatts  wurde  über  Pläne  zur  Re- 
organisation der  katholischen  Arbeitervereine  in  Deutschland 
berichtet.  Jetzt  bringt  die  neueste  Nummer  der  Kölner  Kor- 
respondenz für  die  geistlichen  Präsides  der  Katholischen  Arbeiter- 
vereinigungen eine  Ergänzung  der  Statistik  der  katholischen 
Arbeitervereine.  Die  frühere  Statistik  wies  über  65  000  Mit- 
glieder in  254  Vereinen  auf;  hierzu  treten  nun  in  der  neuesten 
Nummer  noch  14  Vereine  mit  rund  2400  Mitgliedern.  Eine  ganz 
genau  bestimmte  Zahl  der  sämmtlichen  Vereine  lässt  sich  nicht 
gewinnen,  da  einzelne  der  in  der  ersten  Zusammenstellung  auf- 
geführten Vereine  auch  in  der  neuesten,  aber  mit  erhöhter  Mit- 
gliederzahl vertreten  sind,  andere  keine  Mitgliederzahl  angegeben 
haben,  also  auch  nicht  mitgerechnet  werden  können.  In  Süd- 
deutschland haben  sich  27  Vereine  mit  6000  Mitgliedern  zu 
einem  Verbände  katholischer  Arbeitervereine  vereinigt.  Es 
giebt  ausserdem  noch  10  Vereine  in  Süddeutschland  mit  etwa 
5000  Mitgliedern,  welche  dem  Verbände  nicht  angehören,  auch 
nicht  alle  in  der  Statistik  enthalten  sind.  In  der  früheren  Graf- 
schaft Mansfeld  (Eisleben  und  Umgegend)  bestehen  14  katho- 
lische Arbeitervereine,  die  zusammen  den  Verband  der  Mans- 
feld’schen  katholischen  Arbeitervereine  bilden.  Die  Mitglieder- 
zahl dieses  Verbandes  ist  nicht  angegeben;  schätzt  man  dieselbe 
auf  nur  4000,  so  kann  man  die  Gesammt-Mitgliederzahl  der 
sämmtlichen  katholischen  Arbeiter- Vereine  Deutschlands  mit 
75000  Personen  berechnen. 

Statistik  des  schweizerischen  Gewerkschaftsbundes. 

Das  Bundeskomitee  des  schweizerischen  Gewerkschafts- 
bundes  versendet  an  seine  Sektionen  Erhebungsformulare 
für  Schaffung  einer  Lohn-  und  Arbeitsstatistik.  Die  Karten 
sind  für  13  Zahltage  berechnet  und  beziehen  sich  die  Fra- 
gen auf  den  Zivilstand,  Alter,  Heimath,  Wohnort  und  Beruf 
(ob  gelernt  oder  ungelernt),  auch  die  Dauer  der  Innehabung 
der  jetzigen  Arbeitsstelle,  auch  eventuell  Verpflegung  beim 
Arbeitgeber  und  deren  Preis,  ebenso  die  Lohnform  (ob 
Akkord-  oder  Taglohn),  auch  eventuell  Arbeitslosigkeit  und 
deren  Ursachen  (Krankheit,  Arbeitsmangel  u.  s.  w.)  und 
auch  die  Arbeitszeit. 


Unternehmerverbände. 


Deutscher  Tabakverein.  Bis  vor  Kurzem  war  die 
Organisation  der  Lhrternehmer  der  deutschen  Tabakbranche 
eine  sehr  unvollkommene  und  zersplitterte.  Erst  am 
29.  Mai  1.  J.  wurden  in  Kassel  die  beiden  Interessenten- 
gruppen: der  Verein  deutscher  Tabakfabrikanten  und  Händ- 
ler (gegründet  1879,  reorganisirt  in  Bremen  20.  Juni  1890) 
und  die  Vereinigung  deutscher  Tabak-  und  Cigarrenindu- 
strieller (gegründet  1888)  in  eine,  den  deutschen  Tabak- 
verein, verschmolzen,  dessen  Organisation  sich  enge  an  die 
deutsche  Tabakberufsgenossenschaft  und  ihre  fünf  Sektionen 
anlehnt  Am  11.  Juli  d.  Js.  wurde  nun  in  Heidelberg  unter 
dem  Vorsitze  von  Thorbeck-Mannheim  die  Abtheilung  5, 
umfassend  Baden,  Bayern,  Württemberg  und  Elsass-Loth- 
ringen  konstituirt.  Während  der  Gesammtverein  bereits 
ca.  700  Firmen  als  Mitglieder  aufweist,  gehören  der  Abthei- 


374 


No.  30. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


luno;  5 bis  jetzt  120  Firmen  an.  Zu  den  Fragen,  welche 
auch  weitere  Kreise  interessiren  und  welche  diese  Ver- 
sammlung, die  sich  an  eine  Vollversammlung  der  Sektion  V 
der  Tabakb.erufsgenossenschaft  unmittelbar  anschloss,  be- 
rieth,  gehört  speziell  das  neue  Krankenversicherungsgesetz. 
Nicht  minder  wurden  auch  die  Bestimmungen  der  Sonntags- 
ruhe_  eingehend  besprochen.  So  sehr  man  derselben  sym- 
pathisch zugethan  ist,  fand  man  es  doch  bedauerlich,  dass 
der  Cigarrendetailhandel  darunter  leiden  muss,  insoweit  an 
Sonn-  und  Festtagen  Wirthe  und  andere  Gewerbe  im  Ver- 
kaute  von  Cigarren  unbeschränkt  sind.  Es  wurde  ein- 
stimmig eine  Resolution  in  diesem  Sinne  angenommen. 


Kaufmännische  Bewegung. 


Verbamlstag  der  kaufmännischen  Vereine  Württembergs. 
Derselbe  fand  am  17.  Juli  d.  J.  in  Ludwigsburg  statt  und  be- 
schältigte  sich  u.  A.  mit  lehrreichen  Erfahrungen  bei  der 
Arbeit  s-  und  Stellenvermittelung.  Besonders  wurde  be- 
tont,^ dass  sich  die  Forderungen  der  Lfandelswelt  immer  mehr 
auf  Spezialitäten  herausbilden  und  dass  es  ohne  sehr  gründliche 
Branchekenntnisse  schwer  sei,  günstige  Anstellung  zu  finden; 
auch  tritt  die  Schwierigkeit  hervor,  im  reiferen  Alter  stehende 
Bewerber  anzubringen,  da  fast  70  pCt.  aller  gesuchten  Leute  in 
sehr  jungem  Alter  stehen  sollen,  ca.  15  pCt.  von  20  bis  25  Jahren, 
ca.  lOpCt.  bis  30  Jahren  alt  gesucht  würden,  während  sich  nicht 
vereinzelt  selbst  50jährige  Bewerber  anmelden.  Diese  Zahlen 
werfen  sehr  grelle  Streiflichter  auf  die  soziale  Lage  der  deut- 
schen Handlungsgehilfen.  In  Sachen  des  Lehrlingswesens 
wurde  beschlossen,  auf  ein  gemeinsames  Vorgehen  zur  Errich- 
tung von  Lehrstellenvermittelung  hinzuwirken  und  dadurch  die 
Ablenkung  ungeeigneter  Kräfte  vom  Kaufmannsberuf,  sowie  von 
übersetzten  Lehren  zu  erzielen.  Bei  Besprechung  der  Sonn- 
tagsruhe wurde  die  Unthätigkeit  mancher  Gemeindebehörden, 
die  Ortsstatute  noch  nicht  erlassen  haben,  beklagt  und  das 
Stuttgarter  Ortsstatut  als  Muster  empfohlen.  Im  klebrigen  steht 
der  württembergische  Vorstand  mehr  aut  dem  Boden  der  Selbst- 
hilfe, ähnlich  wie  die  Vereine  der  norddeutschen  Seestädte,  und 
möchte  gesetzliche  Massnahmen  zu  Gunsten  der  Angestellten 
möglichst  vermieden  haben.  Deshalb  entstand  schliesslich  eine 
lebhafte  Erörterung  anlässlich  des  Berichtes  des  Vorsitzenden 
über  den  Verbandstag  der  deutschen  kaufmännischen  Vereine 
und  des  Vortragsverbandes  vom  12  Juni  in  Köln.  Die  damaligen 
Beschlüsse  decken  sich  nicht  in  allem  mit  den  württembergiscnen 
Wünschen;  der  Kaufmannsstand  möge  sich  mehr  auf  die  eigene 
Kraft  stellen.  Doch  wurden  eigene  Beschlüsse  gegen  die  Reso- 
lutionen des  Kölner  Verbandstages,  welche  das  Sozialpolitische 
Centralblatt  seiner  Zeit  mittheilte,  nicht  gefasst. 


Handwerkerfragen. 


Regelung  der  Lehrzeit  im  österreichischen  Kleingewerbe. 

Unterm  15.  Juli  d.  Js.  ist  eine  Verordnung  des  österreichischen 
Handelsministeriums  erschienen,  welche  die  Bestimmungen  über 
die  Dauer  der  Lehrzeit  im  Handwerke  theilweise  abändert.  Auf 
Grund  der  neuen  Verordnung  kann  für  Lehrlinge,  welche  eine 
dreiklassige  allgemeine  Handwerkerschule  absolvirt  haben  und 
sich  einem  Gewerbe  zuwenden,  für  welches  sie  in  der  bezüg- 
lichen Werkstätte  der  Handwerkerschule  oder  unter  der  Auf- 
sicht der  Direktion  derselben  in  einer  Privatwerkstätte  den 
Handfertigkeitsunterricht  mit  Erfolg  genossen  haben,  die  Lehr- 
zeit unter  das  zweijährige  Minimum  Iris  zur  Mindestdauer  der- 
selben von  einem  und  einem  halben  Jahre  herabgesetzt  werden 
In  jenen  Fällen,  in  welchen  die  Lehrzeit  mehr  als  zwei  Jahre 
beträgt,  kann  dieselbe  für  die  oben  bezeichnten  Lehrlinge 
daher  auch  um  mehr  als  ein  halbes  Jahr  bis  zur  Mindestdauer 
derselben  von  einem  und  einem  halben  Jahr  herabgesetzt  werden. 
Bisher  war  überhaupt  zum  Betriebe  eines  handwerksmässigen 
Gewerbes  der  Nachweis  einer  Lehrzeit  von  mindestens  zwei 
Jahren  erforderlich.  Durch  die  neue  Verordnung  wird  für  solche 
Lehrlinge,  welche  eine  dreiklassige  allgemeine  Handwerker- 
schule absolvirt  haben,  die  Minimaldauer  der  Lehrzeit  um  ein 
halbes  Jahr  gekürzt. 


Arbeiterversicherung. 

Die  Reform  der  österreichischen  Bruderladen. 

Wieder  hat  das  österreichische  Abgeordnetenhaus  sich 
mit  einer  Novelle  — der  dritten  — zum  Bruderladengesetze 
vom  28.  Juli  1889  zu  beschäftigen  gehabt.  Die  Hoffnungen, 
welche  sich  an  das  letztere  knüpften  und  die  dahin  gingen, 
dass  nunmehr  nach  jahrelangem  Suchen  der  richtige  Weg 
zur  Beseitigung  der  unhaltbaren  Zustände  der  meisten 
Bruderladen  gefunden  sei,  haben  sich  als  trügerisch  er- 
wiesen. Die  österreichische  Gesetzgebung  steht  wieder  vor 
dem  ungelösten  Problem,  die  Fehler  der  Vergangenheit  in 
einer  Weise  gutzumachen,  dass  die  gegenwärtigen  wie  die 
künftigen  Ansprüche  der  Bergleute  völlig  gesichert  werden. 
Die  Frage  der  Reform  der  Bruderladen  spitzt  sich  eben  in 
Oesterreich  zu  einer  Frage  der  Sanirung  zu. 

Selbstredend  kann  es  sich  nun  dabei  keineswegs  blos 
um  die  Deckung  der  heute  schon  vorhandenen  Fehlbeträge 
handeln.  Rationeller  Weise  muss  das  Entstehen  von  Aus- 
fällen für  die  Zukunft  verhindert  werden.  Ein  Modus,  der 
am  gründlichsten  zu  solchen  Resultaten  führen  könnte,  wäre 
eine  Beseitigung  der  gegenwärtigen  Organisation  der  Ver- 
sicherung nach  Betrieben  und  eine  Ersetzung  derselben 
durch  centralisirte  Bruderladen.  Völlig  unbegreiflicher 
Weise  wurde  und  wird  das  Betreten  dieses  Weges  mit 
der  grössten  Beharrlichkeit  perhorreszirt,  gleich  als  wenn 
das  Gesetz  der  grossen  Zahlen  für  Oesterreich  keine  Gel- 
tung hätte.  Mit  der  nichtssagenden  Phrase  von  der  Erhal- 
tung der  altehrwürdigen  — freilich  dem  Bankerotte  unaus- 
weichlich verfallenen  — Werkbruderladen  glaubt  man  die 
Durchführung  der  Invaliden-,  Wittwen-  und  Waisenver- 
sicherung in  zwerghaften  Institutionen  rechtfertigen  zu 
können. 

Das  Schwergewicht  wurde  demnach  auf  die  Beseitigung 
des  versicherungstechnischen  Defizites  gelegt,  welches  schon 
im  Jahre  1889  mit  21  Millionen  Gulden  beziffert  worden  ist. 
Es  dürfte  von  Interesse  sein,  hier  die  gesetzgeberischen 
Sanirungsversuche  zu  skizziren,  da  ohne  Kenntniss  der- 
selben die  letzte  Phase  unverständlich  bleiben  würde. 

Das  Gesetz  vom  28.  Juli  1889  glaubte  das  Defizit  durch 
nachfolgende  Massregeln  beseitigen  zu  können.  In  erster 
Linie  sollte  die  Erhöhung  der  Beiträge,  unter  gleichzeitiger 
Heranziehung  der  Unternehmer  zur  Tragung  der  Hälfte 
der  Prämie,  vorgenommen  werden.  In  zweiter  Reihe  sollte 
eine  Herabsetzung  der  künftigen  Leistungen  der  Bruder- 
laden bis  auf  die  Hälfte  des  Minimalausmasses  der  §§  4 und 
5,  daher  der  Invalidenrente  auf  50  und  25  fl.,  der  Wittwen- 
und  Waisenrente  auf  16,66  und  8,33  fl.  erfolgen  dürfen. 
Wenn  auch  dadurch  das  Gleichgewicht  nicht  hergestellt 
wird,  so  ist  der  Werksbesitzer  verpflichtet,  zu  diesem 
Zwecke  weitere  jährliche  Beiträge  bis  zur  Höhe  von  2 pCt. 
der  gesammten  in  seinem  Werksbetriebe  jeweils  von  ihm 
bezahlten  Arbeitslöhne  und  längstens  auf  die  Dauer  des 
Lebens  der  durch  das  Defizit  bedrohten  Mitglieder  und 
Provisionisten  zu  leisten.  Genügt  auch  dies  nicht  und  wird 
der  Ausfall  nicht  freiwillig  durch  den  Werksbesitzer  ge- 
deckt, so  hat  die  Berghauptmannschaft  eine  den  Bedürf- 
nissen angemessene  Reduzirung  der  liquiden  Provisionen 
anzuordnen. 

Durch  diese  Massnahmen  hoffte  man  das  Defizit  bis 
auf  einen  Betrag  von  4 Millionen  Gulden  zu  beseitigen. 
Es  kam  jedoch  gar  nicht  dazu,  die  Probe  auf  das  Exempel 
zu  machen.  Die  Werksbesitzer,  auf  deren  Betreiben  die 
sog.  individuelle  Sanirung,  das  ist  die  Heranziehung  der 
Unternehmer  lediglich  zur  Deckung  des  Defizites  ihrer 
Werksbruderladen,  ins  Gesetz  Aufnahme  gefunden  hatte, 
protestirten  gegen  die  Durchführung  der  Massregel,  als  die 
Regierung  dieselbe  verwirklichen  wollte.  Man  schützte 
Besorgnisse  um  allzuweit  gehende  Schädigung  der  Arbeiter 
vor,  während  man  in  Wirklichkeit  fürchtete,  zu  allzu  grossen 
Leistungen  herangezogen  zu  werden.  Dabei  erklärte  man 
sich  trotzdem  zu  allen  nothwendigen  Opfern  bereit. 

Die  Regierung  nahm  die  Montanindustriellen  beim 
Worte  und  legte  nunmehr  dem  Parlamente  einen  neuen 


No.  30. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


375 


Plan  fiir  die  Sanirung  der  Bruderladen  vor.  Von  der  An- 
sicht ausgehend,  dass  die  grösste  Härte  darin  bestehe,  dem 
Arbeiter  Opfer  aufzuerlegen,  die  vorwiegend  zur  Deckung 
der  Ansprüche  der  bereits  im  Provisionsbezuge  stehenden 
Personen  dienen,  während  gleichzeitig  die  eigenen  An- 
sprüche eine  Reduzirung  erfahren,  schlug  die  Regierung- 
Folgendes  vor.  An  Stelle  der  früher  auferlegten  2 pCt. 
der  ausgezahlten  Lohnsumme  sollte  der  Werksbesitzer  nebst 
der  Beitragsleistung  in  der  Höhe  der  Mitgliederbeiträge 
auch  noch  die  Zahlung  der  bis  einschliesslich  31.  Mai  1891 
liquid  gewordenen  Provisionen  und  die  zukünftigen  An- 
sprüche der  Wittwen  und  Waisen  der  Provisionisten  in 
dem  Masse  aut  sich  nehmen,  als  nothwendig  erscheint,  um 
eine  Erhöhung  der  Beiträge  der  aktiven  Mitglieder  und 
eine  Herabsetzung  ihrer  Provisionsansprüche  zu  vermeiden. 
Erst  wenn  auch  durch  diese  Massregel  und  durch  etwaige 
freiwillige  Beiträge  des  Unternehmers  das  Gleichgewicht 
nicht  herzustellen  ist,  solle  der  Rest  des  Defizites  durch 
eine  Erhöhung  der  Beiträge  der  aktiven  Mitglieder  und 
des  Werksbesitzers  oder  durch  Herabsetzung  der  künftigen 
Leistungen  gedeckt  werden. 

Die  Belastung  der  Unternehmer  rechtfertigt  die 
Regierungsvorlage  damit,  dass  die  Provisionisten  im  lang- 
jährigen Dienste  des  Werkes  invalid  geworden  sind  und 
dass  die  Werksbesitzer  bisher  meist  zu  den  Lasten  der 
Bruderladen  Nichts  oder  viel  zu  wenig  beigetragen  haben. 
Ueberdies  würden  mit  dem  Wegsterben  der  Provisionisten 
die  Opfer,  die  von  den  Unternehmern  zu  tragen  wären, 
immer  geringer,  während  sie  jetzt,  wo  sie  am  grössten 
sind,  Dank  der  Lage  der  Montanindustrie  sich  nicht  allzu 
empfindlich  fühlbar  machen  würden. 

Dieser  Vorschlag  suchte  somit  die  Herabsetzung  der 
liquiden  Provisionen  vollständig  zu  vermeiden  und  zieht 
in  erster  Reihe  zur  Deckung  des  Defizites  die  Unternehmer 
heran.  Die  „zu  allen  nothwendigen  Opfern  bereiten“ 
Grubenbesitzer  vermochten  aber  auch  an  diesem  Sanirungs- 
plane  kein  Wohlgefallen  zu  finden  Sie  konnten  in  ihm 
zwar  nicht  eine  Verletzung  der  Interessen  der  Arbeiter 
erblicken,  dennoch  waren  sie  bemüht,  ihn  durch  einen 
anderen  zu  ersetzen.  Der  Gewerbeausschuss  des  Abgeord- 
netenhauses änderte  in  der  That  die  Regierungsvorlage  in 
einer  den  Werksbesitzern  günstigen  Weise  und  unter- 
breitete dem  Plenum  folgendes  Projekt,  das  in  seiner 
Gänze  Annahme  gefunden  hat. 

Vor  allem  steht  der  Verwaltung  der  Bruderladen  in 
Gemeinschaft  mit  dem  Werksbesitzer  — beide  fallen  in  der 
Wirklichkeit  zusammen  — das  Recht  zu,  einen  Sanirungs- 
plan,  der  den  speziellen  Verhältnissen  der  einzelnen  Bruder- 
lade angepasst  ist,  vorzulegen.  Der  Inhalt  dieser  Vorlage 
ist  nur  durch  die  eine  gefährliche  Bestimmung  beschränkt, 
dass  die  Leistungen  der  Provisionskasse  höchstens  um 
50  pCt.  gegenüber  dem  Minimalausmasse  der  §§  4 und  5 
verringert  werden  dürfen.  Dadurch  ist  den  Unternehmern 
eine  Handhabe  gegeben,  die  Sanirung  unter  ausschliess- 
licher Berücksichtigung  ihrer  eigenen  Interessen  und  auf 
Kosten  der  Arbeiter  durchzuführen.  Sie  können  in  erster 
Linie  die  Kürzung  der  künftigen  Ansprüche  ins  Auge 
fassen;  sie  sind  befugt,  das  Defizit  ganz  oder  zum  grossen 
Theile  den  Bergleuten  aufzuhalsen,  ohne  dass  aus  dem  Wort- 
laute des  Gesetzes  dagegen  ein  Einwand  erhoben  werden 
könnte,  sobald  nur  die  Reduzirung  der  Provisionen  das  zu- 
lässige Mass  nicht  überschreitet. 

Der  erste  von  der  Novelle  gewählte  Weg  stellt  sich 
sonach  als  eine  offenbare  Verschlechterung  des  Gesetzes 
vom  28.  Juli  1889  dar.  Dass  aber  möglichst  viele  Unter- 
nehmer selbst  einen  Sanirungsplan  in  Vorlage  bringen,  da- 
für trägt  der  zweite  Weg  Sorge,  der  nur  für  den  Fall  ein- 
zuschlagen ist,  dass  die  Grubenbesitzer  keinen  selbständigen 
Vorschlag  machen.  Es  treten  dann  die  Bestimmungen  des 
§ 41a  in  Wirksamkeit.  Nach  diesen  ist  zur  Herstellung  des 
Gleichgewichtes  zunächst  eine  Regelung  der  Beiträge  und 
künftigen  Leistungen,  letzterer  unter  Festhaltung  des  ge- 
setzlichen Minimalausmasses,  vorzunehmen,  eine  Reeelunar, 
welche  insbesondere  in  der  Festsetzung  fixer  statt  in  Lohn- 
prozenten ausgedrückter  Beiträge,  in  einer  Erhöhung  der 


letztem  und  in  einer  Abänderung  der  Abstufung  der  Pro- 
visionssätze bestehen  kann.  Gelingt  auf  diesem  Wege  die 
Herstellung  des  Gleichgewichtes  nicht,  so  ist  der  bleibende 
Bilanzabgang,  sofern  der  Werkbesitzer  sich  zu  freiwilliger 
Deckung  desselben  nicht  verpflichtet,  durch  25-  30  jährige 
Annuitäten  zu  tilgen,  welche  je  zur  Hälfte  vom  Werks- 
besitzer und  von  den  Versicherten  zu  leisten  sind. 
Können  die  Annuitäten  nicht  so  hoch  bemessen  werden, 
um  das  Defizit  zur  Gänze  zu  tilgen,  so  kann  eine  Ver- 
ringerung derselben  eintreten;  dafür  sind  aber  die  künftigen 
Leistungen  der  Provisionskasse  für  jene  Mitglieder  ent- 
sprechend zu  verringern,  welche  der  Bruderlade  am  Tage 
der  bergbehördlichen  Genehmigung  des  Statutes  angehören. 

Ein  Vergleich  zeigt,  dass  auch  der  zweite  Weg  eine 
Verschlechterung  gegenüber  der  Regierungsvorlage  be- 
deutet. Was  diese  als  eine  grosse  Härte  bezeichnet,  dass 
nämlich  die  aktiven  Mitglieder  zu  Leistungen  für  die  Pro- 
visionisten herangezogen  werden,  gleichzeitig  aber  trotz 
erhöhter  Beiträge  ihre  eigenen  Ansprüche  vermindert 
sehen,  das  ist  geradezu  die  Basis,  auf  der  sich  der  Sanirungs- 
plan des  Abgeordnetenhauses  auf  baut.  Nicht  mehr,  wie 
bei  allen  bisherigen  Projekten,  sollen  die  Werksbesitzer 
allein  den  erheblichen  Rest  des  Defizites  decken,  der  nach 
Erhöhung  der  Beiträge  zurückbleibt,  ein  vollgemessen 
Theil,  die  Hälfte,  wird  den  Arbeitern  aufgehalst  und  nicht 
einmal  die  Sicherheit  wird  ihnen  dabei  gewährt,  dass  ihre 
künftigen  Ansprüche  einer  Reduktion  unter  das  Minimal- 
ausmass  entgehen  werden. 

So  endigt  denn  die  Aktion,  die  unter  dem  tönenden 
Titel:  „Erleichterung  der  Lasten  für  die  Arbeiter“  begonnen 
hat,  wie  zu  erwarten  war:  mit  einer  schweren  Schädigung 
der  Bergleute.  Dabei  haben  wir  noch  gar  nicht  in  Betracht 
gezogen,  dass  auch  der  Werksbeitrag  bald  in  grösserem, 
bald  in  geringerem  Masse  auf  die  Arbeiter  überwälzt  werden 
dürfte.  Anläufe  dazu  sind  von  einigen  Grubenbesitzern  seit 
Beginn  dieses  Jahres,  dem  Zeitpunkte  der  Heranziehung 
der  Unternehmer  zu  Beitragsleistungen,  bereits  gemacht 
worden,  ohne  dass  die  nichtorganisirten  Knappen  erfolg- 
reichen Widerstand  entgegenzusetzen  vermocht  hätten. 

Ausser  den  schweren  Lasten  des  neuen  Sanirungs- 
planes  bringt  die  Novelle  zum  Bruderladengesetze,  d*en 
Wünschen  der  Grubenbesitzer  willig  Folge  leistend,  noch 
eine  Reihe  weiterer  Nachtheile  für  die  Arbeiter. 

Während  es  sich  früher  von  selbst  verstanden  hat, 
dass  die  Krankengelder  wöchentlich  auszuzahlen  sind,  geht 
die  Novelle  vom  Standpunkte  aus,  dass  auch  der  kranke 
Arbeiter  dem  Borgsystem  preiszugeben  ist:  die  Auszahlung 
hat  nämlich  spätestens  in  den  für  die  Lohnzahlungen  be- 
stimmten Terminen,  also  nach  4 bis  6 Wochen  zu  er- 
folgen. 

Bei  der  Umbildung  der  Statuten  der  Bruderladen 
kann  die  Beitrittspflicht  neu  eintretender  Hüttenarbeiter 
ausgeschlossen  werden.  Es  handelt  sich  dabei  um  die  Er- 
füllung eines  Wunsches  der  Gewerke  nach  Auflösung  der 
Bruderladen,  welche  für  Hüttenarbeiter  bestimmt  sind. 
Dabei  ist  man  den  Wünschen  in  einer  Weise  nacho-ekom- 
men,  welche  den  geltenden  Rechtsgrundsätzen  Hohn  spricht. 
Es  können  nämlich  Hüttenarbeiter,  welche  bereits  als  aktive 
Mitglieder  der  Bruderlade  angehören,  ja  sogar  die  im 
Provisionsbezuge  stehenden  Bediensteten  aus  der 
Bruderlade  ausgeschieden  werden.  Dem  wird  nur  die  eine 
Bedingung  angehängt,  dass  die  Provisionisten  ausdrücklich 
erklären,  dass  sie  mit  ihren  Ansprüchen  an  die  Bruderlade 
vollkommen  befriedigt  sind  und  keine  weiteren  For- 
derungen an  dieselbe  zu  stellen  haben. 

Aktive  Mitglieder  können  also  bedingungslos  ihrer 
wohlerworbenen  Rechte  beraubt  werden,  für  die  sie  jahre- 
lange Zahlungen  geleistet  haben!  Krüppel  und  Greise 
können  mit  irgend  einem  beliebigen  Betrage  abgefunden 
werden!  Es  ist  schwer  zu  glauben,  dass  sich  das  Ab- 
geordnetenhaus der  Konsequenzen  seines  Beschlusses  be- 
wusst war,  dass  es  sich  insbesondere  vor  Augen  hielt,  eine 
wie  geringe  Schutzwehr  die  Bedingung  der  Einwilligung 
der  Provisionisten  für  dieselben  ist.  Zum  mindesten  die 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  30. 


Regierung  hätte  gegen  eine  Sanktionirung  eines  Rechte- 
bruches Stellung  nehmen  müssen. 

Einen  weiteren  Wunsch  der  Bergwerksbesitzer  sucht 
Art.  III  der  Novelle  zu  erfüllen.  Bergleuten  solcher  Werke, 
bei  denen  zur  Zeit  der  beginnenden  Wirksamkeit  der  No- 
velle eine  Bruderlade  nicht  besteht,  sind,  wenn  sie  am 
Tage  der  bergbehördlichen  Genehmigung  des  Statutes  das 
40.  Lebensjahr  bereits  überschritten  haben,  lediglich  gegen 
Betriebsunfälle  und  Krankheit  versicherungspflichtig.  Die 
Versicherungspflicht  dieser  Personen  erfährt  auch  im  Falle 
des  Uebertrittes  an  ein  anderes  Werk  keine  Erweiterung. 

Die  Grubenbesitzer  haben  es  sonach  nicht  nur  ver- 
standen, die  Durchführung  eines  seit  drei  Jahren  publizirten 
Gesetzes  zu  verhindern,  es  ist  ihnen  auch  gelungen,  alle 
jene  Aenderungen  durchzusetzen,  die  zur  Abwälzung  der 
Lasten  von  ihren  Schultern  auf  die  der  Arbeiter  ihnen  als 
wünschenswerth  erschienen  sind.  Sie  können  mit  dem  Er- 
gebnisse ihrer  Aktion  zufrieden  sein:  Ob  auch  Regierung 
und  Parlament  ein  Recht  haben,  mit  Befriedigung  auf  die 
jüngste  Novelle  zum  Bruderladengesetze  zu  blicken,  das 
dürfen  wir  wohl  bezweifeln. 

Wien.  Leo  Verkauf. 


Jahresversammlungen  deutscher  Zwangskassenver- 
hände.  Die  diesjährige  Konferenz  der  „Freien  Vereinigung 
sächsischer  Ortskrankenkassen“  wurde  Ende  Juni  d.  Js. 
ab<>'ehalten  Von  allgemeinem  Interesse  ist  eine  Statistik 
über  die  wirtschaftliche  Lage  von  109  zur  Vereinigung 
gehörenden  Kassen,  welche  zu  diesem  Zweck  dem  \ orort 
Mitteilung  gemacht  hatten.  Es  wird  dadurch  bekannt,  dass 
am  Schlüsse  des  Betriebsjahres  1891  diese  Kassen  268  107 
Mitglieder  hatten,  welche  die  erhebliche  Summe  von 
4 349  896  M.  durch  Beiträge  aulbrachten.  Hiervon  sind 
u.  A.  verausgabt  worden  für  Krankenunterstützung  an  Mit- 
glieder und  deren  Angehörige  1 268  425  M.  oder  41,85  pCt. 
der  Ausgabe,  für  ärztliche  Hilfe  und  Arzneien  1 167  866  M. 
oder  38,1  pCt.  der  Ausgabe,  286  395  M.  auf  Verwaltungs- 
kosten oder  9,3  pCt.,  für  Krankenhausverpflegung  156  696  M. 
oder  5,1  pCt.  Im  Ganzen  sind  für  diese  Zwecke,  sowie 
ausserdem  noch  für  Wöchnerinnenunterstützung  und  Sterbe- 
gelder von  diesen  109  Kassen  verwendet  worden  3 063  316  M. 
Einen  sehr  wichtigen  Gegenstand  für  die  Beratung  der 
Konferenz  bildete  der  von  einer  Kommission  festgestellte 
Entwurf  eines  einheitlichen  Statuts.  Infolge  der 
Novelle  zum  Krankenversicherungsgesetz  sind  sämmtliche 
Krankenkassen  in  die  Lage  gebracht,  Aenderungen  m ihren 
Statuten  vorzunehmen.  Der  durchberathene  Entwurf  soll 
den  Kassen  zur  Erleichterung  bei  Bearbeitung  des  Statuts 
dienen.  Die  örtlichen  Verhältnisse  sollen  nach  wie  vor 
Beachtung  finden.  Mit  nur  wenigen  Aenderungen  wurde 
der  Kommissionsentwurf  genehmigt.  Ebenso  soll  der  Vor- 
ort für  das  nächste  Jahr,  Ortskrankenkasse  Dresden,  darüber 
Erörterungen  anstellen,  welches  von  den  empfohlenen 
Quittungsbüchern  der  Kassenmitglieder  als  Einheits- 
quittungsbuch zur  Verwendung  kommen  soll.  Eine 
derartige  Einrichtung  soll  den  Versicherten  Erleichterungen 
bei  Verlegung  ihres  Wohn-  und  Beschäftigungsortes  ge- 
währen. Mit  vielem  Interesse  wurde  ferner  ein  Antrag  der 
Ortskrankenkasse  Dresden  behandelt,  welcher  die  Errich- 
tung gemeinschaftlicher  Rekonvaleszentenstationen 
will.  Die  Berathung  hierüber  führte  zur  Einsetzung  einer 
Kommission,  welche  diese  Angelegenheit  betreiben  wird. 
Die  weiteren  Berathungen  bezogen  sich  aut  die  Invaliditäts- 
und Altersversicherung  und  auf  die  Handhabung  der  den 
Ortskrankenkassen  übertragenen  Geschäfte  für  dieselbe. 
Obwohl  letztere  die  Kassen  erheblich  in  Anspruch  nehmen, 
führte  die  Besprechung  über  den  im  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherungsgesetz erläuterten  Hausgewerbebetrieb  des- 
wegen zu  lebhaften  Aussprachen,  weil  diejenigen  Arbeiter 
und  Arbeiterinnen,  die  das  70.  Lebensjahr  vollendet  haben 
und  zum  Bezug  der  Altersrente  bei  Erfüllung  aller  dafür 
gestellten  Bedingungen  berechtigt  sind,  wegen  einer  diese 
Lohnarbeiter  betreffenden  Entscheidung  des  Reichsver- 
sicherungsamtes von  der  Versicherungspflicht  ausgeschlossen 
werden  und  daher  die  Altersrente  ihnen  nicht  gewährt  wird. 
Die  Versammlung  beschloss,  an  den  Bundesrath  die  Bitte 
zu  richten,  von  dem  ihm  durch  § 2 des  Invaliditäts-  und 
Altersversicherungsgesetzes  zustehenden  Recht  Gebrauch 


machen,  Hausgewerbetreibende  für  versicherungs- 
pflichtig zu  erklären,  ähnlich  wie  dies  schon  mit  den 
Hausarbeitern  der  Tabaksbranche  geschehen  ist.  Ein  an- 
wesender Vertreter  der  sächsischen  Regierung  theilte  mit, 
dass  die  Ortskrankenkassen,  wenn  ihnen  Quittungskarten 
übergeben  werden,  zwar  verpflichtet  sind,  diese  entsprechend 
aufzubewahren,  die  Kassen  jedoch  nicht  verpflichtet  werden 
können,  die  ihnen  nicht  abgelieferten  Karten  einzufordern 
Es  wurde  zu  diesem  Gegenstand  noch  betont,  dass  es 
Pflicht  jedes  Versicherten  sei,  bei  Aufgabe  eines  Beschäf- 
tigungsortes von  der  betreffenden  Kasse  gegen  eine  Arbeits- 
bescheinigung die  niedergelegte  Quittungskarte  abzuver- 
langen,  um  sie  beim  Eintritt  in  die  neue  Beschäftigung  dem 
Arbeitgeber  einzuhändigen.  Dadurch  würde  die  bis  jetzt 
nothwendig  gewordene  Zeit  und  Kosten  beanspruchende 
Schreiberei  an  die  Kasse  des  früheren  Beschäftigungsortes 
zur  Erlangung  der  Quittungskarte  vermieden  werden.  - 
Auch  die  Ortskrankenkassen  von  Thüringen  bilden  einen 
Verband,  der  zusammen  30  Kassen  mit  66  Vertretern  am 
21.  Juni  in  Gera  vereinigt  hatte.  Bei  dieser  Versammlung 
wurde  erwähnt,  dass  Fürst  Reuss  Heinrich  XIV.  ein  Ge- 
nesungshaus in  Niederndorf  gegründet  hat,  welches  den 
Rekonvaleszenten  in  Waldluft  Gelegenheit  zur  Erholung 
nach  schwerer  Krankheit  bietet.  Man  wünschte  in  der  Nähe 
jeder  grossen  Krankenkasse  die  Nachahmung  dieses  Vor- 
bildes. 

Zur  Reform  der  deutschen  Unfallversicherung.  Mit 

Bezug  auf  die  in  Vorbereitung  befindliche  Novelle  zum 
Unfallversicherungsgesetz  bringen  die  Organe  der  Re- 
gierung die  folgende  Mittheilung:  „Die  Berathungen  über 
die  durch  den  Minister  v.  Bötticher  in  Aussicht  gestellte 
Novelle  zum  Unfallversicherungsgesetz  werden  gegenwärtig 
sehr  eifrig  betrieben,  um  auf  Grund  ausführlicher  statisti- 
scher Erhebungen  den  Wünschen  der  Arbeitnehmer  wie 
der  Arbeitgeber  thunlichst  entgegenzukommen.  Die  Aus- 
dehnung der  Unfallversicherung  auf  das  Handwerk,  welche 
wiederholt  gefordert  wurde,  scheint  in  der  geplanten  Aus- 
führung aut  Schwierigkeiten  zu  stossen,  da,  abgesehen  von 
den  grösseren  Betrieben,  die  zur  Bildung  einer  Berufs- 
genossenschaft wohl  geeignet  sind,  die  Kleinmeister  nach 
der  gegenwärtigen  Sachlage  eine  besondere  Organisation 
vielleicht  erfordern  könnten.  Es  ist  früher  schon  die  Rede 
davon  gewesen,  dass  die  Behörden  Bedenken  tragen,  die 
Befugnisse  der  Berufsgenossenschaften  zu  erweitern,  wäh- 
rend es  andererseits  grösseren  kommunalen  Verbänden  so- 
gar gestattet  wird,  von  der  Berufsgenossenschaft  sich  los- 
zusagen , sobald  sie  für  leistungsfähig  erklärt  werden. 
Unter  diesen  Verhältnissen  wird  man  trotz  mancher  Ver- 
änderungen im  Einzelnen  schliesslich  auch  bei  der  für 
1893  geplanten  Novelle  eine  organische  Umgestaltung  des 
jetzigen  Zustandes  wohl  nicht  annehmen.“ 

Zur  Statistik  der  deutschen  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung. Wie  der  „Reichsanzeiger“  vom  20.  Juli  mittheilt, 
betrug  nach  den  im  Reichsversicherungsamt  angefertigten  Zu- 
sammenstellungen, welche  auf  den  von  den  Vorständen  der 
Invaliditäts-  und  Altersversicherungsanstalten  und  der  vom 
Bundesrath  zugelassenen  besonderen  Kasseneinrichtungen  ge- 
machten Angaben  beruhen,  am  30.  Juni  1892  die  Zahl  der  seit 
dem  Inkrafttreten  des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungs- 
gesetzes erhobenen  Ansprüche  auf  Bewilligung  von  Alters- 
renten bei  den  31  Versicherungsanstalten  und  den  9 vorhandenen 
Kasseneinrichtungen  205  076.  Von  diesen  wurden  158  246  Renten- 
ansprüche anerkannt  und  37  072  zurückgewiesen,  5617  blieben 
unerledigt,  während  die  übrigen  4141  Anträge  auf  andere  Weise 
ihre  Erledigung  gefunden  haben. 

Von  den  erhobenen  Ansprüchen  entfallen  auf  Schlesien 
23  339,  Ostpreussen  19  524,  Brandenburg  15  664,  Rheinprovinz 
13  759,  Hannover  11964,  Sachsen-Anhalt  11321,  Posen  10  474, 
Schleswig-Holstein  7895,  Westfalen  7709,  Westpreussen  7557, 
Pommern  6959,  Hessen-Nassau  4423,  Berlin  2157.  Auf  die  8 Ver- 
sicherungsanstalten des  Königreichs  Bayern  kommen  20733  Alters- 
rentenansprüche, auf  das  Königreich  Sachsen  8509,  Württemberg 
4638,  Baden  3829,  Gr.  Hessen  3687,  beide  Mecklenburg  4191, 
Thüringische  Staaten  4276,  Oldenburg  727,  Braunschweig  1457, 
Hansestädte  1322,  Elsass-Lothringen  6236  und  auf  die  9 zuge- 
lassenen Kasseneinrichtungen  insgesammt  2726. 

Die  Zahl  der  während  desselben  Zeitraums  erhobenen 
Ansprüche  auf  Bewilligung  von  Invalidenrenten  betrug  bei  den 
31  Versicherungsanstalten  und  den  9 zugelassenen  Kassenein- 
richtungen insgesammt  19  859.  Von  diesen  wurden  5591  Renten- 
ansprüche anerkannt  und  7861  zurückgewiesen,  5516  blieben  un- 
erledigt, während  die  übrigen  891  Anträge  auf  andere  Weise 
ihre  Erledigung  gefunden  haben. 

Von  den  erhobenen  Invalidenrentenansprüchen  entfallen 
auf  Schlesien  2937,  Ostpreussen  1875,  Rheinprovinz  1415,  West- 


No.  30. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTE AI, BLATT. 


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preussen  1047.  Hannover  1024,  Brandenburg  872,  Sachsen-Anhalt 
753,  Posen  734,  Pommern  685,  Westfalen  536,  Hessen-Nassau  433, 
Berlin  298,  Schleswig-Holstein  285.  Auf  die  8 Versicherungs- 
anstalten des  Königreichs  Bayern  kommen  2670  Invalidenrenten- 
ansprüche, auf  das  Königreich  Sachsen  594,  Württemberg  567, 
Baden  562,  Gr.  Hessen  227,  beide  Mecklenburg  207,  Thüringische 
Staaten  304,  Oldenburg  41,  Braunschweig  105,  Hansestädte  83, 
Elsass-Loth ringen  432  und  auf  die  9 zugelassenen  Kasseneinrich- 
tungen zusammen  I 173. 

Unter  den  in  den  Genuss  der  Invalidenrente  tretenden 
Personen  befanden  sich  256,  welche  bereits  vorher  eine  Alters- 
rente bezogen. 

Arbeiterversicheriing  der  Seeleute.  In  der  am 
17.  Juli  stattgefundenen  Jahresversammlung  der  See-Berufs- 
genossenschaft  (Sektion  VI)  theilte  der  Vorsitzende,  Geh. 
Kommerzienrath  Gibsone,  mit,  dass  an  das  Reichsver- 
sicherungsamt eine  Petition  gerichtet  werden  soll,  man 
möge  die  Verwaltung  der  Invaliditäts-  und  Altersversicher- 
ung für  Seeleute  in  die  Hände  der  Berufsgenossenschaft 
legen,  da  diese  nur  etwa  ein  Drittel  der  hierfür  ausgesetzten 
Summe  (400  000  M.)  beanspruchen  werde.  Seeleute  würden 
fast  nie  als  solche  70  Jahre  alt,  da  sie  in  späteren  Lebens- 
jahren zu  andern  Erwerbszweigen  überzugehen  pflegen. 
Es  ist  zu  bedauern,  dass  nur  die  Unfälle,  welche  an  Bord 
geschehen,  rentenpflichtig  sind,  Krankheits-  und  Todesfälle 
dagegen  nicht.  Grade  die  Seeleute  sind,  zumal  in  den 
fieberreichen  südlichen  Zonen,  zahlreichen  Erkrankungs- 
fällen ausgesetzt.  Die  Berufsgenossenschaft  strebt  auch 
eine  Berücksichtigung  der  Krankheitsfälle  an. 

Unfallversicherung-  im  Tiefbaugewerbe.  Die  deutsche 
Tiefbauberufsgenossenschaft  hielt  am  12.  Juli  ihre  diesjährige 
ordentliche  Genossenschaftsversammlung  in  Berlin  ab,  zu  welcher 
zahlreiche  Vertreter  von  Gemeinden  und  Verbänden  erschienen 
waren.  An  die  Mittheilung  des  Verwaltungsberichtes  knüpfte 
sich.  eine  erregte  Erörterung  über  eine  Agitation  der  Kreise, 
Regierungen  und  Städte  zu  Gunsten  einer  besseren  Vertretung 
ihrer  Interessen,  die  angeblich  durch  die  Einschätzung  der 
Wegebauarbeiten  benachtheiligt  sein  sollten.  Die  Behauptungen  j 
des  Freiherrn  v.  Gemmingen,  welcher  den  Standpunkt  der  kom- 
munalen Verbände  vertrat,  wurden  von  dem  Vorsitzenden  Bau- 
meister Bandke  und  anderen  Vorstandsmitgliedern  zahlenmässig 
widerlegt.  Ein  Antrag  auf  Aenderung  des  Kapital-Deckungs- 
verfahrens in  das  Umlage  verfahren  wurde  nicht  angenommen, 
der  Vorstand  aber  ermächtigt,  alle  möglichen  Schritte  zu  thun, 
um  durch  Heranziehen  aller  wirklichen  Tiefbauten  und  die 
schärfere  Fassung  des  Begriffs  der  Nebenbetriebe  eine  Besse- 
rung der  gegenwärtigen  Lage  herbeizuführen.  Die  zweite  Re- 
vision des  Gefahrentarifs  wurde  mit  der  Massgabe  angenommen, 
dass  falls  das  Reichsversicherungsamt  zu  den  vorgeschlagenen 
Abänderungen  seine  Zustimmung  versagt  oder  selbst  Äende- 
rungen  vornehmen  sollte,  der  alte  Tarif  vorab  noch  ein  Jahr  bei- 
zuhalten sei.  Aus  der  neunstündigen  Verhandlung  sei  nur  noch 
hervorgehoben,  dass  die  Pensiomrung  der  Beamten  der  Ge- 
nossenschaft im  Prinzip  beschlossen,  dem  Ausscheiden  mehrerer 
Staaten  (Bayern,  Reuss  j.  L.,  Schwarzburg-Rudolstadt)  die  Zu- 
stimmung prinzipiell  versagt  und  die  Beschaffung  eines  eigenen 
Geschäftshauses  abgelehnt  wurde.  Betreffs  der  Beiträge  der 
Mitglieder,  die  für  einzelne  jährlich  120  000  bis  150  000  Mk.  be- 
tragen, wurde  durch  einen  Vertreter  des  Berliner  Tiefbauvereins 
mit  Erfolg  der  Gesichtspunkt  der  Billigkeit  geltend  gemacht 
und  ein  Beitrag  von  etwa  40  000  Mk.,  der  zum  Theil  durch  eine 
zu  hohe  Schätzung  herbeigeführt  war,  auf  ein  ]ahr  gestundet. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 


Missstände  in  Fabrikwohiningen.  Welche  Missstände 
vielfach  auch  in  sog.  „Wohlfährtseinrichtungen“  der  Unter- 
nehmer namentlich  in  von  ihnen  errichteten  Arbeiterwoh- 
nungen existiren,  davon  giebt  neben  dem  Berichtsband  der 
preussischen  Gewerberäthe  für  1891  der  Bericht  des  Fabrik- 
inspektors im  Herzogthum  Sachsen-Alten  bürg  für  1891 
einen  drastischen  Beleg.  Dieser  Aufsichtsbeamte  schreibt: 
„Leider  muss  ich  zum  Schluss  auch  von  einem  Falle  be- 
richten, wo  eine  von  einer  grösseren  Fabrik  getroffene 
Einrichtung,  ihren  unverheiratheten  Arbeitern  Unterkunft 


zu  gewähren,  infolge  der  mangelnden  Aufsicht  kaum  noch 
als  eine  Wohlthat  bezeichnet  werden  konnte.  Die  Fabrik, 
in  der  viele  auswärtige  Arbeiter,  vor  allem  Polen,  beschäf- 
tigt werden,  hat  ein  Schlafhaus  eingerichtet,  in  dem  unge- 
fähr 200  Leute  beiderlei  Geschlechts  unentgeltlich  ein- 
quartirt  sind.  Bei  einer  Revision  stellten  sich  dort  ganz 
unhaltbare  Zustände  heraus.  Die  einzelnen  Stuben  waren 
überfüllt  (in  einem  Zimmer  von  50  cbm  Rauminhalt  wohn- 
ten z.  B.  10  Mädchen);  die  Trennung  der  beiden  Ge- 
schlechter war  nicht  ausreichend  streng  durchgeführt;  in 
der  Abtheilung  der  Männer  besonders  starrte  alles  vor 
Schmutz;  die  Bettwäsche,  die  nur  alle  8 Wochen  gewechselt 
wurde,  war  von  der  traurigsten  Beschaffenheit,  die  Aborte 
gleichfalls  in  einer  kläglichen  Verfassung  u.  s.  w.  Dazu 
lag  die  Aufsicht  in  der  Hand  eines  Hausmeisters,  der  nur 
durch  die  wüstesten  Schimpfworte  seinem  Regiment  Nach- 
druck verschaffen  zu  können  meinte.  Es  wurde  die 
sofortige  Beseitigung  all  der  angeführten  Uebelstände  ge- 
fordert, von  der  Fabrik  auch  sofort  in  Angriff  genommen, 
und  es  konnte  dann  binnen  Kurzem  bei  den  von  dem  Be- 
zirksarzte, sowie  von  dem  Unterzeichneten  vorgenommenen 
Revisionen  ein  befriedigender  Zustand  des  Schlafhauses 
festgestellt  werden.“ 

Wohmingszustände  in  Frankfurt  a.  Main.  Der  Ma- 
gistrat der  Stadt  Frankfurt  a.  Main  hat  jetzt  zum  ersten 
Mal  eine  erschöpfende  statistische  Beschreibung  der  Stadt 
veranlasst.  Dieselbe  ist  in  ihrem  ersten  Theile,  bearbeitet 
von  Dr.  Bleicher,  Vorsteher  des  Statistischen  Bureaus,  er- 
schienen, und  behandelt  u.  A.  auch  die  Bauthätigkeit  in 
den  Jahren  1880/91.  Bei  Gegenüberstellung  der  beiden 
Perioden  1880/85  und  1885/90  ergiebt  sich,  dass  die  Häuser 
mit  4 Obergeschossen  — höhere  sind,  nach  der  Bauordnung 
nicht  zulässig  — , welche  1880/85  wenig  mehr  als  ein  Viertel 
aller  neuentstandenen  Wohnhäuser  umfassten,  1885/90  nahezu 
die  Hälfte  ausmachten,  und  dass  andererseits  die  Zahl  der 
kleineren  Wohnungen  bis  zu  3 Zimmern  in  der  früheren 
Periode  massig  über  ein  Drittel,  in  der  späteren  noch  mehr 
wie  die  Hälfte  des  gesammten  Angebots  an  neuen  Woh- 
nungen betragen  hat.  In  dem  sich  anschliessenden  Jahr- 
gange 1890/91  traten  die  geschilderten  Verhältnisse  ebenso 
prägnant  zu  Tage.  Man  sieht  also,  dass  sich  auch  hier  die 
Wohnungsverhältnisse  immer  mehr  verschlechtert  haben 
schon  mit  Bezug  auf  die  Qualität  der  angebotenen  Woh- 
nungen. Ueber  die  Bewegung  der  Miethpreise  der  neuen 
Wohnungen  innerhalb  des  verflossenen  Jahrzehntes  konnten 
Untersuchungen  nicht  mehr  angestellt  werden,  dagegen  hat 
man  Zahlenmaterial  gesammelt,  welches  sich  auf  das  Jahr 
1889/90  bezieht.  Hiernach  stellen  sich  die  Durchschnitts- 
preise für  eine  Wohnung 


2 

von 

3 

4 

im  Stadttheil 

heiz' 

aren  Zimmern 

M. 

M. 

M. 

Südwesten 

368 

535 

752 

Westend 

398 

590 

820 

Nord  westen 

509 

543 

801 

Nordend 

374 

504 

659 

Nordosten 

360 

488 

718 

Ostend 

335 

517 

766 

Aeusseres  Sachsenhausen  . . 

265 

489 

828 

im  Durchschnitt  für  die  ganze  Stadt 

364 

526 

754 

Die  Wohnungen  mit  nur  2 Zimmern  sind  hiernach  in 
Sachsenhausen  am  billigsten,  im  Nordwesten  auffallend 
theuer;  bei  den  dreizimmerigen  sind  die  Preisschwankungen, 
abgesehen  vom  Westend,  keine  grossen.  Die  vierzimme- 
rigen  Wohnungen  scheinen  im  Nordend,  entsprechend  der 
grösseren  Zahl  leerstehender  Wohnungen,  am  billigsten  zu 
sein.  Leerstehende  Wohnungen  wurden  am  1.  Dezember 
1890  1260  gezählt,  und  zwar  mit:  1 Zimmer  89,  mit  2 Zim- 
mern 198,  mit  3 Zimmern  335,  mit  4 Zimmern  251,  mit  5 
Zimmern  174,  mit  6 und  mehr  Zimmern  213.  Von  diesen 
entfallen  auf:  die  Altstadt  104,  die  westliche  Neustadt  69, 
die  nördliche  Neustadt  50,  die  östliche  Neustadt  89,  Süd- 
westen  120,  das  Westend  64,  Nord  westen  148,  das  Nordend 
221,  Nordosten  117,  das  Ostend  76,  Alt-Bornheim  48,  Inneres 
Sachsen  hausen  29  und  äusseres  Sachsenhausen  89  Woh- 
nungen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


378 


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Geschichte.  — Staats-  u.  Volkswirthschaft 
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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  1.  August  1892. 


Nummer  31. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
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Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T 


Die  Durchführung  der  kauf- 
männischen Sonntagsruhe 
im  Deutschen  Reiche.  Von 
Dr.  Max  Quarck. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  u. 
W irthschaftsstatistik : 

Die  Auswanderung  aus  Oesterreich- 
Ungarn.  Von  Prof.  Dr.  Ernst 
Mischler. 

Staatlicher  Arbeitsnachweis  in 
Neu-Seeland.  Von  Staatssekretär 
Edward  Tregear. 

Die  Reichspostverwaltung  und  die 
Vereinsfreiheit. 

Hausindustrie  und  Fabrikindustrie. 
Berufsgenossenschaften  und  Berufs- 
sekretäre in  der  Schweiz. 

Arbeiterzustände : 

Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der 
Böttcher  Deutschlands. 
Ergebnisse  der  Fabrikaufsicht  auf 
dem  thüringer  Wald. 

Politische  Arbeiterbewegung: 
Kongress  zur  Organisirung  der 
italienischen  Arbeiterschaft. 

Gewerbeinspektion : 
Bergbauinspektoren  in  Oesterreich. 


Arbeiterversichernng: 

Reorganisation  der  deutschenUnfall- 
versicherung. 

Die  eingeschriebenen  Hilfskassen 
und  die  Krankenversicherungs- 
novelle. 

Gewerbegerichte,  Einigungs- 
ämter u.  Arbeiterausschüsse: 

Die  österreichische  parlamenta- 
rische Enquete  über  Arbeiteraus- 
schüsse etc. 

Die  Gewerbeschiedsgerichte  in 
Belgien. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Bau  von  Arbeiterwohnungen  aus 
den  Ueberschüssen  der  deutschen 
Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rung. 

Wohnungsuntersuchung  in  Braun- 
schweig. 

Die  Zahl  der  Wohnungen  und 
Haushaltungen  in  Belgien. 

Soziale  Hygiene: 

Statistik  der  Schankstätten  in 
Berlin. 

Eingesendete  Schriften 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Durchführung  der  kaufmännischen  Sonn- 
tagsruhe im  Deutschen  Reiche. 

Darüber,  wie  sich  die  Vorschriften  über  die  kauf- 
männische Sonntagsruhe  im  Deutschen  Reiche  auf  Grund 
des  § 105  b,  Absatz  2 der  neuen  Gewerbeordnung  der 
kaiserlichen  Verordnung  vom  28.  März  dieses  Jahres,  sowie 
auf  Grund  der  Anordnungen  provinzieller  und  lokaler 
Behörden  im  Grossen  und  Ganzen  am  1.  Juli  dieses 
Jahres  gestaltet  haben,  sind  die  Leser  des  Sozial- 
politischen Centralblattes  ziemlich  vollständig  unterrichtet 
worden,  ln  Preussen  und  Hessen  ist  fast  allgemein  zwei  Uhr, 
in  Sachsen,  Bayern,  Württemberg  und  Baden,  sowie  den 
thüringischen  Staaten  sind  vielfach  auch  spätere  Zeiten  als 
Schliessstunde  für  die  fünfstündige  Sonntagsarbeit  im  Han- 
delsgewerbe bestimmt  worden;  zahlreiche  Ausnahmen  für 
Lebensmittel  Verkaufsgeschäfte  gehen  nebenher.  Nur  in 
wenigen  Städten,  die  das  Sozialpolitische  Centralblatt 
ebenfalls  mittheilte,  fand  durch  Ortsstatut  eine  Verkürzung 
der  Arbeitszeit  auf  unter  5 Stunden  statt;  Süddeutschland 
stellt  hier  fast  alle  diese  Plätze  und  zeichnet  sich  dadurch 


vortheilhaft  vor  Norddeutschland  aus.  Bei  der  Kürze  der 
Geltung  jener  Vorschriften  wäre  es  nun  unter  anderen 
Umständen  kaum  geboten,  jetzt,  vier  Wochen  nach  dem 
Inkrafttreten,  bereits  auf  die  Art  und  Weise  einzugehen, 
in  welcher  die  behördlichen  Vorschriften  durchgeführt  wer- 
den. Allein  gerade  die  Durchführung  der  kaufmännischen 
Sonntagsruhe  hat,  wie  die  kaum  einer  anderen  sozialpoli- 
tischen Reform  vorher,  eine  so  heftige  Bewegung  in  den 
Interessentenkreisen,  vorwiegend  bei  den  Geschäftsinhabern, 
hervorgerufen,  dass  es  nicht  überflüssig  erscheint,  die  An- 
gelegenheit einmal  von  der  Warte  des  ruhigen  Beobach- 
ters zu  überschauen  und  darzustellen. 

Gar  keine  Schwierigkeiten  macht  augenscheinlich  die 
Durc'  führung  der  kaufmännischen  Sonntagsruhe  in  den 
Comptoren  der  Bank-,  Engros-  und  Fabrikgeschäfte. 
Selbst  aus  den  Städten,  in  welchen  die  Arbeitszeit  durch 
Ortsstatut  auf  2 bis  3 Stunden  beschränkt  oder  für  Comp- 
tore  ganz  verboten  ist,  kommen  nicht  die  geringsten 
Klagen.  Es  zeigt  sich  eben,  dass  hier  die  Gestattung  der 
Sonntagsarbeit  überhaupt  nicht  nothwendig  gewesen  wäre, 
und  es  behalten  Diejenigen  Recht,  welche  von  vornherein 
einer  differentiellen  Behandlung  des  Gross-  und  Klein- 
geschäftes das  Wort  redeten.  In  Frankfurt  a.  Main  z.  B. 
sind  eine  Reihe  einsichtiger  Prinzipale  des  Grossgeschäftes 
aus  freien  Stücken  zum  völligen  Schluss  übergegangen, 
nachdem  die  Arbeitszeit  durch  Ortsstatut  auf  2XL  Stunden 
beschränkt  und  auf  die  unbequeme  Zeit  von  x/2\  1 bis  1 Uhr 
Mittags  verlegt  war,  und  mehrere  Mitglieder  der  Frank- 
furter „Effektensozietät“,  welche  bisher  in  den  Winter- 
monaten den  Sonntags börsen verkehr  hauptsächlich  ver- 
mittelt haben,  für  eine  ausserordentliche  Generalversamm- 
lung vom  8.  August  d.  Js.  ebenfalls  den  gänzlichen  Schluss 
beantragten.  Auch  für  Berlin  wurde  der  „Voss.  Ztg.“  vom 
13.  Juli  d.  Js.  geschrieben:  „Man  öffnet  die  (Engros-  und 

Fabrik-)  Geschäfte  meistens  an  Sonntagen  überhaupt  nicht 
mehr“,  während  der  Münchener  „Allg.  Ztg.“  gemeldet 
wurde:  „In  Berlin  dürfte  betreffs  der  Handhabung  der 

Sonntagsruhe  in  der  Bankbranche  ein  einheitlicher  Modus 
nicht  statthaben.  Die  meisten  Banken  des  Platzes,  sowie 
eine  Anzahl  grösserer  Firmen  werden  ihre  sämmtlichen 
Büreaus  künftig  am  Sonntag  vollständig  geschlossen  halten, 
während  in  anderen  Geschäften  in  den  behördlicherseits 
gestatteten  Morgenstunden  die  nothwendigsten  Arbeiten  er- 
ledigt werden  sollen.  Eine  wesentliche  Förderung  der  Ar- 
beiten ist  hiervon  jedoch  kaum  zu  erwarten,  da  zu  der 
frühen  Stunde  die  zur  Erledigung  der  Arbeiten  erforder- 
liche Post  noch  nicht  in  den  Händen  der  Empfänger  ist.“ 

Aber  die  Hoffnung,  dass  die  wohl  in  der  Minderzahl 
befindlichen  „anderen  Geschäfte“  mit  der  Zeit  ebenfalls 


380 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  31. 


auf  die  Sonntagsarbeit  gänzlich  Verzicht  leisten,  wird  frei- 
lich getrübt  durch  eine  Bewegung,  die  auf  eine  Anpassung 
der  Poststunden  an  den  Vormittagsverkehr  der  Comptore 
hinarbeitet  und  allem  Anscheine  nach  gerade  von  solchen 
Grossgeschätten  ausgeht,  die  an  einigen  Arbeitsstunden  für 
den  Sonntag  festhalten  möchten.  Schon  Ende  Juni  wurde 
in  der  Berliner  „Deutschen  Volkswirtschaftlichen  Correspom 
denz“sehr  ärgerlich  darauf  hingewiesen, dass  dieNachmittags- 
stunden  von  5 — 7 Uhr  dem  Kaufmann  Nichts  mehr  nützen 
würden.  Unter  Hinweis  auf  den  in  Berlin  um  2Uhr  Nachmittags 
eintretenden  Geschäftsschluss  heisst  es:  „Die  sonderbare 
Konsequenz  dieser  Einrichtung  ist  nun  die,  dass  der  Kauf- 
mann zwar  durch  seine  Angestellten  an  Sonn-  etc.  Tagen 
in  zeitlich  beschränktem  Umfange  dringliche  Arbeiten  aus- 
führen lassen  darf:  aber  es  hilft  ihm  nichts,  wenn  er  von 
dieser  „Freiheit“  Gebrauch  macht,  da  er  die  fertig  gestellte 
Korrespondenz,  Geldsendungen,  Packete  etc  der  Post  nicht 
übergeben  kann.  Es  müssen  diese  Dinge  vielmehr  bis 
Montag  hegen  bleiben,  d.  h.  da  die  Hauptzüge  meist 
Nachts  laufen,  gehen  volle  24  Stunden  verloren,  und  die 
ganzen,  angeblich  auf  das  wirkliche  Bedürfniss  des  Ge- 
schäftsverkehrs Rücksicht  nehmenden,  als  zulässig  erklärten 
Ausnahmen  vom  Sonntagsarbeitsverbote  haben  nach  dieser 
Richtung  hin  gar  keine  Wirkung.“  Als  praktische  Conse- 
quenz  dieser  geschäftseifrigen  Betrachtungen  ist  die  schon 
erwähnte  Petitionsbewegung  anzusehen,  die  bei  allen 
deutschen  Handelskammern  von  derjenigen  in  Bonn  an- 
geregt wurde  und  zum  Anschluss  an  eine  Eingabe  beim 
Bundesrath  bezw.  Reichskanzler  auffordert,  in  welcher  um 
Oeffnung  der  Postschalter  „während  einer  Stunde  nach 
dem  Hauptgottesdienste“  gebeten  wird.  Einzelne  Handels- 
kammern, so  die  von  Frankfurt  a.  Main,  wenden  sich  ausser- 
dem an  die  lokale  Postbehörde  und  verlangen  die  Oeffnung 
der  Schalter  von  11 — 1 Lhr,  also  sogar  während  zweier 
Stunden.  Von  einem  Wegfall  der  Dienststunden,  die  bis- 
her von  5 — 7 Uhr  Nachm,  lagen,  ist,  soweit  man  sehen 
kann,  nur  in  der  Eingabe  der  Handelskammer  Karlsruhe 
die  Rede,  so  dass  es  den  Anschein  gewinnt,  als  wolle  man 
den  Postbeamten  zu  Gunsten  des  kaufmännischen  Geschäfts- 
nutzens am  liebsten  eine  dreifache  Sonntagsdienstzeit  zu- 
muthen.  Die  obersten  Behörden  werden  diesen  Gesichts- 
punkt mit  Hinblick  auf  ihre  vielgeplagten  Beamten  jeden- 
falls beachten,  ebenso  wie  den  anderen,  dass  die  Oeffnung 
der  Schalter  von  11  — 12  oder  11  — 1 Uhr  Mittags  eine 
Verewigung  der  Sonntagsarbeit  in  den  Comptoren  be- 
deutet, während  sonst  die  Verhältnisse  sich  ohne  Zweifel 
allmählich  zur  völligen  Beseitigung  der  Sonntagsarbeit  in 
den  Comptoren  entwickeln  dürften. 

Wenn  sich  also  die  Inhaber  der  Engros-,  Bank-  und 
Fabrikgeschäfte  den  neuen  Vorschriften  ziemlich  leicht  an- 
passen, so  gilt  das  Gegentheil  von  einem  grossen,  jeden- 
falls sehr  lauten  Theil  des  Inhabers  offener  Verkaufs- 
geschäfte. Ausgeschieden  seien  hier  von  vornherein  die 
Barbiere  und  Friseure,  die  zum  Theil  durch  eine  irr- 
thümliche  Auffassung  der  Behörden  (z.  B.  in  Frankfurt  a.  M.) 
als  mit  ihrem  ganzen  Geschäftsbetrieb  unter  § 105b,  Abs.  2 
der  G.-O.  fallend  betrachtet  und  auf  diese  Weise  in  eine  leb- 
hafte Gegenagitation  hinein  getrieben  wurden.  Nach  der 
richtigen  Auffassung  fällt  ausschliesslich  ihr  kleiner,  neben- 
sächlicher Handelsbetrieb  unter  die  kaufmännische  Sonn- 
tagsruhe, nicht  ihr  handwerksmässiger  Hauptbetrieb,  der 
erst  durch  die  später  in  Kraft  zu  setzenden  Sonntagsruhe- 
vorschnften  für  Industrie  und  Kleingewerbe  geregelt  wer- 
den wird.  In  dieser  Richtung  haben  die  Behörden  auch 
ihren  Irrthum  korrigirt;  in  Frankfurt  a.  M.  wollen  die  Be- 
troffenen deshalb  Schadenersatzklagen  (pro  Sonntag  6 M. 

\ erlust)  anstrengen.  Wenn  daneben  bezüglich  des  kauf- 
männischen Betriebes  der  Friseure  aus  Spandau  der  „Voss. 


Ztg.“  unterm  6.  Juli  gemeldet  wurde:  „Vierzehn  Inhaber 
hiesiger  Barbiergeschäfte , welche  nebenbei  noch  einen 
Handel  mit  kleinern  Gebrauchsgegenständen,  auch  Cigarren 
etc.  betreiben,  haben  ihr  Gewerbe  abgemeldet;  da  sie  an 
den  Sonntagen  während  der  Hauptgeschäftszeit  fortan 
nichts  verkaufen  dürfen,  so  glauben  sie,  dass  der  Handel 
nicht  mehr  lohnend  genug  sein  werde,  um  dafür  etwa  50  M. 
Abgaben  jährlich  zu  entrichten,  und  sie  geben  ihn  daher 
auf“  so  dürfte  das  Verschwinden  dieser  kaufmännischen 
Zweiggeschäfte  im  Nebenbetrieb  volkswirthschaftlich  kaum 
zu  beklagen  sein,  ebenso,  wie  das  Sonntagsverbot  für  Hau- 
sirer,  so  traurig  es  auch  zunächst  wirken  mag,  vielleicht 
eine  reinigende  Wirkung  ausübt. 

Dafür  macht  der  mit  der  Sonntagsruhe  unzufriedene 
1 heil  der  Ladeninhaber  in  beinahe  allen  Gegenden  des 
Reichs,  namentlich  aber  in  Nord- und  Nordwestdeutsch- 
land sehr  energische  Opposition  gegen  die  neuen  Vor- 
schriften. Volle  Berechtigung  darf  man  ohne  Weiteres  den 
Beschwerden  über  die  unhaltbaren  Folgen  der  Regelung 
nach  Regierungsbezirken  oder  Provinzen  zugestehen.  Auch 
die  kaufmännische  Sonntagsruhe  wird  sicher  sehr  bald  ein- 
heitlich vom  Reich  festgesetzt  werden  müssen,  — das  be- 
stätigen diese  Erfahrungen  von  Neuem.  Nur  ein  Beispiel 
für  viele:  nach  den  in  Berlin  gütigen  Polizeivorschriften 
schliessen  die  Bäcker  ihre  Läden  von  zehn  bis  zwölf  L’hr 
Vormittags  und  von  drei  Uhr  Nachmittags  ab,  im  Kreise 
Teltow  dagegen  sind  die  Zeitpunkte  des  Oeffnens  und 
Schliessens  auf  anderthalb  Stunden  früher  verlegt  worden 
Dies  hat  im  Süden  Berlins  eine  eigenartige  Wirkung  her- 
vorgebracht. Der  Kottbuserdamm  gehört  mit  der  einen 
Seite  zu  Berlin,  mit  der  andern  zu  Rixdorf.  Nachdem  die 
Bäcker  des  letzteren  Ortes  um  1 1/2  Uhr  geschlossen  hatten, 
suchten  deren  Kunden  die  Berliner  Geschäfte  auf,  welche 
bis  drei  Uhr  verkauften.  Das  ist  nicht  haltbar,  und  es  wird 
begreiflich,  dass  der  Kommunalverein  der  östlichen  Char- 
lottenburger Stadtbezirke  schon  in  der  zweiten  Juliwoche 
an  den  Regierungspräsidenten  die  Bitte  richtete,  eine  ein- 
heitliche Regelung  der  Sonntagsruhe  in  Berlin  und  Char- 
lottenburg durch  Festsetzung  gleicher  Geschäftsstunden 
herbeizuführen  und  dadurch  die  grossen  Nachtheile  abzu- 
wenden, welche  den  Charlottenburger  Kaufleuten  in  den 
östlichen  Stadtbezirken  dadurch  drohen,  dass  die  Geschäfte 
in  dem  angrenzenden  Berlin  Sonntags  Vs  Ws  1 Vs  Stunde 
später  geschlossen  werden.  Eine  solche  einheitliche  Rege- 
lung muss  eben  zunächst  im  ganzen  Umkreise  von  Berlin 
und  später  im  ganzen  Reiche  eintreten.  Damit  verschwindet 
dann  vielleicht  auch  ein  Theil  der  Klagen,  die  in  lärmen- 
dem Durcheinander  namentlich  von  den  Lebensmittel-  und 
Zigarrenhändlern  vorgetragen  werden.  In  der  Haupt- 
sache richtet  sich  freilich  der  Widerstand  einzel- 
ner Kleinhändlergruppen  gegen  die  Beschränkung 
der  bisherigen  Sonntagsarbeit  überhaupt.  Spezerei- 
händlern in  Essen  z.  B.  sind  fünf  Stunden  Verkaufszeit  zu 
wenig;  sie  wollen  wohl  in  der  Zeit  von  10—12  Uhr  Vor- 
mittags, während  des  dahin  zu  verlegenden  Hauptgottes- 
dienstes schliessen,  aber  sonst  den  ganzen  Sonntag  auf- 
behalten. Dass  diese  Forderung  übertrieben  ist,  zeigt  eine 
zweite  Eingabe  Essener  und  Dortmunder  Kauf  leute,  die  den 
Gottesdienst  auf  die  Zeit  von  7 — 9 Uhr  Vormittags  und  die 
Verkaufszeit  auf  9 — 2 Uhr  Nachmittags  verlegt  haben  will. 
Im  Interesse  ähnlicher  Wünsche  erliess  der  Regierungs- 
präsident zu  Oppeln  bereits  eine  Verfügung  an  die  Land- 
räthe  seines  Bezirks,  nach  welcher  die  gottesdienstliche 
Pause  nicht  übermässig  auszudehnen  ist,  damit  für  den 
Verkehr  möglichst  viel  Zeit  übrig  bleibt.  Während  die 
ministerielle  Ausführungsverordnung  vorschreibt,  dass  für 
den  Colonialwaarenhandel  keine  Ausnahmen  zu  gewähren 
sind,  wollen  die  bezüglichen  Interessenten  einzelner  Aussen- 


No.  31. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


381 


viertel  in  Magdeburg  und  Frankfurt  a.  M.  den  Verkauf  in 
einigen  Abendstunden  erlaubt  haben.  Um  die  Festsetzung 
der  Zeit  drehen  sich  auch  die  Forderungen  der  Bäcker  in 
Düren,  die  neben  den  sonstigen  5 Stunden  bis  2 Uhr  auch 
noch  Verkaufszeit  von  7 — 9 Uhr  Abends  haben  wollen, 
während  umgekehrt  die  Bäcker  in  Frankfurt  a.  M.  be- 
haupten, kein  Interesse  an  den  Abendstunden  von  5-6  Uhr 
zu  haben,  sondern  lieber  bis  3 Uhr  Nachmittags  offen  halten 
wollen.  In  Karlsruhe  verlangen  Bäcker,  Conditoren  und 
Metzger  eine  Ausdehnung  der  Arbeitszeit  auf  Nachmittag 
und  Abend,  in  Hessen  finden  sich  Gewerbevereine,  die 
solche  Forderungen  vertreten.  Aus  diesen  verschiedenen 
Begehren  bleibt  unseres  Erachtens  lediglich  das  Bestreben, 
durch  allerlei  Ausnahmen  die  alte,  missbräuchliche 
Ausdehnung  der  Sonntagsarbeit  wieder  herzu- 
stellen und  die  Profitsucht  der  Geschäftsinhaber,  ohne  jede 
Rücksicht  aut  die  Interessen  der  Hilfsarbeiter  jede  mögliche 
Verkaufszeit  am  Sonntag  herauszuschlagen.  Klagen  des 
Publikums,  des  Hauptbetheiligten,  auf  welches  sich  die 
Kleinhändler  regelmässig  berufen,  sind  so  gut  wie  gar 
nicht  laut  geworden,  höchstens  bezüglich  des  Milch- 
handels für  Säuglinge,  den  die  Behörden  in  Berlin  deshalb 
fast  unbeschränkt  gestattet  haben,  sowie  bezüglich  der 
Collision  einer  zu  späten  Lohnzahlung  (Samstag  Abend) 
an  gewerbliche  Arbeiter  mit  der  Beschränkung  des  Sonn- 
tagsverkaufsgeschäftes, die  eine  Festsetzung  des  Lohnzahl- 
tages auf  Freitag  Abend  durch  Ortsstatut  räthlich  erscheinen 
lässt.  Für  die  unkontrolirbaren  Verlustlisten,  die  einzelne 
Detailhändler,  wie  es  scheint  namentlich  der  Manufaktur- 
und  Zigarrenbranche,  in  den  Lokalblättern  veröffent- 
lichen, gilt  das  Wort  des  Vorsitzenden  des  Karlsruher 
Bezirksrathes  und  des  Präsidenten  der  Handelskammer 
von  Pforzheim , die  den  Interessenten  sehr  richtig 
sagten,  dass  die  an  wenigen  Sommertagen  gemachten 
Erfahrungen  nicht  genügen , um  ein  abschliessendes 
Urtheil  zu  fällen.  Wie  lärmende  Versammlungen  in 
Berlin  gezeigt  haben , widersprechen  sich  auch  heute 
noch  in  der  Branche , welche  die  lautesten  Klagen 
erhebt,  im  Zigarrenhandel,  die  Ansichten  der  Prinzipale 
vollständig.  Desto  bedauerlicher  ist  es  freilich,  wenn  in 
Bayern  und  Baden  doch  bereits  behördliche  Zugeständ- 
nisse an  die  Inhaber  offener  Verkaufsgeschäfte  gemacht  und 
die  fünf  Arbeitsstunden  ganz  gegen  den  Geist  des  Reichs- 
gesetzes bis  in  die  späten  Nachmittagsstunden  verlegt 
werden.  Die  preussischen  Behörden  werden  an  einer  inter- 
essanten Stelle  eine  Kraftprobe  abzulegen  haben:  Freiherr 
von  Stumm  hat  sich  im  Saarrevier  an  die  Spitze  einer  Be- 
wegung von  Detailhändlern  gestellt,  die  auf  dem  Umwege 
des  Ortsstatuts  für  Saarbrücken  und  St.  Johann  die  vom 
Regierungspräsidenten  blos  bis  2 Uhr  erstreckten  Arbeits- 
stunden bis  weit  in  den  Nachmittag  verlegt  haben  wollen. 

Nicht  mit  der  zeitlichen  Ausdehnung,  sondern  mit  der 
Konkurrenzfrage  beim  sonntäglichen  Detail  verkauf  be- 
schäftigt sich  schliesslich  eine  weit  mehr  berechtigte  Be- 
wegung der  Kleinhändler  gegen  den  Lebensmittelverkauf 
in  Gasthäusern  und  Schankstätten.  Hier  sind  Uebel- 
stände  vorhanden,  denen  mit  der  Zeit  begegnet  werden 
muss,  ohne  dass  übrigens  die  Sonntagsruhe  puritanisch 
gemacht  zu  werden  braucht.  Den  Zigarrenhändlern  könnte 
jetzt  schon  Beruhigung  dadurch  geboten  werden,  dass  der 
Sonntagsverkauf  von  Zigarren  in  Wirthshäusern  gänzlich 
untersagt  würde;  denn  das  stundenweise  Verbot  lässt  sich 
nicht  kontrolliren.  Im  Uebrigen  aber  trifft  wohl  die  Ver- 
fügung des  Berliner  Polizeipräsidenten  das  Richtige,  die 
besagt:  „Der  Betrieb  des  Gast-  und  Schankwirthschatts- 
gewerbes,  welcher  nach  § 105  c der  Gewerbeordnung  von 
den  Bestimmungen  über  die  Sonntagsruhe  berührt  wird, 
begreift  es  in  sich,  dass  diejenigen  zum  Genuss  fertigen 


Speisen  und  Getränke,  welche  im  Lokale  an  anwesende 
Gäste  verabfolgt  werden,  auch  an  Personen,  welche  es  vor- 
ziehen oder  genöthigt  sind,  ausserhalb  der  Gastwirthschaften 
die  dort  eingeführten  Genussmittel  zu  verzehren,  gegen 
Entgelt  überlassen  zu  werden  pflegen.  Nur  in  dieser  der 
gesetzlichen  Lage  entsprechenden  Begrenzung  ist 
der  sogenannte  „Verkauf  über  die  Strasse“  im  Betriebe  der 
Gastwirthschaften  für  einen  Bestandtheil  der  letzteren  und 
demnach  als  von  der  Sonntagsruhe  nicht  betroffen  zu  er- 
achten. Jeder  Handel  dagegen  mit  Lebensmitteln  und 
Waaren  irgend  welcher  Art,  welche  auch  in  eigentlichen 
kaufmännischen  Geschäften  verkauft  werden,  insbesondere 
der  mit  Bäcker-  und  Fleischwaaren,  ist  im  Verkehr  nach 
aussen  als  ein  mit  der  Gastwirthschaft  nicht  zusammen- 
hängender Handelsbetrieb  anzusehen.  Es  kommt  also  im 
einzelnen  Falle  lediglich  darauf  an,  zu  beurtheilen,  ob  der 
Begriff  einer  zum  „Genuss  fertigen“  Speise,  beziehungsweise 
eines  „zum  sofortigen  Genuss  bestimmten“  Getränkes  vor- 
liegt“. Das  entspricht  durchaus  der  unbefangeneren  deut- 
schen Auffassung  von  der  Sonntagsfreiheit,  die  in  keiner 
Weise  durch  ein  Gesetz  verkümmert  werden  darf,  welches 
gerade  für  die  rein  menschliche  Erholung  der  kaufmänni- 
schen Angestellten  geschaffen  ist.  Damit  im  Zusammenhang 
steht  wohl  auch  die  Erlaubniss  zu  erweitertem  Eis-  und 
Biervertrieb  (in  Gebinden),  welche  der  Polizeipräsident  für 
Frankfurt  a.  M.  gab.  Der  Kleinhändler  kann  nicht  aus 
Gewinnsucht  und  Konkurrenzneid  das  Erquickungsgewerbe 
unterbinden  wollen. 

Soviel  hässlichen  Leidenschaften  gegenüber,  die  von 
der  Einführung  einer  keineswegs  idealen  kaufmännischen 
Sonntagsruhe  für  die  Uebergangszeit  entfesselt  worden  sind, 
sollten  die  Behörden  grosse  Ruhe  und  Strenge  bewahren, 
für  den  Augenblick  und  für  später.  Für  den  Augenblick: 
weil  es  kühl  zu  bleiben  und  festzuhalten  gilt  an  dem  be- 
rechtigten Gedanken  mindestens  eines  halben  Ruhetags  in 
der  Woche  für  die  Arbeiter  des  Handelsstandes,  denen 
gerade  in  Folge  der  Sonntagsruhe  schon  wieder  in  einzelnen 
Geschäften  die  Wochenarbeitszeit  bis  10,  ja  bis  12  Uhr 
Nachts  verlängert  worden  ist.  Für  später:  weil  es  gilt  ein 
klares  und  ungetrübtes  Urtheil  zu  gewinnen  über  die  Mög- 
lichkeit der  Ausdehnung  einer  vorläufig  nur  halben  Sonn- 
tagsruhe zu  einer  vollständigen  und  wirksamen,  trotz  des 
Widerstandes  der  Gewinnsucht. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Die  Auswanderung  aus  Oesterreich-Ungarn. 

Während  aus  den  meisten  europäischen  Staaten  Jahr 
für  Jahr  unaufhaltsam  gewaltige  Menschenmassen  entströmen 
und  sich  eine  neue  Heimath  in  den  anderen  Kontinenten 
zu  gründen  suchen  und  ihre  Zahl  in  den  4 — 5 grösseren 
Reichen  allein  gewiss  auf  1/2  Million  veranschlagt  werden 
kann,  schien  es  bis  vor  Kurzem,  dass  Oesterreich-Ungarn 
der  an  Territorium  zweite  und  an  Bevölkerungszahl  dritte 
Grossstaat  Europas,  von  dieser  Wanderbewegung  ausge- 
nommen sei.  Die  Auswandererziffern,  welche  die  offizielle 
Statistik  für  Oesterreich  und  Ungarn  beibrachte,  waren  so 
geringfügig,  dass  der  Anschein  erweckt  wurde,  als  sei  die 
Erscheinung  nicht  der  Beachtung  werth.  Damit  ist  ein 
Seitenstück  zu  der  noch  von  Vielen  getheilten  Ansicht  ge- 
geben, dass  die  soziale  Frage  in  Oesterreich  nicht  mit 
gleicher  Gewalt  zur  Lösung  dränge,  wie  anderwärts.  Nun, 
von  der  letzteren  Behauptung  ist  man  doch  in  den  letzten 


382 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  31. 


Jahren  nachgerade  abgekommen,  wenn  auch  nicht  mit 
vollem  Nachdrucke.  Weil  in  Oesterreich  noch  nicht  jene 
grossen  und  eindringlichen  Enqueten  vorgenommen  wurden 
wie  in  England,  in  Belgien  und  Italien,  weil  daher  die  Zu- 
stände noch  vielfach  nicht  in  ihrer  wahrenGestalt  bekannt  sind, 
deshalb  verkennt  man  sie.  So  erging  es  auch  mit  der  Frage 
der  Auswanderung.  Erst  in  der  unmittelbarsten  Gegen- 
wart, d.  i.  seitdem  die  amtliche  Statistik  der  Auswanderung 
auf  eine  völlig  neue  und  die  einzig  mögliche  Basis  der  Er- 
fassung der  Auswanderer  an  den  wichtigsten  Einschiffungs- 
orten gestellt  wurde,  zeigt  sich  die  Erscheinung  in  ihrer  vollen 
Tragweite.  Im  Jahre  1890  betrug  die  Zahl  der  über- 
seeischen Auswanderer  aus  Österreich-Ungarn  in  den  wich- 
tigsten Einschiffungshäfen  etwa  75  000;  damit  stellt  sich 
dieses  Reich  unmittelbar  nach  Deutschland  (ca.  100  000)  und 
England  (200  000)  an  die  dritte  Stelle  in  den  europäischen 
Staaten.  Es  kann  aber  mit  voller  Berechtigung  die  Ziffer 
von  75  000  für  die  Gesammtauswanderung  als  zu  gering- 
angenommen  werden.  Die  Nachweisungen  sind  allerjüngsten 
Datums  und  zeigen  ein  stetiges  Anwachsen  in  solchen 
Dimensionen,  wie  sie  den  vorliegenden  konstanten  Ursachen 
nicht  entsprechen;  vermuthlich  liegt  also  einfach  eine  Er- 
höhung der  Richtigkeit,  d h.  der  Vollständigkeit  der  Ziffern 
zu  Grunde.  Ueberdies  ist  zu  bemerken,  dass  es  für  Oester- 
reich nicht  genügt,  die  überseeische  Auswanderung,  nament- 
lich jene  über  die  von  der  Auswanderungsstatistik  allge- 
mein acceptirten  Hafenorte  allein  ins  Auge  zu  fassen.  Es 
ist  vielmehr  nothwendig,  dem  Umstande  gerecht  zu  werden, 
dass  Oesterreich-Ungarn  von  jeher  einen  engen  Zusammen- 
hang mit  dem  Oriente,  auch  mit  dem  Balkan,  besessen  hat, 
und  dass  sich  dahin  ein  grosser  Theil  der  Auswanderer 
wenden  dürfte.  Darnach  steht  es  ausser  Zweifel,  dass 
Oesterreich  unter  jene  Staaten  Europas  zählt,  deren  Aus- 
wanderung, und  zwar  dauernd,  die  grösste  ist,  und  dass  für 
seine  inneren  Verhältnisse  das  Problem  alle  Beachtung  er- 
heischt. Deshalb  dürfte  es  nicht  ohne  Interesse  sein,  die 
Ursachen  klarzulegen,  welche  diese  Erscheinung  hervor- 
rufen.  Die  Aufsuchung  derselben  wird  dadurch  erschwert, 
dass  ein  genügendes  Ziffernmaterial  noch  nicht  zu  Gebote 
steht.  Andererseits  wird  die  Sache  dadurch  erleichtert,  dass 
die  Erscheinung  sowie  ihre  Ursachen  permanent,  chronisch 
sind  und  deshalb  aus  der  Berücksichtigung  allgemeiner 
innerer,  wirthschaftlicher  und  politischer  Vorgänge  abge- 
leitet werden  können. 

Vor  rund  100  Jahren  wurde  der  inneren  Kolonisation 
im  Staate  ein  grosses  Augenmerk  zugewendet.  Aus  den 
dichter  bewohnten,  deutschen,  industriellen  Gegenden  des 
Westens,  aus  den  vorderösterreichischen  Gebieten,  aus 
Böhmen  u.  s.  f.  wurden  Bauern  und  Handwerker  nach 
Ungarn,  Galizien  und  der  Bukowina  versetzt,  und  schwä- 
bische, sächsische  und  deutsch-böhmische  Kolonien  in  den 
genannten  Gebieten  gegründet.  Diese  Bewegung  gerieth 
sehr  bald  ins  Stocken,  wenn  auch  naturgemäss  der  Familien- 
zusammenhang, die  Bekanntschaft  und  Freundschaft  viel- 
fach Veranlassung  war,  dass  noch  lange  Zeit  nachher,  ja 
hie  und  da  bis  heute  noch,  kleinere  Bevölkerungstheile  aus 
diesen  ehemaligen  Herkunftsorten  den  Vorangegangenen 
nachfolgen.  Die  inneren  Verhältnisse  haben  sich  eben  der- 
massen gestaltet,  dass  eine  solche  innere  Kolonisation  un- 
endlich erschwert  und  vielfach  ganz  verhindert  wird.  Eine 
wichtige  Vorbedingung  derselben  ist  die  centralistische 
Staatsform.  Der  Auswandernde  wählt  im  Staate  einen 
anderen  Wohnsitz  mit  Vorliebe  nur  so  lange,  als  er  die  ge- 
wohnten und  liebgewordenen  Verhältnisse  anderwärts  zu 
finden  hofft.  Das  hat  nun  vielfach  aufgehört.  Die  Wande- 
rungen nach  Ungarn  haben  seit  den  stürmischen  Zeiten  um 
die  Mitte  des  Jahrhunderts  und  mit  Begründung  der  Staats- 
hoheit um  1867  aufgehört.  Galizien  und  die  Bukowina, 
zwei  ehemals  mit  Vorliebe  von  den  Westländern  aufge- 
suchte Gegenden,  haben  ihren  Charakter  geändert.  In 
Galizien  hat  das  polnische  Element  ausschliesslich  die  Ober- 
hand gewonnen  und  überdies  ist  das  Land  in  agricoler 
Hinsicht  ebenso  wie  in  industrieller  kaum  vorwärts  ge- 
schritten. Der  Bauernstand  ist  durch  den  bäuerlichen 
Wucher  und  die  ungemein  zahlreichen  Exekutionen  herab- 


gekommen, die  Städte  aber  haben  keinen  Mittelstand,  keine 
Gewerbetreibenden  im  richtigen  Verhältnisse,  sie  sind  Markt- 
und  Binnenaustauschplätze  geworden  und  dienen  in  immer 
erhöhterem  Masse  der  jüdisch-orthodoxen  Bevölkerung  als 
Wohnsitze,  welche  sich  in  den  letzten  Jahren  allmählich 
auch  der  gewerblichen  Thätigkeit  zuwendet.  Hält  man 
dazu  den  Umstand,  dass  der  Süden  der  Monarchie  eigent- 
lich niemals  ein  Attraktionsgebiet  für  innere  Kolonisation 
war,  so  kann  somit  behauptet  werden,  dass  der  inneren 
Wanderung  heute  nahezu  unübersteigliche  Schwierigkeiten 
entgegenstehen,  welche  überdies  durch  Verwaltungsmass- 
nahmen nicht  überwunden  werden.  Der  Bevölkerung  der 
dichten,  industriellen  und  agricol-intensiv  wirthschaften- 
den  Länder  des  Westens  steht  dieses  Ventil  nicht  mehr  zu 
Gebote,  sie  musste  ein  anderes  öffnen,  es  blieb  ihr  nichts 
anderes  als  die  Auswanderung  aus  dem  Staate  übrig.  Aber 
auch  die  ehemaligen  Attraktionsgebiete  der  inneren  Wande- 
rung, Galizien  und  die  Bukowina  sowie  Ungarn  haben  sich 
in  dieser  Hinsicht  vollständig  geändert,  sie  sind  heute  Aus- 
wanderungsgebiete, und  es  dürfte  nicht  angezweifelt 
werden,  dass  auch  die  Bewohner  des  verarmten  Südens  des 
Staates,  welcher  schon  seit  langer  Zeit  eine  Anziehung  auf 
die  anderen  Theile  desselben  nicht  mehr  auszuüben  ver- 
mochte, ihr  bedeutendes  Kontingent  zu  der  Auswanderung, 
wenigstens  zu  den  temporären  Wanderungen  stellen.  Der 
Westen  des  Landes  endlich,  der  in  richtiger  Erkenntniss 
der  populationistischen  Tendenzen  zu  Ende  des  vorigen 
Jahrhundert  von  Obrigkeitswegen  entleert  wurde,  besitzt 
heute  ganz  im  Gegentheile  eine  grosse  Anziehungskraft  auf 
die  ehemaligen  Kolonisationsgebiete  und  seine  Bevölkerung 
verdichtet  sich  demgemäss  nicht  nur  durch  innere  Zunahme 
immer  mehr. 

Nun  gab  es  in  den  jüngsten  Dezennien  in  Oesterreich 
einen  Umstand,  der  die  innere  Wanderung  noch  ermöglichte, 
welcher  sich  so  erhebliche  Hemmnisse  entgegenstellten;  dies 
war  der  Mangel  an  grossen  Städten.  Oesterreich-Ungarn  hat  , 
heute  nur  1 Millionenstadt,  1 Stadt  mit  1/2,  1 mit  7,3  Mill.  und 
sonst  nur  3 Städte  mit  etwas  über  100  000,  endlich  noch 
9 Städte  mit  über  50  000  Einwohner.  Es  ist  somit  heute 
noch  der  städtischen  Entwickelung  die  Thüre  weit  geöffnet 
und  vorauszusehen,  dass  die  inneren  Wanderungen  für  eine 
Zeit  lang  hierin  ein  Ventil  finden  werden.  Nur  ist  dabei 
zu  sagen,  dass  dieses  Auskunftsmittel  eben  unvollkommen 
ist  und  dass  die  Städte  immer  nur  einen  Bruchtheil  der  zur 
Wanderung  Genöthigten  in  sich  aufnehmen  können.  Andrer- 
seits ist  es  noch  fraglich,  ob  das  rasche  Anschwellen  der  < 
Städte  als  ein  günstiger  Entwickelungsfaktor  mit  Beziehung  \ 
auf  das  ganze  Volk  angesehen  werden  kann.  Jedenfalls  j 
vermag  das  Anwachsen  der  Städte,  das  in  der  unmittel- 
barsten Gegenwart  auch  in  Oesterreich  zu  bemerken  ist, 
die  allgemeinen  Migrationstendenzen  nicht  wesentlich  zu 
berühren. 

Hinsichtlich  dieser  liegen  nun  die  Verhältnisse  in  den 
einzelnen  Theilen  des  Reiches,  was  die  Wanderungsursachen 
anbelangt,  sehr  verschieden.  Die  Bevölkerung  hat  sich  im 
19.  Jahrhundert  in  Uebereinstimmung  mit  anderen  Staats- 
bevölkerungen etwa  verdoppelt,  und  damit  erhebliche 
Anforderungen  an  die  wirthschaftlichen  Existenzmittel  ge- 
stellt. Die  letzteren  haben  sich  in  den  einzelnen  Haupt- 
gebieten des  Staates  sehr  verschiedenartig  entwickelt. 

Die  dichtest  bewohnten,  besten  Länder  des  Reiches 
sind  Böhmen,  Mähren,  Schlesien,  Nieder-  und  Oberösterreich 
und  Nordsteiermark.  Hier  war  die  Bevölkerungsvermehrung 
im  19.  Jahrhundert  weitaus  grösser  als  1 : 2.  Die  Grossbe- 
sitze und  die  Latifundien  sind  hier  ebenso  wie  in  Deutsch- 
land als  solche  erhalten  geblieben,  wenn  auch  häufig  die 
Besitzer  gewechselt  haben;  es  fand  aber  nicht  etwa  jene 
grossartige  Güterzerschlagung  der  Latifundien  statt,  welche 
der  französischen  Revolution  folgte  und  dem  Bauernstände 
die  Bahn  auf  ein  Jahrhundert  frei  machte.  Der  starken 
Vermehrung  der  bäuerlichen  Bevölkerung  steht  immer  nur 
dieselbe  Anzahl  der  Besitzungen  gegenüber  und  da  in  diesen 
Gegenden  die  Gütertheilung  nicht  nur,  wie  in  Oesterreich 
überall,  rechtlich,  sondern  auch  faktisch  üblich  ist,  so  ist 
dieselbe  vielfach  in  eine  Zersplitterung  ausgeartet.  Dort 


No.  31. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


383 


wo  dies  der  Fall  ist,  muss  zum  Wanderstab  gegriffen 
werden.  In  Böhmen  speziell,  dessen  Auswanderung  sprich- 
wörtlich geworden  ist,  ist  der  Spielraum  der  bäuerlichen 
Bevölkerung  zur  Ausbreitung  ein  sehr  geringer.  Die  In- 
dustrie dieser  Länder  hat  sich  zweifellos  enorm  entwickelt, 
aber  auch  mehrfach  tiefgreifende  Krisen  erfahren.  Gewisse 
Theile,  wie  z.  B.  weite  Gegenden  im  nördlichen  Böhmen 
siechen  chronisch  seit  Jahrzehnten  dahin  und  bilden  eine 
offene  Wunde  am  wirthschaftlichen  Körper.  Einzelne  In- 
dustrien, so  z.  B.  die  hervorragend  wichtige  Zuckerfabri- 
kation haben  in  den  80er  Jahren  eine  heftige  Erschütterung 
erfahren.  In  Wien  und  seiner  Umgebung  sind  gleichfalls 
manche  Industriezweige,  wie  etwa  die  Perlmutterdrechslerei 
lahm  gelegt  worden.  Trotz  des  unleugbaren  Aufschwunges 
sind  somit,  seien  es  lokale,  seien  es  berufliche  Ursachen  zur 
Genüge  vorhanden,  welche  die  Auswanderung  stetig  im 
Gange  erhalten.  Dieselbe  muss  sich  nach  dem  Auslande 
wenden,  da  die  Zeiten  der  inneren  Migrationen  zu  Ende 
sind,  und  da  sogar  an  deren  Stelle  ein  Zuströmen  der  Be- 
völkerung aus  dem  Osten  nach  dem  Westen,  also  in  ent- 
gegengesetzter Richtung  getreten  ist. 

Eine  zweite  tiefgreifende  Ursache  der  Wanderungen 
ist  dann  die  wesentliche  Veränderung,  welche  die  Stellung 
Oesterreichs  resp.  Osterreich-Lbigarns  zum  Oriente  erfahren 
hat.  Grosse  Gebietstheile  des  Reiches,  so  Siebenbürgen, 
die  Bukowina  und  Theile  Ungarns  (und  in  mittelbarer  und 
entfernterer  Weise  auch  der  Westen  mit  seiner  Industrie), 
kamen  früher  als  Handelsemporien  oder  als  jene  Länder, 
welche  den  Orient  mit  Gewerbserzeugnissen  versorgten,  in 
hervorragendem  Masse  in  Betracht;  ja  es  lässt  sich  sogar 
sagen,  dass  für  manche  und  grosse  Gebiete  Oesterreich- 
Ungarns  die  Wirtschaftsbeziehungen  mit  dem  Oriente  den 
Lebensnerv  bildeten.  Hierin  hat  sich  nun  ein  für  Oester- 
reich-Ungarn ungünstiger  Wechsel  vollzogen.  Die  Balkan- 
länder sind  allmählich  nicht  nur  politisch  selbstständig  ge- 
worden, sondern  vielfach  auch  wirtschaftlich  und  speziell 
gewerblich  erstarkt  und  tragen  diesem  Umstande,  wie  z.  B. 
Rumänien,  durch  eine  hochschutzzöllnerische,  geradezu  die 
fremden  Erzeugnisse  ausschliessende  Zollpolitik  Rechnung. 
In  der  entfernteren  Levante  hat  der  Seeweg  den  Land- 
und  Flussweg  überwunden  und  andere  Exportländer  sind 
an  die  Seite  oder  an  die  Stelle  Oesterreichs  getreten.  In 
jenen  Ländern  und  Gebieten  Oesterreichs  und  Ungarns, 
wo  die  Verkehrsbeziehungen  zu  den  Balkanländern  einen 
integrirenden  Faktor  der  einheimischen  Wirthschaft  bilde- 
ten, ist  ein  auffallender  Rückgang  der  Volkswirtschaft  zu 
konstatiren;  das  Gewerbe  der  Bukowina  ist  durch  den  Zoll- 
tarif Rumäniens  von  1886  nahezu  ruinirt  und  Siebenbürgen 
seufzt  gleichfalls  tief  unter  diesen  Verhältnissen.  Gerade 
aus  diesen  zwei  Gebieten  ist  in  Folge  dessen  die  Auswan- 
derung enorm  stark.  Allerdings  ist  sie  nicht  durchwegs 
eine  überseeische,  auch  tritt  sie  desshalb  nicht  vollkommen  in 
den  Ziffern  der  Hafenämter  zu  Tage.  Es  unterliegt  daher 
auch  keinem  Zweifel,  dass  durch  diesen  Umstand  die  Aus- 
wanderer - Ziffer  von  75  000  eine  Erhöhung  erfährt.  Wohin 
diese  Personen  gehen,  ist  unschwer  zu  sagen:  eben  in  jene 
Balkanländer,  welche  ehemals  in  viel  intensiverem  Masse 
als  wirtschaftliche  Hinterländer  Oesterreichs  in  Betracht 
kamen  als  heute.  Der  gewerbliche  Aufschwung  der  in 
manchen  Balkanstaaten  in  unseren  Tagen  zu  beobachten 
ist,  dürfte  zum  nicht  geringen  Theile  deutschen  Arbeitern 
und  Gewerbetreibenden  aus  den  östlichen  Gegenden  Oester- 
reich-Ungarns zu  verdanken  sein.  Alle  diese  Gegenden 
galten  noch  vor  50  Jahren  als  Anziehungspunkte  der  Be- 
völkerung des  Westens,  heute  sind  sie  selbst  Auswande- 
rungsgebiete geworden.  Speziell  die  Bukowina,  die  seit 
wenig  mehr  als  100  Jahren  der  Cultur  zugeführt  und 
deren  Volkszahl  in  dieser  Zeit  im  Verhältnisse  von  1 : 10 
angewachsen  ist,  muss  heute  als  übervölkert  bezeichnet 
werden.  Die  Hälfte  des  Landes  ist  von  Wäldern  und  von 
den  Besitzungen  des  griechisch -orientalischen  Religions- 
fondes  okkupirt,  und  sonst  ein  grosser  Theil  vom  Gross- 
grundbesitze, d i.  von  den  Gutsgebieten,  so  dass  für  die 
bäuerliche  Bevölkerung  nur  ein  ganz  enger  Spielraum  der 
Ausdehnung  verbleibt.  Das  Gewerbe  des  Landes  ist  durch 


den  Abbruch  der  Wirthschaftsbeziehungen  mit  Rumänien 
ins  Herz  getroffen  und  seine  Bedeutung  als  Handelsempo- 
rium ist  vorüber. 

Will  man  die  Auswanderung  aus  Oesterreich-Ungarn 
namentlich  insofern  die  bäuerlichen  Kreise  in  Betracht 
kommen  in  ihren  Ursachen  richtig  würdigen,  so  darf  ferner, 
insbesondere  rücksichtlich  Galiziens,  der  Bukowina  und 
grosser  Theile  Ungarns  ein  weiterer  Umstand  nicht  über- 
sehen werden,  und  das  ist  die  Bewucherung  des  Bauern- 
standes, welche  in  letzter  Linie  mit  der  Exekution  der  An- 
wesen endet.  Es  theilen  sich  hier  grössere  Kreditinstitute 
und  zahllose  kleinere  Wucherer  in  die  Arbeit  und  die 
letzteren  treiben  nicht  nur  Geld-  sondern  auch  Vieh-,  Ge- 
treide- und  sonstigen  Naturalienwucher.  Während  der  Zeit 
der  aufgehobenen  Wuchergesetze  gingen  diese  unlauteren 
Geschäfte  bis  ins  Masslose,  und  seit  der  Wiedereinführung 
beschränkender  Massnahmen  bestehen  sie  unter  verschie- 
denartigen Masken  fort.  In  allen  diesen  Gegenden,  also  in 
Galizien,  in  der  Bukowina  und  in  Theilen  Ungarns,  kommt 
für  die  ländliche  Bevölkerung  noch  der  Umstand  in  Be- 
tracht, dass  in  ihrem  Umkreise  die  Städte  mit  dem  offenen 
Lande  nicht  organisch  Zusammenhängen  Sie  erhalten 
ihren  Zuzug  nicht  aus  den  zugehörigen  Landestheilen,  son- 
dern aus  anderen  Städten  und  von  auswärts,  so  dass  die 
Landbevölkerung  für  ihren  Ueberschuss  in  der  Abgabe  an 
die  Stadt  nicht,  wie  anderwärts,  ein  Gegengewicht  findet. 
Im  Uebrigen  bestehen  in  diesen  Ländern  ausgedehnte  Lati- 
fundien, grosse  Wälder  und  extensiver  Landwirtschafts- 
betrieb. Ein  Fortschritt  zu  intensiverer  Bewirthschaftungs- 
weise  findet  nicht  statt  und  es  sieht  somit  der  Bauer  auch 
hierin  nicht  die  Möglichkeit,  für  seine  zweiten  und  dritten 
Söhne  zu  sorgen.  "Dazu  kommt,  dass  hier  vielfach  die 
ländliche  Bevölkerung  zur  Erlernung  und  Ausübung  von 
Handwerk  und  Gewerbe  ungeeignet  ist,  was  namentlich  für 
die  Rumänen  gilt. 

Endlich  ist  zum  Schlüsse  für  Ungarn  darauf  hinzu- 
weisen, dass  die  mit  allem  Nachdrucke  vorgenommene  Ma- 
gyarisirung  des  Landes,  die  Bevorzugung  des  ungarischen 
Elementes  und  die  häufigen  Missstände  in  der  magyarischen 
Beamtenschaft,  die  durch  die  avitische  Staatsorganisation 
begünstigt  werden,  für  die  nicht-magyarischen  Elemente 
ein  wichtiger  Impuls  zur  Auswanderung  sind,  was  nament- 
lich für  die  rumänische  Bevölkerung  Siebenbürgens  sowie 
der  an  dieses  angrenzenden  Comitate  gilt  Bekannt  ist  ja 
auch,  dass  die  Slowaken  des  nordwestlichen  Ungarn  seit 
jeher  in  grösserem  Umfange  auswandern,  oder  vielfach  tem- 
porär wandern,  was  mit  der  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  und 
Unergiebigkeit  des  Bodens,  zumal  auch  bei  der  ungeeig- 
neten Bewirthschaftungsweise,  zusammenhängt. 

Mit  der  Auswanderung,  namentlich  aus  den  genannten 
minder  entwickelten  Staatstheilen,  steht  das  Gewerbe  der 
Auswanderungsagenten  in  ursächlichem  Zusammenhang, 
wobei  nicht  zu  übersehen  ist,  dass  diese  Agenten  vielfach 
die  wenig  urtheilsfähigen  Landleute  durch  Vorspiegelung 
utopistischer  Hoffnungen  veranlassen,  Haus  und  Hof  um 
Geringes  zu  verkaufen  und  den  Wanderstab  zu  ergreifen. 
Diese  Verhältnisse  sind  den  politischen  Behörden  meist 
wohl  bekannt  und  hier  und  da  dringen  durch  den  einen 
oder  anderen  grossen  Auswanderungsagenten-Prozess  diese 
sozialen  Gebrechen  an  die  Oberfläche.  Doch  scheint  jetzt 
in  Oesterreich-Ungarn,  sowie  in  anderen  Staaten,  gegen- 
über den  Anschauungen  des  vorigen  Jahrhunderts  die  ent- 
gegengesetzte Ansicht  zu  herrschen;  es  scheint  in  der  All- 
gemeinheit und  auch  in  den  Kreisen  der  Verwaltung  die 
Meinung  verbreitet  zu  sein,  dass  eine  konstante  Auswan- 
derung nothwendig  sei,  um  den  zurückbleibenden  Bevölke- 
rungstheil  im  richtigen  Verhältnisse  mit  den  Subsistenz- 
mitteln zu  erhalten,  obgleich  diese  Behauptung  für  Ungarn 
entschieden  sehr  anfechtbar  ist,  da  dieses  Land  eine  mini- 
male Bevölkerungszunahme  hat,  falls  die  Ziffern  der  offizi- 
ellen Statistik  mit  der  Wahrheit  übereinstimmen. 

Mit  der  nun  zum  erstenmal  authentisch  bekannt  ge- 
wordenen eigentlichen  Auswanderungsziffer  von  75  000 
stellt  sich  das  Auswanderungsproblem  Oesterreich-Lngarns 
als  ebenso  bedeutsam  heraus  wie  in  den  anderen  grossen 


384 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  31. 


Auswanderungsstaaten.  Thatsächlich  aber  ist  man  über 
den  Umfang,  die  Ursachen  und  die  lokale  Vertheilung  der 
Erscheinung  noch  völlig  im  Unklaren.  Ich  glaube,  dass  es 
hoch  an  der  Zeit  wäre,  durch  eine  grosse,  von  unbefange- 
nen Männern  geleitete,  und  unter  den  Auspizien  der  amt- 
lichen Statistik  vorgenommene  Enquete,  wenigstens  was 
Oesterreich  anbelangt,  die  erforderlichen  Einblicke  in  diese 
Erscheinung  zu  gewinnen,  an  welcher,  abgesehen  von  dem 
allgemeinen  sozialpolitischen  Interesse,  auch  zahlreiche 
Kreise  im  Einzelnen  lebhaft  betheiligt  sind.  Ungarn  muss 
hier  allerdings  seinen  Weg  allein  gehen,  doch  könnte  auch 
hier,  bei  der  Energie  mit  der  daselbst  so  manche  Aktion 
ins  Werk  gesetzt  wirdjj  eine  Enquete  Hoffnung  auf  Erfolg 
haben. 

Prag.  Ernst  Mischler. 


Staatlicher  Arbeitsnachweis  in  Neu-Seeland.1) 

Zu  Beginn  des  Jahres  1891  herrschte  unter  den  arbeiten- 
den Klassen  in  Neu  Seeland  aus  verschiedenen  Gründen 
eine  Nothlage.  Etwa  zwei  Jahre  früher  waren  im  Budget 
der  Regierung  starke  Abstriche  gemacht  worden,  da  man 
sich  dafür  entschieden  hatte,  von  weiteren  Anleihen  auf 
den  europäischen  Geldmärkten  Abstand  zu  nehmen.  Durch 
mehrere  Jahre  waren  mittelst  fremder  Kapitalien  öffentliche 
Arbeiten  ausgeführt  worden  und  diese  letzteren  hatten 
wieder  eine  grosse  Anzahl  von  Personen  nach  Neu-Seeland 
gezogen,  welche  an  dem  Eisenbahnbau  und  anderen  Unter- 
nehmungen sich  betheiligen  wollten  und  Arbeit  suchten. 
Mit  dem  Aufhören  dieser  Arbeiten  in  Neu-Seeland  und  mit 
der  Fortsetzung  derselben  in  den  benachbarten  australischen 
Kolonien,  die  in  ähnlicher  Weise  mittelst  europäischer  An- 
leihen betrieben  wurde,  begann  die  Auswanderung  dieser 
Leute  mit  ihren  Familien  von  Neu-Seeland  nach  anderen 
Ländern.  Die  Regierung  hielt  es  für  wünschenswerth,  die 
wahren  Ursachen  und  den  Umfang  dieser  Erscheinung  fest- 
zustellen und  womöglich  den  Verlust  einer  Bevölkerung 
hintanzuhalten,  welche  viele,  für  die  Besiedlung  des  Landes 
werthvolle  Elemente  enthielt.  Ausserdem  schienen  bestän- 
dig Personen  in  die  Städte  zu  strömen,  welche  die  länd- 
lichen Distrikte  mancherorten  beschäftigungslos  verlassen 
hatten,  während  die  „Arbeitslosen“  in  grosser  Zahl  in  den 
hauptsächlichsten  städtischen  Centren  sich  ansammelten. 

Es  wurde  nun  ein  Bureau  of  Industries  eingesetzt, 
welches  sich  mit  dieser  Frage  in  der  Weise  befassen  sollte, 
dass  es  Informationen  sammelte  und  auf  praktische  Weise 
den  Zufluss  der  Arbeit  nützlichen  Gebieten  zuführen  sollte. 
Seine  Thätigkeit  begann  im  Juni  1891;  als  Vorstand  des 
Departaments  fungirte  der  Unterrichtsminister  Hon.  W.  P. 
Reeves  und  Mr.  E.  Tregear  wurde  als  Sekretär  dieses 
Büreaus  mit  den  zu  unternehmenden  Schritten  betraut. 

Zweihundert  Agenturen  wurden  errichtet  und  ihre 
Verwaltung  Regierungsbeamten,  welche  bereits  im  Dienste 
standen,  anvertraut;  aut  dem  Lande  wurde  dieselbe  vor- 
nehmlich durch  Sergeants  und  die  Ortspolizeiorgane  (Local 
Constables)  versehen,  welche  in  Folge  ihrer  gründlichen 
Kenntniss  der  Arbeiterbevölkerung  in  den  entlegeneren 
Theilen  des  Landes  am  besten  in  der  Lage  w'aren,  über 
den  Arbeitsbedarf  verschiedener  Ortschaften  am  Ende  jedes 


!)  Der  nachstehende  Bericht,  dessen  Uebersetzung  den 
Lesern  des  Sozialpolitischen  Centralblattes  hiermit  geboten  wird, 
ist  mir  im  Aufträge  des  Herrn  W.  P.  Reeves,  Arbeitsminister 
in  Neu-Seeland,  in  einem  vom  3.  Juni  1892  datirten  Schreiben 
aus  Wellington  zugeschickt  worden.  Er  enthält  die  letzten 
authentischen  Nachrichten  über  eine  der  sozialen  und  bevölke- 
rungspolitischen Reformen,  welche  die  im  Juni  des  vorigen 
Jahres  ans  Ruder  gelangte  Regierung  ins  Werk  setzte.  Der  Ur- 
heber der  speziell  die  gewerlfliche  Arbeiterschaft  berührenden 
Massnahmen,  ist  der  genannte,  gegenwärtige  Arbeitsminister 
Mr.  Reeves,  der  als  Kandidat  der  Arbeiterpartei  in  das  Parlament 
gewählt  und  nach  dem  Siege  der  liberal-radikalen  Parteien  in 
das  Kabinet  Bailance  berufen  wurde.  Ihm,  sowie  dem  Verfasser 
der  folgenden  Mittheilungen  Mr.  Edward  Tregear,  Staatssekretär 
für  Industrie,  sei  hiermit  für  dieselben  der  beste  Dank  ausge- 
sprochen. Dr.  Stephan  Bauer. 


Monats,  wenn  nicht  öfter  Bericht  zu  erstatten.  In  besonderen 
Fällen  werden  an  das  Centralamt  gedruckte  Berichtsformu- 
lare geschickt,  welche  den  Stand  des  Arbeitsmarktes  in 
jedem  der  zweihundert  Distrikte  anzeigen. 

Auf  diese  Weise  ist  das  Departement  im  Stande  den 
Ueberschuss  an  Arbeitskraft  aus  einem  Lokale  in  ein 
solches  zu  befördern,  wo  Nachfrage  nach  Arbeitern  besteht. 

Die  Leute,  welche  als  „Arbeitslose“  in  den  Städten 
sich  angesammelt  hatten  und  Willens  waren  auf  dem  Lande 
zu  arbeiten,  verlangten  Eisenbahnkarten  nach  Orten  mit 
Arbeitsbedarf.  So  oft  dies  angemessen  schien,  wurden 
ihnen  diese  Karten  kostenfrei  eingehändigt;  viele  aber  ver- 
langten Stundung  ihres  Fahrgeldes,  und  der  von  ihrem 
Arbeitgeber  vom  Lohne  abgezogene  Betrag  wurde  sodann 
dem  Amte  pünktlich  zurück  erstattet.  Die  Zahl  der  in 
dieser  Weise  Beförderten  beträgt  2400;  hiervon  wurden 
1600  Arbeiter  Privatunternehmern  und  800  Arbeiter  den 
öffentlichen  Arbeiten  zugeführt. 

Die  Hon.  Mr.  Seddon,  Minister  für  öffentliche  Ar- 
beiten und  Hon.  Mc.  Kenzic,  Minister  of  lands,  haben  in 
ihren  betreffenden  Departements  das  sogenannte  „Co-ope- 
rative  contracts  System“  eingeführt,  welches  den  Zweck  hat, 
die  Mittelspersonen  zu  beseitigen  (to  do  away  with  the 
middle-man)  und  den  Arbeitern  zu  ermöglichen,  in  direkte 
Berührung  mit  dem  Unternehmer  zu  kommen.  Kleine 
Gruppen  (gewöhnlich  aus  je  6 Mann  bestehend)  übernehmen 
einen  kleinen  Theil  der  Eisenbahnstrecke  oder  Strasse  zu 
einem  vom  Ingenieur  bestimmten  Preise.  Jede  Gruppe  er- 
nennt drei  Mitglieder  als  Trustees  und  diese  Trustees  unter- 
zeichnen eine  Vertragsurkunde  mit  der  Regierung.  Manch- 
mal wird  nur  ein  Trustees  ernannt;  aber  in  allen  Fällen 
erhalten  die  Leute  Vorschüsse  um  ihnen  die  Erhaltung  ihrer 
Frauen  und  Familien  zu  ermöglichen,  bis  sie  die  gesammte 
vereinbarte  Summe,  nach  Erfüllung  des  Kontraktes  er- 
halten. 

Zum  Zwecke  des  Abschlusses  dieser  Kontrakte  auf  : 
den  Staatsstrassen  und  Eisenbahnen  wurden  die  früherge- 
nannten Leute  von  dem  Biireau  entsendet.  Nicht  nur  die 
Frage  der  Entledigung  der  mit  Arbeitsbedürftigen  über- 
füllten Städte  wurde  von  der  Regierung  ins  Auge  gefasst, 
als  sie  dieses  Abströmen  von  den  Centren  nach  dem  Lande 
veranlasste;  wären  die  Leute  nicht  weiterhin  unterstützt 
worden,  so  würden  sie  nach  Beendigung  der  kontraktlichen 
Arbeiten  oder  im  Besitze  von  Baarmitteln  ohne  Zweifel  j 
nach  Hause  gekehrt  sein.  So  aber  erhielten  viele  dieser 
Familien  Fahrgelder  nebst  Mobiliar-  und  Einrichtungsstücken  < 
in  der  Erwartung,  sie  dadurch  in  ländlichen  Distrikten  zur 
ständigen  Ansiedelung  zu  bewegen.  Grundstücke  werden 
zur  Vermessung  und  zur  Bildung  von  Dorfniederlassungen 
ausgewählt  und  es  wird  beabsichtigt,  werkthätigen  Arbei- 
tern kostenfrei  Grundstücke  zuzuweisen,  wo  sie  ihr  Heim 
errichten  können. 

Die  Organisation  des  Erkundigungsdienstes  des  Büreaus 
hat  seine  Nützlichkeit  bewährt,  indem  dasselbe  nicht  nur 
den  Arbeitern  bei  ihrer  Fahrt  nach  verschiedenen  Orten 
Unterstützungen  gewährt,  sondern  auch  in  der  Lage  ist, 
Personen  die  nothwendige  Auskunft  zu  ertheilen,  welche 
im  Stande  und  willens  sind,  ihre  Fahrt  zu  bezahlen,  aber 
ohne  die  durch  das  Biireau  verschaffte  Information  Zeit  und 
Geld  auf  der  Suche  nach  Arbeit  unnütz  verschwendet 
haben  würden.  Einwanderer,  welche  aus  dem  Mutterlande 
kommen,  finden  es  daher  vom  Vortheil,  die  Beamten  des 
Büreaus  über  die  Aussichten  ihrer  Verwendung  in  ver- 
schiedenen Theilen  dieser  Insel  um  Rath  zu  fragen. 

Verschiedene  andere  Massregeln,  welche  die  Unter- 
stützung arbeitsbedürftiger  Personen  zum  Zwecke  haben, 
sind  in  jüngster  Zeit  hier  getroffen  worden.  Zu  diesen 
Massregeln  gehört  unter  anderen  die  Ausgabe  von  Labour- 
Coupons  (Arbeits-Coupons),  welche  den  auf  der  Reise  be- 
findlichen Arbeitsuchenden  für  geringe  Bezahlung  in  ge- 
wissen Hotels  und  Logierhäusern  Speise  und  Nachtlager 
verschaffen.  Sie  werden  in  geringer  Zahl  ausgegeben  und 
zwar  lediglich  an  Arbeitslose,  da  den  Lokalbeamten  die 
Leute  seines  Distriktes,  welche  in  ständiger  Verwendung 
stehen,  ziemlich  bekannt  sind.  Es  ist  dies  eine  Anwen- 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAL«! , (VIT. 


385 


No.  31. 


düng  des  Cook’schen  Touristen-Kouponsystems  auf  Leute, 
die  nicht  zum  Vergnügen  reisen. 

Industrielle  Farmen  werden  demnächst  in  der  Nähe 
der  grossen  Städte  errichtet  und  arbeitslose  Personen 
dahin  geschickt  werden,  welche  gegenwärtig  zur  landwirth- 
schaftlichen  und  gelernten  schweren  Arbeit  unfähig  sind. 
Sie  werden  daselbst  in  den  gewöhnlichen  land-  und  forst- 
wirthschaftlichen  Arbeiten  unterwiesen  werden  und  Nah- 
rung und  Wohnung  so  lange  erhalten,  bis  sie  fähig 
sind,  ihre  Arbeitskraft  zu  laufenden  Lohnsätzen  zu  vei> 
werthen. 

Es  mag  dahingestellt  bleiben,  ob  die  jüngsten  Ergeb- 
nisse des  statistischen  Amtes,  welche  das  Aufhören  der 
Auswanderung  und  die  Umkehrung  dieser  Erscheinung 
aufweisen,  im  grossen  Masse  auf  die  Einrichtung  des 
Büreaus  zurückzuführen  sind.  Es  kann  jedoch  wenig 
Zweifel  darüber  bestehen,  dass  ein  grosser  Theil  jener 
Nothlage,  welcher  früher  herrschte,  beseitigt  und  eine 
grössere  Nothlage  dadurch  verhütet  wurde,  dass  man  zur 
rechten  Zeit  das  „Bureau  of  Industries“  in  Neu-Seeland  be- 
gründete. 

Edward  Tregear. 


Die  Reichspostverwaltung  mul  die  Vereinsfreiheit. 

Der  Berliner  „Vorwärts“  vom  26.  Juli  veröffentlicht  folgendes 
Rundschreiben  der  dritten  Abtheilung  des  Reichspostamts: 

Berlin  W.,  den  4.  Juli  1892. 

Vertraulich. 

Reichs-Postamt. 

III.  Abtheilung. 

Nach  einer  Angabe  in  der  Nummer  6 der  Zeitschrift  des 
Verbandes  Deutscher  Post-  und  Telegraphen-Assistenten  vom 
1.  Juni  soll  am  5.  und  6.  August  in  Berlin  ein  Verbandstag  ab- 
gehalten werden.  Ew.  Hochwohlgeboren  wollen  geeignete  Vor- 
kehrungen treffen,  dass  etwaige  Versuche  von  Beamten,  an  dieser 
Versammlung  Theil  zu  nehmen,  thunlichst  vereitelt  werden,  und 
dass  insbesondere  der  etwa  bereits  ertheilte  Erholungsurlaub 
nicht  dazu  benutzt  werde,  die  Betheiligung  an  der  Versammlung 
zu  ermöglichen. 

Fischer. 

An 

den  Kaiser«  Ober-Postdirektor  Herrn  N.  N. 

Hoch  wohlgeboren 

Eigenhändig.  in  X 

Das  hier  abgedruckte  Schreiben  bildet  nur  ein  Glied 
in  der  langen  Kette  von  Drangsalirungen,  denen  die  Orga- 
nisation der  Subalternbeamten  von  Seiten  des  Reichspost- 
amts seit  dem  ersten  Versuch  einer  durchaus  legalen  Inter- 
essenvertretung ausgesetzt  gewesen  ist.  Indem  wir  uns 
Vorbehalten,  che  angesichts  ihrer  kläglichen  ökonomischen 
Situation  wie  der  ihr  zugemutheten  politischen  Bevormun- 
dung doppelt  traurige  Lage  dieser  Beamtenkategorie  dem- 
nächst im  Zusammenhang  zu  beleuchten,  begnügen  wir  uns 
für  heute  mit  der  Konstatirung,  dass  die  gesammte  öffent- 
liche Meinung  ohne  Unterschied  der  Parteistellung  einig  ist 
in  dem  entschieden  missbilligenden  Urtheil  über  die  Ver- 
wahrung staatsbürgerlicher  Rechte,  welche  die  Reichspost- 
verwaltung in  jenem  Rundschreiben  sich  zu  Schulden  kom- 
men liess. 

Hausindustrie  und  Fabrikindustrie.  Ein  beachtens- 
werthes  Urtheil  über  Hausindustrie  und  Ziele  hausindu- 
strieller Politik  enthält  die  Resolution,  welche  der  26.  Schle- 
sische Gewerbetag  unlängst  beschlossen  hat.  Auf  der 
Tagesordnung  der  am  28.  Juli  in  Schweidnitz  abgehaltenen 
Jahres-Versammlung  dieser  Körperschaft,  die  aus  den  Ver- 
tretern sämmtlicher  schlesischer  Gewerbevereine,  gewerb- 
lichen Korporationen  etc.,  gross-  wie  kleinindustriellen 
Charakters  gebildet  wird,  stand  als  wichtigster  Gegenstand 
die  Stellungnahme  zur  Frage  der  Hausindustrie.  Referent 
zu  diesem  Punkt  der  Tagesordnung  war  Professor  Sombart- 
Breslau,  Korreferent  Geheimrath  E.  Websky-Wüste-Walters- 
dorf.  Beide  Referenten  vertraten  den  gleichen  Standpunkt; 
beide  sprachen  sich  dahin  aus,  dass  eine  thunlichst  allge- 
meine Beseitigung  der  Hausindustrie  in  volkswirtschaft- 
licher wie  sozialer  Hinsicht  anzustreben  sei.  Alle  jene 
kümmerlichen  Versuche,  die  man  während  der  letzten  Jahre 
und  Jahrzehnte  unternommen  habe,  um  den  Untergang  der 


wichtigsten  Hausindustrien  aufzuhalten,  hätten  sich  als  er- 
folglos erwiesen  und  nur  dazu  beigetragen,  den  erstrebens- 
werthen  Uebergaug  zum  fabrikmässigen  Betriebe  unnöthig 
aufzuhalten,  die  Gesundung  der  Verhältnisse  zu  verschleppen. 
Geheimrath  Websky  wies  auf  Grund  seiner  reichen  Er- 
fahrung insbesondere  für  die  schlesische  Textilindustrie 
nach,  wie  gänzlich  verfehlt  die  bisherigen  Massnahmen  zur 
Erhaltung  der  Hausindustrie  seien.  Aus  der  Mitte  der  Ver- 
sammlung erhob  sich  gegen  diese  Ausführungen  nur  von 
zwei  Seiten  her  ein  Widerspruch.  Dr.  Stegemann-Oppeln 
wollte  das  Verdammungsurtheil  über  die  Hausindustrie  im 
Allgemeinen  für  einige  ihm  bekannte  Hausindustrieen  im 
Handelskammerbezirk  Lennep  nicht  gelten  lassen,  stimmte 
aber  im  Uebrigen  dem  Referenten  zu.  Der  zweite  Opponnent 
dagegen  erwies  sich  als  Lobredner  der  Hausindustrie 
schlechthin;  es  war  ein  Verleger  aus  Lauban!  Seine  apo- 
logetischen Ausführungen  vermochten  jedoch  die  Stimmung 
der  Versammlung,  die  sich  auf  den  Standpunkt  des  Refe- 
renten gestellt  hatte,  nicht  zu  Gunsten  der  Hausindustrie 
umzuändern.  Auf  Antrag  der  Referenten  nahm  der  Ge- 
werbetag vielmehr  einstimmig  folgende  Resolution  an: 
„Die  Massenfabrikation  industrieller  Produkte  durch  die 
Hausindustrie  birgt  für  viele  besonders  umfangreiche  Zweige 
derselben  in  unserer  Zeit  eine  grosse  Gefahr  für  die  Be- 
ständigkeit des  Wohlergehens  der  in  derselben  beschäftigten 
Bevölkerung,  während  fabrikmässig  betriebene  Industrieen 
dieser  Gefahr  in  wesentlich  geringerem  Grade  unterliegen. 
Es  ist  daher  die  Ueberführung  der  in  diesen  Hausindustrien 
beschäftigten  Arbeiter  zur  Fabrikthätigkeit  möglichst  zu 
fördern.  Unbedingte  Vorbedingung  für  die  Entwickelung 
der  Fabrikbetriebe  sind  gute  und  billige  Verkehrsmittel. 
Desshalb  erachtet  der  Schlesische  Gewerbetag  es  für  die 
Pflicht  des  Staates,  in  Gegenden  mit  starker  Hausindustrie 
für  den  Ausbau  von  Eisenbahnen  in  möglichst  grossem 
Umfange  zu  sorgen.“  Die  Wendung  im  Eingang  der  Re- 
solution „für  viele  besonders  umfangreiche  Zweige  der- 
selben“ wurde  auf  Wunsch  des  einen  Opponenten  in  die 
ursprüngliche  Fassung  der  Resolution  aufgenommen,  ohne 
von  den  Referenten  beanstandet  zu  werden.  Sie  ist  von  keiner 
grossen  Bedeutung.  Dass  stets  sich  Spezialitäten-Hausindu- 
strien  erhalten  werden  und  mögen,  ist  selbstverständlich,  aber 
irrelevant.  Um  sie  kümmert  sich  der  Volkswirth  in  gerin- 
gem Masse  und  braucht  sich  der  Sozialpolitiker  gar  nicht 
zu  kümmern.  Gerade  wie  das  Kunsthandwerk  nehmen  sie 
eine  ganz  gesonderte  Stellung  ein ; sie  verschwinden  in  der 
grossen  Menge.  Diese  Zweige  rechtfertigen  sich  am  besten 
als  existenzberechtigt  dadurch,  dass  sie  ohne  künstliche  Hilfe 
aus  eigener  Kraft  weiterblühen  Für  die  hausindustrielle 
Politik  ist  es  ausschlaggebend,  ob  man  im  grossen  Ganzen 
die  Hausindustrie  für  eine  volkswirthschaftlich  oder  sozial 
bevorzugte  Organisations-  und  Unternehmungsform  er- 
achtet und  sich  bestrebt,  sie  nöthigensfalls  mit  allerlei 
künstlichen  Massnahmen  vor  dem  Uebergang  in  die  Fabrik- 
industrie zu  bewahren  oder  ob  man  in  allen  Fällen,  in 
denen  die  letztere  natürliche  technische  oder  ökonomische 
Vortheile  aufweist,  deren  Vordringen  nicht  hindert,  sondern 
nach  Kräften  sogar  beschleunigt.  Letzteres  ist  der  Stand- 
punkt, den  der  26.  Schlesische  Gewerbetag  eingenommen 
hat  und  das  ist  eine  bemerkenswerthe  Thatsache,  um  so 
bemerkenswerther  als  die  Resolution  von  den  anwesenden 
Regierungspräsidenten  von  Breslau  in  keiner  Hinsicht  bean- 
standet worden  ist. 

ßerufsgenossenscliaften  und  Berufssekretäre  in  der 
Schweiz.  Der  Verband  der  Bleicherei-  und  Appretur- 
arbeiter der  Ostschweiz  hat  an  den  Bundesrath  eine  Ein- 
gabe gerichtet,  in  welcher  der  Wunsch  ausgesprochen  wird, 
dass  die  Schaffung  von  Berufssekretariaten  bei  der  Be- 
rathung  über  die  Errichtung  von  Berufsgenossenschaften 
in  die  Diskussion  einbezogen  werde.  Die  Petenten  fordern 
vorerst  die  Errichtung  von  vier  Berufssekretariaten  für  die 
Hauptindustrien  der  Schweiz  und  zwar  je  eines  für  die 
Stickerei,  für  die  Weberei,  Spinnerei  und  Färberei,  für  die 
Uhrmacherei  und  für  die  Giesserei,  Schlosserei  und  den 
Maschinenbau.  Die  Aufgaben  derselben  werden  folgender- 
massen  umschrieben:  1.  Förderung  der  bestehenden  und 
Bildung  neuer  Organisationen,  2.  Studium  der  Arbeiter- 
verhältnisse und  der  Arbeiterschutzgesetze  sowohl  der  be- 
stehenden, als  auch  der  im  Entwurf  oder  in  Vorberathung 
befindlichen,  3.  die  Ausführung  der  Verfügungen  des 
schweizerischen  Arbeitersekretariates,  4.  Vertretung  der 
Arbeiter  bei  Unterhandlungen  mit  den  Arbeitgebern,  5.  Ver- 
bindung mit  den  Arbeitern  des  Auslandes.  Neben  diesen 


386 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  31. 


Aufgaben  dürfte  vielleicht  noch  die  Regelung  des  für  die 
Arbeiter  womöglich  kostenfreien  Arbeitsnachweises  und  die 
Unterstützung  der  staatlichen  Organe  bei  der  Aufsicht  über 
die  Handhabung  der  Arbeiterschutzgesetze  in  den  Bereich 
der  Thätigkeit  der  Sekretariate  gezogen  werden. 


Arbeiterzustände. 


Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Böttcher  Deutsch- 
lands. Die  „Deutsche  Böttcher-Zeitung“  veröffentlicht  in 
ihrer  Nummer  vom  23.  Juli  1892  eine  Uebersicht  über  die 
für  das  Jahr  1891  vorgenommenen  statistischen  Erhebungen 
über  die  Lohn  und  Arbeitsbedingungen  der  Böttcher 
Deutschlands.  Leider  war  die  Betheiligung  an  der  Statistik 
nur  eine  sehr  geringe.  Es  sollen  sich,  was  freilich  kaum 
kontrollirt  werden  kann,  nur  die  bessergestellten  Böttcher 
an  der  Statistik  betheiligt  haben.  522  Fragebogen  gingen 
aus  66  Orten  ein,  aus  Hamburg  106,  aus  Elberfeld  68, 
aus  Magdeburg  43,  aus  Flensburg  26,  aus  Stassfurt  24, 
aus  Braunschweig  22,  aus  Bremen  20  u.  s.  w.,  dagegen  aus 
München  nur  8,  aus  Köln  a.  Rh.  nur  3 und  aus  Berlin  nur 

2 (!).  350  Beantworter  der  Fragebogen  waren  verheirathet, 
aut  diese  kamen  im  Durchschnitte  2,1  Kinder.  In  4 Orten 
betrug  der  Wochenlohn  6 M.,  in  je  einem  7,  10,  13,50, 
14,40  M.,  in  5 Orten  15  M.,  in  4 Orten  16,  in  2 16,50  M.,  in 

3 Orten  17  M,  in  je  einem  17,40  und  17,50  M.,  in  16  Orten 
18  M.,  in  einem  19  M.,  in  3 Orten  20,  in  12  21,  in  3 22  M., 
in  4 Orten  24,  in  einem  25  und  in  zweien  27  M.,  demnach 
in  6 Orten  10  oder  weniger  Mark,  in  38  13,50 — 20  und  in 
22  Orten  21—27  M. 

Ihre  wöchentliche  Ausgabe  geben  die  Verheiratheten 
in  einem  Orte  mit  9,  10,  10,50,  12,  12,05,  12,50,  13,60,  13,88  M., 
in  5 Orten  mit  14  M.,  in  11  Orten  mit  15,  in  vieren  mit 
15,50  M.,  in  einem  mit  15,90  M.,  in  6 Orten  mit  16  M.,  in 
einem  mit  16,60  M.,  in  zweien  mit  16,80  M.,  in  einem  mit 
17,  in  zweien  mit  18,  in  einem  mit  18,50,  in  zweien  mit  19 
und  in  einem  mit  20  M.  an.  Die  Ledigen  gaben  aus  in 
einem  6 M.,  in  vieren  10  M..  in  zweien  10,50~M.,  in  einem 
11,10  M.,  in  sechsen  12  M„  in  vieren  12,50  M.,  in  zweien 
13  M.,  in  einem  13,20  M.,  in  sechsen  14  M.,  in  je  einem 
14,35  und  14,50  M.,  in  neun  15  M.,  in  je  einem  15,10  und 
15,45,  in  dreien  16  M.,  in  dreien  16,50  M.,  in  je  einem  17,50 
und  18,87  M.  Der  durchschnittliche  Miethspreis  der  Woh- 
nung betrug  in  je  einem  Orte  70,  75,  80,  in  zwei  Orten  90, 
in  je  einem  95,  100,  105,  in  je  vieren  120,  in  fünfen  130,  in 
einem  135,  in  zweien  140,  in  einem  144,  in  fünfen  150,  in 
einem  170,  in  fünfen  180,  in  dreien  200,  in  zweien  2 J0  und 
240  und  in  einem  244  Mark. 

Das  Durchschnittsalter  der  sich  an  der  Statistik  Be- 
theiligenden betrug  in  30  Orten  25  und  weniger  Jahre,  in 
15  Orten  25 — 30  Jahre,  in  14  Orten  30 — 35,  in  4 Orten  35 — 40, 
in  3 Orten  40 — 45  Jahre. 

Aus  50  der  66  Orte  liegen  Angaben  über  Arbeits- 
losigkeit vor.  ln  diesen  Orten  waren  332  Gehilfen  arbeits- 
los von  den  470,  welche  die  Fragebogen  beantworteten. 
Auf  diese  kamen  10  042  durch  Arbeitsmangel  und  348  durch 
Strike  verursachte  arbeitslose  Tage,  somit  auf  jeden  ein 
durch  Arbeitsmangel  verursachter  arbeitsloser  Monat  und 
ein  durch  Arbeitseinstellung  verursachter  arbeitsloser  Tag. 

Ergebnisse  der  Fabrikaufsicht  auf  dem  thüringer 
M ald.  Der  neue  Bericht  des  Fabrikinspektors  Baurath 
Brecht  für  das  Fürstenthum  Scharzburg-Rudolstadt  über 
das  Jahr  1891  gestattet  wieder  interessante  Einblicke  in  die 
Verhältnisse  eines  Theiles  der  ländlichen  Fabrikindustrie  auf 
dem  thüringer  Wald.  Der  Genannte  ist  einer  der  wenigen  deut- 
schen Aufsichtsbeamten,  welche  alljährlich  eine  vollständige 
Arbeiterstatistik  nach  eigenen  Feststellungen  geben  (vgl.  So- 
zialpolitisches Centralblatt  No.  6 für  die  früheren  jahre). 
Fs  schreibt:  „Als  im  Jahre  1879  die  Beaufsichtigung  der 

Fabriken  eingeführt  wurde,  fand  ich  93  Anlagen  mit  3518 
Arbeitern  vor,  im  Jahre  darauf  102  Anlagen  mit  3893  Ar- 
beitern, jetzt  im  Jahre  1891  aber  146  Anlagen  mit  5988  Ar- 
beitern. Von  dem  Jahre  1890  bis  jetzt  ist  die  Zahl  der  Ar- 
beiter um  415,  also  verhältnissmässig  gegen  früher  ziemlich 
stark  gestiegen.  Wie  segensreich  im  Uebrigen  die  Ge- 
werbegesetzgebung  auf  die  Zahl  der  beschäftigten  jugend- 
lichen Arbeiter  gewirkt  hat,  lässt  sich  leicht  durch  eine 


Vergleichung  mit  dem  Ergebniss  des  ersten  Revisionsjahres 
ermessen.  Im  Jahre  1879  waren  2623  männliche,  895  weib- 
liche Arbeiter,  zusammen  3518  vorhanden,  jetzt  4601  und 
1387  also  zusammen  5988.  Damals  waren  jugendliche 
von  14—16  Jahren  vorhanden:  154  männliche  und  139 

weibliche,  zusammen  293;  jetzt  sind  es  246  und  195  = 
441  ; damals  Kinder  31  männliche  und  35  weibliche,  zusam- 
men 66,  gegen  jetzt  18  männliche,  9 weibliche,  zusammen 
27.  D.  h.:  im  Jahre  1879  waren  8,3  pCt.  jugendliche  Arbei- 
ter unter  14— 16  Jahren  und  1,8  pCt.  Kinder,  im  Jahre  1891 
dagegen  7,3  pCt.  jugendliche  und  nicht  ganz  0,5  pCt.  Kinder 
vorhanden.  Die  meisten  jugendlichen  Arbeiter  kommen  auf 
die  allein  2964  zählende  Industrie  der  Steine  und  Erden 
(Porzellan),  auf  die  Textilindustrie  und  auf  die  Industrie  der 
Holz-  und  Schnitzstoffe.  Die  Anzahl  der  weiblichen  Ar- 
beiter ist  seit  vorigem  Jahre  in  gleichem  Verhältniss  mit 
der  der  Männer  gestiegen,  dagegen  im  Vergleich  zum 
Jahre  1879  gefallen.  Sie  betrug  damals  25,4  pCt.  der  sämmt- 
lichen  Arbeiter  und  beträgt  jetzt  nur  23,1  pCt.  Die  meisten 
weiblichen  Arbeiter  finden  sich  in  der  Porzellanindustrie, 
bei  der  Anfertigung  der  Richter'schen  Steinbaukasten,  in 
Spinnereien  und  Färbereien  und  bei  der  Cigarrenfabrika- 
tion. Dass  die  Beobachtung  der  Schutzvorschriften  für 
jugendliche  Arbeiter  gerade  in  solch’  einer  ländlichen  In- 
dustrie noch  sehr  viel  zu  wünschen  übrig  lässt,  geht  aus 
folgender  Wendung  des  Fabrikinspektors  hervor:  „Es  ist 
immer  wieder  darüber  Klage  zu  führen,  dass  die  Ortspolizei- 
behörden ihre  Schuldigkeit  nicht  thun;  wenigstens  finden 
sich  selten  Revisionsvermerke  auf  den  Arbeiterverzeich- 
nissen.“ Und  ausserdem  heisst  es  im  Bericht:  „Hier  und 
da  war  auch  von  Ueberlastung  der  Lehrlinge  im  Handwerk 
die  Rede.“  Geschlossen  sei  mit  folgenden  Sätzen  des  Be- 
richtes, die  viel  zwischen  den  Zeilen  lesen  lassen:  „Die 
weitere  Herstellung  von  Wohlfahrtseinrichtungen  ist  zu  er- 
kennen, Fabrikräume  werden  besser  und  reinlicher  ausge- 
stattet,  wofür  die  Arbeiter  sich  dankbar  aussprechen,  Ver- 
köstigungen in  der  Fabrik  oder  im  Anschluss  an  dieselbe 
mehren  sich,  Schlafgelegenheiten  werden  beschafft,  aber 
es  kann  mehr  geschehen,  hauptsächlich  hinsichtlich  der 
sauberen  Ausstattung  der  Fabrikräume  und  des  ! 
Baues  von  Arbeiterwohnungen,  der  erst  schüchtern  be- 
gonnen hat.  Hier  wird  und  kann  zweifellos  mehr  geschehen, 
namentlich  in  der  Nähe  der  Hauptstadt,  wo  die  Arbeiter 
schon  eng  zusammengedrängt  werden,  wenn  auch 
die  Wohnungszustände  grosser  Städte  mit  hiesigen  besseren 
Verhältnissen  nicht  in  Vergleich  zu  stellen  sind.“  Ueber  die 
Lohnverhältnisse  des  interessanten  stark  mit  Hausindustrie 
durchsetzten  Bezirks  wird  nach  dem  Aufsichtsbeamten  an 
besonderer  Stelle  dieses  Blattes  berichtet. 


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'i 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Kongress  zur  Organisirnng  der  italienischen  Arbeiter- 
schaft (Congresso  per  l'organizzazione  operaia  italiana) 
soll  der  zum  14.  und  15.  August  nach  Genua  vom  „Central- 
komitee der  italienischen  Arbeiterpartei“  kürzlich  einberufene 
Kongress  genannt  werden.  Zum  besseren  Verständniss  für 
unsere  Leser,  die  gerade  mit  der  Arbeiterbewegung  in 
Italien  am  wenigstens  vertraut  sein  dürften,  bemerken  wir 
folgendes.  In  der  vorigen  Nummer  dieses  Blattes  hat  Pro- 
fessor Sombart  über  den  XVIII.  Kongress  des  Patto  di 
fratellanza  berichtet;  dort  tagte  die  radikale  politische 
Demokratie  Italiens,  die  augenblicklich  anfängt,  sich  mit 
sozialen  Elementen  zu  durchtränken  und  die  das  Streben 
kundthut,  mit  der  Arbeiterschaft  und  den  sozialistischen 
Parteien  Fühlung  zu  nehmen.  Hier  handelt  es  sich  um  die 
wichtigste  Arbeitergruppe  sozialistischer  Färbung,  welche 
auf  ihrem  vorjährigen  Kongresse  (2.  u.  3.  August  in  Mailand) 
als  „Italienischer  Arbeiterkongress“  zusammentrat  und  den 
Beschluss  fasste,  eine  „Italienische  Arbeiterpartei“  zu  be- 
gründen. Um  diesen  Plan  durchzuarbeiten,  wurde  ein 
Centralkomitee,  bestehend  aus  6 Männern  und  1 Frau,  ein- 
gesetzt mit  dem  Aufträge,  nach  genügender  Vorbereitung 
einen  konstituirenden  Kongress  jener  italienischen  Arbeiter- 
partei zu  berufen.  Das  ist  nunmehr  mit  der  Ankündigung 
des  oben  genannten  Congresso  per  l’organizzazione  operaia 
italiana  geschehen.  Aber  die  prinzipiellen  Grundlagen  der 


No.  31. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


387 


neuzugründenden  Partei  hatte  man  sich  auf  dem  Mailänder 
Kongress  im  vorigen  Jahre  bereits  geeinigt.  Es  waren  dort 
3 Hauptströmungen  vertreten  gewesen:  2 Minoritäten,  die 
gleichsam  den  rechten  und  linken  Flügel  bildeten,  von 
denen  die  eine  eine  rein  gewerkschaftliche,  nicht  sozia- 
listische, die  andere  eine  wesentlich  revolutionäre  Politik 
verfochten.  Diesen  Minoritäten  gegenüber  hatte  die  grosse 
Majorität  den  Standpunkt  einer  gewerkschaftlichen  Arbeiter- 
bewegung mit  sozialistischem  Glaubensbekenntniss  ver- 
treten. Man  weist  den  Klubrevolutionarismus  ebenso  wie  den 
unpolitischen  „reaktionären“  Trade  Unionismus  ab.  Nach 
den  Beschluss  des  vorjährigen  Kongresses  sollen  in  die  zu 
bildende  Arbeiterpartei  aufgenommen  werden  können:  „alle 
Vereinigungen  von  Arbeitern,  städtischen  wie  ländlichen, 
beiderlei  Geschlechts,  mögen  sie  im  Entlohn ungs-  oder  Be- 
soldungsverhältniss  stehen  oder  auch  selbständig  sein,  wenn 
sie  nur  nicht  die  Stellung  von  Ausbeutern  oder  Arbeit- 
gebern haben.“  Ausgeschlossen  von  der  Partei  sind  prin- 
zipiell diejenigen  Arbeitervereine,  welche  von  Nichtarbeitern 
geleitet  werden.  Die  3 Programmpunkte,  welche  die  Grund- 
lage der  neuen  Partei  bilden  sollen,  sind  folgende:  Bildung 
einer  grossen  Arbeiterpartei,  die  unabhängig  von  allen 
andern  Parteien  ist;  Ziel  der  Organisirung:  die  Zurück- 
führung alles  Grund-  und  Kapitaleigenthums  in  die  Hände 
der  Gesammtheit  der  Arbeiter;  einziges  Mittel,  um  zur 
Emanzipation  der  Arbeit  zu  gelangen:  die  Besitznahme  der 
politischen  Macht.  Man  beabsichtigt  also,  konnte  man  nach 
Analogie  der  deutschen  Verhältnisse  es  ausdrücken,  eine 
sozialdemokratische  Partei  und  eine  gewerkschaftliche 
Centralisirung  in  Einem  zu  schaffen.  Die  Seele  dieses 
Unternehmens  ist  der  Advokat  Turati,  Herausgeber  der  gut- 
redigirten  Wochenschrift  „La  critica  sociale“,  eines  Organs, 
das  mit  der  „Neuen  Zeit“  sich  vergleichen  lässt.  Lim 
jedoch  die  neuzubildende  Partei  auch  mit  einem  populären 
Zeitungsblatt  zu  versehen,  beabsichtigt  man  vom  31.  Juli 
ab  die  Herausgabe  einer  Arbeiterzeitung  unter  dem  Titel 
La  lotta  di  classe. 

Das  Programm  für  den  konstituirenden  Kongress  in 
Genua  ist  folgendes: 

1.  Bericht  des  Centralkomitees  und  des  internationalen 
Arbeitersekretärs  (der  ebenfalls  im  vorigen  Jahre 
ernannt  wurde,  um  Fühlung  mit  den  sozialistischen 
Parteien  des  Auslandes  zu  erhalten); 

2.  Diskussion  und  Annahme  des  Parteistatuts  und  Ein- 
setzung des  ständigen  Centralkomitees; 

3.  Parteiorgan; 

4.  Anschluss  an  und  Vorschläge  für  den  internatio- 
nalen sozialistischen  Arbeiterkongress  in  Zürich  1893; 

5.  Gewerkschaftliche  Spezialkongresse; 

6.  Wahl  des  Ortes  für  den  nächsten  Kongress. 

Man  darf  gespannt  sein,  welchen  Ausgang  der  Genueser 
Kongress  nehmen  wird.  Es  ist  ein  neues  Wahrzeichen  für 
das  Bestreben  der  italienischen  Arbeiterfaktionen  sich  zu 
gemeinsamen  Handeln  zusammen  zu  schliessen.  Wir  werden 
s.  Z.  über  die  Verhandlungen  und  Ergebnisse  des  Kongresses 
an  dieser  Stelle  berichten. 


Gewerbeinspektion. 


Bergbauinspektoren  in  Oesterreich. 

In  der  Sitzung  vom  7.  Juli  d.  J.  wurde  im  österreichi- 
schen Abgeordnetenhause  von  den  Abgeordneten  Baern- 
reither  und  Genossen  ein  Gesetzentwurf,  betreffend  die  Be- 
stellung von  Bergbauinspektoren  eingebracht,  dessen 
wesentlicher  Inhalt  im  Nachfolgenden  wiedergegeben 
werden  soll. 

Dem  Ackerbauminister  soll  die  Ernennung  der  Inspek- 
toren sowie  der  Assistenten  obliegen,  die  ihm  unmittelbar 
untergeordnet  sein  und  den  Charakter  von  Staatsbeamten 
haben  sollen.  Zum  Bergbauinspektor  kann  nur  ernannt 
werden,  wer  neben  der  erforderlichen  sachlich-theoretischen 
Bildung  auch  praktische  Erfahrung  im  Bergbaubetriebe  be- 
sitzt und  der  in  seinem  Amtsgebiete  üblichen  Sprachen 
mächtig  ist.  Eigenthümer,  Pächter,  Aktionäre,  Bevoll- 
mächtigte, Werkleute,  Ingenieure  etc.  einer  Bergbauunter- 


nehmung sind  zur  Ausübung  des  Amtes  eines  Inspektors 
oder  Assistenten  unfähig. 

Die  Thätigkeit  der  Inspektoren  soll  sich  erstrecken 
auf  die  Ueberwachung  der  Durchführung  der  gesetzlichen 
Vorschriften,  betreffend  1.  die  Sicherheit  des  Betriebes  gegen 
die  Gefahren  für  Personen  und  Eigenthum,  2.  das  Verhält- 
niss  der  Unternehmer  zu  ihren  Arbeitern,  3.  die  Beschäfti- 
gung von  jugendlichen  Arbeitern  und  Frauenspersonen, 
dann  die  tägliche  Arbeitsdauer  und  Sonntagsruhe,  4.  die 
Handhabung  des  Bruderladengesetzes,  5.  die  Wahrung  der 
öffentlichen  Sicherheit  im  Falle  der  Auflassung  eines  Berg- 
baues. 

Ausserdem  hat  der  Bergbauinspektor  sein  besonderes 
Augenmerk  auf  das  Vorkommen  und  die  Ursache  von  Un- 
fällen, auf  die  Vorkehrungen  zur  Verhütung  derselben,  auf 
drohende  oder  eingetretene  Bergschäden  und  die  Lohn-, 
Wohnungs-  und  Sanitätsverhältnisse  der  Bergarbeiter  zu 
richten. 

Die  Bergbauinspektoren  sind  berechtigt,  die  Gruben 
in  allen  ihren  Theilen  zu  befahren,  alle  Maschinen-  und 
Arbeitsräume  über  Tag,  die  mit  dem  Bergbau  in  Verbindung 
stehen,  sowie  die  Arbeitshäuser  zu  besuchen  und  in  etwaige 
Wohlfahrtseinrichtungen  Einsicht  zu  nehmen,  ferner  den 
Unternehmer,  sowie  die  am  Werke  beschäftigten  Beamten 
und  Arbeiter  an  Ort  und  Stelle  zu  befragen  und  falls  es 
sich  um  Bergschäden  handelt,  die  Grundstücke  der  Ober- 
fläche, sowie  Gebäude,  Wasserleitungen  u.  s.  w.  zu  be- 
sichtigen. Die  Besichtigungen  können  bei  Tag  oder  Nacht 
vorgenommen  werden,  im  letzteren  Falle  nur  während  des 
Betriebes,  der  überdies  durch  den  Besuch  keine  Störung- 
erfahren  darf. 

Der  Unternehmer  ist  verpflichtet,  dem  Bergbau- 
inspektor die  Betriebspläne  und  Dienstordnungen  mitzu- 
theilen  und  alle  nothwendigen  Aufklärungen  zu  geben,  da- 
gegen auch  berechtigt,  den  Inspektor  bei  Befahrung  und 
Besichtigung  des  Werkes  zu  begleiten.  Fernere  Pflichten 
des  Unternehmers  sind:  l.von  jedem  Unfälle  mit  tödtlichem 
Ausgange,  sowie  von  solchen  mit  Folgen  von  voraussicht- 
lich mehr  als  vierwöchentlicher  Dauer  dem  Inspektor  An- 
zeige zu  erstatten;  2.  ein  Verzeichniss  über  alle  durch  das 
Gesetz  vom  21.  Juni  1884  R.  G.  Bl.  No.  115  geschützten 
Personen  zu  führen  und  dem  Inspektor  über  Verlangen  vor- 
zuweisen. 

Findet  der  Bergbauinspektor,  dass  beim  Betriebe  eines 
Werkes  gesetzliche  Bestimmungen  ausser  Acht  gelassen 
werden  oder  sonstige  Uebelstände  hervortreten  und  kann 
er  durch  seine  Intervention  eine  Aenderung  nicht  herbei- 
führen, so  hat  er  die  Anzeige  an  die  kompetente  Bergbe- 
hörde zu  erstatten.  Nur  im  Falle  unmittelbarer  Gefahr  für 
die  Sicherheit  des  Lebens  oder  fremden  Eigenthums, 
kann  der  Inspektor  geeignete  provisorische  Verfügungen 
treffen. 

Alljährlich  sind  dem  Ackerbauminister  Berichte  zu 
erstatten,  welche  eine  Uebersicht  über  die  Amtsthätigkeit, 
eine  Zusammenstellung  der  Unfälle  sammt  ihren  Ursachen, 
sonstige  Wahrnehmungen  und  legislative  Vorschläge  zu 
enthalten  haben  und  dem  Reichsrathe  jährlich  in  geeigneter 
Bearbeitung  vorzulegen  sind. 

Der  Ackerbauminister  ist  berechtigt  zur  Untersuchung 
der  Ursachen  eines  grösseren  Grubenunglückes,  des  Zu- 
standes von  Werken,  welche  die  Sicherheit  oder  Gesundheit 
der  Arbeiter  fortgesetzt  gefährden,  endlich  alle  Uebelstände, 
die  in  grösserem  Umfange  vorhanden  sind,  eine  Unter- 
suchungskommission zu  ernennen.  In  derselben  hat  ein 
Beamter  des  Ackerbauministeriums  den  Vorsitz  zu  führen, 
ausserdem  sind  für  dieselbe  zu  ernennen:  der  Bergbau- 
inspektor des  betroffenen  Bezirkes,  ein  Vertreter  des  Revier- 
bergamtes sowie  der  Berghauptmannschaft,  der  Unter- 
nehmer des  betheiligten  Werkes  sowie  zwei  von  der  Beleg- 
schaft aus  ihrer  Mitte  zu  wählende  Personen,  endlich  Ver- 
treter der  Eigenthümer  der  Oberfläche.  Die  Untersuchungs- 
kommission hat  ihre  Erhebungen  an  Ort  und  Stelle  zu 
pflegen  und  ist  zu  diesem  Zwecke  mit  den  gleichen  Befug- 
nissen wie  der  Bergbauinspektor  ausgerüstet.  Sie  ist  auch 
berechtigt,  Sachverständige  beizuziehen  und  hat  ein  Gut- 
achten zu  erstatten,  welches  mit  dem  Berichte  der  Inspek- 
toren zu  veröffentlichen  ist 


388 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  31. 


Arbeiterversicherung. 


Reorganisation  der  deutschen  Unfallversicherung. 

Die  Unhaltbarkeit  der  berufsgenossenschaftlichen  Organi- 
sation der  deutschen  Unfallversicherung  mit  ihren  Ehren- 
ämtern ergiebt  sich  auch  aus  folgenden,  von  halbamtlichen 
Blättern  mit  grosser  Aufmerksamkeit  verfolgten  Vorkomm- 
nissen. Die  Mitwirkung  der  Städte  und  Verbände  bei  der 
Durchführung  der  sozialpolitischen  Gesetzgebung,  insbe- 
sondere bei  den  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Unfallver- 
sicherung, ist,  wie  die  „Voss.  Ztg.“  bemerkt,  nach  verschie- 
denen Mittheilungen  in  mehreren  Fällen  versagt  worden. 
So  ist  kürzlich  auf  einem  Genossenschaftstage  zur  Sprache 
gekommen,  dass  die  Städte  Fürth,  Nürnberg  und  Erlangen 
sich  weigern,  ihren  Technikern  die  Annahme  von  Ehren- 
ämtern bei  der  Tiefbauberufsgenossenschaft  zu  gestatten. 
Dieses  Verhalten,  so  bemerken  die  halbamtlichen  Blätter, 
wäre  um  so  bedauerlicher,  als  die  Stadtbehörden  damit  ein 
schlechtes  Beispiel  geben  und  die  für  die  Lösung  der  so- 
zialpolitischen Aufgaben  im  Wege  der  Selbstverwaltung 
erforderliche  Wahl  von  Vertrauensmännern  erschweren. 
Obwohl  nach  § 24  Abs.  3 des  Unfallversicherungsgesetzes 
und  nach  § 4 des  Statuts  solche  Mitglieder  (bezw.  Städte), 
die  ohne  ausreichende  Gründe  derartige  Wahlen  ablehnen, 
zu  erhöhten  Beiträgen  herangezogen  ' werden  können,  so 
bleibe  ein  solcher  Ausweg  im  Ganzen  immer  sehr  misslich. 
Es  werde  daher  in  diesem  Falle  voraussichtlich  die  Ver- 
mittelung des  bayerischen  Ministeriums  angerufen  werden, 
weil  sonst  die  Gefahr  vorliege,  dass  gerade  die  besten  und 
geeignetsten  Kräfte  für  die  berufsgenossenschaftliche  Ver- 
waltung verloren  gingen.  Nun  mag  ja  das  Zwangsmittel 
der  Anrufung  einer  höheren  Aufsichtsbehörde  augenblick- 
lich Erfolg  haben.  Dass  aber  der  Unfallversicherung  in 
ihrer  jetzigen  Organisation  dadurch  eifrige  und  freudige 
Mitarbeiter  zugeführt  werden,  dürfte  wohl  Niemand  be- 
haupten, und  so  wird  sich  der  ungeheure  berufsgenossen- 
schaftliche Apparat  doch  mit  der  Zeit  als  unzweckmässig 
und  unhaltbar  erweisen. 

Die  eingeschriebenen  Hilfskassen  und  die  Kranken- 
versicherungsnovelle. Die  Generalversammlung  des  Kranken- 
unterstützungsbundes der  Schneider  beschloss  mit  grosser 
Majorität  den  Weiterbestand  der  Kasse  und  die  Anpassung 
an  die  Bestimmungen  des  § 75  des  Krankenkassengesetzes, 
den  gleichen  Beschluss  fasste  die  Centralkranken-  und 
Sterbekasse  der  Schuhmacher  und  verwandter  Berufsge- 
nossen Deutschlands.  Die  Schuhmacher  beschlossen  ferner 
sich  dem  geplanten  Verbände  der  freien  Krankenkassen 
anzuschliessen.  Die  Generalversammlung  der  nationalen 
Krankenkasse  der  deutschen  Gold-  und  Silberarbeiter  und 
verwandten  Berufsgenossen  entschied  sich  einstimmig  für 
den  Fortbestand  als  eingeschriebene  Hilfskasse.  Die'  Ge- 
neralversammlung der  Kranken-  und  Begräbnisskasse  des 
Gewerkvereins  der  deutschen  Klempner  und  Metallarbeiter 
entschied  sich  fast  einstimmig  für  die  Auflösung  der  Kasse 
und  für  die  Gründung  einer  Zuschusskasse. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Die  österreichische  parlamentarische  Enquete  über 
Arbeiterausschüsse  etc.  Die  vom  Gewerbeausschusse  des 
Abgeordnetenhauses  einberufene  mündliche  und  schrift- 
liche Enquete  von  Gewerbeunternehmern  und  Arbeitern 
ist  bereits  abgeschlossen.  Diese  Enquete  hatte  sich  be- 
kanntlich über  die  Regierungsvorlage,  „betreffend  Einfüh- 
rung von  Einrichtungen  zur  Förderung  des  Einvernehmens 
zwischen  Gewerbeunternehmern  und  deren  Arbeitern“  aus- 
zusprechen,  und  zwar  auf  Grundlage  eines  vom  Gewerbe- 
ausschusse entworfenen  Fragebogens.  Diese  Regierungs- 
vorlage beantragte  die  Schäftung  dreier  obligatorischer  In- 
stitutionen: der  Arbeiterausschüsse,  der  Genossenschaften 
und  der  Einigungsämter.  Die  Ergebnisse  der  Enquete  über 
diese  drei  Institutionen  sind  nun,  dem  Wiener  „Fremden- 
blatt“ zufolge,  folgende:  Die  Arbeiterausschüsse  anlan- 


gend, hat  sich  die  Gruppe  der  Gewerbeunternehmer  mit 
überwiegender  Majorität  für  die  fakultative  Einführung-  mit 
der  Motivirung  ausgesprochen,  dass  nur  eine  solche  zweck- 
entsprechend. sein  kann,  eine  Minderzahl  erklärte  sich  mit 
der  obligatorischen  Einführung  einverstanden,  während  eine 
gelinge  Anzahl  die  ganze  Institution  als  unzweckmässm 
und  überflüssig  bezeichnete.  In  analoger  Weise  haben  sich 
auch  die  Arbeiter  über  diese  Institution  geäussert:  die 

Mehrzahl  hielt  diese  Institution  nicht  für  geeignet,  den 
frieden  zwischen  ihnen  und  den  Unternehmern  zu  fördern, 
eine  Minderheit  erklärte  sich,  unter  Vorbehalt  einschnei- 
dender Aenderungen  an  den  organischen  Bestimmungen, 
für  diese  Institution.  Die  zweite,  in  der  Regierungsvorlage 
intendirte  Institution:  die  Genossenschaften,  wurde  einstim- 
mig sowohl  von  der  Gruppe  der  Unternehmer  als  auch 
jener  der  Arbeiter  abgelehnt.  Die  Unternehmer  motivirten 
ihr  Votum  mit  der  Befürchtung,  dass  diese  Genossen- 
schaften, statt  das  bezweckte  Einvernehmen  zu  fördern,  es 
vielmehr  stören  würden,  und  es  wäre  zu  besorgen,  dass 
eine  solche  Organisation  die  Möglichkeit  der  Agitation 
gegen  die  Unternehmer  in  sich  trage.  Die  Motivirung  der 
Arbeiter  beruht  aut  dem  Begehren  der  uneingeschränkten 
Handhabung  des  Vereins-,  Koalitions-  und  Versammlungs- 
rechtes.  Die  Arbeiter  begehren  die  unumschränkte  ge- 
nossenschaftliche Organisation  ohne  jede  polizeiliche  Mass- 
regelung.  Bezüglich  der  Einigungsämter  waren  die  An- 
schauungen der  Enquete  getheilt.  Während  ein  kleinerer 
Theil  der  Unternehmer  die  jetzt  bereits  bestehenden  Ge- 
werbe- und  Schiedsgerichte  für  ausreichend  hält,  hat  ein 
grösserer  Theil  die  Einrichtung  von  Einigungsämtern  für 
territorial  abgegrenzte  Industriezentren  als  erspriesslich  an- 
erkannt. Die  Arbeiter  halten  in  ihrer  Mehrheit  die  Eini- 
gungsämter für  zweckentsprechend,  doch  sei  die  in  der 
Regierungsvorlage  vorgesehene  Organisation  derselben  eine 
unzweckmässige.  Die  Minorität  der  Arbeiter  aber  perhor- 
reszirte  aus  prinzipiellen  Gründen  die  Einführung  der  Eini-  1 
gungsämter.  Falls  sich  die  Regierung  und  der  Ausschuss- 
referent  von  den  in  der  Enquete  gemachten  Aeusserungen  ’ 
bestimmen  lassen,  kann  man  den  obligatorischen  Arbeiter- 
ausschuss als  gefallen  betrachten,  ebenso  die  Institution  der  ! 
Genossenschaften,  während  die  Institution  der  Einigungs- 
ämter in  beschränkter  Form  beibehalten  werden  dürfte.  ° 

Die  Gewerbeschiedsgerichte  in  Belgien.  Im  Jahre 
1890  waren  ebenso  wie  in  den  Jahren  1886—1890  25  Conseils 
de  Prud'hommes  in  Belgien  thätig.  Sie  entschieden  über 
im  Bereiche  ihrer  Kompetenz  liegende  212  Streitigkeiten  ; 
zwischen  Arbeitern,  4235  Streitfälle  zwischen  Unternehmern  , 
und  Arbeitern  und  über  84  ausser  ihrer  Kompetenz  liegende  : 
Streitfälle  zwischen  Arbeitern  und  Unternehmern,  somit  im  : 
Ganzen  über  4531  Fälle,  von  diesen  wurden  durch  Vergleich  ; 
3399,  durch  Urtheil  457  erledigt.  667  Fälle  wurden  von  den  l 
Parteien  nicht  weiter  verfolgt  und  8 harrten  der  Erledigung.  ; 
Den  Conseils  de  Prud’hommes  lagen  vor  im  Jahre  &1 862: 
2761,  1865:  3382,  1875:  4158,  1885:  3336  und  1889:  4578  Fälle. 
Von  diesen  wurden  durch  Vergleich  (in  Klammern  durch 
Urtheil)  erledigt:  1862:  2345  (179),  1865:  2712  (419),  1 875 - 
2750  (578),  1885:  2365  (322),  1889:  3391  (477). 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 


Bau  von  Arbeiterwolmungen  aus  (len  Ueberschüssen 
der  deutschen  lnvaliditäts-  und  Altersversicherung.  Der 

Vorstand  der  lnvaliditäts-  und  Altersversicherungsanstalt 
für  Sachsen- Anhalt  hat  beschlossen,  ein  Viertel  der  vor- 
handenen Ueberschüsse,  ungefähr  eine  Million  Mark,  in 
Wohlfahrtseinrichtungen  für  die  arbeitende  Bevölkerung 
anzulegen.  Es  ist  der  Bau  von  Arbeiterwohnungen  oder 
Beihülte  dazu  durch  Darleihung  von  Kapitalien  zu  ganz 
mässigem  Zinsfuss  in  Aussicht  genommen.  Der  gleiche 
Plan  sollte  vor  Jahresfrist  von  einer  Versicherungsanstalt 
der  Provinz  Brandenburg  ausgeführt  werden,  fand  aber 
Widerspruch  seitens  der  Arbeiter  und  blieb,  soweit  be- 
kannt, unausgeführt. 


No.  31. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


389 


Wolimingsmitersuchung  in  Braunschweig.  Der  „Verein 
für  öffentliche  Gesundheitspflege  in  Braunschweig  will  probe- 
weise eine  Wohnungsuntersuchung  auf  dem  Klint,  in  der 
Jedutenstrasse  und  m der  Kitterstrasse  veranstalten,  um  sich 
dann  auf  Grund  der  gewonnenen  Erfahrungen  an  die  Stadt 
bezw.  Regierung  zwecks  Vornahme  einer  Gesammtunter- 
suclmng  zu  wenden.  Der  angeblich  bestehende  Plan  der 
Regierung,  gelegentlich  der  Volkszählung  1895  eine  Woh- 
nungsuntersuchung zu  veranstalten,  erfuhr  eine  abfällige 
Kritik,  weil  — so  wurde  ärztlicherseits  geltend  gemacht  — 
bei  Verbindung  der  Volkszählung  mit  der  Wohnungsunter- 
suchung die  letztere  jedenfalls  nicht  mit  der  erforderlichen 
Sorgfalt  ausgeführt  werden  würde. 

Die  Zahl  der  Wohnungen  und  Haushaltungen  in 
Belgien.  Aehnlich  wie  in  Deutschland  wurde  auch  in 
Belgien  anlässlich  der  Volkszählung  vom  Jahre  1890  eine 
Zählung  der  Häuser  und  Wohnungen  vorgenommen.  Die 
vorläufigen  Ergebnisse  sind  im  Annuaire  Statistique  de  la 
Belgique  (XXII.  Annee1891)  publizirt.  Es  wurden  I 195  218 
bewohnte  und  unbewohnte  Häuser  und  45  964  nicht  zu 
Wohnungen  bestimmte  Häuser  gezählt.  Von  der  ersteren 
Kategorie  kamen  auf  100  Hektare  41  Häuser  und  508  Ein- 
wohner wurden  auf  100  Wohnhäuser  (bewohnte  und  nicht 
bewohnte)  gezählt.  In  Brüssel  kamen  auf  100  Häuser  953, 
in  Antwerpen  709,  in  Lüttich  786,  in  Seraing  561,  in  Gent 
474  Bewohner,  lieber  1000  Einwohner  in  100  Häusern 
wurden  konstatirt  in  den  Gemeinden  Molenbeek  - St.  Jean 
(Brabant)  1005,  in  Dison  1012  und  Verviers  1062  (Beide  in 
der  Provinz  Lüttich).  Ueber  dem  Landesdurchschnitte  waren 
die  Häuser  der  Provinzen  Brabant  (597),  Antwerpen  (572), 
Lüttich  (566)  und  Limburg  (509)  bewohnt. 

Das  Königreich  zählte  im  Jahre  1890  1339  843  Haus- 
haltungen, gegen  890  566  im  Jahre  1846,  936  284  im  Jahre 
1856,  1038  898  im  Jahre  1866,  1202  919  im  Jahre  1880.  Im 
Jahre  1890  kamen,  sowie  in  den  Jahren  1856  und  1866  112, 
im  Jahre  1880  113  und  im  Jahre  1846  111  Plaushaltungen 
aut  100  Häuser.  Auf  100  Haushaltungen  kamen  im  Jahre 
1890:  453,  1880:  459,  1866:  465,  1856:  484  und  1846:  487  Ein- 
wohner. 


Soziale  Hygiene. 


Statistik  der  Schankstätten  in  Berlin.  Der  jüngst  heraus- 
gegebene Verwaltungsbericht  des  Polizeipräsidiums  von  Berlin 
enthält  ausführliche  Angaben  über  die  Zahl  und  Art  der 
Berliner  Schankstätten.  Danach  besass  Berlin  im  Jahre  1890 
291  Gastwirthschaften,  253  Lokale  für  Wein,  6243  Lokale  für  Bier, 
35  Lokale  für  Kaffee,  Thee,  Chokolade,  719  Lokale  für  Bier,  j 
Kaffee,  Thee.  823  Lokale  für  Branntwein,  142  Konditoreien,  also 
8506  Schanklokalitäten,  deren  Zahl  sich  auf  10  913  steigert,  wenn 
man  noch  die  103  Selterwasserbuden  und  die  2304  Kleinhand- 
lungen mit  Branntwein  dazu  rechnet.  Gegen  ein  Jahrzehnt 
vorher,  gegen  das  Jahr  1881  giebt  die  letztere  Zahl  ein 
Plus  von  2806  dem  Trinken  geweihten  Stätten.  Seit  1881 
haben  sich  vermehrt  die  Gastwirthschaften  um  84,  die  Wein- 
schänken um  127,  die  Bierschanklokale  um  1060,  die  Bier-, 
Kaffee-  und  Theeschankstätten  um  226,  die  Branntweinschank- 
stätten um  232,  die  Kleinhandlungen  mit  Branntwein  um  1004; 
dagegen  vermindert  die  Kaffee-,  Thee-  und  Chokoladenschank- 
lokale  um  23,  die  Konditoreien  um  7 und  die  Selterwasser- 
schankstätten um  5.  Berlin  hatte  nach  der  Volkszählung  vom 
1.  Dezember  1890  eine  Einwohnerzahl  von  1 578  794.  Danach 
kam  eine  Schankstätte  auf  185  Seelen.  Im  Jahre  1885  kam  eben- 
falls auf  185  Seelen  eine  Schankstätte  im  Jahffe  1881  dagegen 
auf  je  170  Seelen  eine.  Die  Gesammtzahl  der  Schank- 
lokale ist  also  seit  1881  im  Verhältniss  zur  Anzahl  der 
Einwohner  geringer  geworden.  Das  Polizeipräsidium  hat 
an  der  Ansicht  festgehalten,  dass  in  Berlin  ein  Bedürfniss  zur 
Errichtung  neuer  Branntweinschankstätten  im  Allgemeinen  nicht 
vorhanden  sei  und  daher  Widerspruch  gegen  die  Errichtung 
neuer  Anlagen  erhoben  werden  müsse.  Von  Bedeutung  ist 
ferner  die  Erörterung  der  Frage,  in  welchem  Verhältniss  die 
Anzahl  der  Einwohner  zu  der  Anzahl  derjenigen  Schankstätten 
steht,  in  welchen  vorherrschend  oder  nahezu  ausschliesslich 
Spirituosen  ausgeschänkt  werden,  da  der  starke  Verbrauch  der 
letzteren  als  Genussmittel  insbesondere  als  schädlich  für  das 
Gemeinwohl  anzusehen  ist.  Von  solchen  Lokalen  waren  vor- 
handen: 1881  bei  1 156  382  Seelen  591,  also  eine  Branntwein- 
schänke auf  1956  Seelen,  1890  bei  1 578794  Seelen  823,  also  eineBrannt- 


weinschänke auf  1918  Seelen.  Es  ergiebtsich  hieraus,  dass  seit 
1881  eine  nicht  nen  n ens  werth  e V erm  ehr  ung  der  Brannt- 
weinschänken im  Verhältniss  zur  Einwohnerzahl  ein- 
getreten ist  Eine  besondere  Besprechung  widmet  der  Bericht 
j den  sogenannten  „Wiener  Cafes“  und  den  Schanklokalen  mit 
j weiblicher  Bedienung.  Bezüglich  der  ersteren,  welche  sich  im 
I letzten  Jahrzehnt  sehr  vermehrt  haben,  ist  aus  .sittenpolizeilichen 
Gründen  durch  Verfügung  vom  18.  November  1886  angeordnet 
j worden,  dass  diesen  die  Polizeistunde  nur  bis  2 Uhr  Morgens, 
und  zwar  immer  nur  für  drei  Monate  verlängert  wird.  Diejenigen 
I Konzessionäre,  welchen  bereits  eine  längere  Polizeistunde  be- 
I willigt  war,  sind  bis  auf  Weiteres  im  Besitze  derselben  belassen 
worden  Halten  die  Inhaber  jedoch  nicht  auf  Ordnung  in  ihren 
Lokalen  und  lassen  sie  sich  Ausschreitungen  zu  Schulden 
kommen,  so  werden  sie,  falls  eine  Verwarnung  fruchtlos  ge- 
blieben ist,  in  Betreff  der  Polizeistunde  beschränkt.  Diejenigen 
Schanklokale,  in  welchen  die  Bedienung  durch  weibliche  Per- 
sonen erfolgt,  haben  leider  zugenommen;  es  bestehen  zur  Zeit 
924  mit  2022  Kellnerinnen,  sie  bilden  also  beinahe  den  neunten 
Theil  sämmtlicher  Schanklokale.  Es  wurde  daher  allgemein  an- 
geordnet, dass  die  Polizeistunde  für  die  Schankstätten  in  keinem 
Falle  mehr  über  12  Uhr  verlängert  wird,  und  bis  12  Uhr  nur 
dann,  wenn  die  Geschäftsführung  eine  erprobt  zuverlässige  ist. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Adler,  Dr.  Karl,  Das  österreichische  Lagerhausrecht. 
Berlin,  1892.  Carl  Heymann’s  Verlag.  8".  234  S. 

Annuaire  de  la  Bourse  du  travail  (Annexe  A.).  1890,91.  Paris, 
1892.  467  S. 

Appelius,  Dr.  H,  Die  Behandlung  jugendlicher  Ver- 
brecher und  verwahrloster  Kinder.  Bericht  der  von 
der  internationalen  kriminalistischen  Vereinigung  (Gruppe 
Deutsches  Reich)  gewählten  Kommission.  Im  Aufträge  der 
Kommission  verfasst.  Berlin,  J.  Guttentag,  Verlagsbuchhand- 
lung. 234  S. 

Engels.  Ernst,  Oberbergrath  und  Mitglied  des  Hauses  der  Abge- 
ordneten, Allgemeines  Berggesetz  für  die  Preussi- 
schen  Staaten.  Berlin,  1892.  J.  Guttentag.  16°.  232  S. 

Kautsky,  Karl,  Das  Erfurter  Programm.  Stuttgart,  1892. 
J.  H.  W.  Dietz.  8°.  262  S. 

Marx,  K.,  Das  Elend  der  Philosophie.  Deutsch  von  E.  Bern- 
stein und  K.  Kautsky.  Mit  Vorwort  und  Noten  von  F.  Engels. 
2.  Aull.  Stuttgart,  1892.  f.  H.  W.  Dietz.  8".  XXXIII  und 
188  S. 

Minzes,  Boris,  Die  Nationalgüterveräusserung  während 
der  französischen  Revolution  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung des  Departements  Seine  und  Oise.  Ein  Beitrag 
zur  sozialökonomischen  Geschichte  der  grossen  Revolution. 
Auf  Grund  ungedruckter  Quellen.  (A)  u.  d.  T.  Staats- 
wissenschaftliche Studien.  Herausgegeben  von  Dr.  Ludwig 
Elster.  4.  Bd.  2.  Heft.)  Jena,  1892.  G.  Fischer.  VII  und 
167  S. 

Statistisches  Jahrbuch  für  das  deutsche  Reich.  Herausgegeben 
vom  Kais.  Statistischen  Amt.  13.  Jahrgang,  1892.  Berlin, 
1892.  Puttkammer  & Mühlbrecht. 

Statistique  de  la  Belgique.  Tableau  General  du  Commerce  avec 
les  pa}^s  etrangers  pendant  l’annee  1890.  Publie  par  le 
ministre  des  finances.  Brüssel,  1891.  257  S. 

Chemins  de  fer.  Postes,  Telegraphes,  Marine.  Compte  rendu 
des  operations  pendant  l’annee  1890.  Brüssel,  1891. 

Recensement  göneral  de  la  population  au  31.  Decembre  1890. 
Brüssel,  1892.  16  S. 

Annuaire  statistique  de  la  Belgique.  XXII.  annee  1891. 
Brüssel,  1891.  IX  und  367  S. 

Suchsland,  Dr.  H.,  Verbandsdirektor  und  Saeiiberlich,  A.,  Ober- 
amtmann, Verbände  ländlicher  Arbeitgeber.  Berlin, 
1892.  Walther  & Apolants  Verlagsbuchhandlung.  8°.  29.  S. 

Verwaltungsbericht  des  Magistrats  zu  Berlin  für  die  Zeit 
vom  1.  April  1890  bis  31.  März  1891.  No.  VIII.  Bericht 
über  die  städtische  Armenpflege.  Folio.  18  S. 

Vogt,  J.  G.,  Eine  Welt-  und  Lebensanschauung  für  das 
Volk  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  wirt- 
schaftlichen und  gesellschaftlichen  Fragen.  1. — 11. 
Lieferung.  Leipzig,  1892  Ernst  Wiest.  8°.  VIII  und  9—  160  S. 

Warno,  Unitas.  Hülfe  in  ernsten  Zeiten.  Ein  zuverlässiger 
Führer  in  Religion,  Politik  und  Wirthschaft.  Zürich,  1892. 
Verlagsmagazin  (J.  Scbabelitz).  8°.  96  S. 

* * * Wilhelm  II.  Romantiker  oder  Sozialist.  Zürich.  1892. 
Verlagsmagazin  (J.  Schabelitz).  8°.  34  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


390 


ANZEIGEN. 


No.  31. 


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atu  ©tatiftifdjei!  Stint  ber  Stabt  Berlin. 

Sßreii  2 93?arf. 

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(f  ftc if  Perf  eftr. 

Sott 


Emil  Strauss,  Verlagshandlung  in  Bonn. 


Mit  Januar  1892  begann  ein  neues  Abonnement  auf  den  XI.  Jahrgang  des 

Centralblattes 

für 

allgemeine  Gesundheitspflege. 

Herausgegeben  von 

Di*.  Finkelnburg,  Dp.  Lent,  Dr.  Wolffberg, 

Professor  a.  d.  Universität  Bonn.  Geh.  Sanitätsrath  in  Cüln.  Künigl.  Kreisphysikus  in  Tilsit. 

Jährlich  erscheinen  12  Hälfte  8 ' mit  zahlreichen  Abbildungen  und  Tafeln. 

Abonnements]» reis  M.  10. — pro  anno. 

Das  Programm  des  „Centralblattes  für  allgemeine  Gesundheitspflege“  stellt  sich 
im  Wesentlichen  zusammen  aus:  Originalartikeln  über  alle  Zweige  der  Gesundheits- 
pflege, Berichten  aus  den  Krankenhäusern  der  grösseren  Städte,  Sterblichkeits- 
statistik mit  Berücksichtigung  der  Todesursachen,  Berichten  über  epidemische 
Vorgänge,  Seuchestatistik,  Uebersiehten  der  hygienischen  Bestrebungen  des  In-  und 
Auslandes,  Medizinalgesetzgebung.  Auszügen  und  Referaten  über  die  neu  erschienene 
Literatur  des  In-  und  Auslandes  etc  etc. 

Ferner  enthalten  die  Hefte  zahlreiche  „Kleinere  Mittheilungen“  ans  dem 
Gebiete  der  Hygiene,  Literaturberichte,  regelmässige  monatliche  Nachweisungen 
über  Krankenaufnahme  und  Bestand  in  den  Krankenhäusern  von  54  Städten  der 
Provinzen  Westfalen,  Rheinland  und  Hessen-Nassau  etc.  etc. 

Abonnements  auf  den  XI.  .lalirgang  nehmen  alle  Buchhandlungen  und  Post- 
anstalten  zum  Abonnementspreise  von  M.  10. — pro  anno  entgegen.  Die  bereits 
erschienenen  Jahrgänge  können  zum  Preise  von  M 10.—  pro  Jahrgang  nachbezogen 
werden. 


Verlag  der  Manz’schen  k.  und  k.  Hof-Verlags-  und  Universitäts-Buchhandlung  in  Wien. 


Di*.  Bctfll|ttlb  ÜUidjacl. 

Sßretä  2 931  arf. 


X ©uffEttf ag,  äJerlagSbudjljanblung  inSBcrlin. 
Soeben  erfcfjieit : 

Jillpinius  fniütffl 

für  bie 

JJmtfnfrijcu  finitt*»«. 

33om  24.  3itnt  1865, 
in  ber  Raffung  ber  4JooeUe  Pom  24.  Sunt  1892, 

mit  ben  für  ben  SSergbau  geltenben  SBeftimmungen  ber 
Dlooelle  jur  ©enierbeorbnung  oom  l.$uni  1891. 

Xept-2(ui3gabe  mit  Slnmerfungcn  unb  ©adjvegifter  ■ 

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(Prntf  (Engels, 

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Xafcfjenformat,  cartonntrt. 
preis  1 Bl.  50  pf. 

fm  %mb 


Die 

• • 

Österreichische  Handelspolitik 

im  neunzehnten  Jahrhunderte. 


pdpfdjrift  nir  Brömnifi  riner  frteülicijcit 
Suiiatafnrm. 

©rgait  bes  ©Etflftfjßtt  Buntes  für  Bobeit- 
teflfjrEform. 


Von 

Dr.  -A-d-olf  Beer, 

k.  k.  Ministerialrath  und  Beichstags-  Abgeordneter. 

Gr.  8.  3972  Bogen.  Preis  broscbirl  12  Mark. 


Zum  ersten  Male  wird  in  diesem  Werke  eine  Darstellung  der  leitenden  Gesichts- 
punkte österreichischer  Handels-  und  Zollpolitik,  ausschliesslich  auf  handschriltlichen 
Quellen  fussend,  gegeben.  Besonders  ausführlich  werden  die  Bestrebungen  Oester- 
reichs zur  Bildung  einer  Zolleinigung  mit  dem  deutschen  Zollvereine  geschildert.  Das 
Werk  liefert  auch  für  die  Würdigung  der  österreichischen  Politik  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten manchen  Beitrag  und  dürfte  auch  in  weiteren  Kreisen  lebhaftes  Interesse  er- 
wecken. 


grfdjcint  jebeit  ÜJloittag. 


21  b o n n e m e n 1 3 b e b i n g u n g e n : 
23ei  allen  flSoftanftalten  (91r.  2272 


ber  SPoftgeitungMiftel  ....  93?f.  0,  0 
23ei  btrelter  Äreusbaubfenbung: 

in  Seutfdflanb  unb  Oefterreict) . „ 1,20 

im  SBeltpofiüerein „ 1,50 

Stt  23erlin  bei  freier  ßufenbung  . . „ R— 


©iß  (Expebilion 

K.  Hrclts,  *0taUfrf|mtrßr|ir.  55. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  8.  August  1892. 


Nummer  32. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  BuchhandlungenjZeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT 


Statistik  der  Haus weber ei  im 
schlesisch enE ul  engebirge. 
V on  Prof. Dr.WernerSombart. 
Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik : 

Enquete  über  Anstalten  für  Arbeits- 
vermittelung  in  Deutschland. 

Vorschriften  für  Kellnerinnenwirth- 
schaften  in  Berlin. 

Ziehkinderwesen  in  Leipzig. 

Gesetzliche  Regelung  der  Ausver- 
käufe in  Oesterreich. 

Nothlage  in  der  schweizerischen 
Landwirthschaft. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Internationaler  Typographenkon- 
gress. 

Verband  deutscher  Bergleute. 

Die  Kosten  des  letztenBuchdrucker- 
strikes  in  Leipzig. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Sozialistische  Bauernbewegung  in 
Oesterreich. 

Schweizerischer  Grütli verein. 
Unternehmerverbände : 

Das  gescheiterte  Projekt  eines 
rheinisch- westfälischen  Kohlen- 
syndikats. 

Die  Aussperrung  von  Schuhmacher- 
gesellen in  Barmstedt. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Die  schweizerische  Bundesgesetz- 
gebung über  die  Arbeitszeit  beim 
Betriebe  der  Eisenbahnen  und 
anderer  Transportanstalten.  Von 
Kantonsstatistiker  E.  Naef. 


Ausführungsverordnung  zur  neuen 
Gewerbeordnung,  betr.  die  Rege- 
lung der  Frauenarbeit  inPreussen, 

Die  Sonntagsruhe  im  Eisenbahn- 
güterverkehr. 

Zur  Sonntagsruhe  in  den  berliner 
Vororten. 

Arbeiterschutzgesetz  in  New- Jersey. 

Arbeiterversicherung: 

Zwei  Vorschläge  zur  Revision  des 
deutschen  Unfallversicherungsge- 
setzes. Von  H.  Horn. 

Anweisung  zur  Ausführung  des 
deutschen  Krankenversicherungs- 
gesetzes v.  10.  April  1892. 

Die  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherung im  Stadtbezirke  Berlin 
im  Jahre  1891. 

Haftpflichtschutz  verband  Deutscher 
Industrieller. 

Jahresversammlung  des  wiirttem- 
bergischen  Krankenkassenver- 
bandes. 

Besitzvertheilung  und  Unfallstatistik 
in  der  thüringischen  Landwirth- 
schaft. 

Die  Kaufleute  und  die  Kranken- 
und  Unfallversicherung  in  der 
Schweiz. 

Gewerbegerichte , Einigungs- 
ämter  u.  Arbeiterausscniisse : 

Gewerbegerichte  und  Aufsichtsbe- 
hörden in  Württemberg  und 
Baden. 

Statistik  der  Gewerbegerichte  in 
Baden. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Statistik  der  Hausweberei  im  schlesischen 
Eulengebirge. 


Zu  denjenigen  preussischen  Handelskammern,  welche 
es  von  jeher  als  ihre  Aufgabe  betrachtet  haben,  auch  Stati- 
stik zu  treiben,  gehört  in  hervorragendem  Masse  die  Handels- 
kammer für  die  Kreise  Reichenbach,  Schweidnitz,  Striegau 
und  Waldenburg,  d.  h.  die  Vertreterschaft  des  wichtigen 
niederschlesischen  Industriebezirks.  Dass  in  diesem  neben 
Kohle,  Steinen  und  Erden  die  Gewebeindustrie  eine  be- 
deutende Rolle  spielt,  ist  bekannt.  Diese  in  ihrer  Entwicke- 
lung zu  verfolgen,  lässt  sich  daher  die  Handelskammer  stets 
besonders  angelegen  sein.  Sie  hat  bereits  eine  Reihe  werth- 
voller Erhebungen  auf  diesem  Gebiete  veranstaltet  und 


j theilt  jetzt  in  ihrem  soeben  erschienenen  Jahresbericht  für 
das  Jahr  1891  wiederum  die  Ergebnisse  einer  sehr  gründ- 
| liehen  statistischen  Aufnahme  der  Handweberverhältnisse 
in  ihrem  Bezirke  mit.  Dieser  umfasst  zwar  ein  erheblich 
weiteres  Gebiet  als  das  Eulengebirge,  als  Sitz  der  Haus- 
weberei kommt  jedoch  dieses  mit  seinen  hügeligen  Ausläufern 
vornehmlich  in  Betracht. 

Die  Erhebungen  der  Handelskammer  sind  sehr  sorg- 
fältig mittelst  Individualfragezetteln,  deren  Vertrieb  die 
Ortspolizeibehörde  besorgt  hat,  veranstaltet  worden,  so  dass 
sie  uns  ein  getreues  Bild  von  der  heutigen  Ausdehnung  der 
Hausweberei  im  Eulengebirge  und  den  angrenzenden  Ge- 
bieten verschaffen.  Die  Aufnahme  ist  im  Februar  1892  er- 
folgt. Die  wichtigsten  Ergebnisse  sind  folgende: 

Handweber  wurden  in  153  Ortschaften  des  Bezirks 
insgesammt  7658  ermittelt.  Davon  waren  männlichen  Ge- 
schlechts 4156,  weiblichen  3502.  Hauptsitz  der  Hausweberei 
ist  der  Kreis  Reichenbach  mit  2265  männlichen  und  1515 
weiblichen  Handwebern.  Wenn  wir  von  der  Gesammtsumme 
der  Handweber  99  sog.  Fabrikhandweber  abziehen,  d.  h. 
Handweber,  welche  in  Räumen  des  Unternehmers  weben, 
so  erhalten  wir  die  Zahl  der  eigentlichen  Hausweber:  7559. 
Hiervon  sind  „Meister  oder  selbständige  Weber“  4342, 
„Gehilfen“  (wozu  auch  die  webenden  Hauskinder  über  14 
Jahre  — das  Hilfspersonal  unter  14  Jahren  ist  ausser  Acht 
gelassen  — und  die  mitwebenden  Ehefrauen  gerechnet 
werden)  3316.  Die  Familienzugehörigkeit  der  Gehilfen  darf 
in  der  Hausweberei  als  der  weitaus  häufigste  Fall  angesehen 
werden,  so  dass  jene  Zahlen  wesentlich  das  Verhältniss 
zwischen  Familienvätern  bezw.  Müttern  und  beschäftigten 
sonstigen  Hausgenossen  darstellen. 

Die  Stoffe,  welche  in  der  Hausweberei  des  Bezirks 
hergestellt  werden,  sind  vorwiegend  baumwollene  Gewebe. 
Mit  der  Erzeugung  derselben  befassen  sich  4279  Weber, 
mit  der  halbleinener  Stoffe  1659,  mit  der  leinener  1602, 
mit  der  halbwollener  65,  mit  der  wollener  53.  Hauptsitz 
der  Leinenweberei  ist  der  Kreis  Waldenburg,  in  dem  allein 
von  jenen  1602  Leinenwebern  1373  gezählt  wurden;  die 
übrigen  Branchen  vertheilen  sich  ziemlich  gleichmässig. 

Sehr  lehrreich  sind  ferner  die  Zahlen,  welche  den 
Prozentsatz  der  Nebenbeschäftigten  angeben.  Es  besteht 
in  weiten  Kreisen  immer  noch  die  Wahnvorstellung,  als  sei 
die  Verbindung  der  Hausindustrie,  insonderheit  auch  der 
Hausweberei  mit  anderen,  namentlich  landwirthschaftlichen 
Berufen  die  Regel.  Dass  diese  Annahme  grundfalsch  ist, 
lehren  uns  wieder  einmal  die  Zahlen  unserer  Statistik.  Sie 
hat  diejenigen  Weber,  welche  sich  nur  mit  Weberei  von 
denjenigen  geschieden,  welche  sich  auch  mit  anderen  Er- 
werbsarbeiten als  Weberei  und  Spulerei  beschäftigen- 


392 


SOZIALPOLJTIS«  HES  CENT RALBI, ATT. 


No.  32. 


Letztere  Zahl  drückt  also  das  Maximum  erwerbender  Neben- 
beschäftigung aus.  Solcher  nebenbeschäftigter  Weber 
wurden  im  Ganzen  1386  gezählt,  während  6272  sich  nur 
mit  Weberei  beschäftigten.  Im  Kreise  Reichenbach  (Eulen- 
gebirge) ist  gar  noch  nicht  ein  Sechstel  der  Hausweber 
nebenbeschäftigt  (612  von  3780 1. 

Alle  diese  Zahlen  erscheinen  nun  aber  in  einem  viel 
hellerem  Lichte,  wenn  wir  sie  in  Vergleich  stellen  mit  den 
E r g e b n i s s e n f r ti  h e r e r A u f n a h m e n , welche  die  Schweid- 
nitzer  Handelskammer  gleichfalls  veranstaltet  hat.  Zwar  ist 
der  Erhebungsmodus  in  früheren  Jahren  nicht  ganz  der- 
selbe wie  im  letzten  Jahre  gewesen;  es  ist  nicht  mittelst  In- 
dividualzählkarten, sondern  nur  durch  Umfrage  bei  den 
Ortspolizeibehörden  die  Zählung  veranstaltet.  Immerhin 
werden  wir  die  Ergebnisse  der  verschiedenen  Erhebungen 
vergleichen  dürfen,  wenn  wir  uns  gegenwärtig  halten,  dass 
die  Ziffern  aus  früheren  Jahren  kleine  Abweichungen  von 
der  Wirklichkeit  aufweisen  können.  Die  grossen  Züge  der 
Entwickelung  lassen  sich  trotzdem  mit  ziemlicher  Gewiss- 
heit aus  dem  Vergleiche  entnehmen. 

Entwickelung  der  Hausweberei  kann  trotz  aller  mütter- 
lichen Sozialpolitik  nur  Rückgang,  Verfall  bedeuten.  In 
der  That  ergiebt  sich  aus  den  Erhebungen  der  Schweid- 
nitzer  Handelskammer,  dass  die  Zahl  der  Hausweber  sich 
seit  1871,  also  innerhalb  zweier  Jahrzehnte,  um  rund  50  pCt. 
vermindert  hat.  Während  1891,  wie  wir  sahen,  7668  Hand- 
weber in  dem  Bezirke  gezählt  wurden,  gab  es  1871  deren 
noch  15  326.  Also  trotz  aller  Hausmittelchen,  die  man  zur 
Erhaltung  der  Hausindustrie  angewandt  hat,  eine  Ver- 
minderung auf  die  Hälfte.  Das  ist  immerhin  eine  recht 
erfreuliche  Thatsache  für  alle  diejenigen,  die  mit  ihrem 
Herzen  nicht  an  der  Hausindustrie  hängen.  Verringerung 
des  hausindustriellen  Bodensatzes  in  einem  so  wichtigen 
Gewerbszweige  wie  der  Weberei,  in  einem  so  berüchtigt 
wichtigen  Hausindustriegebiete  wie  dem  unsrigen,  darf  ge- 
wiss als  ein  volkswirthschaftlich  wie  sozial  bedeutsamer 
Fortschritt  angesehen  werden.  Interessant  ist  auch  zu  ver- 
folgen, in  welchen  Etappen  die  Tödtung  der  Hausweberei 
stattgefunden  hat.  Die  purgirenden  Jahre  sind,  wie  leicht 
begreiflich,  die  Jahre  niedersteigender  Konjunktur.  Erfolgt 
ein  Aufschwung  des  Industriezweiges , dann  vermag 
auch  die  Hausweberei  sich  wieder  ein  Bischen  zu  er- 
holen und  bleibt  stabil.  So  vermindert  sich  die  Zahl 
der  Hausweber  in  den  guten  Jahren  1871 — 76  nur 
von  15  326  auf  14047.  Die  Depression  des  Endes  der  1870er 
Jahre  reisst  dann  aber  empfindliche  Lücken  in  die  Reihen 
der  Handweber;  sie  vermindern  sich  bis  1881  auf  11752, 
um  zu  Beginn  des  9.  Jahrzehntes  sogar  sich  noch  einmal 
unter  der  verbesserten  Geschäftslage  auf  12  878  zu  ver- 
mehren (diese  Zahl  wird  allerdings  von  Eingeweihten  als 
die  zweifelhafteste  bezeichnet!.  Immerhin  wird  es  der 

Wirklichkeit  entsprechen,  wenn  wir  bis  in  die  Mitte  des 
9.  Jahrzehnts  das  1881  erreichte  Niveau  annehmen.  Nun  aber 
kommt  der  furchtbare  Niedergang  der  Industrie  1885  bis 
1888  und  mit  ihm  hält  Schritt  die  rasche  Verringerung- 
der  Hausweberei.  Das  niedrige  Niveau  des  Jahres  1891 
darf  bereits  Ende  der  1880  er  Jahre  als  erreicht  gelten.  Die 
vorübergehende  Haussebewegung  in  der  Textilindustrie 
während  der  Jahre  1889/90  hat  zu  einer  Vermehrung  der 
Hausweberei  doch  nicht  mehr  geführt.  Und  nun  frisst  der 
Wurm  an  den  letzten  Resten.  Die  böse  Zeit,  welche 

während  der  vei'gangenen  Jahre  wieder  über  die  Textil- 
industrie, gerade  auch  die  Baumwoll-  und  Halbstoffweberei 
hereinbrach,  hat  zu  der  Vergrösserung  des  Elends  in  Haus- 
weberkreisen  wesentlich  beigetragen.  Es  ist  aber  auch  be- 
greiflich, dass  die  Beseitigung  der  jetzt  noch  bestehenden 
Reste  die  furchtbarsten  Konvulsionen  verursacht,  deshalb, 
weil  es  jetzt  mehr  und  mehr  den  „selbständigen“  Webern, 


d.  h.  den  Familienvorständen  selbst  an  den  Kragen  geht. 
Bisher  hat  sich  die  Verminderung  noch  viel  mehr  auf 
Kosten  der  Hilfspersonen,  sei  es  fremder,  sei  es  Familien- 
angehöriger vollzogen,  die  begreiflicher  Weise  noch  eher 
ein  anderes  Gewerbe  ergreifen,  oder,  weil  jünger,  leichter 
in  die  mechanische  Weberei  übergehen  oder  auch  besser 
wegwandern  können.  Unsere  Statistik  zeigt  uns,  dass  die 
Zahl  der  „Selbständigen“  sich  seit  1871  um  40,2  pCt.,  die 
der  Unselbständigen  dagegen  um  54,2  pCt.  vermindert  hat. 
Während  1871  noch  89,4  Unselbständige  auf  100  Selbständige 
entfielen,  wurden  1891  nur  noch  76,5  gezählt.  Im  Zu- 
sammenhänge mit  dieser  Entwickelung  steht  wohl  die  That- 
sache,  dass  die  Zahl  der  Nebenbeschäftigten  verhältniss- 
mässig  geringer  wird.  Während  1871  noch  17,2  pCt.  der 
Hausweber  einen  Nebenerwerb  hatten,  war  diese  Kategorie 
1891  auf  12,8  pCt.  herabgesunken. 

In  ebenso  erfreulichem  Masse  wie  die  Hausweberei 
zurück  geht,  blüht  die  Maschinenweberei  in  unserem 
Bezirke  auf.  Sie  weist,  trotz  aller  zeitweiligen  Baissebe- 
wegungen doch  eine  stetige  Zunahme  der  mechanischen 
Webstühle  auf,  deren  Zahl  sich  in  den  12  Jahren  von  1879 
bis  1891  mehr  als  verdoppelt  hat.  Die  Zahl  der  Maschinen- 
stühle betrug  im  Bezirke: 


1879  = 2536 

1880  = 2668 

1881  = 2794 

1882  = 3058 

1883  = 3143 

1884  = 3476 

1885  = 3810 


1886  = 3907 

1887  = 3932 

1888  = 4413 

1889  — 4817 

1890  = 5289 

1891  = 5439. 


Es  wird  in  Zukunft  nur  dafür  gesorgt  werden  müssen, 
dass  die  mechanische  Weberei  sich  gerade  in  den  Brenn- 
punkten der  Hausweberei  ansiedele  und  ausdehne.  Zu 
diesem  Ende,  um  den  Todeskampf  der  Hausindustrie  zu  er- 
leichtern, werden  deren  Sitze  zuvörderst  dem  Verkehr  er- 
schlossen werden  müssen.  Zögert  dann  die  private  Speku- 
lation, in  die  entlegenen  Gebiete  der  Hausweberei  mit  der 
Anlage  von  Fabriken  einzudringen,  so  wird  der  Staat  direkt 
oder  indirekt  stimulirend  nachhelfen  müssen.  Wenn  nur 
erst  die  sentimentale  Vorliebe  für  altfränkische  Betriebs- 
formen aus  den  massgebenden  Kreisen  vollständig  verbannt 
ist,  dann  wird  sich  die  Gesundung  der  Verhältnisse  schon 
rasch  genug  vollziehen. 

Zum  Schluss  möchten  wir  aber  doch  noch  des 
Urtheils  Erwähnung  thun,  welches  die  S chweidnitzer 
Handelskammer  selbst,  offenbar  eine  der  kompetentesten 
Körperschaften,  über  die  Ziele  hausindustrieller 
Politik  fällt.  Vielleicht,  dass  wir  darin  einer  eventuell 
nothwendig  werdenden  staatlichen  Unterstützung  der  Fabrik- 
anlagen gedacht  sehen  möchten  — freilich  eine  Erwägung, 
die  über  den  Rahmen  einer  Interessenvertretung  privater 
Industrieller  hinausfällt  — sonst  stimmen  wir  der  Handels- 
kammer vollkommen  bei,  wenn  sie  in  ihrem  diesjährigen 
Bericht  (S.  5)  sagt:  „wir  sind  der  Ueberzeugung,  dass  alle 
anderen  Versuche,  die  Erwerbsverhältnisse  zu  bessern  (sc. 
ausser  der  Hebung  des  Verkehrs,  Erschliessung  der  Gegen- 
den durch  Eisenbahnen)  nur  zu  Palliativmitteln  führen 
werden,  die  lediglich  vorübergehend  wirken  können  und 
für  eine  so  grosse  Bevölkerung  völlig  unzureichend  sind. 
Namentlich  darf  nicht  vergessen  werden,  dass  die  Neuein- 
führung anderer  Hausindustrien  grossen  Bedenken  unter- 
liegt. Alle  reinen  Hausindustrien  sind  in  ähnlicher  Lage 
wie  unsere  Handweberei,  sie  werden  schlecht  bezahlt.  Sie 
sind  meist  der  Mode  unterworfen  und  ihr  Absatz  ver- 
schwindet zuweilen  ganz  plötzlich,  auch  sind  sie  fast  alle 
der  Gefahr  ausgesetzt,  von  der  mechanischen  Industrie  bei 
der  rapiden  Entwickelung  unseres  Maschinenwesens  ver- 
drängt zu  werden.  . . . Auf  die  Förderung  und  Entwicke- 
lung des  grösseren  mechanischen  Fabrikbetriebes  muss  da- 


No.  32. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


T 


393 


her  vor  allem  das  Augenmerk  gerichtet  werden.  Von 
diesem  Standpunkt  aus  sind  wir  für  die  Errichtung  einer 
Webeschule  in  Reichenbach  und  namentlich  dafür  sehr 
dankbar,  dass  dieselbe  vor  allem  die  Förderung  der  mecha- 
nischen Weberei  ins  Auge  gefasst  hat.  Die  mechanische 
Weberei  ist  ohne  Frage  der  naturgemässeste  Ersatz 
für  die  Hand  web  er  ei  und  ihre  Entwickelung  hat  die 
meiste  Zukunft  in  unseren  Weber  tretenden.“ 

o o 

Breslau.  Werner  Sombart. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Enquete  über  Anstalten  für  Arbeitsvermittelung  in 
Deutschland.  Die  Centralstelle  für  Arbeiter-Wohlfahrtseinrich- 
tungen in  Berlin  veranstaltet  jetzt,  um,  wie  sie  sagt,  eine  bessere 
Organisation  der  Arbeitsvermittelung  herbeizuführen  und  dadurch  | 
die  Beziehungen  zwischen  Angebot  und  Nachfrage  von  Arbeit 
zu  vermehren  und  zu  erleichtern,  eine  Ermittelung  über  die  im 
Deutschen  Reiche  vorhandenen  Arbeitsnachweisestellen.  In 
grösseren  Blättern  erlässt  Geheimer  Regierungsrath  Dr.  Post  in 
Berlin  die  Aufforderung,  dass  die  ,, Leser“,  sofern  ihnen  irgend 
eine  solche  Vermittelungsstelle,  und  sei  sie  noch  so  klein,  bekannt 
ist,  ungesäumt  der  Centralstelle  davon  Nachricht  geben,  damit 
die  Fragebogen  an  die  in  Frage  kommenden  Personen  versendet 
werden  können.  „Namentlich  sollte  man  auch  daran  denken, 
auf  die  von  Arbeitern,  Gewerk-  oder  Fachvereinen  eingerichteten 
Arbeitsnachweise  aufmerksam  zu  machen“,  heisst  es  in  den 
bezüglichen  Bekanntmachungen.  Deutsche  Ärbeiterblätter  kriti- 
siren  dieses  Vorgehen  deshalb,  weil  sich  die  Centralstelle  nicht 
direkt  an  die  zahlreichen  Arbeitsvermittelungen  wende,  welche 
von  den  Gewerkschaften  betrieben  werden,  und  tordern  die 
letzteren  auf,  ihr  Material  auch  ohne  besondere  Aufforderung 
an  die  „Centralstelle“  zu  schicken. 

Vorschriften  für  Kellnerinnen-Wirthschaften  in  Berlin. 

Der  Berliner  Polizeipräsident  hat  eine  neue  Polizeiverordnung 
für  Wirtschaften  mit  Kellnerinnenbedienung  veröffentlicht;  die- 
selbe tritt  mit  dem  1.  Oktober  d.  J.  in  Kraft.  Gegenüber  den 
bisherigen  Vorschriften  ist  Folgendes  neu.  In  den  Schankräumen 
der  Gast-  und  Schankwirthschaften,  in  welchen  Kellnerinnen 
zur  Bedienung  der  Gäste  gehalten  werden,  sind  alle  Einrich- 
tungen verboten,  durch  welche  Räume  oder  Plätze  versteckt, 
verhüllt  oder  in  irgend  einer  Weise  dem  freien  Ein-  und  Ueber- 
blick  entzogen  sind.  Der  Betrieb  des  Schankgewerbes  darf 
Morgens  nicht  vor  7 Uhr  beginnen.  Die  Kellnerinnen  beschäf- 
tigenden Wirthe  haben  dem  Polizeireviere,  in  welchem  die 
Wirthschaft  belegen  ist,  ein  Verzeichniss  der  Kellnerinnen, 
welches  den  Vor-  und  Zunamen,  das  Datum  der  Geburt,  den 
Geburts-  und  Heimathsort,  den  Namen,  Stand  und  Wohnort  des 
Vaters  oder  Vormundes,  den  Aufenthalt  während  der  letzten 
drei  Jahre,  die  Wohnung  und  den  Tag  des  Eintrittes  enthalten 
muss,  einzureichen  und  demnächst  in  gleicher  Weise  jeden  Ein- 
und  Austritt  der  Kellnerinnen  binnen  24  Stunden  zu  melden. 
Die_  Kellnerinnen  haben  anständige  und  durchaus  unauffällige 
Kleidung  zu  tragen.  Die  Kleider  müssen  insbesondere  am  Halse 
geschlossen  sein  und  mindestens  bis  zum  Fussgelenk  herab- 
reichen. Es  ist  den  Kellnerinnen  verboten,  in  unanständiger 
oder  auch  nur  auffälliger  Weise  an  den  Fenstern  oder  Thüren 
der  Schankräume  oder  an  den  Hausthüren  zu  verweilen  und 
Personen  in  die  Schankräume  anzulocken;  sie  dürfen  weder  für 
sich  noch  für  Andere  Speisen  oder  Getränke  von  Gästen  erbitten, 
noch  Gäste  zum  Trinken  auffordern  oder  bereden.  Es  ist  ihnen 
ferner  unbedingt  untersagt,  an  den  Gasttischen  in  Gemeinschaft 
mit  Gästen  Platz  zu  nehmen.  Für  die  Beachtung  der  Vorschriften 
sind  sowohl  die  Kellnerinnen,  wie  ihre  Arbeitgeber  oder  deren 
Stellvertreter  verantwortlich.  Zuwiderhandlungen  werden,  sofern 
nicht  die  Strafbestimmungen  des  § 365  des  St.-G.-B.  Anwendung 
finden,  mit  Geldstrafe  bis  zu  30  Mi  geahndet. 

Ziehkinderwesen  in  Leipzig,  ln  dem  reichhaltigen 
jüngsten  Verwaltungsberichte  der  Stadt  Leipzig  berichtet 
Dr.  Taube  über  die  Fortschritte,  welche  die  jüngst  ge- 
schaffene Einrichtung  der  Ziehkinder  und  der  städtischen 
Obervormundschaft  aufweist.  Bei  dieser  Gelegenheit  ge- 
langte die  Verwaltung  auch  in  den  Besitz  einiger  Angaben 
über  den  Beruf  der  Mütter  und  Väter  von  731  unehelichen 
Kindern.  Als  deren  Mütter  wurden  konstatirt:  7 Gesell- 

schafterinnen, 161  Näherinnen,  Stickerinnen,  Verkäuferinnen, 
201  Dienstmädchen,  182  Fabrikarbeiterinnen,  59  Hand- 
arbeiterinnen, 28  Kellnerinnen,  Sängerinnen,  10  Kranken- 


wärterinnen, 25  Wäscherinnen,  Plätterinnen,  7 Prostituirte, 
ferner  19  Wittwen  und  31  bei  den  Eltern  wohnhafte  Mäd- 
chen. Als  Väter  wurden  angegeben:  185  Handwerker, 

80  Handarbeiter,  44  Markthelfer,  35  Oekonomen,  Kutscher, 
58  Maurer,  Zimmerleute,  73  Fabrikarbeiter,  12  Künstler, 
18  Diener,  Kellner,  76  Kaufleute,  21  Beamte,  3 Lehrer, 
1 8 Studenten,  4 Aerzte,  Rechtsanwälte,  Gelehrte,  26  Offiziere 
und  Unteroffiziere,  58  Soldaten,  9 Rentiers  und  nur  bei 
11  Fällen  blieben  die  Väter  unbekannt.  Mag  man  auch 
über  das  Ziehkinderwesen  resp.  über  die  Massnahmen  mit 
Unehelichen  leicht  anderer  Ansicht  sein  als  die  Stadtver- 
waltung von  Leipzig,  so  muss  man  doch  den  an  dieser 
Stelle  des  Verwaltungsberichtes  gemachten  nachdrücklichen 
Aeusserungen  beipflichten.  Es  wird  hervorgehoben,  dass 
der  Durchschnitt  (?)  der  Mütter  die  unehelichen  Kinder 
nicht  zu  ernähren  vermag,  weder  selbst  noch  durch  Ver- 
mittelung von  Pflegeeltern,  welche  mindestens  4 M.  wöchent- 
lich Entlohnung  erhalten  müssen.  Es  ist  somit  absolut  un- 
ausweichlich, dass  bei  Fortbestand  des  ungeregelten  Zustandes 
die  grosse  Masse  der  unehelichen  Kinder  in  Grossstädten 
verkommt.  Dagegen  ist  es  im  Allgemeinen  leicht  die  Väter 
zu  ermitteln  und  von  ihnen  die  Alimentationsbeträge  zu 
erhalten,  falls  sich  eine  Administrationsbehörde  zwischen 
das  uneheliche  Kind  und  dessen  Mutter  stellt,  während 
dann,  wenn  die  Verhältnisse  ausschliesslich  im  Rechtsweg 
geregelt  werden,  die  Väter  der  unehelichen  Kinder  zu 
grossem  Prozentsätze  entweder  unbekannt  bleiben  oder  sich 
der  Pflicht  zur  Zahlung  der  Beiträge  entziehen.  Darin  liegt 
entschieden  ein  Hinweis,  in  welcher  Richtung  die  Sorge 
für  die  uneheliche  Propagation  ihre  Normirung  finden  sollte. 
Andere  Behauptungen  des  Referenten  sind  von  brutaler 
Härte;  so  z.  B.  die  folgende:  es  würden  sich  gar  manche 
kinderlose,  gutsituirte  Personen  finden,  welche  verlassene 
uneheliche  Kinder  aufnehmen  und  aufziehen  würden,  ohne 
Ersatz  zu  beanspruchen,  doch  scheuen  sie  dies  aus  dem 
Grund,  weil  sie  fürchten,  von  der  Mutter  des  Kindes  Er- 
pressungen zu  erfahren  unter  der  steten  Androhung  der 
Wegnahme  des  Kindes.  Der  Referent  behauptet  geradezu, 
dass  die  Mutter  des  unehelichen  Kindes  in  der  Regel  ge- 
neigt ist,  gewinnsüchtige  Vortheile  anzustreben  und  dass 
es  dann,  wenn  sich  die  Mutter  von  ihm  lossagt,  überflüssig 
sei,  ihr  in  einem  solchen  Falle  den  Aufenthalt  des  Kindes 
mitzutheilen ; es  genüge,  wenn  er  der  Obervormundschaft 
bekannt  sei.  Ja,  in  vielen  Fällen  schlägt  dieser  gewinn- 
süchtige Vorgang  der  Mütter  zum  grössten  Nachtheile  des 
Kindes  aus.  . . . Nun  zugegeben,  dass  dies  in  umfassendem 
Masse  richtig  sei,  so  zeigt  es  nur,  zu  welch’  unnatürlichen 
Zuständen  unsere  Gesetzgebung  und  soziale  Lage  die 
heiligsten  Gefühle  der  Menschen  verzerrt.  Der  Referent 
aber  dürfte  in  seiner  Forderung  nach  Verheimlichung  des 
Aufenthaltsortes  des  Kindes  der  Mutter  gegenüber  kaum 
Anhänger  finden. 

Gesetzliche  Regelung  der  Ausverkäufe  in  Oesterreich. 

Das  österreichische  Handelsministerium  hat  einen  Gesetzentwurf 
betreffend  die  Regelung  der  Ausverkäufe  ausgearbeitet,  dem  zu 
Folge  die  Veräusserung  eigener  oder  fremder  Waaren  mittelst 
eines  auf  Massen-  oder  Schnellverkäufe  abzielenden  öffentlichen 
Ausverkaufs  nur  mit  Bewilligung  der  Gewerbebehörde  gestattet 
sein  soll.  Diese  Bewilligung'' soli  in  der  Regel  nur  auf  die  Dauer 
von  höchstens  drei  Monaten  sich  erstrecken.  Für  solche  Ge- 
schäfte, deren  Besitzer  gestorben  sind,  oder  welche  bereits  seit 
wenigstens  drei  Jahren' bestehen,  kann  jedoch  die  Dauer  des 
Ausverkaufs  bis  zu  sechs  Monaten,  in  besonders  berücksichtigens- 
werthen  Fällen  bis  zu  einem  Jahre  verlängert  werden.  Die  Be- 
willigung wird  an  die  Entrichtung  einer  besonderen  Gebühr 
geknüpft,  und  zwar  für  Wien  10  bis  100  Gulden,  für  Städte  mit 
mehr  als  50  000  Einwohnern  5 bis  50  Gulden,  für  alle  übrigen 
Orte  2 bis  30  Gulden.  Auf  Verkäufe,  welche  in  Folge  richter- 
licher oder  behördlicher  Anordnung  erfolgen,  würde  das  Gesetz 
natürlich  keine  Anwendung  finden.'  Die  wichtigste  Bestimmung 
desselben  dürfte  sein,  dass  der  Bewerber  um  eine  Bewilligung 
zum  Ausverkauf  die  Menge  und  Beschaffenheit  der  zu  ver- 
äussernden  Waaren  behördlich  anzumelden  hat,  und  dass  der 
Ausverkauf  nur  auf  die  ursprünglich  angemeldeten  Waaren  sich 
erstrecken  darf.  Das  österreichische  Handelsministerium  hat 
über  den  Entwurf,  bevor  derselbe  zur  parlamentarischen  Behand- 
lung gestellt  werden  soll,  eine  Enquete  bei  den  Handels-  und 
Gewerbekammern  eingeleitet. 

Nothlage  in  (1er  schweizerischen  Land  wirthschaft. 

In  Folge  des  konstatirten  Nothstandes  in  der  Landwirth- 
schaft  hat  der  Züricher  Regierungsrath  eine  besondere 
Untersuchungskommission  von  21  Mitgliedern  aufgestellt, 
welche  nunmehr  nach  eifrigen  Berathungen  ein  umfang- 
reiches Programm  für  die  Staatshilfe  aufgestellt  hat.  Nach 


394 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  32, 


demselben  soll  durch  Reform  der  Steuergesetzgebung  eine 
bedeutende  Entlastung  der  Landgemeinden  ermöglicht 
werden,  indem  der  Staat  beträchtliche  Mehrleistungen  für 
das  Strassen-,  Schul-  und  Armenwesen  zu  übernehmen 
hätte,  dem  Staat  sollen  zu  diesem  Zwecke  vermehrte  Ein- 
nahmen zugeführt  werden  durch  ein  neues  Erbschaftsge- 
setz, Stempeltaxen  auf  Aktien,  Obligationen  und  Wechsel, 
Einführung  des  Tabakmonopols  durch  den  Bund  in  der 
Erwartung , dass  die  Ueberschüsse  wie  beim  Alkohol- 
monopol den  Kantonen  zufallen,  ferner  Erhöhung  des 
steuerfreien  Einkommensminimum,  Besteuerung-  der  land- 
wirthschaftlichen  Liegenschaften  nach  dem  Ertragswerth 
statt  nach  dem  Verkehrs werth.  Die  Aktiengesellschaften 
sollen  gleichzeitig  mit  den  Aktien  besteuert  werden.  Weiter 
ist  vorgeschlagen  obligatorische  Selbsteinschätzung  der 
Steuerpflichtigen  mit  amtlicher  Inventarisation  im  Todesfall. 

Die  obligatorische  Viehversicherung  .wurde  als  dringende 
Nothwendigkeit  anerkannt  und  ein  Entwurf  hierfür  aus- 
gearbeitet. Derselbe  erklärt  die  Vieh  Versicherung  für  Gross- 
vieh obligatorisch,  überlässt  die  Versicherung  von  Schweinen 
und  Ziegen  dem  freien  Entschlüsse  der  Versicherungskreise, 
schliesst  die  Pferde  wegen  des  zu  grossen  Risikos  und  weil 
schon  anderwärts  für  diese  Versicherungsgelegenheiten  be- 
stehen, aus,  sieht  einheitliches  Rechnungswesen  vor,  lässt 
im  Uebrigen  die  Organisation  der  Versicherung  innerhalb 
grössererVersicherungskreise  frei,  verlangt  für  die  Bestreitung 
der  Kosten  Beiträge  vom  Bund,  vom  Kanton  und  von  der 
Kantonalbank,  schliesst  Handelsvieh  von  der  Versicherung 
aus  und  stipulirt  eine  Entschädigung,  auszahlbar  spätestens 
binnen  10  Tagen,  von  90  pCt.  des  Schadens  auf  Grundlage 
des  Geldwerthes  und  der  letzten  Schätzung  vor  dem  Um- 
stehen. 

Als  eine  der  wichtigsten,  zugleich  aber  auch  schwierig- 
sten Fragen  wurde  die  Verschaffung  von  Nebenverdienst 
neben  dem  rein  landwirtschaftlichen  Betrieb  behandelt  und 
anerkannt.  Die  Kommission  weist  in  dieser  Hinsicht  auf  die 
genossenschaftliche  Organisation  für  Einführung  der  Fabri- 
kation von  Konserven,  namentlich  Obstkonserven  hin,  womit 
dann  im  Allgemeinen  eine  bessere  Organisation  des  Obst- 
handels durch  mehr  kaufmännischen  Betrieb  verbunden 
sein  müsste. 

Eine  Reihe  von  weiteren  Vorschlägen  betreffen  das 
landwirthschaftliche  Bildungswesen,  die  Hebung  der  Boden- 
kultur, Förderung  der  Viehzucht,  Revision  der  Hypothekar- 
gesetzgebung. Eine  Herabsetzung  des  Schuldbriefzinses 
wird  als  zur  Zeit  unthunlich  erklärt,  dagegen  soll  nach  den 
Vorschlägen  des  Bankrathes  mit  Hilfe  der  Kantonalbank  die 
Landwirthschaft  durch  Erleichterungen  bei  der  Verzinsung 
der  Grundschulden  unterstützt  werden.  Das  staatliche 
Getreidemonopol  lehnte  die  Kommission  mit  allen  gegen 
die  Stimme  des  schweizerischen  Arbeitersekretärs  ab,  da- 
gegen beschloss  sie,  es  dürfte  von  Staats-  und  Bundeswegen 
Bedacht  genommen  werden  auf  die  Errichtung  von  Sortir- 
und  Lagerräumen  für  einheimisches  Getreide,  und  es  wünscht 
die  21er  Kommission  in  diesem  Sinne  nähere  Prüfung  durch 
den  Regierungsrath. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Internationaler  Typographenkongress.  Nach  der 
„Typographia“  soll  vom  25. — 27.  August  in  Bern  die 
II.  Tagung  dieses  Kongresses  stattfinden.  Bis  jetzt  sind 
bereits  Vertreter  aus  Frankreich,  Luxemburg,  Rumänien, 
Deutschland,  Ungarn  und  der  Schweiz  angemeldet,  doch 
werden  noch  solche  aus  Amerika,  Belgien,  Bulgarien,  Däne- 
mark, England,  Holland,  Italien,  Spanien  und  Oesterreich 
erwartet.  Zur  Berathung  ist  angemeldet  der  Statutenent- 
wurf für  den  internationalen  Verband,  dazu  kommt  der 
Bericht,  betreffend  Regulirung  der  Reiseunterstützung  vom 
internationalen  Standpunkt  aus  und  die  Regulirung  des 
Lehrlingswesens. 

Aus  Deutschland  ist  folgender  Beschlussentwurf  ein- 
gegangen: 

„Der  internationale  Buchdruckerverband  schliesst  sich 
der  allgemeinen  Arbeiterbewegung  behufs  Erlangung  des 
Achtstundentages  an.“ 

Verband  deutscher  Bergleute.  Am  1.  August  fand  die 
zweite  Generalversammlung  des  Verbandes  deutscher  Bergleute 


in  Bochum  statt.  Anwesend  waren  54  Delegirte  mit  69  Stimmen- 
in Rheinland  und  Westfalen  sind  die  Delegirten  nach  Bezirken 
von  je  500  Mitgliedern  gewählt  worden,  während  für  die  übrigen 
deutschen  Bezirke  ein  Delegirter  2000  Mitglieder  vertritt. 

Nach  dem  Jahresberichte  hat  der  Verband  1891  infolge 
des  unglücklichen  Strikes  an  Mitgliedern  gewonnen,  ist  dann 
aber  zurückgegangen,  infolge  von  allerlei  gegen  ihn  angewandte 
Mittel  wie  die  Schank-  und  Lokalsperre.  Durch  die  Gründung 
des  christlich-patriotischen  Verbandes  zersplitterten  sich  eben- 
falls die  Kräfte.  Die  Agitationsreise  der  Delegirten  Siegel  und 
Schröder  nach  Schlesien  und  der  Provinz  Sachsen  brachten  dem 
Verbände  einen  merklichen  Zuwachs.  Der  Vorsitzende  Schröder 
hat  auf  seiner  Agitationsreise  im  Saarrevier  40  Versammlungen  ab- 
gehalten und  erfahren,  dass  die  Saaltreiberei  dort  im  Grossen 
betrieben  wird.  Die  klerikale  Presse  hat  nach  seinen  Ausfüh- 
rungen an  Einfluss  verloren,  dagegen  ist  das  Verbandsorgan 
dort  eingeführt.  Die  Agitation  zur  Zeit  der  Knappschaftsältesten- 
wahlen hat  den  Erfolg  gehabt,  dass  achtzig  Aelteste  und  die 
doppelte  Zahl  an  Ersatzmännern  gewählt  worden  sind.  Die 
Berggesetznovelle  ist  dem  Verbände  zu  unerwartet  gekommen 
und  es  konnte  deshalb  wenig  gethan  werden.  Es  sind  in  Rhein- 
land und  Westfalen  380,  im  Saarrevier  40  und  anderswo  etwa 
120  öffentliche  Versammlungen  abgehalten  worden. 

Meyer  erstattet  den  Rechenschaftsbericht  für  die  Zeit 
vom  1.  Juli  1891  bis  zum  1.  Juli  1892.  Die  Einnahmen  betrugen 
57  950,91  M.,  die  Ausgaben  57  166,77  M.,  der  Ueberschuss  783  M. 
Auf  Rheinland  und  Westfalen  entfiel  von  der  Einnahme  50  192  M., 
auf  das  Saarrevier  1666  M.,  auf  Niederschlesien  2231  M.,  auf 
Sachsen  2542  M.,  auf  das  Wurmrevier  687  M.,  auf  Nassau  und 
den  Plauenschen  Grund  629  M.  Für  Agitation  wurde  ausgegeben 
6336,51  M,  für  Rechtsschutz  6140  M.,  für  Verwaltung  6790  M , für 
Fachzeitung  33  963  M.,  für  Miethe,  Heizung  2143  M.  u.  s.  w.  Meyer 
fährt  fort:  Wir  haben  in  170  Ortschaften  Mitglieder.  Jedes  Mit- 
glied kostet  uns  1 ,30  M.  In  75  Ortschaften  sind  die  Mitglieder  unter 
den  Selbstkosten  geblieben.  Einzelne  Bezirke  mussten  abgemel- 
det werden,  weil  sie  der  Existenz  ihrer  Mitglieder  wegen  sich 
der  Gefahr  der  polizeilichen  Anmeldung  nicht  unterziehen 
wollten.  Sie  fürchteten,  die  Polizei  könne  bei  den  Zechen  den 
Denunzianten  machen. 

Der  Verband  ist  in  letzter  Zeit  fortgesetzt  den  Krebsgang 
gegangen,  die  Einnahmen  zeigen  es.  Im  vorigen  Jahre  betrug 
die  Monatseinnahme  2040  M.  mehr  als  in  diesem  Jahre;  das  be- 
deutet für  jetzt  einen  Verlust  von  7000  Mitgliedern.  Die  Sache 
muss  nothwendig  auf  einen  anderen  Karren  geladen  werden. 
Der  Druck  und  die  Verhältnisse  haben  ja  viel  gethan,  aber 
sehr  viel  liegt  an  der  Leitung  des  Verbandes.  Vor  Allem  muss 
von  jetzt  ab  das  Parteigetriebe  aus  dem  Verbände  ferngehalten 
werden. 

Die  gefassten  Beschlüsse  waren  nicht  von  allgemeinem 
Interesse,  wohl  aber  die  Debatten,  indess  auch  diese'nur  inso- 
weit, als  sie  zeigten,  dass  die  Leistungsfähigkeit  des  Verbandes 
nach  innen  und  aussen  ebenso  wie  die  Einigkeit  und  die 
Schaffensfreude  der  Mitglieder  erheblich  geschwächt  ist.  Ein 
grosser  Theil  der  alten  Vereinsfunktionäre  wurde  wiedergewählt, 
einige  aber  lehnten  verbittert  eine  ihnen  angebotene  Wieder- 
wahl entschieden  ab.  Der  Verband  wurde  in  „Verband  deut- 
scher Berg-  und  Hüttenleute“  umgetauft.  Von  verschiedener 
Seite,  besonders  von  den  Delegirten  aus  dem  Saarreviere  und 
denen  aus  Schlesien  und  Sachsen  war  der  Antrag  gestellt  wor- 
den, von  jetzt  ab  auch  die  Hüttenleute  zuzulassen.  Dieser  An- 
trag wurde  damit  begründet,  dass  verschiedene  Zechen  Erze 
förderten  und  diese  selbst  verarbeiteten.  Die  Bergleute  hätten 
dort  mit  den  Hüttenleuten  eine  und  dieselbe  Knappschaftskasse 
und  Verwaltung,  und  es  wäre  deshalb  nothwendig,  den  Wünschen 
der  Hüttenarbeiter,  Verbandsmitglieder  werden  zu  können,  nach- 
zukommen. Es  wurde  beschlossen,  von  jetzt  ab  auch  Hütten- 
arbeiter in  den  Verband  aufzunehmen,  da  hierdurch  eine  Stär- 
kung des  Verbandes  eintreten  würde. 

Die  Kosten  des  letzten  Buchdruckerstrikes  in  Leipzig. 

Der  Vertrauensmann  des  Unterstiitzungsfon.ds  der  in  den  Buch- 
druckereien beschäftigten  Arbeiterinnen  und  Hilfsarbeiter  ver- 
öffentlicht die  Abrechnung  über  den  Buchdruckerstrike,  an  dem 
sich  auch  viele  Hilfsarbeiterinnen  betheiligten.  Die  Einnahmen 
beliefen  sich  hiernach  in  der  Zeit  vom  I.  Oktober  1891  bis 
31.  März  1892,  einschliesslich  eines  am  30.  September  1891  vor- 
handen gewesenen  Kassenbestandes  von  300  M.,  auf  51  943  M. 
und  die  Ausgaben  auf  51  138  M.  Die  Einnahmen  setzen  sich 
aus  den  Wochenbeiträgen  und  Extrasteuern  in  Höhe  von  1902  M., 
den  Beiträgen  der  Tarif kommission  Leipziger  Buchdrucker- 
gehilfen: 19637  M,  des  Vereins  Gewerkschaftskartell:  7533  M. 
zusammen,  vom  „Wähler“  wurden  übermittelt  14  860  M.,  ausser- 
dem kamen  ein:  vom  Leipziger  Maifonds  (1891)  1366  M.,  durch 
Sammellisten  4043  M.  und  2300  M.  sonstige  Einnahmen.  Für 
Unterstützung  sind  50  174  M.,  der  Rest  der  Ausgaben  ist  für 
Gerichts-,  Verwaltungskosten,  Entschädigungen  u.  s.  w.  ausge- 
geben worden.  Der  noch  vorhandene  Kassenbestand  von 
805  M.  ist  zur  Unterstützung  derjenigen  Hilfsarbeiter  und  Hilfs- 
arbeiterinnen verwendet  worden,  die  nach  dem  Ausstand  keine 
Arbeit  wieder  erhielten. 


No.  32. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALÜLATT. 


395 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Sozialistische  Bauernbewcgung  in  Oesterreich.  Die 

sozialistische  Bauernbewegung,  deren  Anfänge  das  Sozial- 
politische Centralblatt  schon  in  seiner  No.  14  aus  der 
Umgebung  von  Wien  melden  konnte,  scheint  sich  weiter- 
zuentwickeln. Wenigstens  schreibt  jetzt  auch  das  „N. 
W.  Tgbl.“  über  die  Entwickelung  der  sozialdemokrati- 
schen Agitation  unter  den  Bauern:  „Schon  seit  längerer 
Zeit  versuchen  es  die  Sozialdemokraten,  auf  dem  flachen 
Lande  und  unter  den  Bauern  Propaganda  für  ihre  Ideen 
zu  machen.  Diese  Agitation  hatten  die  „oppositionellen“ 
Sozialisten  begonnen  und  jetzt  treten  die  offiziellen  in  ihre 
Fusstapfen.  Verflossenen  Sonntag  fand  in  Atzgersdorf 
eine  in  diesem  Sinne  veranstaltete  sozialdemokratische 
Volksversammlung  statt,  zu  der  Bauern  aus  der  Umgegend, 
wenn  auch  in  nicht  zu  grosser  Anzahl  erschienen  waren. 
Die  Arbeiterredner  warnten  in  ihren  mit  Beifall  aufgenom- 
menen Ausführungen  das  Landvolk  vor  den  Liebeswer- 
bungen  der  Christlich-Sozialen.  Der  Beifall,  den  die  Aus- 
führungen der  Redner,  von  denen  einer  den  Bericht  über 
den  dritten  Parteitag  der  Sozialdemokratie  in  einer  für  das 
Landvolk  leicht  fasslichen  Weise  erstattete,  fanden,  veran- 
lassten  die  Sozialdemokraten,  auch  für  nächsten  Sonn- 
tag nach  Krems  a.  d.  Donau  eine  Volksversammlung  ein- 
zuberufen, für  die  hauptsächlich  unter  den  Bauern  und 
ländlichen  Dienstboten  agitirt  wird.  Das  Programm  der 
Versammlung  bringt  die  Lage  der  Bauern  und  Landarbeiter 
in  Beziehung  zur  Lage  der  Fabrikarbeiter  und  propagirt 
den  Eintritt  der  ersteren  in  die  sozialdemokratische 
Bewegung.  Ein  Aufruf,  der  die  Prinzipien  der  Sozial- 
demokratie in  einer  für  das  Landvolk  berechneten  Form 
darlegt  und  auch  die  religiösen  Ueberzeugungen  desselben 
berücksichtigt,  ist  in  Vorbereitung  und  wird  in  zehntausen- 
den von  Exemplaren  verbreitet  werden.  Auch  wird  beab- 
sichtigt, ein  aus  sozialdemokratischen  Bauern  bestehendes 
Bauernkomite  zu  errichten,  das  die  Agitation  auf  dem 
flachen  Lande  in  seine  Hände  nehmen  wird.  In  weiterer 
Folge  wird  ein  Bauernblatt  mit  sozialdemokratischer 
Tendenz  gegründet  werden,  das  die  Bestimmung  haben 
soll,  die  „zerstörten  Einzelexistenzen“  unter  der  Bauern- 
schaft, die  „Landproletarier“,  in  die  Arme  der  Sozialdemo- 
kratie zu  führen.“ 

Schweizerischer  Griitliverein.  Der  vor  Kurzem  ver- 
öffentlichte Jahresbericht  des  schweizerischen  Grüt'.ivereins 
bietet  ein  sehr  erfreuliches  Bild  von  der  regen  Thätigkeit 
dieses  Vereins  im  verflossenen  Jahre.  Wie  im  Bericht  des 
Arbeiterbundes  wird  auch  hier  der  verschiedenen  sozial- 
politischen Anregungen  in  den  eidgenössischen  Räthen 
gedacht.  Hinsichtlich  der  Revision  des  Fabrikgesetzes 
bemerkt  das  Centralkomite,  dass  es  von  Seite  der  Arbeiter 
noch  vieler  Thatkraft  und  Anstrengung  bedürfe,  um  in 
nächster  Zeit  einer  gesetzlichen  Reduktion  des  Maximal- 
arbeitstages auf  10  Stunden  zum  Durchbruch  zu  verhelfen. 
Durch  die  internationale  Arbeiterschützkonferenz  in  Berlin 
sei  dem  schweizerischen  Bundesrath  die  Wiederaufnahme 
internationaler  Verhandlungen  in  der  von  ihm  ursprünglich 
verfolgten  Angelegenheit  erschwert.  Die  Arbeiterschaft 
werde  nur  dadurch  zu  dem  für  ihre  Interessen  ebenso  wie 
für  die  allgemeine  Kulturentwickelung  wünschbaren  Ziele 
gelangen,  wenn  sie  selbst  in  allen  Ländern  der  Industrie 
den  internationalen  Arbeiterschutz  im  Allgemeinen  und  die 
Regulirung  der  Arbeitszeit  im  Besonderen  als  die  aller- 
dringlichste Forderung  der  Gesetzgebung  in  den  Vorder- 
grund stelle.  Inzwischen  aber  werde  gleichwohl  auch  auf 
dem  Boden  der  Schweizerischen  Eidgenossenschaft  die  Ent- 
wickelung nicht  stille  stehen  können  und  sei  es  Sache  des 
Grütlivereins,  das  Banner  voranzutragen.  Die  kantonalen 
Verbände  und  die  einzelnen  Sektionen  werden  ermahnt, 
immer  wieder  die  Ergänzung  des  eidgenössischen  Fabrik- 
gesetzes durch  kantonale  Gesetzesbestimmungen  zu  fordern, 
wobei  an  die  kantonalen  Erlasse  zum  Schutze  der  Frauen 
und  Mädchen  in  den  dem  eidgenössischen  Gesetze  nicht 
unterstellten  Konfektions-  und  ähnlichen  Geschäften  er- 
innert wird. 

Ueber  die  Stellung  und  Ziele  des  schweizerischen 
Grütlivereins  spricht  sich  der  Bericht  u.  A.  folgendermassen 
aus:  „Auf  dem  grossen  Kampffelde  der  sozialen  Demokratie 
bildet  der  Griitliverein  die  schweizerische  Vorhut,  die  an 
der  Spitze  marschirt  und  das  Terrain  aufklärt,  ohne  die 
Verbindung  mit  den  übrigen  Theilen  und  den  vaterländisch- 


nationalen Charakter  zu  verlieren.  Darum  werden  in  den 
verschiedenen  Kantonen  die  Sektionen  eintreten  für  die 
Hebung  und  Verbesserung  des  Schulwesens,  für  die  volle 
Unentgeltlichkeit  der  Volksschule,  für  erleichterten  Zutritt 
zur  höheren  Schulbildung  auch  für  die  unbemittelten  Volks- 
klassen, für  Verbesserungen  auf  dem  Gebiete  der  Kranken- 
pflege, bis  das  eidgenössische  Gesetz  hier  eintritt,  für  eine 
bessere  Fürsorge  des  Staates  für  Waisen  und  andere  arme 
Kinder,  für  Unentgeltlichkeit  der  Beerdigung,  für  den  Er- 
lass kantonaler  Gesetze  zum  Schutze  der  Arbeiterinnen,  für 
die  Ergänzung  und  Unterstützung  der  eidgenössischen 
Fabrikinspektion  durch  kantonale  Organe,  für  Einführung 
eines  gerechten,  die  Arbeit  und  die  unbemittelten  Existenzen 
entlastenden  Steuersystems,  Einschränkung  des  Erbrechts 
und  Erhöhung  der  Erbschaftssteuer.  Der  Griitliverein  wird 
auch  immer  wieder  Fühlung  suchen  mit  dem  nach  besseren 
Existenzbedingungen  ringenden  Kleinbauernstand,  für 
welchen  die  Zinstrage  gerade  so  brennend  ist,  wie  für  den 
Arbeiter  die  Lohnfrage.  Das  Programm  des  Grütlivereins 
ist  nicht  die  Herrschaft  eines  Standes  über  die  anderen 
Stände,  sondern  die  Förderung  der  allgemeinen  Wohlfahrt 
auf  Grundlage  praktischer  Sozialpolitik.“ 

Am  Ende  des  Berichtsjahres  zählte  der  Grütliverein 
352  Sektionen  mit  15  241  Mitgliedern.  Die  Gesammtausgaben 
belaufen  sich  auf  246  000  Frcs.,  die  Bibliotheken  der  Sek- 
tionen zählen  48  603  Bände.  Es  wurden  644  Vorträge  ver- 
anstaltet, namentlich  über  eidgenössische  und  kantonale, 
soziale  und  volkswirthschaftliche,  gewerbliche  und  wissen- 
schaftliche Fragen.  Unterricht  wurde  in  8390  Stunden 
ertheilt. 

An  freiwilligen  Unterstützungen  und  Hilfe  für  bedürf- 
tige Mitglieder  wurden  von  den  Sektionen  gegen  8000  Frcs. 
zusammengesteuert.  Daneben  besitzt  der  Verein  noch  eine 
weitverzweigte  Kranken-  und  Sterbekasse. 


Unternehmerverbände. 


Das  gescheiterte  Projekt  eines  rheinisch-westfälischen 
Kolilensyndikat-s.  Nächst  der  Eisenindustrie  und  der  chemischen 
Industrie  hatten  in  Deutschland  bisher  die  Kartelle  in  der  Kohlen- 
produktion die  grösste  Ausdehnung  gewonnen,  aber  im  Gegensätze 
zu  den  Kartellen  der  Eisenindustrie  umfassen  die  Kohlenkartelle 
nur  verhältnissmässig  kleine  Reviere.  Ein  weiterer  Schritt  in  der 
Entwickelung  der  Kohlenkartelle  sollte  in  den  letzten  Wochen 
gemacht  werden,  indem  man  sämmtliche  oder  wenigstens  den 
weitaus  grössten  Theil  der  Kohlenzechen  des  Dortmunder  Reviers 
(Ruhrkohlengebiet)  in  eine  „Actiengesellschaft  rheinisch-west- 
fälisches  Kohlensvndikat“  vereinigen  wollte.  Das  geplante  Syn- 
dikat sollte  das  Recht  der  Umlage  des  Bedarfes  auf  die  Mit- 
glieder geben,  ähnlich  wie  das  Kokessyndikat  und  das  Recht 
der  Preisfestsetzung  und  der  Förderungsbeschränkung  auf  zehn 
Jahre,  es  sollte  als  einheitliche  Verkaufsstelle  funktioniren,  indem 
Preisbemessung  und  Verkauf  dem  Vorstande  übertragen  worden 
wäre.  Für  das  Kohlensyndikat  wurde  einerseits  der  angeblich 
bevorstehende  „Kohlenkrach“  vorgeführt,  andererseits  versichert, 
dass  die  Vereinigung,  auch  wenn  sie  die  Verkaufspreise  vorzu- 
schreiben vermöchte,  diese  nicht  „willkürlich  hoch“  bemessen 
würde,  und  dass  auch  den  Verbrauchern  mit  „massigen,  aber 
stetigen  Preisen“  gedient  sei.  Ueber  den  Verlauf  der  zu  diesem 
Zwecke  in  Dortmund  geführten  Verhandlungen  berichtet  die 
Münchener  „Allgemeine  Zeitung“  wie  folgt:  „Der  Einladung,  an 
den  Berathungen  zur  Errichtung  einer  gemeinsamen  Verkaufs- 
stelle für  Kohlen  theilzunehmen,  waren  etwa  90  pCt.  der  Zechen 
gefolgt.  Verschiedene  Zechen  hatten  überhaupt  keine  Einladung 
bekommen,  und  zwar  diejenigen,  welche  im  Besitz  von  Hütten- 
werken sind,  also  Hasenwinkel,  die  Zechen  der  Guten  Hoffnungs- 
hütte, der  Firma  Krupp  u.  s.  w.  Bei  der  Frage,  ob  das  Prinzip 
eines  zu  errichtenden  Verkaufssyndikats  genehmigt  werde,  ergab 
sich  Einstimmigkeit.  Als  aber  dann  in  die  Spezialdebatte  ein- 
getreten wurde,  riefen  die  Ansprüche  der  Zechen  Hibernia, 
Friedrich  der  Grosse,  Ewald  und  Königsborn  eine  lebhafte  und 
erregte  Diskussion  hervor.  Diese  Zechen  verlangten,  da  bei 
ihnen  neue  Schächte  im  Bau  sind,  für  sich  Ausnahmebestim- 
mungen und  wenigstens  die  Zusage,  dass,  bevor  ein  Vertrag  mit 
dem  Syndikat  abgeschlossen  werde , ihnen  ein  bestimmtes 
Förderquantum  für  ihre  neuen  Schächte  unter  allen  Umständen 
bewilligt  werden  müsste.  Das  Wort  in  der  Angelegenheit  führte 
Herr  Bergrath  Behrens  von  der  Zeche  Hibernia  und  die  Vertreter 
der  genannten  anderen  Zechen  schlossen  sich  ihm  an.  Es 
konnte  eine  Einigung  nicht  erzielt  werden,  und  bei  der  Abstim- 
mung ergab  sich  zwar  eine  grosse  Majorität  für  die  Kohlen- 
veremigung,  aber  die  genannten  Stimmen  waren  gegen  die- 
selbe. Da  nun  die  Vertreter  verschiedener  grösserer  Gesell- 


396 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT, 


No.  32. 


schäften,  so  der  Gelsenkirchener  Bergwerksgesellschaft,  Harpener, 
Consolidation  und  Dannenbaum,  sich  nicht  binden  wollten,  nach- 
dem ein  so  gewichtiger  Konkurrent  wie  die  Zeche  Hibernia 
ihren  eigenen  Weg  zu  gehen  erklärt  hatte,  wurde  die  Versamm- 
lung trotz  der  grossen  Majorität,  die  sich  für  das  Projekt  aus- 
gesprochen hatte,  als  resultatlos  bezeichnet.  Der  Vorsitzende, 
Direktor  Kirdorff,  erklärte,  dass  er  dieselbe  auflöse  und  dass 
die  Kommission  ihr  Mandat  als  erloschen  betrachte.  So  "stehen 
die  Dinge  heute;  ob  nun  in  der  Preisgestaltung  der  Kohlen- 
industrie erst  recht  ein  gegenseitiges  Unterbieten  stattfinden 
oder  ob  der  Selbsterhaltungstrieb  die  Zechen  veranlassen 
wird,  doch  noch  die  Möglichkeit  einer  Vereinigung  anzustreben, 
wird  erst  die  Zeit  lehren.  Dass  ein  allgemeines  Kohlensyndikat 
nicht  nur  wegen  der  verschiedenen  Rivalitäten  und  Verlässlich- 
keit, der  schwer  auszugleichenden  Machtstellung  der  kleinen 
und  der  grossen  Produzenten,  sondern  auch  wegen  der  grösseren 
oder  geringeren  Güte  und  Beliebtheit  der  verschiedenen  Kohlen 
und  wegen  der  Erschliessung  neuer  Produktionsstätten  sehr 
schwer  auf  die  Dauer  zu  halten  wäre,  ist  ja  ohnedies  zweifellos. 
Auch  müsste  es  natürlich  zu  seiner  Berechtigung  den  Interessen 
der  Konsumenten  möglichst  Rechnung  tragen.  Solche  Zustände, 
dass  der  ausländischen  Industrie  viel  billiger  geliefert  wird  als 
der  inländischen,  worüber  besonders  die  deutsche  Eisenindustrie 
längst  laute  Klagen  erhoben,  sind  auf  die  Dauer  unerträglich. 
Allerdings  ist  ja  Gleiches  oft  genug  auch  seitens  der  Eisen- 
industriellen geschehen,  welche  besonders  Eisenbahnschienen 
dem  Auslande  um  ein  Drittel  billiger  lieferten  als  dem  Inlande.“ 
Die  unzweifelhaft  wohlunterrichtete  „Rheinisch-westfälische  Zei- 
tung“ bestätigt  diese  Darstellung.  Die  „Kölnische  Zeitung“,  die 
gleichfalls  für  das  Syndikat  eintrat,  meinte  vor  Abhaltung  der 
Versammlung,  dass  die  Resultatlosigkeit  der  Versammlung  vor- 
aussichtlich jedes  Vereinigungsstreben  der  Ruhrzechen  auf  ab- 
sehbare Zeit  hinaus  vereiteln  würde,  nach  Abhaltung  der  Ver- 
sammlung schreibt  sie,  dass  an  einem  endgiltigen  Erfolg  der 
schwebenden  Verhandlungen,  obwohl  sie  mehr  Schwierigkeiten 
bieten,  als  Urheber  und  Betreiber  des  Planes  geglaubt  hatten, 
noch  keineswegs  zu  verzweifeln  sei.  Diese  optimistische  An- 
schauung der  Vertreterin  der  Kartellirungspläne  scheint  nicht 
berechtigt,  denn  die  Wiener  „Neue  Freie  Presse“  erfährt  aus 
Berlin,  dass  nunmehr  auch  die  bisherige  Kohlengemeinschaft 
unhaltbar  geworden  sei  und  dass  die  Gemeinschaftspreise  be- 
reits um  20  pCt.  unterboten  werden. 

Die  Aussperrung'  von  Schuhmachergesellen  in  Barmstedt. 

„Jetzt  ist  die  schwarze  Liste“,  schreibt  das  „Schuhmacher-Fach- 
blatt“, „welche  von  den  Innungsmeistern  und  Innungsgesellen 
ausgearbeitet  worden  ist,  uns  in  die  Hände  gekommen.  Auf  der 
ersten  Seite  sind  diejenigen  Gesellen  verzeichnet,  welche  nie 
wieder  Arbeit  erhalten  sollen.  Seite  1 lautet:  „Verzeichniss  der- 
jenigen Schuhmachergesellen  Barmstedt’s,  welche  von  Innungs- 
meistern  nicht  wieder  in  Arbeit  genommen  werden.  (Nun  folgen 
die  Namen  der  Personen  und  zwar  nicht  weniger  als  128.) 
Seite  2:  V erzeichniss  derjenigen  Schuhmachergesellen  Barmstedt’s, 
welche  vom  28.  Juni  1892  an  bis  auf  Weiteres  ausgesperrt  sind 
(Folgen  53  Namen).  Dann  folgen  Beschlüsse  der  gemeinsamen 
Kommission.  1.  Die  Aussperrung  derjenigen  Schuhmacherge- 
sellen, die  am  28  Juni  1891  ausgesperrt  wurden,  dauert  bis  auf 
Weiteres  fort.  2.  Diejenigen  aber,  die  hier  als  Haupträdelsführer 
bekannt  sind  und  sich  als  ruchlose  Personen  betragen  haben, 
sollen  hier  bei  Innungsmeistern  in  Barmstedt  keine  Arbeit  mehr 
erhalten.  3.  Diejenigen  Gesellen,  die  dem  „Fachverein“  ange- 
hören und  noch  bei  Innungsmeistern  in  Arbeit  stehen,  sollen, 
wenn  Ersatz  dafür  da  ist,  aus  ihrer  Arbeit  entlassen  werden  und 
können  hier  bei  Innungsmeistern  keine  Arbeit  mehr  erhalten 
4.  Bei  einer  Aufhebung  der  Aussperrung  unterbreitet  die  Kom- 
mission der  Innungsmeister  der  Kommission  der  Innungsgesellen 
einen  bezüglichen  Antrag  und  hat  die  letztgenannte  Kommission 
in  der  zwecks  Beschlussfassung  über  diesen  Punkt  abzuhaltenden 
Versammlung  ebenfalls  Stimmrecht.  Die  Kommission  der  Schuh- 
macher-Innungs-Gesellen  und  Meister.“ 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Die  schweizerische  Bundesgesetzgebung  über  die  Arbeits- 
zeit beim  Betriebe  der  Eisenbahnen  und  anderer  Trans- 
portanstalten. 

Die  Bundesverfassung  erklärt  den  Bau  und  Betrieb  der 
Eisenbahnen  als  Bundessache.  Bis  jetzt  hat  sich  die  Gesetz- 
gebung auf  die  Aufsicht  beschränkt  Als  im  Jahre  1872 
das  Bundesgesetz  über  Bau  und  Betrieb  der  Eisenbahnen 
erlassen  wurde,  nahm  man  in  Art.  9 eine  Bestimmung  auf, 
wonach  den  Bahnbeamten  und  Angestellten  wenigstens  je 
der  dritte  Sonntag  treizugeben  war,  welche  Bestim- 
mung auch  Anwendung  auf  andere  vom  Bund  konzessionirte 

o o 


oder  von  ihm  selbst  betriebene  Transportanstalten  (Dampf- 
schiffe, Posten  u.  s.  w.)  finden  sollte.  In  der  ganzen  Dis- 
kussion herrschte  die  gleiche  Ansicht  von  der  Nothwendig- 
keit  und  Wohlthäigkeit  der  Sonntagsruhe  für  den  Arbeiter 
vor.  Gegenüber  einem  Vorschlag,  dass  die  Angestellten  in 
jeder  Woche  einen  Tag  frei  haben  sollten,  und  dass  unter 
sieben  freien  Tagen  jedenfalls  ein  Sonntag  sein  müsse, 
wurde  geltend  gemacht,  dass  gerade  der  Sonntag  frei  ver- 
langt werde,  und  dass  eben  nur  dieser  Tag  die  geistige 
Erholung  gewähre,  deren  Mangel  Gegenstand  der  zahl- 
reichen Klagen  sei.  Diese  Ansicht  siegte.  Als  es  aber 
zum  Vollzug  kam,  leisteten  die  Eisenbahngesellschaften 
grossen  Widerstand.  Sie  machten  in  ihren  Eingaben 
geltend,  dass  die  strenge  Einhaltung  der  Gesetzesvorschrift 
vielfach  geradezu  Gefährdung  der  Betriebssicherheit  herbei- 
führen müsste.  Auch  die  Arbeiter,  sagten  sie,  wollten  der 
grössten  Zahl  nach  nicht  gezwungen  sein,  ihren  Ruhetag 
gerade  an  Sonntagen  wählen  zu  müssen.  Da  die  Klagen 
sich  mehrten,  wurde  1878  ein  Nachtragsgesetz  erlassen, 
welches  dem  Art.  9 folgende  Fassung  gab:  „Den  Bahnbe- 
amten und  Angestellten  ist  wenigstens  je  der  dritte  Sonn- 
tag freizugeben.  Für  diejenigen  Kategorien  von  Beamten 
und  Angestellten,  deren  Ersetzung  an  Sonntagen  mit  be- 
sonderen Schwierigkeiten  verbunden  oder  im  Interesse  der 
Betriebssicherheit  nicht  thunlich  ist,  können  die  Bahnver- 
waltungen, unter  Genehmigung  des  Bundesrathes,  die  An- 
ordnung treffen,  dass  der  Freisonntag  durch  einen  Frei- 
werktag ersetzt  werden  soll.  Ein  solcher  Tausch  darf  aus- 
nahmsweise auch  für  andere  Beamte  und  Angestellte  statt- 
finden, wenn  diese  selbst  bei  ihren  zuständigen  Vorge- 
setzten darum  nachsuchen.  Diese  Bestimmungen  finden 
auch  Anwendung  auf  andere  vom  Bunde  konzessionirte  oder 
von  ihm  selbst  betriebene  Transportanstalten  (Dampfschiffe,  ■ 
Posten  u.  s.  w.).“ 

In  Vollziehung  dieses  Nachtragsgesetzes  gestattete 
hierauf  der  Bundesrath,  dass  bei  allen  grösseren  Eisen-  , 
bahnen  für  das  Zugs-  und  Maschinenpersonal,  bei  einzelnen 
auch  für  das  Lokomotiv-,  Wagenwärter-,  Bahnaufsichts- 
und Bahnhofpersonal,  für  die  Bahn-  und  Weichenwärter,  * 
ferner  bei  einem  Unternehmen  für  das  Dampfschiffpersonal, 
die  Freisonntage  durch  Freiwerktage  ersetzt  werden  durften. 
Die  verschiedenartige  Behandlung  wurde  mit  der  ver- 
schiedenartigen Organisation  des  Dienstes  begründet. 

Damit  waren  die  vor  1872  bestandenen  Verhältnisse  , 
wieder  hergestellt  und  überdies  legalisirt,  mit  der  Errungen- 
schaft allenfalls  dass  die  Gesellschaften  ein  Recht  ihrer  • 
Angestellten  auf  mindestens  17  bis  18  Ruhetage  im  Jahr  ! 
ausdrücklich  anerkannt  haben.  Der  Grundgedanke  des 
Gesetzes  von  1872,  die  Sicherung  eines  sonntäglichen 
Ruhetages,  aber  ist  faktisch  dahingegeben  worden.  Auch 
hat  das  Nachtragsgesetz  Gelegenheit  gegeben,  das  Personal 
in  möglichst  weitgehender  Weise  auszubeuten  und  zu  redu- 
ziren.  Die  täglichen  Präsenz-  und  Arbeitszeiten  wurden 
um  so  länger,  je  mehr  der  Wegfall  der  Freisonntage  an 
sich  eine  intensive  Ausnützung  des  Personals  gestattete. 
Denn  das  vermehrte  Ersatzpersonal  für  den  Sonntag  war 
ja  auch  an  den  Werktagen  vorhanden  und  nahm  einen 
Theil  der  Arbeit  auf  sich.  Mit  der  durch  die  Verlegung 
der  Ruhetage  auf  den  Werktag  möglich  gewordenen  Ver- 
minderung des  Ersatzpersonals  mussten  die  Arbeitsleistungen 
des  letzteren  von  den  verbleibenden  Angestellten  über- 
nommen werden. 

Die  Missbrauche  und  Uebelstände  wurden  schliesslich 
so  arg,  dass  an  Stelle  des  vorerwähnten  Nachtraggesetzes 
im  Jahre  1890  ein  besonderes  Bundesgesetz,  betreffend  die 
Arbeitszeit  beim  Betriebe  der  Eisenbahn  und  anderer 
Transportanstalten  erlassen  wurde,  mit  folgenden  Bestim- 
mungen: Dem  Gesetze  sind  unterstellt:  die  Eisenbahn-  und 
Dampfschiffsnnternehmungen,  die  Postverwaltung,  sowie 
andere  vom  Bunde  konzessionirte  oder  von  ihm  selbst  be- 
triebene Transportanstalten.  Dasselbe  findet  Anwendung 
aut  die  im  Betriebsdienste  solcher  Transportanstalten  mit 
der  Verpflichtung  zur  gewöhnlichen  Arbeitszeit  angestellten 
Personen,  wobei  die  Bestimmungen  der  Fabrikgesetzgebung- 
Vorbehalten  bleiben.  Die  Arbeitszeit  der  Beamten,  Ange- 


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stellten  und  Arbeiter,  soweit  der  Betrieb  eine  mehr  als  ge- 
wöhnliche Arbeitszeit  erfordert,  soll  12  Stunden  täglich 
nicht  übersteigen.  Die  ununterbrochene  Ruhezeit  ist  für 
das  Maschinen-  und  Zugspersonal  wenigstens  10  Stunden 
und  für  das  übrige  Personal  wenigstens  9 Stunden  oder, 
wenn  Wohnung  auf  dem  Bahnhof  oder  an  der  Bahnlinie 
angewiesen  ist,  wenigstens  8 Stunden.  Nach  ungefähr  der 
Hälfte  der  Arbeitszeit  ist  Ruhe  von  wenigstens  einer  Stunde 
zu  gewähren.  Den  Beamten,  Angestellten  und  Arbeitern 
sind  im  Jahre,  angemessen  vertheilt,  52  Tage  freizugeben, 
wovon  jedenfalls  17  auf  den  Sonntag  fallen  sollen.  Ein 
Abzug  am  Gehalt  oder  Lohne  darf  wegen  der  Dienstbe- 
freiung nicht  stattfinden.  An  Sonntagen  ist  der  Güterdienst 
untersagt.  Vorbehalten  bleibt  die  Beförderung  von  Gütern 
und  Vieh  in  Eilfracht.  Wo  besondere  Verhältnisse  es  noth- 
wendig  machen,  ist  der  Bundesrath  ermächtigt,  gegenüber 
den  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  ausnahmsweise  Anord- 
nungen zu  treffen.  Uebertretungen  werden  mit  Geldbussen 
bis  zu  500  Franken,  im  Wiederholungsfälle  bis  zu  1000 
Franken  bestraft.  Der  Verzicht  auf  die  gesetzlich  zuge- 
sicherte Dienstbefreiung  schliesst  die  Strafbarbeit  der 
Zuwiderhandlung  nicht  aus. 

Die  meisten  Anstände  beim  Vollzug  dieses  Gesetzes, 
den  die  Eisenbahngesellschaften  umsonst  um  zwei  Jahre 
hinauszuschieben  suchten,  ergaben  sich  aus  der  Forderung 
der  17  Freisonntage,  die  Einstellung  der  Güterzüge  an 
Sonntagen  hat  aber  die  Gewährung  der  Forderung,  insbe- 
sondere bei  den  grossen  Gesellschaften,  sehr  erleichtert. 
Nach  den  Behauptungen  der  Eisenbahnverwaltungen  soll 
die  Beschränkung,  welche  im  Gesetz  liegt,  eine  Vermehrung 
der  Betriebsangestellten  bis  auf  20  und  mehr  Prozent  zur 
Folge  gehabt  haben.  Da  nun  nach  dem  Gesetz  immer  noch 
eine  Inanspruchnahme  des  Betriebspersonals  der  Eisenbahnen 
gestattet  ist,  welche  nicht  allzuweit  von  der  Grenze  der 
Leistungsfähigkeit  entfernt  steht,  so  müssten  die  Zustände 
vor  dem  Gesetze  schlimmer  gewesen  sein,  als  sie  voraus- 
gesetzt waren. 

In  dem  seiner  Zeit  vom  Bundesrath  den  eidgenössischen 
Räthen  unterbreiteten  Entwurf  eines  Gesetzes  über  die 
Arbeitszeiten  war  auch  der  Bethätigung  der  Frauen  im 
Eisenbahndienste  gedacht  und  vorgesehen,  dass  über  die 
tägliche  Arbeitszeit  dieser  der  Bundesrath  besondere  Vor- 
schriften aufstellen  könne.  Die  Bundesversammlung  hat 
diesen  Vorschlag  gestrichen,  und  es  stützt  sich  hierauf  der 
Anspruch  der  Eisenbahn  Verwaltungen,  dass  für  die  Frauen 
der  gleiche  Maximalarbeitstag  gelte,  wie  für  die  männ- 
lichen Angestellten  im  Betriebsdienst.  Aus  diesem  An- 
spruch ist  der  Barrierendienst  der  Frauen  entstanden,  der 
den  Eisenbahngesellschaften  nach  ihren  eigenen  Angaben 
jährlich  eine  Ersparniss  von  840  600  Frcs.  einträgt!  Wo 
nur  wenig  Züge  fahren,  ist  die  Belastung  der  Barrieren- 
wärterinnen nicht  unerträglich;  wenn  dieselben  aber  auf 
stark  befahrenen  Strecken  den  Dienst  wahrzunehmen  und 
daneben  auch  noch  die  Hausgeschäfte  zu  besorgen  haben, 
so  mag  gar  oft  und  vielleicht  regelmässig  die  Nachtruhe 
unter  8 Stunden  herabsinken.  Jedenfalls  hebt  die  kleine 
Zulage  von  monatlich  25 — 30  Frcs.,  welche  der  Bahnwärter 
für  den  Barrierendienst  seiner  Frau  erhält,  die  Nachtheile 
derselben  bei  weitem  nicht  auf. 

Die  Frage,  welches  eine  angemessene  Vertheilung 
der  Ruhetage  sei,  wie  sie  das  Gesetz  vorsieht,  ist  vielfach 
Gegenstand  der  Verhandlungen  in  den  eidgenössischen 
Kommissionen  und  Räthen  gewesen.  Es  ist  den  Eisenbahn- 
verwaltungen das  Zugeständnis  gemacht  worden,  von  den 
52  Ruhetagen  deren  10 — 14  zu  beliebiger  Verfügung  zu 
reserviren,  im  Ganzen  ist  aber  der  Grundsatz  der  möglichst 
regelmässigen  Vertheilung  der  Ruhetage  in  dem  Umfang 
aufrecht  erhalten  worden,  dass  die  durch  dieselben  ausein- 
andergeschiedenen Arbeitsperioden  nicht  länger  als  unge- 
fähr 10  Tage  sein  sollen.  In  der  ausserordentlichen  Session 
der  Bundesversammlung  vom  Januar  dieses  Jahres  ist  von 
den  Nationalräthen  Comtesse,  Favon  und  Jean  Henry  der 
Antrag  gestellt  worden,  der  ßundesrath  möge  die  Frage 
einer  den  Anforderungen  des  Betriebes  und  der  öffentlichen 
Sicherheit  besser  entsprechenden  und  für  das  Personal 


selbst  vortheilhafteren  Vertheilung  der  Feiertage  prüfen. 
Der  Antrag  wurde,  wie  im  Sozialpolitischen  Centralblatt 
bereits  erwähnt  worden,  erheblich  erklärt.  Mittlerweile  ist 
ein  ausführlicher  Bericht  des  Bundesrathes  erschienen, 
worin  er  an  den  bisherigen  Vorschriften  entschieden 
festhält. 

Der  Bundesrath  beharrt  dabei,  dass  nur  die  möglichst 
regelmässige  Ausmessung  der  Ruhetage  der  Absicht  des 
Gesetzgebers  entspricht.  Die  Sicherheit  des  Betriebes  ist 
daran  gebunden,  dass  eine  Ueberanstrengung  des  Dienst- 
personals vermieden  wird.  Das  geschieht,  neben  der  Be- 
grenzung der  täglichen  Arbeitszeit,  am  besten  dadurch, 
dass,  ähnlich  wie  im  bürgerlichen  Leben,  auf  eine  be- 
schränkte Anzahl  von  Arbeitstagen  ein  Ruhetag  folgt.  Die 
der  Zahl  von  52  Ruhetagen  zu  Grunde  liegende  Idee  ist 
die,  dass  eigentlich  für  das  Personal  des  Transportdienstes 
ein  allwöchentlicher  Ruhetag  ebenso  nöthig  wäre,  wie  für 
das  bürgerliche  Leben  überhaupt.  Man  modifizirte  dieselbe 
nur  soweit,  als  es  nicht  angeht,  den  Eisenbahnbetrieb  am 
Sonntag  einzustellen.  Die  dienstfreien  Tage,  wenn  sie 
Ruhetage  sein  sollen,  dürfen  nicht  in  grösserer  Anzahl  zu- 
sammen gelegt  oder  gar  auf  die  Zeiten  des  geringeren  Ver- 
kehrs verschoben  werden.  An  der  Hand  der  Zahlen  weist  der 
Bundesrath  nach,  dass  der  Rückgang  der  Reineinnahmen 
bei  den  Eisenbahnen  ausschliesslich  oder  auch  nur  in  der 
Hauptsache  auf  das  neue  Gesetz  nicht  zurückgeführt 
werden  dürfe.  Die  Mehrausgaben  fallen  zum  grössten  Theil 
auf  die  sachlichen  Bedürfnisse  für  den  Unterhalt  und  die 
Erneuerung  der  Bahnanlagen  u.  s.  w.  Auch  die  Behaup- 
tung der  Betriebsgefährdung  namentlich  an  Sonntagen,  wo 
ein  Drittheil  des  Personals  beurlaubt  werde,  könne  nicht 
durch  Thatsachen  erhärtet  werden,  wenigstens  habe  sich 
bisher  die  Sonntagsstellvertretung  nicht  als  eine  besondere 
Ursache  von  Unfällen  herausgestellt.  Hinsichtlich  der  von 
Nationalrath  Curti  geforderten  besonderen  Kontrole  über 
die  Ausführung  des  Gesetzes,  wünscht  der  Bundesrath  noch 
weitere  Erfahrungen  vorausgehen  zu  lassen. 

Der  Bundesrath  hatte  das  Gesetz  dahin  interpretirt, 
ass  auch  die  Bahnhofsrestaurants  demselben  unterstellt 
werden  sollen.  Die  Besitzer  derselben  rekurrirten  an  die 
Bundesversammlung  und  beide  Räthe  erklärten  in  der  ver- 
flossenen Junisession  nach  langen  Debatten  die  Beschwerde 
als  begründet,  immerhin  genehmigte  der  Nationalrath  einen 
von  v.  Steiger  gestellten  Antrag,  wonach  der  Bundesrath 
eingeladen  wurde,  in  Verbindung  mit  der  Frage  der  Re- 
vision des  Art.  31  der  Bundesverfassung  (zum  Erlass  eines 
schweizerischen  Gewerbegesetzes)  zu  prüfen  und  darüber 
Bericht  und  Antrag  zu  stellen,  ob  der  Bund  über  den 
Schutz  weiblicher  Arbeiter,  insbesondere  über  die  Arbeits- 
zeit des  Dienstpersonals  in  Wirthschaften  ein  Gesetz  er- 
lassen solle.  Ferner  wurde  in  der  Junisession  nach  Antrag 
von  Curti  und  Vogelsanger  beschlossen,  den  Bundesrath 
einzuladen  in  analoger  Anwendung  des  Gesetzes  betreffend 
die  Arbeitszeit  beim  Betriebe  der  Eisenbahnen  und 
anderer  Transportanstalten,  Vorsorge  zu  treffen,  dass  die 
Beamten,  Angestellten  und  Arbeiter  der  Telegraphen- 
und  Telephonver waltung  mit  Bezug  auf  die  Ruhezeit 
möglichst  denen  der  Postverwaltung  gleichgestellt  und  dass 
denselben  demgemäss  ebenfalls  mindestens  52  Feiertage  im 
Jahr  eingeräumt  werden. 

Das  Gesetz  ist  ein  anerkennenswerther  Anfang,  die 
Wohlthat  der  staatlich  beschränkten  Arbeitszeit  auf  eine 
grosse  Zahl  von  Angestellten  und  Arbeitern  auszudehnen, 
welche  zum  Theil  bis  jetzt  unter  dem  System  rücksichts- 
losester Ausbeutung  gestanden  haben.  Die  in  diesem  Ge- 
setze liegenden  Gedanken  und  Tendenzen  sind  weiterer 
Entwickelung  fähig  bis  zur  Durchführung  des  einheitlichen 
Normalarbeitstages  und  des  staatlichen  Inspektorats  auch 
in  diesen  Betrieben.  Hat  das  Gesetz  schon  jetzt  eine  sehr 
erhebliche  Vermehrung  der  bei  den  Eisenbahnen  u.  s w. 
beschäftigten  Arbeitskräfte  zur  Folge  gehabt,  so  wird  seine 
strikte  Durchführung  und  weitere  Entwickelung  noch  für 
viele  zur  Wohlfahrt  werden.  Dasselbe  hat  seine  unver- 
kennbare Bedeutung  auch  für  die  in  Aussicht  genommene 
Verstaatlichung  der  schweizerischen  Eisenbahnen  oder  ihres 


398 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  32. 


Betriebes.  Mag  durch  solche  Gesetze  auch  eine  eventuelle 
Minderung  des  mühelosen  Gewinns  der  Eisenbahnaktionäre 
eintreten,  so  gewinnen  dafür  die  Interessen  der  Arbeiter- 
schaft. Mit  dem  Centralkomitee  des  schweizerischen  Griitli- 
vereins  wünschen  wir,  dass  bei  allen  Versuchen,  das  Gesetz 
zu  umgehen  oder  rückwärts  zu  revidiren,  Bundesrath  und 
Bundesversammlung  sich  stets  auf  Seite  der  Interessen 
der  Arbeiterschaft  und  nicht  der  Aktionäre  stellen  mögen. 

Aarau.  E.  Naef. 


Ausführungsverordnung  zur  neuen  Gewerbeordnung,  be- 
treffend die  Regelung  der  Frauenarbeit  in  Preussen.  Nach 
§§  137  und  138a  der  neuen  Gewerbeordnung  dürfen  erwachsene 
Arbeiterinnen  in  Fabriken  in  der  Nachtzeit  von  8V2  Uhr  Abends 
bis  5*/2  Uhr  Morgens  nicht  beschäftigt  werden,  und  nur  „wegen 
aussergewöhnlicher  Häufung  der  Arbeit“  auf  Antrag  des  Unter- 
nehmers bis  10  Uhr  Abends  auf  die  Dauer  von  2 Wochen.  Hin- 
sichtlich der  letztgenannten  Ueberzeitarbeit  der  Arbeiterinnen 
über  16  Jahren  hat  nun  der  preussische  Handelsminister  be- 
stimmte Grundzüge  aufgestellt,  die  in  der  Münchener  „Allgem. 
Ztg.“  wie  folgt  bezeichnet  werden.  Voraussetzung  zur  Erthei- 
lung  der  Genehmigung  der  Ueberarbeit  ist  sowohl  bei  der 
unteren  wie  der  höheren  Verwaltungsbehörde  eine  ausserge- 
wöhnliche  Häufung  der  Arbeit.  Diese  tritt  regelmässig  ein  bei 
den  sogenannten  Saisonindustrien,  d.  h.  solchen,  die  zwar 
während  des  ganzen  Jahres  betrieben  werden,  aber  zu  regel- 
mässig wiederkehrenden  Zeiten  im  Jahre  einen  verstärkten  Be- 
trieb haben.  Zu  ihnen  gehören  zunächst  manche  auf  den 
Winter-  oder  Sommerbedarf  arbeitende  Gewerbe,  insbesondere 
verschiedene  Zweige  der  Textilindustrie,  Fabriken  für  Kon- 
fektion und  Putzmacherei  11.  s.  w.,  sodann  die  für  den  Bedarf 
an  gewissen  Festen  arbeitenden  Gewerbe.  Einen  verstärkten 
Betrieb  können  beispielsweise  haben  Zuckerwaaren,  Chokolade-, 
Luxuspapier-,  Masken-,  Spielwaaren-  u.  s.  w.  Fabriken.  Dieser 
vermehrte  Bedarf  zu  gewissen  Jahres-  und  Festzeiten  recht- 
fertigt aber  die  Genehmigung  der  Ueberarbeit  nur  dann,  wenn 
durch  Produktion  auf  Vorrath  oder  Lager  diesem  Bedarf  nicht 
Rechnung  getragen  werden  kann.  Dies  trifft  ohne  Weiteres  zu 
für  Waaren,  die  dem  Verderben  ausgesetzt  sind,  wenn  sie  über 
eine  gewisse  Zeit  hinaus  lagern.  Diese  Voraussetzung  kann 
ferner  zutreffen  für  Waaren,  die  nur  auf  Bestellung  angefertigt 
werden,  oder  für  Waaren,  die  von  der  Mode  abhängen.  Für  die 
Saisonindustrien  ist  die  Ueberarbeit  also  nur  zu  gestatten,  wenn 
und  soweit  eine  verstärkte  Nachfrage  vorliegt,  für  deren  Be- 
friedigung nicht  in  der  stillen  Zeit  cles  Jahres  vorausgearbeitet 
werden  konnte.  Nicht  unter  die  Saisonindustrie  fallen  die  so- 
genannten Kampagneindustrien,  deren  Betrieb  auf  bestimmte 
Jahreszeiten  beschränkt  ist,  und  während  des  übrigen  Jahres  I 
ganz  ruht,  wie  die  Rübenzucker-  und  andere  Industrien.  Hier 
kann  aussergewöhnliche  Arbeitsanhäufung  zu  unregelmässig 
wiederkehrenden  Zeiten  des  Jahres  oder  in  nicht  vorherzusehen- 
den Fällen  Vorkommen.  Für  alle  diese  Betriebe  kann  die  Ueber- 
arbeit nur  gestattet  werden,  wenn  die  aussergewöhnliche  Ar- 
beitshäufung nicht  vorherzusehen  war  oder  durch  wichtige 
wirthschaftliche  Gründe  gerechtfertigt  wird.  Als  solche  Gründe 
sind  insbesondere  hervorzuheben  die  Gefahr  eines  Verderbens 
oder  einer  Verschlechterung  der  Stoffe  bei  Frucht-  und  Fleisch- 
konserven, Stärkereien  und  Brennereien  u.  s.  w.,  die  Rücksicht 
auf  die  Transportgelegenheit  (z.  B.  wenn  wegen  plötzlich  ein- 
tretenden Frostes  ein  frühzeitiger  Schluss  der  Schiffahrt  in  Aus- 
sicht steht),  die  Rücksicht  auf  öffentliche  Interessen  (z.  B.  bei 
grossen  Lieferungen  für  die  Militärverwaltung),  die  Unmöglich- 
keit der  Innehaltung  der  Lieferungsfristen  wegen  nicht  vorher- 
zusehender Hindernisse.  Dagegen  ist  die  Uebernahme  zu  grosser 
Bestellungen,  deren  Nichtbewältigung  innerhalb  der  vereinbarten 
Lieferungsfrist  von  dem  Fabrikbesitzer  vorherzusehen  war,  nicht 
als  Grund  zur  Genehmigung  von  LTeberarbeit  anzusehen.  Ueber- 
haupt  ist  die  Genehmigung  der  Regel  nach  dann  zu  versagen, 
wenn  die  aussergewöhnliche  Häufung  der  Arbeit  von  dem 
Fabrikbesitzer  selbt  freiwillig  herbeigeführt  oder  durch  unge- 
schickte Dispositionen  verschuldet  ist,  und  wenn  nur  die  eigenen 
Interessen  des  Fabrikbesitzers,  nicht  auch  öffentliche  oder  andere 
erhebliche  Privatinteressen  in  Frage  kommen. 

Die  Sonntagsruhe  im  Eisenbahngüterverkehr  dürfte 
in  nächster  Zeit  in  Preussen  allgemein  eingeführt  werden. 
Wie  wir  früher  meldeten,  ist  auf  einzelnen  Strecken  der 
preussischen  Staatsbahnen  seit  Kurzem  auf  Anordnung  des 
Eisenbahnministers  der  Güterverkehr  an  den  Sonntagen 
ganz  oder  zum  grössten  Theil  eingestellt  worden.  Da  sich 
hieraus  Unzuträglichkeiten  nicht  ergeben  haben,  auch  Be- 
schwerden seitens  der  gewerblichen  Kreise  nicht  einge- 
gangen sein  sollen,  so  dürfte,  wie  offiziös  gemeldet  wird, 
eine  allgemeine  Einstellung  oder  erhebliche  Beschränkung 
des  Güterverkehrs  der  preussischen  Staatsbahnen  an  Sonn- 
und  Feiertagen  in  naher  Zeit  erfolgen. 


Zur  Sonntagsruhe  in  den  berliner  Vororten.  Neue  Aus- 
nahmen von  der  Sonntagsruhe  sind  nach  einer  Verfügung  des 
Regierungspräsidenten  Grafen  Hue  de  Grais  für  die  Vororte  von 
Berlin  gestattet  worden.  Die  näheren  Bestimmungen  hierüber 
werden  von  den  Ortspolizeibehörden  getroffen  werden.  Die 
Ausnahmen  beziehen  sich  auf  den  Verkauf  von  Back-  und 
Konditorwaaren,  auf  den  Milchhandel,  auf  das  Feilbieten  von 
Blumen,  gernwwerthigen  Gebrauchsgegenständen,  Erinnerungs- 
zeichen und  ähnlichen  Gegenständen  auf  öffentlichen  We^en, 
Strassen,  Plätzen  und  an  anderen  öffentlichen  Orten:  erstens 
bei  öffentlichen  Festen,  Truppenzusammenziehungen  oder  sonsti- 
gen aussergewöhnlichen  Gelegenheiten;  zweitens  in  Ortschaften, 
in  denen  an  Sonn-  und  Festtagen  regelmässig  durch  Fremden- 
besuch ein  gesteigerter  Verkehr  stattfindet  — an  Sonn-  und 
Festtagen.  Jedoch  darf  das  Feilbieten  während  des  Gottes- 
dienstes nicht  gestattet  und  kann  auf  einzelne  Stunden  be- 
schränkt werden.  Die  Ortsbehörden  werden  noch  besonders 
darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  die  bisher  in  Kraft  getretenen 
Vorschriften  über  die  Sonntagsruhe  sich  nur  auf  das  Handels- 
gewerbe beziehen  und  auf  den  Betrieb  von  Würfelbuden, 
Schiessständen  und  ähnlichen  Veranstaltungen,  die  vorwiegend 
zur  Volksbelustigung  dienen,  keine  Anwendung  finden. 

Arbeiterschutzgesetz  in  New-Jersey.  Im  Staate  New- 
Jersey  (Vereinigte  Staaten  von  Amerika)  ist  seit  dem 
6.  Juli  ein  Arbeiterschutzgesetz  für  sämmtliche  gewerbliche 
Arbeiter  in  Kraft,  welches  bestimmt,  dass  die  wöchentliche 
Arbeitszeit  55  Stunden  nicht  übersteigen  darf.  Vor  7 Uhr 
Morgens  und  nach  6 Uhr  Abends  dürfen  Knaben  unter 
18  Jahren  und  Frauen  nicht  beschäftigt  werden,  Mittags  ist 
eine  Stunde  Pause  zu  gewähren.  An  Sonnabenden  darf 
blos  von  7 Uhr  Morgens  bis  Mittag  gearbeitet  werden. 
Ausnahmen  bez.  der  Frauen  und  jugendlichen  Arbeiter 
sind  nur  für  Früchtenkonserven-  und  Glasfabriken  ge- 
stattet. Auf  Uebertretungen  des  Gesetzes  sind  Strafen  von 
100  Dollars  gesetzt. 


Arbeiterversicherung. 

Zwei  Vorschläge  zur  Revision  des  deutschen  Unfall- 
versicherungsgesetzes. 

Im  Reichstage  ist  schon  mehrfach  darüber  verhandelt 
worden,  dass  das  Unfallversicherungsgesetz  einer  Verbesse- 
rung in  manchen  Punkten  bedürftig  sei;  ein  Antrag  der 
Sozialdemokraten  zählte  einige  dieser  Punkte  auf,  die  man 
leicht  noch  vermehren  könnte.  Gegen  diesen  Antrag  aber 
sprachen  sich  im  Reichstage  und  namentlich  ausserhalb 
desselben  die  Vertreter  der  Berufsgenossenschaften,  nament- 
lich auch  der  Verband  der  deutschen  Berufsgenossen- 
schaften  aus.  Man  hatte  in  diesen  Kreisen  das  Gefühl,  dass  | 
eine  Umgestaltung  des  Unfallversicherungsgesetzes  leicht 
dahin  führen  könnte,  die  Berufsgenossenschaften  zu  besei- 
tigen, nachdem  man  sowohl  bei  der  landwirtschaftlichen 
Unfallversicherung  als  namentlich  bei  der  Invaliden-  und 
Altersversicherung  sich  dem  Grundsätze  der  territorialen 
Abgrenzung  zugewandt  hatte. 

Inzwischen  scheint  man  solche  Befürchtungen  nicht 
mehr  zu  hegen;  auch  in  diesen  Kreisen  spricht  man  schon 
von  einer  bevorstehenden  Revision  des  Unfallversicherungs- 
gesetzes, und  während  bisher  die  Anregungen  auf  Aende- 
rung  meist  den  Wünschen  der  Arbeiter  entsprachen,  kom- 
men jetzt  auch  Anregungen  aus  dem  Kreise  der  Unter- 
nehmer, deren  Werth  für  die  Arbeiter  ein  sehr  zweifel- 
hafter ist. 

Einer  dieser  Vorschläge  bezieht  sich  auf  die  Kapital- 
abfindung kleiner  Renten,  die  damit  empfohlen  wurde,  dass 
der  Arbeiter  durch  Abhebung  der  kleinen  Rentenbeträge 
Laufereien  und  Zeitversäumnisse  habe.  Gewiss  für  die 
Postverwaltung,  welche  die  Renten  auszuzahlen  hat,  für 
die  Beamten  der  Berufsgenossenschaften,  welche  die  Ver- 
rechnungen nachher  vorzunehmen  haben,  verursachen  die 
zahlreichen  kleinen  Posten  eine  mühsame  Arbeit.  Allein 
das  kann  doch  nicht  entscheidend  sein.  Als  das  Unfallver- 
sicherungsgesetz vorgelegt  wurde,  war  der  Hauptgrund 
dafür  der  Gedanke,  dass  das  Haftpflichtgesetz  den  Arbeiter 
nicht  genügend  schütze;  dem  Arbeiter  lag  die  Beweislast 


No.  32. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


309 


ob,  dass  der  Unternehmer  den  Unfall  verschuldet  habe; 
der  Arbeiter  stand  meist  nicht  dem  Unternehmer  gegen- 
über, sondern  der  hinter  demselben  stehenden  Unfallver- 
sicherungsgesellschaft. Die  Ausführungen  gingen  dahin, 
dass  diese  Gesellschaften  sich  eine  Kentenzahlung  nur  im 
Prozesswege  abringen  Hessen,  dass  sie  aber  auch  fast 
immer  den  Versuch  machten,  den  Arbeiter  mit  einem  sehr 
gering  bemessenen  Kapital  abzufinden.  Gerade  diese  Ka- 
pitalabfindungen wurden  getadelt,  weil  mit  Recht  hervor- 
gehoben wurde,  dass  dem  Arbeiter  das  Kapital  nur  selten 
lange  verbleibe,  dass  es  bald  aufgebraucht  werde.  Nun 
mag  allerdings  richtig  sein,  dass  es  sich  damals  mehr  um 
die  schwereren  Fälle  handelte ; denn  wiegen  einer  kleinen 
Verletzung  werden  die  Arbeiter  die  Kosten  eines  Prozesses 
nicht  auf  sich  genommen  haben.  Aber  wächst  denn  die 
Gefahr,  dass  dem  Arbeiter  das  Kapital  unter  den  Händen 
verschwindet,  dass  er  es  verbraucht,  nicht  mit  der  Klein- 
heit der  Rente?  Eine  Rente  von  5 pCt  mag  dem  in  jünge- 
ren Jahren  stehenden  Arbeiter,  der  trotz  dieser  kleinen 
Verminderung  seiner  Erwerbsfähigkeit  vielleicht  noch  guten 
Verdienst  hat,  zunächst  unerheblicherscheinen;  aber  wenn 
seine  Arbeitsfähigkeit  durch  Alter  abnimmt,  wird  eine 
solche  kleine  Rente  von  immer  grösserer  Bedeutung.  Die 
Unbequemlichkeit  der  Erhebung  der  Rente  kann  doch 
wirklich  nicht  so  gross  sein.  Die  Zahl  der  Postanstalten  im 
Deutschen  Reiche  ist  eine  grosse  und  vermehrt  sich 
hoffentlich  alljährlich  im  entsprechenden  Masse,  dass  diese 
Schwierigkeit  sich  vermindert.  Andernfalls  könnte  man  ja 
auch  die  Vorschrift,  dass  die  Renten  monatlich  im  voraus 
zu  zahlen  sind,  dahin  abändern,  dass  dem  Rentenberech- 
tigten freisteht,  sie  in  vierteljährlichen  Beträgen  nachträg- 
lich abzuheben. 

Ein  anderer,  gleichfalls  aus  Unternehmerkreisen  stam- 
mender Vorschlag  ist  noch  bedenklicher,  weil  er  mit  dem 
Geiste  der  Unfallversicherung  im  schroffsten  Widerspruch 
steht:  sämmtliche  auf  die  Leichtfertigkeit  der  Arbeiter 
zurückzuführenden  Unfälle  sollten  geringer  entschädigt 
werden  als  die  durch  Betriebsgefahren  veranlassten  Unfälle. 
Begründet  wurde  dieser  Vorschlag  damit,  dass  es  ja  in  den 
Berichten  der  preussischen  Regierungs-  und  Gewerberäthe 
festgestellt  sei:  „dass  die  Berufsgenossenschaften  auf  dem 
Gebiete  der  Unfallverhütung  den  höchsten  Anforderungen 
entsprechen.“  Obwohl  dies  keineswegs  „festgestellt“  ist, 
wird  aus  dieser  Behauptung  überdies  ohne  Weiteres  gefol- 
gert, dass  die  Arbeiter,  welche  den  von  den  Berufsgenos- 
senschaften erlassenen  Unfallversicherungsvorschriften  zu- 
widerhandeln, durch  Zubilligung  einer  geringeren  Rente 
bestraft  werden. 

Dass  die  Arbeiter  in  dieser  Beziehung  leichtfertig  ver- 
fahren, ist  eine  ebenso  oft  aufgestellte  Behauptung  wie  die, 
dass  sie  „frivole“  Berufungen  einlegen  gegen  die  Entschei- 
dungen der  berufsgenossenschaftlichen  Schiedsgerichte. 
Der  Ausspruch  des  durchaus  nicht  durch  besondere  Arbeiter- 
freundlichkeit sich  auszeichnenden  Regierungs-  und  Ge- 
werberathes  Trilling  in  Oppeln  in  seinem  Berichte  für  1891 
dürfte  zur  Widerlegung  ausreichen;  er  schreibt:  „Die  An- 

sicht, dass  die  Arbeiter  in  Folge  der  Ansprüche,  welche  sie 
auf  Grund  des  Unfallversicherungsgesetzes  bei  Unfällen  er- 
heben können,  weniger  vorsichtig  der  Unfallsgefahr  gegen- 
über wären  als  früher,  kann  nur  von  Jemandem  ausge- 
sprochen werden,  der  mit  den  Verhältnissen  der  Industrie 
und  der  Arbeiterschaft  nicht  vertraut  ist.  Im  Uebrigen  be- 
weisen die  Anzeigen  eine  ganz  erhebliche  Minderung  der- 
jenigen Unfälle,  welche  ihre  Ursachen  in  grobem  Verschul- 
den der  Arbeiter  . . . finden.“ 

Nun  ist  es  ja  allerdings  richtig,  dass  Fälle  vorgekommen 
sind,  in  denen  die  Arbeiter  eine  vorhandene  Schutzvorrich- 
tung entfernt  und  dadurch  einen  Unfall  veranlasst  haben. 
Aber  auch  hierfür  ergeben  sich  aus  den  Jahresberichten 
der  Fabrikaufsichtsbeamten  Entschuldigungsgründe.  Dass 
einige  Berufsgenossenschaften  überhaupt  noch  keine  Unfall- 
verhütungsvorschriften erlassen  haben,  soll  nur  nebenbei 
erwähnt  werden.  Der  Beamte  für  die  Regierungsbezirke 
Potsdam  und  Frankfurt  a.  O.  meint,  „dass  die  Schutzvor- 
richtungen, besonders  an  Holzbearbeitungsmaschinen  in  ein- 


zelnen Fällen  so  schwer  und  wenig  zweckmässig  gebaut 
sind,  dass  die  Arbeiter  sich  nicht  leicht  an  ihre  Benutzung 
gewöhnen.“  Er  theilt  ferner  mit,  dass  in  landwirthschaft- 
lichen  Betrieben  die  Schutzvorrichtungen  von  den  Maschi- 
nen nach  dem  Gebrauch  abgenommen  werden , dass  man 
bei  der  Wiederbenutzung  der  Maschinen  vergisst,  sie  anzu- 
bringen, ferner  dass  man  mit  der  Bedienung  der  Maschinen 
oft  junge  Leute  beauftragt,  welche  weder  die  Kenntnisse, 
noch  die  nöthige  Ueberlegung,  ja  oft  nicht  einmal  die 
nöthige  Kraft  dazu  besitzen. 

Derselbe  Beamte  spricht  von  der  „nicht  unbegründe- 
ten“ Abneigung  der  Arbeiter  gegen  das  Tragen  von  Schutz- 
brillen; ähnlich  spricht  sich  auch  der  Beamte  für  die  Re- 
gierungsbezirke Breslau  und  Liegnitz  aus.  In  dem  Berichte 
aus  Arnsberg  heisst  es:  „Gross  ist  auch  die  Zahl  der  Un- 
fälle auf  der  Röhrengiesserei  des  Schalker  Gruben-  und 
Hüttenvereins  in  Hüllen.  . . . Bei  letzterem  Werke  liegt  der 
Hauptgrund  für  die  zahlreichen  Einfälle  in  den  zu  be- 
schränkten Raumverhältnissen  der  Giesserei  für  stehend 
gegossene  Rohre.  . . . Hierzu  kommt  der  dort  ganz  beson- 
ders häufige  Wechsel  der  Arbeiter.“ 

Diese  Entschuldigungsgründe  für  die  einzelnen  Fälle 
sollte  man  nicht  unbeachtet  lassen.  Dazu  kommt  aber  nun 
noch  eine  allgemeine  Erwägung.  In  den  Jahresberichten 
der  Fabrikinspektoren  wird,  wie  in  früheren  Jahren,  so  auch 
1891  darüber  geklagt,  dass  für  dieselben  Maschinen  die 
Berufsgenossenschaften  verschiedene  Vorschriften  erlassen 
haben.  Bei  dem  Wechsel  der  Arbeiter  aus  dem  Betriebe 
einer  Berufsgenossenschaft  in  den  einer  anderen,  hat  das 
bedenkliche  Folgen.  Die  Arbeiter  müssen  durch  solche 
Verschiedenartigkeit  verwirrt  werden;  jedenfalls  steigt  da- 
durch nicht  ihre  Achtung  vor  den  Unfallverhütungsvor- 
schriften. 

Wenn  eine  Vernachlässigung  derselben  vorkommt,  so 
kann  sie  in  den  angeführten  Verhältnissen  viel  leichter 
ihren  Grund  haben,  als  in  der  Leichtfertigkeit  der  Arbeiter. 
Die  Missachtung  der  Unfall  verhüt  ungs  Vorschriften  kann  man 
aber  nicht  mit  einer  Verminderung  der  Rente,  d.  h.  mit 
einer  dauernden  Benachtheiligung  eines  Verunglückten  und 
seiner  Familie  bestrafen,  sondern  höchstens  mit  den  üblichen 
Ordnungsstrafen.  Denn  in  erster  Linie  ist  der  Unternehmer 
für  die  Beachtung  dieser  Vorschriften  verantwortlich;  er 
muss  dafür  sorgen,  dass  sie  nicht  nur  auf  dem  Papier  stehen, 
dass  die  Schutzvorrichtungen  nicht  nur  vorhanden  sind, 
sondern  dass  auch  die  Verhältnisse  die  Verwendung  der- 
selben ermöglichen,  was  nach  den  obigen  Anführungen  aus 
den  Jahresberichten  der  Fabrikinspektoren,  die  leicht  noch 
vermehrt  werden  könnten,  nicht  überall  der  Fall  ist.  Wie 
in  anderen  Punkten,  so  wird  auch  hier  die  erzieherische 
Wirkung  der  Schutzmassregeln  nicht  ausbleiben.  Aber 
durch  Verkürzung  des  Renten betrages  wird  man  die  Er- 
ziehung nicht  beschleunigen. 

Berlin.  H.  Horn. 


Anweisung  zur  Ausführung  des  Krankenversiche- 
rungsgesetzes  vom  10.  April  1892.  Eine  Anweisung  der 
preussischen  Minister  des  Innern  und  des  Handels  vom 
10.  Juli  d.  Js.,  die  Ausführung  des  neuen  Krankenversiche- 
rungsgesetzes betreffend,  erscheint  soeben  in  den  Amts- 
blättern. Unter  Ziffer  59  heisst  es  in  derselben  bezüglich 
der  freien  Hilfskassen:  „Für  die  Entscheidung  der  Frage, 

ob  ein  Mitglied  einer  Hilfskasse  von  der  Verpflichtung,  der 
Gemeindekrankenversicherung  oder  einer  organisirten  Kasse 
beizutreten,  befreit  ist,  ist  die  Bescheinigung  (der  Aufsichts- 
behörde darüber,  dass  die  Hilfskasse  den  gesetzlichen  An- 
forderungen genügt,  § 75  a d.  G.),  soweit  ihr  Inhalt  reicht, 
massgebend.  Dagegen  verbleibt  den  Verwaltungen  der 
Gemeindekrankenversicherung,  den  Vorständen  der  einzel- 
nen Kassen,  sowie  den  zur  Entscheidung  von  Streitigkeiten 
berufenen  Behörden  die  Pflicht  zur  Prüfung,  ob  das  Kranken- 
geld die  Hälfte  des  ortsüblichen  Lohnes  gewöhnlicher  Tage- 
arbeiter am  Beschäftigungsorte  des  Mitgliedes  erreicht.“ 
Diese  Anweisungsbestimmung  ist  eine  Folge  der  bekannten 
neuen  Fassung  des  § 75  des  K.-V.-G. 


400 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  32. 


..  ®.ie  Invaliditats-  und  Altersversicherung:  im  Stadtbezirke 
Kerlin  im  Jahre  1891.  Die  Versicherungsstelle  Berlin  umfasst 
ca.  470  000  Versicherte  d.  h.  also  beinahe  den  dritten  Theil  der 
gesammten  Berliner  Bevölkerung.  Dieser  grossen  Mitgliederzahl 
gegenüber  erscheint  der  Umfang  der  Rentenfestsetzung  als  sehr 
gering.  Es  wurden  nämlich  im  Jahre  1891  insgesammt  nur  1859 
Altersrentenansprüche  erhoben,  von  denen  nur  1218  Ansprüche 
anerkannt  wurden.  In  den  höheren  Instanzen  wurden  noch 
145  Altersrenten  festgesetzt,  so  dass  insgesammt  1363  Renten 
mit  einer  Jahresausgabe  von  215  376  M.  20  Pf  (einschliesslich  des 
Reichszuschusses  von  50  M.  für  jede  Rente)  bewilligt  worden 
sind;  die  durchschnittliche  Höhe  der  Rente  betrug  hiernach 
rund  158  M.  pro  Jahr,  oder  etwas  über  40  Pf.  pro  Tag.  46  Renten- 
empfänger starben  schon  im  ersten  Jahre  des  Rentengenusses. 
Die  geringe  Anzahl  der  Altersrenten  ist  augenscheinlich  auf  die 
Verhältnisse  der  Grossstadt  zurückzuführen.  Wenigstens  hat 
eine  Umfrage  der  Berliner  Versicherungsanstalt  bei  denjenigen 
Anstalten,  in  welchen  sich  Städte  von  mehr  als  100  000  Ein- 
wohnern  befinden,  ergeben,  dass  auch  in  diesen  Bezirken  die 
Zahl  der  Altersrenten  in  Prozenten  der  Civilbevölkerung  in  den 
Grossstädten  weit  geringer  ist,  als  in  dem  jjesammten  Bezirke. 

kamen  auf  100  000  Einwohner  in  der  Provinz  Ostpreussen 
377  Rentenanträge,  in  der  Stadt  Königsberg  dagegen  nur  118, 
m der  Provinz  Pommern  271  Anträge,  dagegen  in  der  Stadt 
Stettin  nur  84.  Von  den  Rentenempfängern  sind  1020  Männer 
und  343  Frauen.  Nach  dem  Berufe  gehörten  1 1 zur  Land-  und 
P orstwirthschaft,  423  zur  Industrie,  52  zum  Handel  und  Verkehr, 
796  zur  Lohnarbeit  wechselnder  Art,  35  zum  Staats-  u.  s.  w. 
Dienst  und  46  zum  Gesindedienst. 

Der  Kapitalwerth  der  sämmtlichen  im  Jahre  1891  für  Rech- 
nung der  Berliner  Versicherungsanstalt  zur  Auszahlung  gelangten 
Renten  beträgt  749  055  M.  80  Pt.  Diesem  Kapitalwerth  steht  eine 
Einnahme  aus  dem  Markenverkauf  von  rund  5 Mill.  M.  gegen- 
über, so  dass  die  finanzielle  Grundlage  der  Anstalt  bis  fetzt 
über  jeden  Zweifel  gesichert  erscheint.  Die  Verwaltungskosten 
der  Anstalt  waren  verhältnissmässig  gering,  sie  betrugen  blos 
98  000  M.  877  491  Stück  Quittungskarten  sind  bis  31.  März  1892 
Stadtbezirk  Berlin  zur  Ausgabe  gelangt  und  32  200  000  Stück 
Marken  sind  der  kaiserlichen  Postkasse  zum  Verkaut  iiber- 
worden.  Der  durchschnittliche  Monatserlös  betrug 
400  000  M.  In  374  Fällen  wurde  gegen  die  Entscheidungen  des 
Anstaltsvorstandes  das  Schiedsgericht  angerufen,  das  in  139 
rällen  den  Anfechtern  des  Bescheides  zustimmte.  Bezüglich 
der  wichtigen  Kontrolle,  ob  die  Versicherungsmarken  richtig 
eingeklebt  werden,  scheint  sich  die  Versicherungsanstalt  auf 
Stichproben  beschränkt  zu  haben,  Zu  diesem  Zwecke  haben 
vier  Kontrollbeamte  im  ersten  Jahre  4884  Betriebe  revidirt  und 
m 1726  Fällen  Unregelmässigkeiten  gefunden.  Es  war  ganz 
naturgemäss,  dass  gerade  bei  den  komplizirten  Bestimmungen 
über  die  Lohnklassenberechnung  vielfach  nicht  die  richtigen 
Marken  eingeklebt  wurden.  Der  Vorstand  hat  weniger  durch 
„Ordnungsstrafen11  als  durch  Belehrung  einzuwirken  gesucht. 

< cf 'I!r  lm  Ganzen  nur  neun  Ordnungsstrafen  im  Betrage  von 
1 — 5 M.  zur  Festsetzung  gelangt. 

...  . Die  Aufbewahrung  der  vollgeklebten  Quittungkarten  bildet 

für  jede  Anstalt  ein  schwieriges  Problem.  Die  Berliner  Anstalt 
hat  einstweilen  nur  eine  „vorläufige“  Einrichtung  getroffen,  fügt 
aber  hinzu:  „Der  Bau  eines  besonderen  Gebäudes  zur  Aufbe- 
wahrung der  Karten  soll  demnächst  ...  in  Angriff  genommen 
werden.  Dieser  Bau  von  besonderen  Gebäuden  bildet  aber 
nicht  etwa  für  Berlin  eine  Ausnahme,  sondern  verschiedene 
Anstalten  haben  bereits  derartige  Baulichkeiten  mit  einem  grossen 
Kostenaufwande  hergestellt  und  hierfür  einen  grossen  Beamten- 
amiarat  eingerichtet.  Hier  ist  einer  der  wundesten  Punkte  in  der 
Organisation,  und  man  wird  sich  wohl  zu  einer  tiefgreifenden 
Aenderung  entschliessen  müssen  — sobald  man  etwas  besseres 
getunden  hat. 


Haftpflichtschutzverband  Deutscher  Industrieller.  Am 

28.  Juni  fand  in  Köln  unter  dem  Vorsitze  des  Reichtagsabgeord- 
neten  Th.  Möller  eine  zahlreich  besuchte  Versammlung  zur 
Gründung  eines  „Haftpflichtschutzverbandes  Deutscher  In- 
dustrieller“ statt.  Nach  den  Erörterungen  des  Vorsitzenden 
will  der  Verband  folgende  Thätigkeit  entwickeln: 

T Es  soll  durch  fachwissenschaftliche  Untersuchungen  und 
durch  Y erwerthung  der  Erfahrungen  des  praktisch-gewerblichen 
Lebens  dahin  gewirkt  werden,  dass  die  nach  dem  Unfallver- 
sicherungsgesetz verbliebene  und  durch  die  sozialpolitische 
Gesetzgebung  überhaupt  begründete  bezw.  neugeschaftene  Haft- 
pflicht derart  beschränkt  werde,  dass  dieselbe  nicht  über  die 
Grenze  der  Billigkeit  hinausgeht  bezw.  in  den  Kreis  der  berufs- 
genossenschaftlichen Unfallversicherung  einbezogen  wird.  Dem- 
gemäss wird  der  Verband  seine  Ziele  zu  erreichen  suchen,  a) 
durch  die  Sammlung  des  einschlägigen  Materials  betreffend  die 
Unfallversicherung  (Urtheile  des  Reichsversicherungsamtes  und 
der  Schiedsgerichte  betreffend  Abweisungen  von  Schadensersatz- 
ansprüchen, ferner  der  Urtheile  der  Gerichtshöfe  in  Haftpflicht- 
und  Strafjirozessen,  endlich  Entscheidungen  der  höheren  Yrer- 
waltungsbehorden , betreffend  die  Handhabung  der  Reichsge- 
werbeordnung vom  1.  Juni  1891,  das  Krankenkassen-,  sowie  das 
Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetz);  b)  durch  Vor- 
stellungen bei  den  gesetzgebenden  Körperschaften  und  Be- 
hörden. 


2.  Den  Verbandsmitgliedern  werden  durch  sachverstän- 
digen Rath  und  Auskunft  möglichst  wirksame  Rathschläge  in 
den  aus  der  Civil-  und  Strafgesetzgebung  herrührenden  Haft- 
pflichtstreitfällen gewährt  oder  vermittelt.  Der  Verband  wird  in 
zwanglosen  Heften  Mittheilungen  über  die  einschlägigen  Fragen 
der  gewerblichen  Gesetzgebung,  Verwaltung  und  Rechtsprechung 
liefern. 

3.  Der  Verband  bezweckt  die  Einführung  einer  die  Inter- 
essen der  Industriellen  thunlichst  vollkommen  d.  h.  alle  mög- 
lichen Fälle  der  Haftpflicht  deckenden  Versicherung,  insbeson- 
dere durch  Aufstellung  von  Normativbestimmungen. 

Jahresversammlung  des  württembergischen  Krauken- 
kassenverbandes.  Der  Vorstand  des  württembergischen  Kranken- 
kassenverbandes hielt  am  7.  Juli  d.Js.  in  Stuttgart  seine  ordent- 
liche Jahressitzung  ab.  Den  Hauptgegenstand  der  Verhandlungen 
bildete  die  Stellungnahme  der  Gemeinden  und  Krankenkassen 
mit  Beitrittszwang  zur  Krankenversicherungsnovelle  vom 
10.  April  1892.  Hierbei  handelte  es  sich  darum,  zu  berathen, 
welcher  Gebrauch  von  dem  neuen  Recht  der  statutarischen 
Regelung  des  Krankenversicherungswesens  allgemein  ange- 
rathen  werden  kann  Mit  Bezug  auf  den  Kreis  der  statuta- 
risch zu  versichernden  Personen  wurde  der  gemeindlichen 
Ausdehnung  der  Versicherungspflicht  das  Wort  nicht  geredet: 
1.  auf  diejenigen  im  § 1 der  Novelle  bezeichneten  Personen, 
deren  Beschäftigung  auf  einen  Zeitraum  von  weniger  als  einer 
YVoche  beschränkt  ist,  weil  die  Beitragsleistungen  zu  dem 
Kassenrisiko  ausser  allem  Verhältniss  stehen  würden;  2.  auf  die- 
jenigen Familienangehörigen  eines  Betriebsunternehmers,  deren 
Beschäftigung  in  dem  Betriebe  nicht  auf  Grund  eines  Arbeits- 
vertrages  stattfindet,  da  es  sich  nicht  empfehle,  ohne  dringenden 
Anlass  in  die  familiären  Beziehungen  der  Einzelnen  regulirend 
einzugreifen,  und  3.  auf  die  Hausgewerbetreibenden,  weil  sonst 
mancher  Arbeitgeber  sich  veranlasst  sehen  könnte,  die  Geschäfts- 
aufträge zurückziehen,  wodurch  die  ohnedies  gefährdete  Haus- 
industrie in  eine  noch  kritischere  Lage  versetzt  werden  würde. 
Unbedingt  befürwortet  wurde  dagegen  die  Erstreckung  der  Ver- 
sicherungspflicht auf  die  in  Kommunalbetrieben  und  im  Kom- 
munaldienst beschäftigten  Personen,  auf  welche  die  Anwendung 
des  cit.  § 1 nicht  durch  anderweitige  reichsgesetzliche  Vor- 
schriften erstreckt  ist,  weil  diese  den  in  anderen  Betrieben  und 
Diensten  beschäftigten  Berufsarbeitern  wirthschaftlich  voll- 
kommen gleichstehen,  also  auch  denselben  Anspruch  auf  öffent- 
liche Fürsorge  hätten,  wie  die  letzteren.  Von  einer  Seite  wurde 
darauf  hingewiesen,  dass  für  die  im  württembergischen  Kom- 
munaldienste beschäftigten  Personen  eine  allgemeine  Fürsorge 
vorbereitet  werde,  es  sich  somit  vielleicht  empfehlen  möchte, 
bezüglich  dieser  Kategorie  von  Bediensteten  eine  abwartende 
Stellung  einzunehmen.  Von  dem  Recht,  n ichtversich  er  ungs- 
pflichtigen  Personen  die  Aufnahme  in  die  Gemeinde- 
krankenversicherung zu  gestatten  oder  den  Beitritt  zur  Kranken- 
kasse einzuräumen,  könne  und  sollte  jetzt  ein  ausgiebigerer  Ge- 
brauch gemacht  werden,  da  durch  die  Zulassung  der  ärztlichen 
LTntersuchung  der  sich  freiwillig  meldenden  Personen  der  früheren 
Ausnutzung  der  Versicherung  ziemlich  feste  Schranken  gezogen 
worden  sind.  Mit  Stimmeneinhelligkeit  sprach  sich  die  Y^er- 
sammlung  sodann  für  Beibehaltung  der  3 tägigen  Karenz- 
zeit für  die  Gewährung  des  Krankengeldes  aus,  wenn  die  Er- 
werbsunfähigkeit die  Dauer  von  3 YVochen  nicht  übersteigt, 
wobei  zwischen  Krankheit  und  Betriebsunfall  kein  Unterschied 
gemacht  werden  soll,  desgleichen  sei  auch  das  Krankengeld 
auch  für  Sonn-,  Fest-  und  Feiertage  zu  gewähren.  Sehr 
zu  begrüssen  sind  folgende  von  liberalem  Geist  getragene  Be- 
schlüsse der  Versammlung.  Die  gänzliche  oder  nur  theilweise 
Nichtgewährung  des  Krankengeldes  an  Versicherte,  welche  die 
Gemeindekrankenversicherung  oder  die  Krankenkasse  durch 
eine  mit  dem  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  bedrohte 
strafbare  Handlung  geschädigt  haben,  für  die  Dauer  von  zwölf 
Monaten  nach  Begehung  der  Strafthat  (§  6 a Abs.  1 Z.  2,  § 26  a 
Abs.  2 Z.  2)  sei  nicht  zu  befürworten,  weil,  solange  die  LTnter- 
stützung  solchenfalls  nicht  ganz  ausgeschlossen  werden  kann, 
diese  Massregel  in  dem  Augenblick  eintreten  würde,  wo  das 
betreffende  Mitglied  freie  Kur  und  Verpflegung  in  einem  Kranken- 
hause ansprechen  könne.  Ebenso  sei  es  bei  den  Versicherten, 
welche  sich  eine  Krankheit  vorsätzlich  oder  durch  schuldhafte 
Betheiligung  bei  Schlägereien  oder  Rauf hän dein,  durch  Trunk- 
fälligkeit oder  geschlechtliche  Ausschweifungen  zugezogen 
haben,  wozu  aber  noch  komme,  dass  die  absichtliche  Herbei- 
führung einer  Krankheit , welche  meistens  mit  der  Unzu- 
rechnungsfähigkeit bereits  Geistesgestörter  verwechselt  wird, 
an  und  für  sich  schwer  festzustelten  sei,  und  die  Entziehung 
des  Krankengeldes  im  Falle  der  Verletzung  bei  einem  Raui- 
handel  vorzugsweise  dem  zum  Schadenersatz  verpflichteten 
Thäter  zum  Vortheil  gereichen  würde.  Moralisch  gebühre  ja 
sicherlich  dem  Lasterhaften  nicht  dasselbe  Recht  wie  dem 
Tugendhaften,  da  die  Ar  be  iter  Versicherung  aber  nicht 
den  Zweck  habe,  das  Unmoralische  zu  ahnden,  sondern 
die  unteren  weniger  gebildeten  Volksschichten,  also  auch  die 
aus  immer  welcher  Ursache  gefallenen  Arbeiter  sammt  ihren 
Familien  wirthschaftlich  zu  unterstützen,  so  dürfe  hier  nicht 
mit  einem  zu  engen  Mass  gemessen  werden,  wenn  das 
LTebel  nicht  vergrössert  werden  soll.  Wichtig  für  die  freien 
Hilfskassen  in  YVürttemberg  ist  Folgendes:  Für  die  Kürzung 


No.  32. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBI .ATT. 


401 


des  Krankengeldes  im  Falle  der  Doppel  versichern  ng  konnte 
sich  die  Versammlung  nicht  erwärmen.  Es  herrschte  die  Mei- 
nung vor,  dass,  da  Jedermann  sich  privatim  versichern  könne, 
wo  er  wolle,  selbst  denjenigen  Kassenmitgliedern,  welche  einer 
Hilfskasse  ohne  Beitrittszwang  angehören,  nach  strengem  Recht 
die  Unterstützung  voll  und  ganz  gewährt  werden  müsse,  da 
auch  der  Beitrag  voll  und  ganz  zu  leisten  sei.  Die  Möglichkeit, 
dass  auf  diese  Weise  ein  kranker  Arbeiter  unter  Umständen 
mehr  an  LTnterstiitzung  beziehe,  als  ein  gesunder  Arbeiter  an 
Lohn,  könne  jene  im  Selbstbewusstsein  tief  eingewurzelte 
Rechtsanschauung  nicht  auf  den  Kopf  stellen.  Empfehlenswert!! 
sei  ferner  die  Einführung  der  Bestimmung,  dass  die  ärztliche 
Behandlung,  die  Lieferung  der  Arznei  und  die  Kur  und  Ver- 
pflegung nur  durch  bestimmte  Aerzte,  Apotheken  und 
Krankenhäuser  gewährt  und,  von  dringenden  Fällen  abge- 
sehen, die  Bezahlung  der  durch  Inanspruchnahme  anderer 
Aerzte,  Apotheken  und  Krankenhäuser  entstandenen  Kosten  ab- 
gelehnt werde.  Wo  jedoch  mehrere  Aerzte  etc.  zur  Verfügung 
ständen,  solle  man  den  Anträgen  der  Mitglieder  auf  Einführung 
möglichst  freier  Aerzte  wähl  thunlichst  entgegenkommen, 
auch  ohne  das  Einschreiten  der  Aufsichtsbehörde.  Unumgäng- 
lich sei  endlich  der  Erlass  von  Vorschriften  über  die  Kranken- 
meldung, über  das  Verhalten  der  Kranken  und  über  die 
Kranken  aut  sicht  und  die  Einführung  von  Ordnungsstrafen 
gegen  Versicherte,  welche  diesen  Vorschriften  und  den  Anord- 
nungen des  behandelnden  Arztes  zuwiderhandeln.  Muster  hier- 
für gäben  die  Statuten  der  freien  Hilfskassen  an  die  Hand. 
Letzteres  zeigt,  wieviel  die  Zwangskassen  noch  jetzt  von  den 
freien  Kassen  lernen  können. 

Besitz  vertheilnng-  mul  Unfallstatistik  in  der  thüringischen 
Landwirtschaft.  Der  Geschäftsbericht  der  land-  und  forstwirth- 
schaftlichen  Berufsgenossenschaft  für  Reuss  j.  L.,  welcher  kürz- 
lich erschien,  enthält  einige  nicht  uninteressante  Daten.  Die 
Zahl  der  beitragspflichtigen  Betriebe  für  1892  betrug  9245,  von 
denen  3043  bis  zu  1 Hektar  Land  umfassten,  über  1 — 5 Hektar 
3027  = 48,8  pCt.,  über  5-10  Hektar  1452  = 23,4  pCt.,  über  10—20 
Hektar  1203  = 19,4  pCt.,  über  20—50  Hektar  437  = 7 pCt.,  über 
50  Hektar  83  ~ 1,4  pCt.,  Summa  6202  = 100  pCt.  Da  landwirt- 
schaftliche Betriebe  mit  weniger  als  5 Hektaren  erfahrungs- 
mässig  nicht  mehr  Getreide  produziren,  als  der  Bauer  zu  seinem 
eigenen  Unterhalte  selbst  braucht,  so  ergiebt  sich  aus  jener 
Statistik,  dass  zwei  Drittel  der  reussischen  Bauern  etc.  von  den 
Getreidezöllen  keinen  Vortheil,  sondern  eher  noch  Schaden  haben, 
weil  sie  Getreide  nicht  verkaufen  können,  sondern  solches  zum 
I heil  noch  hinzukaufen  müssen,  um  sich  genügend  Brot  zu 
schaffen.  Die  Unfallstatistik  jener  Berufsgenossenschaft  ist  auch 
von  Interesse,  sie  giebt  die  Zahl  der  Unfälle  nach  der  Tages-  ! 
zeit  an,  in  welcher  sich  dieselben  ereigneten  Das  Resultat  ist, 
dass  ebenso  wie_  bei  der  Unfallstatistik  der  Industrie  die  Zahl 
der  Unfälle  zunimmt  mit  dem  Grade  der  Ermüdung  des  Ar- 
beiters; danach  ist  die  sogenannte  Unvorsichtigkeit  des  Arbeiters 
meist  nur  natürliche  Folge  der  LTeberanspannung  seiner  Kräfte. 
Die  Statistik  stellt  sich  folgendermassen.  Er  verunglückten: 
früh  von  4-5  Uhr  2,  von  5 — 6 3,  von  6—7  5,  von  7 — 8 10,  von 
8-  9 11,  von  9 — 10  17  von  10 — 11  17,  von  11—12  14;  Mittags  von 
12  — 1 Uhr  4,  Nachmittags  von  1 -2  8,  von  2—3  13,  von  3—4  19, 
von  4 — 5 14  von  5—6  13,  von  6 — 7 8,  von  8 — 9 1.  Man  muss  hier- 
bei in  Betracht  ziehen,  bemerkt  der  Hannoversche  „Volkswille“, 
dem  diese  Mittheilung  entnommen  ist,  dass  bei  der  Landwirth- 
schaft  frühzeitig  angefangen  wird  zu  arbeiten.  Die  Zunahme 
der  LTnglücksfälle  hält  bis  11  Uhr  an  und  lässt  auf  die  zunehmende 
Ermüdung  der  Arbeiter  schliessen  Von  11 — 12  dürfte  die  Ver- 
minderung davon  herrühren,  dass  die  Arbeiter  in  der  Arbeit 
bereits  etwas  nachlassen  und  sich  auf  den  Mittag  vorbereiten. 
Von  1 - 2 Uhr.  wo  dieselben  etwas  ausgeruht  sind,  beträgt  die 
Zahl  der  Unfälle  8,  während  sie  von  3— 4 Uhr  auf  19  steigt.  Die 
Vesperzeit  hat  wieder  eine  kleine  Verminderung  zur  Folge.  Dass 
von  6 Uhr  ab  die  Zahl  der  LTnfälle  abnimmt,  liegt  wohl  haupt- 
sächlich darin  weil  während  des  grössten  Theils  im  Jahre  in 
dieser  Zeit  nur  ein  geringer  Theil  der  Arbeiter  beschäftigt  ist. 

Bie  Kauflente  und  die  Kranken-  und  Unfallversicherung 
in  der  Schweiz.  Das  Centralkomitee  der  schweizerischen  kauf- 
männischen Vereine  hat  nach  eingehender  Besprechung  der 
Arbeiterversicherungsfrage  in  seinen  Sektionen  seine  Wünsche 
in  einer  Resolution,  welche  dem  schweizerischen  Industrie-  und 
Landwirthschaftsdepartement  zugestellt  wurde,  zusammengefasst. 
Dieselbe  lautet:  1.  Der  Verein  beantragt  grundsätzlich  die  Aus- 
dehnung der  Unfall-  und  Krankenversicherung  auf  alle  Be- 
völkerungsklassen, insbesondere  auch  auf  die  kaufmännischen 
beziehungsweise  administrativen  Angestellten,  wie  auch  die 
Lehrlinge.  Aber  auch  die  selbstständig  erwerbenden  Personen, 
Geschäftsinhaber,  Prinzipale  u.  s.  w.  sind  von  der  Verpflichtung 
nicht  auszuschliessen.  2.  Neben  der  staatlichen  Versicherung 
soll  auch  die  private  zulässig  sein  und  erstere  nicht  verlangt 
werden  können,  wenn  eine  private  Versicherung  vorhanden  ist, 
welche  das  staatliche  Minimum  erreicht.  3.  Die  Prämien  fallen 
zu  Lasten  theils  der  Versicherten,  theils  des  Staates.  Die 
Prinzipale  übernehmen  die  Prämienlast  für  ihre  Lehrlinge, 
aber  keinerlei  Belastung  für  die  bezahlten  Angestellten.  4.  Die 


staatliche  Unfallversicherung  soll  nicht  für  alle  kaufmännischen 
beziehungsweise  administrativen  Angestellten  gleich  hoch  sein, 
sondern  nach  dem  Einkommen  oder  Vermögen  oemessen  werden 
und  im  Minimum  2000  Frcs.  Kapitalsumme  für  den  Todesfall  und 
Vs  pro  Mille  (im  Minimum  2 Frcs.)  tägliche  Entschädigung  im  Falle 
vorübergehender  Erwerbsunfähigkeit  betragen.  Das  Maximum 
der  staatlichen  Unfallversicherung  soll  20  000  Frcs.  Kapitalsumme 
und  10  Frcs.  tägliche  Entschädigung  betragen;  innerhalb  dieser 
Grenzen  soll  den  zu  Versichernden  ein  Einfluss  auf  die  Bestim- 
mung der  Versicherungssumme  gestattet  werden.  5.  Der  Begriff 
grober  Fahrlässigkeit,  nach  welchem  ein  gegen  Unfall  Versicherter 
der  Schadenvergütung  verlustig  gehen  könnte,  soll  nicht  zulässig 
sein,  sondern  die  Versicherung  bei  allen  Unfällen  Gültigkeit 
haben.  6.  Die  bestehenden,  privaten  Krankenkassen  sollen  unter 
staatliche  Aufsicht  gestellt  werden,  aber  unter  privater  Ver- 
waltung bleiben.  Der  Staat  hat  über  deren  Organisation  und 
Minimalleistungen  Vorschriften  zu  erlassen.  7.  Sofern  die  pri- 
vaten Krankenkassen  den  staatlichen  Anforderungen  entsprechen, 
sollen  sie  auch  Anspruch  auf  staatliche  Beiträge  haben.  8.  Mit- 
glieder privater  Krankenkassen  unter  staatlicher  Aufsicht  sollen 
nicht  zum  Beitritt  in  die  staatliche  Krankenversicherung  ange- 
halten werden  können.  9 Wie  für  die  Unfallversicherung  sollen 
| auch  bei  der  Krankenversicherung  Kategorien  nach  Einkommen 
und  Vermögen  gebildet  werden,  in  gleicher  Höhe,  wie  sie  unter 
Ziffer  4 angegeben  sind.  10.  Die  obligatorische  Unfall-  und 
Krankenversicherung  hat  nur  die  erwerbenden  Personen  zu  um- 
fassen; für  die  übrigen  sei  der  Beitritt  fakultativ. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Gewerbegerichte  und  Aufsichtsbehörden  in  Württem- 
berg und  Baden.  Für  das  Königreich  Württemberg  ist 
Ende  Juli  d.  Js.  der  Regierungsentwurf  eines  Gesetzes,  be- 
treffend die  Dienstaufsicht  über  die  Gewerbegerichte  er- 
schienen. Danach  sind  der  Dienstaufsicht  der  Landgerichte 
auch  die  in  Gemässheit  des  Reichsgesetzes  vom  29.  Juli  1890 
errichteten  Gewerbegerichte  unterstellt.  Ueber  alle  Ge- 
richte übt  das  Justizministerium  die  Dienstaufsicht  aus.  Die 
Motive  führen  aus:  „Die  Gewerbegerichte  sind  ohne  Rück- 
sicht auf  den  Werth  des  Streitgegenstandes  zuständig  für 
Streitigkeiten  der  in  den  §§  3 und  4 des  erwähnten  Reichs- 
gesetzes bezeichneten  Art.  Auf  das  Verfahren  vor  den 
Gewerbegerichten  finden,  soweit  nicht  besondere  Bestim- 
mungen getroffen  sind,  die  für  das  amtsgerichtliche  Ver- 
fahren geltenden  Vorschriften  der  Civilprozessordnung  ent- 
sprechende Anwendung.  Die  Berufung  ist  nur  zulässig, 
wenn  der  Werth  des  Streitgegenstandes  den  Betrag  von 
100  M.  übersteigt.  Als  Berufungs-  und  Beschwerdegericht 
ist  das  Landgericht,  in  dessen  Bezirk  das  Gewerbegericht 
seinen  Sitz  hat,  zuständig.  Ausserdem  erfolgt  die  Amtsent- 
setzung eines  Mitglieds  des  Gewerbegerichts,  welches  sich 
einer  groben  Verletzung  seiner  Amtspflicht  schuldig  macht, 
nach  Massgabe  der  näheren  Vorschriften  in  § 19  Abs.  2 des 
R.-Ges.  durch  das  Landgericht;  desgleichen  findet  gegen 
die  von  dem  Vorsitzenden  des  Gewerbegerichts  den  Bei- 
sitzern zuerkannten  Ordnungsstrafen,  gemäss  § 21  Abs.  2 
des  R.-Ges.,  Beschwerde  an  das  Landgericht  statt.  Im 
Hinblick  auf  diese  reichsgesetzlichen  Vorschriften  können 
wohl  nur  die  Landgerichte  als  geeignete  Behörden 
zur  Ausübung  der  unmittelbaren  Dienstaufsicht  in  Betracht 
kommen.  Die  Zulässigkeit  der  Uebertragung  eines  solchen 
Geschäfts  der  Justizverwaltung  ergiebt  sich  aus  § 4 des 
Einführungsgesetzes  zum  Gerichtsverfassungsgesetz  vom 
27.  Januar  1877.  Auch  im  Gross herzogthum  Baden  ist 
ein  Gesetz  in  gleichem  Sinne  zur  Verabschiedung  gelangt.“ 

Statistik  der  Gewerberichte  in  Baden.  Nach  einer 
Ende  Juli  d.  Js.  erflossenen  badischen  Ministerialverordnung 
haben  die  Gewerbegerichte  Tabellen  zu  führen  über  ihre 
Rechtsprechung,  über  ihre  Thätigkeit  als  Einigungsamt  und 
über  ihre  Gutachten  und  Anträge.  Aus  diesen  Tabellen 
sind  Darstellungen  für  die  Reichs-  und  Landesstatistik  zu 
fertigen.  Entsprechende  Vorschriften  sind  auch  für  die 
Gemeindevorsteher  gegeben.  Die  Verordnung  tritt  sofort 
in  Kraft. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  I)r.  Heinrich  Traun  in  Berlin. 


402 


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llnftevblidjfeitsfrage),  JCtto  ».  Seirner,  .öerutamt  u.  Singg,  ©mit  ^efdjfau,  $uliu3 
Stinbe,  A>ans  o.  BSoljogen. 

Sebeö  .jöeft  enthält  eine  ober  atoet  fünftlerifdje  'Beilagen,  100,51t  u.  2t.  fjSvof.  ©abricl  9Jtay 
feine  fütitroirfung  jugefagt  hat. 

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Hermann  Walther. 

Walther  & Apolants  Verlagsbuchhandlung,  Berlin  W.,  Kleiststr.  16/17. 


Soeben  gelangt  zur  Ausgabe: 

VERZEICHNISS  No.  2 

enthaltend  die  nachgelassenen  Bibliotheken 
des 

Herrn  Grafen  E.  de  Launay  Exc. 

konigl.  italienischen  Botschafters  am  Berliner  Hofe 

und  des 

Herrn  Marquis  de  Penafiel  Exc. 

künigl.  portugiesischen  Gesandten  am  Berliner  Hofe. 


INHALT: 

Völkerrecht.  Internationales  Recht.  Diplo- 
matie. Politik.  Kirche  u.  Staat.  Politische 
Geschichte.  — Staats-  u.  Volkswirthschaft 
Rechtswissenschaft.  — Nachtrag. 

Dasselbe  steht  auf  Verlangen  gratis  und  franco  zu  Diensten. 


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Zwölfte  Stuftage. 


Deutsche  Litteraturzeitung 

Begründet  von  Professor  Dr.  Max  Roediger. 

Herausgegeben 

von 

Dr.  Paul  Hinneberg. 

XIII.  Jahrgang.  Preis  vierteljährlich  7 Mark.  Erscheint  jeden  Sonnabend. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten. 


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Preis  1 BL  25  Tßf. 

JtüfleillräfS  §tmm 

für  bic 

yrcuf}ifd)cn  Staaten. 

Sollt  24.  $unt  1865, 


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Die  Deutsche  Litteraturzeitung  erblickt  ihren  eigentümlichen  Beruf  darin, 
vom  Standpunkt  der  deutschen  Wissenschaft  aus  eine  kritische  LT  ebersicht  über 
das  gesammte  1 itterarische  Leben  der  Gegenwart  zu  bieten.  Sie  sucht  im 
Unterschied  von  den  Fachzeitschriften  allen  denen  entgegenzukommen,  welchen  es 
Bedürfniss  ist,  nicht  nur  mit  den  Fortschritten  ihres  Faches,  sondern  auch  mit  der 
Entwickelung  der  übrigen  Wissenschaften  und  mit  den  hervorragenden  Leistungen 
der  schönen  Litteratur  vertraut  zu  bleiben. 

In  ihren  Mittheilungen  bringt  die  Deutsche  Litteraturzeitung  eine  Uebersicht 
über  den  Inhalt  in-  und  ausländischer  Zeitschriften,  wie  sie  in  dieser  Reich- 
haltigkeit sonst  nirgends  geboten  wird,  ferner  ständige  Berichte  über  die  Thätigkeit 
gelehrter  Gesellschaften,  Nachrichten  über  wissenschaftliche  Entdeckungen  und  litte- 
rarische  Unternehmungen,  Personalnotizen  und  Vorlesungsverzeichnisse. 

Durch  die  Unterzeichnung  aller  Besprechungen  mit  dem  vollen  Namen  des 
Referenten  bietet  die  Deutsche  Litteraturzeitung  die  Gewähr  einer  gediegenen 
und  würdigen  Kritik. 


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Preis  I BL  50  pf. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  15.  August  1892. 


Nummer  33. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierten ährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  Rechtskraft  der  Renten- 
festsetzungsbescheide des 
Reic&s  Versicherungsamts. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik : 

Arbeitsnachweis  in  Oesterreich. 

Entwurf  eines  badischen  Anerben- 
rechtsgesetzes. 

Ortsstatut  über  Lohnzahlung  in 
Augsburg. 

Reform  derGesindeordnunginWien. 

Der  Montag  und  die  Fabrikunfälle. 

Nothlage  in  der  schweizerischen 
Uhrenindustrie. 

Arbeiterzustände : 

Lohnverhältnisse  und  Arbeitszeit 
der  Fabrikarbeiter  auf  dem 
thüringer  Walde. 

Arbeiterstatistik  des  Fabrikinspek- 
tors für  das  Grossherzogthum 
Altenburg. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Handhabung  des  Vereinsgesetzes 
in  Schwarzburg-Rudolstadt. 

Parteitag  der  deutschen  Sozial- 
demokratie. 

Das  kommunale  Wahlprogramm 
der  Arbeiter  Zürichs. 

Ein  englisches  Arbeiterprogramm. 

Kaufmännische  Bewegung: 

Kaufmännische  Sonntagsruhe  in  der 
Schweiz. 


Kaufmännisches  Berufssekretariat 
in  der  Schweiz. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Die  Stellung  der  schweizerischen 
Handwerker-  undGewerbevereine 
zur  Erweiterung  des  Fabrikge- 
setzes. Von  Kantonsstatistiker 
E.  N a e f. 

Durchführung  der  neuen  Schutz- 
vorschriften für  Arbeiterinnen 
in  Baden. 

Gewerbeinspektion : 

Reorganisation  der  Fabrikinspek- 
tion in  Preussen. 

Arbeiterversicherung: 

Die  Krankenversicherung  in  den 
deutschen  Grossstädt  ,-n.  Von 
Dr.  Max  Quarck. 

Die  Selbstverwaltung  der  Berufs- 
genossenschaften. 

Die  eingeschriebenen  Hilfskassen 
und  die  Krankenkassennovelle. 

Krankenkassengesetzgebung  in 
Dänemark. 

Gewerbegerichte , Einigungs- 
ämter und  Arbeiteraus- 
schüsse: 

Errichtung  eines  Gewerbegerichts 
in  Augsburg. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Rechtskraft  der  Rentenfestsetzungs- 
bescheide des  Reichsversicherungsamts. 


In  einer  Revisionsentscheidung  vom  31.  Oktober  1890 
No.  85,  Amtl.  Nachr.  1892,  S.  1 — hat  das  Reichsver- 
sicherungsamt das  Verfahren  einer  Versicherungsanstalt, 
welche  sich  für  berechtigt  hielt,  eine  gewährte  Altersrente 
durch  einen  neuen  Bescheid  wieder  zu  entziehen,  weil  sich 
herausgestellt  hatte,  dass  der  Bewilligung  ein  Irrthum  über 
die  tatsächlichen  Voraussetzungen  des  Rentenanspruchs  zu 
Grunde  lag,  für  dem  Gesetze  zuwiderlaufend  und  deshalb 
unzulässig  erklärt.  Die  Begründung  der  Entscheidung  ist 
ausserordentlich  knapp  gehalten  — wenigstens  in  der  amt- 
lichen Publikation.  Sie  begnügt  sich  damit,  festzustellen, 


dass  das  Gesetz  die  Abänderung  des  rechtskräftigen  Be- 
scheides nur  in  den  Formen  und  aus  den  Gründen  des 
Wiederaufnahmeverfahrens  gestatte,  dass  für  diese  Gründe 
die  Vorschriften  der  Civilprozessordnung  massgebend  seien, 
und  dass  zu  denselben  ein  blosser  Irrthum  des  Feststellungs- 
organs nicht  gehöre.  Die  ganze  Fassung  macht  unver- 
kennbar den  Eindruck,  man  habe  die  getroffene  Entschei- 
dung für  so  unzweifelhaft  und  selbstverständlich  gehalten, 
dass  es  nicht  erforderlich  schien,  noch  viele  Worte  zu 
machen. 

Nachträglich  scheinen  aber  solche  Zweifel  entstanden 
zu  sein.  Aus  der  Sitzung  des  Reichsversicherungsamts 
vom  13.  Juli  er.  wird  berichtet,  dass  der  in  Präjudiz  85 
ausgesprochene  Grundsatz  von  dem  Vertreter  einer  Ver- 
sicherungsanstalt sehr  eingehend  und  energisch  bekämpft 
worden  und  darauf  hingewiesen  ist,  wie  er  eine  grosse  Un- 
billigkeit gegenüber  der  Versicherungsanstalt  enthalte  und 
deren  Stellung  wesentlich  ungünstiger  als  die  des  Ver- 
sicherten gestalte.  Denn  der  letztere  könne  den  Bescheid 
durch  die  gesetzlichen  Rechtsmittel,  und  selbst  nach  er- 
langter Rechtskraft  noch  im  Wiederaufnahmeverfahren  an- 
fechten; die  Anstalt  aber  solle  an  denselben  unabänderlich 
und  für  alle  Zeit  gebunden  sein.  Es  gebe  keine  Möglich- 
keit, einen  einmal  begangenen  Irrthum  zu  berichtigen.  Sei 
aut  Grund  einer  von  dem  Landrath  aus  Versehen  oder  in 
Folge  einer  missverständlichen  Gesetzesauffassung  ausge- 
stellten Bescheinigung  die  Rente  einmal  bewilligt,  so  müsse 
sie  weiter  gezahlt  werden,  selbst  wenn  die  Unbegründet- 
heit des  Anspruchs  zweifellos  und  Jedermann  bekannt  sei. 
Ja,  es  sei  sogar  vorgekommen,  dass  sich  eine  Frau  von 
ihrem  Schwiegersohn  zur  Erlangung  der  Rente  habe  ein 
falsches  Attest  ausstellen  lassen;  den  Aussteller  habe  man 
wegen  Betrugs  verurtheilt,  aber  der  Frau  habe  man  die 
„rechtskräftig“  bewilligte  Rente  belassen  müssen.  — Diese 
Ausführungen  machten  auf  den  Gerichtshof  insoweit  Ein- 
druck, als  er  beschloss,  die  Entscheidung  auszusetzen  und 
dieselbe  der  erweiterten  Spruchkammer,  also  derjenigen 
Instanz  vorzubehalten,  welche  berufen  ist,  über  Gesetzes- 
auslegungen von  grundsätzlicher  Wichtigkeit  zu  befinden, 
und  welche  zugleich  ermächtigt  ist,  von  den  seitens  des 
Gerichtshofs  in  früheren  Entscheidungen  aufgestellten 
Rechtsgrundsätzen  abzuweichen. 

Die  streitige  Frage  scheint  uns  in  der  That  von  so 
weitgehender  prinzipieller  Wichtigkeit,  dass  gerade  in 
diesem  Stadium  eine  kurze  Besprechung  derselben  gestattet 
sein  mag.  Eines  zunächst,  was  freilich  ihre  Bedeutung 
keineswegs  erschöpft,  scheint  ganz  unzweifelhaft:  dass 

nämlich  nach  gegenwärtiger  Lage  der  Gesetzgebung  gar 
nicht  anders  entschieden  werden  konnte,  als  dies  seitens 


404 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  33. 


des  Reichsversicherungsamts  in  jenem  Urtheil  vom  31.  Okto- 
ber 1890  geschehen  ist. 

Das  Rentenfeststellungsverfahren  hat  in  der  Invaliditäts- 
und  Altersversicherung,  wie  vorher  schon  in  der  Unfallver- 
sicherung, eine  etwas  eigenthtimliche  Gestaltung  erhalten. 
Es  beginnt  mit  dem  Festsetzungsbescheide,  welcher  von 
dem  Organe  derjenigen  Korporation,  gegen  welche  der 
Rentenanspruch  erhoben  wird,  von  dem  Vorstande  der 
Versicherungsanstalt,  bezw.  der  Berufsgenossenschaft,  er- 
lassen wird.  Dieser  Bescheid  hat  aber  nicht  nur  die  Kraft 
einer  Parteierklärung,  einer  Kundgebung  des  Inanspruch- 
genommenen darüber,  ob  und  in  welcher  Höhe  er  die 
Forderung  anerkennt,  sondern  er  ist  vom  Gesetze  mit  allen 
rechtlichen  und  prozessualen  Wirkungen  eines  Instanz- 
urtheils  ausgestattet.  Er  ist  in  bestimmten  Formen  zu  er- 
lassen, dem  Antragsteller  zuzustellen;  er  erlangt  Rechts- 
kraft, wenn  er  nicht  binnen  bestimmter  Frist  angefochten 
wird;  das  zulässige  Rechtsmittel  wird  nicht  als  Klage, 
sondern  als  Berufung  bezeichnet,  u.  s.  w.  Diese  Gestaltung 
ist,  wie  gesagt,  eine  eigenartige.  Sie  ist  nicht  ganz  ohne 
Vorgang;  das  preußische  Verwaltungsstreitverfahren  ins- 
besondere hat  ein  wenigstens  analoges  System,  indem  es 
die  Polizeibehörde,  welche  eine  autoritative  und  häufig 
vorläufig  vollstreckbare  Verfügung  erlassen  hat,  dieselbe 
demnächst  im  Prozess  als  Partei  vertreten  lässt.  Neu  aber 
war  die  Uebertragung  dieses  Prinzips  auf  das  vermögens- 
rechtliche Gebiet,  das  Gebiet  der  reinen  Geldforderung. 
Dass  hiergegen  sich  Ausstellungen  erheben  lassen,  kann 
nicht  verwundern,  wenn  man  sie  auch  vielleicht  nicht 
gerade  von  dieser  Seite  erwartet  hätte.  Es  lässt  sich  viel- 
leicht in  Zweifel  ziehen,  ob  es  billig  oder  auch  nur  zweck- 
mässig war,  die  erstinstanzliche  Entscheidung  in  einem 
Streite  um  eine  Entschädigungsforderung  der  einen  der 
beiden  Parteien  zu  übertragen.  Aber  dass  gerade  diese 
Partei  sich  deshalb  in  einer  ungünstigeren  und  beengteren 
Position  befinde,  dass  ist  doch  kaum  die  Folgerung, 
auf  welche  ein  Unbefangener  ohne  weiteres  verfallen 
würde. 

Das  Gesetz  hat  nun  einmal  diese  Form  gewählt,  und 
die  daraus  von  dem  Reichsversicherungsamt  gezogenen 
Konsequenzen  sind  ganz  unabweisbar.  Sie  ergeben  sich 
aus  der  Doppelstellung  der  Versicherungsanstalt  als  Partei 
und  Richter,  und  wenn  bei  der  Sache  etwas  unnatürlich 
erscheint,  so  kann  es  eben  nur  diese  Doppelstellung  sein. 
Weil  die  Versicherungsanstalt  Richter  ist,  deshalb  kann  sie 
nicht  gegen  das  von  ihr  selbst  gefällte  Urtheil  Berufung 
einlegen ; und  weil  sie  Partei  ist,  deshalb  muss  das  Urtheil 
so  gut  ihr  als  dem  Gegner  gegenüber  Rechtskraft  erlangen. 
Sie  kann  ebensowenig  befugt  sein,  nachträglich  einen  er- 
lassenen Bescheid  wieder  aufzuheben  oder  abzuändern,  weil 
sie  erkennt,  dass  sie  sich  zu  ihrem  Nachtheil  versehen 
habe,  als  es  dem  Rentenempfänger  gestattet  ist,  eine  Ab- 
änderung herbeizuführen,  wenn  er  erst  nach  Ablauf  der 
Rechtsmittelfrist  gewahr  wird,  dass  er  in  seinen  Rechten 
verletzt  sei.  Das  Eine  wie  das  Andere  würde  den 
Grundsätzen  von  der  Rechtskraft  der  Urtheile  zuwider- 
laufen. 

Nur  eine  Ausnahme  gestatten  diese  Grundsätze:  die 
nachträgliche  Anfechtung  eines  rechtskräftigen  Urtheils  und 
Bescheides  durch  ein  ausserordentliches  Rechtsmittel  in  den 
gesetzlich  vorgesehenen  Fällen  und  Formen.  Dabei  ver- 
steht sich  eins  von  selbst  und  wird  auch  von  Niemand  be- 
zweifelt: dass  diese  ausserordentlichen  Rechtsmittel,  wo  sie 
überhaupt  zulässig  sind,  beiden  Parteien  gleichmässig  zu- 
stehen, und  dass  die  Wiederaufnahmeklage  in  den  ein- 
facheren Formen  dieses  Feststellungsverfahrens  ersetzt 
wird  durch  den  Antrag  auf  Abänderung  des  Bescheides  von 
Seiten  des  Versicherten,  durch  den  Erlass  eines  neuen  Be- 


scheides von  Seiten  der  Versicherungsanstalt.  Aber  auch 
darüber  lässt  das  Gesetz  keinen  Zweifel,  wann  eine  solche 
Abänderung  der  formell  rechtskräftigen  Rentenfestsetzung 
gestattet  sein  soll. 

Bei  der  Unfallversicherung  soll  die  Rente  eine  Ent- 
schädigung gewähren  für  die  durch  einen  speziellen  Unfall 
herbeigeführte  Verminderung  der  Erwerbsfähigkeit.  Wie 
die  Folgen  des  Unfalls  sich  zu  verschiedenen  Zeiten  ver- 
schieden gestalten  können,  wie  der  Zustand  des  Verletzten 
sich  bessern  oder  verschlimmern,  seine  Erwerbsfähigkeit 
zunehmen  oder  sich  weiter  vermindern  kann,  so  muss  auch 
die  Rente  im  Laufe  der  Zeit  hinsichtlich  ihrer  Höhe  eine 
Aenderung  erfahren  können,  sie  muss  je  nach  dem  wechseln- 
den Zustande  des  Verletzten  erhöht,  erniedrigt,  entzogen 
und  wiedergewährt  werden  können.  Deshalb  berechtigt 
dort  schon  jede  wesentliche  Aenderung  in  den  für  die 
Rentenfestsetzung  massgebend  gewesenen  Verhältnissen 
zum  Erlass  eines  neuen  Bescheides,  bezw.  zum  Antrag  auf 
solchen  Erlass.  Aber  auch  dort  ist  das  Reichsversicherungs- 
amt stets  mit  Entschiedenheit  jedem  Versuch  entgegenge- 
treten, die  ohnehin  weitgehende  Bestimmung  des  § 65  des  Un- 
fallversicherungsgesetzes auch  auf  solche  Fälle  auszudehnen, 
wo  es  sich  nicht  sowohl  um  die  Berücksichtiouns;  einer 
nachträglich  eingetretenen  Veränderung  als  vielmehr  um 
die  Korrektur  eines  in  dem  früheren  Verfahren  gemachten 
Fehlers  handelte. 

Wesentlich  einfacher  liegt  die  Sache  bei  der  Invalidi- 
täts-  und  Altersversicherung.  Eine  Veränderung,  welche 
zu  einer  Abänderung  der  Rentenfestsetzung  führen  müsste, 
kann  bei  der  Altersrente  überhaupt  nicht,  bei  der  Invaliden- 
rente wenigstens  nicht  hinsichtlich  der  Höhe  der  Rente 
eintreten,  da  diese  von  dem  Grade  der  Erwerbsunfähigkeit, 
der  allenfalls  wechseln  kann,  nicht  abhängig  ist.  Nur  eine 
Veränderung  kann  solchen  Einfluss  haben:  wenn  nämlich 
der  Rentenempfänger  nachträglich  wieder  erwerbsfähig 
wird.  Für  diesen  Fall  ist  denn  auch  die  Wiederentziehung 
der  Rente  vorgesehen.  Abgesehen  von  diesem  einen  Falle 
ist  aber  die  Abänderung  oder  der  Antrag  auf  Abänderung 
einer  rechtskräftigen  Rentenfestsetzung  nur  aus  den  gleichen 
Gründen  zulässig,  aus  welchen  auch  rechtskräftige  gericht- 
liche Urtheile  im  Wiederaufnahmeverfahren  umgestossen 
w'erden  können.  Das  ist  das  geltende  Recht,  und  dem  ent- 
spricht vollkommen  die  bisherige  Haltung  des  Reichsver- 
sicherungsamts  und  insbesondere  die  Revisionsentschei- 
dung 85. 

Eine  ganz  andere  Frage  ist  es  nun,  ob  dieser  Zustand 
so  erhebliche  Unzuträglichkeiten  mit  sich  führt,  dass  man 
an  eine  Abänderung  desselben  denken  müsste.  Dazu  würde 
es  eines  Akts  der  Gesetzgebung  nicht  gerade  bedürfen,  da 
die  Abänderung  der  Bestimmungen  über  die  Wiederauf- 
nahme durch  kaiserliche  Verordnung  mit  Zustimmung  des 
Bundesraths  vorgesehen  ist.  Wir  nehmen  jedoch  keinen 
Anstand,  unsere  Ansicht  dahin  auszusprechen,  dass  zu  einer 
solchen  Abänderung,  wenigstens  in  dem  Sinne,  wie  es  in 
dem  erwähnten  Falle  von  der  Versicherungsanstalt  ge- 
wünscht wurde,  unseres  Erachtens  kein  ausreichender  Grund 
vorliegt. 

Die  Behauptung,  dass  sich  die  Versicherungsanstalt 
dem  Versicherten  gegenüber  in  einer  ungünstigeren  Lage 
befinde,  dass  man  ihr  unbilliger  W eise  versage,  was  diesem 
gewährt  wird,  scheint  uns  theils  ganz  unzutreffend,  theils 
mindestens  arg  übertrieben.  Was  zunächst  das  Beispiel 
von  der  durch  Betrug  erschlichenen  Rente  betrifft,  so  hat 
sich,  w^enn  der  Bericht  korrekt  ist,  der  Vertreter  der  Ver- 
sicherungsanstalt einfach  geirrt.  Denn  das  kann  gar  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dass  in  diesem  Falle  die  Voraussetzun- 
gen der  §§  543  Ziffer  2,  544  Civilprozessordnung  — Urtheils- 
fällung  auf  Grund  einer  falschen  Urkunde  und  Feststellung 


No.  33. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


405 


durch  den  Strafrichter  — vorliegen;  hier  gestattet  also 
schon  das  gegenwärtige  Gesetz  die  Restitutionsklage, 
d.  h.  den  Erlass  eines  neuen  Rentenbescheides,  und 
wenn  die  Versicherungsanstalt  die  Rente  gleichwohl  weiter 
zahlt,  so  liegt  der  Fehler  an  ihr  und  nicht  an  dem 
Gesetze. 

Sehen  wir  aber  hiervon  ab  und  beschränken  wir  uns 
auf  den  Fall  eines  im  Wiederaufnahmeverfahren  nicht 
redressirbaren  Irrthums,  so  können  wir  nicht  zugeben,  dass 
die  Lage  des  Versicherten  eine  begünstigte  sei.  Soweit  es 
sich  um  einen  Irrthum  handelt,  der  erst  nach  eingetretener 
Rechtskraft  des  Bescheides  entdeckt  wird,  ist  die  Stellung 
beider  Theile  genau  die  gleiche;  keiner  von  beiden  kann 
eine  Berichtigung  verlangen.  Und  dass  die  Wahrschein- 
lichkeit eines  Irrthums  zu  Gunsten  des  Versicherten  etwa 
grösser  sei  als  die  eines  solchen  zu  seinem  Nachtheil,  wird 
man  doch  kaum  behaupten  können.  Liegt  dagegen  ein 
YTrsehen  vor,  das  alsbald  ermittelt  wird,  so  kann  allerdings 
der  Versicherte  gegen  den  erlassenen  Bescheid  Berufung 
einlegen,  die  Versicherungsanstalt  kann  es  nicht.  Aber  ehe 
man  deswegen  über  Unbilligkeit  klagt,  sollte  man  sich  doch 
die  Sache  näher  ansehen.  Der  Versicherte  hat  allerdings 
vier  Wochen  Zeit,  nach  Erlass  des  Bescheides  sich  zu 
überlegen,  ob  derselbe  zutreffend  ist  oder  seinen  Rechten 
zu  nahe  tritt.  Die  Versicherungsanstalt  hat  dagegen  eine 
gesetzlich  unbeschränkte  Frist  zu  dieser  Prüfung  vor  Er- 
lass des  Bescheides,  und  ihr  steht  zugleich  ein  so  voll- 
ständiges Material  dafür  zur  Verfügung,  wie  es  der  Ver- 
sicherte niemals  besitzt  und  garnicht  besitzen  kann.  Es 
kommt  nur  darauf  an,  dass  von  diesem  Material,  bezw.  von 
der  Möglichkeit,  sich  dasselbe  zu  verschaffen,  auch  der 
rechte  Gebrauch  gemacht  wird.  Wenn  freilich  eine  Ver- 
sicherungsanstalt nur  danach  sieht,  ob  die  Arbeitsbescheini- 
gungen formell  in  Ordnung  sind,  deren  Inhalt  und  die 
darin  bekundeten  thatsächlichen  Verhältnisse  aber  ohne 
jede  Kontrolle  als  wahr  annimmt,  dann  können  leicht 
Irrthtimer  in  grosser  Zahl  Vorkommen,  Renten  bewilligt 
werden,  die  nicht  hätten  bewilligt  werden  dürfen;  aber  die 
Schuld  darf  die  Versicherungsanstalt  dann  kaum  irgendwo 
anders  als  bei  sich  selber  suchen.  Und  dann  noch  eins. 
Der  Versicherungsanstalt  steht  ein  Recht,  gegen  ihren 
eigenen  Bescheid  Berufung  einzulegen,  freilich  nicht  zu. 
Wohl  aber  hat  dieses  Recht  der  Staatskommissar.  Lind  es 
müsste  doch  seltsam  zugehen,  wenn  der  Vorstand  der  Ver- 
sicherungsanstalt nicht  soviel  Fühlung  mit  dem  Staats- 
kommissar besitzen  sollte,  dass  es  ihm  ein  Leichtes  wäre, 
denselben  in  solchen  Fällen  zu  veranlassen,  von  seinem 
Rechte  Gebrauch  zu  machen.  Also  auch  hier  bietet 
sich  immer  noch  ein  Ausweg,  um  die  Interessen  der 
Anstalt  gegen  ihre  eigene  Nachlässigkeit  in  Schutz  zu 
nehmen. 

Weiter  reicht  diese  Möglichkeit  allerdings  nicht  als 
bis  zum  Ablauf  der  gesetzlichen  Rechtsmittelfrist.  Aber 
weiter  darf  sie  auch  nicht  reichen,  wenn  man,  und  das  ist 
doch  ganz  ausser  Frage,  auch  auf  dieses  Gebiet  die  Grund- 
sätze von  der  Rechtskraft  der  Entscheidungen  anwenden 
will,  und  weiter  reicht  sie  auch  für  die  Gegenpartei  nicht. 
Wer  das  nicht  für  ausreichend  hält,  der  sollte  sich  wohl 
überlegen,  wohin  sich  der  Vorwurf  richtet,  den  er  erhebt. 
Wenn  der  Anstaltsvorstand  alle  nur  irgend  zu  wünschende 
Gelegenheit  hat,  die  Sache  genau  zu  untersuchen  und  zu 
prüfen,  ehe  er  die  Entscheidung  trifft,  wenn  er  dann  noch 
die  gleiche  Frist  wie  der  Versicherte  hat,  um  durch  Ver- 
mittelung des  Staatskommissars  auf  die  Berichtigung  eines 
gleichwohl  unterlaufenen  Fehlers  hinzuwirken,  und  wenn 
er  trotzdem  nicht  im  Stande  ist,  sich  gegen  die  Folgen 
seiner  eigenen  Irrthümer  in  ausreichendem  Masse  zu 
schützen,  dann  allerdings  ist  es  nicht  wohlgethan  gewesen, 


ihm  das  wichtige  Amt  der  Rechtssprechung  zu  übertragen, 
von  dem  er  den  rechten  Gebrauch  nicht  zu  machen 
versteht. 

Wir  meinen  also,  dass  de  lege  lata  das  Reichs  ver- 
sicherungsamt garnicht  anders  wird  entscheiden  können, 
als  es  bereits  entschieden  hat,  und  dass  auch  de  lege  ferenda 
die  Forderung,  dass  es  der  Versicherungsanstalt  freistehen 
solle,  jederzeit  einen  begangenen  Irrthum  durch  Erlass 
eines  neuen  Bescheides  zu  korrigiren,  ganz  undiskutirbar 
ist,  weil  damit  dem  Rentenempfänger  jede  Rechtssicherheit 
genommen  würde.  Wohl  aber  lässt  sich  über  etwas  anderes 
reden.  Die  neue  sozialpolitische  Gesetzgebung  hat  ja  mit 
neuen  Verhältnissen  auch  manche  neuen  Spezialitäten  des 
Betruges  und  der  Täuschung  geschaffen.  Wohl  möglich, 
dass  zur  Erschleichung  von  Renten  und  zur  Hintergehung 
von  Versicherungsanstalten  häufig  Praktiken  angewendet 
werden,  welche  unter  die  Vorschriften  des  § 543  Civil- 
prozessordnung  sich  nicht  bringen  lassen  und  daher  keine 
Handhaben  zur  Wiederaufnahme  des  Verfahrens  bieten. 
Hat  die  Erfahrung  das  gelehrt,  so  muss  solchem  Unwesen 
ein  Riegel  vorgeschoben  werden.  Dazu  kann  aber  das 
Reichsversicherungsamt  nichts  thun  — wenigstens  nicht 
direkt,  sondern  nur,  indem  es  den  Erlass  einer  kaiserlichen 
Verordnung  beantragt,  die  auch  für  solche  Fälle  das  Wieder- 
aufnahmeverfahren zulässt.  Auf  Schutz  gegen  Betrügerei 
haben  die  Versicherungsanstalten  allerdings  Anspruch. 
Gegen  Irrthümer,  die  ihre  Organe  begehen,  ohne  dass  sie 
der  Gegner  durch  Täuschung  dazu  veranlasst  hat,  mögen 
sie  sich  selbst  schützen. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Arbeitsnachweis  in  Oesterreich. 

Der  im  Jahre  1885  gegründete  „Verein  für  Arbeitsver- 
mittlung“ in  Wien  ist  das  erste  und  bis  jetzt  einzige  Institut 
in  Oesterreich,  das  es  sich  zur  Aufgabe  gemacht,  einem, 
durch  die  Entwickelung  der  Grossindustrie  und  die  Er- 
weiterung des  Arbeitsmarktes  überaus  drückend  gewordenen 
Uebelstande  abzuhelfen. 

In  Bezug  auf  seine  Organisation  im  wesentlichen  dem 
Stuttgarter  Vereine  nachgebildet,  bietet  er  auf  vollkommen 
paritätischer  Grundlage  Unternehmern  und  Arbeitern  die 
Gelegenheit  auf  dem  Gebiete  des  Arbeitsnachweises  regelnd 
einzugreifen.  Leider  vermag  die  in  dem  Vereine  verkör- 
perte _ sozialpolitisch  werthvolle  Idee  bei  dem  Mangel 
energischer  Förderung  seitens  öffentlicher  Körperschaften 
und  bei  dem  Umstande,  als  die  Fabrikanten  in  ihrer  über- 
wiegenden Mehrheit  jedem  Versuche,  den  Arbeitsnachweis 
zu  organisiren,  passiven  Widerstand  entgegensetzen,  nur 
langsam  Wurzel  zu  fassen.  Nichts  destoweniger  weist  der 
Verein  seit  seinem  Bestände  eine  stetige  Steigerung  seiner 
Fhätigkeit  auf.  Er  konnte  in  Brünn  eine  Filiale  und  in 
Wiener-Neustadt  eine  Anmeldestelle  errichten. 

Die  Vermittlungsthätigkeit  umfasst  beinahe  ausschliess- 
lich qualifizirte  Arbeiter,  was  sich  aus  dem  LImstande  er- 
klärt, dass  die  an  den  Verein  sich  wendenden  Gewerbsin- 
haber  und  Fabrikanten  nur  solche  verlangen  und  der  Mangel 
eines  Arbeitsnachweises  für  qualifizirte  Arbeitskräfte  be- 
sonders fühlbar  hervortritt.  Indem  der  Verein  nach  Mass- 
gabe  seiner  knappen  Mittel  die  Härten  der  Arbeitslosigkeit 
zu  mildern  und  diese  selbst  so  rationell  als  möglich  abzu- 
kürzen sucht,  repräsentirt  er  einen  vielversprechenden  Keim, 
der  sich  zu  einer  umfassenden  Organisation  des  Arbeits- 
nachweises zu  entwickeln  vermag. 

Zum  I heile  erstreckt  sich  die  Thätigkeit  des  Vereins 
auch  auf  kleingewerbliche  Arbeiter;  vorwiegend  aber  macht 
die  mittlere  Grossindustrie  von  der  Vermittlung  Gebrauch, 
am  wenigsten  der  Handel. 


406 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  33. 


Es  gelangten  an  das  Bureau 


Nach  dem  letzten  Geschäftsberichte  pro  1891  er- 
streckte sich  die  Thätigkeit  des  Vereins  auf  folgende  Ge- 
werbe: 


Im 

ganzen 

vorge- 

merkt 

Hiervon 

ver- 

mittelt 

Anstreicher  und  Zimmermaler 

96 

33 

Bildhauer 

73 

37 

Binder  

60 

14 

Buchbinder 

147 

54 

Buch-,  Stein-  und  Kupferdrucker 

20 

10 

Ciseleure  und  Emailleure 

33 

20 

Dreher  

937 

313 

Drechsler  . • 

193 

34 

Eisen-,  Metall-  u.  Glockengiesser  u.  Former 

263 

102 

Färber  

5 

4 

Glaser 

20 

2 

Gold-,  Silber-  und  Juwelenarbeiter  .... 

4 

i 

Graveure  

13 

2 

Gürtler  und  Broncearbeiter 

260 

105 

Hafner  und  Thonöfenmacher 

1 

— 

Handschuhmacher 

1 

1 

Huf-  und  Wagenschmiede 

1 

— 

Installateure 

161 

58 

Kesselschmiede . 

106 

43 

Kupferschmiede 

37 

11 

Lackirer 

186 

68 

Maschinenbauer  

984 

291 

Maschinenwärter  und  Heizer 

632 

212 

Mechaniker 

142 

38 

Müller 

2 

1 

Riemer  und  Peitschenmacher 

101 

32 

Sattler 

216 

61 

Schlosser 

1098 

310 

Schmiede 

303 

64 

Spengler 

556 

219 

Tapezierer 

76 

20 

Taschner  

31 

12 

Tischler  und  Parquettenmacher 

1830 

861 

Uhrmacher 

20 

5 

Vergolder 

25 

11 

Wagner 

3 

1 

Zimmerleute 

6 

1 

Zinngiesser 

10 

2 

Comptoiristen,  Bureau-,  Haus-  und  Geschäfts- 
diener   

5 

3 

Fabriksarbeiterinnen 

487 

98 

Diverse  Gewerbe  

600 

228 

Kutscher 

209 

44 

Laufburschen  

191 

31 

Metallhilfsarbeiter 

124 

38 

571 

202 

Zusammen  . . . 

10749 

3698 

Aus  dieser  Zusammenstellung  ergiebt  sich,  dass  die 
Metallbranche  das  grösste  Kontingent  an  Stellensuchenden 
(ca.  55  pCt.)  stellte;  ihr  zunächst  kam  die  Holzbearbeitung. 

Seit  dem  Bestand  des  Vereins  werden  stellensuchende 
Personen 


Im  Jahre 

vorgemerkt 

vermittelt 
absolut  in  % 

1885 

1 616 

162 

10 

1886 

3 886 

852 

22 

1887 

5 514 

1 866 

34 

1888 

6 948 

2 660 

38 

1889 

7 334 

2 962 

40 

1890 

8 132 

3 409 

42 

1891 

9 540 

3 698 

39 

Zusammen  . . . 
Im  Durchschnitt  . 

. 42  970 

6 138 

15  582 
2 226 

36 

36 

Ueber  ein  Drittel  der  vorgemerkten  Personen  erhielten 
also  Arbeit  zugewiesen,  ein  Resultat,  das  erst  dann  richtig 
beurtheilt  werden  kann,  wenn  man  bedenkt,  dass  die  Vor- 
merkung arbeitsuchender  Personen  nach  Möglichkeit  be- 
schränkt wird,  und  dass  nicht  wenige  der  Stellensuchenden 
ihr  Vermerkgebühr  (10  Kr.)  verfallen  lassen  und  dann  aus 
den  Evidenzlisten  ausgeschieden  werden. 

In  welchem  Grade  die  Arbeitgeber  die  Thätigkeit  des 
Vereins  in  Anspruch  nehmen,  ergiebt  sich  aus  folgender 
Tabelle. 


Im  Jahre 

Aufträge 

für  Stellen 

hiervon  wurden 
besetzt 

absolut  in  u/0 

1885 

286 

300 

162 

41 

1886 

1 019 

1 318 

825 

62 

1887 

1 539 

2 524 

1 866 

74 

1888 

1 924 

3 433 

2 660 

77 

1889 

2219 

3 587 

2 962 

82 

1890 

3311 

4 748 

3 409 

72 

1891 

3 758 

4 985 

3 698 

74 

Zusammen  . . . 

. 14  053 

20  985 

15  582 

74 

Im  Durchschnitt  . 

. 2 007 

2 998 

2 226 

74 

Auch  das  Verhältnis  der  besetzten  Stellen  zu  den 
angemeldeten  ist  kein  sonderlich  günstiges  zu  nennen;  noch 
ungünstiger  würde  es  sich  gestalten,  wenn  auch  die  uner- 
ledigt gebliebenen  Aufträge  in  Evidenz  behalten  würden, 
was  übrigens  seit  1890  geschieht,  wodurch  der  scheinbare 
Rückgang  in  diesem  und  dem  folgenden  Jahre  sich  erklärt. 

Was  die  Nachfrage  nach  Arbeitskräften  in  Bezug  auf 
die  Jahreszeit  betrifft,  so  ist  dieselbe  in  den  Monaten  August 
und  September  am  stärksten,  also  im  Hochsommer  und  vor 
Beginn  des  Herbstes,  da  die  Arbeitsthätigkeit  in  allen  Ge- 
werben der  höchsten  Anspannung  bedarf,  um  die  Anforde- 
rungen der  kommenden  Wintersaison  zu  befriedigen. 

Im  Jahre  1891  vertheilten  sich  die  Aufträge  der  Arbeit- 
geber nach  Monaten,  wie  folgt: 


Monat 

Aufträge 

für  Stellen 

Januar  . . . . 

215 

287 

Februar  . . . 

226 

305 

März 

274 

356 

April  . . . . 

317 

400 

Mai 

359 

497 

Juni 

339 

463 

Juli 

364 

471 

August  . . . . 

394 

542 

September  . . 

418 

564 

Oktober  . . . 

387 

531 

November  . . 

277 

348 

Dezember  . . 

188 

221  ( 

Zusammen  . . 

3758 

4985  1 

Im  Durchschnitt 

313 

415. 

Der  Wirkungskreis  des  Vereins  erstreckt  sich  auf  ganz 
Cisleithanien;  die  meisten  Stellen  werden  für  Wien  und 
Umgebung,  dann  für  das  übrige  Niederösterreich  vermittelt; 
doch  gelangen  selbst  Arbeitsstellen  in  den  Balkanstaaten 


zur  Besetzung. 

Im  Jahre  1891  werden  besetzt  in 

Stellen 

Wien  und  Umgebung 3148 

Niederösterreich  ...  ....  345 

Oberösterreich  und  Salzburg  ...  20 

Steiermark  und  Kärnten 17 

Tirol 3 

Mähren 34 

Schlesien 4 

Böhmen 15 

Ungarn 93 

Bosnien 8 

Rumänien 6 

Serbien 2 

Bulgarien 3 


Zusammen  . . . 3698. 


Die  Brünner  Filiale  hat  seit  ihrer  im  Jahre  1889  er- 
folgten Gründung  1630  Arbeitszuweisungen  vorgenommen; 
wie  in  der  Centrale  Wien  überwiegt  natürlich  auch  hier 
das  Angebot  der  Arbeitskräfte  weitaus  die  Nachfrage.  Als 
wesentliche  Ursache  wird  der  flaue  Geschäftsgang  ange- 
geben. 

Aber  abgesehen  davon  sowie  von  der  Thatsache,  dass 
die  Gewerkschaften  und  Fachvereine  dem  Arbeitsnachweise 
erhöhte  Aufmerksamkeit  zuzuwenden  beginnen,  will  es  dem 
Verein  aus  einem  anderen  Grunde  nicht  recht  gelingen,  die 
Arbeitsvermittlung  in  seinem  Bereiche  zu  vereinen  und 
massgebenden  Einfluss  auf  den  Arbeitsmarkt  zu  gewinnen: 
Die  mangelnde  Unterstützung  der  Interessentenkreise,  vor 
allem  der  Fabrikanten,  und  die  fehlende  Förderung  durch 
die  staatlichen  und  kommunalen  Faktoren  verhindern  den 
Verein  an  der  Durchführung  der  nothwendigen  Dezentrali- 
sation und  Ausbreitung  seiner  Thätigkeit.  Ohne  die  ener- 


No.  33. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


407 


gische  Förderung  der  genannten  Faktoren  wird  der  Verein 
in  absehbarer  Zeit  nicht  im  Stande  sein,  den  Bedürfnissen 
der  eigentlichen  Grossindustrien,  für  die  er  in  erster  Linie 
berechnet  ist  und  die  sich  gegenwärtig  von  ihm  noch  ferne 
hält,  zu  entsprechen. 

Der  Arbeitsnachweis  bedarf  in  Österreich  einer  grund- 
legenden Regelung;  erst  durch  die  Organisation  desselben 
wird  das  immer  dringender  werdende  Bediirfniss  nach  einer 
Statistik  der  Arbeitslosen  befriedigt  werden  können. 


Entwurf  eines  badischen  Anerbenrechtsgesetzes.  Im 

badischen  Justizministerium  ist  eine  auf  das  bäuerliche  Erb- 
recht in  Baden  bezügliche  Denkschrift  nebst  dem  Entwurf  eines 
Gesetzes  über  das  Änerbenrecht  ausgearbeitet  und  Ende  Juli 
d.  Js.  an  die  in  Betracht  kommenden  Stellen  im  Lande  zur  Be- 
gutachtung übermittelt  worden.  Der  Zweck  des  Anerbenrechts- 
Gesetzentwurfs  ist,  eine  Ueberlastung  des  Anerben  zu  ver- 
hindern, indem  dem  Anerben  das  Recht  zustehen  soll,  zu  ver- 
langen, dass  ihm  bei  der  Auseinandersetzung  das  Anerbengut 
mit  Zubehör  gegen  Ersatz  der  Hälfte  des  laufenden  Verkaufs- 
werths überlassen  wird,  soweit  dieses  geschehen  kann,  ohne 
dass  der  Pflichttheil  der  Miterben  auf  weniger  als  ein  Viertheil 
des  gesetzlichen  Erbtheils  beschränkt  wird.  Der  Anerbe  ist 
verpflichtet,  für  die  Forderungen,  welche  den  Miterben  wegen 
Uebernahme  des  Gutes  gegen  ihn  zustehen,  hypothekarische 
Sicherheit  an  dem  Anerbengut  und  erforderlichenfalls  an  anderen 
inländischen  Grundstücken  innerhalb  der  ersten  zwei  Drittheile 
des  Werthes  zu  bestellen.  Soweit  er  solche  Hypotheken  nicht 
zu  gewähren  vermag,  hat  er  tüchtige  Bürgen  zu  stellen.  Tritt 
das  Anerbenrecht  ein,  so  kann  bis  zur  Auseinandersetzung  der 
Antheil  eines  Anerben  an  dem  Anerbengut  ohne  Zustimmung 
der  übrigen  Erben  nicht  veräussert  oder  belastet  werden,  unbe- 
schadet der  Zulässigkeit  der  Zwangsvollstreckung  wegen  einer 
Nachlassverbindlichkeit.  Gehören  zu  einem  Nachlass  mehrere 
Anerbengüter,  so  kann  jeder  Berechtigte  nach  der  Reihenfolge 
seiner  Berufung  die  Ueberlassung  eines  Anerbenguts  verlangen. 
Eheliche  Kinder  gehen  den  unehelichen  vor;  legitimirte  Kinder 
stehen  den  ehelichen  gleich.  Der  Erblasser  kann  durch  Ver- 
fügung von  Todeswegen  das  Anerbenrecht  ausschliessen  oder 
beschränken;  er  kann  einen  seiner  Abkömmlinge  nach  freier 
Wahl  zum  Anerben  ernennen.  Liegt  eine  solche  Verfügung 
nicht  vor,  so  ist  als  Anerbe  berufen  der  jüngste  Sohn  und  in 
Ermangelung  von  Söhnen  und  Abkömmlingen  von  solchen  die 
älteste  Tochter.  An  Stelle  eines  vorverstorbenen  Kindes  treten 
dessen  Abkömmlinge  nach  den  für  die  Kinder  geltenden  Grund- 
sätzen. Weitere  Bestimmungen  betreffen  das  Anerbenrecht  bei 
Gütergemeinschaft.  Dem  Anerbenrecht  sollen  nach  dem  Gesetz- 
entwurf unterliegen:  1.  die  geschlossenen  Hofgüter  mit  Zube- 

hör, 2.  alle  sonstigen  landwirthschaftlichen  Wohnungen,  ein- 
schliesslich Scheuer,  Stallung,  Hof  und  Hausgarten.  Der  im 
Anschluss  an  die  landwirthschaftlichen  Erhebungen  des  Jahres 
1883  in  der  ersten  Kammer  der  Landstände  gegebenen  Anregung 
auf  Adoptirung  des  in  Preussen  geltenden  Systems  der  Höfe- 
rolle werde,  so  heisst  es  in  der  Begründung,  wohl  kaum  Folge 
zu  geben  sein,  da  die  Erfahrung  gezeigt  hat,  dass  die  bäuerliche 
Bevölkerung  von  dem  Recht  des  Eintrags  in  die  Höferolle 
keinen  oder  nur  selten  Gebrauch  macht  und  dass  daher,  wo 
diese  Eintragung  die  Voraussetzung  der  Wirksamkeit  der  Anerben- 
rechtsvorschriften bildet,  die  erwarteten  Wirkungen  der  betr. 
Gesetzgebung  ausblieben.  Man  wird  deshalb  erwägen  müssen, 
ob  etwa  die  Erlassung  eines  gesetzlichen  Intestatanerbenrechts 
zu  befürworten  ist,  der  Art  also,  dass,  sofern  der  Gutsbesitzer 
unter  Lebenden  oder  auf  den  Todesfall  nichts  anderes  verfügt 
hat,  das  Gut  kraft  Gesetzes  an  eines  der  Kinder  ungetheilt 
übergeht  und  von  diesem  Kind  unter  den  besonderen  Normen 
des  Anerbenrechts  übernommen  werden  kann  Die  Schwierig- 
keit einer  Regelung  des  Anerbenrechts  in  diesem  Sinne  liegt 
nun  offenbar  darin,  dass  das  Geltungsgebiet  solcher  Vorschriften 
über  das  Anerbenrecht  und  die  dem  Anerbenrecht  zu  unter- 
werfenden Arten  von  landwirthschaftlichen  Anwesen  durch  das 
Gesetz  selbst  die  nähere  Begrenzung  erfahren  müssen  Das 
Geltungsgebiet  zu  fixiren,  würde  zwar  überwiegende  Schwierig- 
keiten nicht  bieten,  da  hierfür  füglich  die  seitherige  Gewohnheit 
und  LTebung  als  massgebend  erklärt  werden  könnte,  wohl  aber 
wird  es  nicht  leicht  sein,  die  landwirthschaftlichen  Anwesen 
selber,  für  welche  innerhalb  der  betreffenden  Gemeinden  ein 
Bedürfniss  der  Unterstellung  unter  das  Anerbenrecht  besteht 
(jedenfalls  nur  für  die  Anwesen  grösseren  und  mittleren  Um- 
fangs) als  solche  zu  charakterisiren  und  eine  Untergrenze  der 
Anwesen  festzustellen,  jenseits  deren  die  Anwendung  des  Ge- 
setzes entfallen  soll;  namentlich  kommt  hierbei  in  Betracht,  ob 
etwa  der  Flächengehalt  oder  wohl  besser  der  Steuerkapitalwerth 
des  Anwesens  das  entscheidende  Kriterium  abzugeben  und  von 
welcher  Grösse  bezw.  welchem  Werthbetrag  an  aufwärts  die 
Unterstellung  unter  das  Anerbenrecht  zu  beginnen  habe.  Es 
könnte  wohl  auch  in  Frage  kommen,  ob  festzustellen  wäre,  ob 
und  in  welchem  Umfang  bestehender  Uebung  gemäss  bäuer- 
liche Anwesen  in  Erbfällen  ungetheilt  an  einen  Erben  über- 


gehen und  dann  die  Fortdauer  dieser  Uebung  innerhalb 
der  ermittelten  Grenzen  durch  gesetzliche  Vorschrift  zu 
sichern  sei. 

Ortsstatut  über  Lohnzahlung  in  Augsburg.  Eine 
empfehlenswerthe  Massnahme  traf  der  Augsburger  Magistrat, 
indem  er  unter  Hinweis  auf  § 115  a der  Gewerbeordnung 
verordnete,  dass  in  der  Regel  Wirthschaften  oder  sonstige 
Schankstätten  oder  Verkaufstellen  zur  Vornahme  von  Lohn- 
auszahlungen nicht  benützt  werden  dürfen  und  dass  eine 
Abweichung  von  dieser  Regel  nur  mit  besonderer  polizei- 
licher Genehmigung  zulässig  ist.  Eine  solche  — stets 
widerrufliche  - — Genehmigung  wird,  wie  es  in  der  Bekannt- 
machung heisst,  nur  in  seltenen  Ausnahmefällen  ertheilt 
werden. 

Reform  der  Gesindeordnung  in  Wien.  Ueber  den  Stand 
derselben  wurde  in  der  Sitzung  des  wiener  Gemeinderathes 
vom  1.  August  d.  Js.  auf  Anfrage  eines  Mitgliedes  folgende  amt- 
liche Auskunft  ertheilt.  Die  Revision  ist  seit  1883  (!)  im  Gange 
und  hat  nach  mehrfachen  Differenzen  mit  der  staatlichen  Auf- 
sichtsbehörde zur  Ausarbeitung  eines  Entwurfes  geführt,  der 
jetzt  folgende  Bestimmungen  unter  möglichster  Berücksichtigung 
der  von  Anton  Menger  in  seinen  Abhandlungen  über  das  bürger- 
liche Recht  und  die  besitzlosen  Volksklassen  aufgestellten 
Forderungen  enthält  Das  Dienstverhältniss  beruht  auf  einem 
schriftlichen  oder  mündlichen  Dienstvertrage  zwischen  Dienst- 
herrn und  Dienstboten.  Auch  Ammen  unterstehen  der  Dienst- 
botenordnung. Das  Geben  und  Nehmen  der  Angabe  gilt  als 
Beweis,  dass  der  Dienstvertrag  abgeschlossen  worden  ist.  Das 
Dienstverhältniss  kann  nach  vorausgegangener  vierzehntägiger 
Kündigung  gelöst  werden,  soferne  nicht  eine  andere  Verein- 
barung getroffen  ist.  Der  Dienstherr  kann  den  aufgenommenen 
Dienstboten  die  Aufnahme  verweigern,  wenn  er  dies  dem  Dienst- 
boten 48  Stunden  vorher  bekannt  giebt  und  demselben  den 
vierten  Theil  des  bedungenen  Monatslohnes  bezahlt.  Auch  der 
Dienstbote  kann  binnen  24  Stunden  nach  erfolgter  Aufnahme 
zurücktreten,  in  welchem  Falle  die  erhaltene  Angabe  zurückzu- 
stellen ist.  Weigert  sich  der  Dienstbote,  ungerechtfertigt  den 
Dienst  anzutreten,  so  ist  er  polizeilich  zu  bestrafen  und  eventuell 
zwangsweise  zum  Dienstantritte  zu  verhalten.  Weiter  ist  be- 
stimmt, dass  der  Dienstbote  durch  den  Dienstesantritt  Hausge- 
nosse des  Dienstherrn  und  unter  dessen  Aufsicht  gestellt  wird. 
Der  Dienstherr  hat  das  Recht,  dem  Dienstboten  Zurechtweisungen 
zu  erth eilen,  denselben  unter  gewissen  Voraussetzungen  sofort 
zu  entlassen  und  eventuell  die  Hilfe  der  Behörde  in  Anspruch 
zu  nehmen.  Dem  Dienstboten  dürfen  nicht  schwerere  Arbeiten 
aufgebürdet  werden,  als  derselbe  nach  seinen  Kräften  zu  leisten 
vermag.  Auch  darf  die  tägliche  Arbeitszeit  des  Dienstboten 
nicht  zum  Nachtheile  seiner  Gesundheit  über  das  seinem  Lebens- 
alter entsprechende  Ausmass  verlängert  werden.  Der  Dienst- 
bote darf  gegen  das  Verbot  des  Dienstherrn  keine  Besuche 
empfangen;  dagegen  hat  der  Dienstherr  dem  Dienstboten  eine 
freie  Zeit  zu  seiner  Erholung  und  zur  Besorgung  seiner  eigenen 
Angelegenheiten  zu  bewilligen.  Der  Lohn  ist  monatlich  nach- 
hinein auszubezahlen.  Zu  den  Gründen,  welche  den  Dienst- 
boten berechtigen,  den  Dienst  sofort  zu  verlassen,  gehören 
unter  Anderm,  wenn  der  Dienstbote  ohne  Schädigung  seiner 
Gesundheit  oder  Ehre  den  Dienst  nicht  fortsetzen  kann;  wenn 
der  Dienstbote  misshandelt  oder  zu  unsittlichen  oder  unerlaubten 
Handlungen  verleitet  wird;  wenn  der  Dienstherr  sein  Domicil 
ausserhalb  Wien  verlegt;  wenn  die  Eltern  des  Dienstboten  plötz- 
lich erkranken  und  der  Dienstbote  zu  deren  Pflege  nothwendig 
ist;  wenn  erwiesenermassen  die  Verpflegung  zur  Sättigung  nicht 
hinreichend  oder  das  Obdach  gesundheitsschädlich  oder  anstand- 
verletzend ist.  Endlich  soll  die  Regierung  gebeten  werden,  die 
Stempel-  und  Gebührenfreiheit  für  Dienstbotenstreitigkeiten  zu- 
zugestehen, was  sie  bisher  verweigerte.  Ob  die  Revision  nun- 
mehr schneller  vorrücken  wird,  ist  aus  der  Gemeinderathsver- 
handlung nicht  zu  ersehen. 

Der  Montag  und  die  Fabrikunfälle.  Bei  der  Unter- 
suchung, welcher  Wochentag  der  unfallreichste  sei,  hat  der 
schweizerische  Fabrikinspektor  Dr.  .Schüler  den  Montag  am 
stärksten  belastet  gefunden  und  daraus  geschlossen,  es 
müsse  hier  der  am  Sonntag  genossene  Alkohol  nachwirken. 
Der  „St.  Galler  Stadtanzeiger“  bezweifelt  dies  und  beruft  sich 
auf  eine  andere  Untersuchung,  auf  diejenige  des  Gewerbe- 
inspektors in  Wien.  Des  Letztem  Untersuchung,  die  ver- 
gangenes Jahr  stattgefunden,  hat  ergeben,  dass  am  Montag 
682,  am  Dienstag  776,  am  Mittwoch  789,  am  Donnerstag  713, 
am  Freitag  776,  am  Samstag  775  und  am  Sonntag  134  Un- 
fälle vorgekommen  sind.  Es  entfällt  also  hier  auf  den  Mon- 
tag die  kleinste  Zahl  von  Unfällen.  „Man  wäre“,  bemerkt 
hierzu  der  Gewerbeinspektor,  „versucht,  aus  diesem  Re- 
sultate den  Schluss  zu  ziehen,  dass  der  Montag  hinsichtlich 
der  Linfallgefahr  der  günstigste  Wochentag  ist,  weil  die 
meisten  Arbeiter  an  diesem  Tage  mehr  ausgeruht  zur  Arbeit 
kommen.“ 


408 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  33. 


Nothlage  in  der  schweizerischen  Uhrenindustrie.  Von 

Seite  der  Arbeitervertreter  wurde  im  Grossen  Rath  von 
Neuenburg  die  Bildung  einer  Kommission  angeregt  und  gut- 
geheissen, die  Mittel  und  Wege  zur  wirksamen  Bekämpfung 
der  Krisis  in  der  Uhrenindustrie  studiren  und  besonders  die 
Frage  der  Errichtung  von  Leihkassen  untersuchen  sollte.  Die 
Kommission  empfiehlt  nun  heute  die  Inangriffnahme  öffent- 
licher Arbeiten.  Die  Errichtung  einer  Industriebank,  welche 
bedrängten  Fabrikanten  gegen  Hinterlegung  von  Waaren 
Vorschüsse  leistet  und  Errichtung  von  Leihkassen,  denen 
keine  Zinsen  bezahlt  werden  müssen.  Diese  letzteren 
Kassen  würden  zu  Gunsten  derjenigen  Arbeiter  zu  errichten 
sein,  welche  keine  Armenunterstützung  begehren  und  doch 
einer  augenblicklichen  Hilfe  bedürfen.  Es  soll  den  Ge- 
meinden überlassen  werden,  zu  bestimmen,  auf  welche 
Weise  die  Kassen  zu  alimentiren  sind.  Die  Darlehen  werden 
nicht  den  Gesuchstellern  baar  bezahlt,  sondern  werden  in 
der  Weise  geleistet,  dass  die  Kasse  bei  Lieferanten  und 
Vermiethern  während  einer  gewissen  Zeit  für  einen  be- 
stimmten Betrag  garantirt.  Der  von  diesem  Kredit  Gebrauch 
machende  Arbeiter  ist  für  den  von  ihm  beanspruchten  Be- 
trag Schuldner  der  Leihkasse;  an  diese  ist  die  Schuld  in 
bestimmten  Raten  zurückzubezahlen;  dem  Schuldner  bleibe 
überlassen,  freiwillig  einen  Zins  von  1 pCt.  zu  entrichten. 


Arbeiterzustände. 


Lolinverliältiiisse  und  Arbeitszeit  der  Fabrikarbeiter  auf 
dem  thüringer  Walde.  In  seinem  neuen  Jahresberichte  für 
1891  macht  der  Fabrikinspektor  für  das  Fürstenthum  Schwarz- 
burg-Rudolstadt  folgende  werthvolle  Angaben:  „Nachdem 
ich  vor  12  Jahren  kurze  Angaben  über  den  Tagesverdienst  der 
Arbeiter  gemacht  habe,  bin  ich  in  diesem  Jahre  bemüht  gewesen, 
eine  Lohnstatistik  aufzustellen,  welche  folgendes  Ergebniss  ge- 
habt hat:  Beim  Eisensteinbergbau  wird  in  9stündiger 

Schicht  2,5  M.  verdient.  In  den  Kohlengruben  bei  10  stündiger 
Schicht  2,6— 2,9  M.  Bei  Gewinnung  von  Kupferschiefer  in  acht 
Stunden  2,6  M.  Bei  der  Saline  1,25— 1,5  M.,  ausserdem  für  jede 
Sonntags-  oder  Nachtschicht  1,5  M.  Im  Sommer  wird  9 Stunden, 
im  Winter  8 Stunden  gearbeitet,  ausserdem  in  bestimmtem 
Wechsel  das  Feuer  unter  den  Siedepfannen  Sonntags  und  in 
der  Nacht  unterhalten.  In  den  Schieferbrüchen  zahlt  man 
im  Allgemeinen  bei  10  stündiger,  im  Sommer  bei  11  stündiger  Arbeit 
2,1  M an  erwachsene  Arbeiter,  2,5—2,75  M.  an  Vorarbeiter,  1,35 
an  Frauen,  0,7— 1,1  M.  an  jugendliche  Arbeiter.  Bei  starkem 
Betriebe  kommen  auch"  ausnahmsweise  12  Arbeits- 
stunden vor.  Griffelschieferarbeiter  verdienen  etwa  1,75  M. 
bei  10 stündiger  Arbeit.  In  den  Ziegeleien  wird  meist  zehn 
Stunden,  aber  auch  II  Stunden,  ‘ in  sehr  seltenen  Fällen 
11 V2  Stunden,  gearbeitet.  Vorarbeiter  verdienen  bis  3 M.  Die 
Porzellanfabriken  arbeiten  meist  10  Stunden,  eine  einzige 
arbeitet  9 Stunden,  wenige  arbeiten  im  Sommer  11  Stunden, 
in  manchen  kommen  zur  Herbstzeit  besonders  bezahlte  U eber- 
stunden vor.  Die  Akkordarbeiter  binden  sich  nicht  an  die 
vorgeschriebene  Zeit,  arbeiten  oft  nur  8—9  Stunden,  ebenso  die 
Frauen,  welche  in  der  Wirthschaft  zu  thun  haben.  Abgesehen 
von  den  künstlerisch  ausgebildeten  Modelleuren,  zum  Theil  auch 
Malern,  welchen  ein  Gehalt  von  1500—3000  M.  gezahlt  wird, 
verdienen  die  Obermaler  4M.,  meistens  aber  in  besseren  Fabri- 
ken 5 M.  Bei  den  Lohnsätzen  der  gelernten  Arbeiter  macht 
sich  ein  Unterschied  nach  der  Richtung  hin  nicht  bemerkbar, 
ob  sich  die  Fabrik  in  einer  Stadt,  in  der  Nähe  derselben  oder 
auf  dem  Gebirge  befindet.  Der  Lohnsatz  steht  eher  im 
Gebirge  höher.  Der  Verdienst  stellt  sich  im  Durchschnitt  so, 
dass  die  jugendlichen  Arbeiter  mit  0,8— 1,0  M.  beginnen,  wobei 
der  niedrigere  Satz  für  Mädchen  gilt,  bis  zum  2lf  Jahre  1,5— 2,0 
Mark  erreichen  und  als  ausgelernte  Arbeiter  im  Durchschnitt 

2.5  aber  auch  3,0  M erhalten.  Die  Frauen  verdienen  im  Tage- 
lohn 1,5 — 2,0  M,  können  als  Formerinnen  und  dergl.  aber  bis  auf 

2.5  M.,  wenn  auch  ausnahmsweise,  kommen.  Selbstverständlich 
hängt  gerade  in  der  Porzellanfabrikation  alles  von  der  Geschick- 
lichkeit und  dem  Fleisse  des  einzelnen  Arbeiters  ab,  es  steht 
damit  im  Zusammenhänge  die  Qualität  des  Produktes,  insofern 
für  schlechte  Massenartikel  auch  weniger  an  Arbeitslohn  gezahlt 
wird.  Mädchen  fangen  da  mit  0,7  M.  an  und  Frauen  erhalten 
nur  1,3— 1,6  M.,  halten  aber  oft  die  Arbeitszeit  nicht  inne. 
Noch  geringeren  Verdienst  erzielen  in  der  Haus- 
industrie die  Verfertiger  von  Puppenbälgen,  welche 
letztere  in  den  Porzellanfabriken  abgenommen  und  weiter  ver- 
breitet werden.  In  den  Glashütten  erhält  der  Auszieher, 
nämlich  derjenige  Arbeiter,  welcher  die  Rohre  zieht  und 
die  Geschicklichkeit  besitzt,  den  jedesmal  vorgeschriebenen 


äusseren  und  inneren  Durchmesser  zu  treffen,  4,0  ja  bis  6,5  M. 
Aeltere  Glashüttenarbeiter  verdienen  bis  4,0  M.  im  Akkord,  im 
Durchschnitt  2,5— 3,0  M,  Tagelöhner  1,7  M.  Die  Schicht  dauert 

10  Stunden.  Thermometermacher  arbeiten  ebenfalls  10,  aber 
auch  11  Stunden  und  verdienen  2,0,  jugendliche  0,5  M.  Da,  wo 
feinere  Arbeiten,  Alkoholometer  und  dergl.  gefertigt  werden, 
erreicht  der  Verdienst  bis  3,0  M Die  Glasbläser,  Verfertiger 
von  Perlen  und  Blumen,  beschäftigen  vielfach  Frauen  und 
Mädchen  zum  Füllen  und  Färben  der  Fabrikate.  Bei  Ver- 
arbeitung der  Metalle  stellt  sich  der  Verdienst  auf  2,2  bis 

2.4  M.  In  Maschinenfabriken  und  Eisengiessereien  wird  11  Stun- 
den gearbeitet.  Es  erhalten  die  Schmiede  2,0— 3,0,  die  Schlosser 
und  Dreher  2,5 — 4,0,  die  Giesser  3,0— 4,0  M.  In  der  Pianoforte- 
und  Klaviaturfabrikation  wird  bei  10,  selten  11  Stunden 
Arbeit  2,5 — 3,0,  von  einzelnen  4,0,  im  Durchschnitt  2,75  M.  ver- 
dient In  Bleiweissfabriken  wird  im  Winter  9 Stunden,  im 
Sommer  10  Stunden,  selten  1 0l/a  Stunden  gearbeitet,  die  Arbeiter 
erhalten  durchschnittlich  2,3,  aber  auch  2,0  und  dazu  0,13  M. 
Kostgeld.  Die  Zündholzarbeiter  erhalten  2,0,  Frauen  1,0, 
jugendliche  Arbeiter  0,7  und  Kinder  0,25  M.  (! !)  Die  Spin- 
nereien arbeiten  meist  10  Stunden  im  Winter  und  11  Stunden 
im  Sommer.  Die  Meister  verdienen  2l/2 — 4,0,  die  Männer  2,0, 
die  Frauen  0,9 — 1,0,  an  Stühlen  1,5,  die  Mädchen  0,6 — 1,0  M, 
Kinder  unter  14  Jahren  für  die  Stunde  5—6  Pf.  In  den 
Schlauch-  und  Gurtwebereien  und  Seilereien  ist  die 
Arbeitszeit  die  gleiche,  die  Weber  erhalten  3,0—2,75,  die  Spinner 
1,5— 2,0,  jugendliche  Arbeiter  0,8 — 1,1,  Mädchen  0,75  M In  der 
Färberei  wird  II  Stunden  gearbeitet.  Die  Gerber  arbeiten 

11  Stunden,  die  Gesellen  erhalten  durchschnittlich  2,5,  selten 
2,0,  die  gewöhnlichen  Arbeiter  1,7— 2,0,  jugendliche  1,0  bis 

1.5  M.  In  den  Holzstofffabriken  dauert  die  Schicht  10  bis 
11  Stunden;  der  Durchschnittsverdienst  der  Männer  ist  2,0, 
seltener  2,5,  es  kommt  aber  auch  3,0  M.  vor,  der  der  Frauen 
1,0— 1,3,  der  jugendlichen  Arbeiter  1,0  M.  In  der  Holzindustrie, 
Kistenmacherei,  wird  10—11  Stunden  gearbeitet.  Die  Männer 
verdienen  2,0— 2,5,  gelernte  Arbeiter  3,0,  in  Akkord  bis  4,0  M. 
Vergolder  bis  5,0  M.  Kinder  unter  14  Jahren  erhalten  für  die 
Stunde  4 Pf.,  können  aber  in  Akkord  bis  80  Pf.  verdienen. 
Perlmutterarbeiter  erhalten  1,5— 2,0  M.  bei  10  stündiger 
Arbeitszeit,  bei  gewissen  Arbeiten,  z.  B.  Oesenknöpfen,  kann 
ausnahmsweise  einmal  4 M verdient  werden.  Cigarren- 
arbeiter erhalten  1,2 — 1,8  M.,  dazu  noch  wöchentlich  21  bis 
30  Stück  Cigarren,  weibliche  Arbeiter  1,2 — 1,3,  Wickelmache- 
rinnen 0,7— 0,9  M.  In  der  Zuckerfabrik  dauert  die  Schicht 
10  Stunden,  der  Durchschnittsverdienst  der  Männer  beträgt  1.6, 
der  der  Frauen  0,9  M.  Ueberstunden  werden  besonders 
vergütet.  In  den  Brauereien  kann  man  den  Durchschnitts- 
verdienst zu  2,5  annehmen,  sonst  wird  auch  meist  neben  1,4  bis 

1.6  M.  Lohn  noch  die  Kost  gewährt.  Ausserdem  erhält  jeder 

Arbeiter  täglich  4 Liter  Bier.  In  der  Filzhutfabrik  wird  nur 
9 Stunden  gearbeitet,  der  Verdienst  ist  je  nach  der  Geschick- 
lichkeit sehr  verschieden  2,5 -4,0  M.  Frauen  erhalten  1,0,  selten 
1,5  M.  In  der  Strohhutfabrik  dauert  die  Arbeit  11  Stunden,  (in 
der  Saison  mit  3 Ueberstunden)  bei  einem  Verdienst  von  2,0  bis 
2,3  M.  Frauen  erhalten  1,1  M In  den  Druckereien 
wird  10  Stunden  gearbeitet,  die  Meister  erhalten  4,0 — 5,0,  die 
Setzer  3,0— 4,0,  die  Drucker  3,0,  die  Frauen  1,5  M.“  Und  zu 
diesen,  mindestens  mit  Bezug  auf  die  Bezahlung  weiblicher  und 
jugendlicher  Arbeit,  sowie  die  Arbeitszeit  nicht  sehr  erfreulichen 
Ergebnissen  seiner  fleissigen  Erhebung  macht  der  Fabrikinspektor 
folgende  bezeichnende  Anmerkung:  „Auflallend  erscheint  mir, 

dass  seit  zwölf  Jahren  eine  Steigerung  der  Löhne  nicht 
deutlicher  zu  erkennen  ist.  Man  wird  wohl  annehmen  dürfen, 
dass  die  verzeichneten  Löhne  dem  Durchschnitt  in  Deutschland 
entsprechen.  Die  Lebensmittel  im  thüringer  Walde  sind 
theurer,  als  im  freien  Lande,  weil  Brodkorn,  Kolonialwaaren 
und  dergl.  herangeschafft  werden  müssen  und  man  zufrieden 
ist,  wenn  die  Lieblingsspeise  der  Bewohner,  die  Kar- 
toffel, in  ausreichender  Menge  geerntet  wird.  Auch  das  Brenn- 
material ist  nicht  so  billig,  als  man  anzunehmen  pflegt.  Trotz- 
dem glaube  ich,  dass  der  Verdienst  für  eine  ordentliche  und 
sparsame  Familie  leidlich  ausreicht,  treten  indessen  Krank- 
heiten und  Theuerung  ein,  wie  im  letzten  Jahre,  dann 
mag  es  einem  Familienvater  recht  sauer  werden,  in 
Ehren  durchzukommen  und  der  Wunsch  liegt  nahe,  es  möchte 
sich  der  Weltmarktpreis  der  Erzeugnisse,  der  durch  Ueber- 
produktion,  mehrfach  zu  niedrig  stehen  soll,  so  gestalten,  dass 
es  dem  Arbeitgeber  möglich  wäre,  seinen  Arbeitern  einen  aus- 
kömmlicheren Verdienst  zu  gewähren.“ 

Arbeiterstatistik  des  Fabrikinspektors  für  das  Gross- 
herzogthum  Altenburg.  Zu  den  wenigen  deutschen  Ge- 
werbeaufsichtsbeamten, welche  ausserhalb  des  Königreichs 
Sachsen  eine  regelmässige  und  vollständige  Arbeiterstatistik 
führen,  gehört  auch  der  Fabrikinspektor  für  das  Gross- 
herzogthum Altenburg,  aus  dessen  neuesten  Bericht  für 
1891  kürzlich  (in  unserer  No.  29)  interessante  Lohndaten 
mitgetheilt  wurden.  Nunmehr  soll  die  Entwickelung  der 
altenburgischen  Fabrikarbeiter bevölkerung  seit  1888  nach 
den  Jahresberichten  dieses  Beamten  dargestellt  werden. 
Danach  betrug  die  Zahl: 


No.  33. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


409 


im 

Jahre 

der  erwachsenen 
Arbeiter 

der  jugendlichen 
Arbeiter 

der  kindlichen 
Arbeiter 

männl. 

weibl. 

männl.  weibl. 

männl. 

weibl. 

1888 

7230 

2842 

448 

276 

245 

111 

1889 

7804 

3055 

478 

337 

238 

108 

1890 

8188 

3339 

803 

324 

1891 

8756 

3690 

554 

266 

243 

87 

An  dieser  Statistik  ist  erfreulich,  namentlich  angesichts 
des  vielfach  ländlichen  Charakters  der  altenburgischen 
Industrie,  die  regelmässige  Abnahme  der  kindlichen  und  die 
nicht  anormale  Zunahme  der  jugendlichen  Arbeit,  auffällig 
dagegen  die  30  prozentige  Vermehrung  der  Frauenbeschäfti- 
gung von  1888  aut  1891,  gegenüber  der  nur  20  prozentigen  Zu- 
nahme der  Männerarbeit.  Diese  Anomalie  ist  um  so  uner- 
freulicher, als  sich  die  Zunahme  der  Frauenarbeit  neben 
der  Textilindustrie  namentlich  bei  der  Cigarrenfabri- 
kation und  der  Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe  zeigt 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Handhabung  des  Vereinsgesetzes  in  Schwarzburg- 
Rudolstadt.  Aut  einen  Rekurs  in  Vereinsangelegenheiten 
gegen  eine  Entscheidung  des  fürstlichen  Landrathes  von 
Königsee  hat  das  schwarzburg-rudolstädtische  Ministerium 
entschieden,  „dass  der  Auffassung  des  fürstlichen  Landrathes 
zu  Königsee,  wonach  diese  Versammlung  als  eine  unter 
das  Verbot  des  § 8 der  landesherrlichen  Verordnung  vom 
25.  Mai  1856  fallende  Vereinigung  zu  betrachten  sei,  nach 
Lage  der  Umstände  nicht  entgegen  getreten  werden  kann“. 

Der  § 8 lautet:  „Arbeitervereine  und  Verbrüderungen, 
welche  politische,  sozialistische  oder  kommunistische  Zwecke 
verfolgen,  werden  andurch  als  ordnungswidrig  verboten“. 

Damit,  dass  diese  obsolete  Verordnung  wieder  in’s 
Gedächtniss  gerufen  wurde,  schafft  man  für  Schwarzburg- 
Rudolstadt  ein  Sonderrecht,  das  mit  der  Aufhebung  des 
Sozialistengesetzes  in  nicht  zu  vereinbarendem  Wider- 
spruche steht. 

Parteitag  (1er  deutschen  Sozialdemokratie.  Der  dies- 
jährige Parteitag  der  sozialdemokratischen  Partei  Deutsch- 
lands findet  in  Berlin  statt,  und  zwar  in  den  Tagen  vom 
16.  Oktober  ab.  Sonntag,  den  16.  Oktober,  Abends  7 Uhr, 
treten  die  Delegirten  zur  konstituirenden  Versammlung  zu- 
sammen. Als  I agesordnung  des  Parteitags  sind  folgende 
Punkte  ausersehen:  Geschäftsbericht  des  Parteivorstandes; 
Bericht  der  Kontrolleure;  Bericht  über  die  parlamentarische 
Thätigkeit  der  Reichstags-Fraktion;  die  Maifeier  1893;  der 
internationale  Kongress  in  Zürich;  das  Genossenschafts- 
wesen; die  wirthschaftliche  Krise  und  ihre  Folge,  der  all- 
gemeine .Nothstand;  der  Antisemitismus  und  die  Sozial- 
demokratie; Berathung  derjenigen  Anträge  der  Partei- 
genossen, welche  bei  den  vorausgehenden  Punkten  der 
1 agesordnung  nicht  bereits  ihre  Erledigung  gefunden  h&ben; 
Wahl  der  Parteileitung  und  Bestimmung  des  Ortes,  wo  sie 
ihren  Sitz  zu  nehmen  hat. 

Das  kommunale  Wahlprogramm  der  Arbeiter  Zürichs 

lautet:  1.  Die  Arbeitsbedingungen  für  Arbeiten  im  städti- 
schen Dienst  (Art.  152  der  Gemeindeordnung)  sollen  auch 
für  städtische  Arbeiten  gelten,  die  im  Akkord  oder  von 
Unternehmern  ausgeführt  werden.  2.  Einrichtung  des  Ar- 
beitsnachweises (Arbeitsbörse)  unter  Selbstverwaltung  der 
Arbeitergewerkschaften.  Zuzug  von  Vertretern  der  Arbeiter- 
vereine zur  Verwaltung  der  Naturalverpflegung.  3.  Anhand- 
nahme  einer  Wohnungsuntersuchung  und  Erstellung  von 
billigen,  gesunden  Wohnungen  durch  die  Stadt.  4.  Unent- 
geltliche ärztliche  Hilfeleistung  (Poliklinik)  durch  den  Stadt- 
arzt und  seine  Assistenten.  5.  Erweiterung  der  Ferien- 
kolonien und  Milchkuren  durch  städtische  Mittel.  6.  Errich- 
tung von  Schulküchen  und  Vertheilung  von  Schuhen  und 
Kleidern  an  bedürftige  Schüler.  7.  Unentgeltliche  öffent- 
liche Bäder  zu  allen  Jahreszeiten. 


Ein  englisches  Arbeiterprogramm.  Der  bei  den  allge- 
meinen Wahlen  ins  Parlament  gewählte  Keir  Hardie  stellte 
folgendes  Programm  auf: 

In  ökonomischer  Beziehung:  Rückerstattung  von 

Grund  und  Boden  an  den  Staat;  Einführung  des  acht- 
stündigen Arbeitstages;  Beschäftigung  der  Arbeitslosen; 
Pensionen  für  Greise  und  Invalide;  progressive  Einkom- 
menssteuer; Arbeiterversicherung;  gewissenhafte  Inspektion 
der  Werkstätten,  Eisenbahnen  und  Minen;  genügenden 
Schutz  für  die  Seeleute;  Errichtung  eines  Arbeitersekreta- 
riats; Vereinigungsrecht  für  die  Staatsangestellten. 

In  sozialer  Beziehung:  direkte  Abstimmung  in  Bezug 
auf  den  Verkauf  geistiger  Getränke  und  keinerlei  Ent- 
schädigung an  die  aufgehobenen  Verkaufsstellen;  Schliessung 
der  Verkaufsstellen  am  Sonntag;  Vergrösserung  und  Ver- 
mehrung von  Promenaden  und  öffentlichen  Plätzen;  Er- 
stellung von  gesunden  Wohnhäusern,  Bade-  und  Wasch- 
anstalten, Lese-  und  Erholungslokalen;  Unentgeltlichkeit 
der  Schulen;  Trennung  von  Kirche  und  Staat. 

In  politischer  Beziehung:  Home-Rule  (Anerkennung 
der  Unabhängigkeit  Irlands);  das  allgemeine  Wahlrecht; 
Entschädigung  der  Abgeordneten;  Bezahlung  der  Wahl- 
kosten durch  den  Staat;  Festsetzung  des  Samstags  als  Ab- 
stimmungstag und  Erklärung  dieses  Tages  als  gesetzlichen 
Festtag;  Wahl  des  Parlaments  für  drei  Jahre;  Einführung 
der  Stichwahlen  und  des  Referendums  (Volksabstimmung  über 
Gesetze);  Aufhebung  der  Kammer  der  Lords;  das  Recht 
für  die  Gemeinderäthe,  die  Polizei,  das  Personal  der  Wasser- 
und  Gaswerke,  der  Strassenbahnen  und  der  Seehäfen  zu 
kontroliren  etc. 


Kaufmännische  Bewegung. 


Kaufmännische  Sonntagsruhe  in  der  Schweiz.  Die 

Degl^irten Versammlung  (jer  schweizerische  kaufmännischen 

Vereine  (Vereine  von  Handelsangestellten)  hat  nach  Antrag 
der  Sektion  Zürich  beschlossen,  es  habe  das  Centralkomitee 
bei  sämmtlichen  kaufmännischen  Vereinigungen  der  Schweiz 
über  die  Sonntagsarbeit  im  Handelsstande  und  die  Büreau- 
zeit  überhaupt  genaue  Erhebungen  zu  veranstalten  und 
gestützt  hierauf  der  nächstjährigen  Delegirtenversamm- 
lung  Bericht  .und  Antrag  vorzulegen,  wie  bestehenden 
Uebelständen  im  allseitigen  Interesse  am  besten  zu  be- 
gegnen wäre. 

Kaufmännisches  Berufssekretariat  in  der  Schweiz. 

Aehnlich  dem  Gewerbe-  und  Arbeitersekretariate  und  dem 
ständigen  Sekretariate  für  den  Handelsstand,  soll,  wie  in 
einer  Eingabe  an  den  Bundesrath  seitens  der  kaufmännischen 
Vereine  ersucht  wird,  ein  kaufmännisches  Sekretariat  mit 
Bundesunterstützung  errichtet  werden. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Die  Stellung  der  schweizerischen  Handwerker-  und 
Gewerbevereine  zur  Erweiterung  des  Fabrikgesetzes. 

In  Folge  der  im  Vorjahre  bei  der  Maifeier  von  den 
Arbeiterversammlungen  kundgegebenen  Wünschen  für  Aus- 
dehnung des  Fabrikgesetzes  im  Sinne  der  Reduktion  des 
Normalarbeitstages  auf  10,  bezw.  9 oder  8 Stunden,  des 
Verbots  der  Arbeit  verheiratheter  Frauen  und  der  Ver- 
mehrung der  Zahl  der  eidgenössischen  Fabrikinspektoren, 
hat  das  schweizerische  Industriedepartement  unter  Anderem 
auch  die  Meinungsäusserungen  des  schweizerischen  Ge- 
werbevereins eingeholt.  Die  Sektionen  dieses  Verbandes 
behandelten  die  Frage  einlässlich  und  es  ist  ein  umfang- 
reicher Bericht  über  das  Ergebniss  dieser  Besprechungen 
im  Druck  unlängst  veröffentlicht  worden. 

Wie  zu  erwarten  war,  ist  die  Stellung  des  Verbandes 
zum  weiteren  Ausbau  des  Fabrikgesetzes  nicht  gerade  eine 
freundliche.  Die  Reduktion  der  Arbeitszeit  wird  haupt- 
sächlich in  der  Befürchtung  bekämpft,  dass  dieselbe  bei  der 


410 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  33. 


erfolgten  Ausdehnung  des  Fabrikgesetzes  auf  Kleinbetriebe 
auch  das  Handwerk  treffe,  während  einer  Reduktion  der 
Normalarbeitszeit  in  Industriebetrieben  prinzipiell  nicht 
opponirt  würde.  Die  Verhältnisse  des  Kleingewerbes,  wird 
argumentirt,  gestatten  nicht  eine  für  alle  Berufsarten  und 
alle  Jahreszeiten  genau  fixirte  Norm;  dasselbe  sei  auch 
anderen  Produktions-  und  Konkurrenzbedingungen  unter- 
worfen und  bedürfe  ebenfalls  eines  Schutzes. 

Die  Unterstellung  von  Handwerk  und  Kleingewerbe 
unter  das  Fabrikgesetz,  statt  unter  ein  den  eigenartigen 
Verhältnissen  des  Gewerbes  angepasstes  Gesetz  müsste 
als  eine  die  Interessen  des  Standes  schädigende  Verfügung 
in  hohem  Grade  bedauert  werden  und  es  müsse  sich 
daher  das  Handwerk  mit  aller  Entschiedenheit  gegen  die 
in  Frage  stehende  Verkürzung  der  Arbeitszeit  aussprechen. 
Es  wird  auch  auf  die  Erschwerung  der  Konkurrenz  hin- 
gewiesen und  die  Nothwendigkeit  einer  internationalen 
Regelung  der  Arbeitszeit  besonders  betont.  Bis  dahin  könne 
die  Schweiz  ohne  Gefährdung  ihres  Wohlstandes  nur  stufen- 
weise durch  gutes  Beispiel  voranmarschiren  und  jeweilen 
erst  dann  wieder  einen  Schritt  weiter  gehen,  wenn  die 
grossen,  sie  umgebenden  Staaten  wenigstens  eine  Stufe 
nachgefolgt  seien. 

Immerhin  stimmen  drei  Sektionen  der  Reduktion  der 
Normalarbeitszeit  zu.  So  erklärt  sich  der  Kantonalvorstand 
der  Bernischen  Gewerbevereine  mit  Einführung  des  zehn- 
stündigen Maximalarbeitstages,  welche  Neuerung  berechtig- 
ten Wünschen  in  vollständig  genügenderWeise  entspreche, 
einverstanden.  Ein  anderer  Verein  erklärt  sich  einverstanden 
mit  Einführung  des  gesetzlichen  Zehnstundentages  für  die 
ungefährlichen,  des  Neun-  und  Achtstundentages  für  die 
gesundheitsmörderischen  Industrien  und  Gewerbe.  Ein 
dritter  Verein  hält  die  Reduktion  der  Arbeitszeit  auf  10 
Stunden  als  eine  Wohlthat  für  die  Fabrikarbeiter,  da  da- 
durch Vielen  ermöglicht  wäre,  z.  B.  im  Sommer  für  ihre 
Haushaltung  landwirthschaftliche  Arbeiten  zu  verrichten 
oder  die  Hausgeschäfte  entsprechend  zu  besorgen.  Dies 
würde  auch  in  gesundheitlicher  Beziehung  auf  die  in  ge- 
schlossenem Raume  Arbeitenden  wohlthätig  wirken  und 
zugleich  eine  Besserung  ihres  sonst  so  kläglichen  Lohnes 
herbeiführen.  Dem  achtstündigen  Arbeitstage  wäre  diese 
Sektion  nicht  abgeneigt,  wenn  er  international  eingeführt 
würde. 

Die  Forderung  der  Handwerker,  dass  man  sie  nicht  auf 
gleiche  Stufe  wie  die  Fabrikanten  stelle,  hat  ihre  Berech- 
tigung, ein  Gewerbegesetz  kann  den  besonderen  Arbeits- 
verhältnissen im  Kleingewerbe  besser  gerecht  werden,  aber 
zur  wirksamen  Geltung  muss  auch  hier  der  Arbeiterschutz 
kommen,  denn  er  ist  für  die  Handwerksbetriebe  oft  noch 
viel  nöthiger  als  für  die  Fabrikindustrie. 

Die  Forderung  des  Verbots  der  Frauenarbeit  wird 
blos  von  zwei  Sektionen  befürwortet.  Die  eine  stellt  sich 
auf  den  Standpunkt,  man  sollte  durch  ein  strenges  Gesetz 
verhindern  können,  dass  ein  Familienvater  seinen  Lohn 
vertrinke,  seine  Angehörigen  darben  lasse  und  seine  Frau 
zwinge,  selbst  dem  Verdienste  nachzugehen.  Sie  fordert 
den  Schutz  der  Frauen  und  strengste  Massnahmen  gegen 
solche  pflichtvergessene  Familienväter.  In  den  übrigen 
Berichten  geht  die  Meinung  dahin,  dass  das  Verbot  zu  be- 
grüssen  wäre,  wenn  man  es  durchführen  könnte.  Einzelne 
Sektionen  sprechen  die  Ansicht  aus,  dass  auch  diese  Frage 
nur  durch  internationale  Vereinbarung  glücklich  gelöst  wer- 
den könne.  Massnahmen,  welche  einen  wirksamen  Schutz 
der  Frauen  und  Kinder  nicht  nur  in  der  Fabrikindustrie, 
sondern  auch  in  der  Hausindustrie  bezweckten,  wären 
höchst  zeitgemäss. 

Die  Frage  der  Vermehrung  der  Zahl  der  eidgenössi- 
schen Fabrikinspektoren  oder  Inspektionskreise  wird  nur 
von  wenigen  Sektionen  ablehnend  begutachtet.  Bezüglich 
des  Modus  der  Vermehrung  gehen  die  Meinungen  ausein- 
ander. Die  Einen  wünschen  die  Kreise  so  zu  vermehren, 
dass  jeder  Inspektor  ohne  Gehilfen  seinen  Kreis  besorgen 
kann;  sie  wünschen  also  so  viel  Kreise,  als  heute  Inspektoren 
und  Adjunkten  vorhanden  sind.  Die  Gefahr  für  Bildung 
einer  Büreaukratie  sei  zu  gross,  wenn  man  unter  den  In- 
spektoren verschiedene  Rangstufen  sich  bilden  lasse.  Die 
Anderen  sprechen  sich  dahin  aus,  dass  die  Vermehrung  der 
Zahl  der  Fabrikinspektoren  eine  mehr  von  den  Behörden  zu 
entscheidende  Sache  sei.  Wichtiger  als  die  Zahl  erscheine 
die  Qualität  der  Inspektoren.  Lieber  deren  zehn,  die  das 
Gesetz  mit  Einsicht  und  Erfahrung  interpretiren,  als  einen 
einzigen,  dessen  Wirksamkeit  oft  in  eine  quälende  Pedan- 
terie ausartet. 


Die  Antwort  des  schweizerischen  Gewerbevereins 
schliesst  mit  dem  Verlangen  nach  baldiger  Inangriffnahme 
eines  schweizerischen  Gewerbegesetzes  und  mit  einem 
Protest  gegen  weitere  Ausdehnung  des  eidgenössischen 
Fabrikgesetzes  auf  Kleinbetriebe. 

Aarau.  E.  Naef. 


Durchführung  der  neuen  Schutzvorschriften  für 
Arbeiterinnen  in  Baden.  Nach  einer  in  den  badischen 
Regierungsblättern  veröffentlichten  Notiz  begegnen  dort 
die  zum  Schutze  der  Arbeiterinnen  durch  das  Gesetz 
vom  1.  Juni  v.  Js.  erlassenen  Bestimmungen  der  Ge- 
werbeordnung im  Allgemeinen  in  der  Praxis  wenig 
Schwierigkeiten.  Die  Beschränkung  der  Arbeitszeit  der 
über  16  Jahre  alten  Arbeiterinnen  auf  11  Stunden  täglich 
betraf  im  Grossherzogthum  im  Wesentlichen  nur  die  Textil- 
industrie. Nachdem  aber  schon  vor  dem  Inkrafttreten 
der  neuen  Vorschriften  ein  grosser  Theil  der  Baumwoll- 
spinnereien und  Webereien  die  11  ständige  Arbeitszeit  ein- 
geführt hatte,  vollzog  sich  dieser  Uebergang  in  den- 
jenigen Anlagen,  welche  noch  die  ohnedem  lange  12sttindige 
regelmässige  Arbeitszeit  hatten,  ziemlich  leicht.  In  der 
Regel  hat  auch  diese  Reduktion  der  Arbeitszeit  keine 
nennenswerthe  Verminderung  der  Produktion  und 
des  Verdienstes  der  Arbeiter  zur  Folge  gehabt.  Weniger 
vollkommen  zeigt  sich  aber  da  und  dort  der  Vollzug  der 
Vorschrift,  dass  die  Arbeiterinnen  am  Samstag  nur  bis 
5V2  Uhr  Abends  beschäftigt  werden  dürfen.  In  der  Regel 
liege  dabei  aber  keine  bewusste  Verletzung  des  Gesetzes, 
sondern  ein  mit  der  Neuheit  der  bezüglichen  Vorschrift  zu- 
sammenhängender Mangel  an  Aufmerksamkeit  zu  Grunde, 
sagt  beschwichtigend  die  Notiz  und  fügt  hinzu:  „Da  die 

Verletzung  aller  die  Arbeitszeit  betreffenden  gesetzlichen 
Vorschriften  der  Gewerbeordnung  unter  hohe  Strafe  gestellt 
ist,  so  werden  die  Industriellen  gut  daran  thun,  sich  mit 
diesen  Vorschriften  mehr  vertraut  zu  machen  und  sich  genau 
nach  denselben  zu  richten.“ 


Gewerbeinspektion. 


Reorganisation  (1er  Fabrikinspektion  in  Preussen. 

Im  neuen  preussischen  Etat  für  1893/94,  der  sich  jetzt  in 
der  Bearbeitung  befindet,  müssen  weitere  Mittel  für  die  ■ 
Reorganisation  der  preussischen  Fabrikinspektion  ausge- 
worfen werden.  Die  Reorganisation  war  auf  vier  Jahre 
vertheilt  worden.  Sie  begann  im  Jahre  1891/92.  Es  würde 
mithin  nunmehr  der  für  das  dritte  Jahr  in  Aussicht  genom- 
mene Plan  zur  Durchführung  zu  bringen  sein.  Zunächst 
handelt  es  sich  darum,  drei  weitere  Regierungs-Gewerbe- 
rathsstellen zu  schaffen,  und  zwar  für  die  Regierungsbezirke 
Liegnitz,  Münster  und  Koblenz.  Die  Gewerbeinspektoren 
sollen  um  25  und  die  Assistentenstellen  um  9 vermehrt 
werden.  Auch  die  Umgestaltung  der  Dampfkesselrevision 
soll  eine  weitere  Förderung  erfahren.  Die  Ueberweisung 
dieser  Revision  an  die  Gewerbeinspektion,  die  bekanntlich 
sozialpolitisch  nicht  vortheilhaft  wirken  kann,  soll  im  Jahre 
1893/94  in  den  Regierungsbezirken  Frankfurt  a.  O.,  Breslau, 
Liegnitz,  Oppeln,  Magdeburg,  Merseburg,  Erfurt,  Schleswig 
und  Hannover  zur  Ausführung  gelangen.  Die  alte  Dampf- 
kesselrevision wird  dann  nur  noch  in  den  Provinzen  Ost-  und 
Westpreussen,  Pommern,  Posen  und  in  der  Provinz  Han- 
nover mit  Ausnahme  des  Regierungsbezirks  Hannover,  also 
in  denjenigen  Landestheilen,  wo  die  Industrie  nicht  in  so 
starkem  Maasse  wie  in  anderen  Bezirken  entwickelt  ist. 
gehandhabt  werden.  Die  für  die  Gewerbeinspektion  in 
Betracht  kommenden  Positionen  des  Etats  für  1891  92  steigen 
gegen  den  von  1890/91  um  etwa  175  000  M.,  die  für  1892/93 
gegen  den  von  1891/92  um  150  000  M.,  so  dass  jetzt  die 
Reorganisation  des  Fabrikinspektorats  gegen  früher  jährlich 
einen  Mehraufwand  von  rund  225  000  M.  erfordert.  Die 
Erhöhung  für  1893/94  wird  im  grossen  Ganzen  den  in  den 
Vorjahren  geforderten  Summen  entsprechen. 


No.  33. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


411 


Arbeiterversicherung. 


Die  Krankenversicherung  in  den  deutschen 
Grossstädten. 

Die  hervorragendsten  Vertreter  der  kommunalen  Sta- 
tistik in  Deutschland  haben  seit  einiger  Zeit  eine  lose 
Vereinigung  geschaffen  und  geben  auf  Grund  eingehender 
Berathungen  in  derselben  ein  „Statistisches  Jahrbuch  deut- 
scher Städte“  heraus,  dem  man  ansieht,  wie  entwickelungs- 
fähig die  kommunale  Statistik  in  Deutschland  ist  und  das 
als  erster  Versuch  auf  diesem  Gebiete  volle  Anerkennung 
verdient.  Umsomehr,  als  der  im  Erscheinen  begriffene 
zweite  Band  eines  der  wichtigsten  Gebiete  der  modernen 
Gemeindestatistik  zu  erschlossen  beginnt,  die  Sozialstatistik. 
In  Abschnitt  XIII  wird  die  Sozialversicherung,  wie  sie  sich 
in  den  deutschen  Grossstädten  entwickelt  hat,  auf  Grund 
besonderer,  ad  hoc  veranstalteter  Erhebungen  vom  Vorsteher 
des  statistischen  Amtes  der  Stadt  Frankfurt  a.M.,  Dr.  Bleicher, 
dargestellt.  Diese  Darstellung  bedeutet  ebenfalls  erst  den 
Anfang  dessen,  was  auf  diesem  Gebiete  durch  die  ver- 
gleichende Statistik  noch  geleistet  werden  kann.  Erstens 
blieben  von  den  47  deutschen  Städten  mit  über  50  000  Ein- 
wohnern noch  5 mit  Antworten  aus;  dann  liessen  bei  dem 
ersten  Anlauf,  Daten  für  eine  tiefer  in  die  Organisation  der 
Sozialversicherung  eindringende  Kommunalstatistik  zu  er- 
langen, manche  Antworten  noch  zu  wünschen  übrig;  endlich 
scheint  ein  gewisses  Beharrungsstadium  in  der  organisato- 
rischen Entwickelung  selbst  bei  der  ältesten  Versicherung, 
der  Krankenversicherung,  noch  lange  nicht  erreicht,  umso- 
weniger, als  die  Novelle  zum  Krankenversicherungsgesetz 
soeben  wieder  manches  Erhebliche  an  der  Organisation  der 
Kassen  ändert,  weshalb  der  Bearbeiter  mit  Recht  erklärt, 
dass  die  nächste  Darstellung  so  lange  wird  warten  müssen, 
bis  sich  diese  Neuerungen  einigermassen  werden  eingelebt 
haben.  Man  darf  also  keine  überraschenden  Ergebnisse  von 
der  erstmaligen,  vergleichenden  Bearbeitung  der  Sozialver- 
sicherung in  den  deutschen  Grossstädten  erwarten.  Nichts- 
destoweniger liefert  dieselbe  manche  bemerkenswerthe 
Gesichtspunkte,  die  alte  Erfahrungen  bestätigen,  nebenbei 
auch  einige  Informationen,  die  bisher  gänzlich  fehlten. 
Wenn  im  Nachfolgenden  fast  nur  von  der  Krankenver- 
sicherung die  Rede  ist,  so  erklärt  sich  dies  durch  die 
hervorragende  Wichtigkeit  dieses  gewissermassen  grund- 
legenden Versicherungszweiges  und  durch  die  Lückenhaftig- 
keit der  kommunalen  Nachrichten  über  Unfall-,  Invaliditäts- 
und Altersversicherung.  Die  Krankenversicherung  der 
Grossstädte  darf  doch  wohl  als  eine  Art  Musterbild  der 
Krankenversicherung  überhaupt  betrachtet  werden. 

Merkwürdig  ist  gleich  die  erste  Feststellung  des  Bear- 
beiters bezüglich  des  Umfanges,  in  welchem  die  Städte  mit 
über  50  000  Einwohnern  Gebrauch  von  der  Möglichkeit 
gemacht  haben,  die  Krankenversicherungspflicht  durch 
Ortsstatut  auszudehnen.  Am  häufigsten,  aber  immerhin  nur 
in  26  Fällen,  geschah  dies  für  die  land-  und  forstwirtschaft- 
lichen Arbeiter;  in  20  Fällen  für  Transportarbeiter,  in  18 
für  ausserhalb  der  Betriebsstätten  beschäftigte  Personen,  in 
1 2 für  Handlungsgehilfen,  in  9 für  hausindustrielle  Arbeiter, 
in  6 für  vorübergehend  beschäftigte  Personen.  Nimmt  man 
hinzu,  dass  in  der  Mehrzahl  aller  Fälle  (7/10)  die  statutarische 
Ausdehnung  sofort  mit  Einführung  der  Krankenversicherung 
überhaupt  erfolgte,  so  kann  man  sich  des  Eindruckes  nicht 
erwehren,  dass  die  bei  uns  so  beliebte  Methode,  sozialpoli- 
tische Schwierigkeiten,  die  man  sich  durch  Reichsgesetz 
nicht  zu  lösen  getraut,  der  Erledigung  durch  Ortsstatut  zu 
überlassen,  auch  bei  der  Krankenversicherung  ein  ziemliches 
Fiasko  zu  verzeichnen  hat.  Entweder  wurde  der  statutarische 
Zwang  gleich  oder  auch  später  nicht  eingeführt;  und  die 
relativ  geringe  Anzahl  der  Städte,  die  mehr  Verständniss 
und  Muth  als  die  Reichsgesetzgebung  hatte,  beweist,  dass 
man  den  bequemen  Ausweg  des  Ortsstatuts  in  der  Reichs- 
gesetzgebung mit  Bezug  aut  die  übrigen  Arbeiterkategorien 
mit  der  Zeit  ebenso  wird  verschmähen  müssen,  wie  es  z.  B. 
neuerdings  bei  den  Handlungsgehilfen  in  der  Novelle  von 


1892  wenigstens  nach  der  Absicht  der  verbündeten  Regie- 
rungen eingetreten  ist.  Entweder  sind  gewisse  Arbeiter- 
kategorien ihrer  wirthschaftlichen  Lage  nach  der  Versiche- 
rung bedürftig;  dann  soll  das  Reichsgesetz  die  letztere 
bindend  aussprechen.  Oder  dieses  Bedürfniss  ist  nicht 
vorhanden;  dann  braucht  es  auch  keiner  Möglichkeit  der 
ortsstatutarischen  Ausdehnung  des  Zwanges.  Die  sozialen 
Verhältnisse  innerhalb  des  Deutschen  Reiches  sind  durch 
Eisenbahnen  und  sonstige  Verkehrsmittel  denn  doch  bei 
allen  lokalen  Unterschieden  bis  zu  dem  Grade  ausgeglichen, 
dass  man  über  die  allgemeine  Versicherungsnothwendigkeit 
ohne  Rücksicht  auf  Gegenden  oder  gar  Ortschaften  ent- 
scheiden kann. 

Nur  in  Parenthese  brauchen  die  dürftigen  Angaben 
erwähnt  werden,  welche  von  Dr.  Bleicher  über  die  einge- 
schriebenen Hilfskassen  in  den  42  Städten  gemacht  werden 
können;  leider  liegen  die  Verhältnisse  dieser  Kassen  noch 
fast  ganz  ausserhalb  der  Kenntniss  der  kommunalen  Statistik 
und  kommunalen  Behörden.  Die  genannten  Städte  zählen 
mehr  als  die  Hälfte  der  800  000  Mitglieder  jener  freien 
Hilfskassen  zu  ihren  Einwohnern,  und  die  Konzentrirung 
der  Arbeiterbevölkerung  nach  den  Verkehrsmittelpunkten 
drückt  sich  darin  aus,  dass  die  Zahl  der  Hilfskassenmitglieder 
von  1885  bis  1890  in  den  Städten  sehr  viel  stärker  zunahm 
als  im  Reiche  überhaupt.  Schade,  dass  das  „Statistische 
Jahrbuch  der  deutschen  Städte“  noch  nicht  Vorgelegen  hat, 
als  die  Regierung  bei  der  Diskussion  der  Krankenkassen- 
Novelle  im  Reichstage  behaupten  wollte,  innerhalb  der 
Hilfskassen  bestehe  das  Streben,  den  Sitz  derselben  in 
kleinere  Orte  mit  billigen  Tagelohnsätzen  zu  verlegen; 
Dr.  Bleicher  stellt  nämlich  fest,  dass  ca.  500  000  Mitglieder 
eingeschriebener  Hilfskassen  von  den  800  000  insgesammt 
zu  solchen  Hilfskassen  gehören,  die  ihren  Sitz  in  einer  der 
42  grossen  Städte  mit  hohen  Tagelohnsätzen  haben;  240  000 
Kassenmitglieder  ressortiren  von  Hilfskassen,  die  in  Hamburg 
domizilirt  sind,  und  Hamburg  hat  bekanntlich  den  höchsten 
ortsüblichen  Tagelohnsatz  im  ganzen  Deutschen  Reiche; 
Altona  folgt  mit  54  000,  Berlin  mit  27  000  u.  s.  w. 

Auch  bei  den  staatlich  organisirten  (sogen.  Zwangs-) 
Kassen  stellen  die  Städte  natürlich  den  grösseren  Prozent- 
satz der  Mitglieder.  Von  je  100  Einwohnern  im  Reiche  sind 
nur  10,50  pCt.,  von  je  100  Bewohnern  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Städte  dagegen  16,60  pCt.  Mitglieder  solcher 
Kassen.  Weiter  erscheinen  innerhalb  der  Städte  die  Orts- 
krankenkassen in  noch  höherem  Masse  als  im  ganzen  Reiche 
als  die  Hauptträger  der  Versicherung;  die  Gemeindekranken- 
versicherung diente  meist  nur  als  Uebergangsstadium  sowohl 
bei  Einführung  des  Gesetzes  als  bei  Einbeziehung  neuer 
Arbeiterkategorien,  von  einigen  Ausnahmen  namentlich  in 
Süddeutschland  abgesehen.  Die  Arbeiter  wird  es  interessiren, 
zu  sehen,  dass  die  von  ihnen  mit  Recht  bekämpften  Betriebs- 
krankenkassen in  Chemnitz,  Bremen,  Dortmund,  Essen, 
Augsburg  und  Duisburg,  also  ziemlich  genau  an  den  Sitzen 
der  ausgeprägtesten  industriellen  Grossunternehmungen, 
sehr  beträchtlich  vorwiegen.  In  Essen  gehören  79  pCt.,  in 
Duisburg  62,  in  Chemnitz  56,  in  Augsburg  53  und  in  Dort- 
mund 52  pCt.  aller  Versicherten  den  Betriebskrankenkassen 
an.  Die  Innungskrankenkassen  spielen  fast  keine  Rolle  und 
werden  nur  später  noch  einmal  mit  dem  höchsten  überhaupt 
vorkommenden  Betrage  der  Verwaltungskosten  aut  den 
Kopf  der  Mitglieder  genannt. 

Aus  den  inneren  Verhältnissen  der  staatlich  organisirten 
Kassen  der  grossen  Städte  sei  erwähnt,  dass  die  weiblichen 
Versicherten  hier  mehr  hervortreten,  als  im  Reiche  über- 
haupt. Im  Jahre  1890  belief  sich  ihre  Zahl  auf  33,7  pCt., 
während  im  Reiche  1889  nur  27  pCt.  weibliche  Versicherte 
waren.  Am  stärksten  vertreten  ist  das  weibliche  Element 
bei  der  Gemeindekrankenversicherung  der  Städte,  nämlich 
mit  94,4  pCt.  (Gemeindekrankenversicherung  für  Diensboten 
in  München).  Hinsichtlich  der  Dauer  der  Krankenunter- 
stützung übertreifen  die  Kasseneinrichtungen  der  42  Städte 
diejenigen  des  übrigen  Reichsgebietes  ganz  beträchtlich; 
bei  den  Ortskrankenkassen  z.  B.  gewährten  in  den  Städten 
53,  im  ganzen  Reiche  nur  19  pCt.  mehr  als  13  wöchige 
Unterstützung.  Bei  dieser  Ausscheidung  der  kleineren 


412 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  33. 


Ortskrankenkassen  und  bei  einem  Vergleich  der  grösseren 
städtischen  mit  den  eingeschriebenen  Hilfskassen  dürften 
sonach  die  ersteren  allerdings  weniger  schlecht  fahren,  als 
man  bisher  nach  der  blossen  Reichsstatistik  anzunehmen 
geneigt  war.  Unter  dem  Abschnitt,  der  von  den  Beiträgen 
für  die  Ortskrankenkassen  handelt,  fallen  Berlin,  Stuttgart 
und  Braunschweig  durch  die  theilweise  sehr  hohe  Bemessung 
derselben  (bis  zu  4,5  pCt.  des  durchschnittlichen  Tagelohnes) 
auf;  hier  wäre  nähere  Auskunft  sehr  erwünscht.  Mit  Recht 
sagt  Dr.  Bleicher  schliesslich  bezüglich  der  Leistungen  der 
Kassen,  dass  es  für  ihre  Beurtheilung  in  letzter  Instanz 
darauf  ankommt,  wie  viele  Krankheitskosten  auf  je  einen 
Krankheitstag  erwachsen.  Es  ist  nicht  überflüssig,  dies 
gegenüber  der  amtlichen  Statistik  zu  betonen,  die  dieses 
Kriterium  viel  zu  wenig  in  den  Vordergrund  rückt.  Dabei 
erscheinen  allerdings  gerade  die  Betriebs-  und  Innungs- 
krankenkassen als  die  Einrichtungen  mit  den  höchsten 
Leistungen,  mit  2,49  bezw.  2,12  M.  Aufwendung  pro  Krank- 
heitstag; dann  kommen  die  Ortskrankenkassen  mit  1,93  M. 
und  die  Gemeindekrankenversicherung  mit  1,84  M.  (immer 
in  den  hier  in  Betracht  kommenden  Städten).  Bloss  fest- 
stellen, nicht  erklären  kann  der  Bearbeiter  die  ausserordent- 
lichen Unterschiede  bei  den  Verwaltungskosten  der  Orts- 
krankenkassen der  einzelnen  Städte,  die  ganz  normal  sind 
bei  ca.  20  Städten  (1,50 — 2 M.),  dann  aber  in  Kassel,  Mainz, 
Bremen,  Altona,  Lübeck,  Metz,  Posen  und  Mannheim  bis 
über  3 M.  steigen,  um  in  Hamburg  mit  3,55  M.  den  Gipfel 
zu  erreichen.  Dr.  Bleicher  deutet  an,  dass  den  billiger 
wirtschaftenden  dieser  Kassen  wohl  von  Seite  der  Ge- 
meindeverwaltungen unentgeltlich  Beamtenpersonal  zur  Ver- 
tilgung gestellt  würde;  wir  bezweifeln,  ob  damit  die  hor- 
renden Unterschiede  völlig  erklärt  werden  können  und 
halten  weitere  Nachforschungen  im  Interesse  der  Versicher- 
ten hier  für  sehr  dankenswerth. 

Man  sieht,  dass  sich  manche  Einblicke  kritischer  Natur 
und  nicht  ohne  Wichtigkeit  für  allgemeine  Organisations- 
tragen auch  schon  aus  dem  ersten,  noch  unvollkommenen 
Versuche  einer  vergleichenden  Versicherungsstatistik  der 
deutschen  Städte  gewinnen  lassen.  Hoffentlich  ermuthigt 
dies  den  geduldigen  und  sachlich  gut  bewanderten  Bear- 
beiter derselben  zur  Fortsetzung  seiner  verdienstlichen 
Studien,  die  dann  über  die  Wirkungen  der  letzten  Kranken- 
kassen-Novelle  jedenfalls  sehr  Interessantes  zu  Tage  fördern 
werden,  da  die  Städte  mehr  und  mehr  die  Brennpunkte 
unserer  sozialen  Entwickelung  werden  und  die  städtische 
Sozialstatistik  uns  infolgedessen  über  die  akutesten  Ver- 
änderungserscheinungen unterrichtet. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Die  Selbstverwaltung  der  Berufsgenossenschaften. 

Die  Freunde  der  berufsgenossenschaftlichen  Organi- 
sation wissen  die  konsequente  Durchführung  des  Prinzips 
der  Selbstverwaltung  in  den  Berufsgenossenschaften  nicht 
genug  zu  rühmen;  selbst  Gegner  schliessen  sich  nicht 
selten  diesem  Urtheil  an,  so  wenig  sie  auch  sonst  von  der 
Wirksamkeit  der  Berufsgenossenschaften  halten  mögen. 
Eine  vorurteilslose  Untersuchung,  wie  es  mit  dieser  Selbst- 
verwaltung tatsächlich  steht,  wird  daher  am  Platze  sein. 

Selbstverwaltung  im  eigentlichen  Sinne  ist  da  vor- 
handen, wo  gemeinsame  Angelegenheiten  von  den  Be- 
troffenen selbst  verwaltet  werden.  Die  Berufsgenossen- 
schaften haben  in  erster  Linie  die  Arbeiter  der  Gewerbs- 
zweige,  die  sie  umfassen,  tür  die  Folgen  von  Unfällen  im 
Betriebe  zu  entschädigen.  Man  sollte  also  meinen,  dass, 
wenn  man  bei  den  Berufsgenossenschaften  von  Selbstver- 
waltung spricht,  die  Verwaltung  eben  in  den  Händen  der 
\ ersicherten  — der  Arbeiter  — liegen  müsste.  Dies  ist 
nun  bekanntlich  keineswegs  der  Fall:  die  Arbeiter  haben 
aut  die  eigentliche  Verwaltung  nicht  den  geringsten  Ein- 
fluss und  nur  in  der  Rechtsprechung  und  beim  Erlass  von 
Unfallverhütungsvorschriften  mitzureden.  Dieses  Verhält- 
niss  findet  seinen  handgreiflichsten  Ausdruck  auf  den  soge- 
nannten Berufsgenossenschaftstagen,  d.  h.  Zusammenkünften 


von  Verwaltungsorganen  und  Interessenten  der  Berufs- 
genossenschatten, bei  denen  über  gemeinsame  berufsge- 
nossenschaitliche  Angelegenheiten  berathen  wird.  Man 
findet  hier  wohl  Minister,  Geheime  Räthe,  Juristen,  Aerzte, 
Industrielle,  Beamte  der  Berufsgenossenschaften,  aber  nie- 
mals — einen  versicherten  Arbeiter. 

Man  tragt  sich  erstaunt,  wie  kann  man  trotzdem  von 
Selbstverwaltung  — und  noch  dazu  von  einer  ausnahms- 
weise konsequent  durchgeführten  Selbstverwaltung  in  den 
Berufsgenossenschaften  reden?  Die  Antwort  ist  eine  sehr 
einfache:  Die  Kosten  der  Versicherung  tragen  die  Unter- 

nehmer; diese,  nicht  etwa  die  Versicherten,  bilden  die 
Berufsgenossenschaften  und  führen  mithin  die  Verwaltung 
selbst.  Die  Arbeiter  sind  sozusagen  nur  die  Objekte  der 
Versicherung,  die  Versicherer  sind  die  Unternehmer.  Man 
geht  also  auch  hier,  wie  so  häufig  (z.  B.  beim  Wahlrecht), 
von  der  Fiktion  aus,  dass  nur  derjenige  Rechte  zu  bean- 
spruchen habe,  der  rechtlich  zur  Zahlung  verpflichtet  sei. 
Dass  in  W irklichkeit  schliesslich  doch  stets  der  wirth- 
schaftlich  Schwächere  die  Lasten  trägt,  wird  übersehen. 
Dass  man  die  Arbeiter  von  der  Beitragszahlung  befreit  hat, 
gilt  als  besondere  „Wohlthat“;  der  Verlust  des  Bestimmungs- 
rechtes der  Arbeiter  über  ihre  Versicherung  ist  damit 
selbstverständlich. 

Unter  berufsgenossenschaftlicher  Selbstverwaltung  ist 
also  nur  die  Selbstverwaltung  durch  die  versichernden 
Unternehmer  zu  verstehen,  für  die  versicherten  Arbeiter 
kann  hier  nur  von  dem  Gegentheil  von  Selbstverwaltung 
~ völliger  Bevormundung  — die  Rede  sein.  In  diesem  be- 
schränkten Sinne  ist  nun  allerdings  das  Prinzip  der  Selbst- 
verwaltung recht  konsequent  durchgeführt  — nach  einer 
Richtung  hin,  wie  sich  zeigen  wird,  wohl  sogar,  wenn  man 
es  so  ausdr ticken  will,  zu  konsequent.  Zunächst  ist  her- 
vorzuheben, dass  die  Berufsgenossenschaften  von  staat- 
licher oder  sonstiger  behördlicher  Bevormundung  thatsäch- 
lich  befreit  sind.  Sie  unterliegen  nur  der  Aufsicht  des 
Reichs-  oder  Landes-Versicherungsamtes  und  verwalten  im 
Uebrigen  ihre  Angelegenheiten  selbständig.  Ferner  kennen 
die  Unfallversicherungsgesetze  nur  Ehrenämter,  die  von 
den  Mitgliedern  der  Genossenschaften  unentgeltlich  zu 
führen  sind.  Von  besoldeten  Beamten  ist  nirgends  die 
Rede,  wenigstens  nicht  von  eigentlichen  Verwaltungsbe- 
amten, denn  die  „Beauftragten“,  die  allerdings  im  Allge- 
meinen gegen  Besoldung  ihre  Thätigkeit  ausüben  werden, 
haben  nur  die  Befolgung  der  zur  Verhütung  von  Unfällen 
erlassenen  Vorschriften  zu  überwachen.  Nun  können  in 
Wirklichkeit  nach  Lage  der  Sache  die  Berufsgenossen- 
schaften unmöglich  ohne  geordnete  btireaumässige  Verwal- 
tung und  eine  Anzahl  von  Verwaltungsbeamten  auskommen. 
Ist  nicht  gerade  zufällig  ein  Vorstandsmitglied  vorhanden, 
das  befähigt  und  aus  Mangel  an  anderer  Beschäftigung  in 
der  Lage  ist,  die  Leitung  des  Btireaus  in  die  Hand  zu 
nehmen,  so  muss  ein  besoldeter  Geschäftsführer  an  die 
Spitze  der  Verwaltung  gestellt  werden.  Dieser  und  die 
übrigen  Beamten  tragen  jedoch  nur  eine  moralische  Ver- 
antwortung dem  Vorstande  der  Genossenschaft  gegenüber; 
rechtlich  trägt  der  Vorstand  für  alle  Amtshandlungen  der 
Beamten  die  volle  Verantwortung.  Die  Unterschrift  der 
Beamten  verpflichtet  die  Genossenschaft  zu  nichts.  Der 
Vorsitzende  oder  die  für  den  Vorstand  zeichnenden  Vor- 
standsmitglieder müssen  jedes  Schriftstück,  dass  die  Ge- 
nossenschaft rechtsgültig  verbinden  soll,  selbst  vollziehen. 
Vielfach  werden  unter  diesen  Verhältnissen  natürlich  die 
Unterschriften  in  mehr  oder  weniger  blindem  Vertrauen  zu 
dem  die  Schriftstücke  verlegenden  Beamten  erfolgen 
müssen.  Bezahlte  Beamte  fuhren  die  Arbeiten  aus;  der  im 
unentgeltlichen  Ehrenamt  fungirende  Genossenschaftsvor- 
sitzende, der  im  Allgemeinen  die  Arbeiten  nicht  zu  durch- 
dringen und  überschauen  vermag,  trägt  die  Verantwortung 
dafür.  Auch  hier  also  eine  blosse  Fiktion!  Die  Inhaber 
der  wichtigsten  berufsgenossenschaftlichen  Ehrenämter  sind 
im  Allgemeinen  thatsächlich  nicht  im  Stande  ihre  Amts- 
obliegenheiten so  auszuführen,  wie  es  der  übernommenen 
Verantwortlichkeit  entsprechen  würde.  An  Stelle  der  ver- 
antwortlichen Biireaukratie  der  Behörden  ist  in  der  be- 


No.  33. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLAT  I . 


413 


rufsgenossenschaftlichen  Verwaltung  eine  unverantwort- 
liche Bureaukratie  getreten,  welche  die  Fäden  führt,  an 
denen  die  Inhaber  der  Ehrenämter  agiren. 

Es  braucht  nicht  besonders  auseinander  gesetzt  zu 
werden,  welche  Gefahren  diese  Sachlage  in  sich  birgt. 
Wenn  bisher  nur  wenige  Fälle  bekannt  geworden  sind,  in 
denen  Berufsgenossenschaftsbeamte  ihre  Stellung  offenbar 
missbraucht  haben,  so  hat  dies  — abgesehen  von  der  erst 
kurzen  Dauer  des  Bestehens  der  Berufsgenossenschaften  -- 
seinen  Grund  darin,  dass  zur  Zeit  die  Berufsgenossenschaften 
vielfach  von  moralisch  und  technisch  hervorragend  tüchti- 
gen Kräften  geleitet  werden.  Diejenigen  Männer,  welche 
die  ersten  organisatorischen  Arbeiten  übernommen  hatten, 
also  gleichsam  die  Schöpfer  der  Berufsgenossenschaften 
sind,  stehen  in  vielen  Fällen  noch  heut  als  Vorsitzende  oder 
Geschäftsführer  an  der  Spitze  der  Verwaltungen.  Persön- 
liche Neigung,  Interesse  an  der  Sache  und  das  durch  that- 
sächliche  Leistungen  gerechtfertigte  Vertrauen  der  Ge- 
nossenschaftsmitglieder hatte  sie  ursprünglich  auf  ihre 
Posten  gestellt,  und  so  haben  sie  es  denn  auch  im  Allge- 
meinen verstanden,  diese  auszufüllen.  Gerade  die  Aufgabe 
der  ersten  Organisation  zog  manche  selbständige  Köpfe 
an.  Sie  fühlten  sich  zwar  wenig  angenehm  berührt, 
als  sie  nach  Konstituirung  der  Berufsgenossenschaften 
aus  „Organisatoren“  Geschäftsführer  wurden,  als  solche 
öffentlich  ganz  zurücktreten  mussten  und  sich  nur  noch  der 
stillen  Arbeit  widmen  durften.  Indess  nicht  wenige  hielt 
trotzdem  die  Rücksicht  auf  das  ihnen  durchgängig  gebotene 
hohe  Gehalt  und  den  Einfluss,  den  sie  — wenn  auch  nicht 
rechtlich  anerkannt,  so  doch  thatsächlich  — ausübten,  in 
ihren  Stellungen  zurück.  Der  sich  zuerst  noch  ziemlich 
deutlich  äussernde  Selbständigkeitstrieb  dieser  Elemente 
wurde  vom  Reichsversicherungsamt  leicht  niedergeschlagen, 
und  so  ist  denn  allmählich  eine  idyllische  Ruhe  in  den  be- 
rufsgenossenschaftlichen Verwaltungen  eingetreten. 

Treten  in  Folge  dieser  historischen  Entwickelung  im 
Augenblick  noch  manche  Bedenken,  zu  denen  das  Verhält- 
nis der  Inhaber  der  Ehrenämter  zu  den  besoldeten  Be- 
amten Veranlassung  giebt,  zurück,  so  wird  sich  dies  doch 
später,  wenn  erst  ein  grösserer  Personenwechsel  stattge- 
funden hat,  sehr  ändern.  Durchgängig  wechseln  die  In- 
haber der  Ehrenämter  weit  häufiger  als  diejenigen  der  Be- 
amten-, besonders  der  Geschäftsführerstellen.  Die  Konti- 
nuität der  Verwaltung  wird  thatsächlich  durch  die  be- 
soldeten Beamten  aufrecht  erhalten.  Die  Bedeutung  der 
unverantwortlichen  Bureaukratie  wächst  also,  und  es  wird 
mithin  über  kurz  oder  lang  die  Frage  ernstlich  erwogen 
werden  müssen,  ob  man  diese  Bureaukratie  nicht  in  eine 
verantwortliche  verwandeln  soll  — vorausgesetzt,  dass  den 
Berufsgenossenschaften  in  ihrer  jetzigen  Form  überhaupt 
noch  eine  längere  Lebensdauer  beschieden  ist. 

Soviel  wird  diese  kurze  Betrachtung  gezeigt  haben, 
dass  die  Art  von  Selbstverwaltung,  die  in  den  Berufsge- 
nossenschaften durchgeführt  ist,  nichts  weniger  als  das 
Muster  einer  rationellen  Verwaltungsorganisation  darstellt. 


Die  eingeschriebenen  Hilfskassen  und  die  Kranken- 
kassennovelle. Zu  den  in  den  Nrn.  29  und  31  des  Sozial- 
politischen Centralblattes  mitgetheilten  Beschlüssen  sind  die 
folgenden  hinzugekommen.  Die  Generalversammlungen  der 
Centralkranken-  und  Sterbekasse  des  deutschen  Glacehand- 
schuhmacherverbandes und  der  allgemeinen  Kranken-  und 
Sterbekasse  der  Metallarbeiter  entschieden  sich  für  die  Um- 
wandlung ihrer  eingeschriebenen  Hilfskassen  in  Zuschuss- 
kassen. Die  Generalversammlung  der  Centralkranken-  und 
Sterbekasse  der  Tabakarbeiter  Deutschlands,  und  die  ausser- 
ordentlichen Generalversammlungen  einer  Reihe  Hirsch- 
Duncker’schen  Organisationen,  so  der  Hilfskasse  des  Ge- 
werkvereines der  Töpfer,  der  Kranken-  und  Begräbniss- 
kasse  des  Gewerkvereines  der  deutschen  Cigarren-  und 
Tabakarbeiter,  und  des  Gewerkvereines  der  deutschen 
Schiffszimmerer  u.  s.  w.  entschieden  sich  für  die  Anpassung 
an  die  Bestimmungen  der  Krankenkassennovelle.  Die  Hut- 
macherkrankenkasse hat  sich  aufgelöst. 


Krankenkassengesetzgebung  in  Dänemark.  Am 

3.  August  trat  das  Gesetz  über  die  vom  Staate  anerkannten 
J Krankenkassen  in  Kraft.  Um  öffentlich  anerkannt  zu  wer- 
den, muss  eine  Krankenkasse  wenigstens  50  Mitglieder 
haben  und  an  ein  bestimmtes  Fach  — Handel,  Handwerk 
| oder  Industrie  — geknüpft  sein.  Nur  unbemittelte  Arbeiter, 
! Handwerker  und  schlecht  besoldete  Beamte  können  Mit- 
glieder der  Krankenkassen  werden.  Die  Staatskasse  giebt 
den  anerkannten  Krankenkassen  einen  jährlichen  Zuschuss 
von  einer  halben  Million  Kronen,  welche  Summe  im  Ver- 
hältnis^ zu  der  Mitgliederzahl  der  einzelnen  Krankenkassen 
vertheilt  wird.  In  Krankheitsfällen  geben  die  Kranken- 
j Fassen  freie  ärztliche  Hilfe  und  eine  Summe,  die  nicht  mehr 
als  zwei  Drittel  des  Verdienstes  und  nicht  weniger  als 
40  Oere  (50  Pf.)  täglich  ausmacht.  Man  muss  6 Wochen 
Mitglied  der  Kasse  gewesen  sein,  bevor  man  Hilfe  — aus- 
genommen in  Unglücksfällen  - erhalten  kann,  und  für  eine 
Krankheit,  die  nur  drei  Tage  dauert,  wird  keine  Geldhilfe 
gegeben.  Ein  Mitglied  kann  nur  in  13  Wochen  jährlich 
Hilfe  erhalten.  Ein  Inspektor  wird  vom  Staat  ernannt,  um 
die  Aufsicht  über  die  Krankenkassen  zu  führen  und  die 
Rechnungen  zu  kontrolliren 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Errichtung  eines  Gewerbegerichtes  in  Augsburg.  Die 

Stadt  Augsburg  entbehrte  bisher  trotz  ihrer  entwickelten 
Industrie  eines  Gewerbegerichtes.  Nunmehr  haben  Magistrat 
und  Gemeindebevollmächtigtenkollegium  die  Errichtung 
eines  solchen  vom  1.  Januar  1893  ab  beschlossen.  Der  An- 
trag der  Handelskammer  von  Schwaben  und  Neuburg,  das 
Gewerbegericht  in  2 Kammern,  für  das  Kleingewerbe  und 
die  Grossindustrie,  zu  scheiden,  wurde  abgelehnt.  Die 
Wahlen  sollen  alle  5 Jahre  stattfinden.  Trotzdem  man  bei 
der  Berathung  des  Gewerbegerichtsgesetzes  im  Reichstage 
nur  im  Hinblick  auf  kleinere  und  ärmere  Gemeinden  davon 
abgesehen  hatte,  das  Prinzip  der  Unentgeltlichkeit  der  Ge- 
! werbegerichtspflege  als  zwingende  Regel  aufzustellen,  hat 
Augsburg  wie  München  sich  für  Gebiihrenpflichtigkeit  des 
Verfahrens  entschieden.  — Bezeichnend  ist,  dass  sowohl 
die  Handelskammer,  wie  auch  25  hervorragende.  Industrielle, 
die  um  ein  Gutachten  angegangen  worden  waren  — neben- 
bei bemerkt,  es  wurden  auch  16  Arbeiter  befragt  — sich 
sämmtlich  gegen  ein  Gewerbegericht  ausgesprochen 
hatten,  mit  der  Begründung,  dass  ein  Bedürfniss  nach 
einem  Gewerbegericht  nicht  gegeben  sei  und  durch  die 
Errichtung  eines  solchen  den  Parteieinflüssen  ein  ungleich 
weiteres  Feld  geboten  werde  als  durch  die  bisherigen  Zu- 
stände. — Bei  der  Berathung  im  Magistrat  konstatirte  der 
Referent,  dass  die  von  ihm  bei  den  Gemeindebehörden  der 
Städte,  in  denen  Gewerbegerichte  bestehen , eingeholten 
Erkundigungen  sämmtlich  zu  Gunsten  dieser  Gerichte 
ausgefallen  seien.  — Mehrere  der  grössten  Augsburger 
Fabriketablissements  werden  übrigens,  weil  ausserhalb  des 
Weichbildes  der  Stadt  gelegen,  nach  wie  vor  gewerbe- 
gerichtslos bleiben.  Ein  Antrag,  mit  den  umliegenden  Ort- 
schaften behufs  Errichtung  eines  gemeinsamen  Gewerbe- 
gerichts nach  § 1 Abs.  III  des  Gewerbegerichtsgesetzes  in 
Unterhandlungen  zu  treten,  war  im  Magistrate  abgelehnt 
worden. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Mayr,  Dr.  Georg  von,  Die  Statistik  auf  drei  internatio- 
nalen Kongressen  des  Jahres  1891.  Wien.  F.  Tempskv. 
gr.  84  59  S.  F J 

Sozialpolitische  Blätter.  Hamburg,  1892.  Fr.  Mever.  gr.  84 
I.  Jahrgang. 

Swift,  Morrison  J.,  Problems  of  the  new  life.  Assabula. 
Ohio,  1891.  Selbstverlag.  84  IV  und  126  S. 

Woedtke,  E.  von,  Krankenversicherungsgesetz.  4.  gänz- 
lich umgearbeitete  Auflage.  Lief.  I.  Berlin,  1892.  T.  Gutten- 
tag.  84  303  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin, 


414 


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Die  seit  1879  erscheinende  Wochenschrift  „Export“  ist  bestrebt,  die  Interessen 
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OF  POLITICAL  AND  SOCIAL  SCIENCE. 


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ber  ißoftäeitungslifte)  ....  3)11.  0,80 
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Bie  (ENpßhitimx 

M.  Hvi'bs,  CAtaUIdjiLtbialf i*.  55. 


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9teicb3geie§, 

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befd)äfttaten  ^et-foitett. 

©oin  11.  Juli  1887. 

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Berlin,  den  22.  August  1892. 


Nummer  34 


SOZIALPOLITISCHES 

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Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

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Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  wirthschaftliche  Ent- 
wickelung Russlands  und 
die  Erhaltung  des  Bauern- 
standes. Von  P.  v.  Struve. 
Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
YVirthschaftsstatistik : 

Amtliche  Arbeiterstatistik  im  deut- 
schen Bäcker-,  Konditoren-  und 
Handelsgewerbe. 

Sozialpolitischer  Unterricht. 

Schulkantinen  in  Frankreich. 

Der  Kongress  der  sozialistischen 
Gemeinderäthe  Frankreichs. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Strikes  und  Aussperrungen  in 
Deutschland  während  der  [ahre 
1890  und  1891.  Von  Dr.  Adolf 
Braun. 

Der  Aufruhr  in  Homestead. 

Aussperrung  von  1200  Brauern. 
Brauergehilfen  und  Küfern  in 
Hamburg. 

Der  32.  Jahresbericht  des  London 
Trades’  Council  über  das  Jahr 

1891. 

Tagesordnung  des  nächsten  Trades 
Unions  Kongresses. 


Die  Versammlung  der  englischen 
Miners  Federation. 

Strikende  Feldarbeiter  in  Slavonien. 

Politische  Arbeiterbewegung : 

Französische  Arbeit  -rkongresse. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Die  englische  Shop  Hours  Act. 

Die  Berliner  Polizei  und  die  Sonn- 
tagsruhe. 

Gewerbeinspektion : 

Die  Fabrikinspektion  in  Russisch- 
Polen. 

Arbeiterversicherung: 

Die  Entwickelung  der  Kranken- 
versicherung im  Deutschen  Reich. 

Zur  Spruchpraxis  des  Reichsver- 
sicherungsamts. 

Die  Kranken-  und  Sterbekasse  des 
schweizerischen  Grütlivereins  im 
Jahre  1891. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Entwurf  eines  Wohngesetzes  für 
das  Grossherzogthum  Hessen. 

Die  preussische  Regierung  und  die 
Wohnungsfrage  in  der  Staats- 
eisenbahnvenvaltung. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  wirthschaftliche  Entwickelung  Russlands 
und  die  Erhaltung  des  Bauernstandes. 

Man  dürfte  jetzt  kaum  Jemand  rinden,  der  leugnen 
würde,  dass  Russland  sich  auf  der  Bahn  der  kapitalistischen 
Entwickelung  befindet;  wenn  man  sich  auch  verschiedener 
Ausdrücke  für  diesen  Prozess  bedient,  so  ist  doch  in  der 
Sache  allgemeine  Uebereinstimmung  vorhanden.  Das  Ge- 
sagte rindet  indess  nur  auf  die  thatsächliche  Entwickelung 
Anwendung;  dieselbe  liegt  vor  Aller  Augen  und  braucht 
blos  constatirt  zu  werden.  Ueber  die  tieferliegenden  Ur- 
sachen und  die  Tragweite  der  wirthschaftlichen  Vorgänge, 
über  die  Frage,  welche  sozialpolitische  Folgerungen  sich 
aus  denselben  ergeben,  herrscht  dagegen  grosse  Meinungs- 
verschiedenheit. Auf  der  einen  Seite  stehen  die  politischen 
Reaktionäre  (die  Adelspartei),  welche  zwar  das  Ganze 
nicht  überblicken,  aber  einzelne  Fragen  (z.  B.  die  des 
Gemeindebesitzes)  richtig  erfassen:  sie  werden  nämlich  durch 
ihre  Interessen,  welche  sie  bald  mit  dem  Aushängeschild 


des  „Volkswohls“  dekoriren,  bald  mit  verblüffender  Un- 
genirtheit  vertreten,  auf  die  richtige  Spur  geleitet.  Aut 
der  anderen  Seite  steht  die  ehrliche,  aufrichtig  volksfreund- 
liche Presse  und  die  Mehrzahl  der  Vertreter  der  Wissen- 
schaft: ihr  Programm,  welches  die  Erweiterung  des  klein- 
bäuerlichen Grundbesitzes  durch  Ansiedelungen  und  Agrar- 
kredit  (Bauernbanken)  die  Aufrechterhaltung  des  Gemeinde- 
besitzes, Schutz  der  Hausindustrie,  Aufhebung  resp.  Er- 
mässigung  der  Einfuhrzölle,  Steuerreform  und  viele  andere 
Forderungen  enthält,  lässt  sich  in  die  Parole:  Erhaltung 
des  Bauernstandes  und  überhaupt  des  kleinen  selbständigen 
Produzenten  zusammenfassen.  Abseits  von  diesen  beiden 
Richtungen  stehen  diejenigen,  welche  die  sozialpolitischen 
Rezepte  und  Massregeln  immer  auf  ihre  innere  volkswirth- 
schaftliche  Berechtigung  resp.  Lebensfähigkeit  prüfen  und 
sich  durch  schöne  Gefühle  nicht  beirren  lassen,  in  der 
Ueberzeugung  dass  keine  Gesellschaft  ihre  „naturgemässen 
Entwickelungsphasen  weder  überspringen  noch  wegdekre- 
tiren“  sondern  nur  „die  Geburtswehenabkürzen  und  mildern“ 
kann  und  dass  der  wirthschaftliche  Fortschritt  eine  noth- 
wendige  Voraussetzung  jeder  sozialen  Reform  ist.1) 

Ohne  uns  in  eine  polemische  Erörterung  einzulassen, 
wollen  wir  hier  nur  in  grossen  Zügen  die  kapita- 
listische Entwickelung  Russlands  skizziren  und  in  diesem 
Zusammenhänge  die  Frage  der  Erhaltung  des  Bauern- 
standes behandeln.  Für  das  Verständniss  der  wirth- 
schaftlichen Entwickelung  Russlands  ist  das  bezeichnender 
Weise  bis  jetzt  in  Russland  fast  gar  nicht  gewürdigte  Werk 
A.  Skworzoffs  über  den  Einfluss  der  Eisenbahnen  auf  die 
Landwirthschaft  (Wlijanie  parowögo  transporta  na  selskoje 
chosjuistwo,  Warschau  1890,  insbesondere  Buch  IV:  „Ein- 

fluss des  Dampfverkehrs  auf  das  wirthschaftliche  Leben  der 
Gesellschaft“)  von  grundlegender  Bedeutung.  In  demselben 
ist  der  Versuch  gemacht,  die  ganze  landwirthschaftliche  Ent- 
wickelung der  letzten  Zeit  im  Sinne  der  Theorie  von  Marx 
zu  erklären. 

Durch  die  Errichtung  der  Eisenbahnen  wurde  in  ver- 
hältnissmässig  kurzer  Frist  eine  Masse  von  kapitalschwachen 
Naturalwirthschaften  (primitive  Kornwirthschaft,  resp.  wilde 
Viehzucht)  in  die  Sphäre  der  Waarenproduktion  und 
Waarenzirkulation  gezogen.  Das  war  für  dieselben  mit 
einer  Steigerung  in  erster  Linie  der  Kornpreise  gleich- 
bedeutend und  sie  sind  in  Folge  dessen  zur  Erweiterung 
der  Anbaufläche  geschritten;  diese  Wirkung  musste  das 

')  Dieser  neuerdings  von  v.  Schulze-Gävernitz  (Der  Gross- 
betrieb ein  wirthschaftlicher  und  socialer  Fortschritt.  Leipzig. 
Duncker  & Humblot  1892)  ausführlich  beleuchtete  und  begrün- 
dete Satz  wird  von  ihm  u.  E.  ganz  richtig  als  eine  Konsequenz 
des  obersten  Prinzips  der  Marx’schen  Lehre  aufgefasst.  (Vgl. 
Archiv  f.  soz.  Gesetzg.  u.  St.,  Bd.  V,  I.  Heft,  S.  26.) 


416 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  34. 


natürliche  und  durch  Einwanderung  bedingte  Anwachsen 
der  Bevölkerung  haben.  Die  Erweiterung  der  Anbaufläche 
ist  — die  Beibehaltung  des  primitiven  Ackerbausystems 
vorausgesetzt  — nur  bis  zu  einem  gewissen  Zeitpunkt  mög- 
lich; auf  die  Dauer  wird  sie  unhaltbar,  da  dabei  erstens  die 
Bodenerschöpfung  und  progressives  Sinken  der  Ernte- 
erträge eintritt,  zweitens  die  Ernteschwankungen  grösser 
werden,  während  die  Preise  auf  dem  Weltmarkt  eine  immer 
stärkere  Tendenz  zur  Ausgleichung  und  Stabilität  zeigen. 
Die  Missernten  werden  häufiger,  endlich  werden  sie 
mancherorts  zu  einer  ständigen  Erscheinung.  Der  Ruin 
einer  Masse  von  Wirthschaften  ist  besiegelt.  Dann  verlässt 
ein  bedeutender  Theil  der  ruinirten  Ackerbauer  das  Land, 
ein  anderer  liefert  wandernde  Landarbeiter;  wenn  die 
übrigen  auch  „selbständige  Produzenten“  bleiben,  so  ist 
ihre  Existenz  als  solche  nur  eine  scheinbare.  Zur  Um- 
gestaltung der  landwirthschaftlichen  Produktion,  zur 
rationellen  Produktionsweise  sind  sie  unfähig,  denn  sie 
waren  von  Anfang  an  kapitalschwach,  und  die  auch  für 
kapitalkräftige  Wirthschaften  höchst  schwierige  Aufgabe 
tritt  an  sie  heran,  als  sie  bereits  ruinirt  sind.  Diesen  Um- 
stand übersehen  diejenigen,  welche  wie  Karyscheff  in  seinem 
Werke:  Zusammenfassung  der  Resultate  der  wirtschaft- 
lichen Erforschung  Russlands  durch  die  landschaftliche 
Statistik,  Band  II:  Die  Bauernpacht,  1892,  von  einer 
„Intensifikation“  der  russischen  Landwirtschaft  unter  der 
Voraussetzung  der  Erhaltung  der  grossen  Masse  der  jetzt 
selbständigen  Produzenten  sprechen.  Es  wird  sehr  oft  das 
magische  Wort  vom  landwirthschaftlichen  Kredit  ins  Feld 
geführt,  aber  wie  kann  von  einem  Kredit  dort  ernsthaft  die 
Rede  sein,  wo  alle  Voraussetzungen  des  Kredits  fehlen,  wo 
oft  die  Mehrzahl  der  Bauern  — im  Falle  einer 
Missernte  — auf  Staatskosten  unterhalten  werden 
muss.  Und  den  unmöglichen  Fall  vorausgesetzt,  dass  der 
Staat  der  ganzen  Bauernmasse  den  Uebergang  zur  ratio- 
nellen Bewirthschaftung  des  Bodens  durch  allerhand  sozial- 
politische Massregeln  ermöglichte,  so  stellt  sich  diesem  schö- 
nen Traum  ein  neues  volkswirthschaftliches  Hinderniss  ent- 
gegen. Production  hat  doch  nur  dann  Sinn,  wenn  ihr  eine 
entsprechende  Konsumtion  zur  Seite  steht.  Dieses  be- 
deutet im  vorliegenden  Falle,  dass  für  die  „Intensification“ 
der  landwirthschaftlichen  Produktion  die  Entwickelung  der 
Städte  und  der  städtischen  Konsumtion  eine  conditio  sine 
qua  non  ist.  Dieses  Moment  ist  das  punctum  saliens  der 
ganzen  Frage:  die  rationelle  Produktion  erfordert  eine  Er- 
höhung der  inneren  Konsumtion  der  landwirthschaftlichen 
Produkte  und  zwar  der  Produkte  der  Viehzucht;  eine 
solche  Erhöhung  ist  aber  ohne  die  Entwickelung  der  Städte 
gar  nicht  denkbar.  Die  Entwickelung  der  Städte  wiederum 
fällt  mit  der  Entwickelung  der  Industrie  und  unter  den 
modernen  ökonomischen  Verhältnissen  mit  der  des  Gross- 
betriebes zusammen.  Für  den  letzteren  ist  der  freie  Arbeiter 
im  Marx'schen  Doppelsinn  eine  nothwendige  Voraussetzung, 
und  diese  Voraussetzung  verschafft  ihm  eben  die  Proletari- 
sirung  der  Landbevölkerung.  Es  ergiebt  sich  also,  dass  der 
„Scheidungsprozess  des  Arbeiters  von  den  Arbeitsbedin- 
gungen“, welcher  in  der  Landwirthschaft  vor  sich  geht  für 
diese  Entwickelung  eine  Vorbedingung  bildet.  Die  Er- 
haltung der  ganzen  Masse  des  „selbstständigen  Pro- 
ducenten“ und  der  vielgepriesenen  russischen  ökonomischen 
Gleichheit  ist  daher  nur  möglich,  wenn  die  heutigen 
unhaltbaren  Produktionsverhältnisse  und  deren  unvermeid- 
liche Konsequenzen  — wiederkehrende  Missernten  und 
Hungersnöthe  — erhalten  bleiben. 

Wir  haben  in  unseren  Ausführungen  die  ausschliess- 
lich ackerbautreibende  Bevölkerung,  welche  keinen  Neben- 
erwerb hat,  im  Auge  gehabt.  Doch  ändert  der  letztere 
nichts  an  der  allgemeinen  Tendenz  der  Entwickelung,  denn 


eines  kann  nicht  bestritten  werden:  ein  solcher  Neben- 
erwerb zeugt  von  der  niedrigen  Stufe,  auf  welcher  sich  die 
nationale  Produktion  im  Ganzen  befindet. 

Die  bisherige  wirthschaftliche  Entwickelung  Russlands, 
wie  sie  durch  die  Produktions-  und  Austauschverhältnisse 
bestimmt  wird  und  in  dem  bekannten  Satze,  dass  der  Auf- 
schwung des  russischen  Getreidehandels  mit  der  Verarmung 
und  dem  Niedergange  der  russischen  Bauernschaft  parallel 
läuft,  zusammengefasst  wird,  muss  noch  durch  andere  minder 
wichtige  Züge  vervollständigt  werden.  In  die  Waarenpro- 
duktion  ist  die  russische  Bauernschaft  nicht  nur  kapital- 
schwach resp.  kapitallos,  sondern  auch  in  ihrem  grössten 
Theile  arm  an  Land,  also  von  Anfang  der  Entwickelung 
an  keineswegs  als  eine  wirthschaftlich  homogene  Masse 
eingetreten1).  Und  eben  der  schwächste  Theil  dieser  Masse 
war  dabei  mit  Steuern  und  Abgaben  überlastet.  Es  ge- 
sellen sich  hinzu  die  für  den  kleinen  Producenten  höchst 
ungünstige  Gestaltung  des  Getreidehandels  in  Russland 
und  eine  Summe  von  wirthschaftlichen,  rechtlichen  und 
kulturellen  Momenten  (solidarische  Haftpflicht,  Gemeinde- 
besitz, unglaublich  tiefer  Stand  der  Volksbildung  etc.), 
welche  die  „Gleichheit  der  Armuth“  erhalten  und  fördern. 

Die  positive,  schaffende  Arbeit  des  kapitalistischen 
Entwicklungsprozesses,  wie  sie  sich  in  der  Entwicklung 
der  Industrie  und  der  rationellen  Landwirthschaft  darstellt, 
wird  wie  überall  so  auch  in  Russland  von  der  negativen, 
zerstörenden  Arbeit  desselben  (Proletarisirung  der  Land- 
bevölkerung und  Niedergang  der  Kleinindustrie)  überflügelt. 
Hier  kann  und  muss  der  Staat  thatkräftig  eingreifen,  nicht 
um  unhaltbare  Zustände  durch  künstliche  Mittel  aufrecht- 
zuerhalten, sondern  um  das  momentane  Elend  durch  aus- 
giebige Hilfe  zu  lindern  und  die  Volks wirthschaft  auf 
neue  Bahnen  so  schleunig-  und  schmerzlos  als  möglich 
überzuführen. 

Die  Unhaltbarkeit  der  Produktionsverhältnisse  und  die 
Unmöglichkeit,  die  Masse  der  „selbstständigen  Produzenten“ 
auf  die  Dauer  als  solche  zu  erhalten,  möge  durch  einige 
Thatsachen  beleuchtet  werden.  Im  Gouvernement  Ssamara 
ist  in  765  Dörfern  d.  s.  36  pCt.  aller  Landgemeinden  die  regel- 
mässige landwirthschaftliche  Kultur  unmöglich  geworden. 
Der  Anbau  von  besseren  Getreidearten  wird  immer 
schwieriger.  Die  Verschlechterung  des  Klimas  und  der 
Bodenverhältnisse  ist  ganz  unglaublich:  25  kleine  Flüsse 
und  10  Seen,  welche  auf  den  neuesten  Karten  sich  finden, 
sind  in  der  letzten  Zeit  ganz  verschwunden.-) 

Wie  weit  die  „Gleichheit  vor  dem  Hunger“  geht, 
zeigen  z.  B.  die  Mittheilungen  und  Daten,  welche  wir  in 
der  landschaftsstatistischen  Publikation  über  die  Ernte  des 
Jahres  1891  im  Gouvernement  Nischni-Nowgorod  finden. 
Schon  im  August  und  September  des  Jahres  1891  wird 
Folgendes  verzeichnet:  In  einem  Dorfe  wurde  von  allen 

Familien,  ausser  5,  in  dem  anderen  von  allen,  ausser  2 — 3, 
im  dritten  von  allen,  ausser  einer  Knöterich  (polygonuni 
album)  als  Nahrungsmittel  gebraucht.  Ein  Zemski  Na- 
tschulnik  (Verwaltungsbeamte)  sagt  von  seinem  Bezirk, 
dass  dort  schon  5 Jahre  keine  gute  Ernte  war.  „Dieser 
Umstand  hat  folgende  Wirkung  auf  die  Bauernschaft  aus- 
geübt: Die  Zahl  der  wohlhabenden  Bauern  hat  sich  auf 
ein  Minimum  reduzirt,  wohlhabend  sind  nur  solche  ge- 
blieben, welche  Geld  und  Eigenthum  hatten,  die  übrigen 
sind  ruinirt  worden;  Mittelwirthschaften  sind  gänzlich 
untergegangen.“  Die  Steuerrückstände  der  Bauernbevöl- 
kerung des  Gouvernements  Nischni-Nowgorod  weisen,  wenn 

) Vgl.  den  Aufsatz  von  P.  Skworzolf  über  die  Vertheilung 
des  bäuerlichen  Grundbesitzes  etc.  im  Juriditscheskij  Westnik, 
Aprilheft  1892,  §§  603-619. 

-)  Vgl.  Krasnoperoff.  Der  Hunger  von  Ssamara  im  Juri- 
discheskij  Westnik,  Märzheft  1892,  450’— 465. 


No.  34. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


417 


wir  die  Summe  derselben  im  Jahre  1882  gleich  100  setzen, 
folgende  Zahlen  auf:  1886—  156,  1888-  175,1890  - 217, 

1891  — 337,  obgleich  seit  1882  eine  starke  Ermässigung  des 
Steuerkontingentes  erfolgt  ist.1) 

Der  russische  National-Oekonom  Karyscheff  hat  vor 
Kurzem  den  Gedanken  ausgesprochen,  dass  Russland  sich 
mit  aller  Kraft  gegen  „die  Entwicklung  des  Kapitalismus 
in  der  Landwirthschaft“  wehren  soll.  Wenn  man  unter 
kapitalistischer  Landwirthschaft  eine  kapitalkräftige  und 
wiederstandsfähige  im  Gegensätze  zu  der  heutigen  russi- 
schen kapitallosen  Bauernwirthschaft  verstehen  soll , so 
nehmen  wir  keinen  Anstand  dagegen  auszusprechen,  dass 
auch  vom  sozialpolitischen  Standpunkt,  welcher  streng  ge- 
nommen niemals  mit  dem  ökonomischen  im  Konflikte  stehen 
kann,  Russland  aut  die  Entwicklung  der  kapitalistischen 
Landwirthschaft  hinzielen  muss.  Wir  denken  dabei  nicht 
an  Latifundienwirthschatt.  Diejenige  kapitalistische  Land- 
wirthschaft, welche  uns  vorschwebt  und  der  ihr  ent- 
sprechende Grundbesitz  kann  vom  westeuropäischen  Stand- 
punkt2) als  Bauern-  und  jedenfalls  als  Farmerwirthschaft 
bezeichnet  werden. 

Der  Uebergang  zu  der  so  aufgefassten  kapitalistischen 
Landwirthschaft  ist  das  einzige  Mittel  die  periodisch  wieder- 
kehrenden Hungersnöthe  unmöglich  zu  machen  und  all- 
mählich zu  einem  Gleichgewicht  zwischen  der  landwirt- 
schaftlichen und  industriellen  Produktion  zu  gelangen.  Die 
volkswirtschaftlichen  Verhältnisse,  welche  in  Russland 
herrschen,  sind  ein  mehr  als  günstiger  Boden  für  denjenigen 
Kapitalismus,  welchem  man  eigentlich  mit  diesem  Namen 
eine  Ehre  erweist  und  welcher  besser  als  allseitiger 
Wucher  bezeichnet  werden  kann.  Es  hat  sich  eben  auf 
dem  Lande  durch  Handel  und  Wucher  eine  gewisse,  nicht 
zu  unterschätzende  „ursprüngliche  Akkumulation“  vollzogen 
und  auf  ihr  beruht  dieser  spekulative  Kapitalismus  (das 
sogenannte  „Kulatschestwo“).  Er  wird  sich  aber  mit  der 
Zeit  in  produktiven  Kapitalismus  verwandeln  müssen  und 
das  wird  für  das  Volk  u.  E.  entschieden  ein  Gewinn  sein- 
Denn  als  Land-  und  Industriearbeiter  wird  der  jetzige 
„selbstständige  Produzent“  schliesslich  ein  weniger  elendes 
und  sichereres  Dasein  fristen. 

Im  Jahre  1861  ist  eine  millionenköpfige  Bauernmasse 
befreit  und  mit  Grund  und  Boden  ausgestattet  worden;  da- 
durch wurde  sie  — wenigstens  für  die  erste  Zeit  und  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  — von  einer  rücksichtslosen 
ökonomischen  Ausbeutung  durch  frühere  Herrn  gesichert. 
Dies  war  damals  der  einzig  mögliche  Weg.  Jetzt  steht  der 
Staat  vor  der  viel  schwierigeren  Aufgabe  durch  eine  Reihe 
von  ökonomischen  und  politischen  Massregeln  dafür  zu 
sorgen,  dass  der  äusserst  schmerzliche  aber  unvermeidliche 
Prozess  der  Expropriation  einer  grossen  Masse  kleiner 
Grundbesitzer  mit  möglichst  wenig  Opfern  vor  sich  gehe. 
Das  Ziel  aller  dieser  Massregeln  soll  die  Herausbildung  einer 
solchen  Form  des  Grundbesitzes  und  des  landwirtschaft- 
lichen Betriebes  sein,  welche  am  besten  die  rationelle  Pro- 
duktion sichern  könnte.  Denn  nur  auf  der  Basis  der  ra- 
tionellen Produktion  kann  sich  eine  gerechte  Verteilung 
aufbauen. 

Zum  Schluss  möchten  wir  betonen,  dass  wir  uns  voll- 
kommen dessen  bewusst  sind,  dass  die  Wandlungen  in  den 
Produktionsverhältnissen  nicht  über  Nacht  sich  vollziehen 
können;  aber  treffend  sagt  Professor  A.  Skworzoff,  dass 


b Uroschai  1891  goda  w Nischegorodskoi  gubernii  (Nischni- 
Nowgorod,  1891)  S.  90—95,  96,  105,  111  u.  v.  a.  Stellen. 

2)  Vgl.  den  Artikel  „Bauerngut  und  Bauernstand“  von 
Prof.  Conrad  im  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften. 
Der  jetzige  russische  Begriff  des  Bauern  entspricht  eben  der 
primitiven  Produktionsstufe  und  der  historisch  gegebenen 
Grundbesitzvertheilung. 


„obgleich  noch  bis  jetzt  das  Thünensche  Wort  von  der 
nicht  immer  rationellen  Wirklichkeit  seine  Gültigkeit  hat, 
dennoch  die  Möglichkeit  der  nichtrationellen  Wirtschafts- 
weise jetzt  viel  geringer  ist,  als  sie  zu  Zeiten  Thünens 
war,  und  jede  nicht-rationelle  Wirthschaft  wird  im  Wett- 
bewerbe mit  anderen,  welche  sich  besser  die  Forderungen 
der  „Rationalität  klargemacht  haben,  rasch  untergehen,“  !) 

P.  v.  Struve. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Amtliche  Arbeiterstatistik  im  deutschen  Bäcker-, 
Konditoren-  und  Handelsgewerbe.  Das  Stuttgarter  Polizei- 
amt theilt  mit,  dass  die  Erhebung  mit  der  Austheilung  der 
Fragebogen  durch  die  Schutzmannschaften  am  22.  August  d.  J. 
beginnen  wird.  Nach  6 Tagen,  am  29.  August,  sollen  die 
Fragebogen  wieder  abgeholt  werden.  Wichtig  ist  folgende 
Bestimmung  der  Bekanntmachung: 

„Soweit  in  einem  Betriebe  2 und  mehrere  Arbeiter 
und  Gehilfen  beschäftigt  sind,  haben  diese  sich  darüber 
zu  einigen,  wer  den  Fragebogen  behufs  Beantwortung  in 
Empfang  nehmen  und  erledigen  soll;  erfolgt  eine  Einigung 
nicht,  so  ist  der  am  längsten  im  Betriebe  thätige  Gehilfe 
hierzu  verpflichtet.“ 

Es  ist  wohl  anzunehmen,  dass  im  ganzen  Reichsgebiete 
die  Erhebung  gleichzeitig  vorgenommen  werden  dürfte. 

Sozialpolitischer  Unterricht.  Auf  die  Anregung  von 
Zentrumspolitikern  ist  die  Abhaltung  von  praktisch-sozialen 
Kursen  in  M.-Gladbach  zu  dem  Zwecke  beschlossen  worden, 
jüngere  Angehörige  der  Partei  (Gesellenpräsides,  Söhne  von 
Fabrikanten  u.  s.  w.)  derartig  in  der  Kenntniss  der  Sozial- 
wissenschaften heranzubilden,  dass  sie  „im  Stande  seien, 
den  sozialdemokratischen  Agitatoren  entgegenzutreten“. 
Dieser  Kursus  wird  nach  einer  Mittheilung  der  „Nat.-Ztg.“, 
am  20.  September  beginnen.  Ausser  Franz  Hitze,  der  über 
die  Arbeiterfrage  im  Allgemeinen,  Arbeiterschutz,  Arbeiter- 
versicherung, Arbeiterwohnungsfrage  lesen  wird,  werden 
an  dieser  „Volksuniversität“  thätig  sein , der  Reichstags- 
abgeordnete Bachem-Köln  (Gewerbegerichte),  Dr.  Jäger- 
Speyer  ( Agrarfrage  und  Handwerkerfrage),  Dr.  Oberd'orffer- 
Köln  (Stellung  des  Klerus  zur  Sozialdemokratie,  katholisch- 
soziale  Bewegung  in  Frankreich),  Brandts-Düsseldorf 
(Armenpflege),  Rektor  Schlick-Köln  (Gesellenvereine,  Unter- 
haltung in  denselben),  Dompfarrer  Braun- Würzburg  (die 
sittlichen  Begriffe  in  der  sozialdemokratischen  Weltan- 
schauung), Dr.  Fassbender-Ibbenbüren  (Bauernvereine  und 
Dahrlehnskassen),  Pfarrer  Liesen  (Arbeiterinnenvereine, 
Hospize,  Haushaltungsunterricht)  u.  s.  w.  An  anderen  Orten 
soll  mit  der  Errichtung  ähnlicher  Kurse  vorgegangen  werden. 
Hier  wird,  von  den  parteipolitischen  Tendenzen  abgesehen, 
mit  richtigem  Gefühl  ein  vorhandenes  Bedürfniss  zu  befrie- 
digen gesucht.  Auf  die  Dauer  geht  es  nicht  an,  dass  ein  so 
weites  und  tiefgreifendes  Gebiet,  wie  es  die  soziale  Gesetz- 
gebung und  die  mit  ihr  in  unmittelbarem  Zusammenhänge 
stehenden  Gegenstände  bilden,  ohne  eine  entsprechende 
Stellung  in  unseren  öffentlichen  Bildungsanstalten  bleiben. 
Nach  dieser  Seite  ist  sehr  bedauerlicherweise  bisher  so  gut 
wie  Alles  privater  Initiative  überlassen  geblieben.  Selbst 
an  den  Universitäten  fehlt  es  für  die  soziale  Gesetzgebung 
und  die  zugehörigen  Disziplinen  an  eigenen  Vertretern  und 
mehr  zufällig  und  beliebig  wird  bald  von  Juristen,  bald  von 
Nationalökonomen  gelegentlich  über  einen  Theil  des  Faches 
eine  in  die  Materie  wenig  eindringende  Vorlesung  gehalten. 
Der  Staat  muss  hier  Wandel  schaffen  und  in  möglichst 
weitem  Umfange  der  Bevölkerung  die  Mittel  zur  Verfügung 
stellen,  sich  auf  diesem  wichtigen  Gebiet  zuverlässige  Be- 
lehrung zu  verschaffen. 

Schulkantinen  in  Frankreich.  Paul  Lafargue,  der  be- 
kannte französische  Sozialist,  hat  über  die  Erfahrungen,  welche 
Le  Perreux,  eine  in  der  Nähe  von  Paris  gelegene  Gemeinde, 
mit  den  Schulkantinen  gemacht  hat,  interessante  Thatsachen 
veröffentlicht. 


')  A.  a.  O.  S.  701. 


418 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  34. 


Le  Perreux  zählt  6699  Einwohner,  welche  sich  auf  2102 
Familien  vertheilen.  Das  Budget  seiner  ordentlichen  und  ausser- 
ordentlichen Einnahmen  beläuft  sich  auf  172  480  Frcs.  Die  Ge- 
meindeschulen werden  gut  geleitet;  ausser  dem  gewöhnlichen 
Schulunterricht  steht  es  den  Schülern  frei,  Lehrkurse  für  Deutsch 
und  Englisch  durchzumachen.  Die  Gemeinde  verausgabt  pro 
Schüler  und  Kind  der  Vorschule  jährlich  30  Frcs.,  giebt  dagegen 
keinen  Centime  für  die  Kirche  aus;  ihr  Kultusbudget  ist  Null. 

Die  Schulkantinen  bestehen  seit  drei  Jahren.  Für  20  Cts. 
erhalten  die  Kinder  ein  Mahl,  bestehend  aus:  0,4  Liter  fetter 
Kraftbouillon,  15  Gramm  Weissbrod  in  der  Bouillon,  100  Gramm 
gekochtes  Fleisch,  200  Gramm  Weissbrod,  vi/k  Liter  Wein  mit 
Wasser.  Das  Essen,  welches  von  einem  Unternehmer  geliefert 
wird,  kostet  die  Gemeinde  pro  Schüler  25  Cts.,  so  dass  sie  also 
pro  Schüler  5 Cts.  zusetzt. 

Vom  I.  November  1891  bis  3.  März  1892,  d.  h.  im  Laufe  von 
15  Wochen  zu  je  5 Schultagen  oder  in  75  Tagen,  die  sich  auf 
15  Wochen  vertheilen,  wurden  den  Schülern  7858  Frühstücke 
verabfolgt,  davon  3481  gegen  Bezahlung  und  4377  unentgeltlich. 
Somit  haben  in  75  Tagen  im  Durchschnitt  194  täglich  in  der 
Kantine  gespeist,  d.  h.  die  Hälfte  der  Kinder  wurde  von  der 
Gemeinde  ernährt,  da  die  Zahl  der  Schulkinder,  wie  wir  gesehen 
haben.  410  beträgt. 

Die  Zahl  der  unentgeltlich  verabreichten  Frühstücke  be- 
läuft sich  auf  58  pro  Tag;  somit  hat  die  Gemeinde  den  siebenten 
Theil  ihrer  Schulkinder  unentgeltlich  gespeist. 

Morgens  vertheilen  die  Lehrer  und  Lehrerinnen  sowohl 
den  Kindern,  welche  20  Cts.  mitbringen,  wie  den  Kindern  be- 
dürftiger Familien  Speisemarken,  so  dass  die  Schüler  nicht 
wissen,  wer  von  ihnen  unentgeltlich  gespeist  wird.  Dies  ist  sehr 
wichtig,  weil  es  der  Einrichtung  jede  Spur  des  Charakters  einer 
Wohlthat  benimmt  und  die  Würde  der  Eltern  und  der  Kinder 
rettet.  Die  Zahl  der  Schüler,  welche  in  der  Kantine  speisen, 
steigt  mit  jedem  Jahr.  Der  Gemeinderath  will  noch  mehr  thun. 
Es  soll  zum  Preise  von  10  Cts.  eine  neue  Kategorie  von  Früh- 
stücken eingeführt  werden,  welche  nur  aus  Bouillon  mit  Brod 
darin  und  100  Gramm  gekochtem  Fleisch  besteht.  Der  Maire 
von  Le  Perreux  hofft,  dass  dann  die  grosse  Mehrzahl  der  Kinder 
in  der  Schule  frühstücken  wird. 

Lafargue  fügt  seinen  Angaben  noch  hinzu,  dass  200  Gramm 
Brod  vollständig  genügen,  um  den  Appetit  eines  Kindes  zu  be- 
friedigen. 

Diese  günstigen  Erfahrungen,  in  Verbindung  mit  der  Be- 
rechtigung der  Idee  an  sich,  haben  in  Frankreich  einer  Bewegung 
für  allgemeine  Verbreitung  der  Schulküchen  wachgerufen  und 
auf  einem  sozialistischen  Kongress  in  Lyon  wurde  folgendes 
Postulat  für  alle  Gemeindewahlen  aufgestellt: 

„Schaffung  von  Schulkantinen,  in  denen  die  Kinder  zwischen 
den  Morgen-  und  Abendstunden  zu  ermässigten  Preisen  oder 
gratis  eine  Mahlzeit  mit  Fleisch  erhalten,  Vertheilung  von  Schuhen 
und  Kleidern  an  die  Schulkinder  zweimal  im  Jahre,  zu  Anfang 
des  Winters  und  Sommers.“ 

Der  Kongress  der  sozialistischen  Gemeinderäthe 
Frankreichs  soll  am  11.  September  zusammentreten.  Auf 
der  Tagesordnung  stehen  u.  A.  folgende  Punkte:  1.  Beauf- 
tragung der  Gemeinden  und  des  Staates  mit  der  Versorgung 
der  Greise  und  der  Familien  und  mittellosen  Kinder  ver- 
mittelst Einrichtung  von  Hospizen  für  Arbeitsunfähige  und 
Mündel.  Eröffnung  von  Hilfsquellen  zur  Verwirklichung 
dieser  Pläne.  2.  Berathung  über  die  Wege,  die  städtischen 
Eingangszölle  zu  beseitigen.  3.  Hygieine  der  Gemeinden. 

4.  Unterdrückung  der  Monopole.  — Berathung  über  die  bei  der 
Verwaltung  der  Bergwerke  vorzunehmenden  Veränderungen. 

5.  Selbständige  und  unumschränkte  Verfügung  der  Ge- 
meinden über  ihre  Verwaltung  und  ihre  Polizei.  6.  Ueber 
die  Gemeinderechtsbarkeiten;  Einfügung  vcyi  Bestimmungen 
in  die  Kontraktbücher  zur  Vertheidigung  der  Arbeiterinter- 
essen; Beseitigung  der  Kaution  für  die  Gewerkschaften.  7. 
Berathung  über  die  Mittel,  alle  republikanisch-sozialistischen 
Schattirungen  um  ein  Minimumprogramm  zu  schaaren,  indem 
man  jeder  die  Handlungsfreiheit  bei  denjenigen  Fragen 
liesse,  über  welche  man  keinen  einstimmigen  Beschluss  Hat 
fassen  können. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Strikes  und  Aussperrungen  in  Deutschland  während 
der  Jahre  1890  und  1891. 

Den  Versuch  einer  Strikestatistik  veröffentlicht  die 
Generalkommission  der  Gewerkschaften  Deutschlands.  Leider 
ist  aus  derselben  nur  ein  höchst  unvollkommenes  Bild  über 
die  Ursachen,  Ausdehnung,  Dauer,  Kosten  und  Ergebnisse 


der  Arbeitseinstellungen  zu  gewinnen.  Von  den  befragten 
65  Organisationen  haben  nur  35  Angaben  eingesandt,  und 
auch  diese  waren  fast  ausnahmslos  unvollständig  und  viel- 
fach ungenau.  Trotzdem  ist  die  Veröffentlichung  zu  be- 
grüssen,  weil  sie  wohl  zur  Folge  haben  wird,  dass  bei 
künftigen  Arbeitseinstellungen  die  zu  einer  Statistik  er- 
forderlichen Feststellungen  rechtzeitig  gemacht  werden. 
Abgesehen  davon,  dass  die  Arbeitseinstellungen  der  nicht 
organisirten  und  der  meisten  mit  der  Generalkommission  in 
keiner  Beziehung  stehenden  organisirten  Arbeiter  in  der 
vorliegenden  Statistik  nicht  aufgeführt  werden,  fehlen  be- 
dauerlicher Weise  in  derselben  auch  die  Organisationen 
der  Former,  Schuhmacher,  Glas-,  Tabak-  und  Textilarbeiter, 
welche  in  den  Jahren  1890  und  1891  grosse  Lohnkämpfe 
durchzufechten  hatten.  Wie  sehr  dies  die  Uebersicht  be- 
einträchtigt, beweist  schon  die  Erwähnung  der  Tabak- 
arbeiteraussperrung in  Hamburg;  dieser  Lohnkampf  betraf 
3000  Personen  und  verschlang  500  000  M.  und  doch  ist  er  in 
der  Statistik  nicht  angeführt.  In  27  Organisationen  von 
den  35,  welche  die  Fragebogen  beantworteten,  kamen  An- 
griffs- bez.  Abwehrstrikes  vor  und  zwar  in  folgenden  Ge- 
werben: bei  den  Bildhauern  (14),  Brauern  (2),  Buchbindern 
(3),  Buchdruckern  (1),  Drechslern  (37),  Gärtnern  (4),  Loh- 
gerbern (4),  Weissgerbern  (7),  Glasern  (13),  Goldarbeitern 
(1 ),  Hafenarbeitern  (3),  Handschuhmachern  (7),Hutmachern(1 ), 
Kupferschmieden  (5),  Malern  (11),  Maurern  (30),  Musik- 
instrumentenarbeitern  (2),  Plätterinnen  (1 ),  Schiffszimmerern 
(1),  Schmieden  (1),  Schneidern  (7),  Seilern  (2),  Steinsetzern 
(1),  Tapezierern  (9),  Tischlern  (1 ),  Vergoldern  (6)  und 
Zimmerern  (52).  Die  Anzahl  der  bei  diesen  226  Ausständen 
betheiligten  Arbeiter  wird  auf  38  536  beziffert,  die  Aus- 
stände  dauerten,  abgesehen  von  denen  der  Drechsler,  Glaser 
und  Goldarbeiter,  die  hierüber  keine  Angaben  gemacht 
haben,  1348  Wochen.  Bei  einer  künftigen  Statistik  wird 
man  besser  thun  die  Dauer  der  Strikes  nicht  einfach  zu 
summiren,  sondern  zu  berechnen,  wie  viele  Strikewochen 
auf  die  Gesammtzahl  der  einzelneu  Strikenden  kommen. 
Die  Summirung  ist  methodisch  falsch,  was  folgendes  Bei- 
spiel beweisen  wird.  Die  10  000  strikenden  Buchdrucker 
erscheinen  mit  11,  die  60  strikenden  Musikinstrumenten- 
macher mit  40,  die  450  Bildhauer  mit  96  Strikewochen  in 
der  Statistik,  es  wurde  demnach  hier  eine  Summirung  un- 
gleic.hwerthiger  Zahlen  vorgenommen.  Insgesammt  wurden 
für  diese  Strikes  — von  den  Glasern  und  Tapezierern 
fehlen  die  Angaben  — 2 094  922  M.  verausgabt.  Hiervon 
wurden  aufgebracht  von  den  Verbandskassen  1 215  025  M., 
durch  freiwillige  Beiträge  der  Mitglieder  326  376  M.,  durch 
Beiträge  anderer  Gewerkschaften  89  209  M.,  durch  Sammel- 
listen 91  415  M.,  durch  Beiträge  aus  dem  Auslande  126  125 
Mark.  Nächst  den  10  000  Buchdruckern  mit  einer  Gesammt- 
ausgabe  von  1250  000  M.  sind  die  9827  im  Jahre  1890 
strikenden  Maurer  mit  einer  Gesanuntausgabe  von  179  902 
Mark,  die  4052  Zimmerer  mit  einer  Gesammtausgabe  von 
217  068  M.,  die  4000  Schneider  mit  einer  Gesammtausgabe 
von  28  575  M.,  die  3760  Maler  mit  einer  Gesammtausgabe 
von  34  321  M,  die  1800  Gärtner  mit  13  200  M.  Ausgaben  zu 
erwähnen,  ferner  die  grossen  Ausgaben  der  450  Bildhauer: 
29  588  M.,  der  575  Drechsler  (14  Strikes):  15  249  M.  bei 
12  Strikes,  der  455  Weissgerber:  66  637  M.,  der  588  Hand- 
schuhmacher: 78  000  M.,  der  258  Kupferschmiede:  26  778  M., 
der  700  Schiffszimmerer:  26  184  M , der  250  Tischler:  50240 
Mark,  der  277  Vergolder:  25  330  M. 

Die  Kosten  der  Strikes  sind  bei  den  verschiedenen 
Gewerben  sehr  ungleich,  leider  ist  aber  ein  Nachweis  hier- 
für aus  den  vorliegenden  Zahlenangaben  nicht  zu  erbringen, 
da  hierzu  die  Ausgaben  für  die  Strikes  in  Beziehung  ge- 
bracht werden  müssten  mit  dem  Produkte,  das  aus  der  Zahl 
der  Strikenden  und  der  Strikedauer  der  einzelnen  Striken- 
den zu  gewinnen  gewesen  wäre. 

Von  den  226  registrirten  Ausständen  waren  79  Ab- 
wehr- und  147  Angriffsstrikes.  Die  79  Abwehrstrikes  ver- 
theilen sich  folgendermassen:  Es  wird  berichtet  über  5 bei 
den  Bildhauern  (102),  22  bei  den  Drechslern  (250),  4 bei  den 
Weissgerbern  (128),  12  bei  den  Glasern  (244),  1 bei  den 
Goldarbeitern  (47),  3 bei  den  Hafenarbeitern  (189),  5 bei 


No.  34. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


419 


den  Handschuhmachern  (480),  2 bei  den  Malern  (35),  8 bei 
den  Maurern  (1683),  2 Hei  den  Musikinstrumentenmachern 
(60),  je  einer  bei  den  Schiffszimmerern  (700),  Schneidern 
(50),  Seilern  (13),  Tapezierern  (80)  und  Tischlern  (250),  4 
bei  den  Vergoldern  (156)  und  6 bei  den  Zimmerern  (672). 
An  denselben  waren  zusammen  5139  Arbeiter  betheiligt, 
für  die  einzelnen  Gewerbe  befinden  sich  die  betreffenden 
Angaben  in  Klammern.  Die  Abwehrstrikes  dauerten  ins- 
gesammt  509  Wochen,  demnach  im  Durchschnitt  45yin  Tag, 
während  die  Angriffsstrikes  durchschnittlich  40 1/7  Tage 
dauerten. 

Von  den  Abwehrstrikes  wurden  19  durch  die  Forde- 
rung der  Unternehmer  aus  den  Organisationen  auszutreten, 
10  durch  andere  Massregel ungen  der  Arbeiter,  36  durch 
Lohnreduktionen,  10  durch  Verlängerung  der  Arbeitszeit 
und  4 durch  Oktroirung  von  Fabrikordnungen  verursacht. 
13  ganz  und  30  theil weise  erfolgreichen  Ausständen  standen 
25  erfolglose  gegenüber. 

Bei  147  Ausständen  waren  die  Arbeiter  die  angreifende 
Partei.  Wir  führen  die  Anzahl  der  bei  denselben  betheiligten 
33  397  Arbeiter  bei  den  einzelnen  Gewerben  wieder  in  Klam- 
mern an:  9 Strikes  bei  den  Bildhauern  (248),  2 bei  den 
Brauern  (230),  3 bei  den  Buchbindern  (94),  I bei  den  Buch- 
druckern (10  000),  15  bei  den  Drechslern  (bei  vieren  325), 

4 bei  den  Gärtnern  (1800),  4 bei  den  Lohgerbern  (170),  3 
bei  den  Weissgerbern  (327),  1 bei  den  Glasern  (8),  2 bei 
den  Handschuhmachern  (108),  1 bei  den  Hutmachern  (24), 

5 bei  den  Kupferschmieden  (258),  9 bei  den  Malern  (3725), 
22  bei  den  Maurern  (8144),  1 bei  den  Plätterinnen  (74),  7 
bei  den  Schneidern  (4000),  1 bei  den  Seilern  (41),  1 bei  den 
Steinsetzern  (50),  8 bei  den  Tapezierern  (270),  2 bei  den 
Vergoldern  (121)  und  46  bei  den  Zimmerern  (3380).  Diese 
Strikes  dauerten  zusammen  352  Wochen.  Die  Ausgaben 
für  die  Angriffstrikes  betrugen  1 825  300  M.,  hiervon  ent- 
fallen 1'/4  Milk  M.  auf  den  Buchdruckerstrike,  176  544  M. 
auf  die  Angriffstrikes  der  Zimmerer,  149  049  M.  auf  die  der 
Maurer,  59  791  M.  auf  die  der  Weissgerber,  33  071  M.  auf 
die  der  Maler,  28  575  M.  auf  die  der  Schneider,  26  778  auf 
die  der  Kupferschmiede,  26  588  auf  die  der  Bildhauer, 
15  000  auf  die  der  Handschuhmacher,  13  200  auf  die  der 
Gärtner  u.  s.  w.  117  Ausstände  bezweckten  Verkürzung 
der  Arbeitszeit  und  23  Lohnerhöhung;  54  ganz  und  59 
theilweise  erfolgreichen  Ausständen  standen  30  erfolglos 
verlaufene  gegenüber. 

Wie  lückenhaft  die  ganze  Statistik  ist,  zeigt  u.  A., 
dass  selbst  bei  den  wohlorganisirten  Buchdruckern  die 
Angaben  über  die  gelegentlich  des  letzten  Strikes  geleisteten 
freiwilligen  Beiträge  der  eigenen  Mitglieder,  der  Gewerk- 
schaften und  über  die  durch  Sammellisten  aufgebrachten 
Beiträge  fehlen.  Dass  aus  diesen  Quellen  sehr  ansehnliche 
Beiträge  geflossen  sind,  zeigten  die  Abrechnungen  für 
Berlin,  Leipzig  und  den  Dresdener  Bezirk.  Ausgaben  und 
Einnahmen  bilanziren  im  Dresdener  Bezirk  mit  75  975,01  M., 
52  836,50  M.  wurden  von  der  Verbandskasse,  17  542,05  M. 
von  den  Dresdener  Buchdruckern,  2148,48  M.  von  anderen 
Arbeitern  aufgebracht  und  3447,98  M.  als  „diverse  Ein- 
nahmen“ verrechnet.  Diese  ganze  Summe  wurde  mit 
Ausnahme  von  34,51  M.,  welche  für  Druckkosten  und 
Diverses  verwandt  wurden,  für  Unterstützungen  veraus- 
gabt. Hoffentlich  folgen  die  übrigen  Gaue  noch  nach, 
so  dass  es  möglich  sein  wird,  über  einen  der  grössten 
deutschen  Arbeiterausstände  die  rechnerische  Bilanz  zu 
ziehen.  Freilich  wird  diese  nicht  genau  sein,  weil  von  den 
Unterstützungen,  die  aus  drei  Hauptquellen  flössen:  aus 
der  Verbands-,  den  Gau-  und  den  Ortskassen,  die  Abrech- 
nungen der  letzteren  nicht  veröffentlicht  werden  dürften. 

Ueber  den  nächst  dem  grossen  Bergarbeiter-  und 
Buchdruckerausstande  bedeutungsvollsten  Ausstand,  dem 
der  deutschen  Former,  enthält  das  „Correspondenzblatt“ 
detaillirte  Angaben,  die  wir  hier  auszugsweise  wiedergeben. 
Die  Kämpfe  im  Formergewerbe  dauerten  von  Herbst  1888 
bis  Mitte  1891.  Im  Herbste  1888  brachen  Angriffstrikes  aus 
in  Bredow  b.  Stettin,  Flensburg,  Halle,  Dresden,  Bernburg, 
Duisburg,  Bremen,  Hannover  und  anfänglich  auch  Braun- 
schweig. Nachdem  schon  in  Braunschweig  die  Differenzen 


zwischen  den  Unternehmern  und  Formern  geregelt  und 
beigelegt  waren,  bildete  sich  noch  vor  dem  endgiltigen 
Friedensschluss  und  diesen  vereitelnd  die  Koalition  der 
Unternehmer,  und  nun  erfolgte  die  Aussperrung  in  einer 
Stadt  nach  der  anderen.  In  Braunschweig,  wo  ein  par- 
tieller Strike  nur  wenige  Tage  gedauert  hatte,  erfolgte  die 
erste  Aussperrung  sämmtlicher  Former.  Ihr  folgten  die  in 
Hamburg  und  schliesslich  im  Februar  1890  auch  in  Altona- 
Ottensen  nach.  Ein  riesiger  Kampf  entspann  sich  nun,  der 
auf  der  ganzen  Linie  mehr  oder  weniger  bis  in  den  Spät- 
sommer 1891  andauerte. 

Vom  Beginn  des  Kampfes  1888  bis  zum  I.  April  1890 
kosteten  die  Ausstände  in 


Braunschweig 37  650,00  M.  I 

Hamburg 80  373,89  „ 

Altona-Ottensen 20  264,75  „ I 

Bredow  b.  Stettin  ....  4058,32  „ 

Flensburg 9 803,07  „ 

Halle  a./S 2 431,74  „ 

Dresden 3 608,85  „ 

Bernburg I 295,40  „ 

Duisburg 2 650,00  „ 

Bremen^ 291,85  „ 

Hannover 16  900,00  „ 


Gesammtsumme  . . 179  327,87  M. 


Aussperrungs- 

gebiet. 


Gebiet 

der  partiellen 
Strikes. 


Vom  1.  April  1890  bis  zum  I.  Januar  1891  wurden 
dann  noch  insgesammt  für  die  Aussperrungen  ausgegeben 
2880,25  M.,  so  dass  die  Gesammtsumme  dieses  Kampfes  sich 
auf  182  208,12  M.  beläuft.  Die  thatsächlich  ausgegebene 
Summe  entzieht  sich  der  Berechnung. 

Für  die  Gemassregelten  wurden  nachträglich  noch 
2795  M.  und  für  die  im  Kampfe  um  das  Koalitionsrecht 
befindlichen  Arbeiter  anderer  Berufe  3285  M.  aufgebracht. 
Ferner  wurden  zur  Beschaffung  von  Weihnachtsgeschenken 
für  die  Kinder  der  ausgesperrten  Former  926  M.  ver- 
ausgabt. 

Ein  erheblicher  Theil  dieser  Gelder  ist  von  Arbeitern 
aufgebracht  worden,  die  der  Gewerkschaft  fern  standen, 
jedoch  in  diesem  Falle  sich  verpflichtet  hielten,  ihren 
kämpfenden  Kollegen  hilfreich  zur  .Seite  zu  stehen. 

Dass  die  Strikestatistik  der  Gewerkschaften  in  erheb- 
lichem Masse  verbessert  werden  muss,  wenn  sie  ihren  Zweck 
erfüllen  soll,  haben  wir  schon  angedeutet.  Zu  richtigen 
Resultaten  wird  man  auf  dem  eingeschlagenen  Wege 
nicht  gelangen  Man  darf  nicht  nach  mehr  als  Jahresfrist 
detaillirte  Angaben  über  den  Verlauf  von  Arbeitseinstel- 
lungen einfordern;  das  richtige  Verfahren  scheint  uns  das 
folgende  zu  sein.  Man  versendet  allwöchentlich  während 
der  Dauer  des  Ausstandes  Fragebogen  an  alle  Orte,  in 
denen  gestrikt  wird,  beziehungsweise  wo  Arbeiter  ausge- 
sperrt sind  und  fordert  unter  Zusicherung  vorläufiger  Ge- 
heimhaltung und  Verschiebung  der  Veröffentlichung  bis 
nach  Ausgang  der  Bewegung  allwöchentlich  die  ausge- 
sandten Fragebogen  wieder  ein.  Man  verschickt  ferner  zur 
Durchführung  der  Kontrolle  nach  Beendigung  des  Ausstan- 
des wieder  Formulare  mit  Fragen  über  den  Verlauf  der 
ganzen  Bewegung.  Bei  einigem  guten  Willen  und  ohne 
allzu  grosse  Mühe,  könnte  auf  diese  Weise  eine  brauchbare, 
interessante  und  für  die  Betheiligten  nützliche  Statistik 
gewonnen  werden. 

Die  Unvollkommenheit  der  gegenwärtigen  Erhebung 
zwingt  Zurückhaltung  bei  der  Besprechung  der  thatsäch- 
lichen  Resultate  auf.  Doch  kann  man  bereits  aus  der  lücken- 
haften Statistik  erkennen,  dass  Strikes  und  Aussperrungen 
in  Deutschland  i.  d.  R.  sehr  lange,  wir  möchten  behaupten, 
viel  zu  lange,  währen,  dass  vielfach  nicht  bei  Erkenntniss 
der  Aussichtslosigkeit  des  Vorgehens,  sondern  erst  bei 
Eintritt  vollkommener  Erschöpfung  der  Arbeiter  die  für 
die  Arbeiter  ungünstig  verlaufenden  Ausstände  beendet 
werden.  Wenn  auch  die  Zähigkeit  und  Opferwilligkeit  der 
Arbeiter  alle  Anerkennung  verdient,  so  darf  doch  nicht 
geleugnet  werden,  dass  diese  häufige  Beobachtung  als  ein 
Zeichen  der  unzulänglich  ausgebildeten  Gewerkschafts- 
organisation betrachtet  werden  muss.  Die  Thatsache  da- 
gegen, dass  die  Angriffstrikes  häufiger  für  die  Arbeiter, 
die  Abwehrstrikes  häufiger  für  die  Unternehmer  günstig 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  34. 


ausfallen,  spricht  hiergegen  für  ein  nicht  geringes  Mass 
richtigen  Instinktes  bei  Beurtheilung  der  wirthschaftlichen 
Situation,  sowohl  bei  den  Unternehmern,  bei  denen  dies 
leichter  erklärlich  ist,  als  auch  bei  den  Arbeitern.  Erfreu- 
lich ist  endlich,  dass  der  Kampf  der  Arbeiter  hauptsächlich 
auf  die  Erkämpfung  einer  kürzeren  Arbeitszeit  gerichtet 
ist.  Es  spricht  dies  dafür,  dass  die  Wünsche  der  Arbeiter- 
klasse sich  weit  mehr  als  auf  Lohnerhöhung  auf  die  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  konzentriren , woraus  geschlossen 
werden  kann,  dass  bei  Gewährung  eines  nicht  zu  langen 
Maximalarbeitstages  die  Zahl  und  Ausdehnung  der  Aus- 
stände sich  nicht  unerheblich  vermindern  würde. 

Hoffentlich  wird  die  nächste  Strikestatistik  der  deut- 
schen Gewerkschaften  vollständiger  und  genauer  sein.  Es 
liegt  dies  zum  mindesten  ebenso  sehr  im  Interesse  der  Ge- 
werkschaften selbst,  als  in  dem  der  Wissenschaft  und  der 
praktischen  Politik. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Der  Aufruhr  in  Homestead. 

Ein  Kampf,  dessen  schliesslicher  Ausgang  und  dessen 
Bedeutung  für  die  amerikanische  Arbeiterbewegung  in  dem 
Augenblick,  da  dies  geschrieben  wird,  noch  nicht  abzu- 
sehen ist,  findet  jetzt  in  dem  Pennsylvanischen  Städtchen 
Homestead  bei  Pittsburg  statt.  Jedenfalls  ist  dieser  Kampf 
eines  der  wichtigsten  Ereignisse  in  der  Entwickelung  der 
amerikanischen  Arbeiterbewegung  und  steht  als  solches 
neben  dem  Pittsburger  Aufstand  des  Jahres  1877  und  der 
Chicagoer  Bombenaffaire  vom  4.  Mai  1886. 

Der  westliche  Theil  des  Staates  Pennsylvanien  mit 
seinen  ungeheuren  Kohlenfeldern  ist  das  Centrum  der 
grossen  und  mächtig  sich  ausdehnenden  amerikanischen 
Eisenindustrie,  ebenso  wie  die  Neu-Englandstaaten  im  Nord- 
osten, mit  Fall  River  als  Mittelpunkt,  die  Textilindustrie 
beherrschen.  Die  Arbeiterbevölkerung  beider  Landestheile 
ist  jedoch,  den  Berufsarten  gemäss,  sehr  verschieden.  Das 
Textilgeschäft  braucht  Frauen-  und  Kinderarbeit,  um  die 
Männer  zu  ersetzen  und  deren  Widerstand  zu  brechen.  Die 
ganze  x\rbeiterbevölkerung  des  Ostens  hat  dadurch  etwas 
Lammfrommes,  Geduldiges,  giebt  es  doch  Orte,  wo  die 
männliche  Bevölkerung  derart  in  der  Minorität  ist,  dass 
man  diese  Ortschaften  als  „weibliche“,  das  heisst  mit  dem 
unübersetzbaren  englischen  Ausdruck  she  towns  bezeichnet. 

Anders  in  West-Pennsylvanien.  In  den  Kohlengruben, 
Hochöfen,  Eisen-  und  Stahlwerken  ist  Frauen-  und  Kinder- 
arbeit nur  zum  geringeren  Theil  zu  verwenden  Die 
Arbeiterbevölkerung  hat  daher,  trotzdem  — oder  vielleicht 
gerade  weil  — sie  in  der  Erkenntniss  ihrer  Klassenlage 
hinter  den  Arbeitern  Europas  zurück  ist,  etwas  männlich 
Rebellisches  gewonnen  und  behalten.  Durch  impulsiven, 
heftigen  Widerstand  glaubten  sowohl  Kohlengräber  wie 
Eisenarbeiter  zu  fast  unzähligen  Malen  das  zu  erreichen, 
resp.  zu  wahren,  was  sie  als  ihre  Rechte  erachteten.  Der 
Mittelpunkt  dieses  Gebiets  ist  Pittsburg,  der  Schauplatz  des 
Aufstandes  von  1877. 

Unter  hohen  Schutzzöllen,  angesichts  des  gewaltigen, 
schnell  anwachsenden  Eisenbahnnetzes  und  des  jetzt  wieder 
in  Flor  kommenden  Baues  eiserner  Schiffe  hat  sich  die 
Eisen-  und  Stahlindustrie  mit  fabelhafter  Rapidität  ent- 
wickelt. Neue  Erfindungen,  verbesserte  Maschinen  lösten 
einander  in  schneller  Reihenfolge  ab.  Gleichzeitig  nahm 
natürlich  die  Menge  des  Produkts  im  Verhältniss  zur  Zahl 
der  beschäftigten  Arbeiter  ungeheuer  zu  und  unter  den 
letzteren  wieder  wurden  in  noch  viel  grösserem  Masse  die 
gelernten,  qualificirten  Arbeiter  durch  unqualificirte,  ein- 
fache Taglöhner  verdrängt.  Der  Durchschnittsarbeitslohn 
sank. 

Diese  Verdrängung  gelernter  Arbeiter  durch  Tag- 
löhner hatte  eine  theilweise  Veränderung  in  der  Zusammen- 
setzung der  Bevölkerung  zur  Folge.  Eingeborene  Ameri- 
kaner sahen  sich  überflüssig  gemacht,  mussten,  soweit  die 
kleinbürgerliche  Zwischenhändlerklasse  sie  nicht  aufzu- 


saugen vermochte,  ihr  Bündel  schnüren  und  nach  anderen 
Landestheilen  auswandern,  wo,  wie  in  einzelnen  Theilcn 
des  Südens,  eine  neu  entstehende  Eisen-  und  Stahlindustrie 
ihrer  bedurfte,  allerdings  nur,  um  ihren  daheimgebliebenen 
Kollegen  Konkurrenz  zu  machen.  Der  schnell  sich  steigernde 
Bedarf  machte  jedoch  diese  Konkurrenz  eine  Zeit  lang 
weniger  fühlbar. 

An  Stelle  der  Ausgewanderten  und  sonst  Verdrängten 
erschienen  italienische  und  slowakische  Taglöhner,  letztere 
hier  zu  Lande  als  „Hunnen“  bezeichnet,  welche,  abgesehen 
davon,  dass  die  Verdrängten  in  ihnen  ihre  Verdränger 
sehen,  auch  noch  für  einen  sehr  geringen  Tagelohn  zu 
arbeiten  gewohnt  sind  und  deshalb  den  Hass  der  einge- 
borenen Bevölkerung  im  hohen  Grade  zu  fühlen  haben, 
trotzdem  gerade  sie  es  sind,  welche  bei  den  zahlreichen 
Strikerebellionen  der  letzten  fahre  sich  als  die  Heftigsten 
und  Rücksichtslosesten  in  der  Verfechtung  ihrer  Forderungen 
erwiesen. 

Als  vor  Jahresfrist  bei  einem  Strikekrawall  in  Brad- 
docs  vor  einem  der  Carnegie’schen  Werke  ein  Werkführer 
erschlagen  wurde  und  mehrere  der  Theilnehmer  an  dem 
Auflauf,  ja  einer  der  Strikeführer  der  an  demselben  über- 
haupt nicht  1 heil  nahm,  auf  scheinbar  sehr  ungenügendes 
Beweismaterial  hin  zum  Tode  verurtheilt  wurden,  sahen  die 
mit  dem  Munde  stets  von  Gesetzesliebe  Überfliessenden 
Amerikaner  unter  den  Arbeitern  in  den  „Hunnen“  nichts 
als  eine  „gesetzlose  Bande  von  Ausländern“,  trotzdem 
Tausende  von  Beispielen  dafür  sprechen,  dass  thatsächlich 
kein  civilisirtes  Volk  so  wenig  die  von  ihm  selbst  gegebenen 
Gesetze  beachtet,  wie  das  amerikanische.  Die  Vorgänge 
in  Homestead  bilden  einen  schlagenden  Beweis  dafür. 

Ist  Pittsburg  und  seine  nächste  Umgegend,  wozu 
auch  die  Ortschaft  Homestead  gehört,  das  Centrum  der 
Eisen-  und  Stahlindustrie  des  Landes,  so  bildet  die  Car- 
negie Stahlkompagnie  den  Mittelpunkt  dieses  Centrums  und 
damit  des  ganzen  Landes,  soweit  dieser  Geschäftszweig  in 
Betracht  kommt.  Dieselbe  wurde  erst  kürzlich  an  die  sechs- 
zehn, zum  Theil  bereits  früher  von  Carnegie  und  seinem 
energischen  Statthalter  Frick  geleiteten  Firmen  zusammen 
geschlossen,  nämlich  aus  den  Firmen  Carnegie  Bros.  & Co., 
Carnegie,  Phipps  & Co.,  Allegheny  Bessemer  Stahl  Co., 
Keystone  Brücken  Co.,  Edgar  Thomson  Hochöfen,  Edgar 
I homson  Stahlwerke,  Homestead  Stahlwerke,  Lucy  Hoch- 
öfen, Keystone  Brückenwerke,  Obere  und  Untere  Union- 
werke, Beaver  Falls-Werke,  Scioto  Erzgruben,  Larimer 
Cokeswerke  und  Youghiogheny  Cokeswerke. 

Carnegie,  ein  Schotte  und  vielfacher  Millionär,  ist  so- 
mit der  bei  weitem  mächtigste  König  im  Reiche  der 
Eisen-  und  Stahlmagnaten,  der  Führer  im  gegenwärtigen 
Kampfe  gegen  ihre  rebellischen  Arbeiter. 

Carnegie  verstand  es  in  den  letzten  Jahren  und  ver- 
steht es  auch  jetzt  wieder,  sich  hinter  seinem  Vertreter 
Frick  zu  verstecken  und,  während  in  und  um  seine 
Werken  die  heftigsten  Arbeiterkämpfe  tobten,  bei  denen 
es  mehrmals  zu  Blutvergiessen  kam,  auf  eines  seiner  Land- 
güter im  tiefsten  Innern  Schottlands,  fern  vom  Getriebe 
der  Welt,  zurückzuziehen  und  seinem  Vertreter  Frick  die 
Leitung  der  Kämpfe  zu  überlassen,  um  in  der  Zwischenzeit 
verhältnissmässiger  Ruhe  geistreiche  radikal-freidenkerische, 
von  demokratischen  und  arbeiterfreundlichen  Redensarten 
übersprudelnde  Vorträge  zu  halten  und  Artikel  resp.  Bücher 
zu  schreiben. 

Frick,  Carnegie's  Geschäftstheilhaber  und  Vicekönig, 
ist  ein  Mann  von  42  Jahren,  ausgezeichnet  durch  unver- 
wüstliche körperliche  Gesundheit  und  Energie,  welch 
letztere  er  aufs  Rücksichtsloseste  in  seinem  und  Carnegie’s 
Interesse  zur  Anwendung  bringt. 

Von  den  etwa  4000  Arbeitern  in  den  Werken  von 
Homestead  gehören  nicht  ganz  300,  das  heisst  die  Mehrzahl 
der  qualificirten,  der  grossen  Organisation  der  Ver- 
einigten Gesellschaft  der  Eisen-  und  Stahlarbeiter  an,  einem 
Arbeiterverband,  welcher  bisher  als  einer  der  stärksten  im 
Lande  angesehen  wurde  Dieser  Verband  schloss  jährlich 
im  Monat  Juni,  nachdem  die  Delegatenkonvention  desselben 
die  Lohntabelle  festgestellt  hatte,  seine  Kontrakte  mit  den 


No.  34. 


SOZIALPOLITISCHES  < :ENTRALRLATT. 


421 


Besitzern  der  Werke  in  den  verschiedenen  Regionen  ab, 
welche  vom  1.  Juli  bis  30.  Juni  des  folgenden  Jahres  gültig 
waren  und  worin  die  Eigenthtimer  der  Werke  resp.  deren 
Vertreter  sich  verpflichteten,  während  der  Dauer  eines 
Jahres  die  Lohntabelle  des  Verbandes  anzuerkennen.  Dies 
System  genügte,  so  lange  der  Konsum  einigermassen  im 
Stande  war,  die  stets  wachsende  Leistungsfähigkeit  der 
Werke  aufzusaugen.  Als  jedoch  dieser  Punkt  überschritten 
war,  musste  ein  Zusammenstoss  der  Interessen  erfolgen. 
Derselbe  wurde  lange  vor  Ablauf  des  vorjährigen  Kon- 
traktes von  Seiten  der  Eigenthümer  geplant,  von  Seiten  der 
Arbeiter  und  des  Publikums  erwartet.  Alle  bereiteten  sich 
auf  denselben  vor. 

Der  Verband  forderte  in  seiner  diesjährigen  Kon- 
vention Anerkennung  der  Lohntabelle  für  ein  weiteres  Jahr. 
Etwa  ein  Drittel  der  Eigenthümer  forderte  eine  Reduktion 
der  Löhne,  dass  die  Abmachung  nur  bis  zum  31.  Decem- 
ber  gültig  sein,  in  Zukunft  die  Jahreskontrakte  im 
Dezember  abgeschlossen  und  mit  Beginn  des  Kalender- 
jahres in  Kraft  treten  sollen.  Die  Jahreswende  ist  natürlich 
im  Eisengeschäft  eine  flaue  Zeit,  während  die  Produktion 
in  der  Jahresmitte  eine  verhältnissmässig  lebhafte  ist.  Unter 
denen,  welche  sich  der  Forderung  des  Verbandes  wider- 
setzten, befand  sich  in  erster  Linie  die  Carnegie  Stahl  Co. 

Der  Flecken  Homestead,  eine  Vorstadt  von  Pittsburg, 
ist  vollständig  von  den  dortigen  Carnegie’schen  Werken 
abhängig.  Abgesehen  von  den  zahlreichen  Kleinbürgern  etc., 
welche  von  einer  Menge  von  4000  Arbeitern  ernährt 
werden,  wohnt  in  der  Ortschaft  fast  Niemand  ausser  eben 
diesen  Arbeitern  und  den  wenigen  Beamten  der  Werke, 
letztere  abgesondert  von  der  übrigen  Bevölkerung  in  den 
Werken  selber.  Die  Verwaltung  der  Ortschaft  befand  sich 
vollständig  in  Händen  der  Arbeiter,  welche  ihre  Kollegen 
oder  Anhänger  aus  der  Kleinbürgerklasse  in  die  von  ihnen 
zu  vergebenden  Aemter  wählten.  Auch  die  Polizei  war  in 
ihren  Händen. 

Frick  bereitete  in  Folge  dessen  den  Kampf  im  grossen 
Stil  vor.  Er  liess  den  grossen  Landkomplex,  auf  dem  die 
Werke  stehen,  zwischen  denen  zwei  Eisenbahnschienen- 
stränge hindurchgehen,  mit  einer  12  Fuss  hohen,  mit 
Schiessscharten  versehenen  Bretterwand  umgeben,  mit 
einem  hohen  Wachtthurm  versehen,  die  Bretterwand  oben 
mit  drei  Reihen  Stacheldraht,  welcher  jeden  Augenblick 
mit  Elektricität  geladen  werden  konnte,  garniren,  und  hielt 
ferner  einen  langen  Spritzenschlauch,  der  unter  Umständen 
an  einen  mit  heissem  Wasser  gefüllten  Kessel  geschraubt 
und  gegen  Eindringlinge  in  Anwendung  gebracht  werden 
konnte,  bereit.  Als  ihm  die  Forderung  des  Verbandes  vor- 
gelegt wurde,  bot  er  zuerst  eine  Lohnreduktion  und  Ver- 
legung der  Kontrakttermine  auf  die  Jahreswende  an  und 
brach,  als  dies  nicht  sofort  acceptirt  wurde,  alle  Verhand- 
lungen ab,  indem  er  erklärte,  in  Zukunft  würde  kein  Ver- 
bandsmitglied mehr  in  den  Homestead-Werken  Anstellung 
erhalten.  Am  30.  Juni  wurden  die  Feuer  gelöscht  und  am 
1.  Juli  die  Werke  geschlossen.  Viertausend  Arbeiter,  von 
deren  Verdienst  die  ganze  Ortschaft  abhing,  sahen  sich  auf 
die  Strasse  geworfen,  denn  ohne  die  gelernten  Arbeiter 
konnten  die  Taglöhner,  welche  meist  dem  Verband  nicht 
angehören,  nicht  arbeiten.  Amerikaner  und  „Hunnen“  be- 
fanden sich  plötzlich  in  gleicher  Lage  und  sahen,  dass  ihre 
Interessen  dieselben  seien. 

Eines  hatten  jedoch  die  „Hunnen“  vor  den  Amerikanern 
voraus.  Letztere  hatten  sich  durch  Abzahlungen  zum 
grössten  Theil  in  Besitz  der  unter  Leitung  der  Firma  für 
sie  gebauten  Wohnhäuser  gesetzt  und  sind  somit  mehr  als 
die  eingewanderten  Taglöhner,  welche  von  ihrem  Hunger- 
lohn keine  Ersparnisse  von  Bedeutung  zu  machen  ver- 
mochten, an  die  Scholle  und  an  die  Werke  Car- 
negie’s  gebunden.  Sie  verlieren,  wenn  sie  nicht  ihr  dem 
Verband,  ihrer  Schutzwehr  gegen  die  Kapitalmacht, 
gegebenes  Ehrenwort  brechen  wollten,  nicht  allein  ihre 
Anstellungen,  sondern  auch  ihre  Häuser,  welche  sie  im 
Fall  der  Noth  natürlich  bedeutend  unter  dem  Werth  ver- 
kaufen müssten.  Es  waren  diesmal  die  ihrer  Einbildung 
nach  gesetzliebenden  Amerikaner,  welche,  durch  das 


idyllische  und  vielgerühmte  System  der  Arbeiterhäuser  zum 
bewaffneten  Aufstand  und  blutigen  Kampf  getrieben 
wurden.  Allerdings  kämpften  auch  „Hunnen“  an  ihrer 
Seite. 

Am  4.  Juli,  dem  nationalen  Feiertage  der  Vereinigten 
Staaten,  hatten  die  Arbeiter  in  Homestead  und  anderen 
Gegenden  Zeit,  über  die  Schönheiten  ihrer  republikanischen 
„Freiheit“  und  „Unabhängigkeit“  nachzudenken,  denn  gleich- 
zeitig wurden  alle  Werke,  deren  Besitzer  die  Lohntabelle 
nicht  anerkannt  hatten,  geschlossen.  In  der  Nacht  vom  5. 
bis  6.  Juli  riefen  sie  Raketen-  und  Dampfpfeifen-Signale  zu 
den  Waffen. 

Bereits  früher  hatte  der  Sheriff,  der  Hauptexekutiv- 
beamte des  County,  dem  Pittsburg  und  Homestead  ange- 
hören mit  einer  wenig  zahlreichen  Mannschaft  versucht,  die 
Werke  zu  besetzen  und  zur  Aufnahme  resp.  Beschützung 
von  nicht  dem  Verband  angehörigen  Arbeitern  bereit  zu 
halten,  da  Angriffe  auf  solche  seitens  der  Bevölkerung  der 
ganzen  Ortschaft  mit  Sicherheit  zu  erwarten  waren.  Die 
Mannschaft  wurde  von  den  Arbeitern  mit  Höflichkeit,  aber 
desto  grösserer  Entschiedenheit  am  Eingang  der  Werke 
angehalten  und  aus  der  Ortschaft  hinauskomplimentirt. 

Eine  Eigenthümlichkeit  der  Vereinigten  Staaten  ist 
die  Pinkerton’sche  Privatpolizei,  welche  ihres  Gleichen  in 
der  Welt  nicht  hat.  Am  ähnlichsten  ist  dieselbe  den  Lands- 
knechtsbanden des  Georg  von  Frundsberg  und  den  Horden 
der  Condottieri  früherer  Jahrhunderte,  eine  Organisation 
von  Lumpenproletariern,  welche  jederzeit  verstärkt  werden 
kann,  und  welche  von  ihrem  Chef,  Robert  Pinkerton,  je 
nach  Bedarf  an  grössere  Kapitalisten  zum  Schutz  ihrer 
Werke  und  angestellten  Nicht verbandsleute  in  Fällen  von 
Strikes  oder  Ausschlüssen  vermiethet  wird.  Diese  unge- 
drillten,  aber  uniformirten  und  mit  Repetirgewehren  neuester 
Konstruktion  bewaffneten  „Wächter“,  welche  stets  bereit 
sind,  die  im  Lauf  des  Gewehres  befindliche  Kugel  irgend 
| Jemandem,  der  ihnen  ihrer  Meinung  nach  zu  nahe  kommt, 
in  den  Leib  zu  jagen,  haben  bereits  eine  stattliche  Anzahl 
Morde  auf  dem  Gewissen,  allerdings  ohne  dass  je  einer  von 
ihnen  dafür  bestraft  worden  wäre.  So  schossen  z.  B.  vier 
von  ihnen  im  Winter  1887  in  jersey-City,  gegenüber  von 
New-York,  gleichzeitig  auf  eine  Rotte  kleiner  Knaben, 
welche  sie  mit  Schneebällen  und  Eisstücken  bewarfen,  und 
tödteten  einen  derselben.  Sie  wurden  wegen  Mordes  pro- 
zessirt  und  freigesprochen,  da  nicht  festzustellen  war, 
wessen  Kugel  den  ermordeten  Knaben  getödtet 
hatte. 

Nahezu  300  Mann  dieser  Privatpolizei,  zum  grossen 
Theil  neu  Angeworbene,  wurden  im  Geheimen  nach  Pitts- 
burg gebracht.  Sie  sollten  früh  am  Morgen  des  6.  Juli  auf 
zwei  Booten,  von  einem  Schleppdampfer  gezogen,  von  der 
offenen  Wasserseite  der  Werke  her  innerhalb  der  Umzäu- 
nung geschafft  werden.  Durch  Zufall  erhielten  die  Aus- 
ständigen Kenntniss  davon  und  allarmirten  die  Bevölkerung. 
Alles,  was  Waffen  besass,  ergriff  dieselben  und  eilte  nach 
dem  Flussufer,  während  die  Boote  mit  den  Pinkertonianern 
herankamen.  Ein  Theil  der  Umzäunung  der  Werke  wurde 
niedergerissen  und  einige  Augenblicke  später  waren 
Tausende  von  Personen,  darunter  Frauen  und  Kinder  und 
einige  Hunderte  Bewaffneter,  innerhalb  der  Werke  und 
in  der  Nähe  der  Landungsbrücke.  Der  niedergerissene 
Theil  der  Umzäunung  wurde  später  von  den  Arbeitern 
wieder  hergestellt. 

Als  die  Boote  der  Pinkertonianer  erschienen  und  in 
nächster  Nähe  der  Menge  zu  landen  versuchten,  erklärte 
der  Hauptmann  derselben  der  Menge,  dass  er  unter  allen 
Umständen  die  Werke  besetzen  werde.  Die  Menge  wich 
nicht  von  der  Stelle.  Irgend  einer  der  ungeschickten  und 
von  Furcht  erregten  Pinkertonianer  feuei'te  einen  Schuss 
ab,  dem  sofort  eine  ganze  Salve  folgte,  welche  von  den 
Arbeitern  erwidert  wurde.  Eine  Anzahl  Arbeiter  waren 
todt  oder  schwer  verwundet,  aber  auch  die  Pinkertonianer 
hatten  mehrere  der  Ihren,  darunter  ihren  Hauptmann,  und 
damit  ihren  Kopf,  verloren.  Sie  blieben  den  ganzen 
Tag  über  in  der  Defensive,  während  ihre  Boote  fest  an  der 
Landungsbrücke  lagen. 


422 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  34. 


Die  Arbeiter  retirirten.  Die  Unbewaffneten  flohen,  die 
Bewaffneten  nahmen,  einige  hundert  Schritte  entfernt,  hinter 
einem  Brückengerüste  eine  einigermassen  gedeckte  Stellung. 
Einige  alte  Kanonen,  Eigenthum  verschiedener  Veteranen- 
organisationen der  Ortschaft,  wurden  requirirt  und,  mit 
kleinen  Eisenstücken,  da  es  an  Munition  fehlte,  geladen. 
Dieselben  thaten  keinen  nennenswerthen  Schaden,  schüch- 
terten jedoch  die  Pinkertonianer  ein,  welche  sich  gleich 
nach  den  ersten  Salven  unter  Deck  gepfltichtet  hatten. 
Das  Gewehrfeuer  wurde  den  ganzen  Tag  hindurch  fortge- 
setzt und  mehrere  erfolglose  Versuche  gemacht,  die  Boote 
mittelst  brennenden  Oels,  welches  aus  den  grossen,  dicht 
am  Fluss  stehenden  Behältern  in  denselben  gelassen  wurde, 
in  Brand  zu  stecken.  Dreimal  zogen  die  Pinkertonianer 
die  weisse  Fahne  auf.  Jedesmal  wurde  dieselbe  herabge- 
schossen. Erst  gegen  Abend  gelang  es  den  Führern  der 
Ausgeschlossenen,  dieselben  zu  besänftigen  und  zu  Unter- 
handlungen mit  den  Pinkertonianern  geneigt  zu  machen. 
Letztere  erklärten  sich  bereit,  sich  zu  ergeben  und  ihre 
Waffen  abzuliefern,  wenn  ihnen  Schutz  vor  der  Bevölke- 
rung zugesichert  würde.  Sie  ergaben  sich  und  wurden 
beschützt  von  Denen,  welche  noch  soeben  die  feste  Ab- 
sicht hatten,  sie  bis  auf  den  letzten  Mann  zu  vernichten, 
ans  Land  gebracht.  Die  Boote,  auf  denen  sie  sich  be- 
fanden, wurden,  nachdem  der  darauf  befindliche  massen- 
hafte Schiessbedarf  ans  Land  gebracht  worden  war,  ange- 
zündet und  verbrannten.  Die  Pinkertonianer  wurden  auf 
dem  Wege  nach  dem  Hauptversammlungslokal  der  Ort- 
schaft, wo  sie  während  der  Nacht  untergebracht  wurden, 
von  der  aufs  Höchste  erregten  Bevölkerung,  die  grosse 
Lust  zeigte,  sie  an  den  Bäumen  des  benachbarten  Wäld- 
chens aufzuknüpfen,  trotz  des  Schutzes  der  Bewaffneten, 
misshandelt.  Am  nächsten  Tage  wurden  sie  aus  der  Ort- 
schaft eskortirt. 

Die  Ausgeschlossenen  jubelten  über  ihren  „Sieg“, 
ihre  Führer  waren  in  Todesängsten.  Zwar  war  der  grösste 
Theil  der  Presse  und  der  öffentlichen  Meinung  gegen  das 
Institut  der  Pinkertonianer  eingenommen  und  machte  aus 
diesen  Gefühlen  kein  Hehl,  aber  die  Gesetze  waren  nun 
einmal  von  Seiten  der  Arbeiter  übertreten  und  das  Ein- 
schreiten der  Staatsgewalt  musste  sicher  erwartet  werden. 
Allerdings  ist  die  Gewalt  amerikanischer  Staaten  mit  dem, 
was  man  in  Europa  als  Staatsgewalt  ansieht,  kaum  zu  ver- 
gleichen, doch  ist  dieselbe  immerhin  genügend,  um  mit 
einem  derartigen  kleinen,  unorganisirten  Zufallsaufstand 
fertig  zu  werden.  Vorerst  galt  es,  die  im  Kampf  Gefallenen 
zu  begraben.  Vier  Pinkertonianer  waren  sicher  getödtet 
und  26  verwundet  worden.  Elf  werden  vermisst  und  werden 
zu  den  Todten  gezählt,  indem  man  annimmt,  dass  sie 
während  des  Kampfes  schwer  verwundet  oder  todt  in  den 
Fluss  fielen  und  ertranken,  oder  bei  dem  Versuch,  sich 
durch  Schwimmen  zu  retten,  zu  Grunde  gingen.  Von  den 
Arbeitern  waren  elf  getödtet  und  etwa  20  verwundet 
worden. 

Die  eigenthümliche  politische  Lage  des  Staats,  welche 
an  Stelle  einer  republikanischen,  von  Korruption  stark  an- 
gefressenen Clique  ausnahmsweise  einen  Demokraten  zur 
Leitung  der  Exekutive  in  das  Gouvernementsamt  geführt 
hatte,  gab  den  Strikeführern  im  Hinblick  auf  die  gerade 
beginnende  Präsidentenwahlkampagne  Hoffnung,  dass  der 
demokratische  Gouverneur  sich  weigern  würde,  die  .Staats- 
gewalt ins  Spiel  zu  bringen,  während  sie  von  den  Republi- 
kanern Vermittelung  zu  ihren  Gunsten  bei  dem  durch  die 
republikanischen  Schutzzölle  reich  gewordenen  Carnegie 
erwarteten.  Natürlich  sahen  sie  sich  von  beiden  betrogen. 
Anfangs  schien  zwar  der  demokratische  Chef  der  Exekutive, 
Gouverneur  Pattison,  keine  Lust  zur  Aufbietung  der  Staats- 
gewalt zu  haben.  Mindestens  beantwortete  er  die  dahin 
gehende  Aufforderung  des  County-Sheriffs  mit  der  Er- 
klärung, dass  er  erst  dann  einschreiten  würde,  wenn  alle 
Machtmittel  der  Lokalbehörden  erschöpft  seien.  Der 
Sheriff  erliess  hierauf  eine  Aufforderung  an  die  ganze 
Bürgerschaft  des  County,  sich  ihm  zur  Herstellung  der  ge- 
setzlichen Ordnung  in  Homestead  bewaffnet  zur  Verfügung 
zu  stellen,  und  lud  eine  Menge  grösserer  und  kleinerer 


Bourgeois  persönlich  vor,  dieselben  hatten  jedoch  keine 
Lust,  sich  für  Frick  etc.  ein  Loch  in  den  Leib  schiessen 
zu  lassen.  Etwa  ein  Dutzend  von  den  Hunderten  Vorge- 
ladener erschienen  und  wurden  wieder  nach  Hause  ge- 
schickt. Die  Lokalbehörden  hatten  ihre  Machtmittel  er- 
schöpft. 

Der  Bürgermeister  von  Homestead  hatte  inzwischen 
aus  den  ausgeschlossenen  Arbeitern  eine  Polizeimannschaft 
organisirt,  welche  zwar  auf  musterhafte  Ruhe  und  Ordnung 
in  der  Ortschaft  sah,  selbstverständlich  aber  zum  Schutz 
etwaiger  Nichtverbandsarbeiter,  mit  denen  Frick  bald  die 
Werke  zu  füllen  gedachte,  nicht  zu  verwenden  war.  Die 
ganze  Milizdivision  des  Staates  wurde  vom  Gouverneur 
auf  die  Beine  gerufen  und  nach  Homestead  dirigirt.  Die 
Arbeiter  wiegten  sich  in  der  Hoffnung,  die  Miliz  würde  mit 
ihnen  fraternisiren,  wie  dies  vor  15  Jahren  hin  und  wieder 
geschah,  täuschten  sich  aber  auch  hierin,  denn  schon  ihr 
Angebot,  die  Miliz  mit  Musik  mit  fliegenden  Fahnen  zu 
empfangen,  wurde  vom  Führer  der  letzteren  schroff  zurück- 
gewiesen. 

Seit  dem  Aufstand  von  1877,  bei  dem  die  Miliz  eine 
so  klägliche  Rolle  spielte,  wurde  dieselbe  in  den  Haupt- 
staaten durchaus  reorganisirt.  Anfangs  eine  freiwillige 
Bürgerwehr,  zu  der  Jeder,  der  am  Soldatenspielen  Freude 
hatte,  Zutritt  fand,  wurde  sie  seit  jener  Zeit,  da  es  sich 
zeigte,  dass  viele  der  Regimenter  offen  mit  den  Arbeitern 
fraternisirten,  reorganisirt,  alle  Regimenter,  in  denen  sich 
Arbeiter  in  grösserer  Zahl  befanden,  aufgelöst  und  die 
übrig  bleibenden,  aus  Bourgeois-Söhnen  bestehenden  Miliz- 
organisationen bedeutend  verstärkt,  so  dass  diese  Bürger- 
wehr eine  vollkommen  zuverlässige  Waffe  der  Bourgeoisie 
im  Kampfe  mit  den  Arbeitern , eine  Staatspolizei  der 
Bourgeoisklasse  wurde,  auf  welche  die  letztere  Geld  mit 
vollen  Händen  zum  Bau  von  Waffenhallen,  welche  aussen 
kleinen  Festungen,  von  innen  aber  Vergnügungslokalen 
ähnlich  sehen,  verschwendet.  Natürlich  wäre  auch  diese 
Miliz  einer  entschlossenen , gut  bewaffneten,  rebellischen 
Arbeiterschaft  nicht  gewachsen,  aber  den  Arbeitern  von 
Homestead  fehlte  sowohl  Entschlossenheit  wie  gute  Be- 
waffnung. Das  einfache  Erscheinen  der  Miliz  war  genügend, 
um  den  Aufstand  zu  ersticken. 

Jetzt  begannen  Massenverhaftungen,  welche  noch 
immer  fortdauern.  Die  Führer  der  Arbeiter  und  alle  die- 
jenigen, welche  von  irgend  Jemand  denunzirt  wurden, 
wanderten  unter  der  Anklage  des  Mordes  ins  Gefängniss 
oder  wurden  unter  Bürgschaft  gestellt.  Später  Verhaftete 
wurden  nur  des  Aufruhrs  und  Raubes  der  Waffen  und 
Munition  der  Pinkertonianer  beschuldigt.  Hunderte  weiterer 
Verhaftungen  werden  täglich  erwartet.  Inzwischen  begann 
Frick  unter  dem  Schutz  der  Miliz  nicht  zum  Verband  ge- 
hörige Arbeiter  aus  anderen  Landestheilen  einzuführen  und 
soll  bereits,  ohne  die  überall  leicht  zu  erhaltenden  Tag- 
löhner, eine  stattliche  Anzahl  gelernter  Arbeiter  zusammen 
gebracht  haben.  Diese  Entwickelung  der  Dinge,  welche 
im  ganzen  Lande  mit  Spannung  verfolgt  wurde,  veranlasste 
einen  jungen,  hitzköpfigen,  wenig  intelligenten  Anarchisten 
Peukert'scher  Richtung,  welcher  mit  den  Kämpfen  persön- 
lich nicht  das  Geringste  zu  schaffen  hatte,  — denn  die 
Arbeiter  in  Homestead  hatten  entschieden  jede  Verbindung 
mit  den  Anarchisten  abgelehnt  und  zwei  derselben,  welche 
am  Tage  nach  dem  Aufstand  dort  Flugblätter  vertheilen 
wollten,  mit  Drohungen  aus  der  Ortschaft  gejagt,  — sich 
am  24.  Juli  in  das  Komptoir  Frick’s  zu  schleichen  und 
mehrere  Revolverschüsse  auf  denselben  abzufeuern,  wo- 
durch Frick  leicht  verwundet  wurde  und  einige  Tage  das 
Zimmer  hüten  musste. 

Charakteristisch  für  die  amerikanischen  Militärzustände 
ist,  dass  ein  Milizsoldat  aus  einer  bäuerlichen  Gegend,  als 
Oberst-Lieutenant  Streator  seinem  Regiment  obigen  Vorfall 
meldete,  ausrief:  „Dreimal  hoch  dem  Manne,  der  es  that.“ 

Der  Soldat  wurde  zur  Zurücknahme  dieser  Worte  aufge- 
fordert. Da  er,  ein  starrköpfiger  Bauer,  dies  verweigerte, 
wurde  er  auf  Befehl  des  Oberst-Lieutenants  20  Minuten 
lang  an  den  Daumen  aufgehängt,  bis  er  auf  Anordnung  der 
Aerzte,  um  seinen  Tod  zu  vermeiden,  abgeschnitten  wurde 


No.  34. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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und  am  nächsten  Tage  auf  Befehl  des  Divisionsgenerals 
Snowden  mit  auf  der  rechten  Seite  des  Kopfes  abrasirten 
Haar  und  Schnurrbart  schimpflich  aus  dem  Lager  ge- 
trommelt. Er  hat  inzwischen  gegen  die  betreffenden  Offi- 
ziere Kriminalklagen  eingeleitet  und  Streator  ist  auf  Grund 
einer  solchen  bereits  verhaftet  und  unter  Bürgschaft  ge- 
stellt worden. 

Die  Polizei  suchte  aus  der  That  des  einzelnen  Anar- 
chisten eine  Verschwörung  zu  machen  und  nahm  mehrere 
Verhaftungen  vor,  ohne  jedoch,  wie  es  scheint,  dabei 
sehr  glücklich  gewesen  zu  sein. 

Inzwischen  füllt  Frick,  welcher  übrigens  zugleich  mit 
mehreren  anderen  Beamten  der  Carnegie’schen  Werke,  auf 
Veranlassung  der  Führer  der  Arbeiter,  ebenfalls  unter  der 
Anklage  der  Mordverschwörung  verhaftet  und  unter  Bürg- 
schaft gestellt  wurde,  die  Werke  in  Homestead  mit  Nicht- 
verbandsarbeitern, hat  auf  eigene  Hand  etwa  100  bewaffnete 
Spezialpolizisten,  genau  nach  dem  Muster  der  Pinker- 
tonianer,  angestellt  und  hält  für  den  Fall  der  Noth,  wie  es 
heisst,  Repetirgewehre  für  jeden  seiner  neuen  Angestellten 
bereit,  während  die  Miliz,  deren  Disziplin  bereits  durch 
einen  kaum  dreiwöchentlichen  Dienst  stark  gelockert  zu 
sein  scheint,  nach  und  nach  zurückgezogen  und  nach  Hause 
geschickt  wird. 

Die  Situation  ist  natürlich  heute,  in  den  ersten  Tagen 
des  August,  noch  immer  eine  sehr  gespannte,  trotzdem 
äusserlich  vollkommenste  Ruhe  herrscht.  Niemand  kann 
sagen,  ob  nicht  bereits  die  nächste  Stunde  neue  blutige 
Zusammenstösse  bringt,  wenn  auch  solche  unwahrschein- 
lich sind,  da  die  Kampflust  der  Arbeiter,  dem  Anschein 
nach,  gebrochen  ist  und  sie  grollend,  aber  thatlos,  der 
ferneren  Entwickelung  der  Dinge  Zusehen. 

New-York,  4.  August. 


Aussperrung  von  1200  Brauern,  Brauergeliilfen  und 
Küfern  in  Hamburg,  Die  Boykottirung  der  Barmbecker  Bier- 
brauerei seitens  des  Hamburger  Brauerfachvereins  wegen  einer 
demselben  nicht  gerechtfertigt  erschienenen  Entlassung  eines 
Arbeiters  wurde  von  16  grossen  Hamburger  Brauereien  mit 
einem  Ultimatum  beantwortet,  in  dem  die  Alternative  gestellt 
wurde,  entweder  den  Boykott  aufzuheben  oder  die  Entlassung 
von  1200  den  Fachvereinen  angehörenden  Arbeitern  zu  gewärtigen. 
Trotz  dieser  Drohung  wurde  einerseits  der  Boykott  über  die 
Barmbecker  Brauerei  aufrecht  erhalten  und  andererseits  wurden 
am  16.  Mittags  1200  Brauer  u.  s.  w ausgesperrt.  Man  will  nun 
seitens  der  Arbeiter  den  Bierbezug  von  Auswärts  organisiren, 
eine  Arbeitergenossenschafts-Bierniederlage  wird  geplant.  Die 
unverheirateten  Ausgesperrten  reisten  ab.  Die  Arbeitenden 
sollen  10  pCt.  ihres  Verdienstes  in  die  Ausstandskasse  abliefern. 
Die  Brauereien  haben  den  Küfern  wieder  die  Brauereien  er- 
öffnet und  die  Aussperrung  auf  die  Brauer  und  Braugehilfen 
beschränkt.  Das  Gewerkschaftskartell  in  Hamburg  hat  den 
Boykott  für  ungerechtfertigt  erklärt,  ihn  aufgehoben  und  das 
Recht,  Boykotts  zu  verhängen,  den  einzelnen  Gewerkschaften 
abgesprochen. 

Der  32.  Jahresbericht  des  London  Trades’  Council 
über  das  Jahr  1891.  Dem  vor  Kurzem  erschienenen  Be- 
richte ist  zu  entnehmen,  dass  am  Ende  des  Jahres  1891 
224  Vereine  und  Zweigvereine  aus  95  verschiedenen 
Industrien  mit  zusammen  67  986  Mitgliedern  im  Gewerk- 
schaftsrathe  vertreten  waren.  Im  Laufe  des  Berichtsjahres 
waren  75  Vereine,  die  31  verschiedenen  Industrien  ange- 
hörten und  zusammen  16  133  Mitglieder  zählten,  zuge- 
wachsen, während  7339  Mitglieder  durch  Austritt  ihrer  Ver- 
eine oder  Verminderung  von  deren  Mitgliederzahl  in  Abfall 
kamen.  Die  Vereine  zahlen  in  den  Trades’  Council  zwei 
Pence  pro  Mitglied  und  Jahr;  je  500  Mitglieder  sind  durch 
einen  Delemrten  vertreten  Die  Exekutive  besteht  aus 
10  Mitgliedern  und  dem  Sekretär  (seit  Jahren  Herr 
Shipton).  Die  zahlreichst  vertretenen  Branchen  sind: 
Schriftsetzer  9000  Mitglieder,  Dockarbeiter  6974,  Vereinigte 
Maschinenbauer  4320,  Gasarbeiter  2700,  Schuhmacher  6473 
Mitglieder.  Die  Jahreseinnahmen  betrugen  518Lstr.,  welche 
durch  die  Ausgaben  (Druckkosten,  Miethe,  Sekretärsge- 
halt etc.)  bis  auf  einen  kleinen  Kassenrest  erschöpft 
wurden. 

Der  Tätigkeitsbericht  beschäftigt  sich  zunächst  mit 
dem  Eingreifen  des  Gewerkschaftsrathes  bei  einer  Anzahl 
von  Strikes  in  London  und  Auswärts;  zur  Unterstützung 


des  deutschen  Buchdruckerstrikes  wurden  3440  Lstr. 
aufgebracht.  Der  Bericht  konstatirt  übrigens,  dass  die  dem 
Council  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  lange  nicht  ge- 
nügen um  allen  gestellten  Anforderungen  gerecht  zu  werden; 
es  sei  noth  wendig,  dass  sich  „die  Gewerkvereine  über 
einen  definitiven  Plan  auf  nationaler  Basis  einigen,  um  zu 
hindern,  dass,  wie  jetzt  so  häufig,  mehrfache  Lohnkämpfe 
zu  gleicher  Zeit  ausbrechen  und  die  Kräfte  zersplittern.“ 

Obwohl  der  Council  sich  an  der  Maidemonstration  be- 
theiligte, kann  der  Sekretär  Shipton  nicht  umhin,  im  Be- 
richte darüber  sein  Missvergnügen  über  die  dem  Unionisten 
alten  Stiles  antipathische  Achtstundenbewegung  merken  zu 
lassen.  — Aus  den  Fällen,  in  denen  der  Gewerkschaftsrath 
an  die  Regierung  oder  einzelne  Parlamentsmitglieder  mit 
Forderungen  herantrat,  ist  einer  besonders  bemerkenswerth. 
Ueber  Beschluss  einer  Delegirtenversammlung  veranlasste 
die  Exekutive  das  Parlamentsmitglied  Herrn  Sydney  Box- 
ton am  13.  Februar  1891  folgenden  Resolutionsantrag  im 
Unterhause  einzubringen: 

In  alle  Kontrakte,  welche  die  Regierung  abschliesst, 
seien  Klauseln  aufzunehmen,  dahin  gehend,  dass  der  Unter- 
nehmer bei  Strafe  verpflichtet  sei,  die  Bräuche  und  Be- 
dingungen in  Bezug  auf  Arbeitslose  und  Arbeitszeit,  die  in 
jedem  besonderen  Gewerbe  herrschen,  einzuhalten;  und 
dass  der  Unternehmer  bei  Strafe  verhindert  werde,  irgend 
einen  Theil  der  Arbeit  an  Subunternehmer  weiterzugeben, 
ausser  in  solchen  Fällen,  wo  ein  besonderer  Theil  der 
Arbeit  in  seinem  Betriebe  nicht  ausgeführt  werden  kann 
und  er  die  Erlaubniss  dazu  von  dem  betreffenden  Re- 
gierungsdepartement erhält. 

Nach  einer  längeren  Debatte  erklärte  Herr  Plunket, 
(erster  Kommissär  der  öffentlichen  Arbeiten,  first  com- 
missioner  of  Works),  namens  der  Regierung:  Die  Regierung 
billige  zwar  durchaus  die  in  der  Resolution  gemachten 
Vorschläge,  sei  aber  nicht  in  der  Lage  sie  in  diesem  Wort- 
laute anzunehmen;  hingegen  beantrage  sie  folgende  Fassung: 

„Dass  nach  der  Meinung  des  Hauses  es  die  Pflicht  der 
Regierung  sei  in  allen  Regierungskontrakten  gegen  die  vor 
dem  Sweating- Commitee  neuerlich  aufgedeckten  Uebel- 
stände  Vorkehrung  zu  treffen;  solche  Bedingungen  in  die 
Verträge  aufzunehmen,  welche  die  Missbräuche  durch  Sub- 
unternehmer hindern;  und  jede  Anstrengung  zu  machen, 
um  die  Zahlung  solcher  Löhne  zu  sichern,  wie  sie  in  jeder 
einzelnen  Branche  von  den  berufenen  Arbeitern  allgemein 
angenommen  seien.“ 

Herr  Buxton  bedauerte,  dass  der  Regierungsantrag 
die  Arbeitszeit  unerwähnt  lasse;  derselbe  wurde  jedoch  ein- 
stimmig angenommen. 

• Tagesordnung  des  nächsten  Trades  Unions  Kongresses. 

Der  diesjährige  Kongress  der  englischen  Gewerkvereine  findet 
in  Glasgow  statt  und  wird  am  5.  September  eröffnet.  Bezüglich 
der  Achtstundenfrage  liegt  demselben  erst  ein  Resolutionsantrag 
von  Mr.  Matkin  vor,  der  die  diesbezügliche  Einberufung  eines 
internationalen  Kongresses  vorschlägt  und  eine  Enquete  bei  den 
Gewerkvereinen  einleiten  will,  die  ergeben  soll,  ob  der  Acht- 
stundentag wünschenswerth  sei,  ob  derselbe  gesetzlich  einge- 
führt oder  durch  die  Gewerkvereine  allein  erreicht  werden  soll. 
Andere  bereits  eingebrachte  Resolutionen  beziehen  sich  auf  die 
parlamentarische  Vertretung  der  Arbeiter,  auf  Bezahlung  der 
Abgeordneten,  Gründung  eines  allgemeinen  Wahlfonds  durch 
einen  -monatlichen  Beitrag  von  1 d per  Kopf,  auf  die  Ausdehnung 
des  Haftpflichtgesetzes  der  Unternehmer,  die  Vermehrung  der 
Inspektoren;  eine  andere  richtet  sich  gegen  das  bei  Vergeben 
von  Regierungslieferungen  oft  vorkommende  Subkontraktwesen. 
Vor  Beginn  des  Kongresses  dürften  noch  verschiedene  Reso- 
lutionen von  dem  parlamentarischen  Komitee  der  Trades  Union 
eingebracht  werden. 

Die  Versammlung  der  englischen  Miners  Federation.  Das 

österreich-ungarische  Generalkonsulat  in  Liverpool  schreibt  dem 
Wiener  „Handels-Museum“:  Vom  2.  bis  4.  August  fand  in  Bir- 
mingham eine  Versammlung  der  „National  Miners  Federation 
of  Great  Britain“  statt,  bei  welcher  nahe  an  400  000  Kohlenberg- 
werksarbeiter vertreten  waren.  Von  den  bekannt  gewordenen 
Resolutionen  geht  eine  dahin,  dass  behufs  Einschränkung  der 
Förderung  vor  dem  27.  d.  Mts.  in  den  Bergwerken  die  Arbeit 
an  Samstagen  nicht  aufgenommen  werden  solle;  weiters  wurde 
beschlossen,  den  Ministerpräsidenten  auf  die  Wichtigkeit  der 
Ernennung  eines  Arbeiterministers,  in  dessen  Ressort  sämmtliche 
Arbeitsfragen  behandelt  werden,  und  der  für  sein  Gebahren  dem 
Parlamente  verantwortlich  sein  müsste,  aufmerksamzu  machen; 
eine  andere  Resolution  geht  dahin,  dass  man  von  der  vermehrten 
Anzahl  von  Mitgliedern  im  neuen  Parlamente,  die  für  die  gesetz- 
liche Herabsetzung  der  Arbeitszeit  auf  8 Stunden  täglich  in  den 
Bergwerken  günstig  gestimmt  sind,  Kenntniss  nehme,  und  dass 
man  keine  Mühe  scheuen  solle,  die  betreffende  Bill  zum  Gesetze 


424 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  34. 


zu  erheben,  und  zwar  nicht,  wie  manche  es  wünschen,  in  der 
Weise,  dass  es  den  Arbeitern  in  den  einzelnen  Distrikten  an- 
heimzustellen sei,  ob  das  bezügliche  Gesetz  dort  Anwendung  zu 
finden  habe  oder  nicht ; es  wurde  auch  beschlossen,  die  Re- 
gierung dringend  anzugehen,  die  gegenwärtige  Employers  Lia- 
bility  Bill  zu  ergänzen,  dass  die  neue  Coal  Mines  Regulation 
Act  sämmtlichen  Distrikten  der  Föderation  zur  Aeusserung  zu- 
zusenden sei,  sowie  dass,  nachdem  die  etwa  90  000  zählenden 
Kohlenbergwerksarbeiter  in  Durharn  sich  der  Föderation  ange- 
schlossen haben,  sie  mit  den  Statuten,  Regulativen  u s.  w.  der 
Föderation  zu  betheilen  seien,  und  schliesslich  verfügte  man, 
dass  eine  Deputation  an  die  Kohlenbergwerksarbeiter  in  Süd- 
Wales  abzusenden  sei,  um  sie  zu  bewegen,  gleichfalls  der  Föde- 
ration beizutreten,  und  die  Sliding  Scale,  d i.  die  Scala,  die  die 
Löhne  automatisch  erhöht  oder  herabsetzt,  aufzugeben. 

Strikende  Feldarbeiter  in  Slavonien.  Wie  der  „Neuen 
freien  Presse“  aus  Essegg  gemeldet  wird,  haben  die  un- 
garischen nach  Slavonien  zur  Erntezeit  wandernden  Feld- 
arbeiter, welche  gegen  einen  Antheil  an  dem  Fruchtgewinn 
den  Schnitt  vornehmen,  in  ganz  Slavonien  während  der 
Erntezeit  die  Arbeit  eingestellt  und  sind  nicht  zu  bewegen 
— auch  gegen  doppelten  Lohn  — die  Arbeit  wieder 
aufzunehmen.  Der  Strike  entstand  durch  den  ungenügen- 
den Gewinn,  der  den  Arbeitern  sich  bei  dem  üblichen 
Prozentsätze  ergab,  weil  die  Schüttung  des  Getreides 
heuer  hinter  jener  der  Vorjahre  zurückblieb.  Die  Grundbe- 
sitzer erleiden  dadurch  einen  grossen  Schaden,  weil  die 
Frucht  nicht  abgemäht  werden  kann.  Auf  ganzen  Flächen 
steht  die  Weizenfrucht  noch  in  den  Halmen,  und  es  giebt 
Orte,  wo  die  Weizenernte,  die  schon  Ende  Juni  in  Angriff 
genommen  werden  sollte,  anfangs  August  noch  gar  nicht 
begonnen  hat.  Nach  späteren  Berichten  ist  der  Strike  bei- 
gelegt worden  und  auf  einzelnen  Herrschaften  der  Schnitt 
nunmehr  beendet. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Französische  Arbeiterkongresse.  Im  Laufe  dieses 
Sommers  finden  in  Frankreich  mehrere  Arbeiterkongresse 
statt.  So  hielten  die  Buchdrucker  ihren  Nationalkongress 
vom  27.  bis  30.  Juli  in  der  Arbeitsbörse  zu  Paris  ab.  Ein 
allgemeiner  Gewerkschaftskongress  tagt  vom  1 9.  bis  23.  Sep- 
tember in  Marseille.  Auf  der  Tagesordnung  steht:  1.  Natio- 
nale und  internationale  Verbindung  der  Arbeiter  und  Ar- 
beiterinnen; 2.  Generalstrike  aller  Branchen;  3.  direkte 
Repräsentation  des  Proletariats  in  den  Parlamenten;  4.  der 
internationale  Kongress  von  1893;  5.  die  Manifestation  des 

1.  Mai  1893.  In  Bordeaux  findet  vom  1.  bis  4.  September 
ein  Kongress  der  Bauarbeiter  statt.  Die  Tagesordnung 
enthält  u.  A.:  Obligatorische  Versicherung  der  Arbeiter 
gegen  Unfälle  auf  Kosten  der  Unternehmer;  Abschaffung 
jeglicher  Akkordarbeit;  Wahl  von  Fabrikinspektoren  aus 
den  Kreisen  der  Arbeiter;  Zuziehung  von  Arbeitern  zu 
hygieinischen  Kongressen  u.  s.  w. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Die  englische  Shop  Hours  Act.  Am  28.  Juli  1.  Js. 
hat  die  neue  Shop  Hours  Act  von  1892  die  königliche 
Sanction  erhalten.  Die  wichtigsten  Bestimmungen  derselben 
sind  folgende: 

1.  Keine  Frauensperson  unter  18  Jahren  darf  in  einem 
Laden,  Niederlage,  Waarenlager,  Markthalle,  Wein-  und 
Bierschänke,  Wirthshause  länger  als  74  Stunden,  die  Mahl- 
zeit mit  inbegriffen,  wöchentlich  verwendet  werden. 

2.  In  jedem  der  genannten  Geschäfte,  wo  solche  Per- 
sonen bedienstet  sind,  muss  dieses  Gesetz  an  einer  leicht 
ersichtlichen  Stelle  angebracht  werden. 

3.  Zuwiderhandelnde  Geschäftseigenthümer  unterliegen 
einer  Geldbusse  von  1 Lstr. 

4.  Jede  weibliche  Person,  die  behufs  Erlangung  des 
Dienstes  unrichtige  Angaben  gemacht  hat,  ist  zu  be- 
strafen. 


5.  Jeder  Grafschaftsrath,  der  Londoner  Gemeinderath 
u.  s.  w.  ist  ermächtigt,  Inspektoren  zur  Ueberwachung  der 
Befolgung  dieses  Gesetzes  zu  bestellen. 

Die  Berliner  Polizei  und  die  Sonntagsruhe.  Wegen 
Nichtinnehaltung  der  Sonntagsruhe  sind,  wie  die  „Kreuz- 
zeitung“ erfährt,  von  verschiedenen  gewerkschaftlichen 
Vereinigungen  Anzeigen  gegen  Unternehmer  bei  der  Polizei 
erstattet  worden.  Die  Beschäftigung  von  Maurern  auf  einem 
Neubau  während  der  Kirchenstunden  ist  vom  Polizeipräsi- 
dium als  nicht  gegen  die  Vorschriften  zur  Wahrung  der 
Sonntagsruhe  verstossend  erklärt  worden,  sobald  nur  der 
Bauplatz  ordnungsmässig  gegen  die  Strasse  hin  abgesperrt 
ist.  Die  Hausdiener  sind  auf  erstattete  Anzeigen  dahin  be- 
schießen worden,  dass  die  Beschäftigung  in  Schreibstuben, 
Fabriken  u.  s.  w.  durch  die  polizeilichen  Bestimmungen, 
welche  die  Sonntagsruhe  für  den  Handelsverkehr  regeln, 
nicht  betroffen  wird.  Für  die  Thätigkeit  ausserhalb  des 
Handelsverkehrs  gelten  die  älteren  polizeilichen  Bestimmun- 
gen, wonach  die  Beschäftigung  auch  während  der  Kirchen- 
stunden nicht  strafbar  ist. 


Gewerbeinspektion. 


Die  Fabrikinspektion  in  Russisch-Polen.  Der  öster- 
reichische Generalkonsul  in  Warschau  theilt  über  die  Fabrik- 
inspektion in  Russisch-Polen  in  seinem  Jahresberichte  für 
1891  u.  A.  Folgendes  mit:  Die  Institution  der  Fabrikinspek- 
toren wurde  weiter  ausgebildet  und  ihre  Befugniss  bedeutend 
erweitert,  da  sie  ermächtigt  wurden,  Geld-  bezw.  Freiheits- 
strafen im  eigenen  Wirkungskreise  zu  verhängen.  Der 
Fabrikinspektor  überwacht  die  sanitären  Einrichtungen  der 
Fabrik,  clie  Vorrichtungen  im  Betrieb  zur  Verhütung  von 
Unglücksfällen,  er  sorgt  dafür,  dass  keine  Kinder  beschäf- 
tigt werden,  dass  die  neuerdings  obligatorisch  gewordenen 
Arbeiterkontrol-  und  Strafbücher  ordnungsmässig  geführt 
werden,  er  regelt  das  Verhältniss  zwischen  Arbeitgeber  und 
Arbeitnehmer  in  Lohnfragen  u.  s.  w.  Der  Fabrikinspektor 
soll  den  Arbeitern  ein  Anwalt,  den  Fabriksleitern  eine 
büreaukratische  Kontrole  sein;  so  tritt  im  Falle  der  Ver- 
unglückung eines  Arbeiters  der  Fabrikinpektor  für  diesen 
in  die  Rolle  eines  öffentlichen  Anklägers  ein 


Arbeiterversicherung. 


Die  Entwickelung  der  Krankenversicherung  im  deut- 
schen Reiche.  Der  Kreis  der  von  der  Krankenversicherung 
erfassten  Personen  hat  sich  seit  1885  stetig  ausgedehnt,  zum 
Theil  auch  in  Folge  der  Ergänzung  der  bezüglichen  Gesetz- 
gebung. In  den  Krankenkassen  (ausschliesslich  der  Knapp- 
schaftskassen) waren  versichert: 

Ende  1885  . . . 4 294  173  Personen 
„ 1886  . . . 4 570087  „ 

„ 1887  . . . 4 842  226  „ 

1.  Januar  1889  . . . 5 516  461 

„ 1890  . . . 6 071  035  „ 

Mit  den  Knappschaftsmitgliedern  erhöht  sich  die  Zahl 
der  Versicherten  noch  wesentlich,  und  stellt  sich  z.  B. 
1.  Januar  1890  auf  13,4  pCt.  der  Reichsbevölkerung;  schon 
Ende  1885  waren  (einschliesslich  der  Knappschaftsmit^lieder) 
10  pCt.  der  ganzen  Bevölkerung  Kassenmitglieder.  Seitdem 
hat  sich  dieser  Prozentsatz  in  jedem  Jahr  erhöht,  am 
stärksten  im  Jahre  1889  wegen  des  Inkrafttretens  des  Ge- 
setzes vom  5.  Mai  1886  über  die  Unfall-  und  Krankenver- 
sicherung der  land-  und  forstwirthschaftlichen  Arbeiter. 

Zur  Spruchpraxis  des  Reictisversicherungsamts.  In 

mehreren  die  Unfallversicherung  betreffenden  Entscheidun- 
gen hat  das  Reichsversicherungsamt  zunächst  an  dem  be- 
reits früher  anerkannten  Grundsatz  festgehalten,  wonach 


No.  34. 


SOZIALPOLITISCHES  CE N TR ALBL ATT. 


425 


die  Versicherungspflicht  auch  für  einen  an  sich  nicht  ver- 
sicherungspflichtigen Betriebstheil  eines  einheitlichen  Ge- 
sammtbetnebes  begründet  wird,  sofern  der  Haupttheil  des 
letzteren  versicherungsptiichtig  ist  und  jener  Nebenbetrieb 
einen  wesentlichen  Bestandtheil  des  Gesammtbetriebes 
bildet.  Demgemäss  ist  den  Hinterbliebenen  eines  bei  einer 
Möbeltischlerarbeit  tödtlich  verunglückten  Baugewerbetrei- 
benden die  Unfallrente  zugebilligt  worden,  da  der  Veruu- 
glückte  in  erster  Linie  und  hauptsächlich  mit  der  Ausfüh- 
rung von  Zimmer-  und  Maurerarbeiten  beschäftigt  war  und 
neben  dieser  Hauptthätigkeit  sich  nur  in  sehr  geringem 
Umfange  mit  der  Anfertigung  von  Schränken,  Tischen, 
Stühlen  und  Särgen,  sowie  mit  Reparaturarbeiten  an  land- 
wirtschaftlichen Geräthen  befasste.  Auch  in  einem  ande- 
ren Falle,  in  welchem  ein  Unternehmer  neben  einer  Zim- 
merei — dem  Hauptbetriebe  — ein  Holzhandlungs-  und 
Holzverarbeitungsgeschäft  betrieb,  ist  die  zuständige  Bau- 
gewerks-Berufsgenossenschaft  zur  Entschädigung  eines  Un- 
falls verurtheilt  worden,  den  ein  Arbeiter  des  Betriebes  bei 
dem  Verladen  von  Holz  erlitten  hatte,  ohne  das  festgestellt 
zu  werden  brauchte,  ob  das  verladene  Holz  für  die  Zim- 
merei oder  das  an  sich  nicht  versicherungspflichtige  Holz- 
geschäft bestimmt  war.  Endlich  ist  die  Versicherungsan- 
stalt der  zuständigen  Baugewerks-Berufsgenossenschaft  als 
entschädigungspflichtig  für  einen  Unfall  erklärt  worden, 
welchen  ein  selbstversicherter  Baugewerbetreibender  (Mau- 
rer), der  nach  Ortsgebrauch  auch  das  Reinigen  von  Schorn- 
steinen übernahm,  bei  der  letzteren  Thätigkeit  erlitten  hatte, 
obwohl  diese  für  sich  allein  die  Heranziehung  zur  Selbst- 
versicherung nicht  begründet  haben  würde. 

Die  Kranken-  und  Sterbekasse  des  schweizerischen 
Grütlivereins  im  Jahre  1891.  Die  Centralverwaltung  der 
Kranken-  und  Sterbekasse  des  schweizerischen  Grütliver- 
eins veröffentlicht  soeben  ihren  Bericht  für  1891.  Die  Mit- 
gliederzahl Ende  1891  beträgt  7304  und  hat  um  82  zu- 
genommen. Die  Gesammteinnahmen  beider  Kassen  be- 
laufen sich  auf  140  647  Frcs.,  die  Ausgaben  auf  134  171  Frcs 
Das  Vermögen  derselben  beträgt  112  495  Frcs  Die  beiden 
Kassen  haben  bis  Ende  1891  an  Unterstützungen  im  Ganzen 
nicht  weniger  als  1225  984  Frcs.  ausbezahlt.  Seit  einem 
Jahre  sind  sämmtliche  Sektionen  in  Zensorenkreise  einge- 
theilt  und  wurden  nach  den  Zensorenbefunden  die  Sektio- 
nen dies  Jahr  zum  erstenmal  im  gedruckten  Bericht  bezüg- 
lich ihres  Haushalts  klassifizirt  und  zwar  in  vier  Kategorien : 
1.  sehr  gute  Ordnung,  2.  gute  Ordnung,  3.  ziemlich  gute 
Ordnung  und  4.  ungenügende  und  mangelhafte  Ordnung. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 

Entwurf  eines  Wohng-esetzes  für  das  Grossherzog- 
thum  Hessen.  Bei  der  Centralstelle  des  Grossherzogthums 
Hessen  befindet  sich  nach  halbamtlichen  Nachrichten  ein 
Gesetzentwurf  zum  Schutze  des  gesunden  Wohnens  in  Be- 
arbeitung, in  welchem  besonderer  Nachdruck  auf  ein  mög- 
lichst weitgehendes  Recht  der  Wohnungsinspektion  seitens 
der  Regierungsorgane  gelegt  wird.  Für  Schlafstellen  soll 
und  für  ganze  Miethswohnungen  kann  ein  Mindestluftraum 
von  10  Kubikmeter  auf  den  Kopf  der  Bewohner  verlangt 
werden.  Vermiether  kleiner  Wohnungen  und  Schlafstellen 
sollen  verpflichtet  sein,  vor  der  ersten  Vermiethung  die 
Zahl  und  Beschaffenheit  der  Miethsräume  genau  anzugeben 
und  bei  jeder  Veränderung  in  der  Person  des  Miethers,  des 
Vermiethers  oder  der  Zahl  der  gesondert  zu  vermiethenden 
Räume  Anzeige  zu  erstatten,  damit  die  Polizei  sofort  in  der 
Lage  ist,  sofern  den  Bestimmungen  der  Wohnungshygiene 
zuwider  gehandelt  wird,  einzugreifen,  Die  „Dtsch.  Bztg.“ 
hält  solche  Bestrebungen  für  sehr  dankenswerth,  verhehlt 
sich  aber  nicht,  dass  sie  mehr  für  Städte  mittleren  Um- 
fanges, nicht  aber  für  Grossstädte  genügen,  wo  die  Intensi- 
tät der  Ansiedlung,  die  Steigerung  der  Miethspreise  und  die 
Ausnutzung  der  Wohnungen  sich  in  ihrer  ganzen  Schärfe 
zeigen.  Nichtsdestoweniger  hält  sie  aber,  bis  die  Frage 
der  Besserung  der  Wohnungsverhältnisse  der  untersten 


Klassen  eine  Lösung  gefunden,  ein  Gesetz,  wie  das  be- 
sprochene, vorläufig  für  geeignet,  einen  wohlthätigen  Ein- 
fluss aut  das  physische  Wohlbefinden  der  unteren  Klassen 
auszuüben. 

Die  preussische  Regierung  und  die  Wohnungsfrage  in 
der  Staatseisenbahn-V erwaltung.  Ueber  die  Absichten  der  Re- 
gierung, die  Wohnungs  Verhältnisse  der  Arbeiter  und  unteren 
Beamten  der  Staatseisenbahnen  zu  verbessern,  verbreitet  die 
nachfolgende  Ausführung  des  Reichsanzeigers  vom  13.  d Mts. 
einige  Aufklärung.  Dieselbe  lautet:  Wenngleich  die  Staats- 

eisenbahn-Verwaltung dem  vielfach,  insbesondere  in  grossen 
Städten  und  in  den  Industriegebieten,  bestehenden  Mangel  an 
billigen  und  gesunden  Wohnungen  für  die  Arbeiter  und  unteren 
Beamten,  soweit  es  die  Lage  der  Staatsfinanzen  gestattet,  wenig- 
stens da,  wo  dieser  Mangel  besonders  fühlbar  ist,  nach  Möglich- 
keit abzuhelfen  bestrebt  ist,  so  ist  doch  unter  den  gegenwärtigen 
Verhältnissen  eine  umfangreichere  Verwendung  staatlicher 
Mittel  für  die  Erbauung  von  Miethswohnungen  für  Arbeiter  und 
untere  Beamte  nicht  angängig.  Es  entsteht  deshalb  die  Frage, 
ob  nicht  den  bestehenden  Bedürfnissen  etwa  noch  auf  andere 
Weise  Rechnung  getragen  werden  kann.  Die  anerkennens- 
werthen  Einrichtungen  und  Erfolge  des  Spar-  und  Bauvereins 
in  Hannover  sowie  die  von  ähnlichen  Baugenossenschaften  er- 
zielten günstigen  Erfolge  zeigen,  dass  auf  diesem  Wege  bei 
zweckmässiger  Organisation  und  gewissenhafter,  sachverständi- 
ger Verwaltung  für  Arbeiter  und  untere  Beamte  erheblicher 
Nutzen  erzielt  werden  kann,  umsomehr,  wenn  es  den  Bauge- 
nossenschaften gelingt,  die  neben  den  Einzahlungen  ihrer  Mit- 
glieder etwa  noch  erforderlichen  Kapitalien  zu  massigem  Zins- 
fusse  und  unter  weiteren  wünschenswerthen  Erleichterungen  von 
soliden  Instituten  zu  beschaffen.  Bei  der  Staatseisenbahn -Ver- 
waltung ist  ein  solches  Institut  in  der  Pensionskasse  für  die 
Arbeiter  vorhanden.  Die  Satzungen  dieser  Kasse  enthalten  im 
§ 73  Absatz  5 die  Bestimmung,  dass  ein  Theil  des  Kassenver- 
mögens mit  Genehmigung  des  Ministers  der  öffentlichen  Ar- 
beiten in  Grundstücken,  durch  Bau  oder  Erwerb  von  Arbeiter- 
wohnungen u.  s.  W.  angelegt  werden  kann.  Diese  Bestimmung 
entspricht  der  bei  den  Berathungen  des  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherungsgesetzes in  den  Motiven  und  in  den  Erklärungen 
| der  Vertreter  der  verbündeten  Regierungen  kundgegebenen  Ab- 
sicht, die  Anlegung  eines  Theiles  des  Vermögens  der  Invalidi- 
täts- und  Altersversicherungsanstalten  in  gemeinnützigen  LTnter- 
nehmungen  zum  Wohle  des  Arbeiterstandes,  insbesondere  in 
der  Erbauung  von  Arbeiterwohnhäusern  zuzulassen  und  zu 
fördern.  Wenn  es  auch  zur  Zeit  nicht  räthlich  erscheint,  die 
Geschäfte  der  Arbeiter-Pensionskasse  durch  Erbauung  und  Ver- 
waltung von  Miethswohnungen  in  grösserem  Umfange  und  an 
verschiedenen  Orten  zu  belasten,  so  hat  der  Minister  der  öffent- 
lichen Arbeiten  es  doch  für  angezeigt  erachtet  durch  den  Vor- 
stand der  Kasse  die  Frage  erörtern  zu  lassen,  ob  nicht  ein 
mässiger  Theil  der  bereits  jetzt  mehr  als  22  Millionen 
Mark  betragenden,  stetig  wachsenden  Bestände  der  Kasse  für 
den  in  Rede  stehenden  Zweck  und  somit  auch  in  erster  Reihe 
wiederum  zum  Wohle  eines  Theils  der  Kassenmitglieder  selbst 
dadurch  nutzbar  gemacht  werden  kann,  dass  daraus  an  solche 
Baugenossenschaften,  die,  ausschliesslich  oder  überwiegend  aus 
Bediensteten  der  Staatseisenbahn -Verwaltung  bestehend,  sich 
mit  der  Herstellung  billiger  und  gesunder  Wohnungen  für  ihre 
Mitglieder  befassen,  Kapitalien  gegen  massigen  Zmsfuss  ver- 
liehen werden.  Der  Kassenvorstand  hat  in  Anerkennung  des 
guten  Zwecks  durch  einstimmigen  Beschluss  seine  Bereitwillig- 
keit zur  Förderung  derartiger  gemeinnützer  Anstalten  zu  er- 
kennen gegeben.  Der  Minister  hat  auf  Grund  dessen  die  könig- 
lichen Eisenbahndirektionen  beauftragt,  geeignetenfalls  nach 
Einforderung  von  Gutachten  der  Arbeiterausschüsse,  der  Be- 
zirksausschüsse, der  Arbeiter-Pensionskasse  oder  anderer  Ver- 
tretungen von  Arbeitern  und  unteren  Beamten  zu  erwägen,  in- 
wieweit in  ihren  Bezirken  ein  besonderes  Bedürfniss  zur  Ver- 
besserung der  Wohnungsverhältnisse  des  unteren  Dienstpersonals 
vorliegt,  sowie  ob  und  inwieweit  die  Voraussetzungen  für  die 
Bildung  lebensfähiger  Baugenossenschaften  und  für  deren  ge- 
deihliche Wirksamkeit  vorlianden  sind.  Werden  nach  vorsich- 
tiger Abwägung  aller  Verhältnisse  die  nöthigen  Bedingungen 
erfüllt,  so  liegt  es,  wie  der  Minister  in  einem  Runderlass  vom 
2.  August  sich  ausgesprochen  hat,  im  Interesse  des  Dienstper- 
sonals als  auch  der  Verwaltung,  dass  die  Behörden  — nöthigen- 
faffls  nach  Benehmen  mit  dem  Vorstand  der  Arbeiter-Pensions- 
kasse — in  geeigneter  Weise  die  Bildung  von  Baugenossen- 
schaften nach  nachahmenswerthen  Mustern  anregen  und  fördern. 
Dass  auf  diesem  Gebiete  nur  allmählich  und  schrittweise  vor- 
gegangen werden  kann,  versteht  sich  von  selbst.  Der  Minister 
hat  diese  wichtige  Frage  der  besonderen  Aufmerksamkeit  der 
königlichen  Eisenbahndirektionen  empfohlen  und  bis  zum  15.  Ja- 
nuar k Js.  Bericht  über  die  erzielten  Erfolge  und  gewonnenen 
Erfahrungen  eingefordert. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


426 


ANZEIGEN. 


No.  34. 


Vertag  ooti  Xpfiltfjarl»  SsimtOtt  in  Berlin  SW.,  SSilbeknftv.  121. 

X)er  2lrbeiterfreun5. 

Jßiffrijriff  für  b i e H r b r t f r r f r a g 2. 


©rgem 

bes 

(Entfral-Bn'rins  für  bas  BMjl  bxr  arbnfnthen  klaffen. 


."D  ercuiäge  geben 

non 

{ßrofeflor  Dr.  Btütnv  Büljnmi  in  Bresben 

iit  S&erbinbung  mit 

Brofejfor  Dr.  Knbulf  Xnm  O^nrijt  in  Berlin, 

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3frril|errn  (Carl  xnut  D n et e l l'a it u , 

fortgefefst  non 

Br.  Jrßiljrrrrt  tunt  Berger. 

XIVr.  S«Öcgaitg. 

SWonatlid)  1 $eft  tiott  8—4  '-Bogen  in  Octah.  ,ßu  bejieljen  bivect  botit  Verleger,  burd)  alle 

ißoftanftalten  imb  löin^tjanblnngen 
BroboljEfle  oom  B erleg  er  ober  jeber  Budjfjanblung  erljälflidj. 

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Jahrgang  I— X foUu'it  her  Borraflj  veidjt,  franco  fl.  3.-  ö.  HD.  = 6 MHi. 
Verlag  der  Manz’schen  k.  und  k.  Hof-Verlags-  und  Universitäts-Buchhandlung  in  Wien. 


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Pöjenlttjrift  nir  lörDmnta  einer  frieöltüjen 

SufialrofBrnt. 

Brgan  bes  Beuffrijen  Bitttbes  für  Boben- 
befiljrefonn. 

©rfdieint  jeben  Vlontag. 


2t  b o n n e in  e n t s>  b e b i n g u n g e u : 

Vei  allen  Sßoftanftalten  (9fr.  2272 

ber  Voffaeitungälifte)  ....  Dff  0,80 
23ei  birefter  Äreuabaubfenbung: 

in  Seutfdjtanb  unb  Defterreid) . „ i,20 

iin  SBeltpoftoerein  ....  „ l ,50 

3«  ^Berlin  bei  freier  gufenbung  . „ i,— 

Bie  (Expedition 

M.  $trxüs,  SfaHfd|reibei*|fr.  55. 


J.@nttenfail,  Verlagsbucfjljaiibluiig  in  'Berlin. 


unb 


iMpifionalnitttiltii. 

(Sin  Iteberblicf  über  beren  ©gfteme,  Verbreitung, 
Vegritnbung 

oon 

Di*,  j&ettmcb  9itM'tn, 

o.  b.  Vrofeffor  für  Staatsredjt  unb  ©eutidjes  3lec&t 
urt  ber  llniberfität  ffreiburg  i.  Vr. 

Breis  1 Mark. 


|nfalli!£ifi(i|frni![js8CiE| 

oom  6.  Juli  1884 

ltnb 

®e|e|  fiter  Me  |nstelinunfl  ter 
ilnfiill-u.|raiiteiiüErfi(ljErun0 

oom  28.  ÜDai  1885. 


Das 

ÖSTERREICHISCHE  STAATSRECHT 

(Verfassungs-  und  Verwaltungsrecht). 

Ein  Lehr-  und  Handbuch 

von 

Dr.  Ludwig  Gumplowicz, 

Professor  in  Graz. 


$e£t=2lu£>gabe  mit  Slnmerhtngen 
unb  ©adjregifter 
0011 


( E . ü.  IDuetJfke, 

ß'aifcvl.  ©clj.  Dber=9tegierung3rat[).  uovtvag.  :H,itl)  im  'Heid)!, 
amt  be-3  Jtmievn. 

liierte  ucrntcl) rtc  'Kurtage. 

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41  Bogen.  8°.  Preis  broschirt  io  Mark. 


Beeis  2 Blark. 


Der  Mangel  einer  Gesammtdarstelluiig  des  österreichischen  .Staatsrechtes  hat  sich  in  den 
letzten  Jahren  insbesondere  in  Folge  einschneidender  Umgestaltungen  und  Neubildungen  auf  dem 
Gebiete  des  österreichischen  Verwaltungsrechtes  nicht  nur  in  Kreisen  der  Studirenden,  sondern 
auch  aller  derjenigen,  die  am  öffentlichen  Leben  theilnehmen,  fühlbar  gemacht.  Es  sei  nur 
darauf  hingewiesen,  dass  seit  den  jüngsten  Neuregelungen  des  Militärrechtes,  des  Gewerberechtes, 
des  Arbeiterschutzrechtes  noch  keine  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes,  welche 
dieselben  berücksichtigen  würde,  erschienen  ist  und  dürfte  daher  obiges  Werk  den  interessirenden 
Kreisen  gewiss  willkommen  sein. 


Hugo  Frankel, 

A ntiquariat  fürRechts-u.Staatswissenschaft, 

Berlin  N.  24,  Elsasserstr.  36, 

empfiehlt  sich  zur  Beschaffung  aller  in  sein 
Specialfach  einschlagender  Literatur. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil  • O.  Schuchardt  in  Berlin, 


Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  29.  August  1892. 


Nummer  35 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespalte-ie 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T 


Zum  Verfahren  i n U n f a 1 1 - Ent- 
schädigungssachen. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik: 

Die  deutschen  Erwerbs-  und  Wirth- 
schaftsgenossenschaften  im  Jahre 
1891.  Von  Dr.  Hans  Crüger. 

Staatsmonopole. 

Unentgeltliche  Beerdigung  in  der 
Schweiz. 

Die  Schweiz  als  Versuchsfeld  für 
Volkswirthschaft  und  Sozial- 
politik. 

Arbeiterzustände: 

Die  niedrigsten  und  die  höchsten 
ortstiblichenTagelöhne  inDeutsch- 
land.  Von  Dr.  E.  Lange. 

Löhne  in  Stuttgart. 

Statistik  der  Arbeitslosigkeit  in 
Frankreich. 

Zur  Lage  der  englischen  Arbeiter. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Ende  der  Hamburger  Braueraus- 
sperrung. 

Kontrollmarke  der  Friseure. 

Zum  Aufruhr  in  Homestead. 
Politische  Arbeiterbewegung: 

Sozialistische  Kongresse. 

Ein  Vertreter  der  Arbeiter  in  der 
Regierung  von  Zürich. 


Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Sonntagsruheverordnung  für  das  I 
Handelsgewerbe  im  Hamburgi- 
schen  Staate. 

Die  Sonntagsruhe  in  München. 

Die  französischen  Arbeitsräthe. 

Zur  Frage  des  Achtstundentages 
in  England. 

Das  Achtstundengesetz  in  den 
Vereinigten  Staaten. 
Arbeiterversicherung: 

Zur  Ausdehnung  der  deutschen 
Unfallversicherung  auf  das  Hand- 
werk, Seefischerei  u.  s.  w. 

Zur  Reform  der  deutschen  Unfall- 
versicherung, 

Die  Berufsgenossenschaften  und 
die  Unfallverhütung. 

Die  eingeschriebenen  Hilfskassen 
und  die  Krankenkassennovelle. 

Wolmungszustände  und  Woli- 
nungsgesetzgebung : 

Regelung  des  Schlafstellen  Wesens 
in  Frankfurt  a.  M. 

Soziale  Hygiene: 

Sanitätspolizeiliche  Revisionen  in 
Wien. 

Die  Cholera  und  die  Wohnungs- 
verhältnisse in  St.  Petersburg. 

Das  Stehen  der  Pferdebahnkutscher 
und  Schaffner. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zum  Verfahren  in  Unfall-Entschädigungs- 
sachen. 

Als  seiner  Zeit  die  Frage  erörtert  wurde,  — entschieden 
war  sie  freilich  an  massgebender  Stelle  bereits,  ehe  sie  zur 
Erörterung  gestellt  wurde  — , ob  der  den  Arbeitern  zuge- 
dachte verstärkte  Schutz  gegen  die  Folgen  von  Betriebs- 
unfällen ihnen  durch  eine  Erweiterung  und  theilweise  Um- 
gestaltung der  Haftpflicht  oder  in  Form  einer  öffentlich- 
rechtlichen  Zwangsversicherung  gewährt  werden  sollte,  da 
wurde  mit  besonderer  Vorliebe  der  Satz  verfochten,  die 
Häftpflichtprozesse  müssten  beseitigt  werden,  weil  sie  einer- 
seits das  Verhältniss  zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeiter 
vergifteten,  andererseits  in  ihrem  schleppenden  Rechtsgange 
dem  Arbeiter  keine  Garantie  dafür  zu  bieten  vermöchten, 
dass  er  mit  der  nothwendigen  Promptheit  und  Beschleuni- 
gung in  den  Besitz  der  ihm  gebührenden  Entschädigung 


gelange.  Wir  haben  von  diesem  Argument  nie  sonderlich 
viel  gehalten  — schon  deshalb  nicht,  weil  es  sich  über- 
haupt nicht  gegen  das  bekämpfte  Prinzip,  sondern  nur 
gegen  einzelne,  doch  keinesfalls  davon  untrennbare  Mängel 
richtet.  Das,  was  das  Verhältniss  zwischen  Unternehmer 
und  Arbeiter  vergiftet,  ist  zudem  offenbar  nicht  der  Pro- 
zess, sondern  was  demselben  vorausgegangen  ist  und  ihn 
nothwendig  gemacht  hat.  Freilich  steht  jetzt  dem  Arbeiter 
nicht  mehr  der  einzelne  Arbeitgeber,  sondern  eine  Ge- 
nossenschaft von  Unternehmern  gegenüber.  Das  ist  ganz 
gewiss  ein  Unterschied,  und  kein  kleiner;  aber  es  ist  ein 
Unterschied,  für  den  man  bei  dem  Arbeiter  ein  besonderes 
Verständniss  nicht  voraussetzen  darf.  Er  muss  dadurch  in 
dem  Gefühl  nur  bestärkt  werden,  dass  er  nicht  nur  den 
einzelnen  Arbeitgeber,  sondern  den  Stand  der  Unternehmer 
als  Gegner  sich  gegenüber  habe,  und  dass  das  gerade  dazu 
beitragen  solle,  ihn  der  Verbitterung  weniger  zugänglich 
zu  machen,  wird  man  ebensowenig  erwarten  dürfen,  als 
man  von  dem  Arbeiter  biiligerweise  verlangen  kann,  dass 
er  den  ihr  von  dem  Genossenschaftsvorstande  ertheilten 
Bescheid  als  ein  unparteiisches  richterliches  Urtheil  und 
nicht  vielmehr  als  die  Erklärung  seines  Prozessgegners  auf- 
fasse. Und  die  Dauer  der  Entschädigungsprozesse,  — von 
der  wollten  wir  eben  hier  sprechen. 

Das  Reichsversicherungsamt  veröffentlicht  alljährlich 
in  seinem  Geschäftsbericht  auch  eine  auf  den  amtlichen 
Berichten  der  Schiedsgerichtsvorsitzenden  und  seinen 
eigenen  Erfahrungen  beruhende  Uebersicht  über  die  Er- 
gebnisse der  Rechtsprechung  in  Unfallsachen.  Dieselbe 
enthält  zwar  keine  Angaben  über  die  Dauer  der  einzelnen 
Prozesse,  lässt  aber  auch  hierauf  einige  Schlüsse  zu.  Wir 
ersehen  daraus,  dass  von  den  im  Laufe  eines  Jahres  an- 
hängig gemachten  Berufungen  regelmässig  V4  bis  1/3  uner- 
ledigt in  das  zweite  Jahr  übernommen  werden.  Vorausge- 
setzt, dass  sich  die  Berufserhebungen,  wie  das  ja  auch  bei 
den  Unfällen  zutrifft,  einigermassen  gleichmässig  über  das 
ganze  Jahr  vertheilen,  wird  man  sonach  die  durchschnitt- 
liche Dauer  der  Berufungsinstanz  auf  3 bis  4 Monate  anzu- 
nehmen haben.  Allermindestens  derselbe  Zeitraum  muss, 
da  ja  die  Entschädigungspflicht  der  Berufsgenossenschaft 
erst  3 Monate  nach  dem  Unfälle  beginnt,  wenn  man  selbst 
die  prompteste  Erledigung  bei  den  Organen  der  Berufsge- 
nossenschaft voraussetzt,  zwischen  dem  Unfall  und  der  Be- 
rufungserhebung liegen.  Es  ist  also  schwerlich  eine  zu  un- 
günstige Annahme,  wenn  man  den  Zeitraum  zwischen  dem 
Unfall  und  dem  Erlass  des  Berufungsurtheils  auf  etwa  acht 
Monate  im  Durchschnitt  schätzt.  Von  den  erhobenen  Re- 
kursen gelangen  stets  ein  starkes  Drittel  bis  zur  Hälfte  un- 
erledigt ins  folgende  Jahr,  und  einige  wenige  werden  erst 


428 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  35. 


im  zweitfolgenden  Jahre  durch  Urtheil  entschieden.  Man 
kann  also  die  durchschnittliche  Dauer  der  Rekursinstanz 
ohne  grossen  Fehler  auf  6 bis  8 Monate  schätzen.  Das  er- 
giebt  für  die  Dauer  eines  durch  alle  Instanzen  gehenden 
Entschädigungsprozesses,  vom  Tage  des  Unfalls  bis  zum 
Tage  des  endgültigen  Rekursurtheils  einen  durchschnitt- 
lichen Zeitaufwand  von  1 xji  Jahren.  Vergleichen  wir  in 
den  Rekursentscheidungen,  soweit  sie  einen  ersten  Fest- 
stellungsbescheid betreffen,  das  Entscheidungsdatum  mit 
dem  Datum  des  Unfalls,  so  werden  wir  das  im  Allgemeinen 
bestätigt  finden.  Weniger  als  ein  Jahr  beträgt  die  Zeit- 
differenz nur  in  seltenen  Fällen,  dagegen  mitunter,  zumal 
wenn  eine  erhebliche  Beweisaufnahme  in  der  Rekursinstanz 
für  erforderlich  erachtet  worden  ist,  viel  mehr. 

Das  scheint  uns  eine  recht  lange  Zeit,  und  es  ist  ein 
ungenügender  Trost,  wenn  man  uns  versichern  wollte,  dass 
es  früher  im  ordentlichen  Gerichtsverfahren  noch  länger 
gedauert  habe.  Es  handelt  sich  in  allen  diesen  Streitsachen 
um  nicht  der  absoluten  Ziffer  nach,  wohl  aber  für  den 
Unterhalt  des  verunglückten  Arbeiters  und  seiner  Familie 
sehr  erhebliche  und  wichtige  Beträge.  Hat  man  auch  die 
Nothwendigkeit,  für  die  Entscheidung  solcher  Streitsachen 
ein  kurzes  und  promptes  Verfahren  einzuführen,  unzweifel- 
haft erkannt,  so  zeigt  doch  der  Erfolg,  dass  man  das,  was 
man  wollte,  doch  nur  sehr  unvollkommen  erreicht  hat.  Der 
Zeitpunkt,  in  welchem  die  Revision  der  Unfallversicherungs- 
gesetze offiziell  auf  die  Tagesordnung  gesetzt  ist,  erscheint 
wohl  geeignet,  auch  diese  Frage  einmal  zu  besprechen. 

Die  ersten  3 Monate  nach  dem  Unfall  bleiben  natür- 
lich ausser  Betracht.  Dass  alsdann  die  Genossenschafts- 
organe unverzüglich  den  Rentenfeststellungsbescheid  er- 
lassen, und  sofern  das  einmal  nicht  alsbald  möglich  sein 
sollte,  von  dem  gerade  für  diesen  Fall  erfundenen  Auskunfts- 
mittel der  vorläufigen,  inappellabel!!  Rentenbewilligung  Ge- 
brauch machen,  ist  nur  ihre  Pflicht  und  kann  im  Wege  der 
Aufsicht  erzwungen  werden.  Eine  Durchschnittsdauer  von 
3 bis  4 Monaten  für  die  Berufungsinstanz  ist  zwar  nicht 
gerade  wünschenswert!!,  aber  immer  noch  erträglich;  wo 
sie  überschritten  wird,  lässt  sich  durch  Vermehrung  der 
Schiedsgerichte  und  Verkleinerung  der  Schiedsgerichtsbe- 
zirke  im  Rahmen  des  Gesetzes  Abhilfe  schaffen.  Der 
Hauptmangel  liegt  in  der  Verzögerung  in  der  Rekursinstanz, 
das  heisst  in  der  Ueberlastung  des  Reichsversicherungsamts. 
Dass  eine  solche  Ueberlastung  vorhanden  ist,  lässt  sich 
ebensowenig  bestreiten,  als  dass  ihr  nicht  rein  mechanisch 
durch  Vermehrung  des  Personals  und  der  Senate  abge- 
holfen werden  kann.  Wenigstens  kann  das  nicht  geschehen, 
ohne  das  Reichsversicherungsamt  immer  mehr  zu  einer 
Riesenbehörde  anschwellen  zu  lassen  und  ihm  von  seiner 
Eigenart  immer  mehr  zu  nehmen.  Sonach  sehen  wir  keinen 
anderen  Weg  zu  einer  wirklichen  Entlastung  als  eine  Ab- 
änderung der  Kompetenz. 

Dem  Gegenstände  nach  lassen  sich  die  Entschädi- 
gungsprozesse in  zwei  grosse  Gruppen  scheiden:  in  solche, 
bei  welchen  die  Pflicht  zur  Entschädigung,  und  in  solche, 
bei  welchen  nur  die . Höhe  der  Entschädigung  streitig  ist. 
Der  ersteren  Gruppe  haben  nach  den  Geschäftsberichten 
des  Reichsversicherungsamts  im  Jahre  1889  von  1503  Re- 
kursen 368,  1890  von  1748  Rekursen  537,  1891  von  2888  Re- 
kursen 886,  also  im  ersten  Jahre  nicht  ganz  25  pCt.,  in  den 
beiden  letzten  Jahren  etwas  über  30  pCt.  angehört.  Dabei 
handelt  es  sich  also  um  die  Fragen:  ob  ein  Betriebsunfall 
vorliegt?  ob  ein  Kausalzusammenhang  zwischen  Unfall  und 
Erwerbsunfähigkeit  bezw.  Tod  vorliegt?  ob  der  Kläger  eine 
versicherungspflichtige  Person  ist?  ob  die  beklagte  Berufs- 
genossenschaft die  entschädigungspflichtige  ist?  In  allen 
übrigen,  der  grossen  Mehrzahl  der  Fälle  war  nur  streitig, 
in  welcher  Höhe  oder  in  welcher  Form  die  Entschädigung 


zu  gewähren  sei.  Wollte  man  sich  nun  entschliessen,  diese 
Fälle,  bei  denen  es  sich  überwiegend  nur  um  Beurtheilung 
thatsächlicher  Verhältnisse  handeln  kann,  dem  Reichsver- 
sicherungsamt abzunehmen,  so  wäre  der  Zweck  der  Ent- 
lastung mit  einem  Schlage  erreicht.  Allerdings  kann  es  sich 
auch  hier  einmal  um  wichtige  Prinzipien-  und  Rechtsfragen 
handeln,  und  es  müsste  daher  zur  Wahrung  der  Rechtsein- 
heit ein  ausserordentliches  Rechtsmittel,  etwa  nach  Art  der 
Revision  in  Invaliditäts-  und  Altersversicherungssachen,  offen 
gelassen  werden.  Immerhin  würde  aber  die  Hälfte  der 
Spruchsachen  von  den  Termins  Verzeichnissen  des  Reichs- 
versicherungsamts verschwinden,  und  die  dadurch  erzielte 
Zeitersparniss  könnte  der  prompten  Erledigung  der  ver- 
bleibenden wichtigen  Fälle  zu  gute  kommen. 

Natürlich  wünschen  wir  nicht,  dass  in  den  Streit- 
sachen über  die  Höhe  der  Renten  die  Entscheidungen  der 
Schiedsgerichte  endgiltig  sein  sollen.  Im  Gegentheil,  wir 
halten  es  für  ungerechtfertigt,  dass  gegenwärtig  die  Urteile 
über  Entschädigung  für  vorübergehende  Erwerbsunfähig- 
keit, über  Ersatz  der  Kur-  und  Begräbniskosten  durch 
kein  Rechtsmittel  angefochten  werden  können.  Auch  diese 
Sachen  sind  für  den  Arbeiter  wohl  wichtig  genug,  dass 
man  ihm  noch  eine  zweite  richterliche  Instanz  eröffnen 
sollte.  Es  kann  sich  sonach  nur  um  die  Errichtung  von 
j Mittelinstanzen  handeln.  Und  die  Ansätze  dazu  haben  wir 
bereits  in  den  Landesversicherungsämtern,  mag  man  nun 
diesen  Namen  beibehalten  oder  einen  anderen  wählen.  Dass 
die  Landesversicherungsämter,  wenn  auch  nur  fakultativ, 
neben  dem  Reichsversicherungsamt  mit  völlig  koordinirter 
Kompetenz  für  die  über  das  Landesgebiet  nicht  hinaus- 
gehenden Berufsgenossenschaften  zugelassen  worden  sind, 
wird  Jeder,  der  die  Rechtseinheit  und  Rechtssicherheit 
obenan  stellt,  wo  nicht  für  einen  Fehler,  so  doch  für  ein 
recht  gewagtes  Experiment  halten  müssen,  und  er  wird  sich 
bestenfalls  freuen  dürfen,  dass  dasselbe  keinen  besonderen 
Schaden  angerichtet  hat.  Nimmt  man  ihnen  dagegen  die 
Zuständigkeit  in  den  Sachen,  welche  dem  Reichsversiche- 
rungsamt vorzubehalten  sind,  und  überträgt  ihnen  dagegen 
die  Rechtsprechung  in  jenen  minder  wichtigen  Fällen  — 
vorbehaltlich  der  Revision  an  das  Reichsversicherungsamt 
wegen  Rechtsverletzung  — , so  werden  sie  wesentlich  zur 
Beschleunigung  des  Verfahrens  beitragen,  ohne  die  Rechts- 
sicherheit zu  gefährden.  Denn  um  festzustellen,  um  wieviel 
Prozent  Jemand  durch  einen  Unfall  in  seiner  Erwerbsfähig- 
keit geschmälert  ist,  oder  wie  hoch  sein  Jahresarbeitsver- 
dienst gewesen  ist,  dazu  braucht  man  wahrlich  die  Akten 
nicht  jedesmal  nach  Berlin  zu  senden  — immer  voraus- 
gesetzt, dass  ein  oberster  Revisionsgerichtshof  über  die 
allgemeine  Anwendung  der  leitenden  Rechtsgrundsätze 
wacht. 

Wir  werden  uns  freilich  bescheiden  müssen,  dass  so 
eingreifende  Abänderungsvorschläge  wenig  Aussicht  auf 
Verwirklichung  haben.  Denn  bereits  ist  die  Parole  aus- 
gegeben, dass  bei  der  Revision  der  Unfällversicherungs- 
gesetze die  Grundlage  der  Organisation  unangetastet  bleiben 
soll,  — eine  Enthaltsamkeit,  die  uns  freilich  übel  ange- 
bracht scheint,  wo  die  gemachten  Erfahrungen  eine  so 
deutliche  Sprache  reden.  So  wollen  wir  denn  noch  einen 
anderen  Punkt  berühren,  der  der  Abhilfe  noch  dringender 
bedarf,  und  wo  dieselbe  ohne  organisatorische  Aenderungen 
gewährt  werden  kann. 

Es  kommt  nicht  ganz  selten  vor,  dass  es  zweifelhaft 
ist,  welche  von  mehreren  Berufsgenossenschaften  für  einen 
Unfall  aufzukommen  hat,  während  darüber,  dass  für  den- 
selben eine  Entschädigung  zu  gewähren  ist,  gar  kein  Streit 
besteht.  Das  ist  für  den  Verletzten  allemal  ein  arges  Di- 
lemma. Wirklich  geholfen  könnte  ihm  nur  werden  durch 
Eröffnung  eines  Verfahrens,  in  welchem  alle  betheiligten 


No.  35. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


429 


Berufsgenossenschaften  als  Partei  auftreten,  und  daher  eine 
Entscheidung  erlangt  werden  kann,  welche  derselben  zah- 
lungspflichtig ist.  Diese  Hilfe  ist  durch  dieberufsgenossen- 
schaftliche Organisation  geradezu  ausgeschlossen.  Das 
Feststellungsorgan  und  die  schiedsgerichtliche  Instanz  sind 
nur  für  eine  bestimmte  Berufsgenossenschaft  zuständig;  es 
ist  garnicht  möglich,  eine  fremde  Berufsgenossenschaft  als 
Prozesspartei  bei  dem  Verfahren  zu  betheiligen.  Dem  Ver- 
letzten ist  es  also  überlassen,  die  mitunter  recht  schwierige 
Wahl  zu  treffen,  gegen  welche  Berufsgenossenschaft  er 
seinen  Anspruch  verfolgen  will.  Die  Entscheidung  kann 
daher  auch  immer  nur  dahin  ergehen,  dass  die  beklagte 
Berufsgenossenschaft  zur  Entschädigung  verpflichtet  oder 
nicht  verpflichtet  sei.  Das  Reichsversicherungsamt  kommt 
dem  Kläger  soweit  entgegen,  als  es  kann,  indem  es  die 
andere  Berufsgenossenschaft  oder  Berufsgenossenschaften, 
deren  Entschädigungspflicht  eventuell  in  Frage  kommen 
kann,  als  Beigeladene  zuzieht  und  die  Frage  vollständig  in- 
struirt.  Verurtheilen  aber  kann  es  die  beigeladene  Berufs- 
genossenschaft nicht,  muss  vielmehr  in  solchem  Falle  auf 
Abweisung  der  Klage  gegen  die  beklagte  Genossenschaft 
erkennen.  Zwar  weiss  dann  die  entschädigungspflichtige 
Berufsgenossenschaft,  was  ihr  bevorsteht,  und  es  ist  anzu- 
nehmen, dass  sie  nunmehr  ohne  weiteres  den  Verletzten 
befriedigen  wird.  Aber  sicher  ist  das  doch  keineswegs, 
und  mindestens  ein  Streit  über  die  Höhe  der  Entschädigung- 
nach  sehr  wohl  möglich.  Es  können  aber  auch  wohl  neue 
Momente  hervortreten,  auf  Grund  deren  die  Entschädigungs- 
pflicht einer  dritten  Berufsgenossenschaft  bewiesen  oder 
wenigstens  behauptet  wird.  Uebrigens  kommen  auch  Fälle 
vor,  in  welchem  das  abweisende  Rekursurtheil  die  Frage, 
welche  von  zwei  anderen  Berufsgenossenschaften  zur  Ent- 
schädigung verpflichtet  sei,  als  im  vorliegenden  Verfahren 
nicht  zu  entscheiden,  ausdrücklich  offen  lässt.  Kurz,  — es 
kann  Vorkommen,  dass  erst  nach  vollständiger  Durchfüh- 
rung von  zwei  oder  gar  drei  Feststellungsprozessen  der 
Verletzte  eine  endgiltige,  seine  Ansprüche  anerkennende 
Entscheidung  erzielt  hat,  während  doch  darüber,  dass  er 
Entschädigung  zu  erhalten  habe,  von  vorneherein  gar  kein 
Streit  waltete.  Ja,  es  kann  Vorkommen,  dass  die  anschei- 
nend reichlich  bemessene  zweijährige  Verjährungsfrist  doch 
nicht  ausreicht,  dem  Arbeiter,  der  sich  zweimal  gegen  eine 
unrichtige  Berufsgenossenschaft  gewendet  hat,  in  seinem 
Anspruch  gegen  die  dritte,  wirklich  entscheidungspflichtige 
zu  schützen.  Man  wird  nun  sagen,  so  muss  er  vorsichtiger- 
weise gleichzeitig  bei  beiden  Berufsgenossenschaften  seinen 
Anspruch  anmelden.  Den  Rath  kann  er  aber  offenbar  nur 
befolgen,  wenn  er  selber  im  Zweifel  darüber  ist,  welcher 
derselben  die  Entschädigungspflicht  zufällt.  In  den  meisten 
Fällen  wird  er  aber  darüber  garnicht  zweifelhaft  sein,  son- 
dern vollkommen  sicher  zu  sein  wähnen  und  erst  aus  dem 
Urtheilsspruch  ersehen,  dass  er  sich  getäuscht  hat.  Aber 
wenn  er  sich  nun  auch  an  beide  Berufsgenossenschaften 
wendet,  so  ist  der  gewöhnliche  Verlauf,  dass  beide  den  An- 
spruch ablehnen,  weil  jede  natürlich  die  andere  für  ent- 
schädigungspflichtig erachtet,  und  dass  in  der  Berufungs- 
instanz das  eine  Schiedsgericht  in  der  Sache  verhandelt 
und  entscheidet,  das  andere  hingegen  durch  Beschluss  die 
Verhandlung  bis  zur  rechtskräftigen  Entscheidung  der 
schwebenden  Sache  aussetzt.  Will  es  nun  das  Unglück, 
dass  der  Kläger  zuerst  die  Unrechte  Berufsgenossenschaft 
erwischt  hat,  so  wird  er  an  Zeit  nicht  gerade  viel  ge- 
wonnen, immerhin  sich  aber  gegen  die  Verjährung  seines 
Anspruchs  geschützt  haben,  - — es  sei  denn,  dass  sich  im 
Verlaufe  des  Prozesses  erst  herausstellt,  dass  eine  dritte 
Berulsgenossenschaft,  an  die  er  garnicht  gedacht  hat,  die 
eigentlich  entschädigungspflichtige  ist. 

Abhilfe  scheint  uns  hier  dringend  geboten,  und  sie 


kann  nicht  ohne  eine  Aenderung  der  Bestimmungen  über 
das  Verfahren  geboten  werden.  Wollte  man,  wie  vorhin 
befürwortet,  rechtsprechende  Instanzen  mit  territorialer, 
nicht  berufsgenossenschaftlicher  Zuständigkeitsabgrenzung 
errichten,  so  wäre  es  ja  ein  Leichtes,  ihnen  in  diesen  Fällen 
die  Entscheidung  in  der  Berufungsinstanz  zwischen  dem 
Entschädigungsberechtigten  und  allen  betheiligten  Berufs- 
genossenschaften zu  übertragen.  Will  man  das  nicht,  so 
werden  allerdings  die  Prozesse  bis  zur  Rekursinstanz  ge- 
trennt geführt  werden  müssen.  Aber  man  kann  dann 
wenigstens  Vorsorge  treffen,  dass  sie  gleichzeitig  und  ohne 
Zeitverlust  geführt  werden,  und  man  kann  von  dem  ge- 
schäftsunkundigen Arbeiter  nicht  verlangen,  dass  er  durch 
seine  Erklärungen  und  Anträge  ihren  Lauf  dirigire.  Was 
wir  fordern,  ist  also:  ein  möglichst  kurzes  Verfahren  von 
Amts  wegen.  Dazu  bedürfte  es  etwa  folgender  Bestim- 
mungen: Eine  Berufsgenossenschaft,  welche  die  geforderte 
Entschädigung  aus  dem  Grunde  ablehnt,  weil  sie  eine 
andere  Berufsgenossenschaft  an  ihrer  Stelle  für  entschädi- 
gungspflichtig erachtet,  ist  mit  diesem  Einwande  nur  dann 
zuzulassen,  wenn  sie  in  ihrem  ablehnenden  Bescheide  zu- 
gleich die  für  entschädigungspflichtig  erachtete  andere  Be- 
rufsgenossenschaft bezeichnet  und  derselben  Abschrift  des 
Bescheides  zugestellt  hat.  Auf  Grund  dieser  Abschrift  hat 
sich  die  zweite  Berufsgenossenschaft  alsbald  von  Amts 
wegen  über  ihre  Entschädigungspflicht  schlüssig  zu  machen. 
Die  Berufungen  gegen  die  so  erlassenen  Bescheide  sind, 
unabhängig  von  einander,  in  thunlichster  Beschleunigung 
zur  schiedsgerichtlichen  Entscheidung  zu  bringen.  Dabei 
hat  jede  Berufsgenossenschaft  das  Recht,  sich  in  der  Ver- 
handlung vor  dem  Schiedsgericht  der  anderen  Berufsge- 
nossenschaft durch  einen  Kommissar  vertreten  zu  lassen, 
um  über  den  Verlaut  des  Verfahrens  stets  orientirt  zu 
bleiben.  Erkennt  eine  der  Berufsgenossenschaften  ihre  Ent- 
schädigungspflicht an  oder  beruhigt  sich  bei  einem  sie  ver- 
urtheilenden  schiedsgerichtlichen  Erkenntniss,  so  sind  damit 
auch  die  übrigen  Verfahren  erledigt,  und  soweit  noch  etwa 
Rechtsmittel  schweben , und  die  Klage  nunmehr  nicht 
zurückgenommen  wird,  durch  motivirtem  Beschluss  einzu- 
stellen. Anderenfalls  hingegen  werden  sämmtliche  Prozesse 
in  der  Rekursinstanz  zusammengefasst  und  durch  einen 
Richterspruch  endgiltig  entschieden. 

Auf  dieser  Grundlage  Hesse  sich  eine  Reform  unseres 
Erachtens  unschwer  durchführen  und  damit  ein  bedenk- 
liches Hinderniss  aus  dem  Wege  räumen,  dass  dem  Arbeiter 
die  Verfolgung  seines  Rechts  erschwert. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Die  deutschen  Erwerbs-  und  Wirthschaftsgenossen- 
schaften  im  Jahre  1891. 

Mit  Recht  hat  Schulze-Delitzsch  zu  seiner  Zeit  die 
Genossenschaften  als  „Innungen  der  Zukunft“  bezeichnet; 
die  Erfahrung  hat  es  bestätigt,  dass  „es  durchaus  vergeblich 
ist,  durch  die  Gewerbegesetzgebung  von  aussen  wieder  ein 
Leben  in  das  alte  Zunftwesen  hineinbringen  zu  wollen, 
welches  nicht  aus  der  inneren  Kraft  des  Organismus  selbst 
hervorquillt.  . . .“ 

Die  von  Schulze-Delitzsch  begründeten  Genossen- 
schatten stehen  auf  dem  Boden  der  heutigen  Wirthschafts- 
ordnung  und  bezwecken,  den  wirthschaftlich  Schwachen 
die  Vortheile  der  modernen  wirthschaftlichen  Entwickelung 
zugänglich  zu  machen.  Die  Vereinigung  dieser  Genossen- 
schaften erfolgte  im  Jahre  1859  durch  die  Begründung  eines 


430 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  35. 


Verbandes  der  Genossenschaften,  des  heute  aus  rund  1500 
Genossenschaften  bestehenden  Allgemeinen  Verbandes  der 
deutschen  Erwerbs-  und  Wirthschaftsgenossenschaften,  und 
es  steht  wohl  ausser  Zweifel,  dass  diese  Organisation  nicht 
zum  geringsten  Theile  zu  den  Erfolgen  beigetragen  hat, 
welche  die  deutschen  Genossenschaften  errungen  haben. 

Ein  grosses  Verdienst  dieses  Verbandes  ist,  dass  dessen 
Anwalt  (seit  Schulze- Delitzsch's  Tod  (1883)  Reichstagsab- 
geordneter F.  Schenck)  jährlich  eine  Statistik  über  den 
Bestand  der  Genossenschaften  und  deren  Geschäftsresultate 
herausgiebt,  die  für  die  Entwickelung  der  Genossenschaften 
von  grossem  Werthe  ist.  Mit  Recht  wird  diese  Statistik 
wegen  ihrer  sachgemässen  und  sorgfältigen  Arbeit  im 
In-  und  Auslande  geschätzt.  Der  Umfang  und  das  tiefe 
Eingehen  dieses  „Jahresberichtes“  in  die  Geschäftsverhält- 
nisse der  Genossenschaften  ist  aber  um  so  höher  zu  achten, 
als  er  auf  freiwilligen  Angaben  der  Genossenschaften 
beruht.  Keine  Genossenschaft  ist  zu  irgend  einer  Mitthei- 
lung gezwungen,  und  doch  finden  wir  u.  A.  darin  die 
Berichte  von  1076  Kreditgenossenschaften,  302  Konsum- 
vereinen. 

Der  „Jahresbericht  für  1891  über  die  auf  Selbsthilfe 
gegründeten  deutschen  Erwerbs-  und  Wirthschaftsgenossen- 
schaften von  F.  Schenck“  (Julius  Klinkhardt-Leipzig,  1892) 
bietet  den  Beweis  für  die  Ausdehnung,  die  auch  im  ab- 
gelaufenen Jahre  das  Genossenschaftswesen  genommen  hat. 

Der  Jahresbericht  führt  als  am  31.  Mai  1892  bestehend 
8418  Genossenschaften  (gegen  7608  im  Vorjahre)  auf.  Wenn 
sich  unter  diesen  Genossenschaften  auch  einzelne  befinden 
mögen,  die  sich  inzwischen  aufgelöst  haben,  so  sind  die 
Unrichtigkeiten  doch  jedenfalls  nicht  so  bedeutend,  um  das 
Gesammtbild  zu  beeinträchtigen.  Da  seit  dem  Genossen- 
schaftsgesetz von  1889  sämmtliche  Eintragungen  in  das 
Genossenschaftsregister  durch  den  „Reichsanzeiger“  ver- 
öffentlicht werden  müssen,  ist  die  Kontrolle  und  Fortführung 
jener  Listen  wesentlich  vereinfacht. 

LTnter  den  8418  Genossenschaften  befinden  sich: 

4401  Kreditgenossenschaften  . . . gegen  3710  am  31.  Mai  1891, 
2840  Rohstoff-,  Magazin-,  Werk-,  Pro- 
duktivgenossenschaften ...  ,,  2664  „ „ ,.  „ , 

1122  Konsumvereine „ 984  ,,  ,,  „ „ , 

55  Baugenossenschaften  ....  ,,  50  ,,  ,,  ,,  „ . 

Nur  837  dieser  Genossenschaften  waren  nicht  einge- 
tragene, sie  stammen  wohl  ausschliesslich  aus  der  Zeit,  da 
es  noch  kein  Genossenschaftsgesetz  gab,  wenn  auch  dieses 
Gesetz  (anders  als  das  österreichische)  die  Eintragung  neu 
begründeter  Genossenschaften  nicht  obligatorisch  macht. 
Der  Wunsch,  Rechtspersönlichkeit  zu  besitzen  und  die  sonst 
mit  der  Unterstellung  unter  das  Gesetz  verbundenen  Vor- 
theile, hat  diese  fast  ausnahmslos  bei  Neugründungen  zur 
Folge. 

Von  den  übrigen  Genossenschaften  hatten  6506  die 
unbeschränkte  Haftpflicht,  1019  die  beschränkte  Haftpflicht 
und  56  die  unbeschränkte  Nachschusspflicht. 

In  die  Liste  der  Kreditgenossenschaften  sind  533  neu 
aufgenommen,  41  in  Abgang  gestellt. 

Unter  den  neu  errichteten  Kreditgenossenschaften  be- 
finden sich  nur  29  mit  beschränkter  Haftpflicht  und  1 mit  un- 
beschränkter Nachschusspflicht ; von  den  älteren  Genossen- 
schaften sind  nur  35  zur  beschränkten  Haftpflicht  und  5 zur 
unbeschränkten  Nachschusspflicht  übergegangen.  Es  ist 
dies  ein  Beweis,  wie  übertrieben  die  Erwartungen  waren, 
die  mit  Bezug  auf  die  Zulassung  der  beschränkten  Haft- 
pflicht durch  das  neue  Genossenschaftsgesetz  gehegt  wur- 
den. Die  Erfahrung  hat  es  bereits  bestätigt,  dass  nur  für 
die  Kreditgenossenschaften  diese  Haftpflicht  genügt,  welche 
im  Besitz  eines  zur  Kreditbasis  ausreichenden  Vermögens 
sind;  seitens  des  sozial-reformatorischen  Genossenschafts- 
wesens des  Freiherrn  von  Broich,  das  alles  Heil  von  der  Zu- 
lassung der  beschränkten  Haftpflicht  erwartete,  ist  eifrig  für 
die  Gründung  von  Kreditgenossenschaften  mit  beschränkter 
Haftpflicht  agitirt  worden,  es  sind  auch  eine  Anzahl 
solcher  Genossenschaften  entstanden,  die  sich  dann  aber 
zum  Theil  bald  wieder  auflösen  mussten,  da  sie  auf  dieser 


Haftbasis  nicht  den  nöthigen  Kredit  fanden.  Daraus  erklärt 
sich  nun  auch  die  Klage  der  Leiter  des  sozial-reformatori- 
schen Genossenschaftswesens  über  die  angeblich  den  Ge- 
nossenschaften von  der  Reichsbank  gemachten  Schwierig- 
keiten; Kreditgenossenschaften  mit  unbeschränkter  Haft- 
pflicht haben  im  Gegentheil  oft  über  Massregeln  zu  be- 
rathen,  wie  sie  den  Geldzufluss  abhalten,  und  sie  sind  im 
Allgemeinen  gerne  gesehene  Kunden  der  Reichsbank  und 
der  Grossbanken. 

Ueber  das  Vermögen  von  10  Kreditgenossenschaften 
ist  1891  der  Konkurs  eröffnet.  In  allen  Fällen  ist  derselbe 
darauf  zurückzuführen,  dass  man  in  der  Erfahrung  bewährte 
Grundsätze  nicht  befolgt  und  alle  Warnungen  unbeachtet 
gelassen  hat.  Nicht  die  unbeschränkte  Haftpflicht  wird 
jetzt  die  Mitglieder  schädigen,  sondern  ihre  Sorglosigkeit 
und  die  Nichtachtung  aller  genossenschaftlichen  Grund- 
sätze. 

Zu  den  Geschäftstabellen  haben  1076  Kreditgenossen- 
schaften berichtet  mit  514  524  Mitgliedern,  1 14  484  504  M.  Ge- 
schäftsguthaben, 29  474  032  M.  Reserven,  439  023  181  M.  auf- 
genommenen fremden  Geldern.  Die  von  diesen  Genossen- 
schaften gewährten  Kredite  beliefen  sich  auf  1 561  610  530  M.: 
nämlich:  557316959  M.  auf  Vorschusswechsel,  352890036  M. 
auf  Diskonten,  91  396  840  M auf  Schuldscheine,  13  698  082  M. 
auf  Hypotheken,  546  308  613  M.  im  Kontokurrentgeschäft. 

Leider  ist  in  diesem  Jahre  eine  Vergleichung  mit 
früheren  Jahren  nicht  angängig,  da  einige  grössere  Ge- 
nossenschaften, die  früher  zu  dieser  Tabelle  berichteten,  in 
diesem  Jahre  die  Formulare  nicht  ausgefüllt  haben  und  da- 
her in  der  Zusammenstellung  fehlen;  die  dafür  eingetretenen 
neuen  Genossenschaften  führen  natürlich  keinen  Ausgleich 
herbei.  Die  Vergleichung  mit  früheren  Jahren  würde  daher 
zu  Resultaten  führen,  die  der  Wirklichkeit  nicht  entsprechen, 
sie  würde  werthlos  sein  und  zu  falschen  Folgerungen  ver- 
leiten. 

Hoffentlich  führt  — wie  in  dem  Jahresbericht  ausge- 
sprochen wird  - die  Erkenntniss  des  Werthes  der  Statistik 
für  die  weitere  Entwickelung  und  das  Gedeihen  der  Ge- 
nossenschaften diese  Genossenschaften  wieder  zur  Betheili- 
gung zurück. 

Uebrigens  bezieht  sich  dieses  Material  nur  auf  Kredit- 
genossenschaften nach  dem  System  von  Schulze-Delitzsch, 
welche  nicht  einer  bestimmten  Berufsklasse  dienen,  sondern 
Mitglieder  aller  Berufsklassen  aufnehmen. 

Die  ältesten  der  berichtenden  Kreditgenossenschaften 
sind  1848  begründet  (4),  die  meisten  in  den  Jahren  1862 
und  1 865. 

Die  grösste  Mitgliederzahl  hat  der  landwirthschaftliche 
Kreditverein  (e.  G.  m.  u.  H.)  zu  Augsburg:  11  211. 

Das  Verhältniss  des  eigenen  Kapitals  zu  den  fremden 
Geldern  beträgt  32,79  pCt.,  es  hat  sich  um  0,72  pCt.  gegen 
Ende  1890  erhöht  — ein  erfreuliches  Zeichen,  wenn  auch 
natürlich  hier  wie  überall  Durchschnittszahlen  einen  nur 
bedingten  Werth  haben,  da  einzelne  Vereine  eine  grosse 
Verschiebung  herbeiführen  können. 

Den  grössten  Umsatz  hat  eine  Genossenschaft  mit 
138  Millionen,  den  kleinsten  Umsatz  unter  6000  M.  haben 
zwei  Genossenschaften. 

Für  gemeinnützige  Zwecke  sind  53  065  M.  aufgewendet. 
Der  Bruttoertrag  belief  sich  auf  31  169  460  M.,  die  Unkosten 
betrugen  6 250  859  M.,  die  Verluste  1 237  653  M. 

Dividenden  wurden  vertheilt  von  0 — 30  pCt. ; der  hohe 
Satz  ist  stets  auf  ein  sehr  niedriges  Verhältniss  des  eigenen 
Kapitals  zum  fremden  Gelde  zurückzuführen. 

Der  Reingewinn  betrug  nach  Abzug  von  Unkosten 
und  Verlust  8 840  489  M. 

Ueber  die  Bewegung  der  Mitgliedschaft  berichteten 
1001  Kreditgenossenschaften  mit  476  250  Mitgliedern;  hier- 
von entfielen  u.  a.  auf  selbständige  Landwirthe,  Gärtner, 
Förster,  Fischer  30,1  pCt.;  selbständige  Handwerker  27,4 pCt.; 
Kaufleute,  Händler  8,5  pCt. 

Unter  den  „Genossenschaften  in  einzelnen  Ge- 
wer  bsz  w ei  gen“  (Rohstoff-,  Magazin-,  Werk-,  Produktiv- 
genossenschaften) haben  nur  die  der  Landwirthschaft  eine 


No.  35. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


431 


erhebliche  Vermehrung  erfahren,  während  bei  den  in- 
dustriellen meist  der  alte  Bestand  geblieben  ist. 

Industrielle  Rohstoffgenossenschaften  bestanden  110 
(1890:  110),  landwirthschaftliche  1020(1890:  980)  — gewerb- 
liche Werkgenossenschaften  13  (1890:  8,  die  Erhöhung  ist 
zum  Theil  dadurch  entstanden,  dass  Produktivgenossen- 
schaften, die  sich  als  Werkgenossenschaften  herausgestellt, 
in  deren  Listen  übertragen  wurden),  landwirthschaftliche 
299  (1890:  286)  — gewerbliche  Magazingenossenschaften  59 
(1890:  61),  landwirthschaftliche  7 (1890:  7)  — gewerbliche 
Produktivgenossenschaften  151,  landwirthschaftliche  (Mol- 
kerei-, Winzer-  u.  s.  w.  Genossenschaften)  1087  (1890:  975). 

Das  zur  Verfügung  gestellte  statistische  Material  war 
leider  wie  in  früheren  Jahren  nur  sehr  gering.  Zu  ihrem 
eigenen  Schaden  sondern  sich  diese  Genossenschaften  von 
allgemeinen  Bestrebungen  ab.  Wir  behalten  uns  vor  über 
diese  Genossenschaften  besonders  zu  berichten. 

Die  Konsumvereine  nehmen  trotz  aller  Anfein- 
dungen an  Zahl  und  Geschäftsumfang  zu.  Für  ihre  Ent- 
wickelung ist  die  Einführung  der  beschränkten  Haftpflicht 
von  grossem  Nutzen.  Es  bestehen 

640  (1890:  715)  Konsumvereine  mit  unbeschränkter  Haftpflicht, 
469  (1890:  265)  „ „ beschränkter  , 

5 (1890:  4)  „ „ unbeschränkter  Nachschuss- 

pflicht. 

Neu  begründet  wurden  183  Vereine;  31  traten  in 
Liquidation;  9 geriethen  in  Konkurs. 

Zur  Statistik  berichteten  302  Vereine  mit  229  126  Mit- 
gliedern, 4 461329  M.  Geschäftsguthaben,  2 360  726  M.  Re- 
serven, 4 788  122  M.  fremden  Geldern,  63  292  875  M.  Verkaufs- 
notis;  an  Dividenden  wurden  gewährt  5 155  999  M.  — Das 
giebt  eine  Verzinsung  der  Geschäftsguthaben  mit  115  pCt. 

Die  Ausstände  für  auf  Kredit  entnommene  Waaren 
betrugen  267  834  M.,  die  Waarenschulden  der  Vereine 
788  122  M.  134  Vereine  hatten  Grundbesitz,  der  mit 
4 690  471  M.  zu  Buch  stand.  Für  Bildungszwecke  wurden 
überwiesen  23  313  M.  Ueber  die  Bewegung  der  Mitglied- 
schaft berichteten  277  Konsumvereine  mit  175  466  Mitglie- 
dern, hiervon  entfielen  auf  Fabrikarbeiter,  Bergarbeiter 
42,7  pCt.  auf  selbstständige  Handwerker  14,3  pCt.,  auf 
Aerzte,  Apotheker  etc.  8,5  pCt.,  Briefträger,  untere  Eisen- 
bahn-, Telegraphen-,  Postbeamte,  Eisenbahnarbeiter,  un- 
selbstständige Schiffer,  Kellner  7,5  pCt. 

Von  Baugenossenschaften  enthält  die  Statistik 
8 Geschäftsberichte,  die  zum  Theil  sehr  günstig  sind.  Seit 
einigen  Jahren  macht  sich  auf  dem  Gebiete  der  Bauge- 
nossenschaften eine  recht  lebhafte  Bewegung  bemerkbar. 

Der  Jahresbericht  für  1891  legt  wie  seine  Vorgänger 
wiederum  Zeugniss  ab  von  der  regen  Thätigkeit,  welche 
die  Genossenschaften  entwickeln.  Doch  das  Feld,  welches 
sich  ihrer  Arbeit  bietet,  ist  noch  ein  sehr  weites.  Insbe- 
sondere wäre  zu  wünschen,  dass  die  Handwerker  sich  nicht 
länger  der  Erkenntniss  verschliessen,  dass  die  Gründung 
von  Rohstoff-Magazin-  und  Werkgenossenschaften,  auch  von 
Produktivgenossenschaften  für  sie  werthvoller  ist  als  alles 
Streben  nach  Befähigungsnachweis  und  obligatorischen  In- 
nungen. 

Berlin.  Hans  Criiger. 


Staatsinonopole.  Der  Kantonalverband  glarnerischer 
Griitlivereine  beabsichtigt  dem  Vernehmen  nach,  an  der 
nächsten  Delegirtenversammlung  des  schweizerischen  Ar- 
beiterbundes einen  Antrag  auf  Einführung  des  staatlichen 
Getreidemonopols  zu  stellen. 

Hinsichtlich  des  Alkoholmonopols  findet  das  Bei- 
spiel der  .Schweiz  in  Frankreich  Nachahmung.  Auf  An- 
regung seines  Mitgliedes  Vaillant  will  der  Pariser  Stadt- 
rath beim  französischen  Parlament  unter  besonderer  Würdi- 
gung der  schweizerischen  Erfahrungen  auf  diesem  Gebiete 
um  Erlass  eines  Alkoholmonopolgesetzes  einkommen. 

Auf  dem  neuen  Programm  der  schweizerischen  frei- 
sinnigen Partei  figurirt  als  Postulat  auch  die  Einführung 
des  Tabakmonopols.  Die  aargauische  Fraktion  der  Partei 


nimmt  aber  bereits  dagegen  Stellung,  weil  sie  im  Monopol 
den  Ruin  der  ausgedehnten  Tabakfabrikation  im  Kanton 
befürchtet. 

Unentgeltliche  Beerdigung  in  der  Schweiz.  Kürzlich 
hatten  die  stimmfähigen  Bürger  des  Kantons  St.  Gallen 
über  ein  Gesetz  abzustimmen,  welches  die  Einführung  der 
unentgeltlichen  Beerdigung  in  sämmtlichen  Gemeinden  des 
Kantons  von  staatswegen  bezweckte,  wie  sie  gegenwärtig 
bereits  im  Kanton  Zürich  besteht  und  in  anderen  Kan- 
tonen fakultativ  in  zahlreichen  Gemeinden.  Leider  fiel 
die  Abstimmung  ungünstig  aus.  Von  15  Bezirken  haben 
sechs  das  Gesetz  angenommen.  Es  standen  18  684  nein 
gegenüber  16  790  ja.  Ein  Theil  der  besitzenden  Klasse, 
in  Verbindung  mit  der  Agitation  einzelner  Geistlichen, 
die  für  ihren  Einfluss  bei  den  Beerdigungsceremonien 
fürchteten,  hat  gesiegt  und  das  so  wohlthätige,  von  den 
Führern  aller  Parteien  warm  empfohlene  Gesetz  zu  Falle 
gebracht.  Noch  kurz  vor  der  Abstimmung  hatte  der  geist- 
liche Professor  der  neuen  Freiburger  Universität,  Weiss,  die 
Befürchtungen  des  katholischen  Klerus  leider  vergebens 
zu  zerstreuen  gesucht.  Die  Mehrheit  der  Verwerfenden  ist 
allerdings  keine  grosse  und  daher  die  Hoffnung  berechtigt, 
dass  die  in  dem  Gesetz  niedergelegte  humane  Idee  im 
Kanton  St.  Gallen  in  nicht  ferner  Zeit  doch  zum  Durch- 
bruche komme. 

Die  Schweiz  als  Versuchsfeld  für  Volkswirtschaft 
und  Sozialpolitik.  In  seinem  Bericht  über  die  Lage  der 
Arbeit  in  der  Schweiz  bemerkt  der  Vertreter  Englands  in 
der  Schweiz  u.  A.:  „Ich  neige  mich  zu  der  Ansicht,  dass 

die  Schweiz  bei  jeder  Untersuchung  der  Arbeiterfrage  oder 
jedes  anderen  sozialen  Problems  eine  Aufmerksamkeit  ver- 
dient, die  ausser  allem  Verhältniss  zu  ihrem  beschränkten 
Gebiete,  ihrer  Bevölkerung  und  den  materiellen  Hilfsmitteln 
steht,  und  dass  dieses  Land  eine  werthvolle  und  belehrende 
Werkstätte  für  wirthschaftliche  Versuche  ist,  die  erst  in 
den  verschiedenen  Gliedern  des  Bundes  geprüft  und  im 
Falle  des  Erfolges  allmählich  eine  allgemeinere  Anwendung 
finden  können.  Die  gesunde  öffentliche  Meinung  eines 
hochgebildeten,  freien  Volkes  überwacht  diese  Versuche 
mit  grosser  Aufmerksamkeit;  sie  ist  es,  die  schliesslich  dar- 
über entscheidet,  ob  die  Resultate  eine  allgemeine  Anwen- 
dung rechtfertigen,  und  der  Entscheid  mag  fallen,  wie  er 
will,  so  fügen  sich  demselben  ohne  Weiteres  die  höchsten 
gesetzgebenden  und  ausführenden  Behörden,  sowie  das 
ganze  Volk.“ 


Arbeiterzustände. 


Die  niedrigsten  und  die  höchsten  ortsüblichen  Tagelöhne 
in  Deutschland. 

Auf  Grund  des  § 8 des  Krankenversicherungsgesetzes 
sind  bekanntlich  die  Beträge  der  ortsüblichen  Tagelöhne 
gewöhnlicher  Tagearbeiter  für  alle  Theile  des  Deutschen 
Reichs  von  den  höheren  Verwaltungsbehörden  (Regierungs- 
präsidenten u.  s.  w.)  festgesetzt  worden.  Eine  zuverlässige 
Zusammenstellung  dieser  Tagelohnsätze  — für  männliche 
und  weibliche,  jugendliche  und  erwachsene  Arbeiter  — ent- 
hält der  „Taschenkalender  zum  Gebrauche  bei  Handhabung 
der  Arbeiterversicherungsgesetze“  von  Buschmann  und 
Götze1) — ein  sozialpolitisch  sehr  werthvolles  Material,  das 
merkwürdiger  Weise  noch  recht  wenig  ausgebeutet 
worden  ist. 

Im  Folgenden  sind  nur  die  Lohnsätze  für  erwachsene 
männliche  Arbeiter  berücksichtigt,  und  zwar  sind  von 
diesen  die  Extreme  nach  beiden  Richtungen  hin  zusammen- 
gestellt: einerseits  die  Lohnsätze,  die  unter  I M.  bleiben, 
andererseits  diejenigen  von  2,50  M.  und  mehr.  Der  orts- 
übliche Tagelohn  erwachsener  männlicher  Arbeiter  in  Berlin 
beträgt  nur  2,40  M.,  liegt  also  noch  unter  der  Grenze  der 
hier  als  relativ  hoch  bezeichneten  Löhne. 


‘)  Berlin,  4.  Jahrgang  1892.  Verlag  der  Liebel’schen  Buch- 
handlung. 


432 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  35. 


I.  Ortsübliche  Tagelöhne  erwachsener  männlicher 
Arbeiter  unter  1 M. 


Reg. -Be z.  Gumbinnen: 

Kreis  Oletzko  . . 

„ Lyck  . . . 

„ Lötzen  . . 

„ Sensburg  . 

„ Johannisburg 
» Angerburg  . 


0,80  M. 


Reg. -Be z.  Marienwerder: 

Stadt  Löbau I 

„ Neuenburg  (Kr.  Schwetz) ) 

„ Christburg  (Kr.  Stuhm  0,90  „ 


Reg -Bez  Köslin: 

Kreis  Bütow  (mit  Ausnahme  der  Stadt  Bütow)  . . . 0,95  M. 


Kreis  Bomst.  . 
„ Fraustadt 


Reg. -Bez.  Posen: 


| 0,95  M. 


Reg.-Bez.  Breslau: 

Kreis  Gross-Wartenberg 

„ Militsch 

„ Trebnitz 

„ Breslau  Land 

„ Frankenstein 

„ Nimptsch 

„ Oels 

„ Ohlau 


0,80  M. 
0,85  „ 

0,90  „ 

0,95  „ 


Reg.-Bez.  Oppeln: 

Kreis  Falkenberg 

„ Gleiwitz  (mit  Ausnahme  der  Stadt  Gleiwitz ) . . 
„ Grottkau  (mit  Ausnahme  der  Städte  Grottkau 

und  Ottmachau) 

„ Gross-Strehlitz  (mit  Ausnahme  der  Stadt  Gross- 

Strehlitz) 

„ Lublinitz 

„ Neisse  (mit  Ausnahme  der  Städte  Neisse,  Patsch- 
kau und  Ziegenhals) 

„ Rosenberg  

„ Rybnik 

„ Zabrze  (mit  Ausnahme  der  Gemeinde-  und  Guts- 
bezirke Biskupitz,  Dorotheendorf,  Ruda,  Alt- 
Zabrze,  Klein-Zabrze  und  Zaborze)  . . . . 

„ Cosel  (mit  Ausnahme  der  Stadt  Cosel)  . . . . 
„ Kreuzburg  (mit  Ausnahme  der  Stadt  Kreuzburg) 
„ Leobschütz  (mit  Ausnahme  der  Städte  Leobschütz 

und  Kätscher) 

Stadt  Patschkau 

Kreis  Neustadt  (mit  Ausnahme  der  Städte  Neustadt 

und  Zülz) 

„ Ratibor  (mit  Ausnahme  der  Stadt  Ratibor)  . 


0,80  M. 


0,90  M. 


Reg.-Bez.  Erfurt: 

Die  voigtländischen  Enklaven  des  Kreises  Ziegenrück  0,80  M. 


Reg.-Bez.  Cassel: 

Die  4 Gemeinden  Langenschwarz, Flechelmannskirchen, 

Grossenmoor  und  Schlotzau  tKr.  Hünfeld)  . . . 0,80  M. 


Bayerischer  Reg.-Bez.  Oberpfalz: 
Bezirks-Amt  Waldmünchen 


0,80  M. 


Fürstenthum  Reuss  j.  L.: 
Gemeinde  Frössen 


0,95  M- 


II.  Ortsübliche  lagelöhne  erwachsener  männlicher 
Arbeiter  von  2,50  M.  und  darüber. 


Stadt  Spandau  

Kreis  Eiderstedt  (Schleswig) 

Aus  dem  Kreise  Stormarn:  Wandsbek,  Reinbek, 

Sande,  Lohbrügge,  Loberg,  Kirch  - Steinbek, 

Schiffbek,  Oejendorf  . . ) 

Vom  hamburgischen  Landgebiete  die  Landherren- 
schaft der  Marschlahde  und  aus  der  Land- 
herrenschaft der  Geestlande:  Gr.  Börstel, 

Fuhlsbüttel,  Langenhorn,  Alsterdorf,  Ohlsdorf, 

Kl.  Börstel. 

Gutsbezirk  Pulverfabrik  im  Landkreise  Hanau  (Reg.- 

Bez.  Kassel) 

Alt-Cöln  (Stadt  Cöln  ohne  die  eingemeindeten  Vororte) 

Stadt  Mühlheim  a.  Rh 

„ Karlsruhe  einschliesslich  Mühlburg 

„ Metz 

„ Lindau  (Bayern) 


2,50  M. 


2,65  M. 
2,70  M. 


Stadt  Hamburg  mit  St.  Pauli  und  den  Vororten  . . 

„ Bergedorf 

„ Altona ....  . . . . . 

„ Bremen ) 

„ Bremerhaven  

„ Geestemünde  sowie  Gemeinde  Geestendorf, 

Schiffdorf  und  Wulsdorf 

„ Lehe  sowie  die  Gemeinden  Langen  und  Spaden 


3,—  M. 


Die  traurigsten  Lohnverhältnisse  weisen  also  auf:  der 
südliche  Theil  des  Regierungsbezirks  Gumbinnen,  einige 
kleine  Städte  im  nordöstlichen  Theile  des  Regierungsbezirks 
Marienwerder,  (auf  dem  Lande  sind  in  dieser  Gegend  die 
Löhne  etwas  höher),  der  Kreis  Bütow  in  Pommern,  die 
Kreise  Bomst  und  Fraustadt  in  der  Provinz  Posen  und  die 
Regierungsbezirke  Breslau  und  Oppeln.  Im  übrigen  Deutsch- 
land kommt  ein  Herabgehen  der  ortsüblichen  Tagelöhne 
auf  unter  1 M.  nur  ganz  vereinzelt  und  lokal  eng  be- 
grenzt vor. 

Durch  relativ  hohe  Löhne  zeichnen  sich  aus:  die 
Hafenstädte  und  -Ortschaften  an  der  Elb-  und  Weser- 
mündung und  deren  Umgebungen,  ferner  die  Hafenstadt 
Kiel,  der  eine  Halbinsel  in  der  Westküste  Schleswigs 
bildende  Kreis  Eiderstedt  und  eine  Anzahl  von  industrie- 
reichen Binnenstädten,  nämlich  Spandau,  Cöln,  Mühlheim 
am  Rhein,  Karlsruhe,  Lindau  (Bayern)  und  Metz;  diesen 
schliesst  sich  endlich  noch  — wohl  aus  rein  lokalen  Gründen 
— der  Gutsbezirk  Pulverfabrik  im  Landkreise  Planau  an. 

Der  Höchstbetrag  der  ortsüblichen  Tagelöhne  ist 
3 M.,  der  Mindestbetrag  80  Pf.  Welche  Fülle  von  sozialem 
Elend  liegt  zwischen  diesen  beiden  Extremen! 

Berlin-Friedenau.  E.  Lange. 


Löhne  in  Stuttgart.  Wie  tief  die  Löhne  in  einzelnen  Ge- 
schäften Stuttgarts  sind,  erfuhr  man  durch  eine  in  der  ersten 
Hälfte  des  August  stattgelundene  Verhandlung  vor  dem  Stutt- 
garter Gewerbegerichte,  über  die  der  „Frankfurter  Zeitung1 
folgende  Mittheilung  zuging:  Die  Militäreffektenfabrik  von 

Simon  Fleischer  dahier  hatte  von  der  Düsseldorfer  Militärver- 
waltung den  Auftrag,  leinene  Helmüberzüge  für  die  Manöver 
zu  liefern.  Den  Arbeitern  wurde  von  der  Firma  pro  Helmüber- 
zug ein  Lohn  von  5 Pf  angerechnet,  dabei  wurde  noch  ein  Ab- 
zug für  den  verwendeten  Faden  gemacht.  5 Arbeiter  und 
10  Arbeiterinnen  klagten  nun  gegen  das  Geschäft,  indem  sie 
geltend  machten,  es  sei  ihnen  erst  bei  ihrem  Austritt  — sie 
waren  nur  für  die  Dauer  der  Lieferung  engagirt  worden  — be- 
kannt gegeben  worden,  dass  der  Lohn  5 Pf.  für  einen  Ueberzug 
betrage.  Der  Beklagte  entgegnete,  die  Arbeiter  und  Arbeiterinnen 
seien  durch  ihn  selbst  oder  durch  seine  Angestellten  mit  der 
Höhe  des  Lohnes  bekannt  gemacht  worden;  er  vermochte  hier- 
für indess  Beweis  nur  bezüglich  eines  Arbeiters  zu  erbringen, 

, der  auch  mit  seiner  Klage  abgewiesen  ward.  Dagegen  wurde 
der  Beklagte  verurtheilt,  den  übrigen  Arbeitern  den  Lohn  zu 
zahlen,  der  sonst  durchschnittlich  im  Tage  beim  Beklagten  ver- 
dient wird,  nämlich  2,20  M.  an  die  männlichen  und  1,20  M.  an 
die  weiblichen  Arbeiter.  In  den  Urtheilsgründen  wurde  her- 
vorgehoben, dass  die  Arbeiter  an  einen  Akkordpreis  blos  dann 
gebunden  sind,  wenn  ihnen  derselbe  bei  Uebertragung  der  Ar- 
beit bekannt  gegeben  wird.  Der  Beklagte  wäre  schon  nach 
seiner  Arbeitsordnung  verpflichtet  gewesen,  sofort  bei  Ueber- 
tragung der  Arbeit  den  Äkkordpreis  mit  den  Klägern  zu  ver- 
einbaren Die  Kläger  über  den  Akkordpreis  im  Unklaren  zu 
lassen,  war  um  so  weniger  zulässig,  als  der  Verdienst,  den  die 
Kläger  bei  dem  Preis  von  5 Pf  für  das  Stück  gehabt  hätten, 
ein  ausserordentlich  geringer  gewesen  wäre.  Die  männlichen 
Arbeiter  hätten  zwischen  52  Pf.  und  1.24  M,  die  weiblichen 
zwischen  17  Pf  und  59  Pf.  täglich  verdient,  obwohl  sie  zum 
Theil  nach  Beendigung  der  zehnstündigen  Arbeitszeit  in  der 
Fabrik  noch  Arbeit  nach  Hause  mitgenommen  und  dort  die 
Morgen-  und  Abendstunden  und  den  Sonntag  zum  Arbeiten  be- 
nutzt haben 

Statistik  der  Arbeitslosigkeit  in  Frankreich.  Das 

französische  Arbeitersekretariat,  das  gemäss  den  Beschlüssen 
des  internationalen  Arbeiterkongresses  zu  Brüssel  sich  con- 
stituirte,  beabsichtigt  sozialstatistische  Erhebungen  vorzu- 
nehmen. Es  beginnt  dieselben  mit  der  Versendung  eines 
Fragebogens  an  alle  Arbeiterorganisationen,  durch  welche 
die  Grundlage  einer  Statistik  der  Arbeitslosigkeit  geschaffen 
werden  soll.  Leider  sind  eine  Reihe  von  Fragen  gestellt, 
auf  die  nur  eine  amtliche  Erhebung  Auskunft  ertheilen 
kann,  so  Fragen  nach  der  Gesammtzahl  der  Arbeiter  jedes 
Berufes  in  allen  Orten,  über  das  Verhältniss  von  erwachse- 


No.  35.  SOZIALPOLITISCH! 


nen  Männern  zu  den  Frauen  und  zu  den  noch  nicht  18  Jahre 
alten  Arbeitern.  Dagegen  werden  die  Fragen  nach  der 
Zahl  der  Gewerkschaften  in  den  einzelnen  Orten  und  in 
den  Departements,  sowie  nach  der  Zahl  der  Mitglieder  der 
Gewerkschaften,  falls  guter  Wille  vorhanden  ist,  leicht  be- 
antwortet werden  können.  Die  übrigen  Fragen  des  Frage- 
bogens lauten:  Finden  die  Produkte  ihrer  Arbeit  in  ihrer 
Gegend  Absatz?  oder  in  Frankreich?  oder  im  Auslande? 
Diese  Frage  dürfte  leichter  von  Handelskammern  als  von 
Arbeiterorganisationen  beantwortet  werden  können.  Die 
anderen  Fragen  lauten:  Wie  lange  und  zu  welcher  Zeit- 
epoche dauert  die  Arbeitslosigkeit?  Wie  lange  währt  sie 
für  die  männlichen,  für  die  weiblichen,  für  die  jugendlichen, 
für  die  organisirten  und  für  die  nichtorganisirten  Arbeiter? 

Dass  durch  diese  Erhebung  keine  Statistik  der  Arbeits- 
losigkeit gewonnen  werden  kann,  dürfte  wohl  klar  sein. 
Weniger  wäre  auch  hier  mehr  gewesen.  Eine  Statistik  der 
Arbeitslosigkeit  der  organisirten  Arbeiter  wäre  möglich  ge- 
wesen, leider  hat  man  aber  durch  das  Uebermass  von 
Fragen  die  ganze  Erhebung  in  Frage  gestellt. 

Zur  Lage  der  englischen  Arbeiter.  Der  „Spectator“ 
brachte  jüngst  eine  Rede  Chamberlain’s , worin  dieser 
die  Lage  der  englischen  Arbeiter  in  sehr  düsteren  Farben 
schilderte.  Nach  seinen  Untersuchungen  ist  von  zwei  Ar- 
beitern je  einer  fast  sicher,  wenn  er  das  60.  Altersjahr  er- 
reicht, der  öffentlichen  Armenpflege  anheimzufallen.  „Es 
mag  sein“,  sagte  der  Redner,  „dass  einige  von  diesen  ihr 
Loos  verdienen.  Sie  können  es  durch  Unmässigkeit  oder 
andere  Fehler  selbst  verschuldet  haben;  aber  Niemand  wird 
mich  überzeugen,  dass  dieses  von  allen  oder  auch  nur  vom 
grösseren  _ heil  derselben  gilt.“  Der  Canonicus  Blackley, 
der  nach  Chamberlain  über  dasselbe  Thema  sprach,  be- 
stätigte das  Gesagte.  Der  Umfang,  welchen  die  Armuth 
unter  den  alten  Arbeitern  erreicht  hat,  lässt  sich,  wie 
er  bemerkte,  schwer  feststellen,  doch  hatte  der  Redner  als 
Seelsorger  einer  grossen  Pfarrei,  die  von  ihm  geführten 
Todtenregister  geprüft  und  gefunden,  dass  von  den  Ange- 
hörigen der  Pfarrei,  welche  m 1 1 Jahren  im  Alter  von  mehr 
als  60  Jahren  gestorben  waren,  37  Armenunterstützte  waren. 
Ausserdem  hatten  auf  seine  Veranlassung  70  oder  80  Geist- 
liche anderer  Pfarreien  ähnliche  Untersuchungen  gemacht, 
welche  einen  Prozentsatz  von  45  ergaben.  Diese  Berichte 
bezogen  sich  auf  alle  Klassen  über  ganz  England.  Wenn 
die  Zahl  derjenigen  abgezogen  wird,  welche  für  sich  selbst 
sorgten,  so  zeigt  es  sich,  dass  von  den  Arbeitern  die 
Hälfte,  wenn  sie  das  60.  Altersjahr  erreichen,  dazu  ver- 
urtheilt  sind,  als  Arme  zu  sterben. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Ende  der  Hamburger  Braueraussperrung.  Am  20.  August 
fanden  Verhandlungen  zwischen  Vertretern  der  Brauereien 
und  des  Hamburger  Gewerkschaftskartells  statt,  in  welchen 
man  sich  dahin  einigte,  dass  die  Brauereien  die  folgende 
Erklärung  zu  erlassen  haben: 

Die  Unterzeichneten  Brauereien  haben  nach  aufge- 
hobenem Boykott  beschlossen,  den  Wünschen  der  Kartell- 
kommission entgegen  zu  kommen,  indem  sie  die  am  16. 
August  entlassenen  Brauer  und  Hülfsarbeiter  wieder  in 
Arbeit  nehmen,  soweit  noch  Stellungen  offen  sind,  auch 
ihren  Angestellten  nach  wie  vor  völlige  Freiheit  der  Be- 
wegung m politischer  sowie  gewerkschaftlicher  Beziehung 
gewähren. 

Kontrollmarke  der  Friseure.  In  ähnlicher  Weise  wie 
bei  den  Civilmusikern  und  Gastwirthsgehilfen  haben  die 
Friseure  das  System  der  Kontrollmarke  bei  sich  eingeführt. 
Durch  die  Kontrollmarke  sollen  sich  die  Gehilfen  als  zur 
Organisation  gehörig  legitimiren.  Die  Leitung  des  Ver- 
bandes der  Barbiere,  Friseure  und  Perrückenmacher  ersucht 
die  Arbeiter,  nur  in  die  Geschäfte  zu  gehen,  wo  Barbier- 
gehilfen beschäftigt  werden,  die  Mitglieder  der  Organisation 
sind.  Als  solche  haben  sie  sich  auf  Verlangen  durch  Vor- 
weisen der  Karte  zu  legitimiren.  Es  soll  dieses  Mittel  zur 
Stärkung  der  Organisation  dienen  und  die  Angehörigen  der- 
selben vor  Massregelungen  schützen.  Das  ist  die  Antwort 


CS  CENTRALBLATT.  433 


auf  den  Beschluss  des  zu  München  im  Jahre  1890  abgehal- 
tenen Kongresses  selbstständiger  Friseure,  sämmtliche  Mit- 
glieder des  Gehilfenverbandes  zu  massregeln. 

Zum  Aufruhr  in  Homestead.  Der  Vorsitzende  des 
vom  Repräsentantenhause  bestellten  Ausschusses  zur  Unter- 
suchung des  Aufruhrs  in  Homestead,  Gates,  hat  seinen 
Bericht  nunmehr  beendigt  und  der  Oeffentlichkeit  über- 
geben. 

Der  Bericht  beklagt  zunächst  die  brutalen  Angriffe, 
welchen  die  Pinkerton’schen  Polizisten  namentlich  von 
Seite  der  Frauen  und  halbwüchsigen  Jungen  ausgesetzt 
waren.  Es  wird  bezweifelt,  dass  die  Frauen  amerikanischer 
Herkunft  seien.  In  Beziehung  auf  die  Frage,  ob  die  Car- 
negie-Firma durch  die  Verhältnisse  zu  einer  Lohnreduktion 
berechtigt  gewesen  sei,  sagt  der  Berichterstatter,  es  habe 
Herr  Frick,  der  Geschäftsführer,  die  Angabe  der  Kosten 
einer  Tonne  Bessemer  Stahlplatten  und  der  Arbeitskosten 
verweigert.  Den  Leuten  wurden  befriedigende  Löhne  be- 
zahlt, aber  es  muss  berücksichtigt  werden,  dass  die  Arbeit 
das  Leben  sehr  verkürzt  und  daher  gut  bezahlt  werden 
sollte.  Der  Gesellschaft  gehöre  Billigkeitshalber  ein  Theil 
des  aus  der  Anwendung  verbesserter  Maschinen  herrühren- 
den Gewinns.  Hinsichtlich  der  Wirkungen  der  Mc.  Kinley- 
bill  seien  die  Arbeiter  getäuscht  worden.  Hätte  Herr  Frick 
dem  Arbeiterausschusse  die  Verhältnisse  gründlich  ausein- 
ander gesetzt,  so  würden  sie  sich  wahrscheinlich  in  die 
Lohnreduktion  gefügt  haben;  aber  sie  folgerten  wie  er, 
dass  der  Tarif  den  Rückgang  in  den  Preisen  nicht  ver- 
ursacht habe. 

Herr  Oates  findet  ferner,  dass  das  Verhalten  der  Ge- 
sellschaft gegenüber  den  Arbeitern  in  mancher  Hinsicht 
ein  wohlwollendes  gewesen  sei.  Sie  machte  ihnen  Dar- 
lehen zu  niedrigem  Zins,  um  Häuser  zu  bauen  und  erklärte 
nie  eine  Hypothek  als  verfallen;  aber  die  Beamten  übten 
im  geschäftlichen  Verkehr  nicht  die  nöthige  Nachsicht,  Ge- 
duld und  Rücksicht,  und  Herr  Frick,  der  ein  Geschäftsmann 
von  grosser  Intelligenz  ist,  scheint  zu  streng,  zu  barsch 
und  etwas  zu  autokratisch  gewesen  zu  sein. 

Herr  Oates  ist  überzeugt,  dass  wenn  Herr  Frick  an 
die  Einsicht  der  Arbeiter  appellirt  und  ihnen  die  Geschäfts- 
lage der  Gesellschaft  auseinander  gesetzt  hätte,  die  Lohn- 
reduktion durchzuführen  möglich  gewesen  wäre  und  der 
Aufruhr  hätte  verhütet  werden  können. 

Herr  Oates  findet,  dass  die  pennsylvanischen  Gesetze 
nichts  enthalten,  um  Herrn  Frick  zu  verhindern,  Pinkerton- 
leute  als  Wachleute  in  Homestead  zu  verwenden;  aber  er 
sagt,  dass  er  es  unter  den  gegenwärtigen  Umständen  nicht 
hätte  thun  sollen.  Er  engagirte  die  Pinkertons,  bevor  die 
Unterhandlungen  mit  den  Arbeitern  abgebrochen  waren 
und  er  appellirte  auch  nicht  an  die  Bezirks-  oder  Staats- 
behörden. 

Zum  Schluss  findet  Herr  Oates,  dass  der  Kongress 
keine  Macht  über  solche  Fragen  habe  Die  Ausführung 
eines  hinreichenden  Schiedsgerichtsgesetzes  sei  fast  un- 
möglich. 

Die  Behörden  der  Vereinigten  Staaten  werden  trotz- 
dem diesen  Fragen  und  namentlich  derjenigen  der  Schieds- 
gerichte näher  treten  müssen,  denn  im  Land  murrt  man 
bereits  über  die  grossen  Kosten,  welche  das  Aufgebot  der 
Miliztruppen  verursacht,  eine  stehende  Armee  wünscht  man 
sich  aber  für  solche  Zwecke  aus  guten  Gründen  nicht. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Sozialistische  Kongresse. 

Am  I.  August  tagte  die  12.  Generalversammlung  der 
sozialdemokratischen  Federation  in  London.  Von  der  Sektion 
South-Salford  war  der  Antrag  gestellt  worden,  in  das  Pro- 
gramm die  Forderung  von  Minimallöhnen  und  Maximal- 
preisen autzunehmen.  Während  die  erste  Forderung  accep- 
tirt  wurde,  empfahl  man  den  Sektionen,  die  zweite  zu  dis- 
kutiren.  Man  beschloss  der  unabhängigen  Arbeiterpartei 
bei  den  Wahlen  sympathisch  gegenüberzustehen,  aber  von 
der  Aufstellung  eigener  Kandidaten  nicht  abzusehen. 

Ein  Kongress  der  Sozialisten  Schwedens,  Norwegens 
und  Dänemarks  wurde  am  18.  August  zu  Malmö  abgehalten 


434 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALULATT. 


No.  35. 


Anwesend  waren  68  dänische,  53  schwedische  und  10  nor- 
wegische Delegirte.  Der  Kongress  erklärte  die  Enthaltung 
von  der  Theilnahme  am  parlamentarischen  Leben  für  ver- 
werflich. Mit  grosser  Mehrheit  wurde  der  Zusammenschluss 
aller  Fachvereine  in  den  drei  Ländern,  namentlich  zu  dem 
Zwecke,  um  gemeinsames  Auftreten  in  den  Lohnfragen  zu 
ermöglichen,  beschlossen.  Die  Fach  vereine  sollten  gelernten 
und  ungelernten  Arbeitern  beiderlei  Geschlechtes  offen 
stehen.  Vorsicht  bei  der  Verfügung  von  Strikes  wurde 
empfohlen  und  Vorliebe  für  die  Anwendung  von  Boykotts 
statt  Strikes  gezeigt.  Ferner  erklärte  man  sich  für  mög- 
lichst friedliche  Gestaltung  der  Maifeier,  für  Bekannt- 
machung der  Namen  von  Strikebrechern  in  der  Arbeiter- 
presse, für  Gründung  von  Arbeitsnachweisbüreaus,  für  Er- 
richtung von  Gratisfachschulen  für  Lehrlinge  durch  den 
Staat  und  für  rechtliche  Gleichstellung  der  Dienstboten  mit 
allen  anderen  Arbeitern. 

Diesem  gemeinsamen  skandinavischen  Kongresse 
gingen  Parteitage  der  dänischen  und  schwedischen  Sozial- 
demokratie voraus. 

Der  dänische  Kongress  fand  in  den  letzten  Tagen  des 
Juli  in  Kopenhagen  statt.  Er  war  stärker  besucht  als  irgend 
einer  der  früheren  Parteitage.  Während  im  Jahre  1890  nur 
71  Vertreter  zum  Kongresse  entsandt  wurden,  hatten  sich 
diesmal  104  eingefunden.  Es  wurde  berichtet,  dass  15  000 
Personen  den  politischen  und  32  000  den  gewerkschaftlichen 
Organisationen  angehören  und  dass  24  politische  Organi- 
sationen aus  Landarbeitern  zusammengesetzt  sind.  Das 
Centralorgan,  der  „Sozial-Demokrat“,  zählt  22  000  Abon- 
nenten. Der  Kongress  beschäftigte  sich  hauptsächlich  mit 
Fragen  der  Organisation  und  der  Propaganda,  das  Partei- 
programm wurde  in  unwesentlichen  Punkten  umgeändert. 

Der  1.  Kongress  der  Arbeiterorganisationen  Norwegens 
trat  am  2.  August  in  Christiania  zusammen.  Auf  der  Tages- 
ordnung standen  die  Föderation  der  Arbeiterorganisationen, 
die  Gründung  eines  Parteiorgans,  die  Stückarbeit  und  die 
Landarbeitertrage.  Man  schuf  ein  Organisationsstatut,  er- 
klärte sich  für  das  allgemeine  Wahlrecht  für  beide  Ge- 
schlechter, für  die  Progressiveinkommensteuer,  den  acht- 
stündigen Normalarbeitstag,  für  Alterversicherung,  gegen 
die  Stückarbeit,  für  gleiches  Erbrecht  der  ehelichen  und 
unehelichen  Kinder,  für  Unentgeltlichkeit  des  Unterrichts, 
der  ärztlichen  Hilfeleistung  und  des  Gerichtsverfahrens. 

Am  14.  und  15.  August  fand  in  Genua  der  Jahreskon- 
gress  der  italienischen  Arbeiterpartei  statt,  an  dem  sich 
Vertreter  von  400  Arbeitervereinen  betheiligten.  Neben 
Sozialdemokraten  deutscher  Schule  nahmen  auch  Anar- 
chisten und  Gewerkschafter,  die  nicht  auf  dem  Standpunkt 
des  Klassenkampfes  standen,  an  dem  Kongress  theil.  Von 
den  beiden  letzten  Richtungen  trennten  sich  die  Sozialisten 
und  gründeten  am  2.  Kongresstage  eine  sozialdemokratische 
Arbeiterpartei.  Vertreter  von  200  Arbeitervereinen  schlossen 
sich  an  dieselbe  an. 

In  Lissabon  tagte  gleichfalls  im  August  ein  von 
96  Delegirten  besuchter  Arbeiter-  und  Sozialistenkongress. 
Den  Strikes  gegenüber  kamen  zwei  Meinungen  zum  Aus- 
druck, die  eine  erklärte  sie  für  zweischneidige  nur  mit  Vor- 
sicht anzuwendende  Waffen,  die  andere  erklärte  sie  als 
Akte  der  Empörung,  welche  die  Würde  des  Proletariats 
heben  und  die  soziale  Revolution  vorbereiten.  Folgende 
Forderungen  wurden  aufgestellt: 

1.  Arbeiterschutzgesetze.  Nur  denjenigen  Parlaments- 
kandidaten sollen  die  Arbeiter  ihre  Stimmen  geben,  welche 
sich  verpflichten  ein  Arbeiterschutzgesetz  für  Frauen  und 
Kinder,  die  Errichtung  einer  Arbeiterbörse  und  von  Ge- 
werbegerichten zu  beantragen.  Der  Kongress  erklärte  sich 
gegen  die  Stückarbeit. 

2.  Arbeiterorganisationen  auf  aus  Männern  und  Frauen 
zusammengesetzten  Gewerkschaften  beruhend.  Allmonat- 
lich sollen  die  Delegirten  derselben  zu  einem  Kongresse 
zusammentreten  um  die  Arbeiterbewegung  zu  orgamsiren. 

3.  Strikes.  Die  Gewerkschaften  sollen  Widerstands- 
kassen  gründen  und  dafür  sorgen,  dass  Strikes  nicht  leicht- 
fertig unternommen  werden.  Eine  energische  Agitation 
soll  sich  gegen  die  Bestimmung  des  Strafgesetzbuches 
richten,  welches  die  Koalitionen  der  Arbeiter  für  strafbar 
erklärt. 

4.  Die  Unterdrückung  der  Gefängnissarbeit  und  die 
Errichtung  landwirtschaftlicher  Kolonien  in  den  landwirth- 
schaftlich  nicht  verwertheten  Gegenden  des  Landes. 

5.  Betonung  des  Klassenstandpunktes.  Die  Arbeiter 
sollen  sich  fernhalten  von  allen  Kundgebungen,  welche 
nicht  ausschliesslich  von  Arbeitern  ausgehen. 


Im  nächsten  Vierteljahre  finden  folgende  sozialdemo- 
kratische Kongresse  statt:  Der  Parteitag  der  deutschen 

Sozialdemokratie  am  16.  Oktober  und  den  folgenden  Tagen 
in  Berlin  (s.  Sozialpolitisches  Centralblatt,  No.  33).  Die 
sozialdemokratische  Partei  der  Schweiz  wird  am  5.  und  6. 
November  einen  Kongress  abhalten.  Als  Verhandlungs- 
gegenstände  sind  folgende  Punkte  in  Aussicht  genommen: 
Geschäftsbericht,  Bericht  einer  vom  Parteitag  zu  wählenden 
Geschäftsprüfungskommission,  Feier  des  1.  Mai  1893,  inter- 
nationaler Kongress  1893  in  Zürich,  Initiative  betr.  Wahl 
des  Bundesrathes  durch  das  Volk,  Nationalrathswahlen  1893, 
Initiative  betr.  Recht  auf  Arbeit,  Wohnungsfrage,  Propor- 
tionalvertretung, Eisenbahnverstaatlichung,  staatlicher  Ge- 
treidehandel, Bestimmungen  über  Parteiausschlüsse  und 
Streitigkeiten,  Wahl  des  Vororts  und  des  Parteikomitees. 
Der  Parteitag  der  ungarischen  Sozialdemokratie  ist  für  den 
30.  und  31.  Oktober  nach  Budapest  einberufen.  Die  vorläufige 
Tagesordnung  lautet:  1.  Parteibericht,  2.  Organisation, 

3.  Presse,  4.  Parteiangelegenheiten.  Der  11.  Kongress  der 
französischen  sozialistischen  Partei  (Parti  ouvrier  socialiste 
revolutionnaire)  ist  für  den  2.  bis  9.  Oktober  nach  St  Quentin 
einberufen.  Auf  der  Tagesordnung  stehen  folgende  Punkte: 

!.  Arbeiterschlitzgesetze  (gesetzliche  Sicherung  der 
Gewerkschaften,  die  Frage  der  Akkordarbeit,  Gründung 
von  Arbeiterbörsen  und  Verbindung  derselben,  Unter- 
drückung der  Stellenvermittelungsbureaus,  nationale  und 
internationale  berufsmässige  Organisation  , 

II.  Unterdrückung  der  stehenden  Heere,  Gründung 
eines  Völkerbundes, 

III.  Gründung  landwirthschaftlicher  Gewerkschaften, 
die  Beziehungen  zwischen  industriellem  und  landwirthschaft- 
lichem  Proletariate, 

IV.  Lieber  die  Revolution  und  die  sofort  einzuschlagen- 
den Massnahmen  um  ihren  Erfolg  zu  sichern, 

V.  Die  internationalen  Kongresse  zu  Zürich  und  Chi- 
cago im  Jahre  1893. 

Auf  den  26.  August  ist  nach  Valencia  der  3.  Kongress 
der  sozialistischen  Arbeiterpartei  Spaniens  berufen.  Aus 
dem  Programm  des  Kongresses  sind  folgende  Punkte  be- 
sonders hervorzuheben: 

Bericht  des  Nationalkomitees,  des  Delegirten  auf  dem 
internationalen  Kongress  in  Brüssel  und  des  sozialistischen 
Stadtraths  von  Bilbao;  Berathung  über  die  Frage,  das 
Parteiorgan  „El  Socialista“,  welches  wöchentlich  erscheint, 
in  ein  tägliches  zu  verwandeln;  Gründung  eines  Wochen- 
blattes in  Bilbao;  Aenderungen  in  der  Organisation  nach 
Vorschlägen  vom  Nationalkomitee  und  der  Parteigruppe 
von  Barcelona;  Redaktion  eines  Programms  für  die  Stadt- 
räthe;  Stellung  zu  dem  nächsten  internationalen  Kongress 
in  Zürich.  Punkt  9 des  Programms  behandelt  die  Wahl- 
frage Der  Vorschlag  des  Nationalkomitees  lautet:  „Die 

sozialistische  Partei  stellt  für  die  allgemeinen  Wahlen  von 
Abgeordneten  für  die  Kortes  in  allen  Orten,  wo  sie  mit 
organisirten  Elementen  rechnet,  eigene  Kandidaten  auf.  In 
ausserordentlichen  Wahlen  für  die  Kortes  und  in  allen 
Wahlen  für  Provinzial-  und  Munizipalvertretungen  sollen 
nur  in  solchen  Orten  Kandidaten  aufgestellt  werden,  wo 
Aussicht  auf  einen  moralischen  oder  materiellen  Triumph 
vorhanden  ist.  Die  Kandidaten,  welche  zur  Partei  gehören 
müssen,  werden  von  den  sozialistischen  Gruppen  aufge- 
stellt Von  der  sozialdemokratischen  Partei  sind  die  Gruppen 
und  Individuen  ausgeschlossen,  welche  mit  den  bürgerlichen 
Parteien  oder  ihren  Kandidaten  Kompromisse  oder  Allianzen 
eingehen.  Ebenso  werden  Diejenigen  von  der  Partei  aus- 
geschlossen, welche  für  irgend  eine  bürgerliche  Kandidatur 
stimmen.“ 


Ein  Vertreter  der  Arbeiter  in  der  Regierung  Zürichs. 

In  die  Vollziehungsbehörde  von  Neu-Zürich,  in  den  soge- 
nannten kleinen  Stadtrath  mit  Berufsmitgliedern,  welche 
7000  Frcs.  Besoldung  erhalten,  wird  nun  auch  ein  Arbeiter- 
kandidat eintreten,  nämlich  Nationalrath  Vogelsanger, 
Redakteur  des  „Grtitlianer“.  Dessen  Wahl  wurde  von  allen 
Parteien  unterstützt  und  erfolgte  am  22.  d.  M.  mit  grosser 
Majorität. 


No.  35. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


435 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Sonntagsruhe  Verordnung  für  das  Handelsgewerhe  im 
Haiiifourgischen  Staate.  Wir  heben  folgende  Bestimmungen  ans 
der  von  der  Hamburger  Polizeibehörde  erlassenen  Sonntagsver- 
ordnung hervor: 

Der  Sonntag  wird  von  Mitternacht  Sonnabend  auf  Sonn- 
tag bis  Mitternacht  Sonntag  auf  Montag  gerechnet. 

Seitens  des  Geschäftsinhabers,  bezw.  seitens  der  Familien- 
angehörigen desselben  dürfen  an  den  Sonn-  und  Festtagen  ausser- 
halb der  festgesetzten  Verkaufszeit  nur  solche  Waaren  ausge- 
bracht werden,  welche  an  den  vorhergehenden  Werktagen,  resp. 
am  Sonntag  innerhalb  der  zulässigen  Verkaufszeit  bestellt  worden 
sind.  Die  Annahme  von  Bestellungen  ausserhalb  der  fünfstün- 
digen Verkaufszeit  ist  an  den  Sonn-  und  Festtagen  nicht  ge- 
stattet. 

Gast-  und  Schankwirthe  dürfen  diejenigen  zum  Genüsse 
fertigen  Speisen  und  Getränke,  welche  im  Lokal  an  Gäste  ver- 
abfolgt werden,  auch  über  die  Strasse  verkaufen,  ein  anderer 
Verkauf  als  zum  sofortigen  Genuss  ist  nicht  gestattet.  Jeder 
Handel  mit  Lebensmitteln  und  Waaren,  welche  in  eigentlichen 
kaufmännischen  Geschäften  verkauft  werden,  insbesondere  der 
mit  Bäcker-  und  Fleischwaaren,  wird  im  Verkehr  nach  aussen 
als  ein  mit  den  Gast-  und  Schankwirthschaften  nicht  zusammen- 
hängender Handelsbetrieb  angesehen.  Zigarren  dürfen  nur  an 
die  im  Lokal  sich  aufhaltenden  Gäste  zum  Genuss  auf  der  Stelle 
verkauft  werden.  Trinkhallen,  Konditoreien  u.  dergl.  sind  im 
wesentlichen  den  Schankwirthschaften  gleichgestellt. 

Sofern  der  Verkauf  von  Waaren  durch  Automaten  in 
Gast-  und  Schankwirthschaften  für  Rechnung  der  Fabrikanten  etc. 
erfolgt,  wird  der  Automat  als  offene  Verkaufsstelle  angesehen. 
In  diesem  Falle  darf  derselbe  nur  während  der  5 ständigen 
Verkaufszeit  funktioniren.  Sofern  der  Betrieb  von  Automaten 
in  den  Gast-  und  Schankwirthschaften  dagegen  für  Rechnung 
des  Wirthes  stattfindet,  darf  der  Automat  während  des  ganzen 
Sonntags  den  Gästen  zur  Benutzung  freigegeben  werden,  unter 
der  Voraussetzung  dass  der  Automat  nur  Genussmittel  ent- 
halte und  die  Entnahme  lediglich  für  den  augenblicklichen  Be- 
darf erfolge. 

Die  Sonntagsruhe  in  München.  Die  Anordnungen  der 
königlichen  Polizeidirektion  vom  30.  Juni  d.  J.  haben  nach  einer 
neuen  Bekanntmachung  mehrfache  Abänderungen  erfahren. 
Hinsichtlich  der  Stunden,  während  deren  an  Sonn-  und  Feier- 
tagen im  allgemeinen  Arbeiter,  Lehrlinge  etc.  beschäftigt  und 
die  Läden  ollen  gehalten  werden  dürfen  - 6 — 8 Uhr  Vormittags 
und  10  Uhr  Vormittags  bis  1 Uhr  Nachmittags  — ist  eine  Aende- 
rung  nicht  eingetreten.  Ebenso  haben  im  allgemeinen  am  ersten 
Weihnachts-,  Oster-  und  Pfingsttage,  wie  bereits  angeordnet, 
sämmtliche  Läden  den  ganzen  Tag  geschlossen  zu  bleiben,  eine 
Beschäftigung  von  Arbeitern  darf  nicht  stattfinden.  Hiervon 
sind  folgende  Ausnahmen  zugelassen  und  dürfen  sonach  Arbeiter 
beschäftigt,  bezw.  die  Läden  offen  gehalten  werden:  am  ersten 
Weihnachts-,  Oster-  und  Pfingsttage  bei  Bäckereien,  Kondi- 
toreien, Feinbäckereien  und  Milchhandlungen  den  ganzen  Tag, 
nur  nicht  von  8 — 10  Uhr  Vormittags;  bei  Charcuterien  (Schwein- 
metzgereien), Delikatessenhandlungen,  Käsehandlungen,  Metz- 
gereien, Obsthandlungen,  von  6-8  LThr  Vormittags;  an  den 
übrigen  Sonn-  und  Festtagen  im  Betriebe  von  Bäckereien, 
Konditoreien,  Feinbäckereien  und  Milchhandlungen  während 
des  ganzen  Tages  mit  Ausnahme  der  Stunden  von  8 — 10  Uhr 
Vormittags;  Charcuterien  (Schweinmetzgereien',  Delikatessen- 
handlungen und  Käsehandlungen  von  6 — 8 Uhr  Vormittags,  von 
10  Uhr  Vormittags  bis  1 Uhr  Nachmittags,  dann  von  4-^8  LThr 
Nachmittags;  Metzgereien  von  4 — 9 Uhr  Vormittags;  Obsthand- 
lungen ausserhalb  des  Marktes  in  der  Zeit  vom  1.  Mai  bis 
31.  Oktober  von  6—8  Vormittags,  von  10  Uhr  Vormittags  bis 
3 Uhr  Nachmittags;  Marktverkäufer  auf  den  Viktualienmärkten 
in  der  Zeit  vom  1.  April  bis  30.  September  von  5 — 11  LThr  Vor- 
mittags, vom  1.  Oktober  bis  31.  März  von  6 — 11  LThr  Vormittags; 
Obsthändler  auf  den  Viktualienmärkten,  welche  ausschliesslich 
Obst  verkaufen,  in  der  Zeit  vom  I.  Mai  bis  31.  Oktober  bis 
3 Uhr  Nachmittags,  am  Allerheiligentage  im  Betriebe  des 
Handels  mit  lebenden  und  künstlichen  Blumen  von  6 Uhr  Vor- 
mittags bis  4 Uhr  Nachmittags  — Bäcker  dürfen  während  der 
Zeit  des  allgemeinen  Ladenschlusses  nur  Brod,  Konditoren  nur 
Konditoreiwaaren,  Feinbäcker  nur  Feinbäckerwaaren,  Milch- 
händler nur  Milch,  Delikatesshändler  nur  Delikatesswaaren, 
Obstler  nur  Obst  verkaufen  An  beiden  Oktoberfestsonntagen, 
sowie  am  letzten  und  vorletzten  Sonntag  vor  Weihnachten 
können  sämmtliche  Läden  von  6— 8 Uhr  Morgens  und  von  10  Uhr 
Vormittags  bis  6 Uhr  Abend  offen  gehalten  und  Gehülfen  etc. 
beschäftigt  werden.  Gewerbetreibende,  welche  an  Sonn-  und 
Festtagen  zufolge  dieser  Anordnungen  ihre  Arbeiter  mehr  als 
fünf  Stunden  beschäftigen,  müssen  dieselben  an  jedem  dritten 
Sonntage  volle  36  Stunden  oder  an  jedem  zweiten  Sonntage 
mindestens  von  6 Uhr  Morgens  bis  6 Uhr  Abends  von  der 
Arbeit  freilassen;  dasselbe  gilt,  wenn  die  Arbeiter  zufolge  ihrer 
Beschäftigung  an  den  Sonntagen  am  Kirchenbesuche  gehindert 
sind.  Trinkhallen  und  Auskochgeschäfte  unterliegen  nicht  den 
Anordnungen  über  die  Sonntagsruhe. 


Die  französischen  Arbeitsräthe.  Mesureur,  Deputirter 
der  Seine,  hat  der  französischen  Kammer  einen  Gesetzesvor- 
schlag eingereicht,  welcher  die  Errichtung  von  Arbeitsräthen 
bezweckt.  Diese  Arbeitsräthe  sollen  Anstände  zwischen  Arbeit- 
geber und  Arbeiter  verhüten,  vergleichen  und  entscheiden.  Be- 
kanntlich sind  der  Kammer  bereits  ein  Gesetzesvorschlag  der 
Regierung,  betreffend  Organisation  fakultativer  Schiedsgerichte 
sowie  mehrere  andere  ähnliche  aus  der  Initiative  einzelner  Ab- 
geordneten hervorgegangene  Vorschläge  vorgelegt  worden. 

Der  Vorschlag  Mesureurs  unterscheidet  sich  von  diesen 
dadurch,  dass  er  eine  ständige  Einrichtung  von  höchstem  Inter- 
esse schafft.  Wie  wir  dem  „Devoir“  entnehmen,  will  Mesureur 
einerseits  den  Arbeitgebern  und  Arbeitern  oder  Angestellten 
die  Befugniss  ertheilen,  von  sich  aus  in  gegenseitiger  Verein- 
barung Sühn-  und  Schiedsgerichte  aufzustellen,  die  gebildet 
würden  ohne  jede  vorgängige  Bedingung  und  die  vorübergehend 
oder  dauernd  sein  könnten.  Anderseits  schlägt  er  die  Einrich- 
tung eines  Arbeitsrathes,  sei  es  von  Amtes  wegen  oder  auf  Ver- 
langen der  Interessenten,  und  zwar  in  jedem  industriellen  Be- 
zirk, wo  die  Nützlichkeit  derselben  konstatirt  ist,  durch 
Dekret  vor. 

Diese  Arbeitsräthe  haben  zur  Aufgabe:  1.  Ueber  die  Be- 

dingungen der  Arbeit  zu  berathen  und  ihre  Meinung  über 
Arbeitsiragen,  die  ihnen  von  der  Regierung  unterbreitet  werden, 
abzugeben;  2.  durch  Sühnversuche  Anstände  zwischen  Arbeit- 
geber und  Arbeiter  zu  verhindern  oder  zu  vergleichen,  unter 
den  Parteien,  die  sich  nicht  versöhnen  konnten,  die  Beurtheilung 
durch  Schiedsgerichte  zu  veranlassen  und  zu  organisiren ; 
3.  alljährlich  die  Ersatzwahl  der  austretenden  Mitglieder,  Arbeit- 
geber und  Arbeiter,  des  höheren  Arbeitsrathes  zu  wählen. 

Die  Arbeitsräthe  sind  zusammengesetzt  aus  der  gleichen 
Zahl  Arbeitgeber,  gewählt  von  den  Arbeitgebern,  und  Arbeiter, 
gewählt  von  den  Arbeitern.  Sie  werden  für  drei  Jahre  ernannt 
und  alljährlich  scheidet  ein  Drittheil  aus  und  wird  ersetzt.  Jeder 
Arbeitsrath  theilt  sich  in  so  viele  Sektionen,  als  es  Berufe  oder 
verwandte  Berufsgruppen  giebt,  welche  eine  besondere  Ver- 
tretung rechtfertigen.  Jede  Sektion  versammelt  sich  wenigstens 
einmal  im  Vierteljahr  in  der  Bürgermeisterei  der  Gemeinde 
ihres  Sitzes.  S:e  wird  ausserordentlich  zusammenberufen,  wenn 
ein  Anstand  ihr  Eingreifen  erfordert,  oder  wenn  es  die  Hälfte 
ihrer  Mitglieder  verlangen  Die  Einberufung  eines  Arbeitsrathes 
zur  Gesammtsitzung,  "alle  Sektionen  vereinigt,  erfolgt  durch 
Weisung  der  Regierung.  Diese  Sitzung  findet  im  Jahr  mindestens 
einmal  statt.  Die  Regierung  kann  auch  gleicherweise  mehrere 
Sektionen,  welche  entweder  denselben  Beruf  oder  verschiedenen 
Berufständen  angehören,  am  selben  Orte  oder  an  verschiedenen 
Orten  zusammenberufen. 

Wenn  ein  Anstand  zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeiter  ent- 
steht, so  kann  er  vor  die  Sektion  des  Berufes  entweder  durch 
gemeinschaftliche  Vereinbarung  oder  auch  von  einer  einzigen 
der  interessirten  Parteien  gebracht  werden.  Wenn  der  Fall  vor 
die  Sektion  nur  von  einer  einzigen  Partei  gebracht  wird,  so 
giebt  der  Präsident  der  Gegenpartei  hiervon  binnen  achtund- 
vierzig Stunden  Kenntniss.  Nach  Empfang  dieser  Anzeige,  und 
spätestens  in  drei  Tagen,  müssen  die  Interessenten  ihre  Antwort 
einreichen.  Nach  Verfluss  dieses  Termins  wird  ihr  Still- 
schweigen als  Weigerung  betrachtet.  Nehmen  beide  Parteien 
den  Grundsatz  der  Versöhnung  an.  so  wählt  die  Sektion  aus 
ihrer  Mitte  vier  Mitglieder,  zwei  Arbeitgeber  und  zwei  Arbeiter, 
um  den  Sühneausschuss  zu  bilden.  Der  Sühneausschuss  sucht 
die  Mittel,  um  die  Parteien  auszusöhnen.  Kommt  auf  die  Sühne- 
bedingungen hin  eine  Aussöhnung  zustande,  so  wird  ein  Proto- 
koll ausgefertigt.  Kann  keine  Aussöhnung  zustande  kommen, 
so  lädt  der  Ausschuss  die  Parteien  ein,  entweder  je  einen 
Schiedsrichter  oder  einen  gemeinsamen  Schiedsrichter  zu  be- 
zeichnen. Für  die  Wahl  der  Schiedsrichter  werden  den  Parteien 
keine  Bedingungen  gestellt.  Im  Falle,  wo  zwei  Schiedsrichter 
gewählt  werden,  können  diese  einen  dritten  Schiedsrichter 
wählen.  Wenn  die  Schiedsrichter  weder  auf  eine  Beseitigung 
des  Anstandes  noch  auf  die  Wahl  des  dritten  Schiedsrichters 
verständigen  können,  so  wird  das  Scheitern  der  Sühne  in  einem 
Protokoll  konstatirt. 

Die  Protokolle  und  Entscheide  der  Sühneausschüsse 
werden  auf  der  Bürgermeisterei  in  den  Archiven  der  Sektion 
aufbewahrt  und  es  werden  jeder  Partei  Abschriften  unentgelt- 
lich zugestellt  und  ebenso  dem  kompetenten  Minister,  um  in  das 
Bulletin  des  Arbeitsamts  aufgenommen  zu  werden.  Diese  Proto- 
kolle und  Entscheide  werden  an  den  Stellen  für  amtliche  Publi- 
kationen von  den  Bürgermeistern  der  Gemeinde,  wo  der  Fall 
vorkommt,  veröffentlicht.  Die  interessirten  Parteien  können 
nach  Belieben  die  Veröffentlichung  durch  Anschlag  ausdehnen. 

Die  Arbeiten  in  den  Bureaus,  Magazinen,  Werkplätzen  und 
Fabriken  des  Staates  können  nicht  Veranlassung  zu  Sühn-  oder 
Schiedsentscheiden  geben.  Die  Bedingungen  der  Arbeit  in 
diesen  Bureaus,  Magazinen,  Werkstätten  und  Fabriken  werden 
für  den  Staat  vom  Staat  durch  ein  Gesetz,  für  die  Departements 
und  Gemeinden  durch  die  Beschlüsse  der  Departements-  und 
Gemeinderäthe  bestimmt.  Diese  Beschlüsse  können  weder 
suspendirt  noch  aufgehoben  werden. 

Zur  Frage  des  Achtstundentages  in  England.  Eine 
Konferenz  der  Textilarbeiter  in  Lancashire  hat  sich  für 
Einführung  des  Achtstundentages  ausgesprochen.  Diese 


436 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  35. 


Kundgebung  ist  um  so  bedeutungsvoller,  als  sich  diese 
Arbeiter  gegen  eine  Verminderung  der  Arbeitszeit  bisher 
am  meisten  sträubten.  Die  Nothlage  in  der  Baumwollen- 
industrie hat  ihnen  die  Augen  geöffnet. 

Im  englischen  Unterhaus  verlangte  der  Arbeiterver- 
treter Wood  ein  Achtstundengesetz  für  die  Bergleute, 
Reform  des  Wahlsystems  und  Diätenzahlung  an  die  Parla- 
mentsmitglieder. 

Das  Achtstundengesetz  in  den  Vereinigten  Staaten. 

Das  Achtstundengesetz,  welches  seit  kurzem  in  den  Ver- 
einigten Staaten  eingeführt  wurde,  ist  einfach  und  durch- 
greifend. Es  findet  seine  Anwendung  auf  „den  Dienst  und 
die  Beschäftigung  aller  Arbeiter  und  Handwerker,  die  von 
der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  und  dem  Distrikte 
von  Kolumbia  oder  von  irgend  einem  Unternehmer  öffent- 
licher Arbeiten  der  Vereinigten  Staaten  oder  des  genannten 
Gebiets  beschäftigt  werden.“  Die  Strafe  auf  vorsätzliche 
Uebertretung  dieses  Gesetzes  seitens  eines  Beamten  oder 
Unternehmers  wird  mit  einer  Geldstrafe  von  1000  Doll, 
oder  mit  Gefängniss  bis  zu  sechs  Monaten  oder  mit  beiden 
zugleich,  je  nach  dem  Ermessen  des  Richters,  gesühnt. 


Arbeiterversicherung. 


Zur  Ausdehnung  der  deutschen  Unfallversicherung  auf  das 
Handwerk,  die  Seefischerei  n.s.  w.  Lieber  die  Absichten  der  Re- 
gierung hinsichtlich  einer  Ausdehnung  der  Unfallversicherung 
giebt  die  folgende  Mittheilung  der  „Norddeutschen  Allgemeinen 
Zeitung“  Anhaltspunkte:  Wie  zu  einer  Novelle  zum  LTnfall- 
versicherungsgesetze  vom  6.  Juli  1884,  so  werden  auch  schon 
längere  Zeit  zu  einem  Gesetzentwürfe  über  die  Ausdehnung 
der  Unfallversicherung  auf  das  Handwerk,  die  Seefischerei  u.  s.  w. 
die  Vorarbeiten  betrieben.  Es  dürfte  auch  als  wahrscheinlich 
angesehen  werden  können,  dass  der  Reichstag  sich  schon  in 
naher  Zeit  mit  dieser  Vorlage  beschäftigen  wird  In  der  Vor- 
lage ist  eine  ganze  Anzahl  von  Schwierigkeiten  zu  überwinden. 
Das  zeigt  sich  bereits  bei  der  Frage  nach  der  Festsetzung  des 
Umfanges  der  neuen  Versicherung.  Es  wäre  höchst  einfach, 
die  Bestimmung  zu  treffen,  dass  alle  bisher  noch  nicht  in  den 
Kreis  der  Unfallversicherung  einbezogenen  Berufszweige,  viel- 
leicht mit  Ausnahme  des  Handelsgewerbes,  der  Unfallversiche- 
rungspflicht künftig  unterliegen  sollen.  Damit  würde  man  jedoch 
einer  ganzen  Anzahl  von  Betriebsarten  eine  Last  aufbürden, 
welche  sich  aus  ihrer  Unfallgefahrenhöhe  nicht  rechtfertigen 
lässt.  Es  giebt  die  verschiedensten  Branchen,  in  denen  die 
Gefahr  für  Leben  und  Gesundheit  der  Arbeiter  und  vornehm- 
lich die  Unfallgefahr  nicht  grösser  ist,  als  die  des  gewöhnlichen 
Lebens.  Womit  sollte  man  es  rechtfertigen,  diese  Branchen  zur 
Unfallversicherung  heranzuziehen?  Dann  müssten  ja  schliess- 
lich alle  im  Dienste  Anderer  beschäftigten  Personen,  also  bei- 
spielsweise auch  alle  Dienstboten,  gegen  LInfall  zwangsweise 
versichert  werden.  Das  aber  wäre  eine  Ausdehnung,  die  sich 
mit  den  der  bisherigen  Unfallversicherung  zu  Grunde  liegenden 
Ideen  nicht  vereinbaren  Hesse  Alle  diese  Betriebe,  welche  eine 
Unfallgefahrenhöhe  bieten,  die  nicht  oder  nicht  erheblich  über 
diejenige  des  gewöhnlichen  Lebens  hinausgeht,  müssten  also 
aus  dem  Kreise  der  neuen  Unfallversicherung  ausgeschieden 
werden.  Nun  wird  es  allerdings  sehr  schwer,  wenn  nicht  un- 
möglich sein,  im  Gesetze  selbst  die  Kriterien  anzugeben,  nach 
denen  hierbei  zu  verfahren  wäre.  Man  wird  sich  deshalb  zur 
Erledigung  dieser  Frage  des  administrativen  Weges  bedienen 
und  gut  thun,  lestzusetzen,  dass  im  Allgemeinen  zwar  alle  dem 
Handwerk  u.  s.  w.  angehörenden  Betriebe  der  Unfallversiche- 
rungspflicht unterliegen,  dass  aber  der  Bundesrath  die  Befugniss 
hat,  für  die  oben  gekennzeichneten  Branchen  Ausnahmen  zuzu- 
lassen. Andererseits  wäre  es  auch  zu  billigen,  wenn  der  Ver- 
sichertenkreis sich  auch  auf  einzelne  Arbeitgebergruppen  er- 
streckte. An  der  bisherigen  LTntallversicherung  können  sich  die 
Arbeitgeber  bis  zu  einem  bestimmten  Jahresarbeitsverdienst 
betheiligen.  Es  wäre  angebracht,  wenn  man  die  Unfallversiche- 
rung in  dem  neuen  Gesetze  für  diejenigen  Arbeitgeber  obliga- 
torisch machte,  welche  regelmässig  nicht  wenigstens  einen 
Lohnarbeiter  beschäftigen.  Ein  Vorbild  nach  dieser  Richtung 
ist  bereits  im  Invaliditäts-  und  Alterversicherungsgesetze  ge- 
geben, wo  der  Bundesrath  ermächtigt  ist,  die  Versicherungs- 
pflicht gleichfalls  auf  diese  Arbeitgebergruppe  auszudehnen. 

Zur  Reform  der  deutschen  Unfallversicherung.  Die  an- 
gekündigte Revision  der  Unfallversicherungs-Gesetzgebung,  mit 
welcher  sicli  der  Reichstag  in  der  nächsten  Tagung  zu  be- 
fassen haben  dürfte,  beschäftigt  bereits  die  zuständigen  Organe, 
Wie  man  hört,  bewegen  sich  die  Arbeiten  in  einer  Richtung 
welche  die  Grundlage  des  bisherigen  Gesetzes  und  die  auf 
demselben  beruhende  Organisation  der  Berufsgenossenschaften 


unberührt  lassen.  In  den  Ausführungsbestimmungen  dürften 
mehrfach  Aenderungen  eintreten,  wie  sie  durch  die  bisher  ge- 
machten Erfahrungen  geboten  scheinen.  Hauptsächlich  wird 
auch  eine  Ausdehnung  der  Unfallversicherung  auf  das  Hand- 
werk und  das  Fischereigewerbe  angestrebt.  Alle  jene  Kategorien, 
welche  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  unterworfen 
sind  sollen  auch  der  Unfallversicherung  unterstellt  werden. 
Seitens  der  Berufsgenossenschaften  werden,  wie  das  auf  dem 
Hamburger  Verbandstag  angedeutet  wurde,  bestimmte  Anträge 
eingebracht  werden,  welche  die  Sicherstellung  des  Rechtes  der 
Vorstände  auf  Beantragung  zeugeneidlicher  Vernehmungen  in 
Unfallermittelungen  durch  die  Gerichte  bezwecken.  Obschon 
neuerdings  das  Reichsamt  des  Innern  auf  Grund  früherer  Ent- 
scheidungen des  Reichsversicherungsamtes  in  dieser  Frage  mit 
dem  preussischen  Justizministerium  in  Verbindung  getreten  sein 
soll,  ist  doch  eine  völlige  Klärung  der  Sachlage  offenbar  noch 
nicht  erzielt  werden.  Vorläufig  bleibt  der  Sachverhalt  bestehen 
dass  das  Landgericht  II.  Berlin  eben  so  wie  das  Reichsversiche- 
rungsamt den  Vorständen  der  Berufsgenossenschaften  das  Recht 
eingeräumt  wissen  will,  die  eid  iche  Vernehmung  von  Zeugen 
bei  den  gerichtlichen  Behörden  zu  verlangen,  während  der 
Justizminister,  der  in  einem  bestimmten  Falle  die  Nothwendig- 
keit  dieser  Forderung  ebenfalls  anerkannte,  sich  doch  nicht 
grundsätzlich  für  die  Bewilligung  dieses  wichtigen  Rechtesaus- 
sprechen will.  Dadurch  wird  in  manchen  Fällen  die  Feststel- 
lung der  Betriebsunfälle,  folglich  auch  diejenige  der  Renten 
für  die  Verletzten  verzögert!  Zur  Begründung  seiner  dem 
justizministeriellen  Entscheid  entgegenstehenden  Ansicht  führt 
das  Reichsversicherungsamt  in  Uebereinstimmung  mit  den  Be- 
rufsgenossenschaften an,  dass  Fälle  Vorkommen,  in  denen  wegen 
unsicherer  oder  mit  andern  Thatsachen  unvereinbarer  Aussagen 
ein  gewissenhafter  Vorstand  ohne  den  Zwang  des  Eides  zu  einer 
befriedigenden  Feststellung  nicht  gelangen  kann.  Weigern  sich 
nun  die  Gerichte,  dem  Ersuchen  um  zeugeneidliche  Verneh- 
mung nachzukommen,  so  hat  der  Vorstand  ein  Interesse,  die 
Angelegenheit  an  das  Schiedsgericht  kommen  zu  lassen,  dessen 
Aufforderung  zur  Zeugenvernehmung  die  Gerichte  Folge  zu 
geben  genöthigt  sind. 

Die  Berufsgenossenschaften  und  die  Unfallverhütung. 

In  einer  durch  die  Tagespresse  gehenden  Notiz  wird  die 
Behauptung  ausgesprochen,  in  den  Berichten  der  preussi- 
schen Regierungs-  und  Gewerberäthe  sei  festgestellt 
worden,  dass  die  Berufsgenossenschaften  auf  dem  Gebiete 
der  Unfallverhütung  den  höchsten  Anforderungen  ent- 
sprechen. Zur  Beleuchtung  dieser  Behauptung  mögen 
folgende  Anführungen  aus  den  Berichten  selbst  dienen. 
In  dem  Berichte  aus  dem  Regierungsbezirk  Arnsberg  wird 
die  bekannte  Thatsache  hervorgehoben,  dass  die  Glas-  und 
die  Papiermacher- Berufsgenossenschaft  bisher  überhaupt 
noch  nicht  Unfallverhütungsvorschriften  erlassen  haben, 
und  der  Aufsichtsbeamte  bemerkt,  dass  dies  nach  den  ihm 
gemachten  Mittheilungen  auf  die  Besorgniss  zurückzuführen 
sei,  „die  Staatsanwaltschaft  möge  in  solchen  Vorschriften 
eine  Handhabe  zur  strafrechtlichen  Verfolgung  bei  Unfällen 
finden  können.“  Hieran  schliesst  sich  eine  Notiz  aus  dem 
Schleswig-Holsteinschen  Bericht,  wonach  nach  einem  statt- 
gehabten tödtlichen  Unfall  der  betreffende  Unternehmer 
einer  Papierfabrik  sich  weigerte,  eine  Schutzvorrichtung 
anzubringen,  „weil  er  befürchtete,  der  Staatsanwalt  werde 
in  der  nachträglichen  Schutzvorrichtung  ein  Bekenntniss 
seiner  Schuld  an  dem  Todesfälle  des  jugendlichen  Arbeiters 
erblicken;  die  Schutzvorrichtung  konnte  daher  nur  unter 
Zuhilfenahme  der  Polizei  durchgesetzt  werden.“  — Aus 
Potsdam-Frankfurt  heisst  es:  „Die  Thätigkeit  der  Berufsge- 
nossenschaften  auf  dem  Gebiete  der  Unfallverhütung  ist  im 
Laufe  der  Jahre  zwar  mehr  und  mehr  zu  Tage  getreten; 
dennoch  darf  sie  immer  noch  nicht  als  ausreichend  be- 
zeichnet werden.“  — Aus  Oppeln  wird  berichtet:  „Ueber 

die  Thätigkeit  der  Berufsgenossenschaften  auf  dem  Gebiete 
der  Unfallverhütung  ist  mir  im  hiesigen  Bezirke  nichts  be- 
kannt geworden.“  — Der  Gewerberath,  dem  die  Regierungs- 
bezirke Merseburg  und  Erfurt  unterstellt  sind,  schreibt: 
„Es  wäre  zu  wünschen,  dass  die  Vertrauensmänner  der 
Berufsgenossenschaften  die  versicherten  Betriebe  einer 
strengeren  Aufsicht  unterwürfen  und  selbst  in  ihrem  Be- 
triebe mit  gutem  Beispiele  vorangingen.  In  einer  Dampf- 
ziegelei, deren  Besitzer  Vertraue  ns  mann  der  Ziegelei- 
berufsgenossenschaft ist,  musste  die  Verlegung  der 
Drahtseiltransmission  angeordnet  werden,  weil  das  unten 
stark  schlagende  Drahtseil  ins  Mannshöhe  über  ein  Thon- 
lager lief,  auf  welchem  ein  starker  Verkehr  der  Arbeiter 
stattfand.“  — In  den  Berichten  aus  Minden-Münster  und 
aus  Arnsberg  wird  die  Mahnung  ausgesprochen,  dass  die 
Unfallverhütungsvorschriften  strenger  durchgeführt  würden. 
Diesen  tadelnden  Bemerkungen  gegenüber  finden  sich  nur 
zwei  zum  Theil  anerkennende  Bemerkungen  in  den  Be- 


No.  35. 


SOZIALlplITISÖHES  CENTRALBLATT. 


437 


richten  aus  Berlin  und  Düsseldorf;  die  übrigen  Berichte 
sprechen  von  dieser  Thätigkeit  der  Berufsgenossenschaften 
garnicht. 

Die  eingeschriebenen  Hilfskussen  und  die  Kranken- 
kassennovelle. Den  Mainzer  Krankenkassen  ist  seitens  des 
Kreisamtes  eine  Zuschrift  zugegangen,  wonach  sie  bis  zum 
10.  August  sich  erklären  sollten,  ob  sie  auch  fernerhin  als 
von  den  Zwangskassen  befreite  Kassen  bestehen  bleiben 
wollen  oder  nicht.  Die  Antwort  ist  — sagt  die  „Hessische 
Volksstimme“  — für  fast  alle  Mainzer  Kassen  durch  die 
Generalversammlungsbeschlüsse  bereits  gegeben,  da  sich 
fast  alle  Kassen  in  sogenannte  Zuschusskassen  umwandeln. 
In  Zuschusskassen  haben  sich  ferner  umgewandelt  die 
Centralkasse  der  Töpfer  in  Dresden,  die  Centralkranken- 
und  Begräbnisskasse  des  Senefelderbundes  (Lithographen), 
die  Kranken-  und  Begräbnisskasse  des  Gewerkvereins  der 
deutschen  Tischler  und  Berufsgenossen.  Die  Auflösung 
der  Kasse  soll  jedoch  erst  erfolgen,  wenn  die  so  abgeän- 
derten Statuten  von  der  zuständigen  Behörde  genehmigt 
worden  sind. 

Aufgelöst  haben  sich  die  Centralkassen  der  Schmiede 
(Hamburg)  und  der  Bildhauer  (Stuttgart). 

Dem  § 75  des  Gesetzes  bleiben  ausser  den  von  uns 
in  den  Nummern  29,  31  und  33  des  „Sozialpolitischen  Cen- 
tralblattes“ angeführten  Kassen,  ferner  weiter  unterstellt 
die  centralisirten  Kassen  der  Korbmacher  mit  dem  Sitze 
zu  Zeitz,  die  der  Maler  (Hamburg),  die  der  Frauen  und 
Mädchen  (Offenbach  a.  Main),  die  Central-Kranken-  und 
Sterbekasse  der  deutschen  Wagenbauer,  ferner  von  Hirsch- 
Dunkerschen  Kassen  die  des  Gewerkvereines  der  Schiffs- 
zimmerer (Stettin),  die  Hilfskasse  des  Vereins  deutscher 
Kaufleute  (Berlin),  die  Kranken-  und  Begräbnisskasse  des 
Gewerkvereines  der  deutschen  Fabrik-  und  Handarbeiter 
und  des  Gewerkvereines  der  Schuhmacher  und  Leder- 
arbeiter. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 

Regelung  des  Schlafstellen wesens  in  Frankfurt  a.  M. 

Eine  Poiizeiverordnung  vom  31.  J uli  d.  Js.,  die  am  1.  Okto- 
ber d.  Js.  in  Kraft  tritt,  bestimmt  für  den  Stadt-  und  Land- 
kreis Frankfurt  a.  M.,  dass  Schlafstellen,  welche  gegen 
Entgeld  zum  Zwecke  der  Beherbergung  vermiethet  werden, 
pro  Kopf  3 Quadratmeter  Bodenfläche  und  10  Kubikmeter 
Luftraum  enthalten  müssen.  Für  Kinder  unter  6 Jahren 
genügt  ein  Drittel,  für  Kinder  von  6 — 14  Jahren  genügen 
zwei  Drittel  dieser  Maasse.  Die  Räume  dürfen  nicht  mit 
Abtritten  in  Verbindung  stehen;  sie  müssen,  um  eine  aus- 
reichende Lüftung  zu  ermöglichen,  zum  Oeffnen  geeignete 
Aussenfenster  haben.  Der  Zugang  zu  Zimmern,  m denen 
Personen  des  einen  Geschlechts  schlafen,  darf  nicht  durch 
Schlafzimmer  des  anderen  Geschlechts  stattfinden.  Die 
Schlafräume  dürfen  mit  den  eigenen  Wohn-  und  Schlaf- 
räumen des  Quartiergebers  oder  mit  den  Räumen  für 
Schläfer  des  anderen  Geschlechts  nicht  in  offener  Verbin- 
dung stehen;  vorhandene  Verbindungsthüren  sind  ver- 
schlossen zu  halten.  Jeder  Schlafraum  muss  gedielt  und 
verschliessbar  sein.  Wo  Schläfer  gehalten  werden,  dürfen, 
wenn  nicht  das  Verhältniss  von  Eheleuten  und  von  Eltern 
und  Kindern  vorliegt,  nur  Personen  eines  und  desselben 
Geschlechts  in  demselben  Zimmer  schlafen.  Für  jeden 
Schlafgast  muss  eine  besondere  Lagerstätte  vorhanden  sein. 
Die  Unterbringung  von  2 Personen  in  einer  Lagerstätte  ist 
nur  zulässig,  wenn  es  sich  handelt:  a)  um  Eheleute,  b)  um 
Kinder  unter  12  Jahren,  c)  um  zu  ein  und  derselben  Familie 
gehörige  Personen  gleichen  Geschlechts.  Bettstellen  dürfen 
nicht  übereinander  gestellt  werden.  Die  Bezüge  der  Säcke 
und  Kissen,  die  Ueberzüge  und  Betttücher,  sowie  die  Decken 
sind  reinlich  zu  halten  und  mindestens  alle  4 Wochen  zu 
waschen,  ausserdem  aber  stets,  falls  solche  bei  einer  Revision 
durch  einen  Polizeibeamten  schmutzig  befunden  werden, 
auf  Verlangen  desselben  sofort  zu  wechseln.  Das  Stroh 
der  Säcke  und  Kissen  ist  alle  Vierteljahre,  auch  sofort  auf 
Erfordern  des  revidirenden  Polizeibeamten  zu  erneuern. 
Hölzerne  Urinkübel  dürfen  nicht  verwendet  werden.  Die 


Schlafräume  sind  reinlich  zu  halten  und  zu  diesem  Behufe 
I müssen  a)  die  Fussböden  täglich  am  Morgen  ausgekehrt 
und  wöchentlich  einmal  gescheuert  werden;  b)  in  jedem 
Schlafraum  muss  ein  mit  Wasser  gefüllter  Spucknapf  stehen; 
derselbe  muss  jeden  Morgen  geleert,  gereinigt  und  frisch 
mit  Wasser  gefüllt  werden,  c)  Decken  und  nicht  tapezirte 
Wände  müssen  jährlich  einmal  getüncht  werden;  sind  die 
Wände  mit  Oelfarbe  gestrichen,  so  müssen  sie  öfters, 
mindestens  zweimal  im  Jahre,  gründlich  abgewaschen  wer- 
den. Von  der  Aufnahme  von  Schläfern  ist  binnen  3 Tagen 
eine  schriftliche  Anzeige  zu  erstatten.  Aehnliche  Vorschriften 
sind  auch  für  die  Nachtherbergen  erlassen  worden. 


Soziale  Hygiene. 


Sanitätspolizeiliche  Revisionen  in  Wien.  Wohl  durch 
| das  Herannahen  der  Cholera  veranlasst,  findet  jetzt  in  Wien  ein 
| reger  sanitätspolizeilicher  Inspektionsdienst  statt.  Die  zumeist 
konstatirten  Uebelstände  sind  Wohnungsüberfüllung,  ungünstig 
situirte  oder  feuchte  Wohnungen,  Benützung  von  Kellerwohnung 
gen,  mangelhaft  konstruirte  oder  nicht  gehörig  rein  gehaltene 
Aborte,  vernachlässigte  Senkgruben,  grosse  Mengen  verdorbener 
Nahrungsmittel.  Während  letztere  konfiscirt  "und  vernichtet 
j wurden,  begnügte  man  sich  bei  den  sanitätswidrigen  Wohnungen 
i mit  behördlichen  Anordnungen  bezüglich  deu  Desinfektion. 
Hier  und  da  delogirte  man  auch  die  Miether,  dabei  fehlt  aber 
jede  Garantie,  dass  die  delogirten  Parteien  nunmehr  sanitäts- 
polizeilich günstige  Wohnungen  beziehen  können  und  werden. 

Die  Cholera  und  die  Wohnungsverhältnisse  von 
St.  Petersburg.  Viel  zu  spät,  als  schon  die  Cholera  in 
ihrem  neuem  verheerenden  Zug  bis  an  die  russische  Ost- 
seeküste gelangt  war,  besinnt  man  sich  in  St.  Petersburg 
dass  das  beste  Mittel  gegen  diese  Seuche  die  Entziehung 
ihres  Nährbodens  und  zwar  vor  allem  die  Beseitigung  der 
1 schlechten  Wohnungen  ist.  In  den  letzten  Wochen  Tst  in 
i St.  Petersburg,  wie" der  „National-Zeitung“  berichtet  wird, 
auf  Befehl  des  Stadthauptmanns  eine  besondere  Kommission 
gebildet  worden,  welche  speziell  die  Apraxinstrasse  auf 
ihren  Gesundheitszustand  zu  untersuchen  hatte.  Die  Kom- 
mission hat  nun  1200  Wohnungen  daselbst  eingehend  be- 
j sichtigt  und  sie  sämmtlich  in  dem  entsetzlichsten  Zustande 
gefunden.  In  jeder  dieser  Wohnungen  leben  so  viele 
Menschen  zusammen,  dass  man  nicht  begreift,  wie  sie  dort 
überhaupt  athmen  konnten.  Die  Kommission  hat  nun  ein 
i genaues  Programm  ausgearbeitet,  welches  diesen  unwürdi- 
gen Verhältnissen  ein  Ende  machen  soll.  Nachdem  die 
Untersuchung  der  Privathäuser  ein  so  schlimmes  Resultat 
gehabt,  beginnt  man  jetzt  die  Aufmerksamkeit  auch  auf  die 
Regierungsgebäude  zu  lenken,  welche  von  den  städtischen 
Sanitätskommissionen  nicht  untersucht  werden  dürfen.  Re- 
gierungskommissionen wurden  mit  dieser  Aufgabe  betraut. 
Auch  in  den  Amtsgebäuden  hat  man  sehr  viel  Unordnung 
gefunden  und  es  wird  beabsichtigt,  mehrere  dieser  Häuser 
vollständig  umzubauen.  Die  Ermittelungen  haben  die  Sanitäts- 
kommission veranlasst,  die  Einrichtung  einer  ständigen  sani- 
tären Aufsicht  der  Häuser  in  Petersburg  zu  beantragen. 

Das  Stehen  (1er  Pferdebalmkutscher  und  Schaffner.  Von 

ärztlicher  Seite  geht  der  „Voss.  Ztg.“  eine  Zuschrift  zu,  die  sich 
gegen  das  andauernde  Stehen  der  Pferdebalmkutscher  und 
-Schaffner  wendet.  Es  heisst  in  der  Zuschrift: 

....  Ein  kräftiger,  junger  Mann  wird  gewiss  ohne  sonder- 
liche Beschwerden  stundenlanges  Stehen  aushalten  können,  viel- 
leicht eine  Zeil  lang,  obwohl  Wind  und  Wetter  den  Mann  an 
dem  fast  ungeschützten  Platze  hart  genug  mitnehmen,  die  Stra- 
paze garnicht  als  solche  empfinden.  Aber  der  menschliche 
Körper  ist  nun  einmal  für  solch’  ununterbrochene  Anstrengung 
nicht  geeignet,  er  bedarf  der  Abwechselung  zwischen  Arbeit 
und  Ruhe,  und  als  letztere  darf  die  minutenlange  Pause  am 
Ende  der  Fahrt  nicht  wohl  angesehen  werden.  So  stellen  sich 
denn,  um  nur  die  Hauptschädlichkeit  hervorzuheben,  Störungen 
in  der  Zirkulation  ein  und  in  deren  Gefolge  vor  allem  Krampf- 
adern, die  in  ihren  Anfängen  recht  harmlos  ausschauen,  mit  der 
Zeit  aber  und  namentlich  bei  herannahendem  Alter,  zu  einer 
furchtbaren  Plage  werden  können  und  zu  jenen  unheilbaren 
Beingeschwüren  führen,  die  den  Kranken  zu  jeglicher  Arbeit 
untauglich  machen 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


438 


ANZEIGEN. 


No.  35 


X(Buttentaix,  Verlngsbiidjbnnblung  in  ©erlitt. 


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Vertag  t>on  3ol)  .ftcinbl  in  Söicit.  I.  ©ej.  ©tepfjattSplatj  9h\  7 (füvftDerjb.  SßataB). 

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Jri'iljtcvnt  (Carl  Won  Bogclfaitg, 

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Br.  JPiUj.  Trctljtcrru  Won  Berger. 

XIV.  Soljrgang. 

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Prgan  bea  39euifdjen  Bunbea  für  Boben- 
belihrefonn. 

©rfdieiitt  jebett  fflloittag. 


Stbonnementöbebingungen: 

©ei  allen  ©oftanftalten  (9h-.  2272 

ber  Sßoftäeitungölifte)  ....  931t  0,80 
©ei  birefter  Äreugbaubfenbung: 

in  ©eutfdjlanb  nnb  Defterreid) . „ 1,20 

im  SBeltpoftberein „ 1,50 

3»  ©erlitt  bei  freier  gufenbung  . „ 1,— 

Die  (Expebition 

K.  Iteks,  ^faUjthmfrerflr.  55. 


Hugo  Frankel, 

A ntiquariat  fürRechts-u.  Staatswissenschaft, 

Berlin  N.  24,  Elsasserstr.  36, 

empfiehlt  sich  zur  Beschaffung  aller  in  sein 
Specialfach  einschlagender  Literatur. 


Dr.  Ludwig  Gumplowicz, 

Professor  in  Graz. 

41  Bogen.  8".  Preis  broschirt  10  Mark. 

Der  Mangel  einer  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes  hat  sich  in  den 
letzten  Jahren  insbesondere  in  Folge  einschneidender  Umgestaltungen  und  Neubildungen  auf  dem 
Gebiete  des  österreichischen  Verwaltungsrechtes  nicht  nur  in  Kreisen  der  Studirenden,  sondern 
auch  aller  derjenigen,  die  am  öffentlichen  Leben  theilnehmen,  fühlbar  gemacht.  Es  sei  nur 
darauf  hingewiesen,  dass  seit  den  jüngsten  Neuregelungen  des  Militärrechtes,  des  Gewerberechtes, 
des  Arbeiterschutzrechtes  noch  keine  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  .Staatsrechtes,  welche 
dieselben  berücksichtigen  würde,  erschienen  ist  und  dürfte  daher  obiges  Werk  den  interessirenden 
Kreisen  gewiss  willkommen  sein. 


Verlag  0011  Xooitfjarö  Bintinn  in  Berlin  SW.,  äSil&elmftr.  121. 

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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I -Jahrgang. 


Berlin,  den  5.  September  1892. 


Nummer  36. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


-j. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT 


Soziale  Wanderungen  in 
< 'esterre ich. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  11. 
W irthschaftsstatistik : 

Die  Landwirthschaftskammern  in 
Preussen.  Von  Dr.  Rudolf 
G r ä t z e r. 

Zur  sozialpolitischen  Geschichte 
des  rheinisch-westfälischen  Berg- 
baues. Von  Dr.  Max  Quarck. 

Zur  Frage  der  Volksernährung. 
Von  Prof.  Dr.  Walther  Lotz. 

Die  überseeische  Auswanderung 
aus  Deutschland  im  ersten  Halb- 
jahre 1892. 

Speisung  armer  Schulkinder  in 
Kopenhagen. 

Zum  Handel  mit  Ratenloosen. 
Arbeiterzustände: 

Zur  Lage  der  Vollmatrosen  und 
Schiffsjungen  bei  der  deutschen 
Handelsmarine. 

Ortsübliche  Tagelöhne  für  den 
Stadtkreis  Berlin. 

Die  Arbeitslosigkeit  im  Hamburger 
Zimmerergewerbe  im  Winter 

1891/92. 

Lohnmissbräuche  in  der  schweize- 
rischen Posamentindustrie. 


Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Internationaler  Buchdruckerkon- 
gress. 

Die  englischen  Bergarbeiter  und 
der  8 ständige  Arbeitstag. 

Politische  Arbeiterbewegung : 

Der  deutsche  sozialdemokratische 
Parteitag. 

Arbeiterkongress  der  französischen 
Schweiz. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Die  Wirkung  der  Sonntagsruhe  im 
Handelsgewerbe. 

Arbeiterversicherung: 

Die  Ausdehnung  des  deutschen 
Unfall  Versicherungsgesetzes  auf 
das  Handwerk. 

Der  Reichszuschuss  für  die  Inva- 
liditäts-  und  Altersversiche- 
rung. 

Freie  Hilfskassen  und  Kranken- 
kassennovelle. 

Kriminalität: 

Armuth  und  Verbrechen. 

Eingesenrtete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Soziale  Wanderungen  in  Oesterreich. 


Aehnlich  den  letzten  Volkszählungen  in  Frankreich 
und  der  Schweiz  bietet  auch  die  letzte  österreichische 
Volkszählung  interessante  Materialien  über  die  inneren 
Wanderungen.  Im  Mai-Juni-Hefte  der  Wiener  „Statistischen 
Monatsschrift“  fasst  Dr.  H.  Rauchberg  in  einer  „Dichtigkeit, 
Zunahme,  natürliche  und  Wanderbewegung  der  Bevölke- 
rung Oesterreichs  in  der  Periode  1881  — 1890“  betitelten  Ab- 
handlung das  betreffende  Material  zusammen,  auf  das  wir 
die  folgende  Darstellung  basiren. 

Die  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  Oesterreichs  hat 
vom  Jahre  1818 — 1890  stetig  zugenommen,  es  kamen  auf 
100  Einwohner  anfangs  1818  177,77  zu  Ende  des  Jahres  1890. 
Von  1869  bis  1890  stieg  in  allen  Kronländern  die  Bevölke- 
rung mit  Ausnahme  Tirols,  in  dem  die  Dichtigkeitsverhält- 
nisse fast  unverändert  blieben. 


Die  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  hat  wohl  in  dem 
Gesammtgebiet  der  Monarchie  und  in  den  meisten  grossen 
Verwaltungskomplexen,  aber  keineswegs  überall  gleich- 
mässig  zugenommen,  den  vielen  Bezirken  mit  Verdich- 
tung der  Bevölkerung  steht  eine  grosse  Zahl  mit  relativer, 
ja  absoluter  Bevölkerungsabnahme  gegenüber.  Die  Ursachen 
dieser  Erscheinung  sind  zweifacher  Art,  sie  wird  nämlich 
nicht  nur  durch  das  Ueberwiegen  bezw.  Zurückbleiben  der 
Geburtenzahl  über  bezw.  hinter  den  Todesfällen,  sondern, 
und  zum  Theil  in  noch  höherem  Grade,  durch  die  Zu-  und 
Weg  Wanderungen  erklärt.  So  nahm  in  dem  Zeitraum 
1870 — 1890  die  Bevölkerung  Niederösterreichs  durch  natür- 
liche Bewegung  um  305  821 , dagegen  durch  Wander- 
bewegung um  365  270  Seelen  zu;  hier  wirkt  als  starkes 
Attractionscentrum  die  Grossstadt  Wien  mit  ihren  sich 
rasch  entwickelnden  hochindustriellen  Vororten,  aber  auch 
die  meisten  anderen  Provinzen  zeigen  zum  Theil  starke 
positive  und  negative  Wirkungen  der  Wanderbewegung 
auf  die  Volksvermehrung.  In  Bezug  auf  positive  Wirkung 
(Zuwanderung)  schliessen  sich  an  Niederösterreich  an:  Steier- 
~mark  mit  34  525  mehr  Zu-  als  Wegwandernden  gegenüber 
110  193  mehr  Geborenen  als  Verstorbenen  im  gleichen 
Zeiträume,  weiter  dann  die  Bukowina  mit  13  019  von 
1870 — 1880  Zu-  und  784  im  Jahrzehnt  1881  — 1890  Wegwan- 
dernden und  Salzburg  mit  1 I 760  1870 — 1890  Zuwandernden. 
Negativ  wirkt  die  Wanderbewegung  in  Böhmen,  aus  dem 
in  den  Jahren  1870 — 1890  bei  einer  natürlichen  Volksver- 
mehrung  von  1 074  241  367  271  Personen  mehr  aus-  als  ein- 
wanderten,  eine  Zahl,  die  fast  ganz  der  nach  Niederöster- 
reich gerichteten  Einwanderung  entspricht,  was  nicht  ein 
Zufall,  sondern  zum  nicht  geringen  Theile  auf  den  Umstand 
zurückzuführen  ist,  dass  die  Böhmen  verlassenden  Ein- 
wohner sich  zum  weitaus  grössten  Theile  nach  den  In- 
dustrieorten Niederösterreichs,  vor  allem  nach  Wien  und 
seinen  Vororten,  wenden.  Es  wandelten  in  den  Jahren 
1870 — 1890  mehr  aus  als  ein  aus  Mähren  137  572,  aus 
Galizien  63  395,  aus  Tirol  und  Vorarlberg  37  748,  aus  Krain 
36  652,  aus  Dalmatien  19  840,,  aus  Schlesien  14  125,  aus 
Kärnthen  6 922,  aus  dem  Küstenlande  4 695,  aus  Oberöster- 
reich 3 006  und  aus  ganz  Cisleithanien  269  322  Personen. 

1 Dass  diese  Zahlen  nur  einen  Theil  der  Wanderbewegung 
zum  Ausdruck  bringen,  ergiebt  schon  der  Vergleich  aus 
den  Einzelzahlen  und  der  „Summe“  für  Cisleithanien. 

Legt  man  der  Wanderungsstatistik  die  Angaben  für 
die  autonomen  Städte  und  die  Bezirkshauptmannschaften 
zu  Grunde,  so  erhält  man  beispielsweise  statt  170  829  nach 
Niederösterreich  Einwandernden  192  098,  denen  21  269  Weg- 
wandernde gegenüberstehen,  aus  Oberösterreich  wären 
sodann  nicht  I 326,  sondern  1 7 938  weggewandert,  während 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  36. 


freilich  16  612  zuwanderten.  Die  Auswanderung  aus  Böhmen 
wäre  sodann  nicht  mit  191  378,  sondern  mit  283  260  zu  be- 
ziffern, während  91  882  Personen  einwanderten.  Mähren 
hätte  nicht  53  421  sondern  94  482  wegwandernde  und  41  061 
zu  wandernde,  Schlesien  nicht  6 927  sondern  t8  900  weg- 
und  1 1 973  einwandernde  und  die  Bukowina  nicht  784  sondern 
9 351  wegwandernde  und  8 567  zuwandernde  Personen  im 
Zeiträume  1880 — 1890  zu  verzeichnen.  Die  Zahlen,  welche 
aus  dem  Vergleiche  der  Angaben  über  die  Bewegung  der 
Bevölkerung  und  den  Differenzen  der  Volkszählungsergeb- 
nisse gewonnen  werden,  können  die  sich  gegenseitig  auf- 
hebenden Zu-  und  Wegwanderungen  nicht  zum  Ausdruck 
bringen,  sondern  nur  die  Differenz  derselben,  sie  bringen 
ferner  die  Wanderungen  innerhalb  der  einzelnen  Kron- 
länder  und  Bezirkshauptmannschaften,  welche  wohl  noch 
grössere  Massen  in  Bewegung  setzen,  als  die  aus  und  in 
die  Kronländer  nicht  zum  Ausdrucke.  So  wie  die  Wande- 
rungen innerhalb  Europas  viel  bedeutender  sind,  als  die 
zwischen  Europa  und  den  anderen  Welttheilen,  so  ist  die 
Wanderung  innerhalb  einzelner  Provinzen  grösser  als  die 
durch  die  Wanderung  verursachten  Gewinne  und  Verluste 
der  Provinz  oder  Bezirkshauptmannschaft,  diese  als  populatio- 
nistische  Einheit  genommen.  Ein  vollständiges  Bild  der 
Wanderbewegung  könnte  demnach  blos  durch  die  Zu- 
sammenfassung der  Wanderungsstatistik  aller  einzelner 
Orte  u.  s.  w.  bewirkt  werden.  Kommt  auch  die  Wande- 
rungsstatistik Cisleithaniens  dem  ja  meist  unerreichbaren 
statistischen  Ideale  nicht  allzunahe,  so  sind  die  Ergebnisse 
derselben  doch  in  höchstem  Grade  dankenswerthe  speziell 
für  den  Sozialstatistiker,  leider  aber  fehlen  die  zu  ihrem 
Verständniss  erforderlichen  sonstigen  Erhebungen  in  Oester- 
reich fast  vollständig,  so  dass  die  Statistik  der  Wander- 
bewegung in  der  trostlosen  sozialstatistischen  österreichi- 
schen Wüste  wie  eine  Oase  auffällt. 

Die  Bedeutung  der  Wanderbewegung  für  die  Be- 
völkerungsbewegung wird  durch  die  folgenden  sich  auf 
1881-1890  beziehenden  Zahlen  beleuchtet.  Die  Zahlen  für 
1870 — 1880  theilen  wir  in  Klammern  mit.  Niederösterreich 
hatte  eine  Bevölkerungszunahme  von  14,21 '70u  (15,52n/on), 
hiervon  entfielen  7,33  %n  (8,88  %0)  auf  die  Wanderbewegung 
und  6,88  %o  (6,64  %ft)  auf  die  natürliche  Bevölkerungsbe- 
wegung; die  Bukowina  hatte  bei  einer  Bevölkerungsver- 
mehrung von  13,10%,  (10,32  %nj  einen  Bevölkerungsverlust 
von  0,14°%  (p  2,31  %0)  durch  Wanderbewegung  und  einen 
natürlichen  Bevölkerungszuwachs  von  13,24°%  (8,01 
Galiziens  Bevölkerungszunahme  von  10,79  %n  (8,59  %0)  ist 
auf  den  Geburtenüberschuss  von  1 1 ,92  %0  (8,52  %„)  zurück- 
zuführen, das  gleiche  gilt  von  Dalmatiens  Bevölkerungs- 
zunahme von  1 0,77  °/00  (3,81  %0),  wo  der  natürlichen  Ver- 
mehrung um  13,68°%  (6,99  %o)  ein  Verlust  durch  Aus- 
wanderung von  2,91  °/nn  (3,18  °/on)  gegenübersteht.  Aehn- 
liche  Verhältnisse  haben  Böhmen,  Mähren,  Schlesien,  Ober- 
österreich, Kärnthen  und  Krain.  Die  Bevölkerung  nahm 
in  Promilles  zu  in  Böhmen  um  5,16  (7,43),  in  Mähren  um 
5,76  (6,13),  Schlesien  7,11  (9,23),  Oberösterreich  3,46  (2,84), 
Kärnthen  3,52  (2,97),  Krain  3,68  (2,91).  Der  Geburtenüber- 
schuss betrug  in  Promilles  in  Böhmen  8,60  (10,54),  in 
Mähren  8,24  (9,92),  in  Schlesien  8,33  (10,50),  in  Oberöster- 
reich 3,63  (3,05),  in  Kärnthen  5,41  (3,06),  in  Krain  7,96  (6,04), 
dagegen  überstieg  die  Auswanderung  die  Einwanderung  in 
Promille  der  Gesammtbevölkerung  in  Böhmen  3,44  (3,11), 
Mähren  2,48(3,79),  Schlesien  1,22  (1,27),  Oberösterreich  0,17 
(0,21),  Kärnthen  1,89  (0,09),  Krain  4,28  (3,13).  Zunahme 
durch  natürliche  Bevölkerungsvermehrung  u n d durch 
Wanderbewegung  hatten  zu  verzeichnen  Salzburg  und 
Steiermark.  Ersteres  eine  Gesammtzunahme  von  6,08  %0 
(6,18%,,)  und  zwar  durch  die  natürliche  Volksvermehrung 
um  2,33  %„  (2.85 "%)  und  durch  Wanderbewegung  um  I 


3,23  %(l  (3,85  °/00).  Oie  Küstenlande  nahmen  1870—1880  um 
7),3%0  und  zwar  4,66  %(l  durch  natürliche  Vermehrung  und 
0,58  %„  durch  Wanderbewegung  zu,  im  Jahrzehnt  1881  bis 
1890  galt  das  gleiche  Verhältnis!  nur  für  Triest,  dessen  Be- 
völkerungszunahme von  8,72°%,  die  sich  aus  3,07  °/00  auf 
natürliche  Bevölkerungszunahme  und  5,65  %„  auf  Wander- 
bewegung zurückzuführende  Bevölkerungszunahme  zu- 
sammensetzen. Görz  und  Gradisca  nahmen  um  4,37  °/on  zu, 
hier  stehen  1 0,37  %,,  auf  natürliche  Bevölkerungsvermehrung 
zurückzuführende  Bevölkerungszunahme  6°%  Verlust  durch 
Wanderbewegung  gegenüber,  das  gleiche  gilt  von  Istrien, 
dessen  Bevölkerungszunahme  von  8,77  %o  einem  Gewinne 
von  10,02  %0  durch  natürliche  Volks  Vermehrung  und  einem 
Verluste  von  1,25  %n  durch  Wanderbewegung  entspricht. 
Die  Bevölkerung  Tirols  und  Vorarlbergs  vermehrte  sich 
von  1870 — 1880  um  2,74  "/0(),  der  Zunahme  der  Bevölkerung 
durch  Geburtenüberschuss  von  4,15  %0  stand  ein  durch 
die  Wanderbewegung  verursachter  Verlust  von  1,41  %„ 
gegenüber,  im  Jahrzehnt  1881—1890  vermehrte  sich  die 


im 

Bevölkerung  Tirols  um 


8 1°/, 

1 /00> 

von  3,42  %0  ein 
Verlust  von  2,48  %i 


0,94  %n,  die  Vorarlbergs 


Tirol  stand  der  natürlichen  Volksvermehrung 
durch  die  Wanderbewegung  verursachter 
gegenüber,  während  die  Bevöl- 
kerungszunahme Vorarlbergs  aus  4,32  %„  Geburtsüber- 
schüssen  und  3,78  "/oo  positiven  Wanderbewegungsresultaten 
zu  erklären  ist. 

Aus  diesen  Zahlen  geht  zweierlei  hervor:  dass  die 
Volksvermehrung  auch  in  Cisleithanien  in  überaus  starkem 
Masse  von  der  Wanderbewegung  beeinflusst  wird  und  dass 
eine  bestimmte  Richtung  der  Wanderbewegung  wie  z.  B.  in 
Preussen  von  Osten  nach  Westen  nicht  .stattfindet,  ganz  im 
Gegentheile  liegt  der  Hauptattraktionspunkt  der  Wander- 
bewegung an  der  östlichen  Grenze  des  Reiches  in  Nieder- 
österreich, schon  hieraus  ist  zu  folgern,  dass  die  Wander- 
bewegung in  den  Ländern  der  ungarischen  Krone  mitheran- 
gezogen  werden  muss,  um  ein  annähernd  richtiges  Bild  der 
Wanderbewegung  zu  erhalten. 

Die  gesammte  Bevölkerungsbewegung  ist  in  erheb- 
lichem Masse  auf  rein  soziale  Ursachen  zurückzuführen.  Bei 
den  Todesfällen  ist  dies  klarer  ersichtlich  wie  bei  den  Ehe- 
schliessungen,  hier  wieder  besser  als  bei  der  Geburtenzahl, 
aber  im  Vergleiche  zu  der  Wanderbewegung  erscheint  die 
übrige  Bevölkerungsbewegung  nur  sekundär  durch  soziale 
Verhältnisse  verursacht. 

Wenn  wir  von  Russland  und  der  Türkei  absehen,  wird 
in  keinem  anderen  europäischen  Staate  die  Zurückführung 
der  Wanderbewegung  auf  ihre  treibenden  Momente  schwerer 
erscheinen,  als  in  Oesterreich.  Die  grosse  Zahl  der  Natio- 
nalitäten und  die  Mannigfaltigkeit  der  Bodenkonfiguration 
scheinen  schon  allein  die  Erklärung  aus  sozialen  Vorgängen 
zu  erschweren,  so  dass  von  anderen  sekundären  Ursachen 
abgesehen  werden  kann.  Die  Zurückführung  der  Wander- 
bewegung auf  soziale  Thatsachen  wird  noch  besonders  er- 
schwert durch  den  Umstand,  dass  Oesterreich  keine  Berufs- 
statistik besitzt,  welche  den  Vergleich  mit  der  relativ 
besten,  der  deutschen  Berufszählung  vom  5.  Juni  1882  aus- 
halten  könnte. 

Die  Betrachtung  der  Wanderbewegung  wird  durch 
eine  sehr  gute  kartographische  Darstellung  erleichtert, 
welche  dem  Aufsatze  Dr.  Rauchberg’s  angefügt  ist.  Wir 
ersehen  aus  derselben,  dass  grosse  Gebiete  einheitlichen 
Charakter  tragen,  so  erscheinen  Böhmen,  abgesehen  von 
den  an  Sachsen  grenzenden  durch  Bergbau  und  ausser- 
ordentlich entwickelte  Industrie  ausgezeichneten  Bezirken, 
dann  Mähren  und  der  westliche  Theil  von  Schlesien  als  ein 
einheitliches  Gebiet  der  Bevölkerungsabnahme  durch  Weg- 
wanderung, nur  die  hochindustriellen  Orte  Prag,  Brünn, 


No.  36. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


441 


Olmiitz,  I roppau  mit  ihren  Umgebungen  und  ein  weiterer 
mährischer  Bezirk  und  die  Stadt  Ung.  Hradisch  zeigen 
die  entgegengesetzte  Bewegung.  Die  deutschen  Böhmer- 
waldbezirke und  die  südböhmischen  Gebiete  leiden  ebenso 
unter  der  W egwanderung  wie  die  reintschechischen  Be- 
zirke. Waldwirtschaft,  Hausindustrie,  Rübenzuckerindustrie 
und  ganz  vornehmlich  Latifundienbesitz  charakterisiren 
diese  Gegenden  ökonomisch.  Hochindustriell  sind  hingegen 
die  an  das  Königreich  Sachsen  grenzenden  Bezirke  und  die 
Umgebung  von  Prag,  Olmiitz,  Troppau,  doch  leiden  auch 
einige  industrielle  Bezirke  Schlesiens  unter  der  Abnahme 
der  Bevölkerung  durch  Wegwanderung.  Das  ganze  Gebiet 
südlich  der  Drau  mit  Einschluss  einiger  nordwestlich  an- 
grenzenden Bezirke,  charakterisirt  durch  den  Karst,  spär- 
liche Landwirthschaft  und  Mangel  von  Industrie  ist  auch 
ein  fast  einheitliches  Gebiet  mit  durch  die  Wanderbewe- 
gung verursachten  Bevölkerungsverlusten.  Bios  die  Städte 
Klagenfurt,  Marburg,  Laibach,  Cilli,  Görz  und  die  durch 
starken  Seeverkehr  ausgezeichneten  Orte  Triest,  Pola  und 
Zara  mit  ihren  Bezirken  machen  eine  Ausnahme.  Zwischen 
diesen  beiden  Gebieten  liegen  die  Provinzen  Nieder-  und 
Oberösterreich,  Salzburg  und  Steiermark,  Grossindustrie, 
Bergbau  und  Hüttenwesen  einerseits,  Alpenwirthschaft 
andrerseits  geben  diesen  Bezirken  ihre  ökonomische  Signa- 
tur. Hier  überwiegt  die  Zuwanderung,  nur  die  an  die 
nördliche  und  südliche  Zone  wie  an  Tirol  grenzenden  Be- 
zirke sind  Abwanderungsgebiete.  Im  äussersten  Westen 
der  Monarchie,  in  Tirol  und  Vorarlberg,  findet  sich  wieder 
die  Wegwanderung  vorherrschend,  Ausnahmen  machen  die 
Stickereibezirke  Vorarlbergs,  die  Städte  Bozen,  Trient, 
Rovereto  und  die  Bezirke  Innsbruck  und  Kufstein,  Meran 
und  Riva,  in  den  beiden  ersteren  dürfte  die  sich  ent- 
wickelnde Grossindustrie  wirken,  in  den  beiden  letzteren 
die  Winterkurorte  Riva  und  Meran,  eine  Wirkung  die  viel- 
leicht bei  einer  Aufnahme  im  Sommer  nicht  zum  Ausdruck 
gekommen  wäre. 

Grosse  Gebiete  von  durch  Wanderbewegung  nicht 
beeinflusster  Bevölkerung  haben  die  vornehmlich  durch 
Landwirthschaftsbetrieb  wirtschaftlich  charakterisirten 
Länder  Galizien  und  die  Bukowina  aufzuweisen.  Durch 
Wanderbewegung  verursachte  Bevölkerungszunahme  weisen 
die  meisten  holzreichen  östlichen  Karpathenbezirke,  welche 
gleichzeitig  die  dünnstbevölkerten  Gegenden  der  Monarchie 
sind,  die  Bezirke  der  Landeshauptstädte  Krakau,  Lemberg 
und  Czernowitz  und  einige  wenige  andere  auf.  In  den 
westlichen  Bezirken  mit  vorzugsweise  polnischer  Bevölke- 
rung kommt  die  durch  die  Wanderung  beeinflusste  Bevöl- 
kerungsabnahme stärker  zum  Ausdruck  als  in  den  östlichen 
von  Ruthenen  bewohnten  Gegenden. 

Fehlt  auch  Oesterreich  eine  eindringende  Wirth- 
schafts-  und  Sozialstatistik,  so  kann  doch  schon  aus  der 
kartographischen  Darstellung  Dr.  Rauchberg’s  der  Schluss 
gezogen  werden,  dass  die  nationale  Zusammensetzung  der 
Bevölkerung  keinen  Ausschlag  giebt  für  die  Entwicklung 
der  Wanderbewegung;  sowohl  in  Böhmen,  Mähren,  Schle- 
sien und  den  angrenzenden  Bezirken  Galiziens  sehen  wir 
eine  fast  allgemeine  Bevölkerungsabnahme,  und  zwar  in 
gleicherweise  in  deutschen,  wie  in  tschechischen  und  pol- 
nischen Bezirken,  die  gleiche  Erscheinung  finden  wir  in 
dem  Gebiete  südlich  der  Drau,  wo  Deutsche,  Italiener,  Slo- 
venen  und  Kroaten  das  Land  bewohnen,  auch  Tirol  mit 
seiner  deutschen  und  italienischen  Bevölkerung  berechtigt 
uns  nicht,  Beziehungen  zwischen  Nationalität  und  Wander- 
bewegung festzustellen.  Auch  die  ruthenischen  und  rumä- 
nischen Bezirke  Galiziens  und  der  Bukowina  dürften  kaum 
auf  die  Einwirkung  der  Nationalität  auf  die  Wander- 
bewegung zu  schliessen  berechtigen,  denn  gerade  hier 
halten  sich  die  Gebiete  stagnirender  Bevölkerung  mit  denen 


durch  die  Wanderbewegung  ab-  und  zunehmenden  Bezirken 
fast  die  Waage. 

Die.  rein  geographischen  Momente  sind  auch  weniger 
bedeutungsvoll  als  man  gemeinhin  annimmt.  Haben  doch 
die  Sudeten  starke  Bevölkerungszunahme,  der  Böhmerwald 
dagegen  starke  Bevölkerungsabnahme,  in  den  österreichi- 
schen Ostalpen  haben  wir  starke  Bevölkerungszunahme, 
in  den  österreichischen  Westalpen  starke  Bevölkerungs- 
abnahme, das  gleiche  Bild  zeigen  die  galizischen  Kar- 
pathenbezirke, die  östlichen  haben  Bevölkerungszunahme, 
die  westlichen  Bevölkerungsabnahme.  Selbst  im  Karst- 
gebiete haben  wir  vereinzelte  Gebiete  mit  zunehmender 
Bevölkerung.  Auch  Hochland  und  Tiefland,  Flussströme 
und  -Meeresküsten  weisen  verschiedene  Wirkungen  der 
Wanderbewegung  auf,  so  dass  man  wohl  behaupten  kann, 
dass  die  geographischen  Momente  für  die  Besiedelung 
eines  Landes  ausschlaggebend  sind,  nicht  aber  für  die 
Wanderbewegung  in  einem  besiedelten  Lande. 

Wenn  wir  nun  den  Einfluss  der  Nationalitäten  und 
der  geographischen  Verhältnisse  aut  die  Wanderbewegung 
eliminiren  können  oder  ihm  nur  nebensächliche  Bedeutung 
zuzumessen  haben,  so  bleibt  als  massgebender  Faktor  nur 
das  ökonomische  bezw.  soziale  Moment  übrig.  In  Oester- 
reich, einem  Lande,  in  dem  die  Landwirthschaft  in  den 
Hintergrund  zu  treten  beginnt  und  die  Grossindustrie  sich 
rasch  entwickelt,  sehen  wir  Städte  und  Industriebezirke 
durch  Zuwanderung  rasch  wachsen,  während  in  lancl- 
wirthschaftlichen  Bezirken  die  Bevölkerung  entsprechend 
abnimmt. 

Da  wir  nur  eine  allgemeine  Kenntniss  der  wirth- 
schaftlichen  Zustände  der  Bevölkerung  besitzen,  bietet  die 
Statistik  der  Wanderbewegung  Anlass  zu  Rückschlüssen 
auf  die  sozialen  Verhältnisse,  das  schwierigere,  wichtigere 
und  logischere:  die  Erklärung  der  Wanderbewegung  durch 
die  sich  ändernden  sozialen  Zustände,  ist  heute  fast  ganz 
unmöglich.  Aber  auch  diese  Rückschlüsse  können  be- 
deutungsvoll sein;  so  wenn  wir  z.  B.  konstatiren  können, 
dass  die  Bezirke  des  nordwestlichen  Böhmens,  welche  durch 
ihre  Hungerlöhne  bekannt  sind,  die  Arbeiter  in  den  böh- 
mischen Latifundien  noch  stark  zur  Einwanderung  reizen, 
so  lehrt  uns  dies,  dass  die  landwirthschaftlichen  Arbeiter 
auf  den  Gütern  des  böhmischen  Grossgrundbesitzes  im 
höchsten  Grade  verelendet  sein  müssen. 

Die  Statistik  der  österreichischen  Wanderbewegung 
zeigt,  dass  die  inneren  Wanderungen  viel  grössere  Massen 
in  Bewegung  setzen,  als  die  österreichische  Auswanderung. 
Während  aber  der  Auswanderung  von  der  Verwaltung, 
der  Gesetzgebung  und  der  Wissenschaft  die  grösste  Auf- 
merksamkeit geschenkt  wird,  lässt  man  die  mindestens 
gleich  beachtenswerthen  Symptome  des  Uebelbefindens 
der  Bevölkerung,  der  zum  Bewusstsein  gekommenen  Un- 
zufriedenheit, welche  in  den  sozialen  Wanderungen  zum 
Ausdruck  kommt,  wenn  wir  von  den  im  Interesse  des 
preussischen  Grossgrundbesitzes  geplanten  Massregeln 
gegen  die  Sachsenwanderung  absehen,  fast  gänzlich  un- 
berücksichtigt. 

Je  zufriedener  eine  Bevölkerung  ist,  desto  sesshafter 
ist  sie  in  der  Regel,  je  unzufriedener  sie  ist,  desto  häufiger 
ist  sie,  falls  sie  nicht  zu  vollkommener  Energielosigkeit 
und  Stumpfheit  herabgedrückt  ist,  gezwungen,  ihren  Wohn- 
ort zu  wechseln,  und  unter  diesem  Gesichtspunkt  ist  es 
gleich,  ob  sie  nach  Australien  oder  von  einer  Provinz  in 
die  andere  des  gleichen  Landes  wandert. 


442 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  36. 


Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
statistik. 

Die  Landwirthschaftskammern  in  Preussen. 

Seit  kurzer  Frist  treten  die  seit  längerer  Zeit  nur  in 
der  einschlägigen  Litteratur  vertretenen  Reformtendenzen 
auf  dem  Gebiete  der  Interessenvertretungen  stärker  in  den 
Vordergrund.  Baden  hat  — wie  hier  mehrfach  erwähnt  — 
Gewerbekammern  neu  geschaffen,  die  auch  für  das  ganze 
Reich  projektirt  werden.  In  mehreren  Partikularstaaten,  so 
namentlich  im  Königreich  Sachsen,  nimmt  man  einen  An- 
lauf zur  Reorganisirung  der  Handelskammern;  auch  in 
Preussen  schweben  darüber  Erhebungen.  Soeben  melden 
auch  die  Tagesblätter,  dass  im  preussischen  Ministerium 
für  Landwirthschaft  eine  Konferenz  stattgefunden  habe,  der 
ein  Gesetzesvorschlag  behufs  Bildung  von  Landwirthschafts- 
kammern vorgelegt  wurde. 

Bevor  wir  auf  die  bekannt  gegebenen  Einzelheiten 
dieses  Entwurfes  eingehen,  wollen  wir  einen  Blick  auf 
seine  Vorgeschichte  werfen.  Charakterisirt  wird  diese  da- 
durch, dass  nicht  die  Interessenten  selbst  sondern  Schrift- 
steller. welche  sich  mit  jenen  Kontroversen  beschäftigten, 
in  die  Bewegung  für  eine  den  Handelskammern  analoge 
Organisation  der  Landwirthe  eintraten.  Die  einzelnen 
Phasen  dieser  Bewegung  zu  verfolgen  ist  hier  nicht  der 
Ort.  In  Folge  einer  Eingabe  schlesischer  landwirthschaft- 
licher  Vereine  berieth  das  Landes-Oekonomiekollegium  über 
die  Frage,  gelangte  jedoch  nicht  zu  einem  definitiven  Re- 
sultate. Es  wurden  Gutachten  seitens  der  Provinzialvereine 
eingefordert,  welche,  wenn  die  Nachrichten  der  Presse  hier- 
über zutreffend  sind,  in  der  Mehrzahl  eine  ungünstige  Stel- 
lung dem  Projekte  gegenüber  einnahmen.  Die  Resolution 
des  Centralvereins  für  Posen  liegt  uns  vor  und  lautet 
folgendermassen : 

„Eine  Erhöhung  der  Geldmittel  der  landwirthschaft- 
lichen  Vereine  ist  im  Interesse  der  Wirksamkeit  zwar 
wünschenswerth;  sie  wird  aber  die  Verleihung  eines  be- 
schränkten Besteuerungsrechtes  an  die  zu  errichtenden 
Landwirthschaftskammern  nicht  überflüssig  machen.  Da- 
gegen steht  zu  befürchten,  dass  die  freie  Vereinsthätigkeit 
durch  Llmgestaltung  der  Vereine  zu  behördlichen  Instituten 
beeinträchtigt  wird.  Endlich  kann  in  Folge  dieser  Steuer- 
pflichtigkeit  das  Ansehen  der  landwirtschaftlichen  Vereine 
leiden,  indem  denselben  auch  unerwünschte  Elemente  bei- 
treten werden.  Aus  diesen  Gründen  und  mit  Rücksicht 
auf  die  eigenartigen  Verhältnisse  der  Provinz  kann  die  vor- 
geschlagene Organisation  nicht  befürwortet  werden.“ 

Mit  solchem  Gutachten  hat  allerdings  eine  sachlich 
unbefangene  Kritik  leichtes  Spiel.  Auf  die  Kostenfrage 
kommen  wir  sofort  bei  Besprechung  des  Entwurfs  der  Re- 
gierung zurück.  Dagegen  müssen  wir  einige  Worte  über 
die  Befürchtungen  wegen  Aufgebens  der  „freien  Organi- 
sation“ verlieren;  denn  dieses  Sticlrwort  wird  in  Ermange- 
lung besserer  Waffen  gegen  die  Reorganisation  benutzt  und 
findet  noch  leider  allzuviele  Gläubige. 

Nun  sind  aber  die  landwirthschaftlichen  Vereine, 
welche  jetzt  nach  dem  Regierungsprojekte  quasi  Behörden- 
qualität erlangen  sollen,  eigentlich  mehr  dem  Namen  nach 
„freie“  Vereine.  Allerdings  steht  es  jedem  Landwirthe  frei 
dem  Vereine  beizutreten  bezw.  ihn  zu  verlassen;  aber 
schon  in  1885  wurden  im  Gebiete  der  preussischen  Monar- 
chie nicht  weniger  als  1810  derartige  Vereine  gezählt, 
welche  zumeist  centralisirt  waren.  Eine  neuere  Angabe 
liegt  uns  leider  nicht  vor;  zweifellos  haben  sich  jedoch 
sowohl  die  Zahl  der  Vereine  als  ihrer  Mitglieder  seither 
vermehrt,  so  dass  in  ihnen  jedenfalls  ein  sehr  erheblicher 
Theil  der  Interessenten  inkorporirt  ist.  Die  Vortheile, 
welche  die  Zugehörigkeit  zu  einem  solchen  Vereine  gewährt, 
hat  dieses  Ergebniss  in  erster  Reihe  zu  Stande  gebracht. 
Die  Regierung  ihrerseits  unterstützt  sie  nicht  blos  durch 
namhafte  Subventionen,  sie  entsendet  auch  zu  den  Be- 
rathungen der  Centralvereine  Kommissare,  welche  lebhaft 
sich  an  den  Debatten  betheiligen.  Es  existirt  seit  Langem 
schon  ein  einheitliches  Schema  für  Berichte  an  das  land- 


wirthschaftliche  Ministerium,  das  fleissig  benutzt  wird. 
Endlich  — und  das  ist  der  entscheidende  Punkt!  — stehen  die 
Centralvereine  durch  ihre  Delegirten  in  unmittelbarer  Ver- 
bindung mit  dem  Landes-Oekonomiekollegium,  einem  er- 
weiterten Ministerrathe,  der  schon  vor  Schaffung  des 
Ministeriums  für  Landwirthschaft  (1848)  ins  Leben  trat 
(1842).  So  kann  man  nur  mit  einem  Anfluge  von  Ironie 
diese  Vereinsbildung  eine  „freie“  nennen  und  die  Verfechter 
des  ökonomischen  Liberalismus  hauen  gewaltig  daneben, 
wenn  sie  die  Blüthe  dieser  „freien  Assoziation“  beständig 
gegen  die  „offizielle“  ausspielen.  Der  gleiche  Einwand  ist 
übrigens  schon  bei  Berathung  des  Gesetzes  über  die 
Handelskammern  von  1870  versucht  worden  und  doch  zeigt 
gerade  die  Erfahrung,  dass  trotz  des  bekannten  Konfliktes 
mit  der  Regierung,  welcher  eine  Zeit  lang  die  Thätigkeit 
der  Kammern  lähmte  und  einige  sogar  zur  Auflösung  trieb, 
„freie“  Vereine  durchaus  nicht  an  ihre  Stelle  getreten  sind, 
wie  prophezeit  wurde. 

Wie  wir  sehen,  wird  die  Vorlage  der  Regierung,  falls 
sie  Gesetz  werden  sollte,  wenig  an  dem  bestehenden  Zu- 
stande ändern.  Allein  sie  bringt  auch  eine  Reihe  von  Ver- 
besserungen, die  gerade  aus  den  Auslassungen  des  oben 
mitgetheilten  Posener  Votums  erhellen. 

Dadurch  dass  jeder  Berufsgenosse  fortan  kraft  dieser 
Eigenschaft  das  Wahlrecht  zu  den  Kammern  erhält,  wird 
unseres  Erachtens  das  Ansehen  derselben  in  keiner  Weise 
leiden.  Gerade  im  Gegentheil  dürfen  sie  erst  dann  die 
Autorität  voll  und  ganz  in  Anspruch  nehmen,  welche  der 
Vertretung  aller  Interessenten  gebührt.  Die  offenkundigen 
Missstände,  zu  welchen  mitunter  das  Treiben  dieser  „freien“ 
Vereine  geführt  hat  — wir  wollen  nur  Nichtaufnahme  poli- 
tischer Gegner,  Wahlagitation  etc.  nennen  — werden  bei 
einer  „offiziellen“  Organisation  schwer  oder  gar  nicht  mög- 
lich sein.  Jedenfalls  ist  Remedur  dagegen  leichter  vor- 
handen. „Unerwünschte  Elemente“  mögen  dem  oder  jenem 
nicht  passen;  allein  ihre  Nützlichkeit  wird  sich  bald  zeigen, 
sobald  die  geschlossenen  Konventikel  einer  breiteren  Oeffent- 
lichkeit  Raum  geben.  Es  steckt  in  dem  Volke  und  natür- 
lich auch  in  diesem  Berufszweige  eine  Fülle  latenter  Fähig- 
keiten, welche  es  gilt  für  die  Allgemeinheit  nutzbar  zu 
machen. 

Der  Ausschuss  des  Landes-Oekonomiekollegiums  hat 
als  Zweck  der  neuen  Organisation  den  folgenden  be- 
zeichnet: 

„Unter  Landwirthschaftskammer  ist  eine  solche  staat- 
lich anerkannte  Gesammtvertretung  der  Landwirthschaft 
eines  bestimmten  Bezirkes  zu  verstehen,  welche  aus  Wahlen 
hervorgegangen  und  dazu  berufen  ist,  die  Gesammtinter- 
essen  der  Landwirthschaft  ihres  Bezirkes  zu  vertreten  und 
durch  zweckentsprechende  Einrichtungen  zu  fördern,  auch 
befugt  ist  die  Berufsgenossen  innerhalb  der  festgestellten 
Grenze  zur  Deckung  der  aus  ihrer  Thätigkeit  entspringen- 
den Kosten  im  Wege  der  Besteuerung  heranzuziehen.“ 

Diese  Erklärung  lässt  freilich  Alles  im  Dunkeln,  was 
die  Kammer  an  Aufgaben  zu  bewältigen  haben  wird. 
Allerdings  wird  sich  das  schwer  durch  eine  Formel  aus- 
driicken  lassen  und  man  darf  annehmen,  die  neue  Organi- 
sation wird  zunächst  die  Funktionen  der  alten  übernehmen, 
denen  sich  je  nach  ihrer  Bewährung  andere  weitgreifendere 
anreihen  dürften. 

Bezüglich  der  Kosten  wurde  beschlossen,  den  Kam- 
mern ein  Recht  auf  Zuschläge  zur  Grundsteuer  einzu- 
räumen. Diese  dürfen  jedoch  ohne  Spezialgenehmigung  des 
Ministers  5 pCt.  des  Gesammtaufkommens  aus  dieser  Steuer 
nicht  übersteigen.  Wer  weniger  wie  10  M.  jährlich  Grund- 
steuer zahlt,  ist  von  dem  Zuschläge  befreit. 

Die  Heranziehung  der  Kommittenten,  wrelche  bisher 
aus  diesem  oder  jenem  Grunde  den  Vereinen  fern  ge- 
blieben sind,  darf  unseres  Erachtens  nur  gebilligt  werden. 
Die  Institution  ist  für  alle  Berufsgenossen  da  und  hat  zu- 
dem in  dem  Besteuerungsrechte  für  die  Handelskammern 
ein  Präcedens.  Fraglich  ist  uns  nur,  ob  die  Verknüpfung 
mit  der  Grundsteuer  einen  richtigen  Massstab  abgiebt.  Wir 
haben  diese  selbst  der  Einfachheit  halber  früher  empfohlen; 
allein  damals  war  der  Plan  MiquePs  noch  nicht  bekannt, 


No.  36. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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welcher  bekanntlich  alle  Realsteuern  den  Selbstverwaltungs- 
körpern überweisen  will.  Zudem  ist  die  Grundsteuer  no- 
torisch ein  höchst  unsicherer  Massstab  für  den  Reinertrags- 
werth, der  doch  rationeller  Weise  zu  Grunde  gelegt  werden 
müsste,  zumal  ein  Dreiklassen- Wahlsystem  beabsichtigt  zu 
sein  scheint.  So  gelangen  wir  zu  dem  Vorschläge,  ent- 
weder die  Einkommen-  (bezw.  inkl.  der  projektirten  Ver- 
mögenssteuer) oder  das  gesammte  Steueraufkommen  aus 
direkten  Steuern  den  Zuschlägen  zu  Grunde  zu  legen.  Die 
Grundsteuer  ist  schon  wegen  des  verschiedenen  Massstabes 
der  Belastung  hierfür  in  keiner  Weise  geeignet. 

Ueberhaupt  wird  es  sich  vorher  kaum  feststellen 
lassen,  wie  hoch  sich  das  Erforderniss  für  die  Kammern 
stellen  wird.  Der  jährliche  Beitrag  für  die  grösseren  Ver- 
eine beläuft  sich  heute  auf  6 — 9 M.,  für  die  kleinen,  denen 
viele  Bauern  angehören,  auf  1 '/2  - 6 M.  Durch  den  gesetz- 
lich statuirten  Beitragszwang  werden  den  Kammern  jeden- 
falls grössere  Geldmittel  zugeführt,  während  aut  die  bis- 
herige ehrenamtliche  Thätigkeit  in  keiner  Weise  verzichtet 
zu  werden  braucht.  Andererseits  steigen  selbstredend  mit 
der  Erweiterung  der  Aufgaben  auch  die  Kosten  — allein 
diese  machen  sich  in  der  Regel  indirekt  durch  die  Vor- 
theile mehr  wie  bezahlt  Die  Subventionen  werden  den 
Kammern  wohl  verbleiben  aber  vielleicht  rationeller  ver- 
theilt werden. 

Ueber  das  Wahlrecht  entnehmen  wir  derselben  Quelle 
die  Mittheilung,  dass  solches  für  jede  Kammer  durch  Statut 
geregelt  werden  soll.  Als  Grundzüge,  die  wohl  einen  Nor- 
mativcharakter besitzen,  wird  hinzugefügt,  die  Wahl  soll 
direkt  sein,  jeder  Berechtigte  muss  mindestens  eine  Stimme 
führen  und  Niemand  darf  über  L/;i  aller  Stimmen  auf  sich 
vereinigen.  Diese  letztere  Bestimmung  scheint  auf  das 
Dreiklassen  - Wahlsystem  hinzudeuten.  Denn  das  kumu- 
lative Wahlverfahren,  das  unseres  Erachtens  hier  den  Vor- 
zug verdiente,  wird  wohl  wegen  seiner  Neuheit,  zum  Theil 
auch  seiner  Komplizirtheit  halber  nicht  beliebt  werden. 

Nur  diese  spärlichen  Informationen  vermochten  wir 
über  den  Entwurf  zu  sammeln,  an  die  unsere  Kritik  an- 
knüpfte. Sobald  er  im  Ganzen  publizirt  sein  wird,  — was 
hoffentlich  nach  der  erfreulichen  neuen  Praxis  der  Regie- 
rung in  Kürze  erfolgt  — , wird  es  an  der  Zeit  sein,  die  viel- 
leicht noch  wichtigeren  Details  einer  Besprechung  zu  unter- 
ziehen. So  namentlich  die  Frage  einer  eventuellen  Ver- 
tretung der  Landarbeiter  u.  A.  m. 

Eines  aber  muss  vorab  betont  werden:  Hat  sich  in 

dem  Entwurf  die  Regierung  nicht  gesetzlich  verpflichtet, 
vor  allen  bezüglichen  Massnahmen  die  Kammern  zu  be- 
fragen, so  ist  die  ganze  Reform  eine  ziemlich  werthlose 
Spielerei,  die  man  lieber  unterlassen  sollte.  Ebenso  bedarf 
die  Einfügung  der  Kammern  in  den  Behördenmechanismus 
unumgänglich  einer  gesetzlichen  Lösung.  Qui  vivra  verra! 

Aus  mancherlei  Gründen  ist  das  Gelingen  einer 
Organisation  der  Interessenvertretung  gerade  für  die  Land- 
wirthschaft  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich.  Sie  wird 
zweifellos  den  Ausgangspunkt  und  in  gewissem  Sinne  den 
Prüfstein  bilden  für  analoge  Organisationen.  Desto  rühriger 
sollten  die  anderen  Berufszweige  sein  und  alle  Kräfte  ein- 
setzen,  um  ihrerseits  zu  Organen  zu  gelangen,  welche  ihre 
Wünsche  den  gesetzgebenden  und  vollziehenden  Gewalten 
übermitteln ! 

Marburg  i.  H.  Rudolf  Grätzer. 


Zur  sozialpolitischen  Geschichte  des  rheinisch- 
westfälischen Bergbaues. 

Gelegentlich  der  Feier  des  100  jährigen  Bestehens  des 
preussischen  Oberbergamtes  zu  Dortmund  (25.  Juni  d.  Js.), 
also  der  obersten  Bergbehörde  im  wichtigsten  deutschen 
Kohlenrevier  in  Rheinland- Westfalen,  hat  der  Oberbergrath 
Reuss  im  Aufträge  des  preussischen  Handelsministers  von 
Berlepsch  eine  Festschrift  mit  folgendem  Titel  erscheinen 
lassen:  „Mittheilungen  aus  der  Geschichte  des  königlichen 

Oberbergamtes  zu  Dortmund  und  des  Niederrheinisch- 


Westfälischen  Bergbaues“  (Berlin,  W.  Ernst  & Sohn,  1892, 
114  S.  gr.  4n).  Wenn  nun  diese  Veröffentlichung  auch 
hauptsächlich  der  äusseren  wirthschaftlichen  und  Ver- 
waltungsgeschichte des  grössten  deutschen  Kohlenreviers 
gewidmet  ist,  so  hat  der  Verfasser  doch  nicht  umhin  ge- 
konnt, dann  und  wann  auch  Thatsachen  aus  der  inneren 
Entwickelung  und  der  sozialpolitischen  Geschichte  des  Be- 
zirkes zu  erwähnen.  Und  so  lückenhaft  dieselben  sind, 
lückenhafter,  als  man  sie  bei  einer  auf  Veranlassung  des 
preussischen  Ministers  von  Berlepsch  herausgegebenen 
Schrift  vermuthen  sollte,  so  sollen  sie  doch  im  Nach- 
folgenden kurz  zusammengestellt  werden,  einmal  wegen 
des  Mangels  jeder  anderweiten  Darstellung  und  wegen  der 
Wichtigkeit  der  westfälischen  Bergarbeiterzustände  für  die 
ganze  künftige  Entwickelung  der  deutschen  Industrie,  so- 
dann um  einen  weiteren  Anreiz  zur  endlichen  Herstellung 
einer  vollständigen  sozialpolitischen  Geschichte  dieses 
wichtigen  Bezirks  zu  geben.  Der  Historismus  in  der  deut- 
schen Volkswirthschaftswissenschaft  hat  seine  Jünger  merk- 
würdiger Weise  auf  dieses  Gebiet  so  gut  wie  noch  nicht 

o o 

verwiesen. 

Die  halbamtliche  Denkschrift,  die  uns  vorliegt,  lässt 
zunächst  erkennen,  dass  für  den  Anfang  der  Neuzeit  von 
der  Reformation  an  bis  in  die  Mitte  dieses  Jahrhunderts  ein 
ausserordentlich  reichliches  und  einziges  Aktenmaterial 
über  die  Bergarbeiterverhältnisse  am  Niederrhein  und  in 
Westfalen  deshalb  bei  der  Bergverwaltung  vorhanden  sein 
muss  (soweit  es  die  Zeit  nicht  zerstört  hat!),  weil  die  Berg- 
arbeiterverhältnisse bis  zum  letztgenannten  Zeitpunkt  direkt 
von  den  Behörden  geregelt  wurden,  wie  die  Bergbauange- 
legenheiten überhaupt  (Direktionsprinzip).  Die  nach  Ober- 
bergrath Reuss  „bis  in  die  neueste  Zeit  wichtige“  revidirte 
Bergordnung  für  das  Herzogthum  Cleve,  das  Fürstenthum 
und  die  Grafschaft  Mark  vom  29.  April  1766  schrieb  vor, 
dass  alle  Zechen  unter  der  Direktion  des  Bergamts  bleiben 
und  dass  die  dazu  nöthigen  Arbeiter,  Steiger  und  Schicht- 
meister von  dem  Bergamte  angenommen  werden  sollen; 
das  Bergamt  hatte  ferner  die  Stellung  der  Gedinge,  Fest- 
stellung der  Löhne,  der  Maximalarbeitszeit  u.  s.  w.  vorzu- 
nehmen. Ein  preussisches  Generalprivileg  vom  16.  Mai  1767 
befreite  sodann  die  Bergleute  nahezu  von  allen  bürgerlichen 
Lasten.  Mehrfache  Erlasse  (z.  B.  der  vom  9.  November  1780) 
zeigen,  dass  trotzdem  schon  damals  eine  grosse  Anzahl 
Missstände  vorhanden  waren,  sodass  u.  a.  dem  Truck,  der 
Löhnung  in  „Viktualien“,  sehr  energisch  entgegengetreten 
werden  musste.  Die  vorliegende  Denkschrift  beschränkt 
sich  natürlich  auf  die  Anführung  solcher  Erlasse,  sie  macht 
nicht  den  geringsten  Versuch,  Umfang,  Ursachen  und 
Wirkungen  der  Uebelstände,  gegen  welche  sich  jene 
richten,  darzustellen.  Es  wird  nur  immer  wieder  konstatirt, 
dass  die  Missstände  fortbestehen,  wie  z.  B.  aus  einem  amt- 
lichen Bericht  vom  27.  Juli  1784,  in  welchem  es  heisst,  dass 
der  Grubenhaushalt  in  den  Händen  unwissender  und  treu- 
loser Schichtmeister  gewesen  sei,  dass  die  Löhne  nicht  fixirt 
waren,  dass  sie  oft  rückständig  blieben  oder  in  Viktualien 
ausgezahlt  wurden  u.  s.  w.  Nebenher  geht  das  auch  sozial- 
politisch interessante  Bestreben  der  Behörden,  aus  dem 
aachener  Bezirk  bessere  Bergleute  und  aus  Plessen  tüchtigere 
Grubenmaurer  heranzuziehen.  Ein  Sozialforscher  hätte  so- 
dann näher  zu  ergründen,  was  der  Satz  bedeutet,  mit 
welchem  Stein  1792  die  grössere  Centralisation  der  west- 
fälischen Bergämter  befürwortet:  „Die  Austührung  solcher 

Einrichtungen,  wobey  es  mit  auf  den  Willen  der  Arbeiter 
ankömt,  würde  wenigeren  Schwierigkeiten  unterworfen 
sein,  als  bisher,  wo  das  Bergamt  auf  den  Eigensinn  einer 
sehr  kleinen  Knappschaft  eingeschränkt  ist,  die  sich  leicht 
zum  Widerstand  vereinigen  kan.“  Bei  der  nun  folgenden 
Darstellung  der  Organisation  des  Oberbergamtes  in  Wetter 
interessirt  sozialpolitisch  besonders  die  reiche  Gliederung  des 
Beamtenkörpers,  der  den  gesammten  Grubenbau  von  Staats- 
wegen verwaltet,  in  Reviergeschworene,  die  vielleicht  ge- 
schichtlich in  Parallele  mit  den  heutigen  französischen 
Minendelegirten  gestellt  werden  können  und  u.  a.  die  Aus- 
zahlung der  Löhne  Vornahmen,  in  Obersteiger,  Fahrsteiger, 
Oberschichtmeister,  Schichtmeister  und  Kohlenmesser.  Zu 


444 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  36 


dem  letztgenannten  Beamten  kehrt  die  modernste  Entwicke- 
lung zurück,  indem  sie  den  Arbeitern  in  England  und 
Preussen  aut  Grund  der  neueren  Berggesetze  erlaubt, 
Wiegekontroleure  anzustellen.  Anfangs  dieses  Jahrhunderts 
kommt  es  in  einem  Theil  des  erweiterten  Oberbergamts- 
bezirkes zu  einer  richtigen  Revolte  der  Grubenbesitzer, 
die  den  bergpolizeilichen  Vorschriften  Gehorsam  ver- 
weigern und  mit  Militär  zur  Ordnung  gebracht  werden 
müssen.  Diese  Episode  wäre  Stoff  für  den  forschenden 
k leiss  und  die  glänzende  Darstellung  eines  zweiten  Alphons 
Thun!  Bei  der  Darstellung  der  neuen  Reviereintheilung 
von  1839—1842,  zu  eines  Zeit,  da  die  Zahl  der  nieder* 
rheinisch-westfälischen  Bergleute  immerhin  schon  auf  ca. 
10  000  Köpfe  gewachsen  war,  kommt  die  Beseitigung  der 
Obersteiger,  die  gegen  den  Wunsch  der  Grubenbesitzer 
erfolgte,  sowie  die  Erweiterung  der  Aufgaben  für  die 
Revierbeamten  zur  Sprache;  aus  der  am  28.  Oktober  1839 
erlassenen  neuen  Revierbeamteninstruktion  ist  zur  Charak- 
teristik des  „Staatssozialismus“,  der  im  staatlichen  „Di- 
rektionsprinzip“ steckte,  bemerkenswerth,  dass  der  Revier- 
beamte, „so  oft  es  erforderlich  erscheint,  vergleichende 
Zeit-  und  Kostenanschläge  . . . darstellen  und  diese  bei  . . . 
Bezahlung  der  Arbeiter  . . . stets  zu  Grunde  legen 
muss,  um  ein  sicheres  Anhalten  zu  gewinnen  . . .,  ob  und 
mit  welchem  Vortheil  einzelne  Zweige  des  Betriebes 
geführt  worden.“  Die  Gedinge  werden  von  ihm  mit  den 
Arbeitern  abgeschlossen;  er  soll  bei  aller  Sorge  für  den 
„Vortheil“  des  Grubenbetriebes  das  „Wohl  aller  Knapp- 
schaftsindividuen befördern.“ 

Der  Mitte  dieses  Jahrhunderts  erfolgende  Uebergang 
vom  staatlichen  Direktionsprinzip  zur  gesetzlichen  Zulas- 
sung des  inzwischen  unter  der  Hut  der  Technik  zu  jugend- 
licher Kraft  herangereiften  kapitalistischen  Privatbetriebes 
wird  von  der  Festschritt  kurz  in  seinen  prägnanten  Merk- 
malen geschildert:  „Die  Verhältnisse  selbst" machten  eine 
Abänderung  nothwendig,  denn  der  sich  mächtig  ent- 
wickelnde Tiefbau  und  seine  bedeutenden  Kosten,  die  von 
allen  Seiten  wachsende  Konkurrenz,  die  Nothwendigkeit, 
besondere  zur  Verarbeitung  der  Produkte  dienende  Neben- 
anlagen zu  errichten,  verursachten  erhebliche  Ausgaben, 
deren  Rentabilität,  abgesehen  von  den  hohen  Abgaben, 
einerseits  durch  den  zersplitterten  Bergwerksbesitz  und 
die  vorhandenen  grossen  Schwierigkeiten,  denselben  rechts- 
beständig zu  konsolidiren,  anderseits  durch  den  Mangel 
einer  anerkannten  gesetzlichen  Vertretung  der  Gewerk- 
schaften und  den  behördlichen  Betrieb  immerhin  in  Frage 
gestellt  wurde.  Da  ausserdem  der  gerade  für  Einführung 
des  Direktionsprinzips  ausschlaggebende  Umstand  — der 
Mangel  geeigneter  Persönlichkeiten  - in  den  Gewerken- 
kreisen ganz  wesentlich  geschwächt  worden,  und  gerade  in 
den  Vertretern  der  Gewerkschaften  (Lehnsträgern)  eine 
ganze  Anzahl  hervorragend  tüchtiger  Fachmänner  vor- 
handen war,  so  konnte  die  Gesetzgebung  zu  der  für  die 
Entwickelung  des  Bergbaues  so  wesentlichen  Massregel 
schreiten,  am  12.  Mai  1851  einerseits  den  Zehnten  auf  den 
Zwanzigsten  zu  ermässigen,  anderseits  den  Betrieb  und 
Haushalt  der  Gruben,  wenngleich  mit  Einschränkungen, 
den  in  ihrer  Verfassung  geregelten  Gewerkschaften,  bezw. 
ihren  Repräsentanten  zu  übertragen.“  Es  ist  zweifellos, 
dass  der  Sozialforscher  in  der  Geschichte  dieses  Ueber- 
ganges  einen  grossen  Reichthum  hochinteressanter  Momente 
zur  Darstellung  der  Entwickelung  des  modernen  Kapitalis- 
mus findet.  Ihm  wird  es  dann  auch  obliegen,  die  sozial- 
politischen Einflüsse,  unter  welchen  das  manchesterliche 
Berggesetz  von  1865  entstand,  sowie  den  neuerlichen  Um- 
schwung, welcher  sich  im  Erlass  der  Berggesetznovelle 
von  1892  offenbart,  sorgfältiger  zu  studiren  und  darzulegen, 
als  es  die  uns  vorliegende  Festschrift  thut. 

„Einige  Mittheilungen“  giebt  die  Festschrift  noch 
unter  besonderem  Titel  über  die  Entwickelung  des  Knapp- 
schaft skassen  wesens  im  Oberbergamtsbezirke  Dortmund. 
Dasselbe  ist  nicht  so  sehr  alt,  als  öfters  angenommen  wird; 
man  beginnt  mit  der  Ausbildung  desselben  eigentlich  erst 
im  letzten  Drittel  des  vorigen  Jahrhunderts.  Auch  hier 
muss  die  Verfolgung  der  Spuren,  welche  die  Festschrift 


andeutet,  reiche  sozialpolitische  Ausbeute  liefern:  wie  die 
Knappschaftsältesten  zuerst  von  der  Behörde  „beigeordnet“ 
wurden,  und  wie  ihre  jetzige  „Wahl“  noch  die  Merkmale 
der  früheren  „Beiordnung“  trägt;  wie  die  Klassenunter- 
scheidung (1824)  aufkam,  die  man  zu  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts noch  nicht  kannte;  wie  die  Trauscheingebühren 
zur  Ansammlung  des  Fonds  mithelfen  mussten  (jeder  Berg- 
mann, der  heirathen  wollte,  musste  beim  Oberbergamt  einen 
Trauschein  lösen  und  dafür  einen  Thaler  entrichten;  ohne 
diesen  Trauschein  wurde  Niemand  kopulirt;  Rückwirkung 
auf  Bevölkerungs-,  Familien-  und  Sittlichkeitszustände?) 
u-  v.  a:  Welche  wichtige,  in  der  Wissenschaft  und  in  der 

Sozialpolitik  noch  gar  nicht  genügend  gewürdigte  Rolle 
das  Knappschaftswesen  und  dessen  Mängel  in  der  Berg- 
arbeiterfrage spielt,  zeigt  die  Mittheilung  der  Festschrift 
über  das  Jahr  1848:  „Das  Jahr  1848  brachte  eine  lebhafte 
Agitation  gegen  das  bestehende  Knappschaftswesen.  Man 
forderte  das  volle,  monatlich  zu  zahlende  Krankengeld, 
anderweitige  Festsetzung  der  Beiträge,  weitere  Erhöhung 
der  Invalidengelder,  gewisse  Befugnisse  an  sogenannte 
Knappschaftsdeputirte,  Mittheilungen  über  den  Stand  der 
Kasse,  ihre  Verwaltung  durch  die  Behörde,  Verantwortlich- 
keit und  Rechnungslegung  der  letzteren  sowie  freie  Wahl 
der  Knappschaftsältesten,  im  Märkischen  Verein  auch 
Wiedereinführung  des  Schulgeldes.  Insbesondere  kam  es 
im  Essen- Werder’schen  Verein  zu  längeren  Verhandlungen 
über  eine  ganze  Reihe  von  Anträgen,  von  denen  einzelne 
genehmigt,  andere  abgelehnt,  die  meisten  aber  mit  Rück- 
sicht aut  das  in  Aussicht  stehende  neue  Berggesetz  zurück- 
gestellt wurden.  Durch  einen  Erlass  vom  1.  Januar  1849 
wurde  ferner  für  beide  Vereine  genehmigt,  dass  fortab  bei 
Berechnung  der  Beiträge  von  dem  beitragspflichtigen  Lohne 
vorab  die  Selbstkosten  an  Pulver  etc.  in  Abzug  gebracht 
werden  sollten,  dies  jedoch  hinsichtlich  des  Märkischen 
Vereins  aut  Grund  einer  Erklärung  der  Vertreter  dieser 
Knappschaft  durch  Erlass  vom  19.  Januar  1849  wieder  ab- 
geändert. Alle  diese  Bestrebungen  führten  nur  zu  einigen 
kleinen  Abänderungen,  im  Prinzipe  blieb  es  bei  den  vorer- 
wähnten Bestimmungen,  und  von  einer  weiteren  Erhöhung 
der  Knappschaftsbenefizien  musste  umsomehr  abgesehen 
werden,  als  sich  die  Vermögenslage  der  beiden  Vereine 
verschlechterte.  Es  wurden  sogar  einige,  früher  proviso- 
rich  genehmigte  Erhöhungen  wieder  aufgehoben.“  Eine 
ausführlichere  Darstellung  dürfte  wohl  hier  manches  zu 
vervollständigen  und  zu  ergänzen  haben.  Die  weiteren 
Daten  der  Festschrift  zeigen,  wie  wichtig  es  sein  wird,  das 
Vordringen  des  Unternehmereinflusses  in  den  Knappschafs- 
kassen, namentlich  seit  Freigabe  des  kapitalistischen  Privat- 
betriebes der  Gruben,  genau  zu  verfolgen  und  festzustellen. 
Für  die  heutige  Bergarbeiterbewegung  dürfte  diese  ge- 
schichtliche Nachforschung  mehr  Erklärungen  liefern,  als 
auf  den  ersten  Blick  möglich  erscheint. 

Somit  stellt  sich  das  niederrheinisch  - westfälische 
Kohlenrevier  als  eines  der  interessantesten  Forschungs- 
objekte für  unsere  Wirthschaftshistoriker  dar.  Möge  sich 
der  richtige  Forscher  bald  finden. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Zur  Frage  der  Volksernährung. 

Eines  der  beliebtesten  Argumente  der  Vertheidiger 
der  Lebensmittelzölle  war  von  Anfang  an  der  Hinweis  dar- 
auf, dass  der  Zwischenhandel  viel  mehr  vertheure  als  alle 
Zölle.  Bei  Einführung  der  Getreidezölle  wurde  von  agra- 
rischer Seite  hervorgehoben,  man  erstrebe  durchaus  nicht 
eine  Vertheuerung  des  Brotes,  sondern  wolle  den  Produ- 
zenten den  Gewinn  zuwenden,  den  bisher  Bäcker,  Fleischer, 
Müller  und  Börsenspekulanten  ungerechtfertigter  Weise  be- 
zogen hätten.  Wies  man  den  Agrariern  nach,  dass  in 
London  der  Getreidepreis  nahezu  um  den  vollen  Zollbetrag 
durchschnittlich  billiger  war,  als  in  Deutschland,  so  er- 
widerten sie,  dies  sei  für  den  Kleinhandel  und  den  Konsu- 


No.  36. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


445 


menten  gleichgültig,  im  deutschen  Kleinverkehr  werde  eine  [ 
Preisherabsetzung  bei  Abschaffung  oder  Erniedrigung  der 
Getreidezölle  doch  nicht  eintreten.  Wurde  seit  der  Zoller- 
mässigung  vom  1.  Februar  1892  statistisch  der  Beweis  er- 
bracht, dass  die  Differenz  der  Grosshandelspreise  zwischen 
verzolltem  deutschen  und  zollfreiem  Getreide  in  England 
sich  entsprechend  ermässigt,  dass  ferner  in  einzelnen 
deutschen  Plätzen  die  Mehl-  und  Brotpreise  gleichförmig 
mit  den  Engrospreisen  des  Getreides  sich  verbilligt  hatten, 
so  erwiderte  man  von  agrarischer  Seite,  in  vielen  anderen 
Fällen  habe  ein  Bäckerring  die  Verbilligung  des  Brotes 
verhindert,  analog  wie  gar  oft  und  mannichfach  Ringe  der 
Metzger  die  Verbilligung  des  Fleisches  dem  Publikum  vor- 
enthalten. 

Diese  Argumentation  übt  begreiflicher  Weise  insbe- 
sondere bei  den  deutschen  Frauen  eine  grosse  Wirkung. 
Sie  halten  den  Kampf  gegen  die  Getreidezölle  für  Schwindel, 
sofern  sie  im  Haushalte  keine  entsprechende  Ersparung  beim 
Sinken  der  Grosshandelspreise  wahrnehmen.  Indess  geht 
diese  Theorie,  welche  die  Brotpreise  vom  Getreidepreise 
unabhängig  glaubt,  allenthalben  von  einer  durchaus  irrigen 
Voraussetzung  aus,  dass  nämlich  die  Vertheuerung  des 
Kleinkonsums,  soweit  sie  durch  die  Nahrungsmittelgewerbe 
bewirkt  wird,  etwas  unabänderliches  und  für  die  Dauer 
aufrechtzuerhaltendes  sei.  Losch  hat  bereits  darauf  hinge- 
wiesen, wie  sehr  die  deutsche  Nation  trotz  ihrer  niedrigen 
Lebenshaltung  verschwenderisch  lebt,  indem  sie  ausser  der 
Vertheuerung  durch  Lebensmittelzölle  die  kostspieligste 
Betriebsweise,  die  sich  denken  lässt,  den  Kleinbetrieb, 
gerade  im  Nahrungsmittelgewerbe  künstlich  vielfach  auf- 
recht erhält. 

Wir  haben  insbesondere  in  kleinen  Städte  eine  viel  zu 
grosse  Zahl  Bäckereibetriebe.  Das  Publikum  kauft  theuer. 
Der  Bäckermeister  produzirt  theuer  und  klagt,  er  werde 
doch  nicht  reich,  sondern  vielfach  ärmer.  Die  Gehilfen 
haben  die  längste  Arbeitszeit  aller  Gewerbe  und  auch 
sonst  ungünstige  Arbeitsbedingungen.  Der  kapitalistische 
Grossbetrieb  wäre  im  Stande  billiger  und  besser  die  Konsu- 
menten zu  versorgen,  besseren  Gewinn  abzuwerfen,  bessere 
Arbeitsbedingungen  zu  gewähren.  Freilich  einige  Klein- 
meister würden  im  Arbeiterstande  aufgehen;  dessen  Ge- 
sammtniveau  jedoch  könnte  gehoben  werden. 

Aut  die  Konzentration  zum  wohlfeilen  Grossbetrieb 
in  den  Nahrungsgewerben  hätten  vernünftiger  Weise  die 
Agrarier  hinwirken  müssen,  wenn  sie  wirklich  die  Unzu- 
friedenheit, die  durch  die  Vertheuerung  entstand,  hintan- 
halten wollten.  Statt  dessen  hegte  und  pflegte  man  den 
Kleinmeister  und  verlängerte  seinen  Todeskampf;  oder  man 
forderte  Abhilfe  durch  mittelalterliche  Taxpolitik. 

Und  doch  setzt  auch  unabhängig  von  der  unausbleib- 
lichen Konkurrenz  des  überlegenen  Grossbetriebes  gegen- 
über dem  Kleinbetrieb  im  Nahrungsmittelgewerbe  noch  j 
von  anderer  Seite  immer  mächtiger  die  Entwickelung  ein, 
welche  die  heutige  vertheuernde,  zersplitterte  Kleinbetriebs- 
verfassung vernichten  muss.  So  sehr  sich  das  Eigeninter- 
esse der  Kleinunternehmer  und  andererseits  politische  und 
Sentimentalitätsrücksichten  gewisser  .Schichten  der  oberen 
Klassen  dagegen  sperren  mögen,  so  nimmt  doch  noth- 
wendigerweise  die  Konsumvereinsbewegung  immer  mehr 
zu,  wenn  wir  auch  in  Deutschland  noch  himmelweit  von 
dem  entfernt  sind,  was  in  England  die  Genossenschaftsidee 
für  die  arbeitenden  und  besitzenden  Klassen  geleistet  hat. 

Durch  die  Entwickelung  des  Konsumvereinswesens  ist 
es  den  englischen  Arbeitern  möglich  gewesen,  während  des 
Preisfalles  der  80  er  Jahre  die  Verbilligung  voll  auszunutzen, 
die  anderwärts  den  Detaillisten  zu  Gute  kam.  Es  ist 
geradezu  überraschend,  mit  Hilfe  des  soeben  von  Dr.  von 
Schulze-Gaevernitz  veröffentlichten  Werkes:  „Der  Gross- 
betrieb, ein  wirthschaftlicher  und  sozialer  Fortschritt“ 
die  segensreiche  Rückwirkung  der  englischen  Freihandels- 
politik aut  die  Ernährungskosten  des  industriellen  Arbeiters 
zu  beobachten. 

Für  Lancashire  giebt  uns  der  genannte  Verfasser  be- 
züglich der  Brotversorgung  folgende  Schilderung:  „Man  ver- 
folge ein  Pfund  Weizen  auf  seinem  Wege  vom  Grosshändler 


in  Liverpool  bis  zum  Arbeiterhaushalt.  Zwischenglieder  sind 
allein  die  Genossenschaftsmühle  und  der  lokale  Konsum- 
verein. Die  Preise  dieser  letzteren  Vereine  sind  durch 
ganz  Nordengland  äusserst  gleichmässig;  um  nicht  nach  der 
Seite  der  Billigkeit  zu  irren,  wählte  ich  ausdrücklich  einen 
Verein,  welcher  in  einiger  Entfernung  von  der  Mühle  be- 
legen ist,  sodass  die  Transportkosten  in  dem  Preise  ent- 
halten sind. 


Star  Corn  Mills 

in  Ol d h a m 

Darwen  Coope- 

(Genossenschaftsmtihle) 

ration  Society 

Engrosdurchschnitt 
des  eiimekauften 

Verkaufspreis 
der  Mühle 

Von  Konsumenten 
bezahlter 

Weizens 

D urchschnittspreis 

pro  Pfund 

pro  Pfund  Mehl 

pro  Pfund  Mehl 

1883 

1,09  d. 

1,42  d. 

1,47  d. 

1884 

0,94  „ 

1,27  „ 

1,32  „ 

1885 

0,85  „ 

1,13  „ 

1,18  „ 

1886 

0,82  „ 

1,09  „ 

l,D  „ 

1887 

0,87  „ 

1,10  „ 
1,07  „ 

1,15  „ 

1888 

0,86  „ 

1,12  „ 

1889 

0,83  „ 

1,08  „ 

1,13  „ 

Diese  von  Dr.  v.  Schulze-Gaevernitz  gegebenen  Zahlen 
sprechen  für  sich  selbst.  Der  Autor  bemerkt  aber  noch: 
„Die  Niedrigkeit  dieser  Preise  fällt  um  so  mehr  in  das  Ge- 
wicht, als  die  Arbeiter  von  ihren  Einkäufen  in  den  Konsum- 
vereinen 7 '/2  bis  10  pCt.  Dividende  beziehen.  Weizenmehl 
aber  ist  gegenwärtig  das  wichtigste  Nahrungsmittel  des 
englischen  Arbeiters.  In  Nordengland  wird  es  von  der 
Frau  im  Hause  verbacken.  Der  Preis  für  Brot,  welches  in 
Lancashire  wenig  gekauft  wird,  beträgt  l/2  d.  pro  Pfund  mehr 
als  der  Preis  des  Mehles.“  [) 

* * 


Fassen  wir  zusammen.  Deutschland  hat  allenthalben 
auf  dem  Weltmärkte  Englands  Konkurrenz  zu  bestehen. 
Während  man  sonst  im  Wettbewerbe  bestrebt  ist,  billiger 
als  der  Konkurrent  zu  produziren,  leistet  sich  Deutschland 
den  Luxus,  seine  industriellen  Arbeiter  aus  verschiedenen 
Gründen  theurer  oder  schlechter  zu  nähren  als  es  in  Eng- 
land der  Fall  ist. 

Die  Ernährung  des  deutschen  Arbeiters  wird  ver- 
theuert  nicht  allein  durch  die  Agrarzölle,  sondern  ferner 
durch  die  geringere  Entwickelung  des  Konsumvereins- 
wesens, endlich  durch  die  geringe  Entwickelung  des  wohl- 
feileren Grossbetriebes  im  deutschen  Nahrungsgewerbe. 

Der  Engländer  kann  sich  demgemäss  kräftiger  nähren 
und  behält  dabei  eine  viel  grössere  Quote  seines  Ein- 
kommens zum  Ankauf  von  Industrieprodukten  übrig,  als 
der  deutsche  Arbeiter.  Der  gesicherte  heimische  Ab- 
satz von  Industrieerzeugnissen  ist  entsprechend  der 
durch  den  Freihandel  ermöglichten  besseren  Lebenshaltung 
der  englischen  Arbeiter  im  freihändlerischen  England  viel 
erheblicher  und  günstiger  als  im  schutzzöllnerischen 
Deutschland. 

Den  Schluss  möge  eine  ebenfalls  dem  erwähnten 
Werke  von  Schulze-Gaevernitz  entlehnte  Tabelle  bilden. 
Sie  zeigt,  um  wie  viel  theurer  gegenüber  dem  englischen 
sich  der  deutsche  gewerbliche  Arbeiter  in  Deutschland  auch 
unter  dem  neuesten  Zollregime  selbst  da  nährt,  wo  der 
Deutsche  gleich  dem  Engländer  sich  die  Vortheile  des 
Konsumvereins  verschafft  hat  und  dadurch  auch  die  Laden- 
preise herabdrückte. 

In  derselben  Woche  des  Februar  1892  stellten  sich 
nach  S.  182  des  Schulze’schen  Buches  die  Lebensmittel- 
preise (aut  deutsche  Masse  und  Gewichte  zurückgeführt 
— einerseits  in  Hyde  (ausschliesslich  textilindustrieller  Vor- 
ort von  Manchester),  woselbst  der  Konsumverein  14pCt.  zu 
Dividendenzwecken  bei  den  Einkäufen  vorwegerhebt  — 
anderseits  in  Chemnitz,  woselbst  der  Konsumverein  nur 
8,3  pCt.  auf  den  Einkaufspreis  draufschlägt  — folgender- 
massen : 


Hyde 

Weizenmehl  . . 1 d Pfd.  16  Pf. 

Brot  do.  18  Pf. 

(Weizenbrot) 

7 A.  a.  O.  S.  180. 


Chemnitz 
22  Pf. 

15  Pf. 

(Roggenbrot) 


446 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  36. 


Hyde 

Chemnitz 

1 

66—70  Pf. 

Rindfleisch  . . . 

Id.Pfd. 

1 

j 75-80  Pf. 

(mit  Knochenbeil.) 

80  Pf. 

Geräuchertes 

((ohne  Knochen  1 

jeil.)  (ohne  Knochenbeil.) 

Schweinefleisch 

clo. 

63—73  Pf. 

80-90  Pf 

Zucker 

do. 

27-28  Pf. 

30-34  Pf. 

Kartoffeln  .... 

do. 

5,2  Pf. 

5,2  Pf. 

Vollmilch  .... 

1 Liter 

15—22  Pf. 

20  Pf. 

München. 

Walther  Lotz. 

Die  überseeische  Auswanderung  aus  Deutschland  im 
ersten  Halbjahre  1892.  Die  Nachweisung  der  Auswande- 
rung Deutscher  über  deutsche  Häfen  und  über  Antwerpen, 
Rotterdam  und  Amsterdam  im  zweiten  Vierteljahre  1892 
wird  in  dem  eben  herausgegebenen  3.  Vierteljahreshefte  der 
Statistik  des  deutschen  Reiches  publicirt.  47  768  Deutsche 
wanderten  aus,  hiervon  mehr  als  die  Hälfte  (24  627)  über 
Bremen  und  mehr  als  ein  Viertel  (13  150)  über  Hamburg. 
Auf  die  übrigen  in  Betracht  kommenden  Häfen  entfallen 
folgende  Zahlen : auf  Stettin  750,  auf  Antwerpen  77 1 7,  auf 
Rotterdam  1099  und  auf  Amsterdam  425.  Im  April  wander- 
ten 20  566,  im  Mai  17  455  und  im  Juni  9747  Personen  aus. 
Ausserdem  wanderten  über  die  drei  genannten  deutschen 
Häfen  aus  im  April  17  352,  im  Mai  26  859,  im  Juni  18  667 
und  im  ersten  Halbjahre  1892  104  742  Personen  nicht  deut- 
scher Staatsangehörigkeit.  Deutsche  Reichsangehörige 
wanderten  über  deutsche  und  die  drei  genannten  ausländi- 
schen Häfen  im  ersten  Halbjahre  1892  70  453  Personen  aus, 
demnach  14  910  mehr  als  im  Durchschnitt  der  5 Halbjahre 
1887  bis  1891.  Jedes  dieser  Halbjahre  blieb  hinter  dem 
ersten  Halbjahre  1892  zurück  und  zwar  1891  um  6777,  1890 
um  21  369,  1889  um  19  450,  1888  um  13  800  und  1887  um 
13  156  Personen.  Für  die  Einzelstaaten  ergeben  sich  fol- 
gende Ergebnisse  dieser  Vergleichung:  aus  dem  König- 
reiche Preussen  wanderten  im  ersten  Halbjahre  1892  mehr 
Personen  aus  als  in  jedem  der  vorangegangenen  Halbjahre, 
das  gleiche  gilt  für  alle  Provinzen  Preussens  mit  blos  zwei 
Ausnahmen  und  zwar  wanderten  im  ersten  Halbjahre  1889  aus 
Schleswig-Holstein  und  in  den  Halbjahren  1887,  1888  und  1889 
aus  Hessen-Nassau  mehr  Personen  aus  als  im  ersten  Halb- 
jahre 1892.  In  allen  nicht  besonders  angeführten  Staaten 
überwog  die  Auswanderung  im  ersten  Halbjahre  1892  die 
fünf  vorangegangenen  Halbjahre.  Nicht  der  Fall  war  dies 
in  Bayern,  wo  die  Auswanderung  in  den  Jahren  1887 — 1889 
grösser  war  als  in  den  Halbjahren  1890— 1892.  Von  1890  an 
zeigt  sich  hier  wieder  eine  ununterbrochene  Steigerung. 
Aus  Württemberg  wanderten  blos  im  ersten  Halbjahre  1888 
mehr  Personen  aus  als  in  der  entsprechenden  Zeit  des  ver- 
flossenen Halbjahres.  In  Hessen  überstiegen  die  Zahlen 
aller  Halbjahre  mit  Ausnahme  von  1889  die  Auswanderungs- 
ziffer von  Januar  bis  Ende  Juni  1892,  in  Sachsen- Weimar 
die  vom  Jahre  1888,  in  Mecklenburg-Strelitz  die  von  1888 
und  1891,  in  Sachsen-Coburg-Gotha  sämmtliche  Halbjahre 
mit  Ausnahme  der  von  1889,  in  Anhalt  die  von  1887  und 
1888,  in  Schwarzburg-Sondershausen  und  Waldeck  die  von 
1890,  in  Reuss  j.  Lime  das  erste  Halbjahr  1891,  in  Bremen 
die  von  1888  und  1891. 

Diese  Ausnahmen  und  die  sich  dabei  ergebenden 
geringfügigen,  wohl  auf  locale  Ursachen  zurückzuführen- 
den Differenzen  stören  das  Gesammtbild  nicht,  das  sich 
uns  als  eine  Hochfluth  der  Auswanderung  darstellt,  die 
so  bedauerlich  sie  auch  ist,  doch  noch  weniger  schädlich 
erscheint  als  ihre  unzweifelhaften  Ursachen,  die  sich  als 
allgemeine  Verschlechterung  der  Lebensverhältnisse  der 
breiten  Schichten  des  Volkes  zusammenfassen  lassen. 

Speisung  armer  Schulkinder  in  Kopenhagen.  In  Kopen- 
hagen giebt  es  nach  einer  der  ,, Kreuz-Zeitung“  zugegangenen 
Mittheilung  ca.  15  000  Freischüler,  die  sehr  ärmlich  ernährt 
werden  und  von  denen  gewiss  5000  Tag  für  Tag  kein  Mittag- 
essen erhalten.  Die  Schulgebäude  sind  zwar  auf’s  Beste,  den 
Forderungen  der  Gegenwart  entsprechend,  eingerichtet  und  in 
der  „giftigen  Schulluft“  liegt  es  gewiss  nicht,  wenn  die  Kinder 
bleich  und  elend  aussehen.  Nur  ein  Feind  — der  schlimmste  — 
war  noch  zu  bekämpfen:  die  ungenügende  Ernährung.  Diesen 
wunden  Punkt  fasste  vor  10  Jahren  eine  Volksschullehrerin  in’s 
Auge.  Sie  zuerst  lieh  dem  Gedanken  einer  „freien  Speisung 
der  armen  Kinder“  Ausdruck.  Und  das  Samenkorn  fiel  auf 
fruchtbaren  Boden.  Ein  Komitee  wurde  gebildet,  später  „Verein 
für  die  Bespeisung  der  Freischüler“  genannt.  Bei  der  Unter- 


I suchung,  welche  in’s  Werk  gesetzt  wurde,  trat  es  zu  Tage,  dass 
nahezu  ein  Drittel  sämmtlicher  Freischüler  in  Kopenhagen  das 
ganze  Jahr  hindurch  kein  Mittagessen  bekommt.  Der  Verein 
hat  den  Zweck,  den  Kindern  zu  helfen  und  nur  warme  Speisen, 
nichts  anderes  zu  geben.  Bei  der  Austheilung  wird  nur  auf 
den  Hunger  der  Kinder  gesehen  und  nicht  darauf,  ob  die  Eltern 
der  Wohlthat  würdig  sind  oder  nicht.  Alle  religiösen  oder  poli- 
tischen Rücksichten  sind  vollständig  ausgeschlossen.  So  spielt 
es  keine  Rolle,  ob  der  Vater  ein  Sozialist  oder  dergleichen,  ob 
die  Familie  unordentlich,  arbeitsscheu  und  trunkfällig  ist;  das 
Kind  soll  für  die  Eltern  nicht  büssen,  und  wenn  es  sich 
nur  während  der  Speisestunde  gut  aufführt,  so  erhält  es  sein 
Mittagmahl  so  gut  wie  die  anderen  Kinder.  Ausschliessungen 
wegen  schlechter  Aufführung  sind  fast  noch  gar  nicht  vorge- 
kommen. Aus  manchen  Gründen  empfiehlt  es  sich  mehr,  die 
armen  Kinder  in  Gesellschaft  auf  einer  bestimmten  Stelle  zu 
bespeisen,  als  einzeln  in  wohlhabenden  Familien.  Die  Mitglieder 
der  letzteren  werden  oft  aus  Mitleid  sich  versucht  fühlen,  den 
kleinen  Gästen  zum  Entgelt  etwas  besonders  Leckeres  in  den 
Mund  zu  schieben,  und  das  ist  — so  gut  die  Absicht  sein  mag 
— nicht  dienlich,  weil  die  Kinder  verwöhnt  werden.  Bei  der 
Massenspeisung  dagegen  wird  darauf  gesehen,  dass  die  Kinder 
eine  Kost  erhalten,  welche  einfach,  aber  kräftig  und  ernährend 
ist,  sie  nicht  wählerisch  werden  und  die  dürftige  Speise  ver- 
achten lässt,  mit  der  ihre  Eltern  zu  Hause  sich  sättigen.  Zu- 
gleich kann  man  bei  der  Massenspeisung  grosse  Mengen  zu 
verhältnissmässig  niedrigen  Preisen  bereiten.  Im  Winter  1881/82, 
als  der  Verc'in  seine  Thätigkeit  begann,  standen  ihm  4262  Kronen 
(4795  M.),  durch  freiwillige  Beiträge  gesammelt,  zur  Verfügung; 
von  Jahr  zu  Jahr  fand  die  Sache  mehr  und  mehr  Anklang  und 
im  vorigen  Jahre  gingen  22  157  Kronen  (24  927  M.)  ein.  In  zehn 
Jahren  sind  für  die  Bespeisung  der  Kinder  121  996  Kronen 
(136  267  M. ) verausgabt  und  hierfür  im  ganzen  916  118  Portionen 
Speise,  die  Portion  durchschnittlich  zu  14,50  Pf.  zur  Vertheilung 
gekommen.  Der  Verein  besitzt  zur  Zeit  einen  Grundfonds  von 
13  358  Kronen. 

Zum  Handel  mit  Ratenloosen.  Anlässlich  eines  Rekurs- 
falles hat  vor  Kurzem  der  schweizerische  Bundesrath  in  seinem 
Entscheide  ein  bemerkenswerthes  LTrtheil  über  die  Missbräuche 
und  deren  Bekämpfung  beim  Ratenloosgeschäft  abgegeben. 

Der  Regierungsrath  des  Kantons  Schwyz  hatte  einem 
Züricher  Bankgeschäft  die  Bewilligung  zum  Loosverkauf 
verweigert,  gestützt  auf  einen  bestimmten  Antrag  des  Kantons- 
rathes,  demzufolge  in  Zukunft  an  keinerlei  ausländische  und 
ausserkantonale  Unternehmen  irgend  welcher  Art,  welche  Loose 
von  Waaren-  oder  Geldlotterien  ausgeben,  Bewilligungen  zum 
Verkauf,  Vertrieb  und  zur  öffentlichen  Ankündigung  im  Kanton 
Schwyz  ertheilt  werden  sollen.  In  Hinsicht  auf  die  klaren  Vor- 
schriften der  Bundesverfassung  bezüglich  Handels-  und  Ge- 
werbefreiheit musste  der  Bundesrath  die  Beschwerde  als  be- 
gründet erklären  und  das  Verbot  der  schwyzer  Behörde 
wieder  aufheben.  Dagegen  bestreitet  der  Bundesrath  den  Kan- 
tonen keineswegs  das  Recht,  gegen  Missbräuche  im  Ratenloos- 
geschäft schützende  Bestimmungen  zu  erlassen.  Er  konstatirt 
selbst  diese  Missbräuche  und  schildert  einlässlich  die  Gefahren, 
welche  beim  Hausirvertrieb  der  Ratenloose  entstehen.  Nament- 
lich hebt  er  hervor,  wie  der  Ratenlooshändler  im  Kreise  der 
kleinen  Gewerbsleute,  der  Bauern,  kurz  der  Leute,  die  in  Geld- 
geschäften nicht  erfahren  und  nicht  in  der  Lage  sind,  die 
glänzenden  Vorspiegelungen  des  Prospektes  auf  ihren  wahren 
Werth  zu  prüfen,  seine  hauptsächliche  Klientel  sucht.  Diesen 
kleinen  Mann,  dem  stets  eine  gewisse  Neigung  zum  Glückspiel 
innewohnt,  verleiten  die  unverantwortlichen  Agenten  des  ent- 
fernt wohnenden  Bankiers,  seine  Ersparnisse  in  Prämienanleihens- 
loosen  anzulegen:  der  Nominalwerth  geht  ja  nicht  verloren, 
schlimmsten  Falls  der  Zins.  Schon  beim  redlichen  Geschäfte 
besteht  jedoch  die  grosse  Gefahr,  dass  die  Ratenzahlungen  nach 
einiger  Zeit  aus  diesem  oder  jenem  Grunde  eingestellt  werden 
müssen,  womit  alle  Anzahlungen  verloren  sind.  Ist  überdies 
der  Bankier  unsolid  oder  wird  er  auch  nur  das  Opfer  einer 
Krisis,  so  steht  der  Ratenkäufer  wehrlos  da,  weil  er  das  Original- 
loos nicht  in  die  Hand  bekommt,  bevor  der  Kaufpreis  ganz  ab- 
getragen ist.  Die  Mittel  aber,  zu  kontrolliren,  was  für  Garantien 
ihm  sein  Mitkontrahent  bietet,  fehlen  dem  Ratenlooskäufer  in 
der  Regel  ganz,  und  jeder  eventuelle  Versuch  zur  gerichtlichen 
Geltendmachung  von  Rechten  wird  durch  die  Kantonsgrenzen 
erschwert  und  bei  der  komplizirten  Natur  des  Rechtsgeschäftes 
für  den  weniger  Bemittelten  thatsächlich  unmöglich  sein. 

Nach  Ansicht  des  Bundesrathes  kann  der  Handel  mit 
Ratenloosen  in  zwei  Richtungen  durch  die  Kantonsbehörden 
beschränkt  werden: 

a)  Durch  ein  strenges  Aufsichtsrecht,  indem  zum  Handel 
mit  Prämienwerthen  eine  obrigkeitliche  Bewilligung  gefordert 
und  diese  blos  nach  Prüfung  der  persönlichen  und  geschäft- 
lichen Verhältnisse  des  Petenten,  seiner  für  das  Kantonsgebiet 
zu  bestellenden  Agenten  und  des  Geschäftsplanes  ertheilt  wird. 
Diese  Aufsicht  kann  sich  auf  den  Ausweis  erstrecken,  dass  die 
verkauften  Originalloose  wirklich  im  Besitze  des  Verkäufers 
sind  und  bleiben,  dass  also  kein  „Promessen-  oder  Heuerge- 
schäft“ entsteht;  ferner  kann  sie  wirksamer  gemacht  werden 
durch  Ausbedingen  einer  Kaution,  eines  Rechtsdomizils  im 
Kanton  und  periodische  Erneuerung  der  Konzession. 


No.  36. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


447 


b)  Die  kantonalen  Behörden  haben  aber  noch  mehr  als 
ein  blosses  Aufsichtsrecht:  sie  können  gewisse,  besonders  zu 
Prellereien  Anlass  bietende  Formen  des  Handels  mit  Prämien- 
werthen  geradezu  verbieten  und  unter  Strafe  stellen;  z.  B. : 

Den  Ratenloosverkauf  ohne  Uebertragung  des  Original- 
titels, oder  die  Aufnahme  von  Bestellungen  durch  Agenten, 
und  zwar,  allgemein  oder  nur.  wenn  kein  Plan  vorgelegt 
worden  ist;  die  Verbindung  des  Prämienwerthhandels  mit 
anderen  Rechtsgeschäften ; die  Festsetzung  eines  höheren  oder 
wesentlich  höheren  Preises  als  des  Tageskurses;  — oder 
wenigstens  den  Verkauf  ohne  Vorlage  eines  authentischen 
Kurszettels.  Derartige  Bestimmungen  haben  den  Zweck,  das 
an  sich  erlaubte  Gewerbe  soweit  zu  beschränken,  dass  Miss- 
brauche unerlaubter  Art  ferne  gehalten  werden,  und  sind  da- 
her mit  dem  Grundsätze  der  Handels-  und  Gewerbefreiheit 
wohl  verträglich. 


Arbeiterzustände. 


Zur  Lage  der  Vollmatrosen  und  Schiffsjungen  bei  der 
deutschen  Handelsmarine.  Seit  dem  Jahre  1874  werden  im 
deutschen  Reiche  Erhebungen  über  die  Anmusterungen  von 
Vollmatrosen  und  „unbefahrenen“  Schiffsjungen  der  deut- 
schen Handelsmarine  vorgenommen.  Dieser  bisher  wenig 
berücksichtigte  Zweig  deutscher  Arbeiterstatistik  giebt  leider 
kein  vollkommenes  Bild  der  Verhältnisse  der  in  der  deut- 
schen Handelsmarine  thätigen  Personen,  denn  sowohl  die 
im  Auslande  angemusterten  Personen  als  die  Leichtmatrosen 
und  diejenigen  Schiffsjungen,  die  bereits  Seefahrten  auf 
deutschen  Kauffartheischiffen  mitgemacht  haben,  werden  in 
der  Statistik  nicht  berücksichtigt.  Die  Angaben  für  das 
Jahr  1891  linden  sich  im  letzten  Vierteljahreshelte  der 
Statistik  des  deutschen  Reiches.  Nach  derselben  wurden 
im  Jahre  1891  16  263  Vollmatrosen  und  2288  unbefahrene 
Schiffsjungen  angemustert.  Die  Zahl  der  Vollmatrosen 
stieg  stetig  von  12  947  im  Jahre  1885,  während  die  Zahl  der 
unbefahrenen  Schiffsjungen  von  1886  bis  1890  und  zwar 
von  1929  stetig  auf  2388  stieg,  aber  im  Jahre  1891  um  100 
hinter  der  des  Jahres  1890  zurückblieb. 

Die  durchschnittliche  Monatsheuer  neben  Beköstigung 
betrug  für  Vollmatrosen  im  Jahre  1891  56,81  M.,  für  unbe- 
fahrene Schiffsjungen  16,64  M.  Bei  den  Vollmatrosen  war 
sie  im  Zeiträume  1887 — 1891  von  44,30  M.  auf  56,81  M.,  für 
die  unbefahrenen  Schiffsjungen  von  1886 — 1890  gleichfalls 
stetig  von  14,10  M.  auf  16,91  M.  gestiegen  um  im  Jahre  1891 
auf  16,64  M.  zurückzugehen.  Die  Verhältnisse  im  Ostsee- 
gebiet liegen  ganz  anders  wie  im  Nordseegebiete.  Im  Ost- 
seegebiete stieg  die  Monatsheuer  der  Vollmatrosen  von  1887 
bis  1891  von  39,11  M.  auf  49,62  M.,  im  Nordseegebiete  aber 
von  46,21  M.  auf  59,13  M.,  für  die  Schiffsjungen  ist  die 
Monatsheuer  dagegen  im  Ostseegebiete  grösser.  Sie  stieg 
dort  von  1886 — 1891  von  15,51  M.  auf  18,31  M.,  im  Nordsee- 
gebiete von  13,04  M.  auf  15,45M.  Noch  beträchtlicher  sind 
die  Abweichungen  der  Monatsheuern  in  den  einzelnen  deut- 
schen Hafenplätzen.  Soweit  Anmusterungen  mit  Bekösti- 
gung in  Frage  kommen,  schwanken  die  Angaben  über  die 
Monatsheuern  zwischen  21  und  65  M.  lür  Vollmatrosen  und 
zwischen  5 und  32,5  M.  für  unbefahrene  Schiffsjungen. 
Diese  Schwankungen  werden  vom  Bearbeiter  des  Materials 
damit  erklärt,  dass  in  kleineren  Häfen,  in  welchen  An- 
musterungen verhältnissmässig  selten  Vorkommen,  vielfach 
zufällige  und  aussergewöhnliche  Umstände  auf  die  Höhe 
der  verabredeten  Heuern  Einfluss  ausüben.  Wenn  man 
nur  die  Heuern  in  Betracht  zieht,  welche  in  grösseren 
Hafenplätzen  bezahlt  worden  sind,  so  zeigen  die  ermittelten 
Durchschnittssätze  weit  geringere  Schwankungen.  Von 
1887 — 1891  stieg  die  durchschnittliche  Monatsheuer  für  Voll- 
matrosen in  Hamburg  von  47,83  M.  auf  59,91  M.,  in  Bremen 
und  dessen  Gebiete  von  44,86  M.  auf  56,52  M.,  in  Danzig 
von  36,76  M.  auf  48  M.,  in  Stettin  von  37,88  M.  auf 

49.46  M.,  in  Rostock  von  38,49  M.  auf  50,12  M.  In 
der  gleichen  Zeit  stiegen  die  durchschnittlichen  Monats- 
heuern der  Schiffsjungen  (sie  waren  1890  in  allen  Hafen- 
orten mit  Ausnahme  Rostocks  etwas  höher  als  im  Jahre  1891 ) 
in  Hamburg  von  13,55  M.  auf  14,80  M.,  in  Bremen  und 
dessen  Gebiete  von  13,81  M.  auf  14,40  M.,  in  Danzig  von 

16.47  M.  auf  19,13  M.,  in  Stettin  von  15,28  M.  auf  16,65  M. 
und  in  Rostock  von  12,33  M.  auf  16,33  M.  Hier  zeigt  sich 
die  merkwürdige  Erscheinung,  dass  örtlich  (in  Danzig)  die 


niedrigsten  Monatsheuern  der  Vollmatrosen  mit  den  höchsten 
der  unbefahrenen  Schiffsjungen  zusammenfallen  und  dass 
die  höchsten  Monatsheuern  der  Vollmatrosen  an  den  gleichen 
Orten  (Hamburg  und  Bremen;  Vorkommen,  wo  die  niedrig- 
sten Monatsheuern  für  unbefahrene  Schiffsjungen  bezahlt 
werden. 

Von  den  gegen  Monatsheuer  und  Beköstigung  ange- 
musterten jungen  erhielten  20  5 M.  und  weniger,  282  5 bis 
10  M.,  869  10—15  M.,  740  15—20  M.,  201  20  25  M.,  56  25 
bis  30  M.  und  43  über  30  M. 

Weitaus  die  Mehrzahl  der  angemusterten  Schiffsjungen 
(76,4  pCt.)  hat  das  15.  Lebensjahr  überschritten  und  das  20. 
noch  nicht  erreicht,  16,3  pCt.  sind  unter  15  Jahre,  5,2  pCt. 
20  — 25  Jahre  und  1 pCt.  über  25  Jahre  alt.  Die  meisten 
angemusterten  Schiffsjungen  stammen  natürlich  aus  den 
Küstengebieten,  doch  haben  die  Eltern  von  28  in  Bayern, 
von  43  in  Sachsen  ihren  Wohnsitz. 

Ortsübliche  Tagelöhne  für  den  Stadtkreis  Berlin. 

Der  Oberpräsident  von  Potsdam  hat  nach  Anhörung  des 
Magistrats  von  Berlin  den  ortsüblichen  Tagelohn  für  ge- 
wöhnliche Tagearbeiter  auf  Grund  des  § 8 des  Kranken- 
versicherungsgesetzes für  die  Zeit  vom  1.  Januar  1893 
folgendermassen  festgesetzt: 

1.  für  männliche  Personen  über  16  Jahren  2,70  M. 

2 „ weibliche  „ „ 16  „ 1,50  ,, 

3.  „ männliche  „ unter  16  ,,  1,30  ,, 

4.  „ weibliche  „ „ 16  „ 1,00  „ 

Nur  der  .Satz  für  die  männlichen  Arbeiter  über  16  Jahren 
ist  erhöht  worden  u.  zwar  von  2,40  auf  2,70  M.,  die  übrigen 
Ansetzungen  blieben  unverändert. 

Die  Arbeitslosigkeit  im  Hamburger  Zimmerergewerbe 
im  Winter  1891/92.  Eine  von  Schnack  und  Bringmann 
bearbeitete  statistische  Erhebung  des  Lokalverbandes  der 
Zimmerer  Hamburgs  über  die  Arbeitslosigkeit  im  Zimmerer- 
gewerbe im  Winter  1891/92  veröffentlicht  „Der  Zimmerer“. 
1300  Fragebogen  waren  ausgegeben  worden,  hiervon  wurden 
914  wieder  eingeliefert,  860  derselben  eigneten  sich  zur 
Verarbeitung.  Die  Angaben  beziehen  sich  auf  die  sechs 
Monate  Oktober  1891  bis  März  1892.  731  der  860  Zimmerer 

hatten  in  diesem  Halbjahre  arbeitslose  Zeiten  und  zwar  zu- 
sammen 42  956  arbeitslose  Tage.  Von  den  106  18— 25  Jahre 
alten  feierten  zeitweise  102  (96,26  pCt.)  zusammen  6248  Tage 
(61,25  Tage  jeder  Feiernde),  unter  den  387  26 — 35  Jahre 
alten  feierten  310  (80,1  pCt.)  zusammen  16  766  Tage  (54,08 
Tage),  von  den  223  im  Alter  von  36 — 45  Jahre  stehenden 
feierten  190  (85,2  pCt.)  zusammen  10  632  Tage  (55,96  Tage), 
von  den  117  46 — 55  Jahre  alten  feierten  104  (88,89  pCt.)  zu- 
sammen 7458  Tage  (71,71  Tage),  von  den  25  56 — 65  Jahre 
alten  feierten  23  (92  pCt.)  1641  Tage  (71,33  Tage),  endlich 
hatten  die  beiden  ältesten  66  Jahre  alten  211  ( 105,5')  Feier- 
tage. 649  der  860  Zimmerleute  waren  verheirathet,  465 
derselben  hatten  1324  versorgungsbedürftige  Kinder. 

Die  Arbeitslosigkeit  stieg  ununterbrochen  von  Oktober 
bis  März.  Man  zählt  im 


Oktober  mit  3196 

Feiertagen  u.  einem 
Lohnausfalle  von 

1 7258,40  M. 

November  274 

do. 

3417 

do. 

15376,50  ,, 

Debember  420 

do. 

5418 

do. 

22755,60  „ 

Januar  546 

do. 

9718 

do. 

40815,60  „ 

Februar  566 

do. 

10072 

do. 

51357,20  „ 

März  557 

do. 

10533 

do. 

56878,60  „ 

hierzu  kommen  nicht  nach 
Monaten  vertheilte  . . 

602 

do. 

2889,60  „ 

so  dass  ein  Lohnausfall  von  207  331,10  M.  konstatirt  wurde. 

Die  durchschnittliche  Zahl  der  Feiertage  betrug 
bei  31  Zimmerern  5,  je  bei  85:  15  und  25,  bei  71:  35, 
bei  66:  45,  bei  71:  55,  bei  75:  65,  bei  52:  75,  bei  57: 
85,  bei  42:  95,  bei  34:  105,  bei  17:  115,  bei  14:  125, 
bei  7:  135,  bei  2:  145  und  bei  22:  152  Feiertage.  Der 

durchschnittliche  Lohnausfall  stieg  von  24  M.  auf  729,60  M. 
pro  Arbeitslosen.  Er  betrug  bei  1 16  weniger  als  100,  bei 
156:  100—200,  bei  137:  200—300,  bei  127:  300—400,  bei  99: 
400—500,  bei  51  : 500—600,  bei  23:  600—700  und  bei  22  über 
700  M. 

Lohnmissbräuche  in  der  schweizerischen  Posament- 
industrie. An  einer  starkbesuchten  Versammlung  in  Gipf- 
Oberfrick  (Aargau)  wurden  die  in  der  Ablöhnung  der  Posa- 
menter bestehenden  Willkür lichkeiten  und  Ungerechtigkeiten 
schwer  beklagt.  Dem  Posamenter  kommt  immer  erst  nach 
Lieferung  der  Waare  zur  Kenntniss,  was  er  verdient  und 


448 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  36 


überdies  giebts  Lohnabzüge  in  den  verschiedensten  Formen. 
Minderlohn,  Stuhl-  und  Blätterzins,  Strafen  wegen  zu  später 
Lieferung  u.  s.  w.  Die  Arbeiter  sind  so  ganz  der  Willkür 
der  Fabrikanten  ausgesetzt  und  sie  thun  gut,  sich  nun 
enger  zusammenzuschliessen,  um  durch  geeinigtes  Vorgehen 
eine  Abstellung  der  Uebelstände  zu  erzielen. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Internationaler  Buchdruckerkongress.  Der  zweite 
internationale  Buchdruckerkongress,  der  vorige  Woche  in 
Beim  tagte,  an  welchem  Eisass,  Frankreich,  Deutschland, 
Rumänien,  Oesterreich,  Ungarn,  England,  Holland,  Däne- 
mark, Norwegen,  Italien,  Spanien,  Belgien  und  Luxemburg 
vertreten  war,  beschloss  die  Gründung  eines  internationalen 
Buchdruckerverbandes  mit  Centralsitz  in  Bern.  Betreffend 
das  ebenfalls  international  erklärte  Viatikumswesen  wurde 
beschlossen,  dass  jeder  Reisende,  gleichviel  welcher  Nation, 
wenn  er  nur  Verbandsmitglied  sei,  überall  das  landesübliche 
Viatikum  erhalten  solle.  Nach  Anhörung  eines  Berichtes 
der  vorberathenden  Kommission,  betreffend  das  Lehrlings- 
wesen,  stimmte  der  Kongress  den  von  derselben  abge- 
gebenen Erklärungen  zu.  In  Berücksichtigung  der  Lage 
aller  Berufe  hält  der  Kongress  die  internationale  Regelung 
des  Lehrlingswesens  für  nicht  durchführbar.  Dagegen  er- 
blickt er  gegenüber  der  grossen  Lehrlingsausbeutung  ein 
Gegengewicht  in  starken  Organisationen,  um  durch  ent- 
sprechende Verkürzung  der  Arbeitszeit  einen  Ausgleich  zu 
schaffen.  Die  ganze  Kraft  sei  daher  auf  Agitation,  sowie 
Aufklärung  der  Berufsangehörigen  einschliesslich  der  Lehr- 
linge zu  richten. 

Die  englischen  Bergarbeiter  und  der  8stündige  Ar- 
beitstag. Die  Mehrzahl  der  englischen  Bergarbeiter  er- 
strebt bekanntlich  die  gesetzliche  Einführung  eines  8 stiin- 
digen  Arbeitstages  für  die  Arbeiter  unter  Tage.  Zweimal 
schon  ist  ein  betreffender  Antrag  vom  Parlament  abgelehnt 
worden;  das  erste  Mal  erhielt  derselbe  etliche  20  Stimmen 
und  das  zweite  Mal  über  160.  In  dem  jetzt  neu  gewählten 
Parlament  hoffen  nun  die  Bergarbeiter  den  Antrag  durch- 
zubringen, erstens  weil  die  Zahl  der  aus  ihrer  Mitte  ge- 
wählten eine  grössere  ist  als  früher,  und  sodann  weil  eine 
grosse  Anzahl  anderer  Abgeordneter,  sowohl  Liberale  als 
Konservative,  nur  unter  der  ausdrücklichen  Bedingung  ge- 
wählt wurden,  dass  sie  für  den  8 Stundentag  stimmen. 
Merkwürdigerweise  sind  aber  die  Bergarbeiter  selbst  nicht 
einig  über  die  8 Stundentagfrage;  denn  während  Pickard 
und  Woods,  die  Präsidenten  des  grössten  Bergarbeiterver- 
bandes  (Miners’  Federation  of  Great  Britain),  für  den  An- 
trag mit  allen  Kräften  eintreten  ist  Burt,  der  Präsident  der 
National  Miners’  Union  dagegen.  Der  letztere  hat  sehr  viel 
Einfluss  im  Parlament,  und  ist  jetzt  auch  von  Gladstone 
als  Parlamentary  Secretary  of  the  Board  of  Trade  in  die 
neue  Regierung  berufen  worden.  Broadhurst,  ein  langjähriger 
Arbeitervertreter  (der  unter  dem  vorigen  Ministe- 
rium Gladstone  denselben  Posten  inne  hatte,  den  jetzt 
Burt  bekommen  hat),  fiel  bei  der  Wahl  durch,  weil  er  nicht 
erklären  wollte,  dass  er  für  den  gesetzlichen  8 Stundentag 
stimmen  würde.  Gladstone  selbst  entging  mit  knapper 
Noth  nur  dadurch  einer  Niederlage,  dass  er  im  letzten 
Augenblicke  noch  eine  den  Bergarbeitern  entgegenkom- 
mende Erklärung  abgab.  Eine  Ausnahme  haben  die  Ar- 
beiter indessen  bei  John  Morley  gemacht,  der  in  Newcastle 
gewählt  wurde,  obwohl  er  gegen  den  gesetzlichen  8 Stunden- 
tag ist.  In  Bezug  auf  diese  Inkonsequenz  sagt  die  Labour  Tri- 
büne, dass,  wenn  man  die  8 Stundenfrage  anderen  Rücksichten 
überhaupt  hätte  unterordnen  wollen,  dann  Broadhurst, 
dessen  Spezialität  Arbeitsfragen  sind,  jedenfalls  grössere 
Ansprüche  gehabt  hätte  als  Morley,  dessen  Spezialität 
Irland  ist.  In  Folge  dieser  vielen  Wiedersprüche  ist  es  un- 
möglich, das  Schicksal  des  8 Stundentages  vorher  zu  sagen. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Der  deutsche  sozialdemokratische  Parteitag.  Infolge 

eines  Beschlusses  des  Erfurter  Parteitags  wird  der  nächste 
sozialdemokratische  Kongress  in  Berlin  stattfinden.  Der 
Parteivorstand  erliess  unter  dem  27.  August  im  „Vorwärts“ 
eine  Bekanntmachung,  in  der  er  den  Kongress  auf  Sonntag, 
den  16.  Oktober  in  das  Lokal  zu  den  Konkordiasälen, 
Berlin,  Andreasstrasse  64,  einberuft.  Die  provisorische 
Tagesordnung  ist  folgendermassen  festgesetzt:  Sonntag, 

16.  Oktober,  Abends  7 Lhr,  Vorversammlung.  Konstituirung 
des  Parteitages.  Festsetzung  der  Geschäfts-  und  der  Tages- 
ordnung. Wahl  einer  Mandatsprüfungskommission.  Montag, 

17.  Oktober  und  die  folgende  Tage: 

I.  Geschäftsbericht  des  Parteivorstandes.  Bericht- 
erstatter: Richard  Fischer.  2.  Bericht  der  Kontrolleure 
durch  August  Kaden.  3.  Bericht  über  die  parlamentarische 
Thätigkeit  der  Reichstagsfraktion.  Berichterstatter  Paul 
Singer.  4.  Die  Maifeier  1893.  Berichterstatter  Albin 
Gerisch.  5.  Der  internationale  Arbeiterkongress  in  Zürich. 
Berichterstatter:  Ferdinand  Ewald.  6.  Das  Genossenschafts- 
wesen, der  Boykott  und  die  Kontrollschutzmarke.  Bericht- 
erstatter: J.  Auer.  7.  Die  wirthschaftliche  Krise  und  ihre 
Folge:  der  allgemeine  Nothstand.  Berichterstatter:  W.  Lieb- 
knecht. 8.  Der  Antisemitismus  und  die  Sozialdemokratie. 
Berichterstatter:  A.  Bebel.  9.  Berathung  derjenigen  An- 
träge aus  den  Reihen  der  Parteigenossen,  welche  bei  den 
voraufgehenden  Punkten  der  Tagesordnung  nicht  bereits 
ihre  Erledigung  gefunden  haben.  10.  Wahl  der  Parteilei- 
tung und  Bestimmung  des  Ortes,  wo  sie  ihren  Sitz  zu 
nehmen  hat. 

Arbeiterkongress  (1er  französischen  Schweiz.  Zur 

Theilnahme  an  diesem  Kongress,  welcher  Sonntag  den 
4.  September  in  Genf  stattfindet,  haben  sich  40  Vereine 
mit  50  Delegirten  angemeldet.  Es  werden  Referate 
halten:  Redakteur  Fauquez  über  die  Statuten  des 
französch- schweizerischen  Arbeiterbundes,  der  innerhalb 
des  allgemeinen  schweizerischen  Arbeiterbundes  eine  ge- 
sonderte Stellung  erhalten  soll;  Nationalrath  Favon  über 
obligatorische  Berufsgenossenschaften;  Grossrath  Triquet 
über  das  geforderte  selbständige  Arbeitersekretariat  für  die 
welsche  Schweiz;  Nationalrath  Sachenal  über  Ausdehnung 
des  Fabrikgesetzes  auf  das  Handwerk;  Grossrath  Thie- 
baud  über  Schaffung  von  Berufskonsulaten.  Weitere  Vor- 
träge betreffen  die  Bedeutung  der  Maschinen  und  die  Rolle 
der  Politik  in  den  Vereinen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Die  Wirkung  der  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe. 

Nicht  blos  den  Handlungsgehilfen  ist  die  Sonntagsruhe,  die 
am  1.  Juli  für  das  Handelsgewerbe  eingeführt  wurde,  zu 
Gute  gekommen,  sondern  mittelbar  auch  zahlreichen  Ar- 
beitern in  anderen  Gewerben.  Aus  Stuttgart  wird  berichtet, 
dass  die  Metzgergehilfen  und  Bäckergehilfen,  die  seither  in 
vielen  Geschäften  bis  Nachmittags  1 Uhr  und  noch  länger 
zu  arbeiten  hatten,  jetzt  in  der  Regel  bis  9 oder  10  Lhr 
Vormittags  mit  der  Arbeit  fertig  sind.  Sämmtliche  Läden 
in  Stuttgart  müssen  von  1 Uhr  Nachmittags  an  geschlossen 
sein,  blos  für  die  Bäckerläden  ist  für  die  Abendstunde  von 
7 — 8 Uhr  eine  Ausnahme  zugelassen,  von  der  übrigens  das 
Publikum  wenig  Gebrauch  macht.  Im  Allgemeinen  hat 
sich  das  Publikum  daran  gewöhnt,  in  den  Morgenstunden 
den  ganzen  Tagesbedarf  einzukaufen,  es  hat  desshalb 
keinen  Zweck  mehr,  für  den  Nachmittag  und  Abend  frische 
Waare  anfertigen  zu  lassen,  wie  es  seither  geschehen  ist. 

Auch  auf  das  Friseurgewerbe  hat  die  Sonntagsruhe 
im  Handelsgewerbe  einen  Einfluss  gehabt.  Da  die  Friseure 
von  1 Uhr  Nachmittags  an  nichts  mehr  verkaufen  dürfen, 
wurde  die  Anregung  gegeben,  sie  sollen  auch  ihren  eigent- 
lichen Gewerbebetrieb  um  1 Uhr  einstellen.  Von  95  Ge- 
schäften, die  gegenwärtig  in  Stuttgart  das  Rasiren  und 
Haarschneiden  betreiben,  erklärten  38  schon  vor  dem  1 . Juli, 
dass  sie  künftig  um  1 Uhr  schliessen  werden.  Weitere 
37  Geschäfte  haben  sich  seither  angeschlossen,  so  dass  blos 
noch  20  Geschäfte  länger  als  bis  1 Uhr  arbeiten  lassen. 


No.  36. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


446 


Die  Veranlassung,  dass  so  viele  Geschäfte,  die  seither  bis 
3 Uhr,  4 Uhr  und  noch  länger  geöffnet  waren,  sich  zum 
Schli'essen  um  I Uhr  verstehen  konnten,  ist  eine  zweifache. 
Zum  Theil  ist  die  Veranlassung  darin  zu  suchen,  dass  die 
vereinigten  Gewerkschaften  eine  öffentliche  Aufforderung 
an  die  Arbeiter  erliessen,  sie  sollen  blos  noch  die  Geschäfte, 
die  um  I Uhr  schliessen,  besuchen.  Zum  Theil  aber  liegt 
die  Veranlassung  darin,  dass  das  Publikum  sich  schnell 
daran  gewöhnt  hat,  sämmtliche  Bedürfnisse,  mit  denen  es 
auf  offene  Geschäfte  angewiesen  ist,  in  der  Zeit  vor  1 Uhr 
Nachmittags  zu  befriedigen.  Von  einer  Reihe  von  Friseuren 
wurde  erklärt,  dass  schon  am  ersten  Sonntag  im  Juli  von 
1 Uhr  an  das  Geschäft  wie  abgeschnitten  gewesen  sei, 
während  seither  bei  vielen  Friseuren  gerade  in  den  Nach- 
mittagsstunden bis  3 Uhr  der  stärkste  Andrang  war.  Eine 
Schädigung  durch  den  früheren  Geschäftsschluss  hatten 
besonders  die  Friseure  befürchtet,  die  auf  Arbeiterkund- 
schaft  angewiesen  sind.  Diese  Geschäfte  hatten  seither  die 
Woche  über  wenig  zu  thun,  die  Arbeit  drängte  sich  auf 
die  Zeit  von  Samstag  Nachmittag  bis  Sonntag  Nachmittag 
zusammen.  Seit  1.  Juli  wurde  die  Wahrnehmung  gemacht, 
dass  der  Zudrang  der  Arbeiter  schon  am  Freitag  Abend 
beginnt,  so  dass  bis  Sonntag  Nachmittag  1 Uhr  die  gleiche 
Arbeit  wie  früher  bequem  erledigt  werden  kann.  Zum 
Theil  hängt  dies  mit  einem  anderen  Umstande  zusammen. 
In  den  meisten  Fabriken  in  Stuttgart  wurde  mit  der  Ein- 
führung der  Gewerbeordnungsnovelle  der  Zahltag  auf  den 
Freitag  verlegt  und  erfahrungsgemäss  ist  der  Arbeiter  dann 
am  ehesten  geneigt,  eine  an  sich  nicht  ganz  unbedingt 
nothwendige  Ausgabe,  wie  die  für  den  Friseur,  zu  machen, 
wenn  er  einen  grösseren  Geldbetrag  in  der  Tasche  hat. 


Arbeiterversicherung. 


Die  Ausdehnung  des  deutschen  Unfallversiclievungs- 
gesetzes  auf  das  Handwerk.  In  Organen,  die  der  Regie- 
rung nahestehen,  findet  sich  folgende  Aeusserung: 

Eine  der  grössten  Schwierigkeiten,  welche  sich  bei 
der  Ausdehnung  der  Unfallversicherungspflicht  auf  das 
Handwerk  u.  s.  w.  erheben,  besteht  darin,  die  Versiche- 
rungskosten so  zu  bemessen,  dass  die  kleineren  Betriebe  sie 
ohne  grosse  Beschwerden  aufbringen  können.  Es  wird  des- 
halb bei  der  Beurtheilung  aller  in  dieses  Gebiet  einschla- 
genden  Fragen  der  Sparsamkeitsstandpunkt  ausschlaggebend 
sein  müssen.  Wenngleich  man  nun  bei  der  Entscheidung 
über  die  Form  der  Entschädigungen  gewisse  Erfahrungen, 
welche  man  bei  der  bisherigen  Unfallversicherung  hat 
machen  können,  benutzen  und  demzufolge  beispielsweise 
die  kleinen  Entschädigungen  nicht  in  der  Form  von  Renten, 
sondern  von  Kapitalsabfindungen  gewähren  wird,  so  wird 
man  doch  im  Grossen  und  Ganzen  an  diesem  Kostenposten 
gegenüber  dem  entsprechenden  der  jetzigen  Berufsgenossen- 
schaften nicht  viel  sparen  können.  Man  wird  die  Höchst- 
grenze der  Entschädigungen  dorthin  verlegen  müssen,  wo 
sie  nach  dem  Unfallversicherungsgesetze  vom  6.  Juli  1884 
liegt,  weil  sonst  das  Handwerk  der  Vortheile,  welche  ihm 
aus  der  Unfallversicherung  vornehmlich  betreffs  des  Bezuges 
von  Arbeitskräften  winken,  nicht  theilhaftig  werden  würde. 
Die  Hauptersparnisse  wird  man  demgemäss  durch  die  Wahl 
der  einfachsten  und  zweckmässigsten  Organisation  sowie 
der  billigsten  Verwaltung  zu  machen  suchen.  Ein  so  kom- 
plizirter  Apparat,  wie  er  bei  den  gewerblichen 
Berufsgenossenschaften  zur  Vertheilung  der  Beiträge 
in  Bewegung  gesetzt  werden  muss,  würde  beispielsweise 
für  die  neue  Versicherung  viel  zu  theuer  sein.  Bei  den 
Berufsgenossenschaften  werden  die  Beiträge  nach  den  Ge- 
fahrenklassen und  den  Löhnen  bemessen.  Es  ist  also  die 
Aufstellung  von  Gefahrenklassen,  die  Zutheilung  der  Be- 
triebe zu  den  einzelnen  Klassen  und  die  Einsendung  von 
Lohnnachweisungen,  deren  Prüfung  u.  s.  w.  nöthig,  um  die 
Beiträge  gesetzesgemäss  zu  vertheilen.  Von  solchen  Vor- 
schriften dürfte  der  neue  Gesetzentwurf  absehen  müssen. 
Er  wird  das  auch  um  so  eher  können,  weil  die  Gefahren- 
höhe in  den  noch  ausserhalb  des  Unfallversicherungskreises 
stehenden  Betrieben  nicht  allzusehr  verschieden  ist.  Ob 


man  sich  freilich  mit  dem  Modus  der  Vertheilung  der  Bei- 
tragslast lediglich  nach  der  Arbeiterzahl  wird  begnügen 
können,  bleibt  doch  fraglich. 

Der  lieiehszuschuss  für  die  Invalidität«-  und  Altersver- 
sicherung ist  zuerst  im  Etat  für  das  Jahr  1891/92  verlangt  worden. 
Er  betrug  damals  6,2  Millionen  und  war,  da  die  Invalidenrenten  der 
Uebergangszeit  wegen  erst  vom  22.  November  1891  ab  beansprucht 
werden  konnten,  fast  gänzlich  für  Zuschüsse  zu  Altersrenten 
bestimmt.  Im  Etat  für  1892/93  wurde  die  Summe  um  3 Millionen 
J erhöht,  und  zwar  entfielen  von  der  Erhöhung  1,3  Millionen  auf 
die  Alters-  und  1,7  Millionen  auf  die  Invalidenrenten.  Wie  hoch 
sich  die  Vermehrung  für  1893/94  belaufen  wird,  steht  noch  nicht 
! ganz  fest,  jedoch  ist  es  schon  nach  den  im  laufenden  Jahre  mit 
der  Bewilligung  von  Invalidenrenten  gemachten  Erfahrungen 
nicht  wahrscheinlich,  dass  die  Steigerung  des  Reichszuschusses 
beträchtlich  höher  sein  wird,  als  die  von  1891/92  auf  1892/93. 

Freie  Hilfskassen  und  Krankenkassennovelle.  Am 

21.  August  traten  auf  Anregung  des  „Kaufmännischen  Vereins 
Stuttgart“  die  Delegirten  der  „Kaufmännischen  Krankenkassen 
Württembergs“  (freie  Hilfskassen)  unter  dem  Vorsitz  des  Ver- 
bandsvorstandes C.  Gayler  von  Esslingen  zu  einer  Berathung 
in  Stuttgart  zusammen,  um  bezüglich  des  Fortbestehens  der  freien 
Hilfskassen  angesichts  der  am  1.  Januar  1893  in  Kraft  tretenden 
j Krankenkassennovelle  endgiltige  Stellung  zu  nehmen.  Am 
Schlüsse  der  eingehenden  Besprechungen  wurde  folgende 
! Resolution  angenommen:  „Der  Verband  ist  entschlossen,  auch 
| fernerhin  die  freien  Hilfskassen  Württembergs  unter  Anpassung 
der  Statuten  an  das  neue  Gesetz  fortzuerhalten,  jedoch  vorerst 
davon  abzusehen,  eine  gemeinsame  württembergische  Verbands- 
kasse zu  begründen.  Der  Verbandsausschuss  wird  beauftragt, 
ein  einheitliches  Statut  für  sämmtliche  Vereine  auszuarbeiten. 
Nach  der  Probezeit  eines  Jahres  wollen  sich  die  Verbandsvereine 
wieder  mit  der  Frage  eines  allenfallsigen  Zusammenschlusses 
beschäftigen.  Eventuell  würde  auch  die  Schaffung  einer 
kaufmännischen  Krankenkasse  für  nichtversicherungspflichtige 
Vereins-  bezw.  Verbandsmitglieder  in’s  Auge  zu  fassen  sein. 


Kriminalität. 


Arrnuth  und  Verbrechen.  In  der  Zeitschrift  für  Schwei- 
zer Strafrecht  findet  sich  folgende  Mittheilung:  70  pCt. 

der  Sträflinge,  die  letztes  Jahr  in  die  Strafanstalt  Lenzburg 
eingetreten  sind,  besitzen  kein  Vermögen  und  keine  Aus- 
sicht, je  zu  solchem  zu  gelangen.  Dieser  Prozentsatz  gilt 
aber  nicht  nur  für  das  Jahr  1891,  sondern  er  erscheint  jedes 
Jahr  wieder,  vielleicht  um  ein  weniges  höher  oder  tiefer. 
Keine  Ursache  des  Verbrecherthums  ist  so  allgemein  und 
allseitig  wirksam  als  die  Arrnuth.  An  dieser  Klippe  strandet 
auch  manches  Fahrzeug,  das  den  Kampf  mit  den  Wogen 
und  Wellen  des  Lebens  vielleicht  noch  recht  muthig  autge- 
nommen  hat.  Die  Kräfte  gehen  ihm  zu  früh  aus.  Natürlich 
kommen  dabei  jene  noch  weit  mehr  in  Gefahr,  welche  sich 
ohne  jegliche  Anstrengung  dem  Zufalle  überlassen  und  ohne 
Kompass  und  festen  Willen  hinausfahren,  also  den  Leicht- 
sinn zum  Steuermann  haben. 

Daraus  die  nöthigen  Schlüsse  zu  ziehen,  ist  wohl  un- 
schwer. Mit  unausgesetzter  Bekämpfung  der  Arrnuth, 
namentlich  in  ihren  Ursachen,  bekämpft  man  auch  wirk- 
samer als  mit  Polizei  und  Strafgesetzen  das  Verbrechen. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Hardung,  Victor,  Sonn  wendfeuer.  Lieder.  Zürich,  1891.  Ver- 
lagsmagazin.  8°.  66  S. 

Jahresbericht  der  Handels-  und  Gewerbekammer  für  Ober- 
bayern. München,  1892.  Dr.  E.  Wolf  & Sohn.  8°.  205  S. 
Mollat,  Dr.  Georg,  Lesebuch  zur  Geschichte  der  Staats- 
wissenschaft des  Auslandes.  Osterwick/Harz,  1891. 
A.  W.  Zukfeldt.  8b  VII  und  191  S. 

Seven,  M.,  Studien  über  die  Zukunft  des  Geldwesens. 
Leipzig,  1892.  Duncker  & Humblot.  8".  VIII  und  91.  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


450 


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No.  36. 


OF  POLITICAL  AND  SOCIAL  SCIENCE. 


J he  O/final  Journal  of  /he  American  Academy  of  Political 
ancl  Social  Science. 


Is  indispensable  to  all  who  are  in  am  way  interested  in  the  great 
questions  of  the  day. 

I he  ANNALS  contains  articles  on  economic,  political,  social,  historical 
and  legal  subjects;  reports  of  the  discussions  at  the  meetings  of  the  Academy  \ 
peersonal  notes,  about  the  workers  in  the  field  ot  political  and  .social  scince, 
and  Reviews  of  the  latest  books  treating  of  these  questions. 

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Mit  Januar  1892  begann  ein  neues  Abonnement  auf  den  XI.  Jahrgang  des 

Oentrallblattes 

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allgemeine  Gesundheitspflege. 

Herausgegeben  von 

Dp.  Finkelnburg-,  I)r.  Leut,  I)r.  Woltt'berg-, 

Professor  a.  d.  Universität  Bonn.  lieh.  Sanitätsrath  in  Ciiln.  König).  Kreisphysikus  in  Tilsit. 

[ährlich  erscheinen  12  Hälfte  8'  mit  zahlreichen  Abbildungen  und  Tafeln. 

Abonnementspreis  31.  10.  pro  anno. 


Das  Programm  des  „Centralblattes  für  allgemeine  Gesundheitspflege“  stellt  sich 
im  Wesentlichen  zusammen  aus:  Originalartikeln  über  alle  Zweige  der  Gesundheits- 
pflege, Berichten  ans  (len  Krankenhäusern  der  grösseren  Städte.  Sterbliclikeits- 
statistik  mit  Berücksichtigung  der  Todesursachen,  Berichten  über  epidemische 
Vorgänge.  Seuchestatistik,  Pebersichten  der  hygienischen  Bestrebungen  des  In-  und 
Auslandes.  3Iedizinalgesetzgel>ung.  Auszügen  und  Referaten  über  die  neu  erschienene 
Literatur  des  In-  und  Auslandes  etc  etc. 

Ferner  enthalten  die  Hefte  zahlreiche  „Kleinere  Mittheilungen“  aus  dem 
Gebiete  der  Hygiene,  Literaturberichte,  regelmässige  monatliche  Nachweisungen 
über  Krankenaufnahme  und  Bestand  in  den  Krankenhäusern  von  54  Städten  der 
Provinzen  Westfalen,  Rheinland  und  Hessen-Nassau  etc.  etc. 

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anstalten zum  Abonnementspreise  von  31.  10. — pro  anno  entgegen.  Die  bereits 
erschienenen  Jahrgänge  können  zum  Preise  von  M 10.—  pro  Tahreane  nachbezo°-en 
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Dom  29.  Juli  1890. 
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Dom  11.  Juli  1887. 

Tept  'flnSgabe  mit  t’lnmerfungen  nnb  aadjregifter 
uon 

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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin. 


Druck  von  H.  5.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  12.  September  1892. 


Nummer  37 


SOZIALPOLITISCHES 


ENTRALBL 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  3 Mark. 

Einzelnummer  25  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltenc 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  7’. 


Die  deutschen  Ge w e r b e k a m - 
mern.  Von  Dr.  Rud.  Grätzer. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthscliaftsstatistik : 

Der  Kampf  zwischen  Arbeit  und 
Kapital  im  fernen  Westen.  Von 
Kantonsstatistiker  E.  Naef. 

Die  Kommission  für  die  Um- 
arbeitung des  Reichscivilgesetz- 
entwurfs. 

Eine  Enquete  über  das  Gemeinde- 
eigenthum im  deutschen  Reiche. 

Staatliche  Lohnpolitik  in  Pr  ;ussen. 

Das  englische  Kleinstättengesetz. 

Arbeiterzustämle: 

Die  Lage  der  Arbeiter  in  den 
russischen  Bergwerken.  Von 
E.  Schollt ow. 

Zur  Statistik  der  Arbeitslosigkeit. 

Die  ortsüblichen  Tagelöhne  in  der 
Stadt  Hannover. 

Arbeiterverhältnisse  in  Lübeck. 

Arbeiterverhältnisse  in  Bremen. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

1 )ie  Situation  im  deutschen  Buch- 
druckergewerbe. Von  Dr.  Adolf 
Braun. 


Die  sliding  scale  als  Regulator  der 
Arbeitslöhne. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Sonntagsruhe  im  sächsischen  Eisen- 
bahndienste. 

Enquete  über  die  kaufmännische 
Sonntagsruhe  im  Unter-Elsass. 

Schutzvorschriften  für  kaufmänni- 
sche Angestellte  in  der  Schweiz. 

Fakultativer  Achtstundentag  in  Eng- 
land. 

Arbeiterversicherung: 

Zur  Krage  der  Doppelversiche- 
rung. 

Gewerbegerichte : 

Die  Gewerbegerichtswahlen  in 
Berlin. 

Wolmungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Massregeln  zur  Erzielung  gesunde- 
ren Wohnens  in  Glasgow. 

Soziale  Hygiene: 

Erkrankungen  und  Berufsverhält- 
nissc  in  Prag. 

Arbeiterkrankenkassen  im  Dienste 
der  sozialen  Hygiene. 

Lebensmittelkontrolle  in  Wien. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  deutschen  Gewerbekammern. 


Der  preussischen  Regierung  nahestehende  Blätter 
kündigen  eine  Vorlage  bezüglich  Errichtung  von  Gewerbe- 
kammern schon  für  die  nächste  Tagung  des  Reichstages 
an.  Demnach  soll  nicht  blos  das  Handwerk  sondern  auch 
der  Kleinhandel,  welcher  bisher  jeder  Organisation  erman- 
gelte, durch  „Gewerbekammern“  vertreten  werden.  Be- 
achtenswerth  ist  das  freilich  nicht  überraschende  Geständ- 
niss  der  Regierung,  dass  die  Innungen  hierfür  „nicht  ge- 
nügt“ hätten.  In  Betreff  der  Organisationsfrage  wird  hier 
vorgeschlagen,  auch  den  Kleinhandel  „als  völlig  getrennte 
Gruppe“  in  die  gemeinsame  „Gewerbekammer“  einzube- 
ziehen. Den  neugebildeten  Interessenvertretungen  soll  eine 
gewisse  Bewegungsfreiheit  eingeräumt  werden  und  demge- 
mäss ihre  Kompetenz  in  eine  obligatorische  und  fakultative 
zerfallen.  Zur  ersteren  „dürfte  vielleicht  zu  rechnen  sein : 
Abgabe  von  Gutachten  über  die  Mittel  zur  Förderung  des 
Kleingewerbes  an  die  Behörden,  die  Beaufsichtigung  des 
Haltens  von  Lehrlingen,  Ueberwachung  des  Herbergs- 


wesens und  des  damit  verbundenen  Arbeitsnachweises,  die 
Veranstaltung  von  Lehrlingsprüfungen  sowie  die  Aufsicht 
über  die  Durchführung  der  Gewerbeordnungsbestimmun- 
gen etc.“  Zur  fakultativen  Uebertragung  wird  als  geeignet 
bezeichnet:  „Errichtung  von  Unterstützungskassen,  von 

Fach-  und  Fortbildungsschulen,  Veranstaltung  von  Gesellen- 
prüfungen, Errichtung  von  Schiedsgerichten  und  Einigungs- 
ämtern dort,  wo  Gewerbegerichte  nicht  bestehen  und  An- 
deres mehr.“  Es  wird  bemerkt,  dass  durch  die  Reorgani- 
sation ein  grosser  Theil  der  den  Innungen  bisher  zustehen- 
den Rechte  an  die  Gewerbekammern  übertragen,  letzteren 
jedoch  auch  neue  Berechtigungen  verliehen  worden.  Er- 
höht wird  davon  ein  Aufschwung  des  Mittelstandes. 

Wenn  dieser  Skizze  gemäss  der  Entwurf  ausgestaltet 
wird,  kann  sich  eine  unparteiische,  dem  Grundgedanken 
der  Organisation  sympathisch  gegenüberstehende  Kritik 
aut  die  Darlegung  weniger  Gesichtspunkte  beschränken. 
Was  die  Geschichte  dieser  Organisationsbestrebungen  an- 
langt, so  sei  nur  daran  erinnert,  dass  in  Folge  der  bekann- 
ten Erklärung  Herrn  v.  Bötticher’s  die  Innungsschwärmer 
im  Februar  d.  Js.  in  Berlin  sich  versammelten  und  den  Be- 
fähigungsnachweis als  die  conditio  sine  qua  non  bezeich- 
neten.  Von  einer  Erfüllung  dieser  Forderung  ist  in  dem 
skizzirten  Entwurf  keine  Rede.  Immerhin  bringt  er  der 
ziinftlerischen  Strömung  erhebliche  Konzessionen. 

Als  wichtigste  derselben  wird  wohl  das  Recht  der 
Lehrlings-  und  Gesellenprüfungen  angesehen  werden, 
welches  den  Kammern  zustehen  soll.  Diese  ßefugniss  ist 
aber  eine  um  so  bedeutsamere  als  nach  der  Gewerbeordnung 
bisher  eine  besondere  Prüfungsbehörde  — für  Hilfspersonen 
des  Handwerks  und  des  Kleinhandels  wenigstens  — nicht 
besteht.  Ein  allgemeiner  Prüfungszwang  kann  doch  nicht 
so  nebenher  eingeführt  werden  und  bedarf  jedenfalls  ge- 
nauer Bestimmungen  und  Regulative.  Wir  können  an 
dieser  Stelle  nicht  die  ganze  Streitfrage  über  die  Berech- 
tigung der  Prüfungen  aufrollen.  Allein  auch  dem  von  ihrer 
Unentbehrlichkeit  Ueberzeugten  geben  wir  zu  bedenken, 
dass  einmal  ausreichende  Garantie  für  die  Qualifikation 
der  — Examinatoren  gegeben  sein  muss.  Weiter  ist  doch 
das  Naturgemässe,  die  Prüfungen  der  Fachschule  zu  über- 
lassen, deren  Lehrer  jedenfalls  das  beste  Urtheil  über  die 
Leistungen  der  Examinanden  besitzen.  Will  man  einen 
„Praktiker“  der  Prüfungskommission  hinzugesellen,  so  steht 
ja  dem  nichts  im  Wege  und  die  Kammer  mag  hierzu  Mit- 
glieder delegiren.  Nach  den  bisherigen  Erfahrungen  mit 
dem  Fachschulwesen  der  Innungen  ist  es  unseres  Erach- 
tens jedenfalls  geboten,  dabei  die  grösste  Vorsicht  walten 
zu  lassen,  will  man  anders  das  Ziel  einer  ausreichenden 
Vorbildung  im  Fache  nicht  völlig  aus  dem  Auge  lassen. 


452 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  37. 


Es  ist  auch  zu  bedenken,  dass  man  auf  diesem  Wege  leicht 
zu  viel  thun,  durch  strenge  Vorschriften  dem  „Schützling“ 
schaden  kann.  Jeder  Betrieb  der  darin  — ob  mit  Recht 
oder  Unrecht  bleibe  dahingestellt  — eine  Hemmung  er- 
blickt, wird  durch  Konzentration  in  grossindustrielle  Fa- 
briken eventuell  durch  Auflösung  in  hausindustrielle  Einzel- 
betriebe ihr  zu  entgehen  suchen  und  dadurch  dem  Hand- 
werk eine  desto  erbittertere  Konkurrenz  machen.  Aber  auch 
davon  abgesehen,  bedarf  das  chinesische  Prüfungssystem 
überhaupt  einer  tieferen  Begründung,  falls  es  nicht,  wie 
schon  einmal  in  der  preussischen  Gesetzgebung  auf  dem 
Papiere  stehen  bleiben  soll. 

Noch  entschiedener  müssen  wir  Stellung  nehmen 
gegen  die  Uebertragung  der  Aufsicht  über  jene  Bestim- 
mungen der  Gewerbeordnung,  welche  sich  auf  das  Lehr- 
lingswesen, die  Arbeiterschutzbestimmungen  und  ähnliche 
Materien  beziehen.  Es  ist  bekannt,  dass  gerade  im  Hand- 
werk und  im  Kleinhandel  die  schlimmsten  Missstände  in 
dieser  Beziehung  herrschen,  dass  hier  vielfach  die  „Lehr- 
lingszüchterei“ florirt,  die  Arbeitszeit  am  längsten  ausge- 

O O Ö 

dehnt  wird  und  vieles  Andere  mehr.  Kann  dies  von  un- 
parteiischer Seite  in  keiner  Weise  bestritten  worden,  so  ist 
es  doch  das  denkbar  Verkehrteste,  den  Interessenten  selbst 
das  Kontrollerecht  einzuräumen.  Ja  die  Befürchtung  liegt 
nahe,  dass  dadurch  die  vorhandenen  Missstände  eine  Stei- 
gerung erfahren,  so  weit  sie  deren  überhaupt  noch  fähig 
sind.  Der  „korporative  Zusammenschluss“  wird  sich  in 
einer  Stärkung  der  kleineren  Unternehmerklassen  mani- 
festiren.  Das  ist  die  wohlbegründete  Absicht  des  Entwurfs. 
Allein,  da  eine  Organisation  der  darin  beschäftigten  Ar- 
beiter nicht  geplant  ist,  auch  unseres  Erachtens  wenigstens 
für  die  nächste  Zukunft  zu  grossen  Schwierigkeiten  der 
Realisirung  begegnet,  wird  die  unausbleibliche  Folge  eine 
Verstärkung  des  Uebergewichts  der  Unternehmer  sein. 
Diese  noch  künstlich  durch  derartige  Befugnisse  stützen  zu 
wollen,  halten  wir  für  völlig  verfehlt.  Im  Gegentheil,  hier 
kann  nur  durch  uninteressirte  Dritte  ein  leidlicher  Aus- 
gleich geschaffen  werden.  Die  Aufnahme  dieser  Befugniss 
in  ein  Gesetz  würde  solches  für  uns  unannehmbar  machen 
und  auch  die  Befürworter  derselben  sollten  bedenken,  ob 
es  w'ohlgethan  ist,  noch  Oel  ins  Feuer  zu  giessen,  in  einer 
Zeit,  wo  sozialer  Zündstoff  aller  Orten  hoch  aufgeschich- 
tet liegt. 

Da  wir  prinzipiell  die  Nützlichkeit,  ja  die  Unentbehr- 
lichkeit einer  Organisation  der  Berufsinteressen  anerkennen, 
bliebe  noch  die  Aufgabe,  den  „berechtigten  Kern“  der 
Kompetenz  herauszuschälen.  Zunächst  vermissen  wir  auch 
hier,  wTie  früher  bei  der  landwirthschaftlichen  Organisation, 
eine  bindende  Erklärung  der  Regierung,  vor  allen  einschlä- 
gigen Gesetzentwürfen  und  Verwaltungsmassregeln  die 
Voten  der  Kammern  einzuholen.  Ebenso  fehlen  wiederum 
Bestimmungen  über  das  Verhältniss  der  Kammern  zu  den 
bestehenden  Behörden.  Dass  die  Sache  nicht  leicht  zu 
nehmen  ist,  beweist  die  Unklarheit,  ob  die  Handelskammern 
„Behörden“  sind  oder  nicht.  Aber  hier  sind  die  Schwierig- 
keiten noch  grösser,  weil  eine  Verbindung  nicht  blos  mit 
dem  Reichsamt  des  Innern  als  Centralbehörde,  sondern  auch 
mit  den  Ministerien  der  Einzelstaaten  herzustellen  ist,  über 
welche  das  erstere  keine  Verfügungsmacht  besitzt.  In- 
dessen kann  es  bei  einigermassen  gutem  Willen  nicht 
schwer  fallen,  hier  einen  Ausweg  zu  finden.  Wir  wollen 
nur  andeuten,  dass  wir  einen  solchen  in  der  Schaffung  eines 
„Reichsgewerbeamts“  oder  einer  ähnlichen  Oberinstanz  uns 
vorstellen,  da  ohnehin  das  Reichsamt  des  Innern  in  seiner 
jetzigen  Gestalt  viel  zu  gross  ist  und  zu  disparate  Befug- 
nisse enthält. 

Selbstredend  müsste  den  neuen  Kammern  ein  mög- 
lichst weitgehendes  Initiativrecht  mit  direktem  und  unge- 


hinderten Verkehr  an  alle  betheiligten  Behörden  gegeben 
werden.  Nur  wenn  das  der  Fall  ist,  wenn  die  Interessenten 
spüren,  dass  ihre  Anregungen  und  Berathungen  von  der 
au.stührenden  Gewalt  berücksichtigt  werden,  lässt  sich  eine 
rege  Antheilnahme  an  den  Geschäften,  mit  einem  Worte 
ein  genossenschaftliches  Leben  erwarten.  Und  darauf 
kommt  alles  in  erster  Reihe  an,  ohne  solches  bleibt  die 
Organisation  ein  todter  Buchstabe,  wie  die  vielfachen  ver- 
geblichen Anläufe  zur  Genüge  erwiesen  haben. 

Es  wird  sich  unseres  Erachtens  empfehlen,  mit  der 
Uebertragung  von  Kompetenzen  an  die  Kammern  nicht  zu 
freigebig  im  Anfang  zu  sein.  Es  gilt,  das  non  multa  sed 
multum  zu  beherzigen.  Auf  der  anderen  Seite  sollte  selbst- 
redend das  Nächstliegende  energisch  in  Angriff  genommen 
werden,  damit  die  Interessenten  den  Nutzen  der  Organi- 
sation thunlichst  bald  am  eigenen  Leibe  verspüren.  Dahin 
gehörten  vor  Allem  eine  Reihe  von  Erhebungen,  für  w'elche 
die  Kammern  Anregung  geben  könnten  und  deren  Durch- 
führung von  ihnen  zu  übernehmen  wäre.  Dahin  gehörte 
eine  Centralisirung  des  arg  zersplitterten  Arbeitsnachweises, 
Vereinheitlichung,  Hebung  und  Vermehrung  von  Fach-  und 
Fortbildungsschulen,  Lehrwerkstätten  und  vieles  andere 
mehr,  was  in  diesem  Rahmen  nicht  erörtert  werden  kann. 
Freilich  dazu  gehören  nicht  unerhebliche  Geldmittel  und 
diese  können  um  so  weniger  den  Interessenten  allein  aufer- 
legt werden,  als  diese  sich  in  der  Mehrzahl  in  bedrängten 
Verhältnissen  befinden.  Aber  wer  den  grossen  Zweck  will, 
muss  eben  auch  die  Mittel  wollen,  scheut  man  allzu  ängst- 
lich die  Ausgaben,  so  sollte  man  lieber  von  dem  Werke 
ganz  abstehen! 

Zum  Schlüsse  möchten  wir  hervorheben,  dass  der  Ge- 
danke des  Entwurfs,  die  Handwerker  und  Kleinkaufleute, 
wenn  auch  als  „verschiedene  und  völlig  getrennte  Gruppen“ 
in  eine  und  dieselbe  „Gewerbekammer“  aufzunehmen, 
unseres  Erachtens  ein  völlig  verfehlter  ist.  Die  Interessen 
des  Kleinhandels  weisen  ihn  mehr  auf  eine  organische  Ver- 
bindung mit  dem  Grosshandel  und  der  Grossindustrie  hin. 
Stellt  man  aber  das  in  Abrede,  so  muss  er  eben  für  sich 
gesondert  organisirt  werden.  Auch  verlangen  die  Inter- 
essenten selbst  - namentlich  die  Handwerker  — eine 
eigene  Vertretung  und  es  ist  nicht  abzusehen,  welchen 
Vortheil  die  Vereinigung  in  der  „Gewerbekammer“  bieten 
soll.  Vielleicht  verbreitet  der  definitive  Gesetzentwurf, 
welcher  demnächst  veröffentlicht  werden  soll,  mehr  Licht 
darüber. 

Schliesst  sich  solcher  freilich  eng  an  die  oben  skiz- 
zirten  Bestimmungen  an,  so  ist  bei  der  starken  Strömung 
gegen  Interessenvertretungen  überhaupt  zu  befürchten,  dass 
er  zwischen  zwei  Feuer  gerathen  und  schwerlich  zur  An- 
nahme gelangen  wird.  Jedenfalls  dürfte  er  die  stolzen 
Hoffnungen,  dem  Mittelstände  einen  Aufschwung  zu  geben, 
nicht  erfüllen,  sofern  nicht  einschneidende  Aenderungen  an 
ihm  vollzogen  werden. 

Marburg  i.  H.  Rudolf  Grätzer. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Der  Kampf  zwischen  Arbeit  und  Kapital  im  fernen 
Westen. 

Im  westlichen  Prairiegebiet  der  Vereinigten  Staaten 
führen  die  kleinen  Ansiedler  gegenwärtig  einen  erbitterten 
Kampf  um  die  Existenz  gegen  die  Uebermacht  und  Willkür 
der  sogenannten  Viehkönige.  Anfang  der  siebziger  Jahre 
trieb  General  Crook  die  Indianer  aus  dem  Thal  des  Platte- 


No.  37, 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


453 


flusses  und  öffnete  den  Viehzüchtern  neue  Weideplätze. 
Diese  zögerten  nicht  lange.  Aus  dem  westlichen  Nebraska, 
aus  Colorado,  aus  Utah,  ja  selbst  aus  Texas  trieben  sie  ihre 
Heerden  hinein.  Die  Viehkönige  brachten  ihr  Vieh  zu 
Tausenden  an  ausgewählte  Plätze  im  neuen  Gebiet.  Beim 
Fort  Mc.  Pherson  im  westlichen  Nebraska,  wo  Schreiber 
dieses  um  jene  Zeit  als  Soldat  der  Vereinigten  Staaten- 
Armee  stationirt  war,  konnte  man  Heerden  von  10—15  000 
Stück  passiren  sehen.  Leute,  die  bisher  als  Späher  oder 
Jäger  ein  kümmerliches  Dasein  fristeten,  nahmen  ganze 
Thäler  in  Beschlag,  traten  mit  Kapitalisten  in  Verbindung 
und  waren  in  kurzer  Zeit  in  Land  und  Vieh  20—100  000 
Dollars  werth.  Nach  und  nach  gelang  es  neuengländischen 
und  englischen  Kapitalisten,  eine  dominirende  Rolle  im 
Viehgeschäft  zu  behaupten.  Der  Handel  ging  anfangs  recht 
glänzend.  Die  Viehpreise  verdoppelten  sich  auf  dem  Fleisch- 
markte in  Chicago. 

Unter  den  neugebackenen  Millionären  gab  es  aber 
auch  solche,  welche  auf  das  Glück  nicht  allzu  sehr  bauten. 
Sie  verlegten  sich  in  aller  Stille  auf  die  Politik.  Sie  traten 
als  eigene  Gruppe  in  die  gesetzgebende  Behörde  und  fan- 
den, einmal  dort,  keine  Opposition.  In  Folge  ihrer  Be- 
mühungen wurden  im  Territorium  Wyoming  eine  Reihe  von 
Gesetzen  zu  Gunsten  der  grossen  Viehzüchter,  aber  nichts 
weniger  als  aufmunternd  für  die  Ansiedler  erlassen.  Man 
konstruirte  eine  ganz  neue  Art  von  Besitzrechten,  um  zu- 
dringliche neue  Ankömmlinge  fernzuhalten.  In  Wirklichkeit 
gehörte  zwar  alles  Land,  mit  Ausnahme  vielleicht  eines 
tausendsten  Theiles,  den  Vereinigten  Staaten  und  sollte 
unter  den  Landgesetzen  der  Besiedlung  offen  stehen.  Aber 
da  steckte  gerade  der  Haken.  Die  Bundesregierung  betrach- 
tet den  Ansiedler  auf  öffentlichen  Ländereien  als  Farmer  und 
nicht  als  Heerdsmann,  und  es  gestatten  die  Heimstätten- 
Gesetze  Eintragungen  für  nur  160  Acker.  Das  Wüstenland- 
Gesetz  gestattet  640  Acker,  wovon  aber  jeder  40- Ackertheil 
bewässert  werden  muss.  Diese  Bestimmungen  waren  den 
Viehkönigen  sehr  unbequem.  Die  Gesetzgeber  verstanden 
es  indessen  trefflich,  durch  Territorialgesetze  die  Bundes- 
gesetze zu  umgehen.  Eines  der  Gesetze,  welche  sie  erliessen, 
verbot  unter  Geldstrafe  und  Gefangenschaft  das  Durch- 
schneiden der  Drahthecken  der  Viehzüchter.  Infolgedessen 
wurde  bald  darauf  ein  Ansiedler  ins  Gefängniss  gesetzt,  weil 
er  die  Stacheldrahthecke  eines  Viehkönigs  durchschnitten 
hatte.  In  Wahrheit  hatte  zwar  der  Viehkönig  seinen  Stachel- 
draht meilenlang  um  das  Besitzthum  des  armen  Ansiedlers 
gezogen,  so  dass  dieser,  um  in  die  Stadt  zu  gehen,  den 
Draht  durchschneiden  musste;  aber  er  hatte  sich  gegen  das 
Gesetz  in  flagranti  vergangen  und  musste  bestratt  werden. 

Während  dieser  Fall  bei  den  Gerichten  anhängig  war 
und  das  dauerte  eine  geraume  Zeit,  ahnten  die  kleinen 
Ansiedler  nichts  Gutes  und  viele  verkauften  so  schnell  als 
möglich  ihr  Besitzthum.  Darauf  hatten  gerade  die  Vieh- 
könige spekulirt.  Besitzer  kleinerer  Heerden  verkauften 
ihnen  in  gleicher  Weise  dieselben.  So  kam  es,  dass  um 
1883/84  das  Vieh  in  Wyoming  in  Händen  reicher  Besitzer 
war,  welche  grosse  Gesellschaften  bildeten,  deren  Titel  an 
den  Börsen  in  New- York  und  London  gehandelt  wurden. 
Mehrere  Gesellschaften  hatten  ein  Kapital  von  1—3  Millionen 
Dollars.  Das  Land  Hessen  sie  von  Kuhjungen  und  Stroh- 
männern erwerben,  und  zwar  legten  sie  mit  Vorliebe  Hand 
auf  die  am  Wasser  gelegenen  Niederungen,  wodurch  sie 
faktisch  auch  die  höher  gelegenen  Theile  beherrschten. 

Um  ihren  Besitz  noch  mehr  zu  sichern,  bildeten  die 
Viehbesitzer  eine  besondere  Vereinigung.  Als  bei  Eröff- 
nung der  Weideländereien  von  überall  her  Viehheerden 
einrückten,  vermischten  sich  diese  mehr  oder  weniger  und 
Mancher  sah  auf  diese  Weise  seine  Viehzahl  sich  bedeutend 
vermehren.  So  entstanden  Unregelmässigkeiten,  Manche 
gelangten  zu  einer  Viehheerde  nur  mit  einem  Brandeisen. 

Um  solche  Praxis  unmöglich  zu  machen,  wurde  die 
Vereinigung  der  Viehbesitzer  gegründet.  Die  Vereinigung 
umfasste  alle  Viehbesitzer  von  Wyoming,  im  Ganzen  250. 
Ihre  Beschlüsse  wirkten  für  die  Mitglieder  sehr  wohlthätig, 
nicht  aber  für  die  Ansiedler.  Die  Gesellschaft  nahm  Ge- 
heimpolizisten in  ihre  Dienste,  welche  das  Gebiet  von  den 
Viehdieben  säuberten  und  so  herrschte  eine  Zeit  lang  Ruhe 
und  Frieden  und  die  Viehkönige  wurden  immer  reicher. 

Auf  einmal  aber  kam  Schlag  auf  Schlag.  Das  erste 
Missgeschick  brachte  die  Verhaftung  jenes  Ansiedlers,  der 
die  Drahthecke  durchschnitten  hatte.  Er  fand  einen  Ver- 
theidiger  in  dem  obersten  Richter  des  Territoriums,  welcher 
entschieden  für  die  Bundesgesetze  eintrat.  Nicht  nur  erhielt 
der  Mann  sein  Recht,  sondern  der  Richter  entschied  zudem 


noch,  dass  alle  Hecken  auf  dem  Bundesland  beseitigt  wer- 
den müssten.  Die  Viehkönige  schickten  die  gewandtesten 
Advokaten  nach  Washington,  wählten  den  Richter  weg, 
appellirten  an  den  Sekretär  des  Innern  und  schliesslich] 
sogar  an  den  Präsidenten;  aber  es  half  alles  nichts.  Durch 
das  Militär  bedroht,  entfernten  sie  mit  Widerwillen  ihre 
Stacheldrahthecken.  Bald  darauf  durchkreuzte  eine  noch 
höhere  Macht  als  das  Gesetz  ihre  Pläne.  Der  Winter  von 
1884  war  einer  der  kältesten  und  längsten  seit  Menschen 
Gedenken.  Kälber  und  Kühe  erfroren  zu  Zehntausenden. 
Entgegen  aller  Hoffnung  fiel  das  Jahr  1885  ebenso  schlimm 
aus.  Die  Winter  von  86  und  87  waren  nicht  viel  besser. 
Am  Schlüsse  dieser  verhängnisvollen  Periode  war  kaum 
noch  halb  so  viel  Vieh  vorhanden  als  1883.  Zudem  waren 
die  Viehpreise  bedeutend  gesunken.  Die  Folgen  waren 
schlimm.  Mancher  Viehkönig  • stieg  vom  Throne,  da  die 
Hypotheken  denselben  erdrückten.  Eine  Gesellschaft  nach 
der  anderen  fiel  in  Bankerott.  Selbst  die  Banken,  welche 
den  Viehbesitzern  so  reichlich  Kredit  gewährt  hatten,  wur- 
den ruinirt.  Mancher  Viehkönig  war  froh,  wieder  eine 
Stelle  als  Handelsgehilfe  zu  finden.  Die  Meisten  verliessen 
die  Gegend. 

Die  gewaltige  Blase  war  geborsten.  In  den  Sommern 
von  90  und  91  Unterhessen  es  zahlreiche  Firmen,  die  nun 
kaum  dem  Namen  nach  bestanden,  Vertreter  nach  Wyoming 
zur  Kontrole  der  Heerden  zu  senden.  Es  lohnte  sich  kaum 
mehr,  das  Vieh  zu  sammeln.  Eine  neue  Situation  war  ent- 
standen. Eine  verlassene  Viehweide  bedeutete  das  Auf- 
eben von  bewässerten  Niederungen  und  es  wurden  diese 
enn  auch  sofort,  wo  die  Titel  unvollständig  waren,  von 
Kuhjungen  und  Ansiedlern  unter  den  Bestimmungen  und 
Bedingungen  der  Heimstättengesetze  in  Besitz  genommen. 
In  kurzer  Frist  entstand  eine  Reihe  von  Ortschaften;  neue 
Eisenbahnen  brachten  weitere  Ansiedler,  kleine  Kaufleute 
und  Farmer.  Alle  diese  verbanden  sich  gegen  die  aus- 
sterbende Vereinigung  der  grossen  Viehbesitzer.  Die  sich 
selbst  überlassenen  Ueberreste  der  grossen  Heerden  gaben 
den  neuen  Ansiedlern  gute  Gelegenheit,  ihren  Viehstand 
zu  vergrössern.  In  den  letzten  drei  Jahren  ist  der  grössere 
Theil  der  ehemaligen  Viehheerden  in  ihre  Hände  gelangt. 
Indessen  haben  noch  ein  Drittel  der  früheren  Viehkönige 
ihren  früheren  Besitz  erhalten.  Diese  führen  nun  mit  den 
Kleinen,  die  in  ihren  Augen  nur  Rustlers  d.  h.  Schelme 
sind,  während  diese  die  Anderen  als  Diebe  tituliren,  einen 
grimmigen  Kampf  auf  Leben  und  Tod.  Schon  mehrmals 
sind  sie  in  Schlachthaufen  einander  gegenüber  gestanden. 

Man  darf  auf  den  Ausgang  der  Dinge  gespannt  sein. 
Die  grossen  Viehzüchter,  indem  sie  das  Recht  des  ersten 
Besitzes  geltend  machen  und  erklären,  dass  sie  die  Vieh- 
zucht in  die  Gegend  eingeführt  haben,  werden  bewaffnete 
Streitkräfte  halten  müssen,  um  ihre  angemassten  Rechte  zu 
vertheidigen.  Wie  die  Carnegiewerke  in  Homestead,  so 
miethen  auch  sie  Pinkerton’sche  Polizeitruppen.  Die  kleinen 
Viehzüchter,  indem  sie  ihr  ursprüngliches  Besitzrecht  auf- 
recht halten  und  hierbei  von  der  öffentlichen  Meinung 
unterstützt  werden,  werden  nicht  nachgeben,  bis  sie  über- 
wältigt sind.  Die  Staatsregierung  hält  es  mit  den  grossen 
Viehzüchtern,  die  Bundesregierung  ist  neutral,  und  die 
Bezirksregierung  steht  auf  »Seite  der  kleinen  Viehzüchter. 
Diese  sagen,  sie  seien  gezwungen  zu  kämpfen,  oder  ihr 
Besitzthum  Stück  um  »Stück  verschwinden  zu  sehen.  Es 
steht  ausser  Zweifel,  dass  der  Sieg  ihnen  schliesslich  zu- 
fallen wird;  die  zunehmende  Besiedelung  im  Westen  kann 
auf  die  Dauer  die  künstlichen  Schranken , welche  das 
spekulative  Kapital  der  Arbeit  entgegen  gestellt  hat,  nicht 
vertragen. 

Aarau.  E.  Naef. 


Die  Kommission  für  die  Umarbeitung  des  Reichs- 
zivilgesetzentwurfes hat  in  der  letzten  Zeit  einige  sozial- 
politisch höchst  bedeutsame  Beschlüsse  gefasst.  Der  „Ent- 
wurf eines  bürgerlichen  Gesetzbuches  für  das  deutsche 
Reich“  hat  bekanntlich  in  seinem  Bestreben,  die  Rechts- 
prinzipien möglichst  folgerichtig  durchzuführen,  den  ge- 
ringfügigen, im  Reichsgesetz  vom  14.  November  1867  noch 
aufrechterhaltenen  Beschränkungen  der  Zinsfreiheit  die 
Aufnahme  in  unser  künftiges  Civilrecht  verweigert.  Die 
Kommission  nun  stellte  „entsprechend  dem  auf  Verstärkung 
des  gesetzlichen  Schutzes  des  wirthschaftlich  Schwächeren 
gerichteten  Streben  der  Gegenwart“  diese  Bestimmungen 
wieder  her.  Darnach  soll  bei  einem  höheren  Zinssatz  als 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  37. 


sechs  von  Hundert  auf  das  Jahr  der  Schuldner  nach  Ablauf 
eines  halben  Jahres  zu  einer  halbjährigen  Kündigung  des 
Kapitals  berechtigt  sein.  Ausgenommen  sind  die  kauf- 
männischen Schulden.  Aus  den  gleichen  Erwägungen  her- 
aus und  in  Anlehnung  an  das  Gutachten  des  20.  deutschen 
Juristentags  setzte  die  Kommission  ein  richterliches  Er- 
mässigungsrecht  bezüglich  jeder  unverhältnissmässig  hohen 
Konventionalstrafe  fest.  Der  Entwurf  hatte  die  Höhe  der 
Konventionalstrafe  unbeschränkt  der  freien  Vereinbarung 
der  Parteien  überlassen,  während  das  Allgemeine  Preussi- 
sche  Landrecht  bestimmt,  dass  die  Konventionalstrafe  das 
Doppelte  des  Interesses  des  Gläubigers  nicht  übersteigen 
dürfe.  Bei  der  Berathung  der  oben  erwähnten  Einschrän- 
kung der  Zinsfreiheit  erklärten  ferner  mehrere  Kommissions- 
mitglieder, dass  sie  von  Vorschlägen  bezüglich  der  Rege- 
lung der  Abzahlungsgeschäfte  nur  mit  Rücksicht  auf  das 
in  der  Vorbereitung  begriffene  Reichsspezialgesetz  über 
diesen  Gegenstand  zur  Zeit  Abstand  nähmen. 

Staatliche  Lohnpolitik  in  Preussen.  Einen  Einblick 
in  die  sozialpolitischen  Grundsätze  des  preussischen  Staates 
als  Unternehmer  gewährt  folgendes  in  der  Presse  veröffent- 
lichtes Schriftstück: 

„Königl.  Eisenbahndirektion  Rechtsrh.  Köln. 

An  sämmtliche  Haupt-  und  Nebenwerkstätten! 

Trotz  wiederholter  Aufforderung  ist  der  Verdienst  der 
Arbeiter  derselbe  geblieben,  vereinzelt  noch  gestiegen. 
Wir  verordnen  hiermit  nochmals,  den  Verdienst  den  Zeit- 
verhältnissen gemäss  zu  reduziren  und  werden  bei  der 
nächsten  Rechnungsrevision  in  Betracht  ziehen,  in  wiefern 
hiervon  Gebrauch  gemacht  ist.“  (Name.) 

Während  die  Vereinigten  Staaten  für  die  staatlichen 
Arbeiten  eine  erhebliche  Verkürzung  der  Arbeitszeit,  die 
Stadt  Zürich  Minimallöhne  einführt,  geht  man  in  Preussen 
daran,  die  ohnedies  sehr  niedrigen  Lohnsätze  der  staatlichen 
Arbeiter  weiter  zu  reduziren.  Eine  ähnliche  Lohnpolitik 
betrieb  man  in  Preussen  unter  freihändlerischen  Ressort- 
ministern zur  Zeit  der  Krisis  in  den  70er  Jahren.  Das  Ein- 
schlagen sozialreformatorischer,  das  Verlassen  der  freihänd- 
lerischen Bahnen  hat  an  der  Lohnpolitik  des  preussischen 
Staates  als  Unternehmer  nichts  geändert. 

Eine  Enquete  über  das  Gemeindeeigentliuin  im  deutschen 
Reiche.  „Frei  Land“  veröffentlicht  einen  Aufruf  des  Vorstandes 
des  deutschen  Bundes  für  Bodenbesitzreform  mit  dem  Entwürfe 
eines  Fragebogens  zur  Ermittelung  der  Grösse,  des  Ertrages  u.s.  w. 
des  Gemeindegrundbesitzes  im  deutschen  Reiche.  Der  Frage- 
bogen hat  folgenden  Wortlaut: 

1.  Grösse  des  Gemeindebesitzes  in  Morgen  oder  Hektaren: 
a)  Wald:  b)  Wiese:  c)  Acker:  d)  andere  Nutzländereien  (Berg- 
werke u.  s.  w.):  e)  Bauland,  bebaut  und  unbebaut: 

2.  Verwerthung  des  Gemeindelandes:  a)  wieviel  ist  ver- 
pachtet? b)  wieviel  ist  anderweitig  ausgethan?  c)  wieviel  ist  im 
Gemeindehetrieb  ? 

3.  Gesammtertrag  des  Gemeindelandes:  a)  aus  Verpach- 
tung: b)  aus  anderweiter  Vergebung:  c)  aus  dem  Gemeinde- 
betrieb : 

4.  Verwendung  des  Ertrages:  a)  für  die  laufenden  Ge- 
meindeausgaben: b)  für  gemeinnützige  Zwecke:  c)  zur  Deckung 
der  Staatssteuern  der  Bürger:  d)  durch  direkte  Verteilung  an 
die  Bürger  in  baar:  in  Naturalien  (Holz,  Streu  oder  dergl.): 

5)  Zahl  a)  der  Bezugsberechtigten:  b)  der  Ortsansässigen 
überhaupt: 

6.  Hat  sich  der  Gemeindegrundbesitz  und  der  Gesammt- 
ertrag in  den  letzten  10  Jahren  wesentlich  vermehrt  oder  ver- 
mindert: 

7.  Was  ist  über  die  Zunahme  oder  Abnahme  des  Gemeinde- 
grundbesitzes aus  früherer  Zeit  bekannt? 

Das  englische  Kleinstättengesetz.  Das  landwirthschaft- 
liche  Amt  hat,  wie  wir  der  „Kölnischen  Zeitung“  entnehmen,  den 
Grafschattsräthen  eine  Darstellung  und  Erläuterung  des  in  diesem 
Jahre  erlassenen  Kleinstättengesetzes  (small  holdings  Act)  zu- 
gehen lassen,  mit  der  Aufforderung,  für  jede  Grafschaft  einen 
Ausschuss  für  die  Entgegennahme  von  Anträgen  für  den  An- 
kauf oder  die  Pachtnahme  von  Kleinstätten  zu  errichten.  Als 
Kleinstätte  gilt  ein  Gut  von  mehr  als  I Acre  (.40  Ar)  und  nicht 
über  50  Acre  (20  Hektar),  her  Grafschaftsausschuss  hat  das 
Recht,  Land  anzukaufen,  um  dasselbe  in  Pacht  zu  geben  oder 
zu  verkaufen,  sowie  die  auf  den  erworbenen  Grundstücken  ste- 
henden Gebäude  umbauen  oder  neue  Gebäude  errichten  zu 
lassen.  Ein  Zwangsrecht  zum  Ankauf  von  Land  besitzt  der 
Ausschuss  ebensowenig  als  in  Preussen  die  Ansiedlungskom- 
mission. Jedem  Grafschaftswähler  steht  das  Recht  zu,  beim 
Grafschaftsrath  ein  Gesuch  um  Schaffung  von  Kleinstätten  ein- 
zureichen, worauf  das  Gesuch  an  den  Kleinstättenausschuss  zur 
Begutachtung  geht.  Bejaht  der  Grafschaftsrath  die  Bedürfniss- 
frage,  so  hat  er  sich  nach  Grundstücken  umzusehen,  die  auf 


dem  Wege  der  freien  Vereinbarung  zu  erwerben  sind.  Nach 
der  Erwerbung  wird  das  Grundstück  den  Bestimmungen  des 
Gesetzes  von  1875  über  den  Besitzwechsel  (land  transfer  Act; 
gemäss  eingetragen.  Jeder  Grafschaftsrath  hat  das  Recht,  dem 
Ausschuss  Bedingungen  für  die  Ausführung  des  Kleinstätten- 
gesetzes vorzuschreiben  und  auf  den  vom  Ausschuss  erworbenen 
Grundstücken  Arbeiten,  wie  Be-  und  Entwässerung,  Wegean- 
lagen u.  s.  w.,  anzuordnen.  Beim  Wiederverkauf  an  Private  ist 
dem  Kaufpreis  der  Kostenbetrag  der  Meliorations-  und  anderen 
Arbeiten  im  Verhältniss  zum  Flächeninhalt  der  einzelnen  Klein- 
stätten zuzuschlagen.  Wer  eine  Kleinstätte  auf  Abzahlung  vom 
Grafschaftsrath  erwerben  will,  hat  wenigstens  Vr.  des  Verkaufs- 
preises sofort  zu  entrichten,  während  iür  den  gestundeten  Be- 
trag eine  Gewähr  oder  eine  Hypothek  zu  Gunsten  des  Graf- 
schaitsraths  zu  leisten  ist.  In  diesem  Falle  muss  die  Abzahlung 
in  halbjährlichen  Raten  mit  Zinsen  binnen  höchstens  50  Jahren 
erfolgen.  Der  Grafschaftsrath  kann  bei  der  Regierung  eine 
3 ’/ä  procentige  Anleihe  zum  Zweck  des  Landankaufs  eingehen 
und  soll  den  Abnehmern  4 pCt.  Zinsen  und  Tilgung  anrechnen, 
so  dass  ein  Abnehmer  von  20  Acre  zu  50  L.  Mas  Acre  200  L. 
baar  anzuzahlen  und,  wenn  die  Abzahlung  auf  50  Jahre  anbe- 
raumt ist,  32  L.  jährlich  an  Kapital  und  Zinsen  zu  entrichten 
hat;  erst  nach  der  Abzahlung  wird  der  Abnehmer  Besitzer  des 
Gutes.  Bis  dahin  darf  er  das  Gut  nicht  in  Afterpacht  geben 
oder  theilen,  mehr  als  ein  Wohnhaus  auf  demselben  errichten, 
kurz,  dessen  Charakter  nicht  verändern.  Aber  auch  wenn  das 
Gut  in  seinen  Besitz  übergegangen  ist,  bleibt  es  als  Kleinstätte 
gewissen  Verfügungen  des  Grafschaftsraths  unterworfen;  so  ist 
der  Besitzer  im  Falle,  dass  das  Grundstück  als  Bauplatz  ver- 
kauft werden  soll,  dazu  gehalten,  es  zuerst  dem  Grafschaftsrath 
und  demjenigen,  der  es  an  den  Rath  veräussert  hat,  zum  Ver- 
kauf anzubieten.  In  einigen  besonderen  Fällen  darf  der  Graf- 
schaftsrath Kleinstätten  von  nicht  über  15  Acre  Ausdehnung 
oder,  wenn  grössere,  für  einen  Jahreszins  von  nicht  über  15  L. 
in  Pacht  geben.  Die  Grafschaftsräthe  dürfen  ihre  Anleihen  zu 
den  Zwecken  des  Gesetzes  nur  in  dem  Mass  eingehen,  dass  sie 
selbst  eine  Heimzahlung  nach  dem  Satze  von  1 P.  für  das  Lst. 
vornehmen  können.  Demnach  darf  ein  Grafschaftsrath,  der  über 
Land  im  Werthe  von  1 500  000  L.  verfügt,  was  zu  jenem  Satze 
eine  Jahresrate  von  6 200  L.  ergiebt,  nur  150  000  L vom  Staats- 
schatz leihen,  weil  die  Inhaber  von  Kleinstätten  für  diesen  Be- 
trag, zu  4 pCt.  für  Kapital  und  Zinsen,  jährlich  6000  L.  zu  ent- 
richten haben.  Eine  wichtige  Bestimmung  des  Gesetzes  ist  die, 
dass  beim  Ableben  des  Inhabers  die  Kleinstätte  ungetheilt  an 
eine  Person  übertragen  werden  muss,  und  zwar  an  ein  Familien- 
mitglied; dadurch  wird  das  Gut  ein-  für  allemal  zur  Heimstätte. 


Arbeiterzustände. 


Die  Lage  der  Arbeiter  in  den  russischen  Bergwerken. 

Schon  seit  Langem  ist  die  äusserst  traurige  Lage  der 
Arbeiter  in  den  Hütten-  und  Bergwerken  Russlands  Gegen- 
stand der  Erörterung  in  der  russischen  Litteratur.  Sowohl 
in  den  Fachzeitschriften,  wie  in  der  Tagespresse  klagte 
man  oft  über  die  überaus  ungünstigen  materiellen  und 
sanitären  Verhältnisse,  unter  welchen  der  russische  Berg- 
arbeiter sein  kümmerliches  Dasein  fristen  muss.  Theilweise 
durch  den  Widerhall  dieser  Klagen,  theilweise  vielleicht 
auch  durch  das  energische  Vorgehen  der  Bergarbeiter  in 
Westeuropa  und  die  zu  Gunsten  der  Letzteren  erlassenen 
Gesetze  genöthigt,  veranlasste  im  Herbst  1891  das  russische 
Domänenministerium,  eine  amtliche  Untersuchung  der  Lage 
der  Arbeiter  in  den  Hütten-  und  Bergwerken  Russlands. 
Da  sich  Russlands  bedeutendste  Hütten-  und  Bergwerke  im 
Ural  befinden,  wurde  Dr.  Bertenson,  ein  Mitglied  des  Montan- 
komitees, vom  Domänenministerium  dorthin  mit  dem  Auf- 
träge geschickt,  den  sanitären  Zustand  der  Arbeiter  sowohl 
in  den  grössten  Privat-  und  Staatshüttenwerken,  als  auch 
in  den  Goldbergwerken  zu  prüfen.  Dr.  Bertenson’s  Bericht 
hierüber  wurde  vor  Kurzem  veröffentlicht  und  erweist  sich 
in  sozialpolitischer  Hinsicht  von  grossem  Interesse.  Seine 
Arbeit  trägt  den  Titel:  „Die  Hütten-  und  Bergwerke 
Russlands  in  ärztlich-sanitärer  Beziehung1)  und 
enthält  in  kurzen,  aber  markigen  Zügen  eine  Charakteristik 
der  gesundheitlichen  Zustände  der  genannten  Arbeiterkate- 
gorie. Die  gedrängte,  jedoch  lebendige  Schilderung  zerfällt 

!)  „Wratschebno-sanitarnoje  djelo  na  gornich  sa wodach  i 
pronislach  w Rossii.“  S.  Petersburg,  1892. 


No.  37. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


455 


in  3 Theile:  1.  in  die  Schilderung  der  Hüttenwerke  nach  ihrer 
sanitären  Lage,  die  Statistik  der  Unglücksfälle,  Beschrei- 
bung der  Berufskrankheiten  und  der  hauptsächlichsten 
Fabrikmissstände,  2.  eine  Darstellung  der  Organisation  der 
ärztlichen  Aufsicht,  d.  h.  des  Spitalwesens  in  den  Privat- 
sowie  in  den  Staatshüttenwerken,  und  3.  die  allgemeinen 
Missstände  der  ärztlich-sanitären  Kontrolle  in  allen  Hütten- 
und  Goldbergwerken  des  Urals.  Schliesslich  werden  in  der 
Schrift  Vorschläge  gemacht  zur  Registrirung  von  Unglücks- 
tällen, Bestimmungen  zum  Schutze  der  Arbeiter  vor  solchen 
und  ferner  für  Massregeln,  die  nach  der  Ansicht  des  Ver- 
fassers zur  Beseitigung  der  grossen  Unvollkommenheiten  der 
ärztlich-sanitären  Kontrolle  in  den  Bergwerken  Russlands 
getroffen  werden  müssten. 

Obschon  Dr.  Bertenson’s  Beobachtungen  sich  nicht  auf 
sämmtliche  Hütten-  und  Bergwerke  des  Urals  erstrecken,  son- 
dern nur  auf  12  Staats-,  7 Privathüttenwerke  und  2 Gold- 
bergwerke, so  hält  der  Verfasser  das  von  ihm  an  Ort  und 
Stelle  gesammelte  Material,  welches  ausserdem  durch  Mit- 
theilungen der  Fabrikverwaltungen  ergänzt  wurde,  für  hin- 
reichend genug,  um  ein  klares  Bild  der  Lage  der  Berg- 
arbeiter zu  geben.  Wie  nicht  anders  zu  erwarten  war, 
ist  dieses  Bild  eines  der  traurigsten,  das  man  sich  vor- 
stellen kann.  Die  räumliche  Beschränkung  der  Arbeits- 
lokalitäten, die  überaus  mangelhafte  Ventilation,  die  hohe 
Temperatur,  welche,  um  mit  Dr.  Bertenson  zu  sprechen, 
„die  Arbeit  höchst  schwierig,  ja  fast  unerträglich  macht“, 
der  völlige  Mangel  irgend  welcher  Schutzvorrichtungen 
gegen  Verletzungen  und  Unglücksfälle  und  dazu  noch  der 
Mangel  nicht  nur  von  Krankenhäusern  oder  Spitälern,  son- 
dern auch  der  einfachsten  Mittel  zur  ersten  Hilfeleistung 
bei  Unglücksfällen,  — dies  sind  nach  Dr.  Bertenson  die 
hauptsächlichsten  Uebelstände  der  Bergwerke  des  Urals. 
Es  kann  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  die  unter  solchen 
antihygienischen  Bedingungen  zur  Arbeit  genöthigten  Leute 
sehr  häutig  Krankheiten  der  Respirations-  und  Verdauungs- 
organe, ferner  Muskel-  und  Gelenkrheumatismen,  wie  auch 
traumatischen  Verletzungen  unterworfen  sind. 

So  seltsam  es  auch  für  einen  westeuropäischen  Leser 
klingen  mag,  aber  statistische  Daten  über  Erkrankungen  im 
Allgemeinen  existiren  im  Ural  gar  nicht  und  werden  auch 
nicht  aufgestellt.  Was  nun  die  Statistik  der  Unglücksfälle 
in  den  Bergwerken  des  Urals  anbetrifft,  so  existirt  zwar  ein 
amtliches  Jahrbuch  unter  dem  Titel:  „Sammlung  statisti- 
scher Daten  über  die  Montanindustrie  Russlands“,  indess 
entbehren  diese  Daten  jeder  Zuverlässigkeit.  Um  die  Mangel- 
haftigkeit dieser  amtlichenjahrbücher  zu  charakterisiren,  mag 
bemerkt  werden,  dass  die  darin  enthaltenen  bergbau- 
technischen Mittheilungen  seit  dem  Jahre  1866,  ungeachtet 
des  bis  zu  unserer  Zeit  gemachten  unverkennbaren  Pro- 
duktionsfortschrittes, stets  nach  ein  und  derselben  Schablone 
verfasst  und  publicirt  werden.1)  Dr.  Bertenson  weist  ferner 
in  seinem  Berichte  darauf  hin,  dass  in  der  Mehrzahl  der 
Hüttenwerke  nur  Fälle  schwerer  Körperverletzungen 
registrirt  werden,  ln  einigen  Etablissements  findet  nicht 
einmal  dies  statt.  Es  werden  nämlich  dort  nur  diejenigen 
Unglücksfälle  registrirt,  welche  den  Tod  oder  Pensionirung 
nach  sich  zogen. 

Nicht  weniger  als  die  Statistik  krankt  auch  die  Orga- 
nisation der  ärztlichen  Hilfe  an  Schäden  mannigfaltiger  Art. 
Gut  eingerichtete  Spitäler  giebt  es  wie  in  den  Privat-,  so 
auch  in  den  Staatsetablissements  nur  höchst  wenige.  Bei 
dem  gänzlichen  Mangel  an  beständig  angestellten  Aerzten 
in  vielen  Hospitälern  lässt  sich  auch  gar  keine  gute  sanitäre 
Pflege  erwarten.  Die  Mehrzahl  der  Kranken  wird  den 
„Feldscherern“  (in  Deutschland  „Bader“  genannt)  anver- 
traut, welch  letztere  zumeist  gar  keine  Fachbildung  auf- 
weisen können  und  lediglich  „zu  Hause“,  d.  h.  im  Hospital 
selbst,  ihre  Praxis  erworben  haben.  Auch  haben  sich  diese 
Feldscherer  keiner  Prüfung  unterzogen  und  besitzen  weder 
Zeugnisse,  noch  Diplome.  In  einer  ganzen  Reihe  von 

L „Wostotschnoje  Obosrjenije“  („Oestliche  Rundschau“) 
No  24.  Irkutsk,  1892. 


Spitälern  fand  Dr.  Bertenson  nicht  einmal  das  zur  Kranken- 
pflege Allernoth wendigste.  Noch  mehr:  unter  den  Privat- 
hüttenwerken existiren  auch  solche,  wo  nicht  nur  kein 
Arzt,  sondern  auch  kein  Feldscherer  fungirt.  So  müssen, 
z.  B.  die  Arbeiterkolonien  des  Tschernoistotschensky’schen 
Hüttenwerkes,  im  Bezirke  Nischnij-Tagilsk  — die  jährlich 
etwa  10  000  ambulante  Kranke  aufzuweisen  haben,  sich  an 
einen  Feldscherer  — bei  Weitem  keinen  Arzt  — wenden, 
welcher  ungefähr  10  Kilometer  weit  vom  Hüttenwerke 
seinen  Wohnsitz  hat.  Das  Goldbergwerk  von  Demidows 
Nachfolger,  welches  allein  zwei  und  ein  halbes  Tausend 
Arbeiter  beschäftigt,  besitzt  weder  ein  Krankenhaus,  noch 
einen  Feldscherer.  Trotz  des  Steigens  der  Arbeiterzahl 
haben  viele  Hütten-  und  Bergwerke  vom  Demidows  Nach- 
folger in  Bezug  auf  die  den  Arbeiterkolonien  gewährleistete 
ärztliche  Hilfe  sogar  einen  eminenten  Rückschritt  zu  ver- 
zeichnen. So  zählte  man  im  Nischnij-Tagilskischen  Bezirk 
Ende  der  sechziger  Jahre  fünf  Krankenhäuser  mit  150  Betten, 
jetzt  finden  wir  im  ganzen  Bezirk  nur  noch  zwei  Kranken- 
häuser mit  35  Betten.  Dass  sich  der  Gewinn  der  Unter- 
nehmer seit  den  sechziger  Jahren  keineswegs  verringerte, 
sondern  enorm  stieg,  ist  im  Ural  genügend  bekannt;  und 
bei  der  Konstatirung  der  Thatsache,  dass  Demidows  Nach- 
folger die  Reduktion  der  Krankenhäuser-Anzahl  für  noth- 
wendig  erachteten,  kann  sich  selbst  der  amtliche  Bericht- 
erstatter, Dr.  Bertenson,  folgender  sarkastischen  Bemerkung 
nicht  enthalten:  „Gewiss  ist  nun  jetzt  die  Etablissements- 

verwaltung, welche  in  den  Jahren  1867  und  1868  jährlich 
99  741  Rubel  für  die  Krankenpflege  verausgabte,  imStande, 
diese  Ausgaben  auf  25  Tausend  zu  reduziren,  obschon  der 
Reingewinn  in  gar  keinem  Vergleich  gestiegen  ist.“ 

Ganz  ähnlich,  wie  in  den  Demidow’schen  Etablisse- 
ments, sieht  es  mit  der  ärztlichen  Hilfe  in  den  Bergwerken 
anderer  Industrieller  aus  — und  es  gehört  keineswegs  zu 
den  Seltenheiten,  dass  drei  Hüttenwerke,  die  durch  eine 
Entfernung  von  vielen  Dutzenden  von  Wersten  von  ein- 
ander getrennt  sind,  zusammen  nur  einen  einzigen  Arzt 
haben. 

Die  mangelhafte  ärztliche  Hilfe,  die  den  Arbeitern  im 
Ural  zu  Theil  wird,  wurde  schon  oft,  wie  erwähnt,  von  der 
russischen  Presse  besprochen;  und  erst  kurz  vor  der  Ver- 
öffentlichung des  Berichts  von  Dr.  Bertenson  wiesen  die 
„Russkija  Wjedomosti“  1)  auf  den  traurigen  Sanitätszustand 
der  Arbeiter  im  Gouvernement  Perm  hin,  wo  sich  eben  die 
grösste  Anzahl  der  Bergwerke  des  Urals  befindet.  Trotzdem 
das  Gesetz  ausdrücklich  verlangt,  dass  jeder  Fabrikbesitzer 
für  je  100  Arbeiter  ein  Bett  im  Krankenhause  bereit  halten 
muss,  ist  die  ärztliche  Hilfe  für  die  Arbeiter  höchst  proble- 
matischer Natur.  Die  Zahl  der  im  Fabrik-Krankenhause 
vorhandenen  Betten  entspricht  äusserst  selten  der  Menge 
der  beschäftigten  Arbeiter.  Die  Aerzte  sind  in  den  Fa- 
briken und  Plüttenwerken  sehr  spärlich  vertreten  und  die 
Leitung  der  ärztlichen  Aufsicht  befindet  sich  oft  aus- 
schliesslich in  den  Händen  der  Feldscherer,  die  nicht  nur 
die  Ambulanten  behandeln,  sondern  sogar  Kranken- 
häuser mit  15  Betten  zu  überwachen  haben.  Dass  es  hier 
mit  ärztlicher  Hilfe  nicht  gut  aussieht,  brauchen  wir  nicht 
erst  auseinander  zu  setzen.  Es  muss  aber  noch  bemerkt 
werden,  dass  nur  die  in  den  Hüttenwerken  beschäftigten 
Männer  der  oben  geschilderten  Krankenpflege  theilhaftig 
werden,  — die  Frauen  jedoch,  sowie  auch  die  Kinder 
der  Arbeiter  werden  in  die  Krankenhäuser  gar  nicht  auf- 
genommen und  ihnen  auch  keine  Arzneien  verabfolgt.  Es 
giebt  ferner  Hüttenwerke,  wo  das  Gesetz,  die  obligatorische 
ärztliche  Hilfeleistung  an  die  Arbeiter  betreffend,  für  die 
Letzteren  in  noch  ungünstigerem  Sinne  von  den  Unter- 
nehmern kommentirt  wird:  es  werden  nämlich  hier  nur 

diejenigen  Arbeiter  in  die  Krankenhäuser  aufgenommen, 
welche  während  der  Arbeit  in  dem  Hüttenwerke  selbst  eine 
Verletzung  sich  zugezogen  haben. 

In  einer  noch  viel  schlimmeren  Lage,  als  die  Arbeiter 
in  den  Hüttenwerken,  befinden  sich  die  Arbeiter  in  den 

')  „Russkija  Wjed.“  Nr.  112,  1892. 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


Goldgruben  des  Urals.  Der  bei  weitem  grösste  Theil  der 
Arbeiter  in  den  Goldgruben  wird  von  den  sogenannten 
„Starateli“  verrichtet , einer  eigentümlichen  Art  von 
Arbeitern,  die  keinen  Taglohn  beziehen,  sondern  das  von 
ihnen  ausgebeutete  Gold  an  die  Goldgrubenbesitzer  an  Ort 
und  Stelle  verkaufen,  resp.  zu  verkaufen  verpflichtet  sind. 
Die  Gesammtzahl  der  „Starateli“  übersteigt  die  Höhe  von 
mehreren  10  000  Mann  und  eben  diese  „Starateli“  beuten 
% des  gesammten  Goldquantums  und  fast  das  ganze 
Platinaquantum  aus,  das  im  Ural  ausgewaschen  wird. 
Da  die  Arbeit  der  „Starateli“,  d.  h.  die  Goldwäscherei, 
ihrem  Wesen  nach  zu  den  schwierigsten  Leistungen 
gehört  und,  was  noch  wichtiger  ist,  sich  unter  höchst 
antihygienischen  Bedingungen  vollzieht , so  ist  es  nicht 
erstaunlich,  dass  die  Goldgruben  stets  eine  sehr  grosse 
Anzahl  von  Kranken  aufweisen.  Die  Grubenbesitzer  haben 
jedoch,  kraft  des  Gesetzes,  gar  keine  Verpflichtungen  den 
Grubenarbeitern  gegenüber,  mit  anderen  Worten,  sie  sind 
weder  verpflichtet , die  Kranken  ärztlich  behandeln  zu 
lassen,  noch  ihnen  Medikamente  oder  dergleichen  zu  geben. 
Infolge  dessen  fällt  die  ärztliche  Aufsicht  über  die  Gruben- 
arbeiter den  Semstwos  anheim.  Die  Semstwos  sind  aber 
auch  nicht  im  Stande,  eine  reguläre  ärztliche  Aufsicht  in 
allen  Goldgruben  zu  organisiren,  da  deren  sehr  viele 
existiren  und  sie  in  wilden  und  nur  mit  Mühe  zugänglichen 
Gegenden  gelegen  sind.  Die  Folge  von  all  dem  ist,  dass  die 
armen  „Starateli“  ihrem  Schicksal  resp.  ihrer  Krankheit 
preisgegeben  sind  und  sich  selbst  mit  ihren  eigenen  Mitteln 
zu  kuriren  suchen.  Ganz  besonders  werden  die  „Starateli“ 
vom  Scorbut  heimgesucht.  Jährlich  fallen  Dutzende  von 
Arbeitern  dieser  Krankheit  zum  Opfer;  noch  grösser  ist  die 
Anzahl  der  Kranken,  welche,  wenn  sie  auch  am  Leben 
bleiben , doch  monatelang  zu  arbeiten  nicht  im  Stande 
sind.  In  diesem  Jahre,  wo  die  Noth  des  Volkes  noch 
mehr  gestiegen  ist,  kann  man  erwarten,  dass  der  Scorbut 
grössere  Opfer  fordern  wird , als  es  gewöhnlich  der 
Fall  ist. 

Dr.  Bertenson  bestätigt  seinerseits  die  höchst  anti- 
hygienische und  antisanitäre  Lage  der  Arbeiter  in  den  Gold- 
gruben und  weist  darauf  hin,  dass  die  Lage  der  Gold- 
grubenarbeiter noch  schlimmer  ist,  als  diejenige  der  Fabrik- 
arbeiter im  Ural.  Die  Besitzer  der  Hüttenwerke  sorgen 
wenigstens  für  eine  mangelhafte  Krankenpflege,  dagegen 
leisten  die  Goldgrubenbesitzer  in  Bezug  auf  die  Vernach- 
lässigung dieser  ärztlichen  Hilfe  einfach  Unübertreffliches. 
Man  traut  kaum  seinen  Augen,  wenn  man  darüber  im  Be- 
richte von  Dr.  Bertenson  Folgendes  zu  lesen  bekommt: 
„Nicht  allein,  dass  die  Goldgrubenbesitzer  für  die  sanitären 
und  ärztlichen  Bedürfnisse  ihrer  Arbeiter  keine  Sorge 
tragen,  — sie  geben  sogar  noch  die  Erkrankten 
ihrem  Schicksale  vollständig  preis.  Kein  einziges 
Goldbergwerk,  — die  reichsten  von  ihnen  nicht 
ausgeschlossen,  — besitzt  ein  Krankenhaus  oder 
auch  nur  einen  Feldscherer.  „Ich  hatte  selbst  die 
Gelegenheit , 2 Arbeiter  zu  sehen“,  sagt  Dr.  Bertenson, 
„die  am  Flecktyphus  in  einer  der  Goldgruben  des  Ober- 
Tura’schen  Bezirkes  erkrankten,  und  die  daher  von  dort 
hinausgeschafft  und  in  Unter-Tura  ihrer  Krankheit  preis- 
gegeben wurden.  Die  Bewohner  Unter-Tura’s  hoben  die 
Arbeiter  von  der  Strasse  auf  und  verbrachten  sie  in  das 
Ortskrankenhaus“.  — Dies  ist  die  Organisation  der  ärzt- 
lichen Hilfe  in  den  russischen  Goldbergwerken,  und  sie 
entspricht  allen  übrigen  Lohn-  und  Lebensbedingungen  der 
russischen  Goldgrubenarbeiter! 

Dass  mit  dem  oben  Gesagten  schon  ein  klares  Bild 
über  die  Lage  der  Arbeiter  in  den  Goldgruben  des  Urals  ge- 
geben ist,  wird  wohl  Niemand  bestreiten  können.  Um  aber 
dieses  Bild  zu  vervollständigen,  wollen  wir  nun  zur  Be- 
trachtung der  Arbeiterwohnungen  schreiten,  welche  die  Gold- 
grubenbesitzer für  ihre  Arbeiter  errichten  lassen.  Diese 
Wohnungen,  welche  eigentlich  Kasernen  zu  nennen  sind, 
werden  aus  ganz  dünnen  Balken  gebaut  und  gewähren 
gegen  die  im  Ural  bis  zu  30  Grad  steigende  Kälte  absolut 
keinen  Schutz.  Das  Bretterdach  ist  lediglich  mit  Humus 
bedeckt,  worauf  sich  eine  dicke  Schneeschicht  lagert.  Pla- 


fonds sind  nicht  vorhanden  und  die  Thiire  geht  direkt  ins 
Freie.  Diese  Kasernen  sind  derart  überfüllt,  dass  auf  je 
einen  Arbeiter  im  günstigsten  Falle  kaum  4 cbm  Luft 
kommt.  Ein  gesunder,  jedoch  an  die  Luft  dieser  „Arbeiter- 
wohnungen“ nicht  gewöhnter  Mensch  kann  es  nicht  einmal 
einige  Minuten  hier  aushalten,  wenn  er  sich  nicht  Kopf- 
schmerzen, Kongestion  in  den  Schläfen  oder  Uebelsein  zu- 
ziehen will.  In  diesen  Kasernen  aber  wohnen  Tausende  von 
Arbeitern,  — hier  sollen  sie  nach  ihrer  mühevollen,  viel- 
stündigen  Arbeit  ausruhen,  Arbeit,  die,  um  mit  Dr.  Berten- 
son zu  sprechen,  — in  den  Goldgruben  Urals  „unter  den  die 
Gesundheit  der  Arbeiter  im  höchsten  Grade  gefährdenden 
Verhältnissen  vor  sich  geht.“ 

Um  Abhilfe  zu  schaffen  und  die  beispiellosen  Miss- 
stände im  Ural  wenn  auch  nur  einigermassen  zu  lindern, 
macht  Dr.  Bertenson  am  Schlüsse  seines  Berichtes  folgende 
Vorschläge:  1.  Die  Kontrole  über  die  Montanindustrie  soll 
allen  sanitären  Anforderungen,  im  weitesten  Sinne  des 
Wortes,  entsprechen  und  sich  sowohl  auf  die  Privathütten- 
werke und  Goldgruben,  wie  auch  auf  die  Staatsetablisse- 
ments erstrecken.  2.  Der  Wirkungskreis  der  Kontrol- 
beamten  müsse  in  Anbetracht  der  ausserordentlich  räumlichen 
Ausdehnung  der  Montanbezirke  möglichst  beschränkt  sein, 
damit  die  Kontrole  nicht  blos  eine  Fiktion  bleibt;  3.  die 
gesetzliche  Verantwortlichkeit  derjenigen  Persönlichkeiten, 
denen  das  Loos  der  Arbeiter  übertragen  ist,  soll  für  den 
Fall  der  Ausserachtlassung  der  durch  das  Gesetz  statuirten 
Forderungen  und  obligatorischen  Vorschriften  entsprechend 
verschärft  und  strenger  gehandhabt  werden. 

Was  nun  die  Kontrolagenten  anbetrifft,  so  räth  der 
Verfasser,  dieselben  nicht  den  Reihen  der  Techniker, 
sondern  dem  ärztlichen  Stande  zu  entnehmen,  indem  er 
von  der  ganz  richtigen  Ansicht  ausgeht,  dass  für  die 
sanitäre  Aufsicht  ärztliches  Wissen  weit  massgebender  ist, 
als  technisches.  „Die  technischen  Lücken  im  Kenntniss- 
bereiche  des  Arztes“,  meint  Dr.  Bertenson:  „werden  der 
sanitären  Kontrole  viel  weniger  schaden,  als  der  Abgang 
medizinischen  Wissens  bei  den  Technikern“.  Die  Anstellung 
von  Aerzten  als  Aufsichtsagenten  ist  desto  dringender  noth- 
wendig,  als  sämmtliche  Sanitätseinrichtungen  (Kranken- 
häuser, Spitäler  etc.)  des  Urals  zur  Zeit  unter  gar  keiner 
ärztlichen  Aufsicht  stehen.  Dies  erklärt  sich  dadurch,  dass 
das  Amt  des  Medizinalinspektors,  welcher,  laut  dem  § 946 
des  Bergreglements,  sämmtliche  Medicinaleinrichtungen  der 
Staats-  und  Privathüttenwerke  im  Ural  zu  verwalten  hatte, 
laut  einer  neuen  Bestimmung  des  Jahres  1890,  aufgehoben 
wurde.  Dr.  Bertenson  beharrt  auf  der  Nothwendigkeit  der 
Wiederherstellung  des  Medizinalinspektorates  und  weist 
darauf  hin,  dass  sich  in  den  Händen  dieses  Inspektors  nicht 
nur  die  Leitung  der  medizinischen,  sondern  auch  der  sani- 
tären Aufsicht  nunmehr  befinden  sollte.  Bei  der  Ueber- 
wachung  der  Sanitätszustände  müsste  der  Medizinalinspektor 
im  Ural  dieselben  Aufgaben  erfüllen,  wie  der  Hauptfabrik- 
inspektor in  den  Fabrikbezirken.  — Nachdem  Dr.  Bertenson 
noch  einige  detaillirte  Winke  zur  Besserung  der  Lage  der 
Arbeiter  in  den  Bergwerken  des  Urals  ausgesprochen  und 
nochmals  an  die  unerträgliche  Lage  der  russischen  Berg- 
arbeiter erinnert,  kommt  er  zu  folgendem  Ausruf:  „Schon 
längst  wäre  es  an  der  Zeit,  den  ausbeuterischen  Bestrebungen 
der  Mehrzahl  der  Goldgrubenbesitzer  eine  Grenze  zu  ziehen 
und,  wenn  auch  nur  einigermassen,  das  Leben  und  die  Ge- 
sundheit der  Arbeiter  zu  schützen!“ 

E.  Scholkow. 


Zur  Statistik  der  Arbeitslosigkeit.  Nach  den  neuesten 
,, Mittheilungen  der  Grossherzoglich  Hessischen  Centralstelle 
für  die  Landesstatistik“  (August  1892)  hahen  die  Bestrafun- 
gen wegen  „Betteins  und  Landstreichens“  im  Grossherzog- 
thum Hessen  während  des  Jahres  1891  im  Ganzen  2599  be- 
tragen, gegen  2236  in  1890,  2902  in  1889,  2934  in  1888  und 
3296  in  1887.  Das  Krisenjahr  1891  zeitigte  also  eine  Zu- 
nahme der  Straffälle.  Interessant  zu  sehen  ist,  dass  die 
Hauptzahl  der  Bestrafungen  auf  die  beiden  Provinzen 


No.  37. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


457 


Rheinhessen  und  Starkenburg  in  verkehrsreicher  Lage  am 
Rhein  fällt,  während  die  mehr  ländliche  Provinz  Oberhessen, 
die  in  gebirgiger  Gegend  mehr  vom  grossen  Verkehr  ab- 
hegt, von  jeher  die  niedrigste  Strafziffer  aufweist  Sozial- 
politisch bemerkenswerth  ist  sodann  die  Vertheilung  der 
Straffälle  auf  die  Jahreszeiten  Danach  entfallen  von  den 
im  Grossherzogthum  ergangenen  Bestrafungen  die  meisten 
auf  die  drei  Wintermonate  Dezember— Februar,  nämlich 
943,  oder  auf  einen  Tag  dieser  Monate  durchschnittlich  10,5, 
es  folgen  die  Frühjahrsmonate  März— Mai  mit  594  oder  auf 
einen  Tag  6,5,  die  Herbstmonate  September— November  mit 
514  oder  aut  einen  Tag  5,6,  die  Sommermonate  mit  417 
oder  auf  einen  Tag  4,5  Bestrafungen.  Diese  Zahlen  lassen 
doch  mit  aller  nur  wünschenswerthen  Deutlichkeit  erkennen, 
dass  die  Statistik  viel  mehr  Arbeitlose,  als  „Bettler  und 
Landstreicher“  betrifft.  Denn  gerade  in  den  Sommer- 
monaten, in  denen  das  „Landstreichen“  zur  angenehmsten 
Beschäftigung  gehören  würde,  ist  die  Zahl  der  betroffenen 
„Landstreicher“  am  niedrigsten,  während  sie  in  der  ver- 
dienstlosen Winterszeit,  in  der  das  Verweilen  auf  der  Land- 
strasse sicher  kein  Vergnügen  ist,  beinahe  auf  das  Doppelte 
anschwillt. 


Die  ortsüblichen  Tagelöhne  in  der  Stadt  Hannover. 

Die  ortsüblichen  Tagelöhne  gewöhnlicher  Tagearbeiter  sind, 
wie  der  Hannoversche  Magistrat  bekannt  macht,  von  dem 
Regierungspräsidenten  für  den  .Stadtkreis  Hannover  neuer- 
dings, und  zwar  wie  folgt,  festgesetzt  worden: 

1.  Für  erwachsene  männliche  Arbeiter  über  16  Jahre 
aut  2,40  M. , 2.  für  erwachsene  weibliche  Arbeiter  über 
16  Jahre  auf  1,50  M.,  3.  für  jugendliche  männliche  Arbeiter 
unter  16  Jahren  auf  1,20  M.,  4.  für  jugendliche  weibliche 
Arbeiter  unter  16  Jahren  auf  1 M.  Diese  Sätze  treten  an 
Stelle  der  bisherigen  vom  1.  Januar  1893  an  in  Kraft. 

Eine  Veränderung  gegen  früher  trat  nur  bei  den 
erwachsenen  männlichen  Arbeitern  ein,  deren  ortsüblicher 
Tagelohn  bisnun  mit  2 M.  fixirt  war. 

Arbeiterverhältnisse  in  Lübeck.  Auch  der  Fabrik- 
inspektor der  Freien  Stadt  Lübeck  giebt,  wie  alljährlich, 
so  in  seinem  neuesten  Jahresberichte  für  1891  eine  er- 
schöpfende Statistik  der  Fabrikarbeiter  seines  Bezirks.  Da- 
nach betrug  die  Zahl  der  in  Lükecker  Fabriken  und  diesen 
gleichstehenden  Anlagen  beschäftigten  Arbeiter  3113  Per- 
sonen. Es  hat  demnach  gegen  das  Vorjahr  eine  Zunahme 
um  150  Köpfe,  d.  h.  von  etwa  5 pCt.  stattgefunden.  Der 
Zuwachs  von  Arbeitern  entfällt  im  Wesentlichen  auf  die 
Industriegruppe  der  Steine  und  Erden,  sowie  auf  die  der 
Nahrungs-  und  Genussmittel  und  ist  in  beiden  Fällen 
eigentlich  nur  ein  rechnungsmässiger,  indem  die  Anzahl  der 
Ziegeleiarbeiter  im  vorhergehenden  Jahre  vorübergehend 
ebenso  gross  war,  wie  im  Berichtsjahre  und  dieauch  im  vorher- 
gehenden Jahre  bereits  bestandenen  Molkereien  erst  im  Be- 
richtsjahre der  Beaufsichtigung  unterstellt  wurden.  Unter  den 
Arbeitern  befanden  sich  2958 Erwachsene,  132  junge  Leute  und 
23  Kinder,  was  beziehungsweise  95,  4,25  und  0,75  pCt.  aus- 
macht. Im  Vergleich  mit  dem  Vorjahre  ist  das  Verhält- 
niss  der  jugendlichen  Arbeiter  zu  den  Erwachsenen 
um  0,8  pCt.  gestiegen.  Unter  den  Arbeitern  befanden 
sich  2642  männliche  und  471  weibliche,  was  beziehungs- 
weise 84,9  und  15,1  pCt.  der  Gesammtzahl  entspricht.  Im 
Vergleich  mit  dem  Vorjahre  hat  die  Anzahl  der  weib- 
lichen Arbeiter  eine  verhältnismässig  stärkere  Zunahme 
erfahren,  als  die  der  männlichen  Arbeiter.  Den  erwachse- 
nen Arbeiterinnen  waren  nach  dem  Bericht  überall  nur 
solche  Verrichtungen  zugewiesen,  welche  ihrem  Geschlechte 
und  ihren  Kräften  angemessen  waren.  Der  Zuwachs  von 
38  Personen  gegen  das  Vorjahr  entfällt  hauptsächlich  auf  die 
Industrie  der  Metallverarbeitung  und  zwar  auf  die  Fabriken 
von  verzinnten  und  emaillirten  Blechgeschirren,  sowie  auf 
die  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genussmittel,  nämlich  auf 
die  Konservenfabriken  und  Molkereien.  Die  Anzahl  der  in 
den  Fabriken  beschäftigten  jungen  Leute  betrug  im  Be- 
richtsjahre 123  und  hat  gegen  das  Vorjahr  um  34  Köpfe  zu- 
genommen. Neben  einem  Zuwachs  an  gewerblichen  Lehr- 
lingen in  einigen  Fabriken,  hat  hierzu  wesentlich  die  Hin- 
zurechnung der  Molkereien,  welche  junge  Leute  als  Hilfs- 
personal beim  Milchverkauf  etc.  beschäftigen,  zu  den  hier 
in  Rede  stehenden  Anlagen  beigetragen.  Junge  Mädchen 
im  Alter  zwischen  14  bis  16  Jahren  wurden  im  Berichts- 
jahre weniger  beschäftigt,  als  in  den  vorhergehenden  Jahren, 
was  davon  zeugen  mag,  dass  hierselbst  einsichtige  Eltern, 


im  wohlverstandenen  Interesse  ihrer  der  Schule  entwach- 
senen Töchter,  diese  lieber  dem  Dienste  in  einem  Haus- 
halte, als  der  Arbeit  in  einer  Fabrik  zuführen.  Von  den 
beschäftigten  Knaben  arbeiteten  2 in  einer  Piassavawaaren- 
fabrik,  die  übrigen  17  in  Tabak-  und  Cigarrenfabriken. 
Zwei  Mädchen  im  Alter  zwischen  12  bis  14  Jahren  waren 
in  einer  Metallknopffabrik  beschäftigt,  2 andere  in  einer 
Cigarrenfabrik.  Von  einer  unangemessenen  Beschäftigung 
der  jugendlichen  Arbeiter  konnte  nach  dem  Beamten  an 
keiner  Stelle  die  Rede  sein.  Auffällig  bleibt  trotzdem  die 
allseitige  Vermehrung  der  billigen  Arbeitskräfte.  Aus  einem 
Vergleich  mit  den  entgegengesetzten  Ergebnissen  der  Fa- 
brikinspektion in  Bremen  ist  gleichzeitig  zu  ersehen,  wie 
verschieden  sozialpolitisch  die  Verhältnisse  in  nahegelegenen 
Fabrikbezirken  gelagert  sein  können. 

Arbeiterverhältnisse  in  Bremen.  Aus  dem  kürzlich 
erschienenen  Jahresbericht  des  Fabrikinspektors  der  Freien 
Stadt  Bremen  ist  ersichtlich,  dass  dieser  Beamte  zu  den- 
jenigen gehört,  die  alljährlich  eine  vollständige  Arbeiter- 
statistik anfertigen  und  veröffentlichen.  Aus  der  Aufstellung 
für  1891  ergiebt  sich,  dass  in  Bremen  neben  10  548  er- 
wachsenen Arbeitern  (8942  männliche  und  nur  1606  weib- 
liche) nur  476  jugendliche  (368  männlich  und  108  weiblich) 
und  14  Kinder  (8  männlich  und  6 weiblich)  beschäftigt 
werden.  Das  sind  ziemlich  günstige  Verhältnisse.  Ein  noch 
niedrigeren  Prozentsatz  jugendlicher  Arbeiter  haben  im 
Deutschen  Reich  nur  drei  andere  Aufsichtsbezirke.  Die 
jugendlichen  Arbeiter  sind  hauptsächlich  bei  der  Textil- 
industrie und  der  Herstellung  von  Nahrungs-  und  Genuss- 
mitteln beschäftigt,  während  die  14  Kinder  fast  ausschliess- 
lich zum  Nageln  und  Bekleben  von  Cigarrenkisten  ver- 
wendet werden.  Der  Inspektor  fand  daneben  allerdings 
auch  einen  Gewerbetreibenden,  der  neben  2 Arbeitern 
nicht  weniger  als  7 Lehrlinge  beschäftigte.  In  der  Be- 
schäftigung von  Frauen  ist  ein  beträchtlicher  Rückgang 
eingetreten,  der  von  dem  Beamten  durch  die  schlechte  Ge- 
schäftslage, sowie  durch  die  Ueberweisung  „gewisser  Ar- 
beiten an  die  Hausindustrie“  oder  die  „Verlegung  in  Gegen- 
den mit  billigeren  Arbeitslöhnen“  erklärt  wird.  Sanitäre 
Missstände  fanden  sich  auch  hier  namentlich  auf  Ziegeleien. 
Ueber  die  allgemeine  wirtschaftliche  Lage  der  Arbeiter- 
bevölkerung heisst  es  nicht  gerade  sehr  tröstlich:  „Wenn 

im  Eingang  dieses  Berichts  eine  Hebung  der  Industrie  nicht 
nachweisbar  war,  so  kann  auch  von  einem  allgemeinen 
wirthschaftlichen  Fortschritt  in  den  Erwerbs-  und  Er- 
nährungsverhältnissen der  Arbeiter  nicht  berichtet  werden. 
Was  zunächst  den  Verdienst  betrifft,  so  hat  sich  bei  der 
Regulirung  von  Unfallschäden  herausgestellt,  dass  der  durch- 
schnittliche ortsübliche  Tagelohn  von  3 M.  als  zu  hoch  an- 
gesetzt betrachtet  werden  muss  und  in  Wirklichkeit  nur 
ca.  2,75  M.  beträgt.  Hieraus  darf  geschlossen  werden,  dass 
auch  die  Löhne  im  Rückgang  begriffen  sind.  Dagegen 
sind  die  Ausgaben  noch  weiter  gestiegen.  Brot  und  Fleisch 
und  besonders  die  Kartoffeln,  die  fast  den  doppelten  Preis 
gegen  früher  kosteten,  sind  nicht  allein  theurer  geworden, 
sondern  auch  von  schlechterer  Beschaffenheit.  Die 
Wohnungsmiethen  haben  den  hohen  Stand  der  letzten 
Jahre  annähernd  behauptet,  trotzdem  man  hin  und  wieder 
kleinere,  wenn  auch  nicht  gerade  von  den  Arbeitern  be- 
wohnte Strassen  trifft,  in  welchen  sowohl  ganze  Häuser, 
wie  auch  einzelne  Geschosse  leer  stehen.  Nach  meinen 
eingehenden  Erkundigungen  muss  der  gewöhnliche  Arbeiter 
im  allgemeinen  annähernd  Vs  bis  '/4  seines  Jahresein- 
kommens für  Wohnung  aufwenden,  und  wenn  auch  wohl 
behauptet  werden  darf,  dass  im  grossen  und  ganzen  der  hiesige 
Arbeiter  besser  wohnt  als  derjenige  vieler  anderer  Städte, 
sich  aus  den  früheren  besseren  Wohnungs Verhältnissen 
auch  mehr  den  Sinn  für  ein  freundliches  Heim  bewahrt  hat 
und  diesen  dadurch  bethätigt,  dass  er  an  Sonntagen  und 
nach  Feierabend  sich  damit  beschäftigt,  dieselbe  auszu- 
bessern, zu  malen  und  dergleichen,  wie  die  älteren  Strassen 
mit  vorwiegender  Arbeiterbevölkerung  zeigen,  so  ist  die 
Ausgabe  für  Wohnung  doch  reichlich  hoch  und 
steht  kaum  im  richtigen  Verhältniss  zu  der  Ge- 
sammteinnahme.“  Das  sind  Verhältnisse,  die  der  Volks- 
gesundheit nicht  zuträglich  sein  und  bei  Epidemien  ver- 
hängnisvoll werden  können. 


458 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT . 


No.  37, 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Die  Situation  im  deutschen  Buchdruckergewerbe. 

Die  Stellung  der  Vertreter  von  Kapital  und  Arbeit 
in  der  deutschen  Druckindustrie  hat  sich  gegenüber  dem 
vorigen  Jahre  von  Grund  aus  geändert.  Waren  im  vorigen 
Jahre  die  Gehilfen  der  angreifende,  die  Prinzipale  der  an- 
gegriffene Theil,  so  sind  jetzt  die  Gehilfen  zur  Defensive 
verurtheilt  und  die  Prinzipale  suchen  möglichsten  Nutzen 
aus  dieser  Situation  zu  ziehen. 

Der  Verlauf  des  letzten  Buchdruckerstrikes  ist  in 
dieser  Zeitschrift  so  eingehend  erörtert  worden,  dass  wir  uns 
begnügen  können,  einige  Daten  in’s  Gedächtniss  zurückzu- 
rufen. Der  Hauptstreitpunkt  bildete  die  Verkürzung  der 
Arbeitszeit.  Die  Prinzipale  lehnten  diese  Forderung  als  un- 
erfüllbar ab,  zeigten  aber  betreffend  der  in  zweiter  Linie 
erhobenen  Lohnforderung  Entgegenkommen  und  machten 
den  Vorschlag  einer  7l/2  proz.  Lohnerhöhung.  Damit  ge- 
standen sie  die  Reformbedürftigkeit  des  Tarifes  im  Sinne 
der  Gehilfen  zu,  wenn  sie  auch  über  das  Mass  und  die  Art 
derselben  mit  den  Gehilfen  nicht  einig  waren.  Ferner  muss 
daran  erinnert  werden,  dass  bei  Beendigung  des  letzten 
Strikes  die  Prinzipale  mit  den  Vertretern  der  Gehilfenschaft 
ein  Abkommen  getroffen  hatten,  dass  der  Tarif  vom 
b Januar  1890  auch  weiter  Geltung  haben  soll,  wenn  die 
Gehilfen  die  Arbeit  zu  den  alten  Bedingungen  wieder  auf- 
nehmen  wollten.  Das  Letztere  ist  geschehen.  Während 
der  Verhandlungen  zur  Beilegung  des  Strikes  schienen  die 
Prinzipale  mit  ihrem  Erfolge,  der  weiteren  Sicherung  des 
vor  dem  Strike  bestandenen  Zustandes  vollständig  zufrieden. 
Als  sie  aber  nach  Beilegung  des  Strikes  über  die  schlimme 
Situation  der  Gehilfen  sich  klar  wurden,  bedauerten  sie,  den 
günstigen  Ausgang  des  Strikes  nicht  weiter  ausgenützt  zu 
haben.  Diese  Erkenntniss  führte  zu  einem  neuen  Verhält- 
nisse der  sich  bekämpfenden  Parteien.  Die  Prinzipale 
wurden  der  angreifende  Theil,  sie  strebten  die  Zerstörung 
der  Gehilfenorganisation  und  die  Reduzirung  des  Tarifes 
an.  Die  Gehilfen,  welche  zur  Defensive  gezwungen  waren, 
hatten  die  Angriffe  gegen  ihre  Organisation  abzuwehren, 
diese  durch  Aenderung  der  Statuten  kampffähiger  zu  ge- 
stalten, ihre  Organisation  nicht  nur  national,  sondern  auch 
international  zu  kräftigen,  mit  einem  Worte,  gleichzeitig 
abzuwehren  und  sich  für  neuen  Kampf  vorzubereiten. 

Die  Situation  der  Prinzipale  war  ausserordentlich 
günstig.  Erschlaffung  nach  der  übermässigen  Anspannung 
der  Kräfte,  Unzufriedenheit,  Erschütterung  des  Vertrauens 
in  ihre  eigene  Kraft  zeigte  sich  bei  den  Gehilfen,  wenn 
auch  freilich  in  viel  geringerem  Grade,  als  man  erwarten 
sollte,  die  Kassen  waren  geleert,  verhältnissmässig  beträcht- 
liche Schulden  aufgenommen,  so  dass  optimistische  Prinzi- 
pale die  Existenz  des  Unterstützungsvereins  deutscher  Buch- 
drucker für  gefährdet  halten  konnten.  Die  Zahl  der  arbeits- 
losen organisirten  Gehilfen  war  in  Folge  der  Einstellung 
von  Nichtgewerkvereinsmitgliedern  und  der  Krise  wohl 
grösser  als  je  zuvor,  so  dass  geringeren  Einnahmen  der 
sehr  geschwächten  Gehilfenkassen  sehr  gesteigerte  An- 
sprüche der  Mitglieder  entgegenstanden.  Endlich  fanden 
sich  unter  den  Gehilfen  selbst,  wenn  auch  nur  vereinzelte, 
willfährige  Elemente,  welche  bereit  waren,  die  Vertretung 
der  Unternehmerinteressen  ihrer  eigenen  Organisation 
gegenüber  zu  übernehmen. 

Als  Mittel,  die  Gehilfen  aus  ihrer  bis  nun  einge- 
nommenen Machtstellung  zu  drängen,  ihren  Einfluss  auf  das 
Arbeitsverhältniss  zu  brechen,  wurden  in’s  Auge  gefasst: 
Gründung  von  Unterstützungskassen  für  die  Gehilfen  und 
finanzielle  Unterstützung  derselben,  Organisation  des  Ar- 
beitsnachweises seitens  der  Prinzipale,  Bestellung  von  den 
Prinzipalen  genehmen  Gehilfen  als  Tarif kommissionsmit- 
glieder,  Reduktion  des  Tarifes  und  vor  allem  Schwächung 
der  selbständigen  Organisation  und  der  Kassen  der  Ge- 
hilfen. Es  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  die  Ausführung 
dieser  Taktik  im  einzelnen  zu  verfolgen,  wir  können  nur 
auf  die  Verhandlungen  der  Generalversammlung  des  deut- 


schen Buchdruckerverbandes  (Unternehmerorganisation)  in 
Breslau,  auf  die  Bestrebungen  vieler  Prinzipale  die  Gehilfen 
zum  Austritt  aus  ihrer  Organisation  zu  zwingen,  auf  zahl- 
reiche Massregelungen  und  auch  den  systematisch  geführten 
Kampf  gegen  die  Invalidenkasse  und  endlich  auf  das  illoyale 
Spiel  bei  der  Wahl  der  Gehilfenvertreter  und  den  Versuch 
der  Oktroyrung  eines  neuen  Tarifs  vom  1.  Oktober  1892 
ab  hinweisen. 

Die  Gehilfen  legten  aber  auch  nicht  die  Hände  in  den 
Schooss.  .Sie  gestalteten  den  Unterstützungsverein  in  einen 
weit  leistungsfähigeren,  der  behördlichen  Bevormundung  weit 
weniger  ausgesetzten  Gewerkverein  um,  sie  lösten  ihre 
Krankenkasse  auf  und  verbanden  sie  mit  dem  Gewerkverein, 
es  gelang  ihnen,  die  Verdächtigungen  gegen  die  Leitung 
ihrer  Invalidenkasse  als  haltlos  nachzuweisen,  sie  machten 
die  Wahl  von  prinzipalsfreundlichen  Gehilfenvertretern  in 
die  Tarifkommission  unmöglich  und  wiesen  den  Prinzipalen, 
welche  hierauf  die  Tarifgemeinschaft  für  aufgehoben  er- 
klärten, nach,  dass  kein  redliches  Spiel  gegenüber  den  Ge- 
hilfen seitens  der  Prinzipale  beliebt  wurde.  Endlich  ist  die 
Gefahr  der  Oktroirung  eines  neuen  Tarifs  zum  mindesten 
aufgeschoben,  da  die  Berliner  und  andere  Buchdruckerei- 
besitzer dem  Tarifentwurfe  ihre  Zustimmung  versagten,  den 
alten  Tarif  als  rechtskräftig  anerkannten  und  gleichzeitig 
erklärten,  dass  sie  zur  Reduktion  des  neuen  Tarifs  die  Hand 
zu  reichen  nicht  gewillt  seien.  Diese  Beschlüsse  erschüttern 
die  Leitung  der  Prinzipale  und  dürften  wohl  auch  zur 
Folge  haben,  dass  es  kaum  zur  Gründung  der  seitens  der 
Leipziger  und  MünchenerPrinzipale  geplantenUnterstützungs- 
kassen  kommt.  Zu  neuen  Kämpfen,  die  aber  vernünftiger 
Weise  für  die  nächste  Zeit  nicht  in  Aussicht  genommen  sind, 
wappneten  sich  die  Gehilfen  durch  Stärkung  ihrer  eigenen 
Organisation  und  durch  die  Festigung  ihrer  internationalen 
Beziehungen  auf  dem  internationalen  Buchdruckertag  zu 
Bern. 

Wenn  wir  die  Situation  im  deutschen  Buchdrucker- 
gewerbe mit  wenigen  Worten  beleuchten  wollen,  so  haben 
wir  zu  sagen,  dass  der  Gegensatz  zwischen  Gehilfen 
und  Unternehmern  heute  stärker  ist  als  zur  Zeit  der  Ar- 
beitseinstellung und  dass  die  Schuld  hierfür  das  rücksichts- 
lose und  illoyale  Gebahren  der  Prinzipale  zum  weitaus 
grössten  Theile  trifft. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Die  sliding  scale  als  Regulator  der  Arbeitslöhne. 

Ausser  den  beiden  grossen  Bergarbeiterverbänden  im  mitt- 
leren und  nördlichen  England  (Miners  Federation  of  Great 
Britain  und  Miners  National  Union)  besteht  noch  ein  dritter 
Verband  im  südlichen  England,  die  South  Wales  Colliery 
Workmens  Federation.  Dieser  Verband  setzt  die  Arbeits- 
löhne nach  der  sogenannten  sliding  scale,  (gleitende  Skala) 
fest,  d.  h.  dieselben  richten  sich  nach  den  Kohlenverkaufs- 
preisen:  steigen  und  fallen  mit  denselben.  Es  war  nun 
kürzlich  der  Antrag  gestellt  worden,  die  sliding  scale  auf- 
zugeben und  sich  mit  der  Miners  Federation  of  Great 
Britain  zu  vereinigen.  Vor  einigen  Tagen  fand  darüber 
eine  Abstimmung  statt,  wobei  sich  35  119  Stimmen  für  Bei- 
behaltung der  sliding  scale  und  18  314  für  die  Vereinigung 
mit  der  Miners  Federation  ergaben.  Die  sliding  scale  hatte 
also  eine  Mehrheit  von  1 6 805  Stimmen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Sonntagsruhe  iin  sächsischen  Eisenbahndienste.  Im 

Königreiche  Sachsen  sucht  man  eine  eingeschränkte  Sonn- 
tagsruhe für  das  Eisenbahnpersonal  zu  ermöglichen.  Es 
soll  der  Güterverkehr  und  der  Rangirverkelrr  auf  Güter- 
geleisen an  Sonntagen  und  9 Festtagen  im  Jahre  nach  Mög- 
lichkeit und  zwar  in  der  Zeit  von  4 Uhr  früh  bis  Abends 
8 Uhr  eingestellt  werden.  „Nach  Möglichkeit,“  denn  in 
Rücksicht  auf  die  Zuführungen  aus  Oesterreich  und  Bayern, 


No.  37. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


459 


wo  die  erweiterte  Sonntagsruhe  noch  nicht  eingeführt  ist, 
werden  nach  den  Informationen  der  Münchener  „Allgemeinen 
Zeitung“  aut  einzelnen  sächsischen  Bahnlinien  mehr  oder 
weniger  zahlreiche  Güterzüge  auch  noch  an  Sonn-  und 
Festtagen  in  Verkehr  bleiben  müssen.  Auch  bezüglich  der 
Eilgüterzüge  und  Viehsonderzüge  bleibt  der  Sonntagsver- 
kehr unverändert  ; aufStrecken,  wo  solche  Züge  nicht  ver- 
kehren, erfolgt  die  Beförderung  von  Vieh  an  Sonn-  und 
Festtagen  zwar  mit  Personenzügen,  jedoch  nur  gegen 
Zahlung  von  50  pCt.  Frachtzuschlag. 

Enquete  über  die  kaufmännische  Sonntagsruhe  in 
IJnter-Elsass.  Ende  1891  veranstaltete  die  Handelskammer 
von  Strassburg  i.  Eis.,  deren  Gebiet  sich  auf  das  ganze 
Unter-Elsass  erstreckt,  eine  Enquete,  um  ein  Urtheil  über 
die  Wünsche  und  Ansichten  des  Handelsstandes  rücksicht- 
lich der  Sonntagsruhe  zu  gewinnen.  Ueber  1700  Firmen- 
inhaber erhielten  einen  Fragebogen  zugesandt,  der  jedoch 
nur  von  511  (30  pCt.)  beantwortet  wurde.  Die  erste  Frage: 
„Sind  Sie  für  vollständige  Schliessung  des  Geschäftes  an 
allen  Sonntagen  und  gesetzlichen  Feiertagen?“  wurde  be- 
jahend beantwortet  von  32  (42,7  pCt.)  Fabrik-,  26  (27,9  pCt.) 
Engros-,  7 (87,5  pCt.)  Bank-  und  116  (36,4  pCt.)  Detail- 
geschätten.  Verneinende  Antworten  gaben  43  Fabrik-, 
67  Engros-,  1 Bank-  und  203  Detailgeschäfte.  Die  zweite 
Frage  „Wenn  nicht,  sind  Sie  dafür,  dass  die  gesetzlich  zu- 
lässige Arbeitszeit  auf  den  Vormittag  beschränkt  wird,  und 
dass  von  Nachmittag  I Uhr  ab  alle  Geschäfte  geschlossen 
sein  sollen?“  scheint  nicht  allgemein  verstanden  worden  zu 
sein,  da  nur  77  Antworten  einliefen  und  zwar  26  (35,1  pCt.)  be- 
jahende und  51  verneinende.  Dagegen  wurde  die  dritte  Frage 
„Genügen  Ihnen  an  Sonn-  und  Festtagen  Vormittags  zwei 
Arbeitsstunden  oder  sind  Sie  für  mehr?  Auf  welche  Zeit 
wünschen  Sie  dieselben  eingetheilt?“  nur  von  50  (17  pCt.) 
Geschäftsinhabern  bejaht  und  245  haben  sich  für  mehr  als 
zwei  Stunden  augesprochen  und  zwar  1 1 (3,7  pCt.)  für  den 
Vormittag  ohne  Einschränkung,  30  (10,2  pCt.)  für  3,  43 
(14,6  pCt.)  für  4,  20  (6,8  pCt.)  für  5 Stunden  (7 — 12),  85 
(28,7  pCt.)  verlangen  bis  I Uhr  Nachmittags,  8 (2,7  pCt.) 
den  ganzen  Nachmittag,  7 (2,4  pCt.)  bis  Abends  spät  und 
41  (13,9  pCt.)  vollständige  Freiheit.  Die  vierte  Frage  „Sind 
Sie  dafür,  dass  in  den  letzten  vier  Wochen  vor  Weih- 
nachten von  der  gesetzlichen  Bestimmung,  wonach  in 
dieser  Zeit  eine  Vermehrung  der  Arbeitszeit  bis  zu  10  Stun- 
den eintreten  kann,  Gebrauch  gemacht  wird?“  bejahten  6 
(33,3  pCt.)  Fabrik-,  7 (26,9  pCt.)  Engros-,  40  (45,5  pCt.) 
Detailgeschäfte  und  verneinten  12  Fabrik-,  29  Engros-, 
I Bank-,  48  Detailgeschäfte,  34  sprachen  abweichende  be- 
sondere Wünsche  aus.  Aus  den  eingelaufenen  Antworten 
schloss  die  Kammer,  dass  die  Mehrzahl  der  Geschäftsinhaber 
die  durch  das  Gesetz  zugelassene  fünfstündige  Arbeitszeit 
in  vollem  Umfange  beansprucht  und  zwar  in  einer  Weise, 
dass  die  meisten  Geschäfte  nach  1 Uhr  Nachmittags  ge- 
schlossen sein  sollten. 

Der  Gemeinderath  der  Stadt  Strassburg  beschloss 
aber,  unter  Beschränkung  der  Arbeitszeit  auf  vier  Stunden, 
diese  auf  die  Zeit  von  9 Uhr  Vormittags  bis  1 Uhr  Nach- 
mittags festzusetzen. 

Schutzvorschriften  für  kaufmännische  Angestellte  in  der 
Schweiz.  Auf  der  Delegirtenversammlung  der  schweizerischen 
kaufmännischen  Vereine,  die  am  31.  Juli  und  1.  August  in  Luzern 
stattfand,  berichtete  im  Namen  der  Kommission  für  Regelung 
der  Kündigungsfristen  Redakteur  Th.  Bernet-Zürich.  Alle 
kaufmännischen  Vereinigungen  der  Schweiz  wurden  um  ihre 
Meinung  gefragt  und  es  ergiebt  sich  aus  deren  Antworten, 
dass  bei  Kündigungen  oft  schwere  Missstände  Vorkommen. 
Die  Bestimmungen  des  Obligationenrechtes  genügen  nicht;  es 
empfiehlt  sich  eine  besondere  gesetzliche  Regelung  dieser 
Materie.  Statt  der  im  Obligationenrecht  vorgesehenen  Viertel- 
jahrskündigung, die  aber  sehr  oft  nicht  beobachtet  wird,  ver- 
langt die  Kommission  für  Angestellte  im  ersten  Jahre  ihrer 
Dienstdauer  in  einem  Geschäfte  eine  Kündigungsfrist  von  einem 
Monat,  für  Angestellte  mit  längerer  Dienstdauer  eine  solche  von 
drei  Monaten.  Durch  freie  Vereinbarung  kann  diese  Frist  be- 
liebig verlängert  oder  verkürzt  werden,  doch  darf  sie  nie  weniger 
als  einen  Monat  betragen.  Aushilfsstellen  und  Probeengagements 
werden  hiervon  nicht  betroffen.  Die  Kündigungsfristen  müssen 
für  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  stets  gleiche  sein.  Den  An- 
gestellten soll  von  der  Kündigung  an  bis  zu  ihrem  Austritt  aus 
dem  Geschäfte  die  zum  Suchen  einer  anderen  Stelle  nöthige 
Tageszeit  frei  gegeben  werden.  Obligatorischer  Militärdienst 
giebt  kein  Recht  zur  Kündigung.  Diese  Bestimmungen  würden 
am  besten  in  einem  eidgenössischen  Gesetz  betr.  das  Handels- 
gewerbe Aufnahme  finden  und  die  Kommission  stellte  daher 
den  weiteren  Antrag,  es  seien  auch  über  das  Lehrlings  wesen, 


die  Sonntagsarbeit,  die  Büreauzeit,  die  Arbeitslokali- 
täten etc.  Erhebungen  anzustellen  und  zu  untersuchen,  inwie- 
fern durch  die  Gesetzgebung  bestehenden  Uebelständen  abge- 
holfen werden  könnte.  Die  bezüglichen  Ergebnisse  sollen  nach 
Behandlung  durch  die  nächstjährige  Delegirtenversammlung  und 
unter  Einbeziehung  der  oben  formulirten  Anträge  betr.  die 
Kündigung  als  Vorschlag  für  ein  besonderes  eidgenössisches 
Gesetz  den  Bundesbehörden  eingereicht  werden.  Nach  kurzer 
Diskussion  und  zustimmenden  Voten  der  Delegirten  von 
St.  Gallen  und  Basel  wurden  ihre  Anträge  gutgeheissen.  Das 
Centralkomitee,  welches  bezüglich  der  Lehrlingsprüfungen  einen 
Antrag  einbringen  wollte,  vereinigte  den  seimgen  mit  dem  vor- 
stehenden ; dasselbe  thaten  die  Züricher  Delegirten.  Ihr  Sprecher, 
R Schmid,  führte  aus,  wie  nothwendig  und  zeitgemäss  es  sei, 
der  Frage  der  Sonntagsarbeit  im  Handel  näher  zu  treten  und 
wünscht,  dass  nicht  nur  an  alle  Mitglieder,  sondern  auch  an 
ausser  dem  Verbände  stehende  Firmeninhaber  und  Angestellte 
Fragebogen  versandt  werden,  um  ein  möglichst  reichhaltiges 
statistisches  Material  zu  erhalten.  Zur  Vornahme  aller  dieser 
Untersuchungen  wird  das  Centralkomitee  zwei  Fünferkom- 
missionen ernennen. 

Fakultativer  Achtstundentag  in  England.  Ein  be- 

merkenswerther  Antrag  zur  Regelung  der  Achtstundenfrage 
soll  der  „Vossischen  Ztg.“  zufolge,  in  der  nächsten  Tagung 
des  englischen  Parlaments  von  Seiten  der  liberalen  Partei 
gestellt  werden.  Nach  diesem  Anträge  sollen  die  Gewerk- 
vereine ermächtigt  sein,  von  Zeit  zu  Zeit  darüber  abzu- 
stimmen, wie  viele  Stunden  einen  Arbeitstag  bilden  sollen. 
Nachdem  ein  Gewerkverein  seine  Absicht,  die  Arbeitszeit 
zu  verkürzen,  den  Arbeitgebern  mitgetheilt  und  eine  ord- 
nungsgemässe Sonderversammlung  zur  Berathung  der  Sache 
abgehalten  hat,  soll  die  Mehrheit  der  Mitglieder  bindend 
beschliessen  können,  wie  viele  Arbeitsstunden  im  Interesse 
des  Einzelnen  und  des  Gewerkes  am  zweckdienlichsten 
sind.  Dieser  Beschluss  soll  auch  die  Arbeitgeber  gesetzlich 
binden.  Sollte  dieser  Antrag  Annahme  finden,  so  würde 
er  sich  als  ein  scheinbarer  Compromiss  zwischen  den 
Theorien  der  Freihandelsschule  und  der  Staatsintervention 
darstellen.  Theoretisch  würde  diese  Lösung  die  Regelung 
der  Arbeitszeit  ausschliesslich  in  die  Hände  der  Arbeiter 
geben,  praktisch  dürfte  aber  der  Nutzen  einer  derartigen 
Regelung  der  Arbeitszeit,  so  bestechend  sie  auch  auf  dem 
ersten  Blicke  erscheint,  für  die  Arbeiter  von  geringerem 
Nutzen  sein,  als  die  gesetzliche  Einführung  des  Maximal- 
arbeitstages, mit  Uebernahme  der  Garantie  der  Durch- 
führung, seitens  des  Staates. 


Arbeiterversicherung. 


Zur  Frage  der  Doppel  Versicherung.  In  München 

wurde  eine  Ortskrankenkasse  vom  Amts-  und  Landes- 
gerichte verurtheilt,  einem  auch  bei  einer  freien  Hilfskasse 
versicherten  Schneidergehilfen  das  Krankengeld  zu  be- 
zahlen. Die  Ortskrankenkasse  hatte  sich  ihrer  Zahlung 
durch  Einrede  der  Doppel  Versicherung  entschlagen  wollen. 
Nun  liegt  die  Begründung  des  landgerichtlichen  Entscheides 
vor.  Das  Amtsgericht  hatte  erklärt,  dass  aus  dem  Kranken- 
kassengesetz ein  sicheres  Urtheil  nicht  zu  gewinnen  sei, 
dass  man  daher  auf  allgemeine  civilrechtliche  Normen 
zurückgreifen  müsse.  Kein  Richter  würde  eine  freie  Ver- 
sicherungsanstalt für  berechtigt  erklären,  auf  Grund  solcher 
Ansprüche,  wie  sie  seitens  der  Ortskrankenkasse  geltend 
gemacht  worden,  Zahlung  zu  verweigern.  Warum  staat- 
liche V ersicherungen  anders  zu  beurtheilen  seien,  sei  nicht 
einzusehen.  Das  landgerichtliche  Erkenntniss  führt  im  Ein- 
zelnen aus,  dass  die  Doppelversicherung  vom  Gesetz  selbst 
an  mehreren  Stellen  recipirt  und  somit  nicht  verboten  sei. 
Es  heisst  dann  weiter:  „Der  Klageanspruch  des  Arbeiters 

gegen  die  Ortskrankenkasse  war  nach  dem  Grundsätze  der 
Vertragsfreiheit  berechtigt.  Es  bedurfte  nicht  der  Erwäh- 
nung der  Vertragsfreiheit  im  Gesetze,  da  diese  gemein- 
rechtlich besteht  und  die  Versicherungsverpflichtung  und 
Versicherungsberechtigung,  wie  sie  in  das  Gesetz  Eingang 
fanden,  sich  als  Ausnahme  von  jenem  Prinzip  darstellen. 
Der  Kläger  vermag  sein  Recht  nicht  unmittelbar  aus  dem 
Reichs-Krankenversicherungsgesetze  abzuleiten,  wohl  aber 
aus  einem  Vertrage.  Dass  ein  wirksamer  Versicherungs- 
vertrag vorliege,  wird  von  der  Ortskrankenkasse  mit  Un- 


460 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  37. 


recht  bestritten.  Die  letztere  hat  ihr  Einverständniss  mit 
dem  Vertrag  dadurch  erklärt,  dass  sie  die  Beiträge  bis 
dahin,  wo  sie  eine  Gegenleistung  machen  sollte,  eingehoben 
hat,  dass  in  dem  Anmeldeformulare  die  Frage,  ob  schon 
anderweitig  versichert,  seinerzeit  von  dem  Arbeiter  mit  Nein 
beantwortet  wurde,  kann  mit  Erfolg  weder  als  Einwand 
gegen  das  Vorhandensein  des  erforderlichen  Vertrags- 
wiilens,  noch  als  arglistiges  Verhalten  des  Klägers  be- 
zeichnet werden,  zumal  dem  eigenen  Kassenstatut  die 
Doppelversicherung  nicht  fremd  ist. 


Gewerbegerichte. 


Die  Gewerbegerichtswalilen  in  Berlin  dürften  erst  im 
November  stattfinden.  420  Beisitzer,  zu  gleichen  Theilen 
Unternehmer  und  Arbeiter  sind  zu  wählen.  Die  Wahl 
dürfte  sich  zu  einer  bemerkenswerthen  Kraftprobe  der 
sozialistischen  und  nichtsozialistischen  Arbeiter  gestalten. 
Der  geschäftsführende  Ausschuss  der  Berliner  Strike-Kon- 
troll- Kommission  hat  die  Agitation  schon  in  die  Hand  ge- 
nommen und  die  Beisitzer  auf  die  verschiedenen  Gewerbe- 
gruppen vertheilt.  Mit  der  Aufstellung  von  Kandidaten  ist 
zum  Theil  schon  vorgegangen  worden.  Eine  gesonderte 
Liste  wollen  die  vereinigten  Ausschüsse  der  Berliner  Orts- 
vereine der  Hirsch-Duncker’schen  Gewerkvereine  aufstellen. 
Sie  richteten  am  4.  September  einen  Aufruf  an  sämmtliche 
nichtsozialistischen  Arbeiter  Berlins  ihre  Agitation  zu  unter- 
stützen. Nach  Lage  der  Dinge  dürften  wohl  fast  aus- 
nahmslos die  Kandidaten  der  Berliner  Strike-Kontroll-Ivom- 
mission  durchdringen,  dagegen  dürften  die  Kandidaten  der 
Hirsch-Duncker’schen  Gewerkvereine  die  grössten  Minori- 
täten aufweisen  und  somit  wohl  mit  ihnen  die  meisten 
Stellen  der  Ersatzmänner  besetzt  werden. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 

Massregeln  zur  Erzielung  gesunderen  Wohnens  in 
Glasgow.  Aus  dem  vor  Kurzem  erschienenen  Verwaltungs- 
bericht des  Magistrats  der  Stadt  Glasgow  für  1890/91  ist  zu 
entnehmen,  dass  die  dortigen  städtischen  Behörden  schon 
im  Jahre  1865  zur  Sanirung  der  dortigen  Wohnungsverhält- 
nisse den  Ankauf  aller  dichtbewohnten  und  demgemäss  auch 
zu  unverhältnissmässig  hohen  Preisen  vermietheten  Häuser 
durch  die  Stadt  vorschlugen.  Dieser  Entwurf  wurde  zum 
Gesetze  erhoben  und  den  Behörden  das  Recht  eingeräumt, 
15Jahre  lang  einen  besonderen  Zuschlag  zur  Kommunal- 
steuer zu  erheben,  der  ausschliesslich  zu  dem  angegebenen 
Zwecke  verwendet  werden  und  von  den  Miethen  erhoben 
werden  sollte  (Stadtverbesserungsfonds).  Wie  vorauszu- 
sehen, stiess  dass  Gesetz  bei  der  oberflächlich  urtheilenden 
Menge  auf  grossen  Widerstand  und  bei  der  gleich  darauf 
stattfindenden  Wahl  erlag  der  Urheber  des  Antrages,  ein 
Magistratsmitglied,  das  zur  Wiederwahl  aufgestellt  war  und 
dem  der  Magistrat  auch  die  Ausführung  des  Projektes  zu- 

Sedacht  hatte,  in  Folge  der  lebhaften  gegen  ihn  geführten 
gitation.  Schon  nach  1866  verbreitete  sich  jedoch  die 
gesunde  Idee  so,  dass  seitdem  noch  viel  mehr  Strassen, 
Plätze,  Kanalisationen  ausgeführt  wurden  als  1865  projektirt 
waren  und  statt  der  damals  in  Aussicht  genommenen 
10  Millionen  sind  ca.  14  Millionen  Mark  ausgegeben  worden 
und  dadurch  die  Zahl  und  die  Zahlungsfähigkeit  der  Zu- 
schlagssteuerpflichtigen  bedeutend  gewachsen.  Inzwischen 
wurde  der  Zuschlag  auf  den  sechsten  Theil  seiner  ursprüng- 
lichen Höhe  herabgesetzt  und  wird  wohl  in  dieser  Höhe 
genügen,  um  das  Unternehmen  vollständig  seinem  Ziele  zu- 
zuführen. Nur  ältere  Einwohner,  die  mit  dem  früheren 
Aussehen  der  Altstadt  vertraut  sind,  können  sich  eine  Vor- 
stellung von  den  riesigen  Verbesserungen  machen,  welche 
das  Unternehmen  nach  verschiedener  Richtung  hin  gezeitigt 
hat.  Sogar  da,  wo  es  anscheinend  einen  Misserfolg  erzielte 
hat  es  gesundheitlich  segensreich  gewirkt;  z.  B.  war  es  an 
manchen  Orten  unmöglich,  den  Grundplatz  nach  Abreissung 
der  alten  Gebäulichkeiten  zu  veräussern,  aber  der  Gesund- 
heitszustand der  umliegenden  Bewohner  hob  sich  durch 


den  freien  Platz.  In  den  2 letzten  Jahren  war  keine  grosse 
Nachfrage  nach  Bauplätzen,  weil  die  Bauspekulation  das 
gesunde  Mass  überschritten  hatte  und  die  rückgängige 
Konjunktur  in  Handel  und  Gewerbe  den  Zuzug  der  Be- 
völkerung verlangsamte.  Die  ausführende  Behörde  stiess 
desshalb  in  jüngster  Zeit  auch  auf  einen  gewissen  Wider- 
stand und  doch  hat  noch  nie  ein  von  einer  Gemeinde  ins 
Werk  gesetztes  Unternehmen  ein  lebhafteres  Interesse  er- 
weckt, und  erweckt  es  noch  fortwährend.  Bis  jetzt  be- 
liefen sich  die  Ausgaben  für  den  Ankauf  der  verschiedenen 
Grundstücke  und  Baulichkeiten  auf  rund  19  Millionen  Mark, 
noch  unverkauft  sind  10  Millionen  Mark.  Aus  dem  Steuer- 
zuschlage  gingen  ein  11  Millionen  Mark,  noch  zu  bezahlen 
sind  ca.  3l/2  Millionen,  so  dass  also  die  Gesammtkosten  sich 
auf  ca.  1 4'/ä  Millionen  Mark  belaufen.  Dafür  erhielten  die 
Einwohner  der  Stadt  Glasgow  1.  einen  schönen  Park,  2.  29 
neue  und  25  verbreiterte  Strassen  mit  ca.  300  000  Quadrat- 
fuss  mehr  Strassenoberfläche  als  ursprünglich  projektirt 
war,  3.  die  gesundheitlichen  und  sozialen  Vortheile  die  aus 
den  Strassen,  Kanälen  und  derartigen  anderen  Verbesse- 
rungen hervorgehen  und  4.  hauptsächlich  die  7 grossen  Logir- 
häuser,  wovon  6 für  Männer-  und  1 für  Frauen  möblirt  und 
eingerichtet  mit  zusammen  2099  Betten,  für  welche  ebenfalls 
ca.  2 Millionen  Mark  aufgewendet  wurden.  Letztere  erzielten 
im  Jahre  1890/91  eine  Einnahme  von  ca.  225  000  M.,  und 
beanspruchen  einen  Aufwand  von  ca.  143  000  M.  Der 
Ueberschuss  von  ca.  82  000  M.  ergab  eine  fast  4'/2prozen- 
tige  Verzinsung  des  aufgewendeten  Kapitals,  abgesehen 
von  dem  segensreichen  Wirken  dieser  Einrichtung.  — So- 
weit der  Magistratsbericht.  Deutsche  Städteverwaltungen 
konnten  sich  an  dem  entschiedenen  Vorgehen  der  englischen 
Gemeinde  ein  Beispiel  nehmen. 


Soziale  Hygiene. 


Erkrankungen  und  Berufsverhältnisse  in  Prag. 

In  Prag  und  seinen  Vororten  (zus.  ca.  300  000  Einw.) 
bestanden  1890  5 Bezirks-,  30  genossenschaftliche  und  21  Be- 
triebskrankenkassen mit  zusammen  50  519  Mitgliedern,  von 
welchen  im  Laufe  des  Jahres  23  187  erkrankt  waren.  Die 
Zahl  der  Krankentage  belief  sich  auf  364  507,  diejenige  der 
Sterbefälle  auf  533.  Entbindungen  wurden  781  und  zwar 
mit  21  702  Krankheitstagen  verzeichnet.  Das  Statistische 
Biireau  der  Stadt  Prag  theilt  in  seinem  neuesten  Jahrbuch 
(für  1890)  die  Erkrankten  nach  20  Krankheitsklassen  und 
119  Berufsgruppen  mit,  aus  welchen  jene  Berufsgruppen 
herausgehoben  werden  sollen,  bei  denen  im  Jahre  1890 
mindestens  100  Erkrankungen  stattfanden.  Dabei  ist  von 
den  52  Fällen  von  Neubildungen,  von  124  unbestimmten 
Diagnosen,  45  Vergiftungen  und  6 Selbstmorden  abgesehen, 
um  die  Tabelle  zu  vereinfachen.  Die  Vergiftungen  fanden 
in  grösserer  Anzahl  nur  bei  den  Buchdruckern  und 
Schriftsetzern  (36)  und  sonst  nur  zu  je  1 oder  2 Fällen  statt. 

(Siehe  die  Tabelle  auf  Seite  461.) 

Das  städtische  statistische  Büreau  hatte  es  ursprüng- 
lich versucht,  alle  einzelnen  Krankheiten  im  Zusammenhang 
mit  den  Berufsklassen  zu  verzeichnen,  in  der  Hoffnung, 
der  medizinischen  Statistik  damit  ein  brauchbares  Material 
darbieten  zu  können.  Doch  stellte  sich  diese  im  Büreau 
allen  Interessenten  im  Manuskripte  zugängliche  Arbeit  als  so 
umfassend  heraus,  dass  nicht  nur  die  Wiedergabe  im  Druck 
unmöglich  wurde,  sondern  dass  auch  die  Einzelangaben 
zu  kleine  Ziffern  aufwiesen,  als  dass  Schlüsse  in  medizinisch- 
statistischer Richtung  möglich  gewesen  wären.  Aber  auch 
die  Beschränkung  aut  die  Krankheitsgruppen,  welche  in  der 
obigen  Tabelle  auszugsweise  mitgetheilt  wurde,  bietet 
charakteristische  Streiflichter.  Bei  den  Zieglern,  Stein- 
metzen, Taglöhnern,  Zündhütchen-  und  Patronenarbeitern 
und  Maurern  ist  die  Zahl  der  Erkrankungen  grösser  als 
jene  der  Kassenmitglieder,  und  bei  den  Fassbindern,  Färbern, 
Töpfern,  Gerbern,  Galanteriearbeitern,  Frächtern,  Giessern, 
Bäckern,  Textilarbeitern,  Fabrikarbeitern,  Tischlern  und 
Schlossern  steht  die  Erkrankungsziffer  über  dem  allge- 
meinen Durchschnitte,  der  fast  50  pCt.  der  Zahl  der  Kassen- 
mitglieder beträgt.  Warum  die  Zahl  der  Entbindungen,  ab- 
gesehen von  den  Taglöhnerinnen  und  Fabrikarbeiterinnen, 
gerade  bei  den  Gruppen  Ziegelei-  und  Hutmachergewerbe 
so  hoch  steht,  ist  nicht  zu  ersehen,  während  die  nämlich 


Xu.  37. 


SOZIALPOLITISCHES  CKNTRALJILATT. 


461 


Gesammtzahl  der  ! 
Kassenmitglieder  . 

Gesammtzahl  der  j 
Erkrankten 

Entwickelungs-j 
krankheiten  ] 

Infektions- 

krankheiten 

N 

£ V 

u 1- 

£ D 

q=  ^ 

Venerische  und 
syphilitische 
Krankheiten 

5 

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£ 5 
£ 

Nerven- 
krankheiten /N 

* a n 

5 

53 

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Krankheiten  der 
Gehörorgane 

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krankheiten 

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SP 

1» 

*5 

Färber 

242 

131 

i 

23 

9 

18 

7 

2 

22 

i 

19 

2 

14 

3 

10 

Fassbinder 

340 

222 

— 

29 

21 

i 

26 

3 

4 

2 

35 

i 

46 

4 

19 

4 

27 



Ziegler 

989 

977 

13 

117 

97 

3 

95 

26 

11 

5 

126 

ii 

124 

13 

100 

46 

88 

90 

Zuckerfabrikarbeiter  

355 

118 

33 

20 

— 

17 

1 

4 

1 

4 

11 



16 

3 

5 

2 

Pfeifenmacher 

280 

146 

1 

49 

14 

— 

13 

2 

4 

32 

i 

6 

8 

6 

10 

Gast-  und  Schankwirthe  .... 

1574 

373 

6 

20 

54 

46 

37 

13 

9 

2 

58 

58 

8 

32 

8 

14 

5 

Töpfer  

253 

150 

— 

39 

11 

1 

17 

3 

6 

1 

20 

2 

27 

2 

8 

4 

9 

Gerber 

1 131 

591 

1 

33 

66 

7 

48 

21 

7 

5 

105 

6 

1 19 

8 

80 

22 

63 



Steinmetze 

390 

342 

— 

47 

51 

2 

14 

6 

26 



47 

— 

51 

3 

26' 

8 

58 

Spengler 

293 

100 

— 

22 

12 

2 

6 

— 

5 

13 

1 

13 

1 

7 

5 

13 



| uwelire 

977 

519 

— 

176 

69 

6 

36 

6 

12 

1 

44 

5 

97 

4 

12 

4 

29 



Buchbinder  und  Galanteriearbeiter 

1025 

395 

4 

47 

44 

6 

47 

28 

7 

60 

9 

50 

6 

32 

9 

17 

17 

Hutmacher 

1353 

679 

17 

179 

85 

10 

47 

1 1 

7 

4 

40 

9 

66 

27 

11 

16 

28 

109 

Buchdrucker  und  Schriftsetzer  . . 

1433 

592 

6 

106 

51 

9 

44 

22 

7 

4 

88 

12 

110 

10 

27 

13 

31 

8 

Kutscher,  Frächter 

961 

484 

3 

68 

42 

1 1 

43 

1 1 

4 

4 

66 

11 

50 

11 

39 

8 

106 

Schmiede 

423 

177 

— 

19 

17 

4 

14 

9 

5 

1 

23 

2 

21 

2 

26 

2 

30 



Eisen-,  Gelb-  und  Schriftgiesser  . 

488 

351 

1 

68 

15 

2 

47 

18 

8 

2 

47 

1 

58 

1 

26 

4 

49 

. 

Schneider 

2100 

608 

22 

112 

137 

17 

2 

— 

2 

2 

9 

1 

42 

12 

39 

5 

15 

2 

Müller.  

622 

281 

— 

44 

48 

6 

13 

6 

i 

— 

81 

1 

23 

6 

14 

8 

30 



I aglöhner 

2143 

2238 

29 

147 

190 

12 

273 

90 

41 

7 

398 

26 

340 

31 

186 

36 

304 

118 

Handlungspersonale 

6592 

2038 

7 

235 

213 

166 

242 

80 

36 

ii 

241 

19 

341 

67 

106 

38 

216 

14 

Schuhmacher  . . 

1378 

333 

10 

54 

48 

3 

10 

5 

9 

— 

45 

4 

40 

1 

61 

15 

26 



Bäcker  

11  17 

649 

2 

71 

130 

13 

44 

8 

7 

10 

123 

1 1 

86 

5 

60 

16 

52 



Fleischer 

606 

144 

2 

1 

18 

7 

12 

1 

— 

— 

18 

1 

20 

1 

18 

4 

39 

— 

Brauer  

712 

373 

1 

50 

27 

3 

57 

11 

6 

2 

45 

2 

38 

13 

37 

7 

66 



Dienstpersonale 

1463 

408 

3 

53 

62 

4 

49 

3 

6 

1 

59 

4 

51 

10 

28 

14 

59 

— 

Drechsler 

229 

108 

— 

17 

9 

2 

6 

5 

2 

— 

28 

— 

9 

1 

10 

1 

17 



Maschinisten,  Heizer  etc 

520 

181 

— 

23 

17 

i 

18 

7 

3 

1 

25 

2 

21 

1 

17 

3 

42 



Näherinnen 

958 

143 

6 

6 

15 



24 

5 

4 

— 

19 

3 

22 

4 

5 

— 

6 

23 

Zimmerleute 

594 

202 

5 

17 

22 

- — 

25 

10 

3 

2 

30 

— 

20 

4 

3 

12 

48 



Textilarbeiter 

670 

435 

9 

129 

32 

— 

45 

12 

7 

4 

48 

3 

79 



4 

21 

8 

30 

Kattundrucker 

751 

300 

4 

37 

33 

i 

25 

8 

3 

3 

38 

13 

77 



2 

15 

30 

1 1 

Fabrikarbeiter 

4572 

2581 

43 

406 

268 

7 

232 

74 

44 

6 

361 

24 

383 

38 

175 

40 

242 

232 

Tischler 

1780 

1028 

1 

67 

252 

22 

55 

23 

17 

5 

140 

24 

131 

14 

137 

47 

84 



Beamte 

670 

115 

2 

27 

19 

4 

3 

6 

1 

1 

13 

3 

18 

8 

3 

1 

5 



Zündhütchen-  u.  Patronenerzeuger 

368 

328 

6 

59 

4 

— 

30 

14 

15 

1 

66 

4 

54 

3 

30 

13 

21 

8 

Wäscheerzeuger 

685 

193 

5 

18 

17 

1 

26 

9 



— 

13 

2 

19 

1 

14 

2 

5 

60 

Schlosser  

1090 

636 

2 

71 

66 

6 

67 

21 

31 

2 

121 

9 

79 

4 

32 

8 

1 13 



Maurer  und  Polire 

1707  ! 

2004 

2 

124 

174 

31 

269 

64 

63 

7 

323 

32 

311 

28 

193 

46 

303 

16 

hohe  Ziffer  (lOpCt.  der  Kassenmitglieder)  bei  der  Wäsche- 
erzeugung sich  im  Zusammenhang  mit  der  fast  ausschliess- 
lichen Verwendung  weiblichen  Hilfspersonales  befindet.  Eben 
so  deutlich  tritt  das  verschiedene  Verhalten  der  einzelnen 
Berufsgruppen,  namentlich  zu  den  Krankheiten  der  Ver- 
dauungs-  und  der  Athmungsorgane  und  dann  zu  den  Haut- 
krankheiten sowie  zu  den  Verletzungen  hervor. 

Arbeiterkrankenkassen  im  Dienste  der  sozialen  Hygiene. 

Die  Wiener  Allgemeine  Arbeiterkrankenkasse  hat  von  der  Be- 
zirkshauptmannschaft in  Baden  folgende  Zuschrift  erhalten: 

,,Aus  Anlass  der  drohenden  C-holeragefahr  wird  die  ge- 
ehrte Krankenkasse  eingeladen,  dem  Gesundheitszustände  ihrer 
Mitglieder  erhöhte  Aufmerksamkeit  zu  widmen  und  die  Kassen- 
ärzte und  die  Krankenkontroleure  anzuweisen,  sanitäre  Uebel- 
stände  in  Arbeiterwohnungen,  insbesondere  Ueberfüllungen  von 
Wohnungen  zur  Abstellung  unmittelbar  anher  zur  Anzeige  zu 
bringen. 

Ich  erwarte  eifrige  Mitarbeit  der  Krankenkassen  in  Hin- 
sicht auf  die  Assanirung  des  Bezirkes,  die  ja  wesentlich  auch 
im  Interesse  der  Krankenkassen  gelegen  ist.“ 

Lebensinittelkontrolle  in  Wien.  Aus  Anlass  der  drohen- 
den Cholera  wird  in  Wien  mit  Eifer  die  Lebensmittelkontrolle 
gehandhabt.  Ganz  unglaubliche  Missstände  wurden  bei  dieser 
Gelegenheit  aufgedeckt.  So  entnehmen  wir  der  „Neuen  freien 
Presse“  vom  31.  August  die  folgenden  Daten:  Die  von  Seite 
des  magistratischen  ^Bezirksamtes  Meidling  seit  vier  Wochen 
unternommenen  sanitäts  - polizeilichen  Revisionen  haben  in 
manchen  Häusern  grosse  Uebelstände  zu  Tage  gebracht.  Zwei 
bemerkenswerthe  Fälle  verdienen  verzeichnet  zu  werden.  Bei 
einem  Bäckermeister  kam  Montag  Abends  halb  1 1 LIhr  gerade 
die  Kommission  in  dem  Momente  in  die  Backstube,  als  die  Ge- 
hilfen den  Teig  zum  Gebäck  herrichten  wollten.  Das  Mehl  lag 
schon  in  den  Trögen  und  ein  Lehrjunge  brachte  ein  Gefäss  mit 
Wasser,  um  dasselbe  in  das  Mehl  zu  schütten.  Das  Wasser  war 
schmutzig  und  dunkel  gefärbt  und  stammte  aus  dem  Haus- 
brunnen. Der  erste  Gehilfe  bemerkte,  dass  sich  noch  Niemand 
über  das  Gebäck  ungünstig  geäussert  habe,  obwohl  sie  das 
Wasser  immer  aus  demselben  Brunnen  nähmen.  Der  Brunnen 
wurde  sofort  vernagelt.  — Auch  bei  einem  zweiten  Bäcker- 


meister wurde  konstatirt,  dass  dieser  das  Wasser  zum  Teige  aus 
seinem  Hausbrunnen  verwende,  welches  eine  schmutzig-graue 
Farbe  hat.  Der  Bäcker  gab  dies  zu.  Auch  dieser  Brunnen 
wurde  gesperrt.  Bemerkenswerth  ist,  dass  vor  den  Häusern 
beider  Bäckermeister  sich  Auslauf brunnen  der  Hochquellen- 
leitung befinden,  aus  welchen  sie  sich  reichlich  mit  Wasser  zum 
Betriebe  ihres  Gewerbes  versehen  könnten.  — Im  IX.  Gemeinde- 
bezirke (Alsergrund)  wurden  bei  den  Hausirern  Griinwaaren  und 
Obst  konfiszirt,  deren  Genuss  die  Gesundheit  in  ärgster  Weise 
gefährdet  hätte.  Die  Waaren  waren  nicht  blos  in  den  Wohn- 
zimmern und  auf  den  Böden  in  sanitätswidriger  Weise  aufbe- 
wahrt, auch  in  den  Betten,  selbst  bedeckt  mit  schmutziger 
Wäsche  und  alten  Fetzen,  wurden  Lebensmittel  vorgefunden. 
Konfiszirt  wurden  Quantitäten  im  Gewichte  von  circa~  200  Kilo- 
gramm. In  Zimmern,  welche  acht  bis  zwölf  und  auch  mehr  Per- 
sonen zu  Schlafstätten  dienten,  lagen  unter  den  Betten  in  total 
verfaultem  Zustande  Grün  waaren,  welche  die  Verkaufsartikel 
für  den  folgenden  Tag  bilden  sollten.  Diese  von  den  Hausirern 
zum  Verkaufe  gebrachten  Griinwaaren  finden,  besonders  bei  der 
ärmeren  und  arbeitenden  Klasse,  grossen  Absatz.  Die  Be- 
schwerden wegen  Verfälschung  der  Lebensmittel  und  die  An- 
zeigen über  die  im  Verkaufe  befindlichen  verdorbenen  Waaren 
werden  immer  häufiger.  Das  Marktkommissariat  im  IX.  Bezirke 
hat  diese  genannten  sanitären  LTebelstände  bei  den  Hausirern 
sofort  abgestellt,  und  die  Händler  wurden  aus  ihren  gesund- 
heitsschädlichen Wohnräumen  delogirt.  Auch  die  Untersuchun- 
gen  der  von  den  Landbewohnern  nach  Wien  geführten  Milch 
werden  von  den  Marktkommissären  eifrigst  fortgesetzt.  Es  sind 
geradezu  riesige  Quantitäten  Milch,  welche  sowohl  mit  Wasser 
als  mit  anderen  Substanzen  gefälscht  waren,  konfiszirt  worden. 
Ebenso  ist  es  den  Marktkommissären  gelungen,  auch  auf  dem 
Franz-Josephbahnhofe  Milchfälscher  zu  ergreifen  und  der  Be- 
strafung zuzuführen.  Aus  Dippelsdorf,  Zogelsdorf  und  Rein- 
prechtspölla  eingelangte  Milch  wurde  konfiszirt  und  vertilgt, 
Milchhändler  aus  Alland,  Pressbaum,  Deutsch-Wagram,  Spillern, 
Lang-Enzersdorf,  Bisamberg,  Breitenlee,  Dornbach  und  Gersthof 
wurden  des  Fälschens  der  Milch  mit  gefährlichen  Substanzen 
überwiesen.  Auch  bei  den  Geschäftsleuten  im  IX.  Bezirke  werden 
fast  täglich  grosse  Quantitäten  von  Obst,  Würsten,  Grünwaaren, 
Schwämmen  u.  dgl.  vertilgt. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


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„EXPORT“ 

Organ  des  Centralvereins  für  Handelsgeographie 

und  Förderung  Deutscher  Interessen  im  Auslande. 

XIV.  Jahrgang. 

Heraus  gegeben 


Demnächst  wird  erscheinen: 

Antiquarisches  Bücher-Verzeichniss  72: 

Staats-  u.  Gesellschaftswissenschaft, 
Volkswirthschaft,  Finanzwesen  etc. 

Etwa  1300  Nummern. 

Oscar  Schack  in  Leipzig,  Königsstr.  15. 


von 

R.  Jannasch, 

Dr.  jur.  et  phil. 

Redaktion  und  Expedition:  Berlin  W.,  Magdeburgerstrasse  36. 


Die  seit  1879  erscheinende  Wochenschrift  „Export“  ist  bestrebt,  die  Interessen 
des  deutschen  Exports  thatkräftig  zu  vertreten,  sowie  dem  deutschen  Handel  und  der 
deutschen  Industrie  wichtige  Mittheilungen  über  die  Handelsverhältnisse  des  Aus- 
landes in  kürzester  Frist  zu  übermitteln. 

Inserate  im  „Export“  sind  erfolgreich,  wie  das  andauernde,  langjährige  Annonciren 
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Aboimementspreis  im  deutschen  Postgebiet  vierteljährlich  M.  3,  im  Weltpost- 
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Man  ahonnirt  bei  der  Post,  im  Buchhandel  bei  Walther  & Apolant's  Verla°-s- 
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Verlag  der  Mauz  sehen  k.  und  k.  Hof-Verlags-  und  Universitäts-Buchhandlung  in  ‘Wien. 


(StnoirtiilduftUöitr  Ptpeii'er. 

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für  ein  fojial  = refurntot.  (Sen offen) diaftc-luefcn. 

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Die 

• • 

OsterreichischeHandelspolitik 

im  neunzehnten  Jahrhunderte. 


Von 

IDr.  _Z^_d_olf  Beer, 

k.  k.  Ministerialrat]!  und  Reichstags -Abgeordneter. 

Gr.  8.  39V2  Bogen.  Preis  broschirt  12  Mark. 


5-  ©uttentag,  >Berlags>bud)t)anölmifl  in  Jöerliti. 


turnt  15.  Hunt  1883, 
itt  berg-offungberSRowdleuom  10.3(yiil  181)2 

ttttb  bie  baffclbc  ergäiijcitöcn 
v e i cl)  § r c d)  1 1 i d)  e tt  33  e ft  t itt  nt  tt  tt  g ett . 


Zum  ersten. Male  wird  in  diesem  Werke  eine  Darstellung  der  leitenden  Gesichts- 
punkte österreichischer  Handels-  und  Zollpolitik,  ausschliesslich  auf  handschriltlichen 
Quellen  fussend,  gegeben.  Besonders  ausführlich  werden  die  Bestrebungen  Oester- 
reichs zur  Bildung  einer  Zolleinigung  mit  dem  deutschen  Zollvereine  geschildert.  Das 
Werk  liefert  auch  für  die  Würdigung  der  österreichischen  Politik  in  den  letzten  Jahr- 
zelmten  manchen  Beitrag  und  dürfte  auch  in  weiteren  Kreisen  lebhaftes  Interesse  er- 
wecken. 


Hermann  Walther. 

Walther  & Apolants  Verlagsbuchhandlung,  Berlin  W.,  Kleiststr.  16/17. 


■3Kit  (Einleitung  unb  (Erläuterungen 

holt 

(ß.  tum  lUtmiitkE, 

Staifcrl.  Del).  ©bcvSiegicrungsvatb,  Dovtrag.  Diatt)  ini  Üteidjc. - 
amt  bes  gitnevn. 

'Bierte  gitttaltd)  umgearbeitete  'Kitflage. 
gr.  8".  Lieferung  I. 


Deutsche  Litteraturzeitung 

Begründet  von  Professor  Dr.  Max  Roediger. 

Herausgegeben 

von 


preis  o Mark  50  pf. 

Die  Slbftifipme  her  erften  Ülbtljeüiing  ücrhflicfjtet  uiv 
dlmapme  be*  galten  SBcvfeS. 


eJitn  Dlaarltlima  t Die  .1  )u c i t e Sieiernng  wirb 
O UUt)rUltl(  . [,en  J,e§  ^uct)ä  ciuicbl. 
äSovttovt,  Sijlaltsangabe  nnb  £ad)vegtfter  mnfaffeit  unb  vor 
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Dr.  Paul  Hinneberg. 

XIII.  Jahrgang.  Preis  vierteljährlich  7 Mark.  Erscheint  jeden  Sonnabend. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten. 


Die  Deutsche  Litteraturzeitung  erblickt  ihren  eigenthümlichen  Beruf  darin, 
vom  Standpunkt  der  deutschen  Wissenschaft  aus  eine  kritische  Uebersicht  über 
das  gesammte  1 itterarische  Leben  der  Gegenwart  zu  bieten  Sie  sucht  im 
Unterschied  von  den  Fachzeitschriften  allen  denen  entgegenzukommen,  welchen  es 
Bedürfniss  ist,  nicht  nur  mit  den  Fortschritten  ihres  Faches,  sondern  auch  mit  der 
Entwickelung  der  übrigen  Wissenschaften  und  mit  den  hervorragenden  Leistungen 
der  schönen  Litteratur  vertraut  zu  bleiben. 

In  ihren  Mittheilungen  bringt  die  Deutsche  Litteraturzeitung  eine  Uebersicht 
über  den  Inhalt  in-  und  ausländischer  Zeitschriften,  wie  sie  in  dieser  Reich- 
haltigkeit sonst  nirgends  geboten  wird,  ferner  ständige  Berichte  über  die  Thätigkeit 
gelehrter  Gesellschaften,  Nachrichten  über  wissenschaftliche  Entdeckungen  und  litte- 
rarische  Unternehmungen,  Personalnotizen  und  Vorlesungsverzeichnisse. 

Durch  die  Unterzeichnung  aller  Besprechungen  mit  dem  vollen  Namen  des 
Referenten  bietet  die  Deutsche  Litteraturzeitung  die  Gewähr  einer  gediegenen 
und  würdigen  Kritik.  , 


.iltaiifenuctiiriicniiipf'gcftl; 

Dom  15.  Suiii  1883, 

tu  öci  Raffung  öerDlotiflle  Dom  10.  'llptil  181*2 

001t 

<E.  tum  lOnEÖfkc, 

fiiiiierl.  (Del).  Obev=91egievuitgbvatf),  uortrag.  :ifatl)  im  :Rcü1k- 
amt  beä  Sintern. 

Blcitc  qqrüicl)  ningcartwitetc  tHuRiigc. 

2 of  d)  ett  forma  t carto  11  nirt. 

3 9)lf. 

Hugo  Frank cl, 

A ntiquariat  fürRechts-u.  Staatswissenschaft, 

Berlin  N.  24,  Elsasserstr.  36, 

empfiehlt  sich  zur  Beschaffung  aller  in  sein 
Specialfach  einschlagender  Literatur. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  19.  September  1892. 


Nummer  38. 


SOZIALPOLITISCHES 


C E NTR A LB  LA T T 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  Zukunft  der  Rechtsstrafe. 

Von  Prof.  Dr.  Franz  v.  Liszt. 
Cholera  und  Sozialpolitik.  Von 
Dr.  Victor  Adler. 

Soziale  Wirtlischaftspolitik  u. 
Wirthscliaftsstatistik: 

Die  Bestrebungen  und  Aussichten 
der  deutschen  Bodenreformer. 
Von  Dr.  Bruno  Borchardt. 
Verlegung  des  Lohntages  in  Rhein- 
land-Westphalen. 

Soziale  Wanderungen  in  Deutsch- 
land. 

Arbeiterzustände : 

Die  Reichsenquete  über  die  Arbeits- 
verhältnisse im  Ladengeschäft. 
Von  Dr.  Max  Quarck. 
Achtstündige  Arbeitszeit. 
Arbeitszeit  der  österreichischen 
Slidbahnarbeiter. 

Die  Ausgabenrechnung  eines  Leip- 
ziger Zimmermanns  im  fahre 

1891. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Die  Stellung  der  deutschen  Ge- 
werkschaften zu  den  Beschlüssen 
des  Halberstädter  Kongresses. 
Von  C.  Legien,  Vorsitzendem 
der  Generalkommission  der  Ge- 
werkschaften. 


Der  englische  Gewerkvereinskon- 
gress 1892.  Von  Prof.  Dr.  Lujo 
Brentano. 

Deutscher  Buchdruckertarif. 

Arbeiterschntzgesetzgebung : 

Schutzvorschriften  für  Arbeiter  an 
Eisensteinröhren. 

Dienstbotengesetz  in  Rumänien. 

Arbeiterversicherung : 

Der  Grundfehler  des  Verfahrens 
zur  Feststellung  von  Unfallent- 
schädigungen. Von  Dr.  Ernst 
Lange. 

Krankenversicherung  der  Dienst- 
boten in  Deutschland. 

Vertheilung  der  Krankenkassen- 
arten im  Deutschen  Reich. 

Wohnungszustände  und  AVoli- 
nungsgesetzgebung : 

Bau  von  Arbeiterwohnungen  aus 
Mitteln  der  deutschen  Invali- 
ditäts-  und  Altersversicherung. 

Massregeln  zur  Erzielung  gesunden 
Wohnens  in  Mühlhausen  i.  E. 

Gewerbegerichte : 

Errichtung  von  Gewerbegerichten 
durch  Ortsstatut. 

Soziale  Hygiene: 

Krankenkassen  und  soziale  Hygiene. 


Abdrück  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Zukunft  der  Rechtsstrafe. 


Ihr  lasst  den  Armen  schuldig  werden, 
dann  überlasst  Ihr  ihn  der  Pein. 

Wenn  es  wahr  ist,  dass  jedes  Verbrechen  bedingt 
wird  durch  die  gesellschaftlichen  Verhältnisse,  dass  es  die 
nothwendige  Folge  gegebener  Zustände  ist  — wäre  es 
dann  nicht  hoch  an  der  Zeit,  dass  die  strafende  Gerechtig- 
keit das  Schwert  aus  der  Hand  legt,  die  Binde  von  den 
Augen  nimmt  und  herabsteigt  von  den  Stufen  ihres  Ehren- 
sitzes, um  den  vor  ihr  im  Staube  Hegenden  Verbrecher 
aufzurichten  und  ihm  abzubitten,  was  in  ihrem  Namen  an 
seinen  Brüdern  gesündigt  worden?  Hoch  an  der  Zeit,  dass 
die  allein  schuldige  Gesellschaft  aufhört,  über  dem  Un- 
schuldigen zu  Gericht  zu  sitzen  und  die  mit  Rost  und  Blut 
beschmutzten  Waffen  zu  missbrauchen,  die  sie  zugleich 


mit  dem  Irrwahn  individueller  Verschuldung  von  den  Vor- 
fahren übernommen  hat? 

Das  ist  keine  Doktorfrage,  aufgeworfen  am  grünen 
Tisch,  damit  an  ihrer  Lösung  der  Scharfsinn  des  Lehrlings 
bescheiden  sich  erprobe  und  die  überlegene  Weisheit  des 
Lehrers  sich  bewähre.  Wer  die  grosse  sozialpolitische 
Strömung  unseres  sinkenden  Jahrhunderts  verfolgt,  der 
weiss,  dass  sie  an  den  Grundmauern  des  stolzen,  Jahr- 
hunderte alten  Baues  der  Strafgesetzgebung  spült  und 
nagt.  Und  wer  nicht  will,  dass  der  Bau  über  Nacht  zu- 
sammenbricht und  in  seinem  Sturze  die  tiefsten  Tiefen 
unseres  Volkslebens  aufwühlt,  der  muss  sich  darüber  klar 
werden,  ob  er  ihn  stützen  oder  langsam  abtragen  will. 

„Die  Zukunft  der  Strafe“  — hat  die  staatliche  Strafe 
eine  Zukunft?  Die  Frage  gehört  zu  den  wichtigsten  und 
schwierigsten,  die  der  Sozialpolitiker  sich  stellen  kann. 

Ich  will  im  Folgenden  versuchen,  meine  Antwort  aul 
die  Frage  zu  geben.  Selbstverständlich  muss  ich  mich  hier 
auf  allgemeine  Andeutungen  beschränken.  Auf  Einzelnes 
mag  bei  späterer  Gelegenheit  zurückgekommen  werden. 

Ich  bin  für  meine  Person  fest  davon  überzeugt,  dass 
durch  eine  Umgestaltung  der  gesellschaftlichen  Verhältnisse, 
insbesondere  durch  Milderung  des  Massenelends,  durch 
R e klassirung  der  D e klassirten  die  Zahl  der  begangenen 
Verbrechen  sehr  wesentlich  vermindert  werden  kann.  Jeder 
sozialpolitische  Fortschritt  bedeutet  eine  Verminderung  der 
Thätigkeit  unserer  Strafgerichte,  bedeutet  für  die  strafende 
Gerechtigkeit  eine  Schmälerung  ihres  Herrschaftsgebietes. 

Dazu  tritt  ein  weiterer  Umstand.  Die  heute  in  allen 
Ländern  herrschende  Gesetzgebung  zieht  eine  scharfe 
Grenze  zwischen  der  Verhütung  des  Verbrechens  und 
seiner  Bestrafung,  zwischen  Prävention  und  Repression. 
Aber  diese  vom  logischen  Standpunkte  aus  völlig  berech- 
tigte Grenzscheidung  versagt  den  Dienst,  sobald  die  Be- 
dürfnisse des  praktischen  Lebens  sich  geltend  machen. 
Der  erfahrene  Arzt  wird  nicht  nur  die  Krankheit  zu  heilen, 
sondern  auch  ihre  Wiederkehr  zu  verhüten  suchen.  Das 
Eine  schliesst  das  Andere  nicht  aus.  Auch  das  geltende 
Recht  hat  dieser  Erkenntniss  Rechnung  tragen  müssen. 
Wenn  wir  den  mit  drei  Tagen  Haft  bestraften  Land- 
streicher nach  seiner  Entlassung  auf  zwei  Jahre  in’s 
Arbeitshaus  stecken,  so  knüpfen  wir,  nach  dem  Sprach- 
gebrauche  und  nach  der  Auffassung  der  herrschenden 
Lehre,  an  die  Repression  eine  diese  an  Ausdehnung  und 
Wirksamkeit  weit  überragende  Massregel  der  Prävention. 
Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  auf  dieser  im  geltenden  Rechte 
bereits  gegebenen  Grundlage  kräftig  weiter  gebaut  werden 
kann;  zugleich  aber  auch,  dass,  je  weiter  dieser  Bau  fort- 
schreitet, die  Strafe  im  heutigen  Sinne  des  Wortes  an  Be- 
deutung  verliert. 


464 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


Und  jene  Grenzlinie  selbst  verschiebt  sich.  Eine  weit 
verbreitete  Bewegung,  deren  Sieg  in  allernächster  Zeit  mit 
voller  Sicherheit  zu  erwarten  ist,  fordert  der  verbreche- 
rischen Jugend  gegenüber  den  Ersatz  des  Gefängnisses 
durch  die  Zwangserziehung.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort, 
diese  Forderung  zu  entwickeln  und  zu  begründen;  ich 
will  nur  darauf  hinweisen,  dass  auch  hier  der  strafenden 
Gerechtigkeit  eine  weitere,  in  ihren  Folgen  noch  kaum  zu 
überblickende  Einbusse  droht. 

Aber  trotz  dieser  Schmälerung  ihres  Herrschafts- 
gebietes bleibt  das,  was  wir  heute  Strafe  nennen,  bestehen. 
Keine,  auch  nicht  die  höchste  Entwickelung  der  Hygiene 
wird  Tod  und  Krankheit  bannen.  Trotz  aller  Sozialpolitik, 
trotz  aller  Vorbeugungsmassregeln  wird  es  antisoziale 
Gesinnungen  und  Handlungen  geben,  so  lange  es  eine 
Gesellschaft  giebt.  Die  Kriminalität  als  Erscheinung  des 
gesellschaftlichen  Lebens  kann  eingeschränkt,  und  zwar 
nach  meiner  Ueberzeugung  — ich  wiederhole  es  — sehr 
wesentlich  eingeschränkt  werden;  niemals  wird  es  uns 
gelingen,  sie  völlig  zu  beseitigen.  Das  Verbrechen  ist 
ewig,  wie  I od  und  Krankheit;  kann  ja  doch,  um  nur  dies 
Eine  hier  zu  erwähnen,  die  Krankheit  selbst  Ursache  von 
Verbrechen  werden,  die  von  dem  Erkrankten  oder  seinen, 
in  Folge  der  Krankheit  des  Erzeugers  entarteten  Nach- 
kommen begangen  werden. 

Dem  Verbrechen  gegenüber  aber  kann  die  Rechts- 
ordnung nicht  unthätig  bleiben.  Sie  muss  sich  schützen. 
Diese  Schutzmassregeln,  die  an  das  begangene  Verbrechen 
anknüpfen,  pflegen  wir,  unter  gewissen  Voraussetzungen, 
Strafe  zu  nennen.  Hinrichtung,  Freiheitsentziehung,  Ein- 
busse an  Geld  und  Ehre,  wenn  gegen  den  Verbrecher 
wegen  des  Verbrechens  verhängt,  sind  Strafe  nach  dem 
herrschenden  Sprachgebrauch.  Die  Richtigkeit  dieses 
Sprachgebrauchs  ist  völlig  gleichgiltig;  der  Name  thut 
nichts  zur  Sache.  Aber  die  Berechtigung  und  die  Zweck- 
mässigkeit der  gegen  den  Verbrecher  heute  verhängten 
Massregeln  ist  bestritten  und  bedarf  der  Untersuchung. 
Dabei  kann  es  nicht  vermieden  werden,  auf  den  Begriff 
des  Verbrechens  näher  einzugehen.  Ist  der  Begriff  des 
Verbrechens  untrennbar  verknüpft  mit  der  Annahme  einer, 
aut  die  Freiheit  des  Wollens  gegründeten  individuellen 
Verschuldung,  so  fällt  mit  dieser  Annahme  das  Verbrechen 
und  mit  ihm  die  Strafe.  Ich  leugne  jene  Verknüpfung;  ich 
behaupte  die  Berechtigung  dessen,  was  wir  heute  Strafe 
nennen;  aber  ich  fordere  eine  zweckentsprechendere  Ge- 
staltung unserer  repressiven  Schutzmassregeln  gegen  das 
Verbrechen.  Ich  will  die  strafende  Gerechtigkeit  nicht  von 
ihrem  Sitze  stossen;  auch  das  Schwert  mag  sie  in  der  Hand 
behalten,  selbst  die  Waage,  wenn  es  darauf  ankommen 
sollte.  Aber  die  Binde  soll  sie  von  den  Augen  nehmen; 
den  Unglücklichen  soll  sie  sehen,  über  den  sie  richtet; 
ernst,  unerbittlich,  aber  ohne  pharisäerhaften  Tugendstolz, 
soll  sie  das  Leid  über  ihn  verhängen,  das  ihr  unerlässlich 
erscheint  im  Interesse  der  Gesammtheit. 

Diese  Behauptungen  bedürfen  des  Beweises.  Ich  hoffe, 
ihn  in  einer  der  nächsten  Nummern  dieser  Zeitschrift  an- 
treten  zu  dürfen.  Für  heute  kam  es  mir  nur  darauf  an, 
den  Sozialpolitiker  auf  die  Bedeutung  des  Problems  hin- 
zuweisen. Er  darf  an  den  Hunderttausenden,  die  wir  in 
unseren  Gefängnissen  verwahren,  nicht  vorübergehen,  ohne 
die  Frage  aufzuwerfen  und  zu  beantworten:  Mit  welchem 
Rechte  überlässt  die  Gesellschaft  den  Armen  der  Pein, 
nachdem  sie  selbst  ihn  schuldig  werden  Hess? 

Halle  a S.  Franz  v.  Liszt. 


No.  38. 

Cholera  und  Sozialpolitik. 

„In  der  Cholera  ist  — vielleicht  das  einzige  Mal  in 
der  Weltgeschichte  — aus  einem  Fluche  für  die  Mensch- 
heit durch  schwere  und  tapfere  Arbeit  von  Wissenschaft 
und  Staatsverwaltung  ein  Segen  geworden“;  diesen  Satz 
stellt  Lorenz  v.  Stein  an  die  Spitze  der  Geschichte  der 
Organisation  des  Gesundheitswesens  (Stein,  das  Gesund- 
heitswesen, p.  121).  In  der  That  wirken  weitverbreitete  und 
akut  auftretende  Epidemien  auf  das  öffentliche  Bewusst- 
sein ganz  eigenartig.  Das  Elend  breiter  Volksschichten, 
die  nothwendige  Kehrseite  moderner  Wirthschaft,  wird 
plötzlich  Gegenstand  ängstlicher  Aufmerksamkeit  und 
fieberhaften  Thatendranges.  Der  Zustand  der  Faktoren, 
von  welchen  die  Volksgesundheit  in  erster  Linie  beeinflusst 
wird:  Luft  und  Wohnung,  Trinkwasser  und  Boden,  Lebens- 
haltung und  Nahrung  wird  eifrig  untersucht;  ja  selbst  die 
psychischen  Folgen  des  materiellen  Elendes,  Unwissenheit, 
Energielosigkeit,  geistige  Depression  werden  als  eine  all- 
gemeine Gefahr  empfunden.  Wie  wenn  der  mit  dem  Rea- 
gens befeuchtete  Schwamm  über  eine  mit  sympathetischer 
Tinte  angefertigte  Schrift  fährt  und  die  längst  vorhandenen 
Züge  nun  in  voller  Deutlichkeit  erscheinen  lässt,  so  bringt 
das  Hereinbrechen  einer  schweren  Seuche  der  Gesellschaft 
ihre  eigenen  Zustände,  die  sie  längst  kennt,  aber  vor  denen 
sie  gewaltsam  die  Augen  zu  schliessen  gewohnt  ist,  zu 
grellem  Bewusstsein. 

Diese  Wirkung  der  Epidemien  und  insbesondere  der 
Cholera  ist  keineswegs  bedingt  durch  die  Zahl  der  Opfer, 
welche  sie  heischt.  Ohne  Zweifel  verfallen  allein  der 
Tuberkulose  weit  mehr  Menschenleben,  als  die  furchtbarste 
Choleraepidemie  vernichtet.  Zudem  ist  die  Cholera  sowie 
die  Tuberkulose  wesentlich  eine  Proletarierkrankheit.  Die 
besten  Namen  der  hygienischen  Wissenschaft  bezeugen 
das:  Eulenberg  stellt  fest,  „dass  mit  der  zunehmenden 
Wohlhabenheit  in  den  einzelnen  Berufsklassen  auch  die 
Zahl  der  Erkrankungen  an  Cholera  (natürlich  nur  im  All- 
gemeinen) abnimmt“  und  konstatirt  weiter  „das  Ueber- 
wiegen,  ja  zuweilen  fast  ausschliessliche  Auftreten 
der  Krankheit  unter  Proletariern,  also  einem  Bevölke- 
rungstheil,  bei  welchem  alle  durch  die  Armuth  bedingten, 
sich  aut  eine  quantitativ  ungenügende,  qualitativ  unzweck- 
mässige Ernährung  beziehenden  Verhältnisse  neben  ander- 
weitigen hygienischen  Uebelständen  in  erster  Linie  in  Be- 
tracht kommen“  (Eulenberg,  Handbuch  des  öffentlichen 
Gesundheitswesens  I,  p.  517  ff).  Und  was  wir  in  den  letzten 
Wochen  in  Hamburg  erlebt  haben,  bestätigt  durchaus 
diese  Erfahrung. 

Wenn  trotzdem  die  Cholera  unvergleichlich  mehr  als 
die  Tuberkulose  ein  Impuls  zu  Reformen  der  öffentlichen 
Gesundheitspflege  geworden  ist,  so  hat  das  seinen  Grund 
in  dem  plötzlichen  und  erschreckenden  Auftreten  der 
Epidemie  und  dem  akuten  Verlaufe  der  Krankheit  am  In- 
dividuum, welches,  einmal  ergriffen,  wenn  nicht  durchaus, 
so  doch  im  Wesentlichen  gleich  wehrlos  ist,  ob  reich  oder 
arm.  Stein  drückt  dieses  psychologische  Moment 
mit  gewohnter  Meisterschaft  aus:  „War  die  Cholera 

einmal  da,  so  war  die  besitzende  Klasse  ebenso  gut  ge- 
fährdet wie  die  nichtbesitzende.  Damit  ergab  sich,  dass 
die  Sicherung  der  zahlreichen  unteren  Klasse  zuletzt  als 
die  einzige  Sicherung  auch  der  höheren  erschien.  War  die 
erstere  ergriffen,  so  war  die  Gefahr  der  Gesundheit  der 
letzteren  und  die  damit  nicht  mehr  zu  verkennende 
Gefahr  der  öffentlichen  Gesundheit  gegeben“.  Zieht 
man  nun  noch  in  Betracht,  dass  die  Abwehr  der  Einschlep- 
pung der  Cholera  eine  Behinderung  des  Geschäftsverkehrs 
bewirkt,  welche  die  Interessen  der  Besitzenden  einschneidend 


Nu.  38 


SOZIALPOLITISCHES  ckntralblatt. 


465 


berührt,  so  hat  man  so  ziemlich  die  Summe  der  Umstände 
gezogen,  welche  bewirken,  dass  die  Choleraepidemien  eine 
psychologische  Disposition  bei  den  herrschenden 
Klassen  und  den  Regierungen  erzeugen,  die  sie  eingreifen- 
deren hygienischen  Massnahmen  geneigt  macht,  auch  wenn 
sie  einige  Kosten  verursachen  sollten.  Diese  psychologi- 
sche Disposition  ist  nun  ein  sozialpolitisch  auszunützen- 
des Moment  und  darum  hat  die  Cholera  eine  gar  nicht  zu  unter- 
schätzende sozialpolitische  Bedeutung. 

Was  lässt  sich  nun  erreichen?  Selbst  dem  vertrauens- 
seligsten Optimisten  hat  das  Beispiel  Hamburgs  gelehrt, 
dass  die  Errungenschaften  hygienischer  Wissenschaft  und 
Technik  von  der  modernen  Staats-  und  Kommunalverwal- 
tung fast  ungenutzt  bleiben.  Ohne  Zweifel  haben  in  Ham- 
burg lokale  und  persönliche  Umstände  mitgewirkt,  um 
einen  Gipfel  sanitärischer  Impotenz  aufzuzeigen,  der 
hoffentlich  nicht  überall  erreicht  werden  wird.  Aber  nicht 
um  Verhütung  der  Einschleppung  und  Weiterverbreitung 
der  Seuche  von  Ort  zu  Ort  handelt  es  sich  sozialpolitisch 
in  erster  Linie.  Was  da  als  gröbster  Mangel  grell  in  die 
Augen  springt,  der  Mangel  an  einer  staatlichen  Organi- 
sation der  Gesundheitspflege,  an  einem  Seuchen- 
gesetz, an  einer  wirksamen,  mit  Befugnissen  der  Kon- 
trolle und  Exekutive  ausgestatteten  Reichsgesund- 
heitsbehörde, wird  wohl  ganz  ohne  Zweifel  in  Folge  der 
gegenwärtigen  Epidemie  beseitigt  werden. 

Aber  der  alte  Satz  Pettenkofer’s,  „dass  der  Verkehr 
höchstens  die  Gefahr  eines  Zünders  oder  einer  Lunte  in 
sich  trägt,  dass  aber  die  Gewalt  der  Epidemie  von  lokal 
an  gehäuftem  Zündstoff  abhängen  muss“,  weist  weit  über 
diese  Massnahmen  hinaus. 

Es  muss  mehr  gefordert  werden.  Die  Assanirung  des 
Bodens  und  des  Wassers,  die  Entfernung  und  Verwerthung 
der  Abfallstoffe  ist  als  eine  öffentliche  Nothwendigkeit, 
die  mit  Hilfe  der  staatlichen  Gewalt  durchzusetzen  ist, 
heute  mehr  denn  je  zum  Bewusstsein  gekommen.  Es  ist 
einer  der  bezeichnendsten  Widersprüche,  von  welchen  die 
kapitalistische  Gesellschaft  erfüllt  ist,  dass  durch  den  Ueber- 
fluss  an  menschlichen  Exkrementen  die  Städte  und  dieWasser- 
läufe  verseucht  werden  im  Widerspruch  mit  aller  Hygiene, 
und  dass  durch  den  Mangel  an  solchen  Exkrementen,  an 
Dungstoffen,  der  Ertrag  der  landwirthschaftlichen  Arbeit 
vermindert  wird  im  Widerspruch  mit  aller  Volkswirth- 
schaftslehre.  Dieser  Widerspruch  aber  lässt  sich  in  hohem 
Grade  mildern  im  Rahmen  der  heutigen  Ordnung  und  wir 
zweifeln  nicht,  dass  die  Hygiene  durchsetzen  wird,  was  die 
Volkswirtschaft  seit  Langem  begehrt.  Dass  es  aber  nur 
der  Staat,  beziehungsweise  das  Reich  sein  kann,  welchem 
die  Macht  zu  Gebote  steht,  die  Widerstände,  welche  städ- 
tischer Krämergeiz  und  kurzsichtige  Kirchturmpolitik  be- 
reiten, zu  beseitigen,  ist  klar. 

Weiter  sind  in  Hamburg  zwei  Umstände  aufgetreten, 
die  umsomehr  zum  Denken  auffordern,  als  sie  gerade  in 
einer  Grossstadt  nicht  erwartet  werden  konnten.  Wir 
meinen  den  Aerztemangel  und  die  Theuerung  der 
Desinfektionsmittel  und  Medikamente.  Beide  Uebel 
müssten  sich  ins  Ungemessene  verschärfen,  wenn  die 
Epidemie  eine  Ausbreitung  auf  das  flache  Land  er- 
fahren sollte,  wo  beide  Zustände  stets  chronisch  vorhanden 
sind.  Wir  meinen,  dass  es  gar  kein  schärferes  und  wirk- 
sameres Argument  giebt  für  die  Forderung  der  Verstaat- 
lichung des  Aerztewesens  und  die  Verstaatlichung 
der  Apotheken,  als  diese  Thatsache.  Ob  man  die  Kon- 
sequenz ziehen  wird,  ist  freilich  die  Frage;  zuviel  Privat- 
interessen treten  da  in  den  Weg. 

Aber  auch  damit  wäre  lange  nicht  Alles  geschehen. 
Wir  haben  ausgeführt,  wie  die  Choleraepidemie  die  Lebens- 
lage und  den  Gesundheitszustand  des  Proletariats  als  eine 


Gefahr  für  die  Besitzenden  erscheinen  lässt.  In  der  That  ist 
das  Wohnungselend,  die  Unterernährung,  die  Arbeitslosig- 
keit und  ihr  Heer  von  Folgen  gegenwärtig  der  Gegenstand 
eifriger  Konstatirung  von  Amtswegen,  — allerdings  nur  in 
den  Gressstädten.  Ueberall,  besonders  deutlich  in  Wien, 
werden  Zustände  enthüllt,  deren  brutale  Scheusslichkeit 
Alles  übertrifft,  was  bisher  amtlich  zur  Kenntniss  genommen 
wurde.  Dutzende  von  Familien,  in  Kellerlöchern  schlafend, 
auf  Treppen,  Böden,  Höfen,  überall  menschliche  Leiber,  in 
wirrem  Durcheinander  Männer,  Weiber,  Kinder.  Dazu  sind 
das  keineswegs  durchaus  Arbeitslose,  nein,  man  findet, 
und  das  erhöht  den  Ekel,  welcher  die  Gesellschaft  vor 
ihrem  eigenen  Zustande  erfasst,  — Leute,  welche  ihren 
regelmässigen  Erwerb  im  Verschleiss  von  Lebensmitteln 
haben,  in  solchen  Lokalitäten  schlafend  auf  Säcken,  die 
mit  Gemüsen  gefüllt  sind!  u.  s.  w.  Die  Kontrolle  und 
Räumung  dieser  „Massenquartiere“  wird  emsig  betrieben; 
aber  was  geschieht  mit  den  Delogirten?  In  Wien  ist  die 
Sache  einfach:  die  nicht  in  Wien  Heimathsberechtigten 
werden  in  ihre  „Heimath“  abgeschoben,  dem  Rest  der 
Rath  gegeben,  bessere  Wohnung  zu  suchen.  Und  immer 
und  immer  wieder  finden  die  Sanitätskommissionen  Massen  - 
quartiere,  angefüllt  mit  denselben  Menschen,  welche  sie 
vor  wenigen  Tagen  aus  einer  anderen  Stätte  des  Elends 
vertrieben.  Und  wie  sollte  das  anders  sein  können? 

So  sehr  die  psychologische  Disposition  zur  Sozial- 
reform durch  die  Epidemie  erhöht  ist,  so  sehr  den  Be- 
sitzenden und  dem  Staate  die  Gefahr  des  Anwachsens  des 
Proletariats  nun  von  der  Hygiene  eingepaukt  wird,  — des 
Proletariats  kann  sich  die  heutige  Gesellschaft  nicht  ent- 
ledigen. Immerhin  aber  könnte  sie  Manches,  wenn  die 
Furcht  vor  der  Cholera  ihr  eine  Zeit  lang  in  den 
Gliedern  bliebe.  Ein  Minimum  an  Wohnung  und 
Nahrung  könnte  die  heutige  Gesellschaft  von  staats- 
wegen  ohne  alle  Schwierigkeit  Jedem  darbieten.  Die  Pro- 
duktivität ist  derart  gestiegen,  dass  Mangel  weder  an  Nah- 
rungsmitteln, noch  an  hygienisch  nothdtirftig  ausreichen- 
den Wohnungen  zu  gewärtigen,  und  dass  der  Staat  ohne 
seinen  Klassencharakter  irgendwie  zu  gefährden  in  der  Lage 
wäre,  das  „Recht  auf  Existenz“  heute  schon  zu  verwirk- 
lichen. Freilich  würde  damit  in  einem  Sprunge  die  Lebens- 
haltung der  gesammten  Lohnarbeiterschaft  und  damit  die 
Höhe  des  Lohnes  bedeutend  in  die  Höhe  gehen;  und  das 
wäre  ein  Schnitt  ins  Fleisch  des  Kapitalismus.  Aber  der 
Staat  hat  nur  die  Wahl  zwischen  dieser  für  eine  Minorität 
seiner  Glieder  schmerzhaften  Operation  und  zwischen  dem 
Offenhalten  eiternder  Wunden  am  sozialen  Körper  und  der 
Verewigung  von  Seuchenherden  in  seiner  Mitte.  Ob  er 
die  Konsequenz  ziehen  wird?  Wir  haben  wenig  Hoffnung. 
Wenn  auch  heute  eingesehen  wird,  dass  „die  Folgen  des 
Sinkens  der  öffentlichen  Gesundheit  der  nichtbesitzenden 
Klasse  an  und  für  sich  eine  beständige  Gefahr  für  die  be- 
sitzende bilden“  (Stein  1.  c.,  p.  297),  die  Gefahr,  welche  die 
noch  so  dürftige  Verwirklichung  eines  Existenzminimums 
für  die  Intensität  der  kapitalistischen  Ausbeutung  mit  sich 
führt,  wird  den  Besitzenden  noch  immer  eine  grössere  und 
dringendere  erscheinen.  Daher  kommt  die  tief  begründete 
Resignation  der  gesammten  Hygiene , welcher  Finkeln- 
burg noch  vor  Kurzem  (Handwörterbuch  der  Staatswissen- 
schaften  III.  p.  857)  in  den  folgenden  Worten  so  deutlich  Aus- 
druck gegeben:  „Nicht  in  der  (Sanitäts-)  Organisation  allein 
darf  indess  die  Bedingung  praktischer  Fortschritte  in  der 
öffentlichen  Gesundheitspflege  gesucht  werden.  Um  die  von 
letzterer  gebotenen  Massnahmen,  welche  vielfach  in  wich- 
tige  geschäftliche  und  persönliche  Interessen,  ja 
in  die  Eigenthumsrechte  des  Einzelnen  verletzend 
eingreifen,  von  der  öffentlichen  Meinung  durchführbar  zu 
machen,  muss  der  Gemeinsinn  in  den  leitenden  und 


466 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  38, 


besitzenden  Klassen  sich  reicher  entwickeln,  das 
Verständniss  für  die  nothwendige  Beschränkung  der  Einzel- 
rechte gegenüber  dem  Gesammtwohl  überhaupt  und  ins- 
besondere gegenüber  dem  allgemeinen  Gesundheitsinteresse 
tiefer  in  das  allgemeine  Bewusstsein  eindringen,  als  bis  jetzt 
in  Deutschland  der  Fall  ist.  Die  fortschreitende  soziale 
Volksbildung  wird  aut  keinem  Gebiete  unmittelbarer  loh- 
nende Früchte  tragen  als  auf  demjenigen  der  öffentlichen 
Gesundheitspflege.“ 

Wir  vermuthen,  dass  die  Hygiene  vergebens  aut  diese 
„reichere  Entwickelung  des  Gemeinsinns  in  den  leitenden 
und  besitzenden  Klassen“  warten  wird,  die  „soziale  Volks- 
bildung“ hat  heute  nicht  die  Besitzenden  zum  Träger,  so 
sehr  ihnen  die  Cholera  nahegehen  mag,  sondern  die  Be- 
sitzlosen. Immerhin  ist  zu  erwarten,  dass  auch  diese  Epi- 
demie wenigstens  der  Ansporn  sein  wird,  kleinere  und  vor 
Allem  billigere  Dinge  namentlich  auf  dem  Gebiete  der 
Sanitätsorganisation  zu  verwirklichen. 

Wien.  Victor  Adler. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
statistik. 

Die  Bestrebungen  und  Aussichten  der  deutschen 
Bodenreformer. 

In  der  letzten  Zeit  ist  mehrfach  die  Rede  von  der 
Bodenbesitzreform  gewesen.  Einerseits  sind  die  Anhänger 
derselben  ausserordentlich  rührig,  den  verschiedensten 
Staats-  und  Kommunalbehörden  bei  allen  möglichen  Ge- 
legenheiten durch  Petitionen  eindringlich  zuzurufen,  dass 
die  Ueberführung  des  Grund  und  Bodens  in  den  Staats- 
und Kommunalbesitz  dringend  nothwendig  sei  zur  Ge- 
sundung unserer  Verhältnisse,  andererseits  wird  von  den 
wissenschaftlichen  Kapazitäten  der  freisinnigen  Partei  nach- 
gewiesen, dass  solche  Massregeln  sozialistisch  und  reaktio- 
när wären.  Es  lohnt  daher  wohl  der  Mühe,  diese  Be- 
strebungen und  ihre  Aussichten  etwas  näher  zu  prüfen. 

Sie  knüpfen  sich  in  Deutschland  an  den  Namen 
Flürscheims,  welcher  einen  „Bund  für  Bodenbesitzreform“ 
ins  Leben  gerufen  hat,  in  welchem  nach  seinen  Statuten 
Raum  für  Mitglieder  aller  politischen  Parteien  ist,  von  dem  am 
weitesten  rechts  sitzenden  Konservativen  bis  zum  rothesten 
Sozialdemokraten.  Seine  wissenschaftliche  Begründung 
knüpft  Flürscheim,  nicht  an  Marx  an,  sondern  an  den  amerika- 
nischen Bodenreformer  Henry  George.  Wie  dieser,  behauptet 
er,  unter  vollständiger  Verkennung  des  gesellschaftlichen  Cha- 
rakters der  Arbeit  bei  den  modernenProduktionsverhältnissen, 
die  menschliche  Arbeitskraft  sei  etwas  durchaus  Persönliches, 
Individuelles,  und  daher  müsse  die  Bethätigung  derselben 
auch  etwas  durchaus  Individuelles  sein,  die  Verwerthung 
des  durch  die  Arbeit  Gewonnenen,  also  des  Arbeitspro- 
duktes, vollkommen  dem  Belieben  des  Arbeitenden  über- 
lassen bleiben.  Freilich  sei  dies  in  der  heutigen  Welt,  bei 
der  gegenwärtigen  Wirtschaftsweise,  nicht  der  Fall.  Im 
Gegentheil  müsse  das  Recht  zur  Bethätigung  der  Arbeits- 
kraft heute  erkauft  werden,  und  zwar  um  einen  Preis, 
welcher  mit  dem  Werthe  des  Produkts,  also  der  zu  seiner 
Herstellung  nöthigen  Arbeitszeit,  auch  nicht  das  Geringste 
zu  thun  habe,  vielmehr  seien  die  Arbeitslöhne  vielfach  da 
am  niedrigsten,  wo  die  Arbeitszeit  am  längsten  sei,  weil 
die  überlange  Arbeitszeit  den  Arbeiter  moralisch  und  phy- 
sisch herunterbringe,  so  dass  er  den  ihn  ausbeutenden 
Mächten  unfähiger  zum  Widerstand  preisgegeben  sei. 
Könnte  der  Arbeiter  seine  Arbeitskraft  nach  eigenem  Be- 
lieben und  zu  eigenem  Vortheil  bethätigen,  könnte  also  die 
'ungerechte  Ausbeutung  desselben  vermieden  werden,  so 
würden,  meint  Flürscheim,  auch  die  sonstigen  Uebel  und 
Leiden  unserer  Gesellschaft  schwinden.  Die  Arbeiter,  im 


Genüsse  des  vollen  Ertrages  ihrer  Arbeit,  würden  eine  un- 
geheure Konsumfähigkeit  erlangen,  die  Industrie  hätte  da- 
durch kolossale  Absatzgebiete  im  eigenen  Lande  erobert, 
sie  müsste  einen  ungeahnten  Aufschwung  nehmen,  in  dessen 
Gefolge  alle  kulturfördernden  Elemente  ebenfalls  zu  grossem 
Einfluss  gelangen  würden. 

Das  Mittel  nun,  durch  welches  heute  die  Arbeiter  ge- 
zwungen werden,  ihre  Arbeitskraft  dem  Kapitalbesitzer  für 
einen  geringen  Preis  zur  Verfügung  zu  stellen,  ist  nach 
Flürscheim  und  George  der  private  Bodenbesitz  und  der 
Bezug  der  Bodenrente  von  Privaten.  Da  der  Boden  nicht 
vermehrbar  ist,  so  sind  seine  unmittelbaren  oder  mittel- 
baren Besitzer,  diejenigen,  welche  unmittelbar  in  Form  von 
Miethe  und  Pacht  oder  mittelbar  in  Form  von  Hypo- 
theken- und  Pfandbriefzinsen  die  Grundrente  für  sich  in 
Anspruch  nehmen  dürfen,  dadurch  auch  die  Herren  über 
die  übrige  Bevölkerung  geworden;  die  Arbeitskraft,  welche 
sich  ja  immer  nur  auf  dem  Grund  und  Boden  bethätigen 
kann,  darf  dieses  nicht  thun,  wenn  jene  Besitzer  die  Er- 
laubnis dazu  nicht  geben.  Diese  geben  die  erwähnte  Er- 
laubniss  aber  nur  gegen  Geld  oder  Produkte  der  Arbeit, 
und  erhalten  so  die  Mittel  zur  mühelosen  Anhäufung  von 
riesigen  Vermögen,  für  welche  wieder  Boden,  direkt  oder 
indirekt  (Hypotheken)  gekauft  wird,  wodurch  dann  der 
Tribut,  welchen  die  arbeitende  Bevölkerung  für  die  Erlaub- 
nis zum  Arbeiten,  also  zum  Leben,  zahlen  muss,  weiter 
und  weiter  anschwillt. 

In  gleicher  Linie  mit  dem  privaten  Bodenbesitz  steht 
der  private  Besitz  sonstiger  Naturschätze  (Kohlen,  Erze) 
und  Naturkräfte  (Wasserkräfte).  Ebenso  dürfen  auch  eine 
Reihe  anderer  Betriebe,  nämlich  solche,  in  deren  Wesen 
ein  Monopol  begründet  ist,  also  vor  allem  das  Verkehrs- 
wesen, nicht  zum  Nutzen  von  Einzelnen,  sondern  nur  zu 
dem  der  Gesammtheit  betrieben  werden;  denn  der  Einzelne, 
welchem  ein  Privileg  auf  einen  solchen  Betrieb  verliehen 
ist,  wird  dadurch  eine  ausbeuterische  Macht  gegenüber 
seinen  Mitbürgern  erhalten. 

Aus  Erwägungen  der  geschilderten  Art  entspringt  nun 
der  Gedanke,  dass  nach  Ueberführung  des  Bodens  in  Ge- 
meinbesitz, bei  Bearbeitung  desselben  zu  Gunsten  der 
Gesammtheit,  die  Möglichkeit  der  Ausbeutung  des  einen 
Menschen  durch  den  andern  schwinden  müsste;  dabei  wird 
immer  Boden  kurzweg  für  Grund  und  Boden,  Naturschätze, 
Naturkräfte,  Verkehrsbetriebe  und  ähnliche  gesagt. 

Flürscheim  sucht  diese  Behauptung  näher  durch  die 
Darlegung  zu  erweisen,  dass  bei  Gemeinbesitz  des  Bodens  der- 
selbe auch  Arbeitergenossenschaften  ebenso  gut,  wie  einzel- 
nen Kapitalisten  zur  Verfügung  stände,  und  dass  diese  dann 
durch  die  Konkurrenz  jener  gezwungen  würden,  so  hohe 
Summen  als  Löhne  zu  zahlen,  als  bei  den  Genossenschaften 
aus  dem  Ertrage  des  Betriebes  vertheilt  würden;  die  Unter- 
nehmer würden  also  für  sich  nur  diejenigen  Summen  be- 
halten können,  welche  bei  den  Genossenschaften  den 
Direktoren  zufallen.  Es  könnte  somit  die  gegenwärtige 
Grundform  der  Produktion,  die  Waarenproduktion,  beibe- 
halten werden,  ohne  dass  ihre  gegenwärtigen  Uebel  sich 
bemerkbar  machten. 

Um  dieses  segensreiche  Ziel  zu  erreichen,  schlagen 
die  Bodenreformer  eine  allmähliche  Ablösung  des  Bodens 
zum  gegenwärtigen  Marktwerthe  durch  Staat  und  Ge- 
meinden vor;  die  Geldmittel  dazu  soll  die  steigende  Boden- 
rente sowie  eine  starke  Erbschaftssteuer  liefern.  Auch 
wenden  sie  sich  gegen  den  weiteren  Verkauf  der  gegen- 
wärtig noch  vorhandenen  Staats-  und  Kommunalländereien, 
sowie  gegen  die  Vergebung  der  noch  in  Niemandes  Besitz 
befindlichen  Wasserkräfte,  deren  elektrische  Ausbeutung 
eine  grosse  Zukunft  hat,  an  Private;  die  letzt  genannten 
Punkte  bilden  den  Gegenstand  ihrer  schon  anfangs  er- 
wähnten zahlreichen  Petitionen.  Einen  grösseren  Nach- 
druck glauben  sie  denselben  geben  zu  können,  wenn  sie 
praktisch  Bodenreform  im  Kleinen  treiben.  So  will 
Flürscheim  seine  Kraft  der  Kolonie  Sinaloa  in  Mexiko 
widmen,  so  wenden  andere  Arbeit  und  Kapital  der  Heimath- 
kolonie  Friedrich- Wilhelmsdorf  bei  Bremerhaven  zu,  noch 
andere  tragen  sich  mit  der  Idee,  durch  die  Gründung  einet 


No.  38 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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Baugenossenschaft  in  Berlin,  deren  Boden  niemals  an  die 
einzelnen  Mitglieder  fallen  soll,  die  Berliner  Wohnungsnoth 
zu  mildern  und  die  praktische  Durchführbarkeit  der  ganzen 
Reform  zu  erweisen. 

Der  wesentliche  Unterschied,  welcher  jedem  sofort  in 
die  Augen  springt,  der  die  bodenreformerischen  Schriften 
mit  denen  des  wissenschaftlichen  Sozialismus  vergleicht,  ist 
die  naive  Geschichtsauffassung  der  ersteren  gegenüber  der 
tieferen  materialistischen.  .Schade,  dass  so  kluge  Leute, 
wie  wir,  früher  nicht  gelebt  haben,  wenigstens  nicht  in  den 
einflussreichen  Kreisen,  welche  die  Geschicke  der  Völker 
bestimmen.  Wäre  das  der  Fall  gewesen,  so  würde  uns  die 
gegenwärtige  Aussaugung  der  Bevölkerung  durch  das 
Kapital  erspart  geblieben  sein.  Aber  noch  ist  es  Zeit. 
Wir  zeigen  euch,  den  Regierenden,  den  Weg,  welchen  ihr 
gehen  müsst,  wenn  euch  nicht  die  verelendeten  Volks- 
massen schliesslich  mit  blutiger  Lapidarschrift  belehren 
sollen,  dass  die  Ausbeutung  eine  natürliche,  physische 
Grenze  hat.  Das  ist  der  Ton,  der  durch  die  bodenreforme- 
rischen Schriften  durchklingt.  Ihre  Verfasser  begreifen  so 
wenig  die  Gegenwart  mit  ihren  ökonomischen  Verhält- 
nissen als  das  nothwendige  Produkt  der  geschichtlichen 
Entwickelung,  dass  einer  sogar  von  einem  falschen  Wege 
sprechen  kann,  den  die  Kulturmenschheit  bisher  gegangen 
sei.  Bei  einer  solchen  Geschichtsauffassung;  ist  es  freilich 
nicht  zu  verwundern,  wenn  sie  den  ökonomischen  Unter- 
grund, auf  welchem  die  politischen  Parteien  sich  erheben, 
so  sehr  verkennen,  dass  sie  glauben,  dieselben  friedlich  bei 
sich  vereinigen  zu  können.  Gewiss  giebt  es  in  allen  Par- 
teien ideologische  Köpfe,  welche  sich  gar  nicht  bewusst 
sind,  dass  sie  eine  ökonomische  Interessengruppe  gegen- 
über anderen  vertreten;  das  ändert  aber  nichts  an  der 
Thatsache,  dass  dem  so  ist,  und  dass  die  politischen  Par- 
teien sich  am  allerwenigsten  bei  einer  so  tief  einschneidenden 
wirthschaftlichen  Massregel,  wie  sie  die  Bodenreformer  ver- 
langen, zusammenfinden  können.  Ganz  gewiss!  würde  sich 
im  Bürgerthum  eine  starke  Bewegung  zu  Gunsten  der 
Bodenreform  geltend  machen,  würde  daselbst  noch  soviel 
Idealismus  und  Gemeinsinn,  oder  so  viele  Erkenntniss  des 
Entwickelungsprozesses,  in  welchem  die  gegenwärtigen 
Gesellschaftsformen  begriffen  sind,  vorhanden  sein,  dass 
derartige  Reformen  ernstlich  ins  Auge  gefasst  würden,  so 
hätte  die  um  ihre  Befreiung  ringende  Arbeiterklasse  keinen 
Grund,  diesen  Bestrebungen  nicht  thätigen  Beistand  zu 
leisten.  Aber  freilich,  die  nothwendige  Voraussetzung  da- 
für, dass  die  Arbeiter  sich  für  die  Bodenreform  besonders 
erwärmen,  die  starke,  bürgerliche  Bewegung,  fehlt  durch- 
aus und  muss  fehlen.  Der  Bund  kann  seinem  innersten 
Wesen  nach  immer  nur  das  sein,  was  er  heute  ist,  eine 
Vereinigung  einiger  ideologischer,  mehr  oder  minder  un- 
klarer Köpfe  aus  allen  Parteien,  von  denen  die  besten,  je 
schneller  sie  zur  klaren  Einsicht  in  die  geschichtliche  Ent- 
wickelung kommen,  sich  um  so  eher  vor  die  Alternative 
gestellt  sehen,  entweder  in  Bethätigung  ihres  idealen  Sinns 
sich  voll  und  ganz  in  den  Dienst  dieser  Entwickelung 
zu  stellen,  oder  unter  Aufgeben  ihres  Idealismus  sich  den 
Bestrebungen  ihrer  Klasse  anzuschliessen  und  damit  die 
einst  angestrebte  Bodenreform  rücksichtslos  zu  bekämpfen. 
Die  unklareren  werden,  je  mehr  sie  erkennen,  dass  die 
staatlichen  und  städtischen  Behörden  sich  von  ihnen  nicht 
belehren  lassen  wollen,  sich  um  so  mehr  in  kleinlichen 
Projekten  verlieren. 

Dieses  Urtheil  über  die  Aussichten  des  Bundes  deckt 
sich  aber  nicht  mit  dem  Urtheil  über  die  Aussichten  der 
Bestrebungen  selbst.  Der  gesellschaftliche  Besitz  des  Grund 
und  Bodens,  sowie  der  Naturkräfte  und  -Schätze,  die  Ver- 
wendung der  Grundrente  zu  öffentlichen  Zwecken  wird 
thatsächlich  eine  Etappe  der  künftigen  Entwickelung  sein, 
nur  werden  derartige  Massregeln  nicht  von  den  gegen- 
wärtig massgebenden  Parteien  durchgeführt  werden. 

Berlin.  Bruno  Borchardt. 


Verlegung  des  Lohntages  in  Rheinland-Westfalen.  Ln 

rheinisch-westfälischen  Industriebezirk  ist  nach  der  „Frankl 
Ztg.“  eine  Bewegung  bemerkbar,  die  darauf  abzielt,  eine  Ver- 
legung des  Lohntages  durchzusetzen.  Die  Arbeiterfrauen 
empfinden  es  nämlich  als  ganz  besonders  drückend,  dass  ihnen 
in  Folge  der  Beschränkung  des  Handelsverkehrs  an  den  Sonn- 
tagen nicht  genug  Zeit  bleibt,  um  ihre  Einkäufe  von  dem  Geldc 
zu  machen,  das  der  Mann  am  Samstag  Abend  heimbringt.  Da 
die  Lebensmittel  am  Sonntag  und  auch  am  Montag  niclit  auf 
den  Markt  kommen,  so  sind  die  Frauen  gezwungen,  entweder 
noch  am  Samstag  Abend  einzukaufen,  was  bei  der  Ueberfüllung 
der  Läden  die  Auswahl  und  Prüfung  behindert  und  sie  daher 
schädigt,  oder  am  Sonntag  in  den  freigelassenen  Stunden  die 
Geschäfte  aufzusuchen,  die  die  verlangten  Waaren  erst  aus 
dritter  oder  vierter  Hand  erhalten  und  dem  entsprechend  theurer 
verkaufen,  wodurch  den  Frauen,  die  mit  sehr  wenig  zu  rechnen 
haben,  ein  nicht  unbedeutender  Schaden  erwächst.  Diese  Be- 
schwerden werden  als  nicht  unbegründet  bezeichnet.  Am 
sichersten  würde  ihnen  abgeholfen  werden,  wenn,  wie  dies  in 
England  Sitte  ist,  die  Wochenarbeit  am  Frühnachmittag  des 
Samstag  schliessen  würde.  Daran  sei  bei  dem  Einfluss,  den  die 
Grossindustriellen  bei  uns  auf  die  Gesetzgebung  haben,  jedoch 
nicht  zu  denken.  Aber  auch  gegen  eine  Verlegung  des  Lohn- 
tages, mit  der  nur  den  Frauen  geholfen  wäre,  die  nicht  selbst 
im  Fabrikbetriebe  thätig  sind,  würden  die  Herren  wohl  Ein- 
wendungen erheben,  weil  daraus  vor  der  Hand  vielleicht  einige 
Unbequemlichkeiten  erstehen  könnten.  Hervorgehoben  zu 
werden  verdient  bei  dieser  Gelegenheit,  dass  bei  der  letzten 
Revision  der  deutschen  Gewerbeordnung  in  § 119  a wohl  Vor- 
schriften dahin  getroffen,  dass  die  Lohnfristen  behördlich  geregelt 
werden  können,  leider  aber  nicht  die  Lohntage.  Würde  diese 
Lücke  ausgefüllt,  so  würden  Bestrebungen,  wie  diejenigen  im 
rheinisch-westfälischenKohlenrevier,  keinen  so  grossen  Schwierig- 
keiten mehr  begegnen. 

Soziale  Wanderungen  in  Deutschland.  Die  Landwirthe 
der  Umgegend  von  Frankfurt  a.  M.,  welche  sich  für  die  Ernte- 
kampagne Arbeiter  aus  Polen  kommen  Hessen  und  für  den  Her- 
und  Rücktransport  jeder  Kolonne  ca.  1100  M.  zu  bezahlen  hatten, 
sind  nach  der  Meldung  des  dortigen  Amtsblattes  mit  den 
Leistungen  derselben  im  höchsten  Grade  unzufrieden.  Tüchtig- 
keit und  Fleiss  sollen  zu  wünschen  übrig  lassen,  was  angeblich 
seinen  Grund  darin  hat,  dass  die  Arbeiter  vorher  meist  in  der 
Industrie  beschäftigt  gewesen  sind.  Im  nächsten  Jahre  will  man 
wieder  zu  den  schlesischen  Feldarbeitern,  die  allerdings  „etwas 
theurer“  seien,  zurückgreifen. 


Arbeiterzustände. 


Die  Reichsenquete  über  die  Arbeitsverhältnisse  im 
Ladengeschäft. 

Die  durch  die  Zeitungen  gehende  Nachricht  dass 
gegenwärtig  bei  allen  Detailgeschäften  amtliche  Erhebun- 
gen über  die  Arbeitszeit  angestellt  würden , ist  nichts 
als  eine  unvollständige  Mittheilung  über  die  eben  begon- 
nene Ausführung  jener  Reichsenquete  über  soziale  Ver- 
hältnisse im  Handelsgewerbe,  welche  im  Juni  d.  ]s.  auf 
Vorschlag  der  Reichsregierung  von  der  neuen  Reichskom- 
mission für  Arbeiterstatistik  beschlossen  wurde.  Die  Ausfüh- 
rung dieser  Enquete  hat  bereits  in  mehreren  Landestheilen, 
begonnen;  die  betheiligten  Kaufleute  erwarteten  den  Be- 
ginn nach  Aeusserungen,  welche  in  der  genannten  Kom- 
mission gefallen  waren,  sogar  schon  früher.  Wie  man  sich 
in  dem  Haupthandelsplatz  Hamburg  mit  der  dort  grassirenden 
Seuche  bei  der  Erhebung  abimdet,  ist  noch  nicht  bekannt 
geworden.  Wahrscheinlich  verschiebt  man  dort  die  Aus- 
führung noch  einige  Zeit.  Sonst  liegen  aber  die  amtlichen 
Bekanntmachungen  und  Schriftstücke  über  die  Enquete, 
namentlich  aus  Preussen,  mehrfach  vor,  und  man  kann  be- 
reits jetzt  ein  Urtheil  über  die  Methode  der  wichtigen  Er- 
hebung fällen,  welche  weitere  reichsgesetzliche  Mass- 
nahmen zu  Gunsten  der  Handelsangestellten  anbahnen 
helfen  soll. 

Leider  erweist  sich  die  Methode  der  Erhebung  von 
vornherein  wieder  einmal  als  sehr  mangelhaft.  Schutzleute 
vertheilen  z.  B.  in  Frankfurt  a.  M.  in  bestimmten  Stadt- 
gegenden an  bestimmte  Adressen,  über  deren  Auswahl 
noch  zu  sprechen  sein  wird,  schriftliche  Fragebogen.  Ob- 


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gleich  an  der  Spitze  dieser  Fragebogen  — ein  Exemplar 
desselben  liegt  vor  dem  Schreiber  dieser  Zeilen  — aus- 
drücklich steht:  „Nur  für  Geschäfte  mit  offenem  Laden“, 
so  ist  die  ausführende  Polizei  doch  naturgemäss  so  wenig 
mit  der  Statistik  vertraut,  dass  sie  auch  Fragebogen  an 
Engrossgeschäfte  giebt,  wie  dies  aus  Frankfurt  a.  M.  nach- 
gewiesen werden  kann.  Während  eine  Bekanntmachung 
des  Frankfurter  Polizeipräsidenten  vom  8.  d.  Mts.  besagt, 
dass  die  Fragebogen  am  16.  wieder  eingesammelt  würden, 
geben  junge  Schutzleute,  welche  den  Fragebogen  am 
10.  September  vertheilten,  die  Auskunft,  dass  die  Antwort 
bereits  am  13.  wieder  abgeholt  werden  würde.  Gelegent- 
lich der  Juni- Verhandlungen  der  Reichskommission  war  zu 
lesen,  dass  die  Fragebogen  8 Tage  in  den  Händen  der  Be- 
theiligten bleiben  würden.  In  einem  Auszug  aus  einer 
offenbar  amtlichen  Verfügung,  welchen  die  „Schlesische 
Zeitung“  mittheilt,  wird  von  5 Tagen  gesprochen.  Das 
sind  drei  verschiedene  Lesarten  nebeneinander,  die  hier 
festgestellt  werden,  um  den  polizeilichen  Gelegenheits- 
charakter der  Enquete  zu  beleuchten. 

Der  von  den  Schutzleuten  vertheilte  schriftliche  Frage- 
bogen lautet  wörtlich: 


»Ort Bezirk Staat 

Fragebogen  für  das  Handelsgewerbe. 
— Nur  für  Geschäfte  mit  offenem  Laden.  — 


Art  (Branche)  des  Geschäfts 

Name  (Firma)  des  Inhabers 

1.  Wieviel  Personen  ausser  dem  Geschäftsinhaber  sind  aus- 
schliesslich oder  vorwiegend  im  offenen  Ladengeschäft 

als  Verkäufer  thätig?1) Personen  und  zwar  als: 

A.  Gehilfen:  männliche  weibliche 

über  16  Jahre  alt:  


B.  Lehrlinge: 
über  16  Jahre  alt: 
unter  16 


männliche 


weibliche 


2. 


3. 


4. 


I.  Arbeitszeit. 


Wie  lange  ist  beim  regelmässigen  Geschäftsbetrieb  (vergl. 
auch  Frage  5)  an  Wochentagen  der  Laden  für  das  Publikum 
geöffnet  ? 


von  ....  Uhr  Morgens  bis  . 
fim  Sommer  von  . . . Uhr  M. 
\im  Winter  „ . . . „ 


bis 


Uhr  Abends 
. . Uhr  Ab.\ 


Wie  lange  sind  beim  regelmässigen  Betriebe  die  zu  1 
bezeichneten  Personen  an  Wochentagen  im  Geschäft  be- 
schäftigt? 

A.  Gehilfen:  männliche  weibliche 

über  16  |ahre  alt:  von  . . . bis  . . . Uhr  von  . . . bis  . . . Uhr 
unter  16'  „ „ 


B.  Lehrlinge:  männliche  weibliche 

über  16  Jahre  alt:  von  . . . bis  . . . LThr  von  . . .bis  . . . 
unter  16  „ „ 


Uhr 


Wieviele  von  den  zu  1 bezeichneten  Personen  haben  täglich 

eine  bestimmte  Mittagspause? Personen.  Wie  lange 

ist  diese  Pause 


A.  für  Gehilfen  (wie  oben), 

B.  für  Lehrlinge  (wie  oben). 

5.  Ist  der  Laden  zu  Zeiten  besonderen  Geschäftsan- 
dranges länger  geöffnet  als  zu  2 angegeben? 

wenn  ja,  an  wieviel  Tagen  etwa  im  Jahr? 

und  an  solchen  Tagen  um  wieviel  Stunden  länger? 

II.  Kündigungsfrist  und  Lehrlings  Verhältnisse 

6.  Ist  für  die  Gehilfen  eine  andere  Kündigungsfrist  verein- 
bart als  die  sechswöchentliche,  mit  Ablauf  des  Kalender- 
vierteljahres endigende  des  Handelsgesetzbuches? 

wenn  ja: 

a)  was  ist  über  die  Kündigung  verabredet? 

b)  für  wieviel  Gehilfen  gilt  diese  Abrede? 

7.  Ist  die  Kündigungsfrist  für  beide  Theile  gleich? 

wenn  nicht:  wie  ist  das  Verhältniss  geordnet? 

8.  Wird  der  Lehrvertrag  schriftlich  geschlossen? 

9.  a)  Wird  Lehrgeld  gezahlt? 

b)  Wie  lange  dauert  die  Lehrzeit?  ....  Jahre. 

10.  Besuchen  die  Lehrlinge  eine  Fach-  oder  Fortbildungsschule, 
Sonn-  oder  Feiertagsschule? 

wenn  ja:  a)  an  welchen  Tagen? 

b)  in  welchen  Tagesstunden? 


')  Hierbei  sind  die  regelmässig  im  Ladengeschäft  als 
Verkäufer  thätigen  Familienmitglieder  des  Geschäftsinhabers 
mitzuzählen. 


III.  Wohnungsverhältnisse. 

11.  Wieviel  der  zu  1 bezeichneten  Personen  haben  bei  dem 
Prinzipal 

a)  nur  Kost?  A Gehilfen  (wie  oben)  etc.  etc. 

b)  nur  Wohnung? 

c)  Kost  und  Wohnung? 

IV.  Bemerkungen. 

Es  wird  gebeten,  hierunter  etwaige  bemerkenswerthe 
Eigenthümlichkeiten  des  Betriebes  hervorzuheben,  sowie  auch 
Angaben  zu  machen,  welche  geeignet  sind,  die  auf  vorstehende 
Fragen,  insbesondere  auf  Frage  3 bis  5 gegebenen  Antworten 
zu  erläutern. 

Vorstehender  Fragebogen  ist  beantwortet 

(Ort): , den  . 1892 

von  (Unterschrift) 

Angabe,  ob  Prinzipal  oder  Gehilfe  (in)  “ 

Soweit  der  Fragebogen.  Er  enthält  die  Bemerkung: 
„Nur  für  Geschäfte  mit  offenen  Laden“,  lässt  aber  auch 
damit  den  sehr  engen  Rahmen  der  Enquete  noch  nicht 
ganz  erkennen.  Dieselbe  soll  sich  nämlich,  entgegen  dem 
W unsche  des  „Deutschen  Verbandes  Kaufmännischer  Ver- 
eine“, der  die  Erhebung  durch  eine  Eingabe  vom  Dezember 
1890  anregte,  nur  auf  die  Laden  des  Waaren-  und  Pro- 
duktengeschäftes  erstrecken,  also  auf  den  Handel  mit  land- 
wirthschaftlichen  Produkten,  insbesondere  mit  Milch,  Butter, 
Käse,  Eiern,  Obst,  Gemüse,  Mühlenfabrikaten,  mit  Kolonial-, 
Material-  und  Fleischwaaren,  den  Fisch-,  Wild-,  Delika- 
tessen- und  Droguenhandel,  den  Handel  mit  Tabak  und 
Cigarren,  mit  Manufaktur-  (Schnitt-)  Waaren,  insbesondere 
mit  Leinen-,  Wollen-,  Baumwollen-,  Sammt-  und  Seiden- 
waaren,  den  Posamenten-,  Garn-,  Band-,  Handschuh-  und 
Kleiderhandel;  die  Krämereien,  Bazare  (Fünfzigpfennig- 
Bazare)  u.  s.  w .,  sowie  den  Handel  mit  Glas-,  Porzellan-, 
I hon-,  Holz-,  Gummi-,  Schuh-  und  Pelzwaaren,  mit  Hüten, 
Stöcken,  Schirmen,  Schreibmaterialien  u.  s.  w.  Die  Ge- 
schäfte dieser  Art  kommen  für  die  Erhebung  jedoch  nur 
soweit  in  Betracht,  als  sie  regelmässig  mindestens  einen 
Gehilfen  gegen  Lohn  beschäftigen.  Ausgeschlossen  von 
der  Erhebung  sind  ferner  die  Ladengeschäfte  für  den  Ver- 
kauf von  Back-  und  Konditorwaaren.  Mehrere  amtliche 
Bekanntmachungen,  z.  B.  diejenige  des  Frankfurter  Polizei- 
präsidenten vom  8.  September,  lassen  diese  Beschränkung 
gar  nicht  erkennen. 

Aber  auch  die  Arbeitsverhältnisse  der  so  beschränkten 
Anzahl  von  Handlungsgehilfen  werden  nicht  vollständig 
erhoben.  Nach  den  Gehaltsverhältnissen  ist  wiederum  ent- 
gegen dem  Wunsche  des  „Deutschen  Verbandes  Kauf- 
männischer Vereine“  gar  nicht  gefragt;  und  doch  stehen 
Arbeitszeit  und  Salär  in  unlöslichem  Zusammenhänge,  man 
kann  das  eine  nicht  ohne  Kenntniss  von  dem  anderen  be- 
urtheilen.  Ferner  fehlt  vollständig  eine  Frage  nach  der 
Beschaffenheit  der  Arbeitsräume,  über  welche  aus  Gehilfen- 
kreisen schon  viele  Klagen  laut  geworden  sind.  Weitere 
Ausstellungen  lassen  sich  sodann  am  Wortlaut  des  Frage- 
bogens selber  machen.  Frage  1 berücksichtigt  weder  die 
Kassirer,  die  im  offenen  Ladengeschäft  thätig  sind,  noch 
neben  den  Gehilfen  und  Lehrlingen  die  etwaigen  Volontäre. 
Unter  4 hätten  detaillirte  Fragen  nach  denjenigen  Gehilfen 
Platz  finden  müssen,  welche  wohl  täglich  eine  Mittagspause 
haben,  aber  keine  bestimmte  und  umgekehrt.  Nach  der 
Frage  5 fehlt  eine  solche  danach  wie  lang  „zu  Zeiten  be- 
sonderen Geschäftsandranges“  die  zu  1 bezeichneten  Per- 
sonen „im  Geschäfte  thätig“  sind,  da  sich  die  Zeit  dieser 
Thätigkeit  auch  in  diesem  Falle  (wie  zu  2 und  3)  durch- 
aus nicht  immer  mit  der  Zeit  des  Ladenschlusses  deckt. 
Unter  10  endlich  ist  eine  Frage  nach  dem  Besuch  von 
Fach-  oder  Fortbildungsschulen  durch  die  Gehilfen  zu 
vermissen.  Derselbe  findet  nämlich  theilweise  statt  und  ist 
bei  den  traurigen  Bildungsverhältnissen  vieler  junger  Kauf- 
leute sehr  löblich;  theilweise  wird  er  aber,  wie  aus  den 
Schulberichten  vieler  Vereine  zu  entnehmen,  auch  von 
Prinzipalen  geradezu  verhindert.  Viele  dieser  Dinge  könnten 
unter  „IV.  Bemerkungen“  von  den  Betheiligten  noch  nach- 
getragen werden.  Da  aber  die  Behörden  vor  Vertheilung 
der  Fragebogen  entgegen  einer  in  der  Reichskommission 
für  Arbeitsstatistik  gefallenen  Aeusserung  gar  keine  Füh- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT . 


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lang  mit  den  Organisationen  der  Betheiligten  gesucht  haben, 
so  ist  auch,  soweit  wir  sehen  können,  innerhalb  dieser 
Organisationen  wenig  gethan  worden,  um  das  Gelingen  der 
Erhebung  zu  fördern. 

Am  wenigsten  wird  offenbar  in  den  betheiligten  Kreisen 
gebilligt,  dass  sich  die  Ortspolizeibehörden  in  den  Gross- 
städten mit  den  Vertretungen  der  Prinzipale  und  Gehilfen 
nicht  ins  Benehmen  darüber  gesetzt  haben,  ob  und  welche 
Stadtgegenden  für  die  Erhebung  ausgesucht  werden  sollen, 
um  „Stichproben“  zu  machen.  In  Frankfurt  a.  M.  z.  B. 
dekretirte  der  Polizeipräsident  ganz  einfach,  dass  zwei 
Bruchtheile  zweier  Polizeireviere  der  inneren  Stadt  mit 
ca.  300  Ladengeschäften  als  Erhebungsbezirk  zu  betrachten 
seien.  Frankfurt  a.  M.  hat  aber  ca.  1700  Ladengeschäfte 
des  Waaren-  und  Produktenhandels  mit  ca.  9000  Gehilfen. 
Werden  aus  der  Befragung  eines  so  kleinen  Bruchtheils 
der  Betheiligten  brauchbare  Schlüsse  zu  ziehen  sein,  zumal 
wichtige  Stadttheile  mit  ganz  besonders  charakteristischen 
Verhältnissen  unbeachtet  lolieben?  Die  Stimmung  der  Be- 
theiligten verneint  im  Allgemeinen  diese  Frage.  Ebenso 
fällt  es  auf,  dass  die  Geschäfte,  in  denen  Prinzipal  oder 
Angestellte  zu  antworten  haben,  ganz  mechanisch  nach 
dem  Alphabet  ausgesondert  werden.  Das  mag  auf  höherer 
Anordnung  beruhen;  es  wird  aber  nichts  destoweniger  nicht 
gebilligt,  weil  man  eine  Wahl  der  Auskunttspersonen  mehr 
nach  sachlichen  Rücksichten  mit  Hinblick  auf  die  Grösse 
und  die  Art  des  Geschäftes  erwartet  hätte.  Gelobt  und 
anerkannt  wird  nur  die  Anordnung,  dass  in  Geschäften, 
die  mehrfaches  Personal  haben,  diesem,  nicht  dem  Prin- 
zipal, die  Wahl  der  Auskunftsperson  zufällt. 

Der  „Deutsche  Verband  Kaufmännischer  Vereine“  hatte 
in  seiner  schon  erwähnten  Eingabe  das  mündliche  kon- 
tradiktorische Verfahren  vor  einer  ad  hoc  eingesetzten 
Sachverständigenkommission  für  die  jetzt  im  Gange  be- 
findliche Enquete  empfohlen.  Es  steht  ausser  allem  Zweifel, 
dass  bei  Anwendung  dieser  Methode  alle  die  Missstände 
vermieden  worden  wären,  die  sich  jetzt  ergeben,  zumal 
eine  Verpflichtung  zur  Beantwortung  der  vertheilten  Frage- 
bogen auf  Seite  der  Kaufleute  nicht  besteht.  Denn  es  ist 
beachtenswert!!,  dass  in  den  Interessentenkreisen  die  schärfste 
Kritik  an  dem  schriftlichen  Verfahren  mit  Schutzleuten  als 
untersten  Organen  der  Sozialstatistik  von  denjenigen  ge- 
übt wird,  welche  die  gründlichste  Erörterung  der  Arbeits- 
verhältnisse im  deutschen  Handelsgewerbe  gewünscht 
hätten,  die  also  mit  der  Absicht  des  Gesetzgebers,  Unter- 
lagen für  zeitgemässe  Reformen  zu  gewinnen,  am  meisten 
sympathisirten. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Achtstündige  Arbeitszeit.  Auf  der  harburger  Thörl- 
schen  Oelfabrik  wurde  am  Montag  für  diejenigen  Arbeiter, 
welche  im  Innern  der  Fabrik  beschäftigt  sind,  also,  bei  den 
Pressen  arbeiten,  die  achtstündige  Arbeitszeit  eingeführt. 
Der  Betrieb  wird  nicht  unterbrochen;  die  Arbeiter  lösen 
sich  3 Mal  täglich  ab. 

Arbeitszeit  der  österreichischen  Südbahnarbeiter. 

Die  durchschnittliche  Arbeitszeit  der  Südbahnarbeiter  be- 
trägt nach  der  in  Villach  erscheinenden  „Deutschen  Allge- 
meinen Zeitung“  siebzehn  Stunden.  Im  Bedarfsfälle 
werden  die  ermüdeten  Arbeiter  nach  den  1 7 Stunden  noch 
zum  Zugsverkehr  und  zum  Ersatz  des  Fahrpersonals  meist 
bei  den  Nachtzügen  herangezogen,  in  der  Regel  werden 
ihnen  dann  die  Bremsen  am  letzten  Wagen  an  vertraut 

Die  Ausgabenrechnung  eines  Leipziger  Zimmermanns 
im  Jahre  1891.  „Es  liegt  uns“,  schreibt  der  „Zimmerer“,  „ein 
Budget  von  einer  Zimmermannsfamilie  aus  Leipzig  vor.  Diese 
Familie  besteht  aus  drei  Köpfen;  der  Zimmerer  gehört  zu  den 
Bestbezahltesten  am  Ort.  Er  hat  auch  das  seltene  Glück  gehabt, 
51  Wochen  im  Jahre  1891  zu  arbeiten.  Für  die  Ehrlichkeit  seiner 
Angaben  übernehmen  wir  die  volle  Verantwortung.  Wir  lassen 
das  Budget  hier  folgen: 


Meine  Einnahme  und  Ausgabe  im  Jahre  1891 ; 
E i n n a h m e. 


Arbeitslohn,  259772  Stunden  ä 46  Pf.  . . 

Ausgabe. 

Nahrungsmittel 

Wohnungsmiethe . . . 

Bekleidungsstücke 

Wirthschaitsgegenstände 

Heizungsmatenal . . . 

Handwerkszeug 

Doktor  und  Apotheke 

Staats-,  Kommunal-  und  Kirchensteuer 

Krankenkassenbeiträge 

Invaliden-  und  Altersversorgungskassen- 
beiträge   

Vergnügen  mit  der  Familie  und  Taschen- 
geld für  den  Mann 

V ereinsbeiträge : 

a)  gewerkschaftliche 

b)  politische 

Literatur: 

1 Exemplar  „Der  Wähler“ 

1 „ „Der  Zimmerer“  . . . 

1 „ „Der  wahre  Jakob“  . . . 

Bibliothek 


610,15  M. 
165,00  „ 
56,81  „ 
38,38  „ 

50.90  „ 
4,45  „ 
3,85  „ 

23,18  „ 
23,40  „ 

7.80  „ 
165,65  „ 

10.90  „ 
9,10  „ 

7,65  „ 
3,60  ,. 
2,40  „ 

4.80  „ 


1194  95  M 


1188,02  „ 


Also  6,93  M.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Die  Stellung  der  deutschen  Gewerkschaften  zu  den 
Beschlüssen  des  Halberstädter  Kongresses. 

Der  Ausbau  der  deutschen  Gewerkschaftsorganisationen 
entsprechend  den  Beschlüssen  des  Halberstädter  Gewerk- 
schaftskongresses, (vgl.  Sozialpolitisches  Centralblatt,  I.  Jahrg., 
No.  13,  S.  168  fg.),  wird  nur  langsam  vorwärts  gehen,  auch 
wird  sich  der  Erfolg,  der  aus  den  zwischen  den  einzelnen 
Organisationen  getroffenen  Vereinbarungen  entspringen 
muss,  nicht  in  kurzer  Frist  bemerkbar  machen.  Die  erstere 
Thatsache  ergiebt  sich  aus  dem  Umstand,  dass  es  sich  bei 
der  Durchführung  dieser  Beschlüsse  darum  handelt,  ein 
durchaus  neues  Gebiet  zu  betreten,  und  daher  eine  ge- 
naue Erwägung  und  Untersuchung  der  eintretenden  Folgen 
erforderlich  ist,  ehe  feste  Vereinbarungen  getroffen  werden 
können.  Ferner  kommt  hier  noch  in  Betracht,  dass  die 
Centralorganisationen  nicht  ohne  Weiteres  den  Beschlüssen 
Folge  geben  können,  sondern  es  ist  erforderlich,  ehe  dieses 
geschehen  kann,  erst  die  Kongresse  oder  Generalversamm- 
lungen der  einzelnen  Berufsorganisationen  abzu  warten. 
Der  Nutzen,  welcher  den  Organisationen  aus  der  näheren 
Verbindung  mit  denen  gleichartiger  Berufe  entstehen  wird, 
kann  sich  in  nächster  Zeit  um  dessentwillen  nicht  bemerk- 
bar machen,  weil  er  erst  zu  Tage  treten  kann,  wenn  in 
einer  besseren  Geschäftskonjunktur  die  Organisationen  mit 
Lohnforderungen  etc.  vorzugehen  vermögen.  Unter  den 
gegenwärtigen  Verhältnissen  müssen  die  Organisationen 
nur  bemüht  sein,  den  bisherigen  Bestand  der  Mitglieder 
sich  zu  erhalten  und  dasjenige,  was  in  günstigeren  Ge- 
schäftsperioden an  Verbesserung  der  Lohn-  und  Arbeitsbe- 
dingungen errungen  worden  ist,  nicht  wieder  verloren 
gehen  zu  lassen.  Darum  eignet  sich  aber  die  gegenwärtige 
Zeit  ganz  besonders  dazu,  die  Frage  der  Reorganisation 
der  Gewerkschaften  zu  diskutiren  und  diese  selbst  vorzu- 
nehmen. Und  thatsächlich  wird  seit  dem  Halberstädter 
Kongress  diese  Frage  in  den  Versammlungen  und 
Fachzeitungen  recht  eifrig  besprochen  und  sind  auch  theil- 
weis  schon  Versuche  gemacht  worden,  an  Stelle  der  theo- 
retischen Erörterung  die  praktische  Durchführung  einzelner 
Theile  der  bekannten  Resolution  des  Halberstädter  Kon- 
gresses zu  setzen.  Im  Allgemeinen  findet  der  vom  Kon- 
gress gemachte  Vorschlag  der  Kartell irung  der  Organi- 
sationen Zustimmung.  Nur  die  Vertreter  der  Lokalorgani- 
sationen mit  Vertrauensmännersystem  fahren  fort,  sich 


470 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  38. 


gegen  die  Kongressbeschlüsse,  wie  auch  gegen  die  Central- 
verbände selbst  zu  wenden.  Da  aber,  wie  die  Statistik 
nachweist,  die  Zahl  der  Anhänger  dieser  Organisationsform 
nur  verhältnissmässig  gering  ist,  so  kann  diese  Meinungs- 
äusserung auf  die  Entwickelung  der  geplanten  Verbindung 
der  Organisationen  nur  von  geringer  Bedeutung  sein.  Aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  wird  eine  günstige  Geschäfts- 
konjunktur mit  ihren  unvermeidlichen  Kämpfen  zur  Er- 
zielung besserer  Arbeitsbedingungen  diesem  Streit  ein 
Ende  machen,  weil  dann  die  Lokalvereine  genöthigt  sein 
werden,  sich  den  Centralorganisationen  anzuschliessen. 
Bedauerlich  ist  nur,  dass  die  Kampfesweise  einzelner  Ver- 
treter der  Lokalorganisation  bei  dieser  Formfrage  einen 
Charakter  annimmt,  der  bei  den  mit  den  Verhältnissen 
wenig  Vertrauten  die  Meinung  aufkommen  lassen  muss,  es 
bestände  zwischen  diesen  beiden  Organisationsformen  eine 
unüberbrückbare  Kluft.  Dem  ist  jedoch  nicht  so.  Die 
Macht  der  Verhältnisse  wird  diesem  mehr  künstlich  herauf- 
beschworenen Streit  ein  für  die  Gewerkschaftsbewegung 
günstiges  Ende  bereiten. 

Mit  Ausnahme  der  Malerorganisation  und  der  der 
Textilarbeiter  erkennen  alle  Centralorganisationen,  soweit 
sie  zu  dieser  Frage  Stellung  genommen  haben,  die  Noth- 
wendigkeit  der  Durchführung  der  Halberstädter  Kongress- 
beschlüsse und  besonders  den  auf  die  Generalkommission 
bezüglichen,  an.  Die  Organisation  der  Maler  konnte  sich 
aut  dem  im  Frühjahr  dieses  Jahres  stattgehabten  Kongress 
über  die  Theilnahme  an  der  geplanten  Gesammtorganisation 
der  Gewerkschaften  nicht  einigen,  und  war  in  Folge  dessen 
diese  Organisation  auf  dem  Kongress  in  Halberstadt  nicht 
vertreten.  Nur  einzelne  Zweigvereine  der  Organisation 
hatten  eine  Vertretung  durchgeführt.  Eine  spätere  Er- 
klärung des  Vorstandes  der  Malerorganisation  ging  dahin, 
dass  der  Verband  sich  mit  Rücksicht  auf  die  Beschlüsse 
seiner  Generalversammlung  der  Generalkommission  gegen- 
über passiv  verhalten  müsse,  im  Besonderen  aber  keine 
Beiträge  an  diese  bezahlen  könne.  Der  Vorstand  des  Ver- 
bandes der  Textilarbeiter  unterbreitete  in  den  letzten  Tagen 
den  Mitgliedern  einen  Antrag  zur  Abstimmung,  der  dahin 
geht,  dass  die  Organisation  sich  von  der  Generalkommission 
loslösen  solle,  weil  sie  die  erforderlichen  Beiträge  theils 
nicht  zu  leisten  vermag,  andererseits  aber  diese  Geldmittel 
für  die  Agitation  unter  den  eigenen  Berufsgenossen  besser 
verwenden  könne.  Dieser  Antrag  scheint  bei  den  Mit- 
gliedern des  Verbandes  aber  wenig  Sympathie  zu  finden, 
da  von  einzelnen  Zweigvereinen  schon  Stellung  dagegen 
genommen  worden  ist.  Die  anderen  Centralorganisationen 
halten  jedoch  an  den  Beschlüssen  des  Kongresses  fest,  und 
es  lässt  sich  daher  erwarten,  dass  diese  zur  Durchführung 
gelangen. 

Der  Kongress  erklärte  in  der  bekannten  Resolution, 
dass  zunächst  zwischen  den  verwandten  Berufsorganisationen 
Kartellverträge  zu  schliessen  sind.  Wo  die  Verhältnisse  es 
angezeigt  erscheinen  lassen,  sollen  sich  aus  diesen  Kartell- 
verträgen Industrieverbände  bilden , oder  es  soll  eine 
Union  der  verwandten  Berufsorganisationen  geschaffen 
werden. 

Darüber,  ob  schon  vor  dem  Abschluss-  der  Kartellver- 
träge die  Gründung  eines  Industrieverbandes  in  einzelnen 
Berufsgruppen  erfolgen  soll,  wurde  und  wird  noch  eifrig 
diskutirt.  Besonders  in  der  Organisation  der  Schneider  und 
der  Schuhmacher  wurde  diese  Frage  in  eingehender 
Weise  erwogen.  Nach  dem  Gang  der  Diskussion  lässt  sich 
jedoch  erwarten,  dass  die  Kongresse  dieser  Berufe  sich 
nicht  für  die  Bildung  eines  Industrieverbandes  erklären 
werden.  Dagegen  haben  die  Organisationen  der  Hafen- 
und  der  Werftarbeiter  sich  zu  einem  Verband  vereinigt,  in 
welchem  alle  am  Schiffbau  und  in  der  Schiffahrt  beschäf- 
tigten Personen  Aufnahme  finden  können. 

Für  die  Verbindung  der  Organisationen  durch  Kartell- 
verträge sind  von  verschiedenen  Seiten  Vorschläge  und 
Entwürfe  gemacht  worden.  Von  der  Generalkommission 
wurde  ein  Entwurf  ausgearbeitet  und  veröffentlicht,  der 
alle  die  Punkte,  auf  welche  sich  die  Kartellverträge  be- 
ziehen sollen,  eingehend  erläuterte.  Nach  diesem  Vorschlag 


sollen  die  Organisationen,  die  zu  einem  Kartell  gehören, 
sich  beiStrikes,  an  denen  mehr  als  1 pCt.  der  Mitgliederzahl  be- 
theiligt sind,  durch  Gewährung  von  Baarmitteln  als  Darlehn 
oder  Geschenk  gegenseitig  unterstützen.  Ausserdem  soll  für 
das  Kartell  ein  fester  Strikefonds  geschaffen  werden,  zu  dem 
jedes  Mitglied  pro  Woche  5 Pf.  zahlt.  Aus  diesem  Fonds 
wird,  sobald  er  die  Höhe  erreicht  hat,  dass  für  jedes  Mit- 
glied der  Kartellorganisationen  1 M.  vorhanden  ist,  an  die 
im  Ausstand  befindliche  Organisation  für  jeden  Strikenden 
ein  Zuschuss  von  5 M.  pro  Woche  gezahlt.  Ferner  ist  aus 
diesem  Entwurf  noch  hervorzuheben,  dass  für  alle  Organi- 
sationen ein  gemeinsames  Fachorgan  geschaffen  werden 
soll.  Die  Agitation  ist  gemeinschaftlich  zu  betreiben  und 
Reiseunterstützung  in  allen  Zweigvereinen  an  alle  Mit- 
glieder der  zum  Kartell  gehörenden  Organisationen  zu 
zahlen.  Die  verausgabten  Gelder  sind  zwischen  den  einzelnen 
Organisationen  zu  verrechnen.  Die  Statistik  ist  in  den 
einzelnen  Berufsorganisationen  aufzunehmen  und  zusammen- 
zustellen und  dann  von  der  Kartellleitung  zu  bearbeiten. 
Die  Leitung  des  Kartells  übernimmt  der  Vorstand  einer 
Organisation,  doch  werden  ihm  Vertrauensmänner  der  andern 
Berufsorganisationen  zur  Seite  gestellt.  Diesem  Entwurf  folg- 
ten zwei  ähnliche  aber  kürzer  gehaltene  von  dem  Vorstande 
der  Buchbinderorganisation  und  des  Tischlerverbandes. 
Der  letztere  Vorstand  veröffentlichte  auch  gleichzeitig  einen 
Entwurf  eines  Statutes  für  einen  Holzarbeiterverband  und 
stellte  beides  den  Vorständen  der  Holzarbeiterorganisationen 
zur  Verfügung,  um  von  dieser  Seite  etwaige  Abänderungs- 
vorschläge machen  zu  lassen.  Ein  im  Frühjahr  1893  abzu- 
haltender Holzarbeiterkongress  soll  dann  den  Entscheid 
über  die  Gestaltung  der  Organisation  treffen.  Auch  von 
dem  Vorstand  des  Müllerverbandes  ist  der  Vorschlag  ge- 
macht, dass  die  Organisationen  in  der  Nahrungsmittel- 
industrie im  nächsten  Jahre  einen  gemeinschaftlichen  Kon- 
gress abhalten  und  hier  die  Einzelorganisationen  auflösen 
sollen,  um  sie  zu  einem  gemeinsamen  Verbände  zu  ver- 
schmelzen. Alle  diese  Vorschläge  werden  von  den  Kon- 
gressen und  Generalversammlungen  geprüft  und  entschie- 
den werden. 

Nach  den  Entscheidungen,  die  bis  jetzt  von  Kon- 
gressen getroffen  worden  sind,  steht  zu  erwarten,  dass 
jedenfalls  allgemein  Kartellverträge  abgeschlossen  werden. 
Die  Generalversammlung  der  Buchdrucker  (1 7000  Mitglieder) 
beschloss,  dass  mit  den  Organisationen  im  graphischen 
Gewerbe  ein  Kartellvertrag  abzuschliessen  ist,  der  mit  dem 
1.  April  1893  in  Kraft  zu  treten  hat.  Die  Bestimmungen 
in  diesem  Vertrage  sind  im  Wesentlichen  die,  welche  aus 
dem  Entwurf  der  Generalkommission  kurz  wiedergegeben 
sind.  Die  Bildhauer  (3000  Mitglieder)  beschlossen  auf  der 
Generalversammlung,  gegenüber  dem  Abschluss  von  Kartell- 
verträgen bis  zum  Holzarbeiterkongress  eine  abwartende 
Stellung  einzunehmen.  Die  Hutmacher  (3000  Mitglieder), 
Brauer  (3000  Mitglieder),  Posamentirer  (530  Mitglieder), 
Weissgerber  (1700  Mitglieder)  und  Schiffszimmerer  (1200 
Mitglieder)  beschlossen  auf  den  Generalversammlungen 
Kartelle  in  den  einzelnen  Berufsgruppen  zu  schaffen.  Die 
Weissgerber  änderten  ihr  bisheriges  Fachorgan  zu  einem 
solchen  der  Lederindustrie  um,  doch  wurde  gleichzeitig 
beschlossen,  dieses  Blatt  nur  so  lange  erscheinen  zu  lassen, 
bis  ein  gemeinsames  Organ  für  die  Bekleidungs-  und  Leder- 
industrie geschaffen  sein  wird.  Die  Maurer  (13000  Mit- 
glieder) beauftragten  auf  dem  Verbandstage  den  Vorstand 
der  Organisation,  bei  passender  Gelegenheit  mit  verwandten 
Berufsorganisationen  Kartellverträge  abzuschliessen.  Die 
Fabrik-  und  gewerblichen  Hilfsarbeiter  (2000  Mitglieder) 
erklärten  auf  der  Generalversammlung,  dass  ein  Abschluss 
von  Kartellverträgen  für  ihre  Organisation  nicht  möglich 
sei,  weil  dieses  mit  allen  anderen  Berufsorganisationen  er- 
folgen müsste,  da  in  allen  Berufen  Hilfsarbeiter  beschäftigt 
werden.  Im  Uebrigen  sollte  jedoch  an  den  Beschlüssen 
des  Gewerkschaftskongresses  festgehalten  werden.  Auch 
die  Generalversammlung  des  Unterstützungsvereins  der 
Tabakarbeiter  (16000  Mitglieder)  beschloss,  dass  die  Be- 
schlüsse der  von  der  Generalkommission  einberufenen 
Gewerkschaftskongresse  für  die  Organisation  bindend  sein 


No.  38. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


471 


sollen.  Die  sämmtlichen  genannten  Organisationen  be- 
schlossen ferner,  die  Beiträge  für  die  Generalkommisson 
(pro  Mitglied  und  Quartal  5 Pf.)  aus  den  Verbandskassen 
zu  zahlen.  Nach  der  Stellungnahme  der  Vorstände  der 
Organisationen,  die  noch  keine  Generalversammlung  ge- 
habt haben,  sowie  aus  den  Aeusserungen  in  den  resp. 
Fachorganen  kann  mit  Sicherheit  vorausgesetzt  werden, 
dass  auch  dort  die  Beschlüsse  in  gleichem  oder  ähnlichem 
Sinne  gefasst  werden.  So  ist  einerseits  sicher,  dass  eine 
feste  Verbindung  der  einzelnen  Berufsorganisationen  er- 
folgen wird,  andererseits  ist  aber  auch  der  Bestand  der 
Generalkommission  gesichert.  Der  letzteren  bleibt , wie 
dies  schon  früher  in  dieser  Zeitschrift  betont  worden  ist,  die 
Aufgabe,  statistische  Aufzeichnungen  besonders  über  die 
Entwickelung  der  einzelnen  Organisationen  zu  machen, 
Agitation  zur  Ausbreitung  der  Gewerkschaftsorganisation 
zu  treiben  und  die  Verbindung  zwischen  den  einzelnen 
Organisationen  sowie  mit  dem  Auslande  zu  unterhalten. 
Wenn  hier  auch  noch  nicht  das  geleistet  worden  ist,  was 
wohl  wünschenswerth  wäre,  so  liegt  das  daran,  dass  diese 
Kommisson , gebunden  durch  früher  eingegangene  Ver- 
pflichtungen, die  durch  zu  weitgehende  Strikeunterstützung 
verursacht  wurden,  sich  noch  nicht  über  eine  bestimmte 
Grenze  hinaus  bewegen  kann,  bevor  diese  Verpflichtungen 
erfüllt  sind.  Immerhin  sind  Anfänge  der  Statistik  ge- 
macht und  auch  auf  dem  Gebiete  der  Agitation  ist  schon 
manches  geleistet  worden. 

Die  Nothwendigkeit  und  Nützlichkeit  einer  Central- 
stelle für  gewerkschaftliche  Angelegenheiten  wird  heute 
unumwunden  von  allen  grösseren  Gewerkschaftsorgani- 
sationen anerkannt  und  wird  sich  dieses  Institut  somit  unter 
der  Beihilfe  der  Organisationen  zu  einem  für  die  Arbeiter- 
bewegung äusserst  nutzbringenden  entwickeln. 

Ueber  die  Wirkung,  die  eine  nähere  Verbindung  der 
verwandten  Berufsorganisationen  erzeugen  muss,  ist  gleich- 
falls an  dieser  Stelle  schon  vor  dem  Stattfinden  des  Halber- 
städter Kongresses  gesprochen  worden.  Während  dort  je- 
doch in  Aussicht  genommen  war,  dass  diese  Verbindung 
eine  feste  Gliederung  in  Form  einer,  die  verwandten  Berufs- 
organisationen umfassenden  Union  erhalten  würde,  hat  sich 
der  Kongress  zunächst  dafür  ausgesprochen,  dass  nur  eine 
Annäherung  der  Berufe  durch  die  Kartellverträge  erfolgen 
soll.  Im  Grunde  genommen,  wird  aber  durch  den  Abschluss 
von  Kartellverträgen  genau  dasselbe  erreicht  werden,  wie 
durch  die  Unionsbildung.  Der  Unterschied  liegt  nur  darin, 
dass  bei  den  Kartellverträgen  den  einzelnen  Organisationen 
ein  grösserer  Spielraum  gelassen  wird,  als  dies  bei  der 
Bildung  der  Unionen  der  Fall  wäre.  Ferner  wird  hier  nicht 
noch  eine  besondere  Körperschaft,  die  ausführende  Gewalt 
hat,  eingesetzt,  sondern  es  wird  die  Leitung  des  Kartells 
mehr  den  Charakter  einer  Verwaltung  tragen  und  bleibt 
die  ausführende  Gewalt  nach  wie  vor  in  Händen  der  ein- 
zelnen Centralleitungen.  Wenn  dies  vielleicht  die  Organi- 
sation zu  einem  schnellen  und  exakten  Handeln  auch  nicht 
in  dem  Masse  befähigen  wird,  wie  dies  bei  der  Union  der 
Fall  sein  würde,  so  fällt  doch  deren  äusserst  komplizirte 
Verwaltung  fort.  Die  weitere  Entwickelung  wird  von  selbst 
entweder  zur  Unionirung  der  verwandten  Berufsorganisa- 
tionen oder  zur  Begründung  von  Industrieverbänden  führen. 
Da  von  den  einzelnen  Organisationen,  wie  wir  gesehen 
haben,  mit  regem  Eifer  daran  gearbeitet  wird,  die  Be- 
schlüsse des  Halberstädter  Kongresses  zur  Durchführung 
zu  bringen,  so  können  wir  versichert  sein,  dass  eine  Stär- 
kung der  Gewerkschaftsorganisationen  baldigst  eintreten 
wird.  Diese  ist  aber  unter  allen  Umständen  nöthig,  weil 
nur  durch  starke  gewerkschaftliche  Organisationen  die 
Arbeitseinstellungen  vermieden  werden.  Durch  die  Strikes 
werden  Unternehmer  wie  Arbeiter  gleich  geschädigt  und 
wäre  es  daher  nur  wünschenswerth,  wenn  sie  möglichst 
beschränkt  würden.  Dies  wird  aber  nur  geschehen,  wenn 
die  Organisationen  von  dem  Unternehmerthum  anerkannt 
werden.  Sie  müssen,  da  der  einzelne  Arbeiter  bei  dem 
Abschluss  des  Arbeitsvertrages  nahezu  einflusslos  ist,  das 
ökonomische  Uebergewicht  des  Unternehmers  paralysiren. 

Nach  den  Erfahrungen,  welche  die  Arbeiter  mit  den  i 


Unternehmern  nach  dieser  Richtung  hin  gemacht  haben 
und  täglich  machen,  sowie  nach  der  Entwickelung  der  ge- 
werkschaftlichen Organisationen  in  andern  Ländern,  lässt 
sich  aber  mit  Sicherheit  behaupten,  dass  die  Unternehmer 
nicht  geneigt  sein  werden,  freiwillig  die  Organisationen 
als  Kontrahenten  bei  Festsetzung  des  Arbeitsvertrages  an- 
zuerkennen. Es  muss  diese  Anerkennung  von  den  Organi- 
sationen erst  errungen  werden.  So  drehen  sich  thatsäch- 
lich  auch  die  meisten  wirthschaftlichen  Kämpfe  um  die 
Anerkennung  der  Organisation.  Ist  diese  erreicht,  so  werden 
fortgesetzt  die  Arbeitsbedingungen  in  Bezug  auf  Lohnhöhe 
und  Dauer  der  Arbeitszeit  den  jeweiligen  Verhältnissen 
angepasst  werden.  Zweifellos  ist,  dass  das  kleine  Unter- 
nehmerthum und  das  Kleinhandwerk  diesem  Gange  der 
Entwickelung  nicht  wird  folgen  und  auf  dem  Weltmarkt 
nicht  konkurrenzfähig  bleiben  können  wird.  Es  werden 
also  diese  Kämpfe  oder  Vereinbarungen  wesentlich  zur 
Konzentration  des  Kapitals  beitragen. 

Es  darf  hier  nicht  versäumt  werden  darauf  hinzu- 
weisen, dass  die  den  Gewerkschaften  angehörenden  Arbeiter 
nicht  ihr  ganzes  Heil  in  diesen  suchen,  sondern  dass  sie 
parallel  mit  der  Thätigkeit  in  denselben  auch  diejenige  auf 
politischem  Gebiet  sich  denken  und  sie  ausüben. 

In  diesen  Ausführungen  ist  nur  die  rein  materielle 
Seite  der  gewerkschaftlichen  Thätigkeit  und  besonders  die 
des  Lohnkampfes  hervorgehoben.  Ideell  und  kulturell  ist 
die  Thätigkeit  der  Gewerkschaften  und  die  Wirkung  einer 
Arbeitseinstellung  nicht  zum  mindesten  geringer.  Die  ge- 
werkschaftlichen Organisationen  sind  gleichsam  als  eine 
Schule  der  Arbeiter  zu  betrachten  und  jede  Stärkung  der 
Organisation  muss  diese  erzieherische  Wirksamkeit  erhöhen. 
Der  Lohnkampf  aber  erzeugt  und  stärkt  die  Eigenschaften, 
welche  dem  Arbeiter  eigen  sein  müssen,  um  ihn  zu  be- 
fähigen , eine  Umgestaltung  des  heutigen  Produktions- 
prozesses herbeiführen  zu  können.  So  werden  die  Gewerk- 
schaftsorganisationen, die  anscheinend  nur  zu  dem  Zwecke 
gebildet  worden  sind,  um  dem  Arbeiter  bessere  Existenz- 
bedingungen zu  verschaffen,  gleichzeitig  zu  einer  Schule 
und  Bildungsstätte  des  Proletariats.  Wird  durch  die  in 
Halberstadt  erfolgte  Verständigung  die  Leistungsfähigkeit 
der  Gewerkschaften  gehoben,  so  ist  dies  gleichbedeutend 
mit  der  Hebung  der  sittlichen  Auffassung  der  Arbeiterklasse. 
Hamburg.  C.  Legien. 


Der  englische  Gewerkvereinskongress  1892. 

Der  englische  Gewerkvereinskongress  hat  vom  5.  bis 
11.  .September  in  Glasgow  getagt.  Es  ist  das  25.  Mal,  dass 
das  Arbeiterparlament,  wie  man  diese  jährlichen  Verhand- 
lungen in  England  zu  nennen  pflegt,  zusammengetreten  ist, 
und  vor  Jahren  schon  hat  die  Times  einmal  geschrieben, 
dass  seine  Tagung  für  das  Wohl  und  Wehe  Englands 
während  des  kommenden  Jahres  von  grösserer  Bedeutung 
sei,  als  das  des  Hauses  von  St.  Stephens.  Mit  Spannung 
verfolgt  der  Industrielle  wie  der  Politiker  die  Stimmungen 
und  Tendenzen,  die  da  hervortreten.  Jener  sucht  nach 
Wahrzeichen,  die  Krieg  oder  Frieden  für  ihn  bedeuten, 
Dieser  nach  den  Anzeichen  auf  tauchender  Programmpunkte, 
zu  denen  er  Stellung  nehmen  muss,  und  die,  je  nachdem 
er  sich  mit  ihnen  abfindet,  oft  über  seine  ganze  politische 
Carriere  entscheiden.  Indess  sind  es  gerade  die  der  eng- 
lischen Arbeiterklasse  näher  stehenden  Blätter,  welche  von 
dem  diesjährigen  Kongresse  sagen,  er  sei  weniger  interessant 
gewesen,  wie  seine  unmittelbaren  Vorgänger.  Wir  wollen 
sehen  mit  welchem  Recht. 

Doch  zuvor  etwas  über  das  äussere  Leben  des  Kon- 
gresses. Der  Zahl  der  Gewerkvereinsdelegirten  wie  der 
Zahl  der  angeblich  vertretenen  Arbeiter  nach  war  er,  wie 
es  scheint,  der  Drittgrösste  aller  bisherigen  Kongresse.  In- 
dess hat  die  Angabe,  dass  1 Va Millionen  Arbeiter  in  Glasgow 
vertreten  waren,  keinen  grossen  Werth;  denn  diese  Ziffer 
erheischt  bedeutende  Abzüge,  da  nach  der  diesmal  noch 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No  38. 


geltenden  Geschäftsordnung  die  doppelte  und  dreifache 
Vertretung  von  Tausenden  von  Arbeitern  möglich  war. 
Allein  eigentlich  ist  es  ganz  verkehrt,  die  Mitgliederzahl 
der  vertretenen  Gewerkvereine  überhaupt  zu  nennen.  Denn 
nicht  in  dieser  erschöpft  sich  deren  Bedeutung.  Die  richtige 
Statistik  wäre,  die  Zahl  der  Gewerbe  zu  nennen,  denen  die 
vertretenen  Vereine  angehören.  Denn  der  Einfluss  der 
letzteren  wird  nicht  durch  ihre  jeweilige  Mitgliederzahl  be- 
stimmt. Diese  ist  schwankend  und  in  einigen  Gewerben 
abhängig  vom  Auf-  und  Niedergang  des  Gewerbes.  Allein 
in  jedem  Gewerbe,  in  dem  ein  Verein  besteht,  ist  er  mass- 
gebend nicht  blos  für  die  Arbeitsbedingungen  seiner  Mit- 
glieder, sondern  auch  seiner  Nichtmitglieder;  und  bei  Ar- 
beitsstillständen erhalten  neuerdings  häufig  nicht  nur  die 
Ersteren,  sondern  auch  die  Letzteren  eine,  wenn  auch  ge- 
ringere Unterstützung. 

Somit  sind  die  Gewerkvereine  heute  nicht  blos  als 
die  Organisationen  der  zu  ihnen  Gehörigen,  sondern  aller 
Arbeiter  des  betreffenden  Gewerbes  anzusehen.  In  diesem 
Licht  erscheinen  sie  auch  den  Engländern.  Bezeichnend 
hierfür  war  der  Empfang,  den  die  Stadt  Glasgow,  die  zweite 
Stadt  des  britischen  Reichs,  dem  Kongress  zu  Theil  werden 
liess.  Als  der  Kongress  i.  J.  1875  zum  ersten  Mal  in  Glas- 
gow7 tagte,  ging  es  ihm  noch  wie  unseren  Arbeiterkon- 
gressen, die  man  besten  Falls  mit  Misstrauen  duldet.  Wie 
schon  die  Korporation  der  Städte,  in  denen  der  Kongress  in 
den  vorhergegangenen  Jahren  getagt  hat,  so  hat  diesmal  die 
von  Glasgow'  den  Kongress  durch  ihre  offiziellen  Vertreter 
bewillkommen  lassen  und  ihm  glänzende  Feste  bereitet. 
„Der  Bailli  Graham“,  so  meldet  der  Bericht,  „erklärt  im 
Namen  der  Korporation,  dass  er  es  als  eine  Ehre  ansehe, 
welche  der  Stadt  durch  das  Tagen  des  Gewerkvereins- 
kongresses erwiesen  worden  sei.“  Und  so  denkt  nicht  etwa 
blos  Glasgow.  Als  es  sich  am  Schlüsse  der  Verhandlungen 
darum  handelt,  den  Ort  der  nächstjährigen  Tagung  festzu- 
stellen, da  sind  es  die  Stadtverwaltungen  der  verschiedesten 
Städte  des  Reichs,  die  sich  um  diese  Ehre  für  das  nächste 
Jahr  bewerben.  Die  von  Norwich  verspricht  einen  Empfang 
seitens  des  Munizipiums  und  die  berühmte  alte  Halle  von 
St.  Andrews  als  Versammlungsort,  Belfast  Alles  ausser  dem 
königlichen  Glanz  des  Empfangs  von  Glasgow;  ähnlich 
schreiben  Cardiff  in  Wales  und  die  alte  Cottonopolis  Man- 
chester. Welche  Gänsehaut  mag  den  deutschen  Philister 
bei  solcher  Nachricht  überlaufen  ! Allein  er  hat  sich  in  der 
letzten  Zeit  ja  schon  an  Manches  Zeichen  des  Weltunter- 
ganges aus  England  gewöhnen  müssen. 

Warum  erschien  der  Tagespresse  der  diesjährige  Kon- 
gress von  geringerem  Interesse  als  die  vorangegangenen 
von  Newcastle  und  Liverpool?  An  diesen  Orten  handelte 
es  sich  um  die  grosse  Auseinandersetzung  zwischen  den 
alten  und  neuen  Gewerkvereinen.  Sollte  die  von  den  Neuen 
gepredigte  Methode  des  enthusiastischen  Stürmens  die  be- 
rechnende Geschäftsklugheit  der  Alten  verdrängen  oder 
nicht?  Davon  hing  nicht  blos  die  Zukunft  des  Gewerk- 
vereinswesens, sondern  die  des  Landes  ab.  Dazu  kam,  dass 
die  Parlaments  wählen  noch  bevorstanden,  und  gar  manche 
Kandidaten  angstvoll  ausschauten,  nach  welcher  Seite  sie 
die  Fahne  heraushängen  sollten.  Heute  kann  der  Parla- 
mentarier ohne  Sorge  für  seinen  Sitz  Hühner  in  Schottland 
abknallen  oder  in  Norwegen  fischen.  Jener  Auseinander- 
setzung aber  ist  theils  durch  das  mit  dem  wirtschaftlichen 
Niedergang  eingetretene  Verschwinden  oder  Herabgehen 
mancher  turbulenter  neuer  Gewerkvereine,  theils  durch 
eine  äusserst  bemerkensw'erthe  Aenderung  der  alten  in  der 
zur  Zeit  praktischsten  Frage,  welche  die  beiden  Lager 
trennte,  die  Spannung  genommen  worden.  Nach  beiden 
Richtungen  hin  bedeutet  der  diesjährige  Kongress  einen 
Abschluss  und  neuen  Ausgangspunkt;  und  zwei  Arten  von  i 
Beschlüssen,  die  er  gefasst  hat,  erscheinen  uns  durch  die 
weittragende  Wirkung,  die  ihnen  zukommt,  von  viel 
grösserer  Wichtigkeit  als  die  vielleicht  glänzenderen  Reden 
und  jedenfalls  aufregenderen  Szenen  von  Liverpool  und 
Newcastle. 

Die  eine  Art  dieser  Beschlüsse  sind  diejenigen,  durch  ! 
welche  der  Kongress  zum  ersten  Male  seine  Organisation  ! 


regelt.  Es  ist  unglaublich  aber  wahr,  dass  dieser  Kongress,  dem 
sein  diesjähriger  Präsident  nachrühmen  konnte,  das  er  einige 
50  Gesetze,  welche  die  englische  Gesetzsammlung  aufweist, 
veranlasst  habe,  bisher  aller  Sicherheit  dafür  entbehrte, 
dass  die  in  ihm  auftretenden  Delegirten  sehr  viel  mehr 
vertreten  als  sich  selbst.  Jede  noch  so  kleine  Gewerk- 
vereinsorganisation, jede  Organisation  eines  wirthschaftlich 
noch  so  unerheblichen  Gewerbes,  jedweder  nationale  Ver- 
band verschiedener  Vereine  eines  und  desselben  Gewerbes 
und  jeder  Ortsverband  der  Vereine  verschiedener  Gewerbe, 
ja  jedweder  Zweig  eines  und  desselben  Gewerkvereins 
konnte  bisher  Delegirte,  und  zwar  beliebig  viele,  zum  Kon- 
gresse entsenden,  und  jeder  dieser  Delegirten  hatte  Sitz 
und  Stimme  und  so  viel  Einfluss,  als  er  sich  persönlich 
verschaffen  konnte.  Daher  jene  doppelte  und  mehrfache 
Vertretung  eben  derselben  Arbeiter  und  jene  Unmöglichkeit 
einer  klaren  Statistik  der  Vertretenen,  die  oben  berührt  worden. 
Daher  aber  auch,  dass  plötzlich  Delegirte  eines  Gewerk- 
vereins von  Holzhackern  an  diesem  oder  jenen  obskuren 
Orte,  von  dem  niemand  bisher  etwas  gewusst  hatte,  auftraten 
und,  oft  durch  ihre  Reden,  meist  freilich  nur  durch  ihre 
Stimmen  einen  ebensolchen  Einfluss  auf  die  Kongress- 
beschlüsse übten  wie  die  Delegirten  der  gefestigten 
Vereine  der  Stapelindustrien  des  Landes.  In  Liverpool 
hatten  die  alten  Vereine  die  Folgen  dieser  weitgehenden 
demokratischen  Weitherzigkeit  zu  tragen  gehabt.  Solche 
Delegirte  von  Vereinen,  die  wie  Pilze  während  des  wirt- 
schaftlichen Aufschwungs  aufgeschossen  waren,  die  bis 
dahin  Niemand  gekannt  hatte,  und  die  keinen  Pfennig 
beigesteuert  hatten  und  beisteuerten  zu  den  Kosten  der 
Ausführung  der  Beschlüsse,  die  sie  beeinflussten,  hatten 
wesentlich  dazu  beigetragen,  dass  der  alte  solide  Grund- 
stock der  Gewerkvereine,  die  Baumwollspinner  und  -weber, 
die  Bergleute,  die  Hüttenleute  und  Maschinenbauer  in  den 
wichtigsten  Fragen  überstimmt  wurden.  Es  wurde  damals 
sogar  behauptet,  dass  dieser  oder  jener  Verein,  dessen 
Delegirte  das  grosse  Wort  führen  wollten,  gar  nicht 
existirte.  Dies  hatte  eine  für  die  englische  Arbeiterklasse 
gefährliche  Krisis  zur  Folge.  Die  Arbeiter  der  Baumwoll- 
industrie drohten  ernstlich  mit  Sezession,  wenn  nicht  die 
Vertretung  entsprechend  der  Bedeutung  und  Verantwort- 
lichkeit der  Vereine  geordnet  würde.  Wären  sie  ausge- 
treten, so  wäre  ihnen  die  grosse  Anzahl  der  bedeutendsten 
übrigen  Vereine  gefolgt.  Kein  Zweifel,  dass  damit  der 
Einfluss  des  „Arbeiterparlaments“  annullirt  worden  wäre. 
So  wurde  denn  der  permanente  Ausschuss  des  Kongresses 
mit  der  Ausarbeitung  eines  Vertretungssystems  und  einer 
Geschäftsordnung  des  Kongresses  beauftragt.  Die  wich- 
tigsten Bestimmungen  sind  diejenigen,  durch  welche  Per- 
sonen als  Vertreter  eines  Gewerkvereins  ausgeschlossen 
werden,  welche  nicht  als  Arbeiter  in  dem  von  ihnen  ver- 
tretenen Gewerbe  arbeiten  oder  gearbeitet  haben,  und 
deren  Kosten  nicht  durch  die  von  ihnen  vertretenen  Vereine 
getragen  werden,  — eine  gegen  die  Einschmuggelung  von 
Politikern  und  Literaten  als  Gewerkvereinsvertreter  ge- 
richtete Regel;  ferner  Noth-Gewerkvereine,  gleichviel  unter 
welchem  Namen  sie  bekannt  sein  mögen,  sollen  berechtigt 
sein,  für  je  2000  Mitglieder  und  jeden  Bruchtheil  darüber 
einen  Delegirten  zu  senden,  vorausgesetzt,  dass  sie  wäh- 
rend des  verflossenen  Jahres  1 Lstr.  für  je  1000  Mitglieder 
und  jeden  Bruchtheil  darüber  zu  den  Kosten  des  perma- 
nenten Ausschusses  und  10  sh.  für  jeden  entsendeten  Dele- 
girten zu  den  Kosten  des  Kongresses  beigesteuert  haben 
und  ihren  Namen  und  Adresse  14  Tage  vor  der  Tagung 
des  Kongresses  eingesendet  haben;  keine  Gesellschaft  soll 
zur  Entsendung  von  Delegirten  berechtigt  sein,  die  diesen 
Bestimmungen  nicht  entsprochen  hat.  Gewerkvereins- 
verbände und  ähnliche  Organisationen,  die  aus  einer  An- 
zahl von  Zweigen  oder  Gewerben  bestehen,  sollen  Delegirte 
senden  und  zu  den  Kosten  heraimezogfen  werden  und  für 
jene  ihrer  Mitglieder,  welche  nicht  direkt  durch  besondere 
Gewerkvereinsorganisationen  vertreten  sind.“  Dies  ist  die 
Form,  in  der  die  neue  Ordnung  wirklich  beschlossen  wurde. 
Damit  sind  nicht  blos  alle  Eintagsfliegen  und  Schein- 
existenzen unter  den  Gewerkvereinen,  sondern  auch  die 


No.  38. 


soziAi.i’oi.ms« :hes  < ikntralbtatt. 


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mehrfache  Vertretung  derselben  Gewerkvereinler  für  die 
Zukunft  ausgeschlossen.  Von  dem  nächsten  Kongresse  ab 
wird  es  nun  auch  möglich  sein,  rcine  genaue  Statistik  der 
aut  dem  Kongresse  vertretenen  Gewerkvereinler  aufzu- 
stellen. 

Da  der  wirthschaftliche  Niedergang  eine  Anzahl  neuer 
Gewerkvereine  lahm  gelegt  hat  und  einige  der  Hauptwort- 
führer der  neuen  Gewerkvereinsbewegung,  — sogar  John 
Burns,  der  kein  Mandat  als  Delegirter  erlangt  hatte,  — auf 
dem  Kongresse  fehlten,  ging  die  Neuerung  glatt  durch. 
Ueberhaupt  waren  es  wieder  die  alten  Gewerkvereine,  die 
dem  Kongress  das  Gepräge  gaben.  Um  so  mehr  fällt  die 
Annäherung  der  alten  Gewerkvereine  an  einen  wichtigen 
Programmpunkt  der  neuen  in’s  Gewicht,  welche  sich  in 
einer  anderen  Art  von  Kongressbeschlüssen  zeigte.  Ich 
meine  die  Beschlüsse  zu  Gunsten  einer  Einführung  des 
Achtstundentags  durch  die  Gesetzgebung.  Nur  die  Ma- 
schinenbauer und  die  Bergleute  von  Durham  und  Northum- 
berland  stehen  derselben  nach  wie  vor  feindlich  ent- 
gegen. Dagegen  haben  sich  die  früheren  heftigsten  Gegner 
derselben , die  Arbeiter  der  Baumwollindustrie  zu 
derselben  bekehrt , und  der  ausgezeichnete  Sekretär 
der  Spinner,  Mawdsley,  das  Ehrenmitglied  des  kon- 
servativen Constitutional  Club  in  London , hat  sogar 
den  Antrag  gestellt.  Zwar  besteht  noch  eine  Ver- 
schiedenheit zwischen  den  von  ihm  vertretenen  Gewerk- 
vereinlern und  den  übrigen  Anhängern  des  gesetzlichen 
Achtstundentags  hinsichtlich  der  Taktik,  wie  die  Ein- 
führung zu  erlangen  sei.  Mawdsley  befürwortet  denselben 
für  alle  Gewerbe,  in  denen  die  Mehrheit  der  Arbeiter 
seine  Einführung  verlangt;  die  Uebrigen  befürworten  ihn 
für  alle  Gewerbe  ausser  denen,  in  welchen  die  Mehrheit 
der  Arbeiter  ihn  ausdrücklich  ablehnt.  Die  Letzteren  hatten 
auf  dem  Kongresse  die  Mehrheit;  die  Ersteren  dürften  im 
Publikum  und  Parlament  am  ehesten  durchdringen.  Wahr- 
scheinlich, dass  für  die  Bergleute,  für  welche  der  Kongress, 
eigentlich  im  Widerspruch  zu  seinem  allgemeinen  Beschlüsse, 
noch  in  einer  besonderen  Resolution  den  gesetzlichen  Acht- 
stundentag verlangte,  die  Einführung  desselben  innerhalb 
der  nächsten  Jahre  vom  Parlament  beschlossen  wird. 

Was  bedeutet  nun  der  Uebergang  der  ökonomisch 
so  vorsichtigen  und  ihren  Vortheil  so  ausgezeichnet  ver- 
stehenden Baumwollarbeiter  Lancashire’s  zum  gesetzlichen 
Achtstundentag,  den  sie  noch  vor  2 Jahren  so  heftig 
bekämpften? 

Von  einem  Uebergang  zur  Sozialdemokratie  kann  dabei 
keine  Rede  sein.  Der  von  dem  londoner  Schneider  James 
Macdonald  diesmal  wie  alle  Jahre  gestellte  Antrag  zu  Gunsten 
einer  Verstaatlichung  der  Produktion  wurde  wie  alle  Jahre 
so  auch  diesmal  abgelehnt.  Wie  wenig  aber  speziell  der 
Beschluss  über  den  Achtstundentag  mit  sozialdemokratischen 
Ideengängen  zu  thun  hat,  zeigen  die  Vorgänge  gerade  bei 
Fassung  der  übrigen  Beschlüsse,  welche  seine  Einführung 
bezwecken.  Es  wurde  der  Antrag  gestellt,  der  permanente 
Ausschuss  möge  einen  internationalen  Kongress  zur  Durch- 
führung des  gesetzlichen  Achtstundentags  in  allen  Ländern 
berufen.  Da  stellte  ein  londoner  Sozialdemokrat  das  Amende- 
ment, der  permanente  Ausschuss  möge  statt  dessen  an  dem 
internationalen  Arbeiterkongress,  der  1893  in  Zürich  statt- 
finden soll,  theilnehmen  und  die  einzelnen  örtlichen  Gewerk- 
vereine zur  Betheiligung  an  demselben  veranlassen.  Sofort 
erhob  sich  David  Holmes  aus  Burnley,  einer  der  einfluss- 
reichsten Männer  unter  den  Baumwollarbeitern  und  über- 
zeugter Konvertit  zum  Achtstundentag.  Er  sah  in  der  Ein- 
ladung nach  Zürich  den  Versuch,  die  britischen  Gewerk- 
vereine ins  sozialdemokratische  Lager  überzuführen.  Seine 
energische  Rede  beseitigte  das  Amendement,  und  die  wenigen 
Sozialdemokraten  des  Kongresses  wurden  mit  Leichtigkeit 
niedergestimmt. 

Nein;  nichts  wäre  verkehrter,  als  der  Arbeitszeit- 
politik der  englischen  Baumwollarbeiter  andere  Gesichts- 
punkte als  die  ihres  nächsten  eigenen  Interesses  unterzu- 
schieben. Sie  stehen  heute  noch,  wie  vor  zwei  Jahren, 
unter  der  Sorge,  dass  die  Herrschaft  der  Baumwollindustrie 
Lancashires  auf  dem  Weltmarkt  ernstlich  bedroht  sei.  Vor 


zwei  Jahren  waren  sie  gegen  den  Achtstundentag;  es  war 
noch  die  Zeit  des  Aufschwungs;  von  dem  Achtstundentag 
befürchteten  sie,  er  werde  ihre  Stellung  gegenüber  den  mit 
ihnen  scharf  konkurrirenden,  länger  arbeitenden  Ländern 
gefährden.  Seitdem  ist  der  Niedergang  eingetreten,  und 
nicht  nur  erwartet  man  für  die  nächsten  Jahre  eine  weitere 
Depression,  man  sieht  als  Folge  der  kontinentalen  und  in- 
dischen Baumwollverarbeitung  eine  permanente  Ueber- 
produktion  voraus,  die  den  Arbeiter  Lancashires  seiner  er- 
oberten hohen  Lebenshaltung  berauben  könnte.  Nun  will 
man  es  mit  dem  angepriesenen  Mittel  zur  Verhinderung 
der  Ueberproduktion  und  Beseitigung  der  Arbeitslosigkeit 
versuchen.  Aber  nicht  nur  in  England  soll  der  Acht- 
stundentag gesetzlich  eingeführt  werden,  sondern  in  allen 
Ländern,  die  konkurriren,  und  einstimmig  wurde  ein 
Amendement  angenommen,  wonach  der  Kongress,  der 
dies  herbeiführen  soll,  nicht  erst  am  1.  Mai  1893,  sondern 
sofort  zu  berufen  ist. 

Ob  das  die  letzte  Meinungsänderung  der  englischen 
Baumwollarbeiter  sein  wird?  Ihre  gegenwärtige  Argumen- 
tation lässt  sehr  grosse  Bedenken  übrig.  Da  geht  im 
Augenblick  der  Bericht  des  Herrn  Allan,  Eigenthümer  einer 
Maschinenfabrik  in  Sunderland,  durch  die  englischen  Zei- 
tungen, der  als  Folge  der  Einführung  des  Achtstundentags 
eine  Mehrleistung  seiner  Arbeiter  konstatirt.  Kein  Zweifel, 
dass  die  Herabsetzung  des  Arbeitstages  unserer  überarbei- 
teten kontinentalen  Arbeiter,  wenn  auch  nicht  plötzlich  auf 
8 so  doch  zunächst  auf  10,  später  auf  9 u.  s.  w.  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Konkurrenten  Lancashires  erheblich  steigern 
würde.  Die  Ueberproduktion  würde  alsdann  eine  noch 
grössere.  Aber  nur  zum  Theil  wird  der  Ausfall  an  Arbeits- 
zeit bei  ihrer  LIerabsetzung  durch  Steigerung  der  Arbeits- 
leistungen gut  gemacht.  Der  Rest  wird  ausgeglichen  durch 
verbesserte  Maschinen.  Dies  ist  ja  das  Geheimniss  der  Ent- 
wickelung der  englischen  Industrie  im  Zusammenhang  mit 
dem  Fortschreiten  der  Fabrikgesetzgebung.  Dieses  Ge- 
heimniss heisst  aber  auch  der  Untergang  von  so  und  so 
viel  Unternehmen,  die  den  Fortschritt  nicht  mitmachen 
können.  Ich  trauere  gewiss  keinem  Unternehmen  nach, 
dass  seine  Konkurrenzfähigkeit  nur  mittelst  elender  Arbeits- 
bedingungen erhält.  Aber,  man  sehe  doch  der  Wirklichkeit 
herzhaft  ins  Gesicht:  zunächst  heisst  dies  nicht  Minderung 
sondern  Steigerung  der  Zahl  der  Arbeitslosen.  Und  denn' 
kommt  wieder  einmal  eine  Zeit  des  Aufschwungs.  Mehr 
Arbeit  wie  früher  wird  verlangt.  Der  gesetzliche  Acht- 
stundentag verhindert  die  vorübergehende  Steigerung  durch 
vorübergehendes  Ueberzeitarbeiten.  Um  der  Nachfrage  zu 
genügen,  werden  nun  Arbeiter  aus  anderen  Beschäftigungen 
herangezogen.  Dann  erfolgt  der  Rückschlag,  und  die  Re- 
servearmee des  Industriezweigs  ist  grösser  denn  je.  Da 
aber  nicht  die  Arbeit  der  Beschäftigten  sondern  die  Zahl 
der  Beschäftigungslosen,  die  sie  ersetzen  können,  die  Ar- 
beitsbedingungen der  Ersteren  bestimmt,  giebt  es  nun 
keinerlei  Schranken  in  der  Verschlechterung  der  Arbeits- 
bedingungen. 

Das  sind  die  Gesichtspunkte,  aus  denen  die  Maschinen- 
bauer und  die  Bergleute  von  Durham  und  Northumberland, 
die  selbst  nur  8 Stunden  und  weniger  arbeiten,  an  ihrer 
Politik,  im  Aufschwung  den  Arbeitstag  zu  verlängern,  im 
Niedergang  ihn  herabzusetzen,  festhalten.  Da  es  wahr- 
scheinlich zu  einem  gesetzlichen  Achtstundentag  für  die 
englischen  Bergleute  kommt,  wird  sich  Gelegenheit  bieten, 
praktisch  zu  erproben,  wer  Recht  hat.  Denn  werden  die 
Baumwollarbeiter  Lancashires  ihre  Meinung  vielleicht  aber- 
mals ändern. 

Ich  kann  nicht  mehr  bei  den  übrigen  Beschlüssen  des 
Kongresses  verweilen,  so  sehr  es  mich  reizen  würde,  da 
und  dort  einen  Vergleich  mit  Deutschland  zu  ziehen.  Wie 
bezeichnend  z.  B.  der  einstimmige  Beschluss,  die  Regierung 
aufzufordern,  keine  mittellosen  Fremde  weiter  ins  Land  zu 
lassen,  dagegen  die  Ablehnung  eines  Antrags  auf  Beschrän- 
kung der  Zufuhr  fremder  Waaren  mit  der  Motivirung,  dass 
alsdann  auch  die  Zufuhr  von  Korn  beschränkt  werden 
könnte,  ln  gewissen  Ländern  des  Schutzes  der  nationalen 
Arbeit  beschränkt  man  die  Zufuhr  von  Korn  und  fremder 


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No.  38. 


Waaren,  hebt  dagegen  die  Gesetze  auf,  welche  die  Ein- 
Wanderung  russischer  Arbeiter  ausschliessen,  und  die  Ar- 
beiterpresse begrüsst  dies,  obwohl  die  Eingewanderten  die 
Arbeiterorganisationen  desorganisiren  und  die  Hebung  der 
Arbeitsbedingungen  verhindern!  Doch  der  interessanten 
Gegensätze  giebt  es  zu  viel,  um  sie  alle  zu  erwähnen. 
Daher  nur  noch  Eines:  Der  Bergmann  Fenwick  hat  zwar 
in  seiner  Eigenschaft  als  Sekretär  des  permanenten  Aus- 
schusses die  Beschlüsse  des  vorjährigen  Congresses  betreff 
den  Achtstundentag  pflichtgemäss  zu  fördern  gesucht,  im 
englischen  Parlament  aber,  in  Uebereinstimmung  mit  seinen 
Wählern,  gegen  den  gesetzlichen  Achtstundentag  für  Berg- 
leute nicht  nur  gestimmt  sondern  gesprochen.  Er  wurde 
deshalb  von  dem  Kongresse  heftig  zur  Rechenschaft  ge- 
zogen. Er  betonte,  dass  er  durch  Uebernahme  des  Sekre- 
tariats nur  die  Erfüllung  der  ihm  gegenüber  dem  Kongresse 
obliegenden  Pflichten  übernommen , auf  das  Recht  der 
freien  Meinungsäusserung  aber  nicht  verzichtet  habe,  und 
der  Kongress,  der  sich  nun  schon  zum  dritten  Male  für  den 
gesetzlichen  Achtstundentag  ausgesprochen  hat,  lehnte  das 
gegen  ihn  gerichtete  Tadelsvotum  nicht  nur  ab,  sondern 
wählte  ihn  aufs  Neue  zum  Sekretär  für  das  kommende 
Jahr.  Man  sieht,  bei  den  englischen  Arbeitern  hat  die 
Orthodoxie  noch  keine  Aussicht,  die  Einzelnen  und  die 
Entwicklung  zu  knechten! 

München.  Eujo  Brentano. 


Deutscher  Buchdruckertarif.  Der  Widerspruch  der 
berliner  und  anderer  Prinzipale  gegen  die  einseitige  Re- 
duktion des  Tarifs  hat  die  Leitung  des  Deutschen^Buch- 
druckervereins  (Leipzig)  zum  einlenken  veranlasst,  er  publi- 
zirt  m Folge  dessen  die  folgende  Bekanntmachung:  „Der 
untei zeichnete  \ orstand  hat  beschlossen,  den  bisherigen 
larit  bis  zum  31.  Dezember  1892  in  Geltung  zu  belassen 
und  fordert  die  Mitglieder  hierdurch  auf,  denselben  bis  zu 
dem  erwähnten  Zeitpunkt  anzuerkennen  und  durchzuführen. 
Wegen  der  künftigen  Gestaltung  des  Tarifs  und  der  zu 
diesem  Zweck  einzuberufenden  Versammlungen  behalten 
wir  uns  weitere  Mittheilungen  vor.  Leipzig,  den  5.  Septem- 
ber 1892.  Der  Vorstand  des  Deutschen  Buchdruckervereins 
(Unterschriften).“ 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Schutzvorschriften  für  Arbeiter  an  Eisensteinröstöfen. 

Das  König],  Oberbergamt  in  Bonn  hat  unterm  26.  Juli  d.  J. 
eine  Bergpolizeiverordnung  zur  Verhütung  von  Unfällen  bei 
dem  Betriebe  von  Eisensteinröstöfen  erlassen.  Danach  muss 
der  Gichtplatz  (Ort  zum  Einschütten  der  Eisensteine)  frei- 
stehender Oefen  mit  einer  dauerhaften  Einfriedigung  derart 
versehen  sein,  dass  die  dort  beschäftigten  Arbeiter  gegen 
Absturz  nach  aussen  gesichert  sind.  Bevor  mit  dem  Ziehen 
( Ablassen)  eines  Ofens  begonnen  wird,  müssen  die  auf  der 
Gicht  desselben  befindlichen  Arbeiter  durch  Zeichen  oder 
Zuruf  hierauf  aufmerksam  gemacht  werden.  Andere  Vor- 
schriften betreffen  das  Betreten  des  Gichtplatzes  und  der 
Beschickungsmasse.  Wenn  solche  selbstverständliche  Dinge 
durch  oberbergamtliche  Verordnung  erst  vorgeschrieben 
werden  müssen,  wie  mag  es  dann  auf  den  Rosthütten  bezüg- 
lich der  Unfallverhütung  und  Anderem  aussehen. 

Dienstbotengesetz  in  Rumänien.  Am  28.  Juni  d.  J.  ist 
für  das  Königreich  Rumänien  ein  Dien.stbotengesetz  ~pro- 
mulgirt  worden,  das  folgende  wesentliche  Bestimmungen 
enthält.  Für  Dienstboten  jeder  Art  wird  ein  obligatorisches 
Arbeitsbuch  eingeführt,  das  bei  „schlechter  Führung“  ent- 
zogen werden  kann.  Jedoch  darf  der  Dienstgeber,  bei  dem 
ein  Dienstbote  austritt,  „unter  keinem  Vorwände  die  Aus- 
folgung  des  Buches  verweigern“.  Die  Kündigungsfrist  für 
beide  Theile  ist,  wenn  nichts  Besonderes  ausgemacht  ist, 
die  gleiche,  15  Tage  in  der  Stadt,  25  Tage  auf  dem  Lande.  Der  I 


Dienstbote  kann  ohne  Kündigung  nur  austreten,  wenn  ihm  der 
Lohn  verweigert  wird,  wenn  der  Dienstgeber  seinen  Wohn- 
sitz verlegt  und  wenn  er  durch  Krankheit  dienstunfähig 
wird.  Jedoch  gehört  hierzu  Benachrichtigung  und  schrift- 
Jiche  Ermächtigung  der  Polizei.  Der  Dienstherr  dagegen 
kann  den  Dienstboten  aus  einer  weit  grösseren  Reihe  von 
Gründen  entlassen,  die  namentlich  die  Leistungen  des  Dienst- 
boten betreffen , sowie  ohne  Ermächtigung  der  Behörde. 
Der  Dienstbote  soll  sich  „im  Dienste  nicht  besaufen“,  sowie 
ohne  Erlaubnis  des  Herrn  keine  Freunde  empfangen  oder 
bewirthen,  auch  seine  Werthgegenstände  „in  der  Wohnung 
des  Dienstgebers  halten“.  Bei  „triftigem“  Verdacht  kann 
der  Herr  die  Habe  des  Dienstboten  durchsuchen.  Im  Uebrigen 
wird  ihm  vorgeschrieben,  den  Dienstboten  „milde  zu  behan- 
deln“, ihm  Lohn,  Kost  und  Logis  unverkürzt  und  pünktlich 
zu  gewähren,  „ihm  in  durch  den  Dienst  bewirkten  (!)  Er- 
krankungsfällen behilflich  (!)  zu  sein,  dass  er  wieder  gesund 
werde“,  endlich  ihm  bei  grundloser  Entlassung  15-  bezw. 
25 tägigen  Lohn  zu  zahlen.  Nachahmenswerth  für  westliche 
Staaten  wäre  das  schnelle  Verfahren,  welches  für  Dienst- 
botenstreitigkeiten angeordnet  wird  und  bei  dem  uns  die 
Schriftlichkeit  auffällt.  Jeder  I heil,  der  sich  über  den  anderen 
zu  beschweren  hat,  muss  schriftlich  bei  der  Polizei  rekla- 
miren,  und  diese  hat  nach  vergeblichem  Sühneversuch  ihr 
Protokoll  dem  Gericht  des  betreffenden  Bezirks  „in  höchstens 
24  Stunden“  einzuliefern.  Diese  Gerichte  aber  haben  „inner- 
halb 48  Stunden“  zu  entscheiden,  und  zwar  endgiltig.  Die 
Verurtheilung  des  Dienstboten  wird  in  sein  Arbeitsbuch 
eingetragen.  Das  ist  wieder  eine  weniger  empfehlenswerthe 
Vorschrift. 


Arbeiterversicherung. 


Der  Grundfehler  des  Verfahrens  zur  Feststellung  von 
Unfallentschädigungen. 

Bei  unbefangen  Urtheilenden  herrscht  schon  längst 
kein  Zweifel  mehr  daran,  dass  die  jetzige  Art  der  Fest- 
stellung der  Unfallentschädigungen  durch  die  Berufsge- 
nossenschaften zu  vielerlei  Bedenken  Veranlassung  giebt. 
Auch  in  dieser  Zeitschrift  ist  dieser  Gegenstand  bereits 
mehrfach  berührt  worden.  Indess  scheint  es  mir,  als  ob 
gerade  der  Kernpunkt  der  ganzen  Sache  — der  eigentliche 
Grundfehler  des  heutigen  Verfahrens  — doch  noch  nicht 
mit  genügender  Schärfe  und  Klarheit  hervorgehoben 
worden  sei.  Wie  die  gesammte  Unfallversicherungsgesetz- 
gebung an  der  Zurücksetzung  der  Versicherten,  der  Ar- 
beiter, leidet,  so  auch  besonders  das  Verfahren  der  Ent- 
schädigungsfeststellung.  Die  Feststellungen  erfolgen  zu 
Gunsten,  gelegentlich  auch  zu  Ungunsten  der  Arbeiter  ohne 
jede  Mitwirkung  ihresgleichen  lediglich  durch  Arbeitgeber 
und  deren  Beauftragte.  Es  liegt  daher  in  der  Natur  der 
Sache,  dass  die  Arbeiter  zunächst  fast  ausnahmslos  von 
Misstrauen  gegen  diese  Feststellungen  erfüllt  sind.  Der 
Verletzte  fühlt  sich  sofort  als  Partei  und  sieht  in  dem  be- 
rufsgenossenschaftlichen Feststellungsorgan  seinen  natür- 
lichen Gegner,  der  ihn  so  viel  benachtheiligen  möchte,  wie 
er  nur  irgend  kann.  Jeder,  der  einmal  praktisch  mit  Unfall- 
entschädigungssachen zu  thun  gehabt  hat,  wird  dies  fort- 
während herausgefühlt  haben,  und  hat  er  aus  mitfühlendem 
Herzen  für  die  Verunglückten  heraus  versucht,  dieses 
Misstrauen  zu  zerstreuen,  so  wird  er  fast  stets  die  schmerz- 
lichsten Erfahrungen  gemacht  haben.  Auch  die  redlichsten 
Bemühungen  im  Interesse  der  Verletzten  seitens  einzelner 
Mitglieder  oder  Beamten  der  Berufsgenossenschaften  werden 
in  der  Regel  missverstanden.  Persönliche  Besuche,  die  aus 
wirklicher  Theilnahme  entspringen,  werden  einfach  für 
Spionage  erklärt.  Bemühungen,  den  Rentenempfängern 
Arbeit  zu  verschaffen,  werden  von  vornherein  nur  als  Ver- 
suche angesehen,  die  Rente  zu  kürzen.  Ja,  selbst  das  auf- 
richtige Bestreben,  den  Verletzten  wieder  zu  ihrer  völligen 
Gesundheit  zu  verhelfen,  wird  häutig  missdeutet.  Genug, 
Misstrauen  auf  Schritt  und  Tritt!  Höchst  selten  Entgegen- 


No.  38. 


SOCIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


475 


kommen  und  Vertrauen!  Ich  brauche  nicht  erst  ausein- 
anderzusetzen, wie  sehr  gerade  derartige  Erfahrungen  ge- 
eignet sind,  wirklich  arbeiterfreundlichen  Elementen  die 
Thätigkeit  für  die  Berufsgenossenschaften  zu  verleiden,  und 
wie  so  die  Berufsgenossenschaften  Gefahr  laufen,  immer 
mehr  das  zu  werden,  wofür  sie  den  Arbeitern  von  vorn- 
herein gelten:  zu  einfachen  Unternehmerverbänden,  die  in 
erster  Linie  die  Interessen  der  Unternehmer  zu  wahren 
suchen  und  auch  ihrerseits  in  dem  Arbeiter  nur  den  Gegner 
sehen.  Doch  selbst  hiervon  ganz  abgesehen,  steht  auch  im 
Uebrigen  das  geschilderte  Verhältniss  der  Versicherten  zu 
den  versichernden  Verbänden  jedenfalls  dem  entgegen,  die 
Unfallversicherung  zu  der  wohlthätigen  Einrichtung  werden 
zu  lassen,  die  sie  bei  gegenseitigem  Vertrauen  sein  könnte. 

Es  ist  nur  natürlich,  dass  bei  dieser  Sachlage  die  Zahl 
der  Berufungen  gegen  die  Feststellungsbescheide  ausser- 
ordentlich gross  ist.  Weiss  doch  der  Arloeiter,  dass  in  dem 
angerufenen  Schiedsgericht  auch  die  Versicherten  ein  Wort 
mit  zu  reden  haben,  was  bei  der  berufsgenossenschaftlichen 
Feststellung  nicht  der  Fall  war;  und  hat  er  doch  den 
natürlichen  Wunsch,  seine  Sache  von  seinesgleichen  be- 
urtheilt  zu  sehen!  Wären  daher  auch  die  ersten  Fest- 
stellungsbescheide im  Allgemeinen  noch  so  gerecht  und 
unangreifbar,  so  würde  doch  die  Anzahl  der  Berufungen 
nicht  in  dem  w ü nsc h e nswerthen  Masse  abnehmen.  Es  giebt 
nur  ein  Mittel,  das  zu  diesem  Ziele  führen  kann,  und  das 
ist,  die  Versicherten  bereits  bei  dem  eigentlichen  Fest- 
stellungsverfahren zu  Worte  kommen  zu  lassen.  Die  Un- 
fallversicherungsgesetze müssen  also  dahin  abgeändert 
werden,  dass  Vertreter  der  Versicherten  in  den  Fest- 
stellungsorganen der  Berufsgenossenschaften  Sitz  und 
Stimme  erhalten. 

Will  man  durchaus  nicht  so  weit  gehen,  den  Arbeitern 
Einfluss  auf  die  eigentliche  Verwaltung  der  Berufsgenossen- 
schaften zu  geben,  weil  ja  die  Unternehmer  die  Kosten  der 
Versicherung  allein  zu  tragen  haben,  so  lasse  man  sie 
wenigstens  bei  den  Entschädigungsfeststellungen  mitwirken. 
Selbst  vom  reinen  Unternehmerstandpunkt  aus  ist  diese 
Reform  in  keiner  Weise  irgendwie  bedenklich;  sie  ist  viel- 
mehr nur  die  Konsequenz  der  Rechte,  die  den  Versicherten 
jetzt  schon  eingeräumt  worden  sind.  Denn  es  ist  gar  nicht 
einzusehen,  weshalb  die  Arbeiter  nicht  bereits  bei  den  Ent- 
scheidungen der  ersten  Instanz  mitsprechen  sollen,  wenn 
sie  doch  in  den  höheren  Instanzen  — den  Schiedsgerichten, 
den  Landes- Versicherungsämtern  und  dem  Reichs- Versiche- 
rungsamt — einen  formell  den  Unternehmern  gleichen  Ein- 
fluss haben.  Müssen  ferner  bei  den  Berathungen  von  Un- 
fallverhütungsvorschriften Arbeitervertreter  hinzugezogen 
werden,  warum  nicht  auch  bei  der  Entscheidung  von  Ent- 
schädigungsansprüchen? Ihre  Befähigung  zur  Recht- 
sprechung haben  die  Arbeitervertreter  in  den  Schiedsge- 
richten und  im  Reichs-Versicherungsamt  bereits  glänzend 
bewiesen;  die  Unparteilichkeit  und  Gerechtigkeitsliebe, 
die  sie  hier  durchgängig  gezeigt  haben,  hat  allgemein  An- 
erkennung gefunden.  Die  Hilfe  von  Arbeitervertretern  bei 
den  Entschädigungsfeststellungen  kann  daher  den  Berufs- 
genossenschaften nur  angenehm  sein.  Das  ganze  Verfahren 
muss  nothwendig  dadurch  gewinnen,  das  Vertrauen  der 
Versicherten  wird  geweckt  und  in  vielen  Fällen  das  Be- 
schreiten des  weiteren  Rechtswegs  verhütet  werden.  Der 
Versicherte  findet  alsdann  seine  natürlichen  Berather  in 
den  Arbeitervertretern,  die  an  der  Feststellung  theilge- 
nommen  haben,  und  entgeht  so  der  Gefahr,  Winkeladvo- 
katen in  die  Hände  zu  fallen  — somit  sich  selbst,  den  Be- 
rufsgenossenschaften und  allen  sonst  Betheiligten  mancherlei 
Widerwärtigkeit  und  unnütze  Arbeit  und  Kosten  ersparend. 
Allen  Theilen  erwachsen  also  nur  Vortheile,  Niemandem 
Schaden. 

Die  gesetzgeberische  Gestaltung  dieses  Gedankens 
wäre  äusserst  einfach,  da  ja  die  Arbeitervertreter  schon 
vorhanden  sind.  Es  brauchten  nur  die  näheren  Bestim- 
mungen darüber  getroffen  zu  werden,  dass  und  wie  diese 
bei  den  Entschädigungsfeststellungen  mitzuwirken  haben. 
Die  Novelle  zu  den  Unfallversicherungsgesetzen,  welche 
dem  Reichstag  demnächst  vorgelegt  werden  soll,  scheint 


leider  die  hier  vorgeschlagene  Reform  nicht  zu  bringen. 
Auch  die  aus  dem  Reichstage  heraus  bisher  erfolgten  An- 
regungen zur  Fortbildung  der  Unfallversicherungsgesctz- 
gebung  sind  sehr  auf  der  Oberfläche  geblieben.  Die  Hoff- 
nung auf  baldige  Verwirklichung  der  hier  dargelegten 
Gesetzesverbesserung  ist  daher  nur  sehr  gering  — es  sei 
denn,  dass  der  Gedanke  noch  jetzt  von  irgend  einer  ein- 
flussreichen Seite  thatkräftig  aufgenommen  wird. 

Friedenau-Berlin.  Ernst  Lange. 


Krankenversicherung  der  Dienstboten  in  Deutschland. 

Eine  Art  Umschwung  hat  sich  erfreulicher  Weise, 
wie  es  scheint,  an  massgebender  Stelle  in  Preussen  in  den 
Ansichten  über  die  Nothwendigkeit  der  obligatorischen 
Krankenversicherung  für  Dienstboten  vollzogen.  Noch 
während  der  Session  des  deutschen  Reichstags  Anfangs  1891 
nahmen  die  Vertreter  der  Regierung  in  der  Kommission 
zur  Vorberathung  der  Krankenkassennovelle  einen  durch- 
aus ablehnenden  Standpunkt  zu  dem  Anträge  ein,  die 
Krankenversicherung  der  Dienstboten  reichsgesetzlich  zu 
regeln.  Seite  3 des  betreffenden  Kommissionsberichts  (No.  381 
der  Reichstagsdrucksachen)  heisst  es,  dass  „seitens  der  Ver- 
treter der  verbündeten  Regierungen  auf  die  grosse  Schwie- 
rigkeit der  Regelung  dieser  Frage  hingewiesen  wurde.  In 
allen  deutschen  Bundesstaaten  sei  in  irgend  einer  Weise 
durch  Landesgesetz  die  Krankenfürsorge  für  Dienstboten 
geregelt,  und  es  sei  bedenklich,  in  diese  Regelung,  die  in 
den  verschiedenen  Staaten  eine  sehr  verschiedene  sei, 
durch  eine  allgemeine  reichsgesetzliche  Regelung  einzu- 
greifen; die  Verhältnisse  der  Dienstboten  seien  von  denen 
der  industriellen  Arbeiter  so  grundverschieden,  dass  eine 
gleichmässige  Regelung  fast  unmöglich  sei;  jedenfalls  würde 
sie  den  Nachtheil  haben,  dass  eine  Berücksichtigung  ört- 
licher Verhältnisse,  wie  sie  die  Landesgesetzgebung  möglich 
mache,  ausgeschlossen  bliebe.“  Als  Anlage  zu  diesen  Aus- 
führungen gab  die  Regierung  dem  Kommissionsbericht  eine 
Zusammenstellung  der"  in  den  Einzelstaaten  geltenden  Vor- 
schriften über  die  Krankenfürsorge  für  Dienstboten  bei. 
Diese  interessante  Zusammenstellung  wurde  bereits  in 
No.  7 des  Sozialpolitischen  Centralblattes  kritisch  von 
J.  Silbermann  dahin  besprochen,  dass  sie  gerade  das  Gegen- 
theil  von  demjenigen  nachweist,  was  die  Regierung  damals 
behauptete;  es  geht  nämlich  aus  ihr  hervor,  dass  nament- 
lich in  Preussen  durch  die  dortige  Gesindeordnung  in  höchst 
ungenügender  Weise  für  die  Krankheit  der  Dienstboten 
gesorgt  ist:  in  der  Hauptsache  hat  die  Dienstherrschaft 

für  die  Krankenpflege  des  Dienstboten  nur  dann  aufzu- 
kommen, wenn  die  Krankheit  durch  den  Dienst  hervor- 
gerufen ist.  Deshalb  war  vorauszusehen,  dass  sich  der 
Standpunkt  der  Regierung,  wie  er  in  der  erwähnten  Weise 
bei  der  Berathung  der  Krankenkassennovelle  zum  Ausdruck 
kam,  nicht  lange  werde  halten  lassen.  Die  Wendung  ist 
jetzt  eingetreten.  Es  werden  in  Preussen  ministerielle  Er- 
hebungen darüber  angestellt: 

„1)  ob  die  in  den  einzelnen  Kreisen  geltenden,  die  Für- 
sorge für  erkrankte  Dienstboten  betreffenden  Bestimmungen 
für  unzulänglich  zu  erachten  sind;  2)  im  Falle  der  Bejahung 
dieser  Frage,  in  welchem  Umfange  ein  Bediirfniss  zu  einer  ent- 
sprechenden Umgestaltung  dieser  Fürsorge  anerkannt  werden 
muss;  3)  ob  es  sich  nach  Lage  der  Verhältnisse  empfiehlt,  eine 
anderweite  gesetzliche  Regelung  auf  dem  Wege  der  Reichs- 
gesetzgebung oder  demjenigen  der  Landesgesetzgebung 
anzustreben;  4)  ob  es  zweckmässig  und  mit  den  Grundsätzen 
der  Billigkeit  vereinbar  erscheint,  die  Dienstherrschaften  (etwa 
im  Wege  der  Abänderung  der  Gesindeordnung)  auch  über  die 
Dauer  des  Dienstvertrages  hinaus  und  eventuell  auf  welche 
weitere  Zeitdauer  zur  Fürsorge  für  ihre  erkrankten  Dienst- 
boten gesetzlich  zu  verpflichten;  5)  ob  es  sich  empfiehlt,  Ver- 
einigungen der  Dienstherrschaften  zu  gemeinsamer  Leistung 
der  ihnen  obliegenden  Fürsorge  für  Dienstboten  und  Gesinde 
vorzusehen.“ 

Wie  man  aus  diesem  Fragenschema  sieht,  giebt  jetzt 
die  preussische  Regierung  selbst  zu,  dass  sie  bei  Berathung 
der  Krankenkassennovelle  ungenügend  informirt  war  ; sonst 
würde  sie  ja  jetzt  nicht  nochmals  nach  der  Unzulänglichkeit 
der  Krankenfürsorge  für  die  Dienstboten  fragen,  während 
sie  damals  behauptete , die  Angelegenheit  sei  überall 
„geregelt“.  Die  Regierung  hat  auch  im  Einzelnen  die 
Mängel  des  jetzigen  Zustandes,  speziell  für  Preussen,  schon 
ganz  richtig  erkannt.  Das  ergiebt  sich  aus  der  Andeutung 
in  Frage  4),  dass  die  Zeitdauer  der  Krankenversorgung 


476 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


verlängert  werden  muss;  wir  möchten  nur  gleich  hinzu- 
t ügen:  auch  der  Verpflichtung  zur  Fürsorge  muss  ein 
weniger  exklusiver  Charakter  gegeben  werden.  Ferner  ist 
erfreulich,  dass  die  Reichsgesetzgebung  als  Regulativ  mit 
m Betracht  gezogen  werden  soll,  während  man  diese  Mög- 
lichkeit voriges  Jahr  verneinte.  }.  Silbermann  hat  a.  a.  (J. 
schon  ausgettihrt,  weshalb  dieselbe  den  Vorzug  vor  der 
Landesgesetzgebung  verdient.  Es  fragt  sich  nunmehr  nur, 
ob  man  sich  mit  den  oben  wiedergegebenen  Fragen  auch 
an  die  richtigen  Adressen  gewendet  hat.  Sind  lediglich  die 
Landräthe,  welche  dem  Grossgrundbesitz  so  nahe  stehen, 
oder  die  landwirthschaftlichen  Unternehmervereine  um 
Auskunft  angegangen  worden,  so  ist  das  Ergebniss  jeden- 
falls sehr  ungewiss.  Ma  darf  auf  Nachrichten  darüber 
sehr  gespannt  sein. 


Vertlieilung  der  Krankenkassen  arten  im  Deutschen  Reich. 

Aus  der  neuesten  Reichsstatistik,  den  Stand  der  Krankenver- 
sicherung im  Jahre  1890  betreffend,  aus  welcher  bereits  in  No.  34 
dieses  Blattes  summarische  Mittheilungen  gemacht  wurden,  ist 
noch  die  Vertheilung  der  verschiedenen  Kassenarten  im  Reiche 
als  besonders  interessant  hervorzuheben.  Berechnet  man  den 
G ozentsatz  von.  je  100  Mitgliedern,  welcher  auf  eine  Kassenart 
entfällt,  so  überwiegt  — nur  die  grösseren  Staaten  in  Betracht 
gezogen  die  Versicherung  in  örtskrankenkassen  ausser 
im  Reich  in  Preussen  (52,0),  Königreich  Sachsen  (44,5),  Württem- 
berg (54,5),  Mecklenburg-Schwerin  (33,3),  Sachsen-Weimar  (66,8) 
und  Oldenburg  (32,5).  Die  Gemeinde-  Krankenversiche- 
rung herrscht  vor  in  Bayern  (56,7),  wo  bereits  früher  eine  ähn- 
liche Einrichtung  bestand,  welche  vom  Gesetzgeber  bei  der  Ge- 
meinde-Kranken Versicherung  zum  Vorbild  genommen  wurde, 
terner  in  Baden  (40,6),  Hessen  (31,2)  und  in  Mecklenburg-Strelitz 
(58,4).  Im  Reichslande  Elsass-Lothringen  waren  die  Betriebs- 
Krankenkassen  nach  ihrer  Mitgliederzahl  überwiegend  (60,2) 
Die  Versicherung  in  eingeschriebenen  Hilfskassen  über- 
wog zwar  m keinem  der  grösseren  Staaten,  wohl  aber  in  Braun- 
schweig (31,8),  Sachsen- Altenburg  (35,9),  Lippe  (81,3),  Lübeck 
(35,2),  Bremen  (45,4)  und  Hamburg  (73,2) 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 


Bau  von  Arbeiterwolinungen  aus  Mitteln  der  deutschen 
Invaliditäts-  und  Altersversicherung.  Auf  eine  Anfrage  hat 
der  Vorstand  der  badischen  Versicherungsanstalt  der  Invaliditäts- 
und Altersversicherung  geantwortet,  dass  er  auf  Antrag  von 
Baugesellschaften,  Baugenossenschaften  u.  dergl.  gerne  Gelder 
der  Anstalt  zum  Bau  von  Arbeiterwohnungen  innerhalb  des 
Grossherzogthums  Badens  darleihen  werde,  dass  er  jedoch, 
sofern  nicht  doppelte  Sicherheit  durch  gerichtliche  Pfand- 
verschreibung gewährt,  oder  sofern  ein  Zins  unter  3l/s  pCt.  in 
Anspruch  genommen  werden  wolle,  die  Zustimmung  des  Aus- 
schusses und  der  Regierung  Vorbehalten  müsse.  Dass  in  Baden 
bezüglich  der  Arbeiterwohnungen  Missstände  vorhanden  seien, 
hätten  die  LTntersuclningen  in  Mannheim  und  anderen  Städten 
ergeben.  Es  glaubt  deshalb  der  Vorstand  der  badischen  Ver- 
sicherungsanstalt, der  vom  Reichsversicherungsamt  gegebenen 
Anregung  thunlichst  entsprechen  zu  sollen  und  zwar  in  der 
Weise,  dass  die  Anstalt  unter  günstiger  Bestimmung  des  Zinses 
und  der  Rückzahlung  Gelder  an  Gemeinden  bezw.  an  solche 
Unternehmungen,  welche  für  die  Durchführung  des  Baues  und 
für  die  entsprechende  Verwendung  der  Gebäude  zu  Gunsten  des 
Arbeiterstandes  darleiht.  Das  Ankäufen  von  Bauplätzen  oder 
gar  das  Bauen  von  Gebäuden  könne  jedoch  die  Anstalt  nirgends 
in  Baden  unternehmen.  Nach  § 129  Abs.  II  des  Gesetzes'  darf 
mehr  als  der  vierte  Theil  des  Vermögens  der  Anstalt  in  solcher 
Weise  nicht  angelegt  werden.  Im  Jahre  1891  sind  2 227  050  M. 
verfügbare  Gelder  geblieben,  zu  diesen  werden  1892  und  1893 
je  weitere  2 400  000  M.  hinzukommen,  sodass  es  gestattet  sein 
dürfte,  für  derartige  Zwecke  1892  und  1893  die  Anlagen  auf 
1 Millionen  Mark  auszudehnen.  Nach  der  „Bad.  Corresp.“  wird  des- 
halb der  Vorstand  der  Versicherungsanstalt  dem  Ausschuss  am 
24.  September  folgenden  Antrag  unterbreiten:  „Der  Vorstand  ist 
zu  ermächtigen,  nach  eingeholter  Genehmigung  des  grossherzog- 
lichen Ministeriums  des  Innern  zum  Bau  von  Arbeiterwohnungen 
an  Gemeinden  bezw.  an  solche  Unternehmungen,  welche  für  die 
Durchführung  des  Baues  und  für  pie  entsprechende  Verwendung 
des  Gebäudes  zu  Gunsten  des  Arbeiterstandes  sowie  für  die 
regelmässige  Tilgung  und  Verzinsung  des  Darlehens  die  Gewähr 
der  vollen  Sicherheit  in  sich  tragen,  Gelder  zu  3l/2  pCt.  und  bis 
zu  80  pCt.  des  Platz-  und  Bauwerthes  gegen  erstes  bedungenes 
Unterpfand  darzuleihen.  Das  Darlehen  darf  nur  unter  Fest- 
stellung regelmässiger,  höchstens  50  Jahre  dauernde  Tilgung, 
unter  dieser  Voraussetzung  aber  auch  seitens  der  Anstalt  un- 
kündbar gegeben  werden  ‘ Jeweils  auf  die  festgestellten  Zins- 


No.  38. 


und  rdgungstermine  dürfen  auch  weitere  Kapitalheimzahlungen 
rvC  a vor&äng1ger  dreimonatlicher  Kündigung  gemacht  werden. 
Die  Auszahlung  kann  je  nach  Fortschreiten  des  Baues  in  Theil- 
beträgen  erfolgen.  Die  bezüglichen  Kapitalanlagen  dürfen  1892 
und  1893  zusammen  den  Betrag  von  einer  Million  Mark  nicht 
überschreiten.“ 

Massregeln  zur  Erzielung  gesunden  Wohnens  in  Mühl- 
hausen  i.  E.  Ganz  ähnlich,  wie  in  Glasgow  (vgl.  Sozialpoli- 
tisches  Centralblatt  No  37),  nur  vorläufig  auf  privatem  statt 
auf  kommunalem  Wege,  vollzieht  sich  jetzt  eine  Gesundung 
der  Wohnungsverhältnisse  in  dem  elsässischen  Industrie- 
zentrum Mühlhausen.  LTnter  dem  Drucke  der  Cholerafurcht 
hat  sich  dort  soeben  eine  Gesellschaft  von  Kapitalisten  ge- 
bildet, die  sich  den  Ankauf  von  gesundheitsgefährlichen 
Wohnhäusern  zur  Aufgabe  gestellt  hat.  An  Stelle  der  auf- 
gekauften Gebäude  sollen  gesunde  Neubauten  zu  stehen 
kommen.  Eine  Anzahl  von  Familien,  die  eng  zusammen- 
gedrängt in  alten  Miethkasernen  wohnen,  ist  sofort  aufge- 
kündigt worden,  und  sobald  sie  aus  den  alten  Spelunken 
heraus  sind,  wird  mit  dem  Abbruch  der  Häuser  begonnen 
werden.  Hoffentlich  hält  die  Thätigkeit  der  Privaten  auch 
an,  wenn  die  Cholerafurcht  gewichen  ist.  Sonst  muss  eben 
auch  hier  über  kurz  oder  lang  die  Gemeinde  eingreifen. 


Gewerbegerichte. 


Errichtung  von  Gewerbegerichten  durch  Ortsstatut.  Die 

Bestimmung  des  neuen  deutschen  Gewerbegerichtsgesetzes  vom 
29.  Juli  1890,  nach  welcher  die  Entschliessung  über  die  Einfüh- 
rung von  Gewerbegerichten  den  Kommunalbehörden  überlassen 
ist,  bewährt  sich  in  keiner  Weise.  Neue  Erfahrungen  hierüber 
liegen  aus  Thüringen  vor.  Während  die  Handels-  und  Gewerbe- 
kammer für  den  Kreis  Saalfeld  sich  gegen  Errichtung  eines 
Gewerbegerichts  ausgesprochen  hatte,  beschloss  der  Gemeinde- 
rath dortselbst,  eine  solche  Einrichtung,  durch  welche  gewerb- 
liche Streitigkeiten  auf  die  rascheste  Weise  und  zwar  ohne 
nennenswerthe  Kosten  durch  sachverständige,  im  praktischen 
Leben  stehende  Männer  zur  Erledigung  gelangen,  nunmehr  ins 
Leben  zu  rufen.  Gerade  umgekehrt  gestaltete  sich  die  Sachlage 
in  Meiningen.  Die  dortige  Handels-  und  Gewerbekammer 
hatte  alsbald  nach  dem  Erscheinen  des  bezeichneten  Reichs- 
gesetzes  an  die  städtischen  Behörden  das  Gesuch  um  Errichtung 
eines  solchen  Gewerbegerichts  gelangen  lassen,  dasselbe  wurde 
jedoch  wiederholt  abgelehnt  Dass  bei  solch  verschiedenartiger 
Behandlung  derselben  Sache  in  ziemlich  gleichgearteten  Be- 
zirken kein  sozialpolitischer  Fortschritt  erzielt  wird,  liegt  aut 
der  Hand. 


Soziale  Hygiene. 

Krankenkassen  und  soziale  Hygiene.  Aehnlich  wie 
in  Wien  (vergl.  letzte  No.  des  Sozialpolitisches  Centralblatt) 
wenden  sich  in  Berlin  die  Behörden  an  die  Krankenkassen 
zur  Hilfeleistung  bei  der  Abwehr  der  Cholera.  Der  Vorstand 
der  Berliner  Ortskrankenkasse  für  das  Gastwirthsgewerbe 
ist  vom  Polizeipräsidium  angewiesen  worden,  sofort  eine 
Revision  der  Schlafstätten  der  Angestellten  im  Gastwirths- 
gewerbe vornehmen  zu  lassen  und  Bericht  zu  erstatten. 
Bei  dieser  Gelegenheit  theilt  der  Kassenvorstand  mit,  dass 
von  etwa  22  000  Gast-  und  Schankwirthen  in  Berlin  etwa 
5 — 6000  trotz  der  in  Aussicht  stehenden  hohen  Strafen  ihre 
Angestellten  gegen  Krankheit  nicht  versichern.  Der  Gesund- 
heitszustand der  Kellner  und  Kellnerinnen  sei  kein  erfreu- 
licher, bei  den  Kellnern  herrschten  Schwindsucht,  bei  den 
Kellnerinnen  Unterleibskrankheiten  als  Folgen  unregel- 
mässigen Lebens  vor.  Am  meisten  fallen  die  „freiwilligen“ 
Mitglieder  der  Kasse,  Köche,  Kellner  etc.  derselben  zur 
Last,  sie  stellen  67—68  pCt.  zu  den  Erkrankten,  während 
die  fest  Angestellten  nur  2L/2  pCt.  stellen.  Die  Kasse  sei 
ein  Opfer  zahlreicher  Simulanten,  gegen  welche  es  aber 
kaum  einen  Schutz  gebe,  weil  die  Krankenhäuser,  das  beste 
Mittel  dagegen,  überfüllt  seien.  Die  Kasse,  welche  1889 
schon  einen  Ueberschuss  von  34  000  M.  hatte,  müsse  jetzt 
vom  1.  Januar  n.  J.  ab  die  Beiträge  erhöhen,  um  ihren  Ver- 
pflichtungen nachkommen  zu  können.  Das  gestattet  traurige 
Einblicke  in  die  soziale  Lage  der  Gastwirthsgehilfen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin, 


ANZEIGEN. 


SBerlnc;  Don  ®alm  & Gnfc  in  Gtlnngc». 

Die  Deutfcfye  (Semerbeorbnung 

in  ber  Raffung  üont 

1.  f^uli  1883  unb  1.  ^uni  1891 

nclijt  tr||t  D a U i « gt*  sj a v fd| v t f fett  fees  Kteidie#. 

(Srlciutert  uon 

Dr.  % ©ngelmamt. 

Zweite  Sluflnge. 

gr.  8"  (IX,  355  unb  CVIII  ©eiten).  @e().  G 53? f. 

IW*  ®aö  „Gentratblatt  für  ®ern)attUHöb^)ra^ib',  nrtljeilte  f.  g.  über  bie  (Svfte  Dlitflage 
folgenbermafjent: 

„Ser  üorliegenbe  Kommentar  ift  uuftteitig  bie  befte  ^Bearbeitung,  luetdje 
bie  Sentfdje  ©etnerbeorbnnng  bisher  gefunben  fjat." 


|it  |ed]tsüErl|ii[tnt|fE  öei  Jirlifitijflifr  ui  |rt(itupl)iiiEr 

ttttd)  feem  9ietd)£gefe| 

Born 

1.  $um  1891 

(SüeI  VII  ber  f5Eut]'djEU  ©EroErbeorbrumg). 

Srläutert  uon 

Dr.  % ©ngeltnamt. 

gv.  8.  (IV  unb  74  ©eiten).  fßreiä:  80  fßf. 


Hitfi-  Mtxlilc’e  Beringt  (3|crw.  3£>effevnnli)  fStrlfnt. 

fuftlje  als  JnplplüikfE. 

(Üitt  Beth'ag  pr  Bettel  Ijeihtng  feer  figialrn  3fr a ge. 

S5on 

Jptcofeflür  Dr.  ©erladi. 
f3reta  50  |3fge. 

Söenit  ivgenb  jemanb,  Oevmüge  feiner  ©teltung,  in  ber  Sage  mar,  bie  foäiale  fyvoge  ruhig,  leiben* 
fdiaftSloS  ,511  erörtern  unb  SBorfdjlage  311  bereu  Söfimg  311  machen,  fo  luar  e§  ©oettje,  ber  Bon  Bielen 
tötenfdjen  111  SSeimar  mit  einer  Strt  Bon  Slubctung  ©enannte,  nod)  mehr  atS  DJteufd),  beim  at§  Sdjri't* 
ftetter  ©etiebte  mtb  ©etounberte.  ©3  ift  ba8  tßorredjt  be8  ©enieS,  feiner  geit  Bornu§3iieiIeit.  — 338 ir 
muffen  e§  un§  I>ier  natürlich  Berfagen,  an  ber  .fjaitb  beS  93erf afferö  bte  SBnnberung  burcf»  beit  Sjbealftaat 
©oett)c8  aii3utreten,  aber  baS  biirfen  mir  mit  Bollern  9ted)t  behaupten,  eä  ift  beut  ®erfaffer  buvdjaus!  ge* 
langen,  einen  an  fid;  fo  trodenen  Stoff,  luie  ihn  bie  befannte  ©arftetlung  in  ©oettjeö  ^ilffini  SOJeifter 
bietet, jiidjt  bto§  311  einem  genießbaren,  fonbent  311  einem  bodiintereffanten  uni3ugeftalten.  SBeltamt),  ber 
tßrofeffor  in  SBofton  unb  ©ngen  Sfidjter,  ber  große  ßahlenfünftler,  beibe  entpuppen  fid)  3111  Ueberrafapiug 
ber  Söelt  al§  ®id)ter,  fobatb  fie  bie  fo3inIe  »frage  in  bie  Jpanb  nehmen;  unb  loenn  ber  eine  bie  Sadje 
tragifcb  belfanbelt,  fdfeiut  fid)  ber  anbere,  bem  bie  für  einen  Sragifer  erforberlidje  sQuelte  311  fehlen 
fdjieiiit,  lieber  in  ibpflifdjen  ©djilberungen  311  ergeben.  ©regoroBiuS  mit  feinem  „Ipimmel  auf  Geben" 
3eid)iiet  un§  mit  träftigem  SJJinfet  in  fatten  färben  ein  fvaffee!  Söilb  be*3  fü3iateu  gufunftäftaateS.  Stile 
©rei  tragen  jebod)  menig  jur  Söfnng  ber  foäialen  J-vage  bei,  bagegen  ift  ©erlacb  mit  feiner  ©djrift  ber 
grofee  SBurf  gelungen,  nirfjt  bloS  3111-  befferen  SMrbigung  beS  ®id)tev§  beisutragen,  fonbern  and)  bie 
Söfnng  ber  fdjmebeubcn  f 0 3 i a I e n fragen  in  ruhiger  unb  ob jeftiBer  äßeife  angebatjut  311  haben,  ©ie  Bor* 
tiegenbe  ©djrift  ©erladjä  bietet  gebiegcneS  SJfateriat  3u  SSortriigen  in  Strbeiter*  unb  ®o[f'8BerfammIuugen, 
311  ©iSfuffionSabenben  in  fßereinen,  3ur  Orientierung  unb  Klarlegung  in  ber  loeltbemegenben  f^rage;  311111 
ernften  ©tubiunt  für  jebeit  einseinen,  ber  in  fid)  bie  fßflidjt  fühlt  ber  SSirtfamfeit  für  SJlenfdjenmobl  unb 
SJlenfcöengtücE.  2Bir  begrüben  bas  ©rfdjetneu  ber  ©erladjfcben  fBvofdjüre  auf  baS  unirmfte  unb  föunen 
fie  nid)t  bringenb  genug  3111-  SInfdjaffung  empfehlen,  fie  bürfte  and)  311t  größeren  SSerteilung  in  3Soll§* 
bitbung€bereinen  rc.  rcdjt  geeignet  fein.  (Slnhalt.  ©taatsaii3ciger). 


SoEbrit  ErftfimtEtt! 

ÜQitWidi  ittr  fositiltii  ©EgöBEöinta 

feest  ^?nlfri|ßit  Beidie. 

fyiir  fcliermnmt  311m  Utaftifdjeit  ©ebvaud) 

Ijeraudgegeben  oou 

II.  Biinnccke, 

(aievfaffer  non  „®cr  9Jcid)ä=  unb  Staatäbienft"). 
Gntljalt  alleä  für  öeu  p)vaftifd)en  ©e= 
braud)  3?otI)roenbige  eines  ben  ©efeheu,  betv. 
bie  Kraulen*,  Unfall*,  3>uoaltbitätS  = 
unb  2llterd*$erfid)erung  foiuie  ©djuij* 
gefetjgebutig  ber  Strbeiter  1111b  baljer  unent* 
betjvlid)  für  ©eiuerbctretbenlic,  Sanbwirtlje, 
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den, Journalisten  etc.  zur  Kenntniss  aller 
politischen,  sozialen  u.  s.  w.  Gebiete,  sowie 
des  Staatslebens  aller  Länder  mit  besonderer 
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u.  Serfidjerungdiuefcit. 

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„ 111.  ©taatdtolffenfdjaft,  ®olitif,  ©Mplo= 

tnatif,  ®erebfatnfeit,  ©tatiftif  unb 

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Das  Weil)  als  Gattin. 

S e I)  r b n efe 

über  bie  p()t)fifd)en,  feelifdjeu  unb  Jittlidjen 
spftidjten,  SfEed)te  1111b  ©efuub^eit^regelu 
ber  beutfdjeu  grau  ittt  Shelebeu  pr  33e* 
grüubnng  ber  leiblidjeu  unb  fittlidjeu 
2I>ol)lfabrt  ihrer  felbft  unb  ihrer  gamilie. 
(Sine  Körper*  unb  ©eelenbiätetif  be§  SSeibed 
in  bet  Siebe  unb  (£'l)e. 

Zwölfte  neu  burdjöcfcljcnc  Stugagc. 

fßreiö  eleg.  geh-  5 53?.,  eleg.  geb.  6 53i. 

©iefeS  in  feiner  9tvt  einjtg  baftehenbe 
33ud)  behanbelt  ba§  Seben  in  ber  ©he  mit 
lBohtanftänbiger  Offenheit  mtb  ©djidlidjfeit 
unb  giebt  über  SSieleS  Eluffdjlufi , )ua§  für 
fOZänner,  grauen  unb  (Jungfrauen  Bon  größter 
SBtdjttgf'eit  ift. 

©er  bisherige  9lhfah  Bon  11  ftarfeit  Sluf* 
lagen  mag  für  bie  ©ebiegeuheit  beo  Sßerfeg 
fprechen. 

ßu  he3iehen  burch  alle  fBuchhanblnngeu 
be6  ßn*  unb  SluSlaubeS. 

öeiV3i0. 

Ed.  Kummer. 


Hugo  Frankel, 

in  Berlin  N.  24,  Elsasserstr.  36, 

Antiquariat  für  Rechts-  u.  Staatswissenschaft, 

empfiehlt  sich  zurantiquarischen  Besorgung 
von  Werken  aus  dem  Gebiet  der  Staats- 
und Volkswirthschatt. 

Kauft  jederzeit  Bibliotheken  und  ein- 
zelne Werke  aus  diesem  Gebiete. 

Verzeichniss  1 und  2:  Staats-  und 
Rechtswissenschaften  stehen  noch  zu 
Diensten.  Verzeichniss  3:  Staats-  und 
Volkswirtschaft  in  Vorbereitung. 


478 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung*  in  Berlin  SW.  48. 


No.  38 


ARCHIV 

für 

SOZIALE  GESETZGEBUNG  UND  STATISTIK. 

Vierteljahresschrift 

zur  Erforschung  der  gesellschaftlichen  Zustände  aller  Länder 

In  Verbindung 

mit  einer  Reihe  namhafter  Fachmänner  des  In-  und  Auslandes 

h e r a u s g e g e b e n 

von 

Dr.  Heinrich  Braun. 

Das  Archiv  erscheint  in  Bänden  von  ca.  40  Druckbogen  lex.  8°.  in  4 Heften. 

Band  V im  Erscheinen. 

Abonnementspreis  pro  Band  M.  12.—.  Einzelne  Hefte  M.  4. — . 


Die  Fragen  der  sozialen  Gesetzgebung  rücken  mit 
jedem  Tag  mehr  in  den  Mittelpunkt  der  Politik  und  des 
öffentlichen  Interesses.  Studium  und  Verständniss  dieser 
Fragen  zu  fördern,  ist  die  Aufgabe  des  Archivs  für 
soziale  Gesetzgebung  und  Statistik. 

Auf  zwei  in  der  Natur  der  Sache  liegenden  Wegen 
sucht  die  Zeitschrift  ihrem  Programm  gerecht  zu  werden: 
einmal  durch  Erforschung  des  thatsächlichen  Zustandes 
der  Gesellschaft,  dessen  Erkenntniss  allein  dem  Bedürfniss 
nach  einer  sozialen  Gesetzgebung  Richtung  und  Ziel 
weisen  kann,  sodann  durch  spezielle  Darstellung  der 
Sozialgesetzgebung  der  verschiedenen  Länder  und  Kritik 
derselben,  vornehmlich  aus  dem  Gesichtspunkt  der 
sozialen  Thatsachen.  Nach  beiden  Seiten  hat  das  Archiv 
schon  eine  reiche  und  fruchtbare  Thätigkeit  entfaltet. 


Eine  grosse  Zahl  sorgfältiger  Untersuchungen  aus  dem 
Gebiete  der  Sozialstatistik  und  die  wichtigsten  sozial- 
politischen Gesetze  Belgiens,  Dänemarks,  des  Deutschen 
Reichs,  Englands,  Finnlands,  Frankreichs,  Hollands, 
Italiens,  Oesterreichs.  Rumäniens,  Russlands,  Schwedens, 
der  Schweiz,  Ungarns  und  der  Vereinigten  Staaten  sind  in 
ihm  behandelt,  die  Gesetze  selbst  neben  einer  kritischen 
Bearbeitung  derselben  zum  grössten  Theil  auch  im  Wort- 
laut mitgetheilt  worden.  Auf  diese  Weise  bildet  das 
Archiv  ein  ausserordentlich  werthvolles  wissenschaftliches 
Repertorium  für  die  Fragen  der  Sozialpolitik  und  ist 
insbesondere  auch  dank  seines  internationalen  Charakters 
unentbehrlich  für  Jedermann,  mag  er  sich  theoretisch 
oder  praktisch  mit  den  Problemen  der  sozialen  Gesetz- 
gebung und  der  Arbeiterfrage  beschäftigen. 


Abonnements  nehmen  alle  Buchhandlungen  Deutschlands  und  des  Auslandes  sowie  die  Verlagshandlung 
und  die  Postanstalten  (No.  637  der  Postzeitungsliste)  entgegen.  Auch  ist  jede  Buchhandlung  in  der  Lage,  die 
bisher  erschienenen  Bände  resp.  Hefte  zur  Ansicht  vorzulegen. 

Probehefte  sowie  ausführliche  Prospekte  stehen  auf  Wunsch  gratis  und  franco  su  Diensten. 


Verantwortlich  fiir  den  An/.eigentheil:  O.  Scliuehardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


I.  Jahrgang. 


Berlin,  den  26.  September  1892. 


Nummer  39. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Der  gegenwärtige  Stand  der 
italienischen  Arbeiterbe- 
wegung. Von  Prof.  Dr.  Wer- 
ner Sombart. 

Arbeiterzustände : 

Ausdehnung  der  jugendlichen  Ar- 
beiter in  der  reichsländischen  In- 
dustrie. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Der  Strike  von  Carmaux.  Von 
Leo  Frankel. 

Hand  werker  fra  gen : 

Zur  Frage  der  Gewerbekammern. 
Von  Dr.  Rudolf  Grätzer. 
Unternehmerverbände : 

Verkaufsvereine  der  rheinisch-west- 
fälischen Kohlenzechen. 

Planmässige  Aussperrung  sozia- 
listischer Arbeiter  in  Ungarn. 


Arbeiterversiclierung: 

Normal  - Verhlitungs  - Vorschriften 
der  deutschen  Berufsgenossen- 
schaften. 

Zur  deutschen  Unfallstatistik. 

Erhöhte  Unfallgefahr  bei  der  Ver- 
wendung jugendlicher  Arbeiter. 

Leistungen  staatlich  organisirter 
und  freier  Hilfskassen  in  Deutsch- 
land. 

Wohnungszustände: 

Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter- 
bevölkerung in  Elsass-Lothringen. 

Soziale  Hygiene: 

Sanitätsstatistik  der  Arbeiter  im 
Wiener  Kleingewerbe.  Von  Dr. 
Adolf  Braun. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Der  gegenwärtige  Stand  der  italienischen 
Arbeiterbewegung. 


Noch  vor  wenigen  Jahren  konnte  der  Berichterstatter 
der  amtlichen  Zollenquete  als  einen  wesentlichen  Vorzug 
der  Produktionsverhältnisse  in  Italien  den  „ottimo  contegno“, 
das  stets  musterhafte  Verhalten  der  italienischen  Arbeiter- 
schaft bezeichnen,  die,  von  wenigen  Ausnahmen  abgesehen, 
niemals  dem  Unternehmer  durch  Lohnforderungen,  Arbeits- 
einstellungen und  sonstige  Quängeleien  Schwierigkeiten  zu 
bereiten  pflege,  sondern  immer  noch  mit  den  sprichwört- 
lich niedrigen  Lohnsätzen  alter  Zeiten  sich  begnüge.  Heute 
schon  müsste  das  Urtheil  wesentlich  anders  lauten.  Durch 
die  italienische  Arbeiterschaft  geht  eine  Unruhe,  schleicht 
ein  Geist  der  Unzufriedenheit,  wie  ihn  die  frühere  Zeit 
nicht  kannte,  und  die  Idylle,  von  der  jene  Enquete  noch 
zu  berichten  wusste,  droht  auf  Nimmerwiedersehen  von 
der  goldigen  Halbinsel  zu  verschwinden.  Wie  oft  doch 
hat  während  der  letzten  Jahre  der  Telegraph  von  Arbeiter- 
unruhen in  Italien  zu  melden  gehabt!  Um  von  den  Bauern- 
aufständen, den  Anarchisten-  und  Geheimbundsprozessen, 
den  Revolten  am  1.  Mai  zu  schweigen:  auch  der  reguläre, 


legale  Kampf  zwischen  Unternehmer  und  Arbeiter  ist 
überall  zum  Ausbruch  gelangt.  In  aller  Erinnerung  stehen 
noch  die  grossen  Strikes  der  Bauhandwerker  in  Rom  und 
Mailand,  der  Metallarbeiter  Mailands  und  neuerdings  die 
Arbeitseinstellungen  in  zahlreichen  und  grossen  Etablisse- 
ments der  Textilindustrie  Oberitaliens. 

Lassen  sich  die  Gründe  für  diesen  verhältnissmässig 
raschen  Umschwung  der  Dinge  anführen?  Gewiss.  Sie 
sind  in  der  Wandlung  zu  suchen,  welche  die  gesammte, 
italienische  Volkswirtschaft  während  des  letzten 
Jahrzehntes  erfahren  hat.  Diese  ist  eben  aus  dem  Stadium 
kleinbürgerlicher,  gewerblicher  Produktionsverhältnisse, 
agrikoler  Selbstgenügsamkeit  herausgetreten  und  rascher 
als  zu  erwarten  war  in  die  Wechselfälle  des  Weltmarktes 
hineingezogen  worden.  Eine  sehr  energische  Zollpolitik 
hat  vor  allem  dazu  beigetragen,  das  Aufkommen  der  grossen 
Industrie  und  damit  des  industriellen  Proletariats  zu  be- 
schleunigen; gewerbliche  Neugründungen  sind  innerhalb 
der  letzten  5 — 10  Jahre  wie  Pilze  aus  der  Erde  geschossen. 
Hand  in  Hand  mit  diesem,  vielleicht  nicht  ganz  gesunden, 
weil  überhasteten  Emporblühen  der  Industrie  sind  in  Stadt 
und  Land  andere  Begleiterscheinungen  hergegangen,  die 
ebenfalls  zu  einer  Revolutionirung  der  Arbeiterverhältnisse 
beizutragen  geeignet  waren.  In  den  Grossstädten,  vor 
allem  in  Rom  und  Mailand,  griff  eine  fieberhaft  ungesunde 
Bauspekulation  um  sich,  die  anfangs  grosse  Massen  von 
Arbeitern  vom  Lande  hereinzog,  um  sie  nach  Verlauf 
einiger  Jahre  als  arbeitsloses  Proletariat  auf  die  Strasse  zu 
werfen.  Auf  der  Landwirthschaft  aber  lastete  während  dieser 
ganzen  Zeit  ein  schwerer  Druck,  der  zum  grossen  Theil  die 
unmittelbare  Folge  des  Industrieschutzzollsystems  war.  Es 
ist  bekannt,  wie  seit  Anfang  der  1880er  Jahre,  dann  in  er- 
höhtem Masse  seit  1888  den  spezifisch  italienischen  Agrar- 
produkten der  auswärtige,  insonderheit  französische  Markt 
verloren  ging,  wie  in  Folge  dessen  eine  schwere  Krisis  das 
ohnehin  schon  unter  der  Steuerlast  zusammenbrechende 
agrikole  Italien  heimgesucht  hat.  Grund  einerseits  für  den 
ländlichen  Arbeiter  — mag  er  mezzadro  oder  bracciante 
heissen  — seine  schon  nicht  beneidenswerthe  Lage  uner- 
träglich zu  finden,  ihn  schliesslich  zu  Revolten  zu  reizen, 
andererseits  den  Abfluss  der  Arbeiterschaft  vom  Lande  her 
in  die  noch  besser  gedeihende  Industrie,  also  die  Bildung 
eines  städtischen  Proletariats  — mit  oder  ohne  Arbeit  — 
zu  beschleunigen. 

Vor  ein  paar  Menschenaltern  hätten  solcherart  Vor- 
gänge vielleicht  nichts  weiter  bewirkt,  als  eine  rasche 
Verelendung  der  Massen  hier,  planlose  Widerstandsversuche, 
blutige  Revolten  des  Proletariats  dort.  Heute  am  Ende  des 
glorreichen  19.  Jahrhunderts  ist  es  ebenso  begreiflich,  dass 


480 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  39. 


ein  neu  entstehendes  Proletariat  sich  die  Erfahrung  älterer 
Nationen  zu  Nutze  macht,  rascher  die  eigenen  Haufen  zum 
beginnenden  Kampfe  organisirt  und  disziplinirt.  Es  darf 
uns  daher  nicht  \\  under  nehmen,  wenn  wir  jene  Um- 
gestaltung der  ökonomischen  Verhältnisse  in  Italien  sich 
widerspiegeln  sehen  in  dem  Streben  des  Proletariats,  sich 
neue  Organisationsformen  zu  schaffen  oder  die  alten  umzu- 
gestalten. In  das  letzte  Jahrzehnt  fallen  in  Italien  die 
Anfänge  einer  eigentlich  gewerkschaftlichen  Arbeiter- 
bewegung. 

Italien  ist  seit  Alters  her  reich  an  volksthümlichen  Ver- 
einen, Verbrüderungen,  Gesellschaften,  Klubs,  Zirkeln  u.  dgl., 
reicher  als  manches  andere  Land.  Auch  der  Arbeiter  gehört 
diesen  Vereinigungen  an,  die  aber  trotz  ihres  oft  gewerk- 
schaftlichen Aushängeschildes  nicht  immer  Fachvereine  und 
in  den  seltensten  Fällen  moderne  Gewerkvereine  sind. 
Wenn  wir  von  den  zahlreichen  vorwiegend  geselligen 
Vereinigungen  absehen,  so  finden  wir  zunächst*"  die  rein 
politischen,  demokratischen  oder  republikanischen  Kon- 
ventikel,  deren  Ursprung  in  sehr  vielen  Fällen  sich  auf 
die  in  Italien  mehr  als  anderswo  ehedem  verbreiteten  ge- 
heimen Gesellschaften  würden  zurückführen  lassen;  viele 
dieser  von  Arbeitern  und  Kleinbürgern  besuchten  poli- 
tischen Klubs  werden  jetzt  statt  Mazzini'schen  Demokratis- 
mus Oberdank’sclien  Anarchismus  oder  Marx’schen  Sozialis- 
mus auf  ihre  Fahne  geschrieben  haben.  Dann  folgt  die 
grosse  Zahl  von  Hilfs-  und  Unterstützungsvereinen,  die 
sog.  Societä  di  mutuo  soccorso.  Bei  ihnen  ist  allerdings 
wohl  die  gewerkschaftliche  Gliederung  die  Regel.  S*ie 
erschöpfen  aber  ihre  Thätigkeit  in  der  Errichtung  von 
allerhand  Kassen  und  in  der  Pflege  geselliger  Beziehungen. 
Ihren  fiiedlichen  Charakter  bezeugen  sie  oft  genug  dadurch, 
dass  sie  sich  unter  die  unmittelbare  Patronage  eines  | 
Bourgeois,  wohl  gar  ihres  eigenen  Brotherrn  begeben. 
Die  meisten  von  ihnen  gestatten  in  ihren  Statuten  nicht 
einmal  rein  gewerkschaftliche  Bestrebungen.  Sie  sind, 
wenn  man  einen  Vergleich  anstellen  wollte,  ein  Mittelding 
zwischen  unseren  fortschrittlichen  Arbeiterbildungsvereinen 
zu  Lassalle  s Zeiten  und  den  Hirsch-Duncker’schen  Ge- 
werkveremen,  deren  Schwerpunkt  ja  auch  anerkannter- 
massen  in  der  Pflege  des  Kassenwesens  und  der  Harmonie 
zwischen  Arbeitern  und  Unternehmern  beruht.  Neben  diesen 
Unterstützungsgesellschaften  und  den  politischen  Kon- 
ventikeln  weist  dann  Italien  noch  eine  Menge  genossen- 
schaftlicher Bildungen,  namentlich  auch  Produktivgenossen- 
schaften auf,  die  sog.  Societä  cooperative,  deren  Mitglieder 
auch  zum  Theil  den  unteren  Schichten  der  Bevölkerung 
angehören. 

Bei  diesem  Stande  der  Dinge  wird  eine  beginnende 
Gewerkvereinsbewegung  in  Italien  zwei  Wege  einschlagen 
können:  sie  wird  entweder  wie  anderwärts  Neugründungen 
hervorrufen  oder  aber,  wozu  in  vielen  Fällen  Neigung  vor- 
handen sein  dürfte,  sie  wird  die  bestehenden  Vereinigungen 
dem  neuen  Zwecke  entsprechend  umgestalten.  Beide  Wege 
sehen  wir  beschritten.  Es  sind  in  Italien  während  der 
letzten  Jahre  verschiedene  Gewerkvereine  mit  der  aus- 
gesprochenen Tendenz,  den  Kampf  mit  dem  Kapital  zu 
organisiren,  neu  entstanden,  die,  wo  solche  vorhanden,  in 
direkte  Opposition  zu  den  von  früher  bestehenden  Ver- 
einigungen treten:  als  Beispiele  unter  den  grösseren  Branchen 
seien  die  Unione  ferrovieri  italiani  und  die  Federazione  di 
resistenze  metallurgici  ed  affini  di  Milano  (Gewerkschaften 
der  Eisenbahnarbeiter  und  der  Metallarbeiter  von  Mailand) 
angeführt,  die  beide  in  Gegensatz  zu  bereits  bestehenden 
I achverbänden,  die  Unione  in  Opposition  gegen  den  grossen 
hascio  ferroviario,  getreten  sind.  Diese  Gewerkschaften 
pflegen  sich  meist  schon  Federazione  oder  congregazione 
oder  dergl.  di  resistenza  ausdrücklich  zu  nennen,  um  sich 


von  den  Unterstützungsvereinen  zu  unterscheiden.  In  zahl- 
reichen Fällen  aber  nehmen  die  letzteren,  die  Societä  di 
mutuo  soccorso  selbst  die  Schwenkung  vor  und  bilden  sich 
zu  W iderstands-  oder  Kampfvereinen  um.  Sehr  viele  der 
Unterstützungsvereine  Italiens  haben  denn  auch  schon  heute 
eine  antikapitalistische  Tendenz  erhalten.  Hier  gilt  es  dann 
vor  allem  die  überaus  zersplitterten  Lokalvereine  zu 
grösseren  regionalen  und  nationalen  Verbänden  zusammen- 
zuschweissen.  Als  Organe  in  diesem  Centralisirungs- 
prozesse  scheinen  die  mehrfach  in  letzter  Zeit  gegründeten 
Arbeitskammern  (Camere  di  Lavoro)  funktioniren  zu  sollen. 
Das  wichtigste  dieser  Institute,  die  halb  Auskunftsbureau, 
halb  Centralstelle  der  Arbeiterverbände  sind,  ist  die  1890  ge- 
gründete Camera  di  Lavoro  in  Mailand;  zwei  andere  be- 
stehen in  Turin  und  Piacenza,  eine  vierte  wird  in  Venedig 
vorbereitet,  eine  fünfte  in  Bologna  geplant. 

So  finden  wir  zahlreiche  Ansätze  zu  einer  gewerkschaft- 
lichen Arbeiterbewegung  in  Italien,  von  denen  die  meisten 
allerneuesten  Datums  sind.  Es  fragt  sich  nun:  welche 
Stellung  wird  die  gewerkschaftliche  zur  politischen 
Arbeiterbewegung  auf  der  Appeninnenhalbinsel  nehmen? 
Wird  sie  sich  selbständig  entwickeln  und  erst  bei  ihrem 
Abschluss  politischen  Charakter  empfangen,  wie  in  Eng- 
land, oder  wird  sie  von  ihren  Anfängen  an  im  Schlepptau 
der  politischen  Arbeiterbewegung  sich  befinden,  wie  in 
Deutschland?  Prophezeien  ist  immer  misslich.  Gleichwohl 
sprechen  in  unserem  Falle  die  Thatsachen  so  deutlich, 
dass  sich  mit  ziemlicher  Gewissheit  Voraussagen  lässt:  in 
Italien  werde  die  Gewerkschaftsbewegung  mindestens 
nur  pari  passu,  in  steter  Anlehnung  an  die  politische 
Arbeiterbewegung  sich  entwickeln.  Die  Gründe  hierfür 
liegen  einmal  in  der  primitiven  Verfassung  der 
heutigen  ökonomischen  Verhältnisse  Italiens,  sodann  in 
seinen  eigenthümlichen  Parteibildungen,  seiner  starken 
radikalen  Demokratie  Mazzinischer  Observanz,  die  von 
jeher  mit  sozialen  Elementen  getränkt  war;  endlich  in 
dem  Beispiel  der  fortgeschritteneren  Nationen,  die  fast 
alle  zu  einer  Fusion  gewerkschaftlicher  und  politischer  Ar- 
beiterbewegung gelangt  sind.  Es  erübrigt  nun,  in  Kürze 
die  Fortschritte  zu  verzeichnen,  welche  die  politische  Ar- 
beiterbewegung, besser  die  Bestrebungen  zur  Bildung  einer 
politischen  Arbeiterpartei  während  der  letzten  Zeit  in  Italien 
gemacht  haben  und  welches  der  heutige  Stand  dieser  Be- 
strebungen ist.  Insbesondere  das  Jahr  1 892 'bezeichnet  eine 
wichtige  Etappe  in  dieser  Bewegung. 

Von  drei  Seiten  her,  von  drei  politischen  Parteien 
wird  der  italienische  Arbeiter  umworben:  von  der  radi- 
kalen Demokratie,  vom  Anarchismus  und  vom  Sozialdemo- 
kratismus. Ueber  die  Vorgänge  im  republikanischen 
Lager  habe  ich  in  dieser  Zeitschrift  (No.  30)  unlängst  be- 
richtet. Der  letzte  (XVIII.)  Kongress  der  verbrüderten 
Gesellschaften  Mazzinischer  Richtung  hat  sowohl  die  Noth- 
wendigkeit  anerkannt,  die  Propaganda  in  die  eigentlichen 
Arbeiterkreise  mehr  als  bisher  hineinzutragen,  als  auch 
hat  er  sich  mit  Stimmenmehrheit  zu  einer  Annäherung  an 
den  Sozialismus  dadurch  bekannt,  dass  er  die  Vergesell- 
schaftung der  Produktionsmittel  für  nothwendig  erachtet, 
um  die  sozialen  Uebelstände  zu  beseitigen.  Ob  es  dem 
Patto  di  Fratellanza  gelingen  wird,  die  Arbeiterschaft  zu 
sich  hinüberzuziehen,  bleibt  dahingestellt.  Mir  scheint  ein 
solcher  Erfolg  nur  möglich  mittels  einer  itio  in  partes. 
Das  demokratische  Kleinbürgerthum,  das  bisher  die  Reihen 
der  Societä  affratellate  zum  grossen  Theil  gefüllt  hat,  wird 
schwerlich  mit  einer  radikalsozialistischen  Arbeiterschaft 
auf  die  Dauer  sich  verständigen.  Das  freilich  schliesst 
nicht  aus,  dass  der  Patto  di  Fratellanza  als  Ganzes  sich 
mit  den  übrigen,  aussenstehenden  Elementen  zu  einer 
sozialistischen  Arbeiterpartei  verschmelze:  unter  Verlust 


No.  39. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


seiner  kleinbürgerlichen  Mitglieder.  Auf  dem  sogleich  zu 
erwähnenden  sozialdemokratischen  Arbeiterkongress  zu 
Genua  trat  Maffi  bereits  als  Vertreter  der  450  Gesellschaften 
des  Patto  di  Fratellanza  offiziell  auf,  freilich  ohne,  meines 
Wissens  , ein  ausdrückliches  Kongressmandat  hierzu  zu 
besitzen. 

Der  Anarchismus  hat  einigen  Boden  in  Italien,  auch 
in  Arbeiterkreisen.  Dass  es  ihm  aber  gelingen  sollte,  die 
Arbeiterschaft  als  solche  zu  einer  politischen  Arbeiterpartei 
um  seine  Fahne  zu  sammeln,  dürfte  kaum  im  Bereich  der 
Wahrscheinlichkeit  liegen.  Dazu  vereinigt  er,  zumal  in 
Italien,  zu  disparate  Elemente:  politische  Republikaner, 
Irredentisten  etc.,  dazu  verbürgt  er  dem  Arbeiter  zu  wenig- 
unmittelbare  Vortheile  praktischer  Art;  denn  er  zieht 
ja  gegen  jedwede  Organisation  aus  Prinzip  zu  Felde.  Dass 
er  sich  kürzlich  in  Genua  zum  Anwalt  der  reinen  Gewerk- 
vereinsbewegung im  Gegensatz  zu  den  Anhängern  einer 
politischen  Arbeiterpartei  aufspielte,  war  nichts  als  ein 
nicht  ungeschicktes  Scheinmanöver,  um  seine  Position  zu 
stärken.  Immerhin  ist  der  Anarchismus  in  Italien  bei  der 
Bildung  einer  Arbeiterpartei  ein  nicht  zu  unterschätzender 
haktor,  wesentlich  kraft  seiner  obstruktiven  Tendenz.  Noch 
unlängst  in  Genua  hat  er  den  Sozialdemokraten  das  Leben 
recht  schwer  gemacht  und  nur  einem  sehr  entschlossenen 
Vorgehen  der  Sozialistenführer  ist  es  gutzuschreiben,  dass 
der  sozialistische  Arbeiterkongress  zu  Ende  geführt  werden 
konnte. 

Dieser  aber,  dessen  wir  schon  mehrfach  Erwähnung 
thun  mussten,  ist  von  der  sozialdemokratischen  Par- 
tei, oder,  wenn  man  es  vorzieht,  Fraktion,  am  14.  und 
15.  August  d.  J.  zu  Genua  unter  der  Bezeichnung  „Natio- 
naler Kongress  der  Arbeiterpartei“  (Congresso 
nazionale  del  Partito  dei  Lavoratori)  veranstaltet  worden. 
Von  ihm  als  dem  jüngsten  und  vielleicht  wichtigsten  Er- 
eigniss der  politischen  Arbeiterbewegung  Italiens  ziemt  es 
uns,  ausführlicher  zu  handeln.  Die  Leser  dieses  Zeischrift 
(vergl.  No.  31)  waren  auf  diesen  Kongress  bereits  aufmerk- 
sam gemacht;  der  Hinweis  hatte  auch  schon  die  Tages- 
ordnung und  die  Bedingungen  der  Theilnehmerschaft  mit- 
getheilt,  sodass  wir  uns  hier  darauf  beschränken  können, 
einen  kurzen  Ueberblick  über  die  Ergebnisse  des  Kon- 
gresses den  Lesern  zu  verschaffen. 

Die  Veranstalter  des  Kongresses,  der  bereits,  wenn 
auch  weniger  bedeutsame  Vorgänger  (letzter  in  Mailand) 
aufzuweisen  hat,  sind  die  Führer  des  schon  längere  Zeit 
hauptsächlich  in  Norditalien  ein  ziemlich  kümmerliches 
Dasein  fristenden  Partito  operaio:  Turati,  Croce,  Prampo- 
lini,  Dell’Avalle  u.  a.,  sämmtlich  mehr  oder  minder  streng- 
gläubige Sozialdemokraten.  Zugelassen  zur  Theilnahme 
am  Kongress  waren  jedoch  auch  Andersgläubige,  sofern 
sie  nur  irgend  einen  Verein  oder  dgl.  vertraten.  Da  war 
denn  die  erste,  für  die  Einberufer  wenig  erfreuliche  That- 
sache,  welche  sich  nach  Eröffnung  des  Kongresses  ihnen 
mit  unwiderstehlicher  Gewalt  aufdrängte,  die:  dass  eine 
aus  völlig  heterogenen  Elementen  zusammengesetzte  Ver- 
sammlung den  Kongress  bildete.  Die  beiden  Hauptlager 
waren  Anarchisten  und  Sozialdemokraten,  neben  denen  die 
Nur-Gewerkvereinler,  soweit  sich  nicht  die  Anarchisten 
als  solche  erklärten,  verschwanden.  Die  Wahl  der  Präsi- 
dentschaft ergab  ein  Stimmenverhältniss  von  46  Anarchisten 
zu  106  Sozialisten,  genügend,  um  den  ruhigen  Verlauf 
der  Aerhandlungen,  bei  dem  reizbaren  Temperament  des 
Anarchisten,  zumal  des  italienischen  Anarchisten,  unmög- 
lich zu  machen.  Nachdem  ein  Sitzungstag  unter  fortwäh- 
rendem I umult  resultatlos  mit  nichtssagenden  Debatten 
verbracht  war,  erfolgte  die  einzig  mögliche  Lösung  endlich 
durch  Irennung  der  beiden  feindlichen  Lager.  Zwar  nicht 
so,  dass  der  schwächere  Theil,  sondern  — sagen  wir  der 


481 

klügere  — nachgab:  d.  h.  die  sozialistische  Majorität  einen 
neuen  Kongress  in  einem  andern  Saale  der  Via  della  Pace 
am  Morgen  des  15.  August  eröffnete. 

Unzweifelhaft  vereinigte  dieser  sozialdemokratische 
Theilkongress,  der  nunmehr  als  einziger  „Congresso  nazio- 
nale del  Partito  dei  Lavoratori“  von  seinen  Veranstaltern 
bezeichnet  wird , die  wichtigsten  Arbeiterorganisationen 
wieder,  die  sich  überhaupt  in  Genua  hatten  vertreten 
lassen.  Es  betheiligten  sich  an  ihm  192  Organisationen, 
von  denen  ein  grosser  Theil  als  wirkliche  Arbeiterorgani- 
sationen anzusehen  sind,  u a die  grössten:  Der  Consolato 
operaio  von  Mailand,  der  Fascio  dei  lavoratori  von  Palermo 
(angeblich  8000  Mitglieder),  die  Unione  dei  ferrovieri,  end- 
lich auch  die  „450  societä  affratellate“,  so  von  Maffi,  wie 
oben  berichtet,  vertreten  wurden.  Leider  lässt  sich,  bei 
dem  indirekten  Wahlsystem,  gar  kein  Urtheil  gewinnen 
über  den  wirklichen  Umfang  und  die  Bedeutung  der  auf 
dem  Kongress  vereinigten  Arbeiterschaften.  Die  Liste  der 
Theilnehmer  zeigt  nur,  wie  zu  erwarten  war,  zur  Evidenz 
das  Vorwiegen  Nord-Italiens,  wo  in  der  That  der  Haupt- 
sitz sowohl  des  industriellen  Proletariats  wie  auch  der 
sozialdemokratischen  Propaganda  zu  suchen  ist.  Jedenfalls 
ist  es  dieser  Theilkongress  von  Via  della  Pace,  den  wir 
als  den  eigentlichen  Arbeiterkongress  zu  betrachten  und 
dessen  Verlauf  wir  allein  zu  verfolgen  ein  Interesse  haben. 

Man  könnte  das  Ergebniss  des  Genueser  Kongresses 
dahin  zusammenfassen:  er  habe  die  Gründung  einer 
unabhängigen  politischen  Arbeiterpartei  (Partito 
dei  Lavoratori  italiani)  beschlossen  und  mit  seinen  Theil- 
nehmern  sofort  ins  Werk  gesetzt.  Denn  alle  Einzelbeschlüsse 
bezogen  sich  ebenfalls  nur  auf  diesen  Hauptbeschluss. 

Die  Gründung  einer  Arbeiterpartei.  Ueber  den 
Sinn  dieser  Bezeichnung  ist  auf  dem  Kongresse  selbst,  vor- 
nehmlich aber  in  der  Presse,  viel  debattirt  worden.  Es 
machten  sich  zwei  Strömungen  bemerkbar;  die  eine  wollte 
nur  Handarbeiter  zur  Mitgliedschaft  der  Partei  zulassen, 
die  andere  ohne  Ausnahme  alle,  die  sich  zum  Parteipro- 
gramm bekannten.  Der  ganze  Streit  ist  nur  erklärlich, 
wenn  man  sich  des  oben  schon  erwähnten  in  Italien 
üblichen  Brauchs  erinnert,  Nichtarbeiter  zu  Beschützern, 
Berathern,  Patronen  der  Arbeiterverbindungen  zu  machen. 
Dadurch  ist  in  die  Reihen  der  klassenbewussten  Arbeiter 
ein  starkes  Misstrauen  gegen  die  Elemente  gedrungen, 
und  der  Standpunkt,  alle  Nichthandarbeiter  von  der  Partei 
auszuschliessen,  konnte  überhaupt  Vertheidiger  linden.  Die 
Gegner  dieses  engen  Standpunktes  hatten  aber  doch  zu  plau- 
sible Gründe  für  sich,  um  nicht  schliesslich  zum  Siege  zu 
gelangen  In  der  That  sind  die  meisten  „Führer“  der  Ar- 
beiterbewegung in  Italien,  beispielsweise  fast  alle  Veranstalter 
des  Kongresses,  Nichthandarbeiter.  Sie  von  der  Partei  aus- 
schliessen  würde  deren  Erdrosselung  in  der  Geburt  bedeutet 
haben.  Die  italienische  Arbeiterschaft  ist  viel  zu  wenig  ent- 
wickelt, um  jener  Bourgeois  - Intelligenzen  entbehren  zu 
können.  Eine  Arbeiterpartei,  mit  Ausschluss  dieser  In- 
telligenzen, so  höhnte  man,  werde  eine  Partei  der  Analpha- 
beten sein.  Mitglied  des  Partito  dei  Lavorati  italiani  kann 
also  jetzt  jeder  werden,  der  sich  zu  seinem  Programm  bekennt. 

Die  Partei  soll  unabhängig  sein,  d.  h.  von  keiner 
anderen  Partei  in’s  Schlepptau  genommen  werden  dürfen: 
Hauptunterschied  gegen  den  Patto  di  fratellanza. 

Und  es  soll  eine  politische  Arbeiterpartei  sein:  ihre 
Aufgabe  also  in  dem  Streben  nach  politischer  Macht  ge- 
funden wrerden.  An  dieser  Stelle  galt  es  der  rein  gewerk- 
schaftlichen Arbeiterbewegung  gegenüber  den  richtigen 
Standpunkt  zu  gewinnen.  Man  hat  sich  in  der  Weise  ge- 
holfen, dass  man  Partei  und  Gewerkschaften  prinzipiell 
trennt.  Die  gewerkschaftliche  Thätigkeit  soll  unabhängig 
von  der  Partei  gepflegt  werden,  ja  es  ist  ausdrücklich  aus- 


482 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  39. 


gesprochen  — dass  Gewerkvereinsangelegenheiten  nur  von 
Mitgliedern  der  Gewerkvereine  behandelt  werden  dürfen  und 
dass  Bedingung  für  die  Mitgliedschaft  eines  Gewerkvereins 
die  Handarbeiterschatt  ist.  Trotzdem  wird  die  Gewerk- 
vereinsbewegung unter  dem  unmittelbaren  Einfluss  wenn 
nicht  der  Parteileitung,  so  des  Parteitages  stehen,  da  dieser 
der  Regel  nach  aus  den  Delegirten  der  Vereine,  also  auch 
der  Gewerkschaften,  zusammengesetzt  ist.  Jedenfalls  wird 
die  Fühlung  zwischen  politischer  und  gewerkschaftlicher 
Thätigkeit  eine  sehr  enge  sein. 

Erübrigte  das  Wichtigste,  der  neugebildeten  Partei  ein 
gemeinsames  Glaubensbekenntniss  mit  auf  die  Wander- 
schaft zu  geben.  Dass  dieses  Bekenntniss  dem  Gedankenkreise 
der  orthodoxen  Sozialdemokratie  entnommen  werden  würde, 
dafür  bürgte  die  Persönlichkeit  der  geistigen  Urheber  des 
Kongresses.  Die  ganze  neuentstandene  Arbeiterpartei  ist 
thatsächlich  von  der  älteren  Lega  socialista  in  Mailand,  von 
der  ursprünglich  kleinen  sozialdemokratischen  Partei  Ober- 
italiens, die  sich  schon  seit  einiger  Zeit  zu  einem  soge- 
nannten Partito  operaio  ausgewachsen  hatte,  inspirirt;  1 
„l’inoculazione  del  virus  socialista  nell’  anemica  arteria 
operaia“  war  nach  dem  führenden  sozialdemokratischen 
Organ,  der  „Critica  sociale“  ausgesprochenermaassen  der 
programmatische  Kern  des  Genueser  Kongresses.  Hat  so- 
nach das  Programm  der  neuen  Arbeiterpartei  Italiens  in 
Folge  diesesStandes  derDinge  einen  unbedingt  sozialistischen 
Gedankeninhalt  erhalten,  so  doch  keineswegs  einen  Marxisti- 
schen, wie  das  Erfurter  Programm  der  deutschen  Sozial- 
demokratie. Während  dieses  den  evolutionistischen  Stand- 
punkt der  Marx’schen  Doktrin  scharf  zum  Ausdruck  bringt, 
operirt  das  Genueser  Programm  noch  mit  ethischen  Kate- 
gorien. Sein  Gedankengang  ist  der  Vulgärsozialistische: 
Das  Proletariat  wird  ausgebeutet,  das  ist  vor  Gott  und 

Menschen  unrecht;  darum  muss  der  Zustand  geändert 
werden  durch  Beseitigung  des  Mittels  der  Ausbeutung,  des 
Privateigenthums  an  Produktionsmitteln  — was  so  un- 
marxistisch wie  möglich  gedacht  ist.  Ich  bin  aber  der 

testen  Ueberzeugung,  dass  in  Italien,  wo  das  Volk  seit 

Mazzini  und  Garibaldi  von  politischen  und  sozialen  Schlag- 
worten, wie  das  Kind  von  der  Muttermilch  sich  nährt,  ein 
Arbeiterprogramm  ohne  derartig  greifbare  ethische  Postu- 
late,  wie  sie  das  neue  Programm  enthält:  Recht  auf  den 

vollen  Arbeitsertrag!  wenig  Glück  haben  würde.  Hier 

folgt  in  der  Uebersetzung  der  auf  dem  Kongress  festge- 
stellte Text  des 

Programms  der  italienischen  Arbeiterpartei. 

In  Erwägung: 

dass  bei  der  gegenwärtigen  Ordnung  der  menschlichen 
Gesellschaft  die  Menschen  gezwungen  sind,  in  zwei  Klassen  zu 
leben,  auf  der  einen  Seite  die  ausgebeuteten  Arbeiter,  auf  der 
andern  die  Kapitalisten,  welche  die  gesellschaftlichen  Reich- 
thümer  innehaben  und  monopolisiren; 

dass  die  Lohnarbeiter  beiderlei  Geschlechts,  in  jedem  Ge- 
werbe und  jeder  Lage,  durch  ihre  ökonomische  Abhängigkeit 
das  Proletariat  bilden,  das  in  einen  Zustand  des  Elends,  der 
Minderwerthigkeit  und  Unterdrückung  hineingezwungen  wird; 

dass  alle  Menschen,  wenn  sie  nur  gemäss  ihren  Fähig- 
keiten zur  Schaffung  und  Erhaltung  der  Wohlthaten  des  gesell- 
schaftlichen Lebens  beitragen,  das  gleiche  Recht  zum  Genüsse 
dieser  Wohlthaten,  deren  erste  die  Sicherheit  der  sozialen 
Existenz  ist,  haben; 

in  Anerkennung: 

dass  die  heutigen  ökonomischen  und  sozialen  Organi- 
sationen, unter  dem  Schutze  des  heutigen  politischen  Systems, 
die  Herrschaft  der  Monopolisten  des  gesellschaftlichen  und 
natürlichen  Reichthums  über  die  arbeitende  Klasse  darstellen; 

dass  die  Arbeiter  ihre  Emanzipation  nur  mittelst  der  Ver- 
gesellschaftung der  Arbeitsmittel  (Grund  und  Boden,  Bergwerke, 
Fabriken,  Transportmittel  etc.)  und  der  Produktion  bewerk- 
stelligen können; 


in  Erwägung: 

dass  dieses  Ziel  nur  erreicht  werden  kann  durch  das  in 
einer  klassenbewussten  Partei  (Partito  di  classe)  organisirte 
Proletariat  selbst,  einer  Partei,  die  unabhängig  von  allen  andern 
Parteien  ist  und  ihre  Thätigkeit  unter  einem  zwiefachen  Ge- 
sichtspunkte ausübt  (esplicantesi  sotto  il  doppio  aspetto): 

1.  des  gewerkschaftlichen  Kampfes  zur  unmittelbaren  Ver- 
besserung der  Existenz  des  Arbeiters  (Arbeitszeit, 
-Lohn,  Fabrikordnungen  etc.),  ein  Kampf,  dessen  Leitung 
den  Arbeitskammern  und  den  Gewerkvereinen  über- 
tragen wird; 

2.  eines  umfassenderen  Kampfes  zur  Eroberung  der  poli- 
tischen Machtstellungen  (in  Staat,  Gemeinden,  öffent- 
lichen Verwaltungen  etc.),  um  diese  umzuwandeln  aus 
einem  Mittel  zur  Unterdrückung  und  Ausbeutung,  das 
sie  heute  sind,  zu  einem  Mittel  der  ökonomischen  und 
politischen  Expropiirung  der  herrschenden  Klasse; 

beschliessen  diejenigen  Arbeiter  Italiens,  welche  sich  die  Eman- 
zipation der  eigenen  Klasse  zur  Aufgabe  gemacht  haben, 

sich  zu  einer  Partei  zu  konstituiren,  auf  Grundlage 
folgenden  Statuts  (folgt  dieses). 

Das  Parteistatut  selbst  bietet  wenig  Interessantes 
für  uns;  es  enthält  die  Modalitäten  der  Parteiorganisation 
und  ist  offenbar  im  engen  Anschluss  an  die  Satzungen  der 
deutschen  sozialdemokratischen  Partei  entworfen.  Die  Or- 
gane der  Partei  sind  der  Parteitag  und  der  Centralvorstand 
(comitato  centrale),  der,  vom  Parteikongress  bestellt,  diesem 
verantwortlich  ist. 

Zu  Mitgliedern  des  Comitato  centrale  wurden  in 
Genua  für  das  nächste  Jahr  gewählt : Bertini,  Buchdrucker; 
Croce,  Handschuhmacher,  Sekretär  der  Mailänder  Arbeits- 
kammer; Dell’  Avalle,  Buchdrucker;  Fräulein  Ferla  von 
den  Mailänder  „Arbeitsmädchen“;  Fossati,  Mechaniker; 
Lazzari;  Maffl,  Abgeordneter.  Das  sind  alles  Mailänder; 
der  Sitz  des  Centralvorstandes  ist  ebenfalls  Mailand  und 
endlich  erscheint  das  Centralorgan  der  Partei,  die  „Lotta 
di  classe“,  das  eine  ganz  ähnliche  Stellung  zur  Partei  wie 
der  „Vorwärts“  hat,  auch  noch  in  Mailand.  Sein  Chef- 
redakteur Prampolini  ist  dem  Centralvorstande,  wenn  auch 
nicht  formell  hineingewählt,  ebenso  zuzurechnen  wie  der 
Herausgeber  der  (Mailänder!)  „Critica  sociale“,  Avv.F.  Turati, 
einer  der  bedeutendsten  Sozialisten  Italiens.  So  ist  denn  die 
Thatsache,  dass  von  Mailand  das  Heil  des  Sozialdemokratis- 
mus der  italienischen  Welt  verkündet  ist,  ebenso  wie  die 
andere,  dass  in  Oberitalien  der  Industrialismus  bisher  die 
grössten  Fortschritte  gemacht  hat,  hinreichend  deutlich  in 
der  Zusammensetzung  des  Parteivorstandes  zum  Ausdruck 
gebracht;  gewiss  gebührt  Mailand  diese  Auszeichnung. 
Aber  die  Mitglieder  des  Parteivorstandes  mögen  sich  ihrer 
sehr  verantwortlichen  Aufgabe  ganz  bewusst  sein.  Schon 
bemängelt  ein  im  übrigen  der  Centralleitung  wohlgesinntes 
Schwesterblatt,  die  bologneser  „Lotta“  die  spezifisch  Mai- 
ländische  Zusammensetzung  des  neuen  Comitato  centrale, 
freilich  nur  um  daran  die  Mahnung  zu  knüpfen,  die  Mai- 
länder müssten  nun  für  ganz  Italien  ihre  Kraft  einsetzen. 
Die  Mahnung  wird  wohl,  wenigstens  für  die  nächste  Zeit, 
beherzigt  werden;  immerhin  ist  der  stark  ausgeprägte  Re- 
gionalismus Italiens  in  Verbindung  mit  der  grossen  Ver- 
schiedenheit der  ökonomischen  Entwickelung  der  einzelnen 
Landestheile  eine  nicht  unbedenkliche  Klippe,  die  zu  um- 
schiffen der  ganzen  Kunst  der  Steuermänner  des  neuen 
Partito  dei  Lavoratori  italiani  bedürfen  wird. 

Hier  ist  einer  der  Punkte,  worin  sich  die  italienische 
Arbeiterbewegung  von  denen  andrer  Länder  unterscheiden 
wird.  Unzweifelhaft  werden  die  Hauptzüge  der  Entwicke- 
lung in  jedem  neuen  Falle  wiederkehren,  um  so  öfter  und 
gleichmässiger,  je  grösser  und  umfassender  die  Erfahrungen 
waren,  die  in  andern  Ländern  gemacht  worden  sind.  Wenn 
wir  die  Vorgänge  auf  dem  Gebiet  der  Arbeiterbewegung 
in  Italien  während  der  letzten  Jahre  überblicken,  so  springt 
uns  allerdings  die  vielfache  Uebereinstimmung  der  Ent- 


No.  39. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


483 


Wickelung  mit  der  in  andern  Ländern  zunächst  in  die 
Augen.  Ursache  wie  Wirkung  sind  hier  die  gleichen;  und 
es  liegt  gewiss  dem  Beobachter  der  sozialen  Entwickelung 
vor  allem  ob,  die  Gründe  für  den  gleichen  Gang  der  Dinge 
aufzudecken.  Oft  genug,  vor  allem  auf  sozialdemokratischer 
.Seite,  ist  man  aber  auch  geneigt,  die  Verschiedenheiten 
der  sozialen  Entwickelung  in  den  verschiedenen 
Ländern  zu  übersehen.  Und  es  wäre  gerade  eine  Aufgabe 
für  die  Führer  der  Arbeiterbewegung,  den  Besonderheiten 
ihres  Volkes  nach  Kräften  Rechnung  zu  tragen.  Die 
italienische  Arbeiterbewegung  wird  sicherlich  eine  ganze 
Reihe  unterschiedlicher  Merkmale  aufzuweisen  haben.  Einige 
solcher  Eigenthümlichkeiten  wurden  bereits  hervorgehoben: 
der  stark  ausgeprägte  Regionalismuss  in  Verbindung  mit 
den  Abständen  in  der  ökonomischen  Entwickelung  der  ein- 
zelnen Landestheile;  der  Sinn  und  die  Vorliebe  des  italie- 
nischen Volks  für  das  agitatorische  Schlagwort,  die  regere 
Antheilnahme  seines  Herzens  und  seiner  Phantasie  an  dem, 
was  eine  Bewegung  erreichen  soll.  Schliesslich  sei  aber 
noch  auf  ein  wesentliches  Moment  hingewiesen,  das  in 
weitem  Umfange  dazu  beitragen  wird,  der  italienischen  Ar- 
beiterbewegung einen  eigenen  Charakter  aufzuprägen:  das 
ist  der  Umstand,  dass  sich  das  ländliche  Proletariat 
entschieden  rascher  als  in  andern  Ländern  in  die  Bewegung 
wird  hineinziehen  lassen.  Die  Gründe  für  diese  Annahme 
zu  entwickeln,  würde  hier  zu  weit  führen.  Sie  liegen 
wesentlich  in  folgenden  Thatsachen:  dass  Italien  einen 

enormen  Prozentsatz  besitzloser  Landarbeiter  aufweist,  der 
Landarbeiter  mag  Theilpächter , Parzellenpächter  oder 
Tagelöhner  heissen;  dass  das  Verhältniss  zwischen  Grund- 
herrn und  Arbeiter  viel  schroffere  Klassengegensätze  auf- 
weist wie  anderswo;  dass  es  meist  gänzlich  bereits  ein 
reines  Zahlungs-  bezw.  Schuldverhältniss  ist,  die  patriarcha- 
lischen Beziehungen,  wie  sie  z.  B.  das  ostelbische  Preussen 
noch  aufweist,  längst  verschwunden  sind;  dass  endlich  das 
Landleben  in  Italien  einen  viel  städtischeren  Charakter  hat 
als  z.  B.  bei  uns.  Wie  der  italienische  Grundherr  kein 
eigentliches  Landleben  kennt,  so  auch  der  Arbeiter  nicht. 
Er  ist  kein  Zubehör  des  Gutes,  sondern  Bürger  einer  kleinen 
Landstadt,  in  die  sich  der  italienische  Bauer  und  ländliche 
Arbeiter  gern  zusammenschliesst,  selbst  wenn  er  dadurch 
gezwungen  wird,  zu  seiner  Arbeitsstätte  ungebührlich  weite 
Wege  zu  machen.  Schon  jetzt  haben  sich  zahlreiche  Ver- 
eine ländlicher  Arbeiter  dem  Partito  dei  Lavoratori  ange- 
schlossen. 

Hastig  strebt  Italien  den  übrigen  Grossstaaten  nach, 
oft  auf  Kosten  einer  gesunden  Entwickelung.  Auch  seine 
Arbeiterbewegung  ist  in  raschen  Fluss  gekommen  und  das 
zu  Ende  gehende  Jahr  darf  als  eine  wichtige  Epoche  in 
dieser  Bewegung  bezeichnet  werden.  Die  Arbeiterführer, 
die  sozialistischen  und  republikanischen  Agitatoren  können 
zufrieden  sein  mit  ihrer  Thätigkeit.  Ob  diese  segensreich 
war,  ob  sie  für  die  Arbeiterschaft,  ob  für  das  Land  zum 
Heil  ausschlagen  wird,  muss  die  Zukunft  lehren. 

Z.  Z.  Arosa  (Schweiz).  Werner  Sombart. 


Arbeiterzustände. 

Ausdehnung  der  jugendlichen  Arbeit  in  der  reichslän- 
dischen Industrie.  Zum  ersten  Male  als  separate  Drucksache 
erschien  soeben  der  „Verwaltungsbericht  des  Aufsichtsbeamten 
für  die  gewerblichen  Anlagen  in  Eisass -Lothringen  für  das 
Jahr  1891“  (Strassburg,  Strassb.  Druckerei  u.  Verlagsanstalt,  1892). 
Bemerkenswerth  sind  in  diesem  Bericht  hauptsächlich  die  Mit- 
theilungen über  die  Ausdehnung  der  jugendlichen  Arbeit  in  den 
Reichslanden;  leider  giebt  der  Beamte  keine  vollständige 


Statistik,  aus  der  das  Verhältniss  der  jugendlichen  zu  den  er- 
wachsenen Arbeitern  zu  ersehen  wäre,  was  für  eine  richtige 
Beurtheilung  der  Verhältnisse  unentbehrlich  ist.  Nach  den  An- 
gaben des  Beamten  waren  im  Dezember  1891  in  709  Fabriken 
10  776  jugendliche  Arbeiter  beschäftigt;  darunter  befanden  sich 
673  Kinder  und  10103  junge  Leute.  Gegenüber  dem  Vorjahre 
hat  der  Bestand  an  Kindern  um  37  pCt.  abgenommen,  der  Be- 
stand an  jungen  Leuten  um  2 pCt.  zugenomtnen  — ein  Erfolg, 
welcher  in  erster  Linie  der  Gewerbeordnung  gutzuschreiben  sei, 
der  aber  so  lange  unsicher  ist,  als  man  nicht  über  die  Ab-  oder 
Zunahme  der  erwachsenen  Arbeiter  unterrichtet  ist.  Der  Haupt- 
antheil  entfällt,  wie  früher,  auf  die  Textilindustrie;  aber  auch 
hier  sind  die  Zahlen  sehr  viel  kleiner  geworden,  im  Untereisass 
um  50  pCt.,  im  Obereisass  um  40  pCt.  Die  Zahl  der  jungen 
Leute  hat  im  Hüttenwesen  um  31  pCt.,  in  den  keramischen  Be- 
trieben um  20  pCt , in  den  polygraphischen  Betrieben  um  8,5  pCt, 
und  in  der  Textilindustrie  um  4,5  pCt.  zugenommen;  in  allen 
übrigen  Gewerben  ist  sie  kleiner  geworden. 

Die  Vermehrung  erstreckte  sich  vorwiegend  auf  die  Bur- 
schen, während  die  Gesammtzahl  der  gleichalterigen  Mädchen 
um  etwas  abnahm.  Selbst  in  denjenigen  Gruppen,  welche  eine 
Zunnahme  der  Mädchenzahl  aufweisen,  hielt  der  Zuwachs  mit 
dem  der  Burschen  nicht  gleichen  Schritt.  So  stieg  die  Zahl  der 
Burschen,  beziehentlich  Mädchen,  in  der  keramischen  Industrie 
um  24,3  und  12,8  pCt.,  in  der  Textilindustrie  um  7,1  und  2,6  pCt. 
Auch  ein  Vergleich  mit  dem  Stande  von  1889  liefert  ähnliche 
Ergebnisse.  Indess  ist  die  Zahl  der  Mädchen  in  einer  Reihe 
von  Industrieen  noch  immer  erheblich  grösser,  als  die  der 
Burschen.  So  stehen  je  100  Burschen  in  der  Papierindustrie  106, 
in  der  Textilindustrie  135,  in  der  Bekleidungsindustrie  154  und 
in  der  Genussmittelindustrie  163  Mädchen  gegenüber.  Bei  der 
Kinderarbeit  erreicht  dieses  Verhältniss  seinen  Höhepunkt,  so 
dass  auf  einen  beschäftigten  Knaben  in  der  Genussmittel-  wie 
in  der  Textilindustrie  mehr  als  4,  in  der  keramischen  Industrie 
mehr  als  5 und  in  der  Papierindustrie  32  gleichalterige  Mädchen 
vorhanden  sind.  Von  dem  Beamten  wurden  in  136  von  etwa  600 
revidirten  Fabriken  zusammen  368  Uebertretungen  der  die  Be- 
schäftigung jugendlicher  Arbeiter  betreffenden  Schutzgesetze 
und  Verordnungen  ermittelt,  aber  nur  3 Personen  sind  wegen 
solcher  Uebertretungen  bestraft  worden.  Die  Beschäftigung 
von  Kindern  unter  12  Jahren  ist  nur  in  Ziegeleien  festgestellt 
worden,  ebendaselbst  auch,  sowie  in  Hüttenwerken,  Sonntags- 
arbeit der  jungen  Leute.  Ueberlange  Kinderarbeit  war  mehrfach 
in  Ziegeleien,  seltener  in  sonstigen  Betrieben,  überlange  Arbeit 
junger  Leute  in  Ziegeleien,  Spinnereien  und  Webereien  vor- 
handen; gegen  früher  ist  deren  Vorkommen  erheblich  dadurch 
eingeschränkt  worden,  dass  in  Folge  des  1890er  Ausstandes  die 
tägliche  Betriebszeit  vieler  Fabriken  vermindert  worden  ist.  In 
2 Spinnereien  und  in  einer  Weberei  wurden  Nachts  junge  Leute 
beschäftigt.  Nichtgewährung  der  Pausen,  Gewährung  zu  kurzer 
Pausen,  Gewährung  von  „Pausen“  vor  Beginn  und  nach  Been- 
digung der  Arbeit,  sowie  die  stillschweigende  Gestaltung  von 
Arbeit  während  der  Pausen,  waren  häufigere  Erscheinungen. 
Nicht  der  Absicht,  aber  dem  Wortlaut  des  Gesetzes  war  hier 
und  da  in  der  Weise  genügt,  dass  die  Jugendlichen  in  Reihen 
eingetheilt  waren,  deren  Pausen  z,  B.  Nachmittags  '/2  Stunde 
nach  Beginn  oder  x/j  Stunde  vor  Ende  der  Schicht  gelegt  waren. 
Die  Nothwendigkeit  der  Pausen  wird  von  manchen  Unter- 
nehmern nicht  anerkannt;  sie  meinen,  es  sei  besser  für  die  jungen 
Leute,  unter  Aufsicht  zu  arbeiten,  als  ohne  Aufsicht  sich  selbst 
überlassen  zu  bleiben.  Indess  macht  die  Einsicht,  dass  nicht 
nur  die  Pausen  an  sich,  sondern  auch  während  derselben  Ob- 
dach und  Aufsicht  gewährt  werden  müssen,  Fortschritte,  und 
hierzu  trägt  wohl  wesentlich  bei,  dass  bei  der  Genehmigung 
eines  jeden  Neu-  oder  Erweiterungsbaues  dem  Unternehmer  eine 
dahinzielende  Verpflichtung  auferlegt  wird.  Der  Einfluss  der 
Fabrikarbeit  auf  die  körperliche  Entwickelung  der  jugendlichen 
Arbeiter  ist  nach  dem  Bericht  in  fassbarer  Weise  oder  in  Zahlen 
nur  sehr  schwierig  festzustellen.  Wenn  auch  in  vielen  Fabriken, 
namentlich  der  Textilindustrie,  die  Beispiele  nicht  selten  sind, 
welche  einen  üblen  Einfluss  annehmen  lassen,  wenn  da  auch 
Personen  beiderlei  Geschlechts  mit  abnorm  oder  schlecht  ent- 
wickeltem Körper,  von  zuweilen  nur  1,40  m Körperlänge  bei 
20—40  Jahren  Lebensalter,  junge  Männer  mit  schiefen,  schwäch- 
lichen oder  zu  kurzen  Beinen,  andere  mit  bärtigem  Gesicht  und 
kindlich  erscheinendem  Leibe  ziemlich  häufig  und  den  meisten 
eine  geringe  Brustentwickelung,  überhängende  Haltung,  schlaffer 
Gang,  bleiche  verlebte  Farbe  eigenthtimlich  sind,  so  stehe  doch 
nicht  immer  fest,  ob  der  Fabrikarbeit  oder  üblen  Familien-  und 
Ernährungsverhältnissen  und  örtlichen  Einflüssen  die  Schuld 
vorwiegend  beizumessen  sei.  Dazu  muss  bemerkt  werden,  dass 
die  „üblen  Familien-  und  Ernähr ungs Verhältnisse“  doch  ebenfalls 
nur  eine  Folge  der  Fabrikbeschäftigung  mit  ihrem  geringen 
Verdienst  und  ihrer  zerstörenden  Wirkung  auf  den  Haushalt 
sind.  Das  Gesammtbild,  das  sich  aus  der  Wechselwirkung 
beider  Einflüsse  ergiebt,  ist  jedenfalls  traurig  genug. 


484 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  39. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Der  Strike  von  Carmaux. 

Jedesmal  wenn  die  Arbeiter  sich  in  irgend  einer  Weise 
sei  es  durch  Wort  oder  That,  gegen  die  Staats-  und  die 
Gemeindepolitik  auflehnen,  die  Gesetzgebung  und  Ver- 
waltung, als  von  den  Interessen  der  herrschenden  Klassen 
uiktirt,  bezeichnen  und  die  ganze  Staatsgewalt  als  einen 
bloss  die  gemeinschaftlichen  Geschäfte  der  Grundbesitzer 
und  Kapitalisten  besorgenden  Ausschuss  anklagen,  da  wird 
ihnen  haarklein  auseinandergesetzt,  dass  es  seit  der  be- 
rühmten Augustnacht  von  1789  keine  Klassen  mehr  in 
rankreich  gebe  „dass  es“,  wie  der  „Temps“  erst  vor 
Kurzem  schrieb,  „gleicherweise  absurd  sei,  in  einer  aus  der 
französischen  Revolution  entsprungenen  Gesellschaft  von 
Proletariern  und  Bourgeois,  von  einem  dritten  und  einem 
vierten  Stand  zu  sprechen;  dass  sie  es,  Dank  dem  allgemeinen 
Stimm-  und  Wahlrecht,  ganz  in  ihrer  Gewalt  haben, 
Staat  und  Gemeinde  so  umzugestalten,  wie  sie  es  für  ihr 
Wohlergehen  am  einträglichsten  finden.  „Ihr  seid  unzu- 
frieden mit  den  bestehenden  Institutionen“,  säuselte  es  bei 
jeder  Arbeiterdemonstration  durch  die  Blätter  derer,  die 
sich  wohler  als  je  unter  ihnen  finden,  ja,  warum  zeigt  Ihr 
dies  nicht  an  der  Wahlurne?  Der  Stimmzettel  ist  die 
sicherste  Gewähr  für  Eure  Wünsche.  Mit  ihm  könnt  Ihr 
Alles,  was  Ihr  wollt,  in  der  friedfertigsten  Weise  von  der 
Welt  vollbringen.  Mit  dem  Stimmzettel  ist  die  Aera  der 
Revolutionen  abgeschlossen“  und  dergleichen  mehr. 

Nun  aber  die  Arbeiter  diesem  Rath  zu  folgen  beginnen 
und  sich  der  Stimmzettel  und  Wahlurnen  statt  der  Büchsen 
und  Barrikaden  bedienen,  wie  dies  in  Carmaux  der  Fall, 
wo  sie  einen  der  Ihrigen,  den  von  der  dortigen  Gruben- 
gesellschaft angestellten  Monteur  Calvignac  zum  Bürger- 
meister wählten,  da  wird  die  Sprache  derjenigen,  die  kurz 
zuvor  noch  das  Suffrage  universel  als  eine  Wünschelruthe, 
a s ein  wahres  Tischlein-deck’-dich  anpriesen,  plötzlich  eine 
ganz  andere.  „Warum  dieser  Lärm?“  rufen  sie.  „Was  ist 
denn  los  in  Carmaux?  Nichts.“  „Es  ist  dort,“  sagt  der 
” e™Ps  i »auf  der  einen  Seite  die  Kompagnie,  welche  das 
'echt  hat,  den  und  den  Arbeiter  zu  entlassen,  und  auf  der 
anderen  Herr  Calvignac,  der  das  Recht  hat,  Bürgermeister 
zu  sein.  Nichts  anderes.“  In  der  That,  nichts  anderes, 
aber  es  genügt  vollauf,  um  das  Stimm-  und  Wahlrecht  der 
Arbeiter  illusorisch,  um  es  zu  nichte  zu  machen.  Unter 
solchen  Umständen  könnte  man  ebenso  gut  von  einem 
Vereins-  und  Versammlungsrecht  sprechen  dort,  wo  die 
o izei  das  Recht  hat,  den  und  den  Verein,  die  und  die 
Versammlung  aufzulösen,  oder  von  einer  Pressfreiheit,  wo 
die  Zensur  das  Recht  hat,  jedes  ihr  missliebige  Wort  zu 
streichen.  „Was  giebt  es  da  für  einen  Grund  zur  Unzu- 
friedenheit, könnte  im  letzteren  Falle  irgend  ein  „Temps“ 
semen  radikaleren  Geschwistern  zurufen:  „Ihr  habt  das 
Recht  zu  schreiben,  die  Zensur  hat  das  Recht  zu  streichen 
— nichts  anderes“. 

Und  dasselbe  Organ,  dass  mit  seinem:  „II  n’y  a pas 
autre  chose“  die  Streitfrage  von  Carmaux  aus  der  Welt  zu 
schaffen  wähnt,  leitartikelt  in  seiner  Nummer  vom  21.  d.  M.: 
„Sind  die  Arbeiter  nicht  zahlreicher  als  die  Arbeitgeber? 

enn  sie  eine  Reform  wollen  und  die  Majorität  haben, 
sind  sie  nicht  sicher,  dass  sie  sich  vollführen  werde?  Ge- 
memderäthe,  Generalräthe,  Kammer  und  Senat,  Minister 
und  Präsident  der  Republik  sowie  alle  von  ihnen  abhängi- 
gen V erwaltungen,  hängt  nicht  der  Reihe  nach  Alles  vom 
allgemeinen  Wahlrecht  ab?“  „Nein,  wenn  der  Unter- 
nehmer, sei  es  nun  ein  Einzelner  oder  eine  Gesellschaft, 
sei  es  in  Industrie,  Handel,  Landwirthschaft  oder  Verkehr, 
zum  Gewählten  sagen  kann:  Wähle  zwischen  deinen 

Wählern  und  mir,  zwischen  Deinem  Mandat  und  Deinem 
Biod,  dann  hängt  nicht  Alles  vom  Wahlrecht  sondern  viel- 
mehr vom  Unternehmerthum  ab. 

Es  ist  nicht  das  erste  Mal,  dass  ein  Arbeitermandatar 
vor  die  Alternative  gestellt  wurde,  entweder  auf  sein 
Mandat  oder  auf  sein  Brod  zu  verzichten.  Wenn  diesmal 


besonderer  Lärm  geschlagen  wurde,  so  ist  dies  nicht  nur 
dem  Umstande  zu  verdanken,  dass  die  Wähler  Calvignac’s 
' zugleich  seine  Arbeitsgenossen  sind  und  sich  als  solche  so- 
lidarisch mit  dem  Entlassenen  erklärten,  sondern  zum  nicht 
geringen  Theil  — wenigstens  so  weit  es  sich  um  die 
bürgerlich-demokratischen  Blätter  und  Parteien  handelt  — 
auch  dem  Umstande,  dass  die  an  der  Spitze  der  Gruben- 
gesellschaft stehenden  Personen,  Baron  Reille  und  Marquis 
Solages,  beide  Abgeordnete,  Bonapartisten  sind.  So  er- 
fährt man  denn  jetzt,  dass  zur  Zeit  der  allgemeinen  Wahlen 
von  1889  ein  keineswegs  unerlaubter  Druck  insofern  auf 
die  Grubenarbeiter  ausgeübt  wurde,  als  man  einen  Theil 
derselben  entliess  und  gleichzeitig  die  Nachricht  verbreitete, 
dass,  wenn  der  Marquis  Solages,  Schwiegersohn  des 
Baron  Reihe,  zum  Abgeordneten  gewählt  wird,  es  nicht  an 
Arbeit  fehlen  werde.  Man  müsse  vor  Allem,  hiess  es  da- 
mals, zur  Partei  des  Brodes  halten.  Der  Marquis  wurde  in 
der  1 hat  zum  Abgeordneten  gewählt  und  stimmt  seit  da- 
mals regelmässig,  wenn  er  an  einem  Votum  über  ein  Ar- 
beitergesetz theilnimmt,  wie  erst  letzthin  beim  Bovier- 
Lapierre  sehen  Entwurf  bezüglich  des  Koalitionsrechtes, 
gemeinsam  mit  seinem  Schwiegerpapa  gegen  jede  den  Ar- 
beitern günstige  Gesetzesbestimmung,  wie  sich  davon  Jeder, 
der  sich  hierfür  interessirt,  aus  dem  „Journal  officiell“  über- 
zeugen kann. 

Nun  ein  grosser  Theil  der  Presse  und  zahlreiche  Ver- 
sammlungen sich  in  einer  für  Baron  Reihe  und  Marquis  de 
Solanges  nichts  weniger  als  schmeichelhaften  Weise  mit 
dem  Strike  von  Carmaux  befassen,  suchen  diese  das  Odium, 
Calvignac  wegen  seiner  Wahl  zum  Maire  entlassen  zu 
haben,  dadurch  von  sich  abzuwälzen,  dass  sie  ihn  beschul- 
digen, seine  Arbeit  zu  vernachlässigen  und  dies  als  Grund 
seiner  Entlassung  angeben.  Als  Beweis  führen  sie  aus  den 
letzten  vier  Monaten  alle  die  Tage  an,  an  denen  er  bei  der 
Arbeit  fehlte.  Dass  er  theils  die  Erlaubniss  dazu  erhielt, 
theils  durch  Krankheit,  wie  dies  durch  Attest  des  Gruben- 
arztes bekundet  ist,  von  der  Arbeit  abgehalten  wurde,  ver- 
schweigen sie.  Wie  aufrichtig  es  ihnen  übrigens  mit  dem  an- 
gegebenen Entlassungsgrund  ist,  geht  wohl  am  besten  daraus 
hervor,  dass  u.  A.  auch  die  erste  Hälfte  des  Monats  August  mit 
in  die  Berechnung  einbezogen  wurde,  während  Calvignac 
bereits  am  2.  August  seine  Entlassung  erhalten  hatte!  Es 
ist  auch  schwer  zu  glauben,  dass  ein  Arbeiter,  der  an 
zwanzig  Jahren  in  ein  und  demselben  Grubenwerk  be- 
schäftigt ist  - — was  wohl  ein  sicheres  Zeichen  ist,  dass  er 
seine  Arbeitgeber  vollauf  befriedigt  hat  — plötzlich  ein 
nachlässiger,  unbrauchbarer  Arbeiter  wird,  auch  schwer  zu 
glauben,  dass  mehr  als  2000  Arbeiter  sich  mit  einem  wegen 
Vernachlässigung  seiner  Arbeit  entlassenen  Kollegen  soli- 
darisch erklären  und  mit  ihm  die  Arbeit  verlassen.  Nein, 
diese  I hatsache  beweist  mehr  als  alles  andere,  dass 
Calvignac  nur  entlassen  wurde,  weil  ihn  das  Vertrauen 
der  Arbeiter  zum  Bürgermeister  von  Carmaux  machte.  Die 
Unternehmer  nützen  ihre  wirthschaftliche  Uebermacht  immer 
mehr  in  dem  Sinne  und  Masse  aus,  wie  die  Feudalherren 
des  Mittelalters  die  ihrige.  Sie  wollen  nicht  blos  Herren 
über  die  Arbeitskraft,  sondern  über  den  ganzen  Arbeiter 
sein.  Wo  sie  über  ein  grosses  Arbeiterheer  verfügen,  wollen 
sie,  dass  es  ihnen  auch  ausserhalb  der  Fabrik,  Grube  oder 
sonstiger  Arbeitsanlage  diene.  Ueberwiegen  ihre  Arbeiter 
in  irgend  einer  Gemeinde  oder  einem  Wahlbezirke  alle 
anderen  an  Zahl,  dann  betrachten  sie  diese  Gemeinde  oder 
diesen  Wahlbezirk  als  einen  Bestandtheil  ihrer  Fabriks- 
anlagen, als  ihr  Lehen,  und  wehe  denen,  die  sich  ihnen  da 
in  den  Weg  stellen. 

Und  darum  ist  der  Strike  von  Carmaux  von  eminent 
sozialpolitischer  Bedeutung.  Es  handelt  sich  darum,  zu 
wissen,  ob  die  Arbeiter  nicht  nur  das  platonische,  sondern 
das  faktische  Recht  haben,  diejenigen  in  die  Vertretungen 
des  Staates  und  der  Gemeinde  zu  entsenden,  die  sie  am 
geeignetsten  halten,  ihre  Interessen  zu  wahren,  oder  ob  ihr 
Wahlrecht  zur  Domäne  der  Fabrik-,  Gruben-,  Eisenbahn- 
besitzer u.  s.  w.  gehört.  Man  wähne  nicht,  dass  es  nicht 
angehe,  von  Unternehmern  zu  verlangen,  dass  sie  Ar- 
beiter beschäftigen,  die  nicht  die  normale  Arbeitszeit 


No.  39. 


SOZIALPOLITISCHES  CKNTRALBI  .ATT. 


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einhalten.  Das  mag  allenfalls  dort  Geltung  haben,  wo 
es  sich  um  zwerghafte  Betriebe  handelt,  weil  da  die 
Unterbrechung  der  Arbeitskraft  eines  Einzelnen  den 
ganzen  Betrieb  stören  oder  erschweren  kann.  Und  doch 
pflegen  gerade  kleine  Unternehmer  in  dieser  Beziehung 
recht  liberal  zu  sein.  Wo  aber  irgend  ein  Grossbetrieb, 
irgend  eine  nur  halbwegs  ausgedehnte  Unternehmung  in 
der  Industrie,  im  Verkehr,  in  der  Landwirthschaft  oder  im 
Handel  in  Frage  kommt,  da  verliert  dieser  Einwand  jede 
Geltung;  da  kann,  da  darf  es  nicht  auf  die  Arbeitskraft 
eines  Einzelnen  ankommen  und  da  kommt  es  auch  in  der 
That  nicht  darauf  an,  weil  sonst  schon  einzelne  Krankheits- 
fälle den  Betrieb  stören  würden.  Das  wäre  auch  eine 
sonderbare  Gruben-,  Hütten-,  Eisenbahn-,  Gas-  oder  Bau- 
unternehmung, eine  sonderbare  Dampfmüllerei,  Sägerei, 
Spinnerei,  Brauerei  etc.  etc.,  wo  durch  das  Ausbleiben  des 
einen  oder  anderen,  selbst  höher  qualifizirten  Arbeiters 
irgend  eine  Störung  einträte.  Wo  darum  eine  grössere 
Unternehmung  einen  Arbeiter  entlässt,  der  ein  Mandat  als 
Prud’hommes-,  Gemeinde-,  Bezirks-Generalrath  oder  Bürger- 
meister erhielt,  kann  man  dreist  annehmen,  dass  seine  Ent- 
lassung nicht  wegen  seiner  zeitweiligen  Abwesenheit  vom 
Arbeitsplatz  erfolgt,  sondern  wegen  seiner  Eigenschaft  als 
Prud’hommes-Rath,  Gemeinderath  etc. 

Sollte  es  nun  gar  so  schwer  fallen,  den  Widerspruch 
zwischen  der  wirthschaftlichen  Macht  der  Unternehmer  und 
dem  politischen  Recht  der  Arbeiter  zu  lösen?  Mir  scheint 
dies  nicht  der  Fall.  Fast  alle  bedeutenden  Unternehmungen, 
wie  Berg-  und  Hüttenbau,  Gaswerke,  Eisenbahn-,  Tramway-, 
Omnibus-  und  ähnliche  Unternehmungen  sind  an  Staats- 
oder Gemeindekonzessionen  gebunden,  viele  grössere  Unter- 
nehmungen in  der  Bau-,  Textil-,  Leder-,  Metall-,  Nahrungs- 
industrie etc.  von  den  Staats-,  Departemental-  und  Ge- 
meindeverwaltungen durch  die  ihnen  ertheilten  Arbeits- 
und Lieferungsaufträge  abhängig.  Da  könnten  wohl  leicht 
Klauseln  eingefügt,  leicht  Bedingungen  gestellt  werden,  die 
diesen  Widerspruch  in  der  einfachsten  und  billigsten  Weise 
lösten.  Eine  einfachere  Lösung  wäre  es  freilich,  wenn 
man  den  Gemeinderäthen  etc.  eine  Entschädigung  aus 
öffentlichen  Mitteln  anwiese,  gross  genug,  um  sie  während 
ihrer  Mandatdauer  von  jeder  Lohnarbeit  zu  entbinden.  Dies 
wäre  aber  nicht  nur  äusserst  kostspielig,  sondern  stände 
auch  in  keinem  Verhältniss  zu  dem  Zeitaufwand,  den  die 
Ausübung  eines  Gemeinderath-  oder  selbst  Bürgermeister- 
mandats in  einer  der  vielen  kleinen  Gemeinden  Frankreichs 
erheischt,  wo  wenige  Abendstunden  oder  höchstens  1 bis 
2 Tage  pro  Woche  hierfür  genügen.  Ihnen  weder  eine 
Entschädigung  geben,  noch  dafür  sorgen,  dass,  wenn  sie  zu 
Gemeindevertretern  gewählt  werden,  sie  deswegen  nicht 
ihre  Arbeitsstelle  verlieren,  das  geht  freilich  nicht  und 
muss  nothwendig  zu  Konflikten  führen  wie  zu  dem  von 
Carmaux. 

Paris.  Leo  Frankel. 


Handwerkerfragen. 

Zur  Frage  der  Gewerbekammern. 

Für  die  Beurtheilung  des  Projektes  der  Gewerbe- 
kammern (vgl.  No.  37  des  Sozialpolitischen  Centralblatts, 
S.  451  fg.)  ist  das  von  der  Regierung  ins  Auge  gefasste 
Verhältniss  der  Innungen  zu  der  geplanten  neuen  Institu- 
tion nicht  ohne  Interesse.  Da  der  grösste  Theil  der  den 
Innungen  bisher  verliehenen  Befugnisse  auf  die  Gewerbe- 
kammern übergehen  dürfte,  so  würde  das  Nebeneinander- 
bestehen beiderOrganisationen  zu  Unzuträglichkeiten  führen. 
Danach  wäre  Neubildung  von  Innungen  ausgeschlossen. 
Allein  auf  der  anderen  Seite  sollen,  wie  Organe  der  Regie- 
rung sich  äussern,  diese  alten  „mit  der  Geschichte  des 
deutschen  Handwerks  eng  verknüpften  Institutionen“  nicht 
aufgehoben  werden,  selbst  wenn  die  Gewerbekammern  nur 


fakultativ  eingeführt  werden  sollten.  Ein  Ausweg  wäre 
„vielleicht  angängig“,  wenn  man  den  grösseren  Innungen, 
sofern  sie  einen  bestimmten  Prozentsatz  der  Berufsgenossen 
zu  ihren  Mitgliedern  zählen,  die  Bildung  besonderer  Gruppen 
innerhalb  der  Kammern  verstattet.  Andere  Innungen 
könnten  dagegen  wenigstens  ihre  Korporationsrechte  be- 
halten und  ihre  öffentlich-rechtlichen  Befugnisse  auch  für 
die  Bezirke,  in  denen  keine  Gewerbekammern  errichtet 
würden. 

Nach  diesen  Kundgebungen  zu  urtheilen,  ist  die  Vor- 
lage noch  keineswegs  in  ein  Stadium  gesetzgeberischer 
Reife  angelangt.  Es  ist  noch  nicht  einmal  das  Wichtigste 
entschieden,  ob  fakultative  oder  obligatorische  Organi- 
sation beliebt  wird.  Alle  Erfahrungen  weisen  gebieterisch 
auf  die  letztere  hin.  Baden,  das  sich  bekanntlich  soeben 
für  den  ersteren  Weg  entschied,  hat  das  mehr  gethan  in 
der  Absicht  „ut  aliquid  fecisse  videatur“ , (dass  es  den 
Anschein  gewinne  als  ob  man  etwas  gethan  hätte)!  Nach 
so  viel  vergeblichen  Anläufen  entweder  eine  Aktion  im 
grossen  Stil , die  dann  obligatorisch  sein  muss , oder 
gar  keine. 

Die  zärtliche  Rücksichtnahme  auf  die  Innungen  wäre 
berechtigt,  wenn  jene  wirkliches  Leben  aufwiesen.  Von 
der  Tradition  zu  zehren  und  sich  darauf  als  Rechtstitel  zu 
berufen,  ist  in  unseren  Zeitläuften  nicht  angebracht.  Man 
lasse  doch  einmal  erst  durch  eine  Enquete  mit  statistischer 
Exaktheit  feststellen,  wie  viele  Berufsgenossen  der  einzelnen 
Branchen  in  den  Innungen  inkorporirt  sind,  und  welche 
Einrichtungen  zum  Nutzen  ihres  Handwerks  diese  geschaffen 
und  erhalten  haben!  Das  wäre  der  einzig  rationelle  Weg, 
eine  Art  von  Rechtsanspruch  für  sie  zu  begründen.  Bis 
jetzt  ist  es  unmöglich,  einwandsfreie  Ziffern  über  die  Aus- 
dehnung der  Innungen  zu  erhalten;  denn  die  auf  den 
„Handwerkertagen“  angegebenen  besitzen  eben  nicht  diesen 
Charakter.  Nach  der  Begründung  des  badischen  Gewerbe- 
kammerentwurfs zählte  man  1 882  im  Grossherzogthum 
27  822  Gewerbetreibende,  die  nicht  mehr  als  5 Arbeiter 
beschäftigten.  Davon  gehörten  im  Ganzen  1043,  d.  h.  nur 
4,5  pCt.  den  Innungen  an!  Zugegeben,  dass  Baden  kein 
günstiger  Boden  für  sie  ist , so  scheint  es  doch  min- 
destens der  Klärung  bedürftig,  ob  sich  in  anderen  Theilen 
des  Reiches  das  Verhältniss  nicht  ähnlich  oder  gar  noch 
ungünstiger  für  die  Innungen  stellt. 

Ferner  ist  zu  bedenken,  dass  die  Konstituirung  einer 
besonderen  Innungsabtheilung  innerhalb  der  Gewerbe- 
kammern den  Zwist  geradezu  in  die  Institution  hineinträgt. 
Es  würde  gerade  das  eintreten,  was  man  vermeiden  will; 
denn  es  würden  alsdann  zwei  gesonderte  Vertretungen  des 
Handwerks  existiren,  zwischen  denen  es  an  Konfliktsstoff 
nicht  fehlen  dürfte.  Dass  sie  als  Abtheilungen  derselben 
Institution  fungiren,  macht  diese  erst  recht  unbrauchbar 
und  ihre  Voten  bedeutungslos.  Sie  würden  sich  wahr- 
scheinlich widersprechen  wie  die  Gutachten  Sachverstän- 
diger über  denselben  Punkt! 

Endlich  sei  bemerkt,  dass  es  einer  künstlichen  Stär- 
kung der  Innungen  gar  nicht  bedürfte,  falls  diese  um  eine 
ihrer  Bedeutung  nicht  entsprechende  Vertretung  in  den 
Gewerbekammern  bangen.  Die  fest  organisirte  Minderheit 
wird  stets  über  die  unc'rganisirte  Mehrzahl  den  Sieg  be- 
haupten. Wer  diesen  Satz,  den  die  Geschichte  auf  jedem 
Blatte  lehrt,  bestreiten  will,  den  verweisen  wir  auf  die  Er- 
folge der  Innungen  bei  den  Wahlen  zum  gewerblichen 
Schiedsgericht  vor  Erlass  des  neuen  Gesetzes  z.  B.  in 
Frankfurt  a.  M.  Sollen  aber  durchaus  die  Innungen  mit 
ihren  Nachfolgern  versöhnt  werden,  was  vielleicht  nöthig 
ist,  um  ihren  Anhängern  die  Vorlage  annehmbar  zu  machen, 
dann  ist  es  doch  gerathener,  anstatt  einen  „Staat  im  Staate“ 
zu  begründen,  den  grösseren  Innungen  garantirte  Vertreter 
zu  gewähren,  obwohl  wir  auch  dies  in  keiner  Weise  befür- 
worten wollen. 

Die  Innungen  haben  stets  behauptet,  ihre  Forderungen 
würden  im  Interesse  des  ganzen  Handwerkerstandes  auf- 
gestellt. Wohlan!  Ist  die  Organisation  in  Gewerbekammern 
das  bessere,  so  hat  eben  die  Tradition  — • soweit  man 
überhaupt  davon  bei  den  heute  noch  bestehenden  Innungen 


486 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  39. 


reden  kann  — ihre  Rolle  ausgespielt  und  muss  zurück- 
treten. Wollen  die  Innungen  daneben  und  darüber  hinaus 
für  die  Handwerker  Nützliches  schaffen,  so  wird  sie  Nie- 
mand daran  hindern.  Eine  Institution  aber,  welche  schon 
an  sich  so  viele  Gegner  hat  wie  das  neue  Projekt,  sollte 
man  rationeller  Weise  nicht  dadurch  von  vornherein  zum 
lode  verurtheilen! 


Marburg  i.  II. 


Rudolf  Grätzer. 


Unternehmerverbände. 


tt  i V«rkaufsverein  der  rheinisch-westfälischen  Kohlenzechen. 

Ueber  die  bemerkenswerthe  Thätigkeit  dieses  wichtigen  Unter- 
fonimf  ^a-rti.e  Sj  (Dortmunder  Kohlenverkaufsverein)  ~ im  Jahre 
Ti  A"le,  'Ier,  soeben  erschienene  Jahresbericht  desselben 
nähere  Auskunft.  Auf  diesem  Verkaufsverein  sollte  sich  das  grosse 
1 heimscli-westfähsche Kohlensyndikat  aufbauen,  dessen  Gründun°- 
Kurzlich  versucht  wurde,  wie  auch  an  dieser  Stelle  berichtet 
worden  ist.  Der  Verkaufsverein  umfasst  Zechen  mit  einer  Ge- 
sammtförderung  von  3 279  909  Tonnen  von  Juli  1890  bis  Juni  1891. 
Kr  bes-orgte  den  Verkauf  von  rund  2 Mül.  Tonnen,  'der  Rest 
gelangte  im  eigenen  Betrieb  und  im  Landdebit  der  Zechen  zum 
Verschleiss.  Das  Kartell  beobachtete  im  Laufe  des  Rechnuno-s- 
lahres  eine  Produktionssteigerung  um  ca.  16  pCt.  und  beschloss 
deshalb  schon  frühzeitig  Fördereinschränkungen  bis  zu  25  pCt., 
Beschlüsse,  die  jedoch  von  den  Zechen  nicht  beachtet  wurden, 
so  dass  die  Steigerung  der  Produktion  noch  zunahm.  Es 
mussten  deshalb  dem  Handel  Preisminderungen  zugestanden 
werden.  Der  \ erein  baut  ein  eigenes  Geschäftshaus.  Ueber 
das  grosse  rheinisch- westfälische  Kohlensyndikat  theilt  der 
Bericht  folgendes  offiziell  mit:  „Eine  von  den  Mitgliedern  der 
Gemeins-chaft  gewählte  Kommission,  in  welcher  die  grösseren 
Lresellschatten,  Gewerkschaften  und  Verkaufsvereine  vertreten 
waren,  hat  mit  grosser  Mühe  und  Sorgfalt  zu  diesem  Zweck 
f£n,r  * ■ soVle  einen  Vertrag  entworfen,  welche  den  Be- 

t heiligten  in  einer  Versammlung  am  30.  Juli  1892  unterbreitet 
wurden.  In  dieser  Versammlung  waren  80  Zechen  mit  90,377  pCt. 
C Cr  Gesammtförderung  abzüglich  der  im  Besitz  von  Hütten- 
werken befindlichen  Zechen  vertreten  und  war  dieselbe  ein- 
s immig  der  Ansicht,  dass  die  von  der  Kommission  vor- 
geschlagene Form  für  die  Errichtung  einer  gemeinsamen 
Verkaufsstelle  die  einzige  Möglichkeit  biete,  dem  westfälischen 
Bergbau  einen  dauernden  Einfluss  auf  die  Gestaltung  einer 
gesunden  Marktlage  zu  sichern.  Bei  den  weiteren  Verhandlungen 
stellten  sich  bezüglich  der  Betheiljgung  der  kontrahirenden 
.Sc1611  am  Gesammtabsatz,  namentlich  wegen  der  im  Bau  be- 
griffenen neuen  Schächte,  Schwierigkeiten  heraus,  in  Folge 
dessen  diese  Versammlung  vorläufig  resultatlos  verlief.  In- 
zwischen ruht  die  Angelegenheit  vollständig,  weil  viele  Zechen- 
vertreter sich  in  Urlaub  befinden;  die  weiteren  Verhandlungen 
werden  jedoch  voraussichtlich  in  allernächster  Zeit  wieder 
energisch  aufgenommen  werden  und  hegen  wir  die  Zuversicht, 
das s dieselben  zu  einem  befriedigenden  Abschlüsse 
Tun  ren  werden.  Wir  halten  uns  zu  dieser  Annahme  berechtigt, 
veil  unseres  Wissens  fast  sämmtliche  Zechenvertreter  davon 
uberzeugt  sind,  dass  der  Bergbau  einer  verhängnissvollen  Zukunft 
entgegen  geht,  wenn  das  Syndikat  nicht  zu  Stande  kommen 
sollte.  Es  steht  deshalb  zu  erwarten,  dass  jeder  nach  Kräften 
i ,c*as .Zustandekommen  des  Syndikats  wirken  wird,  um  dem 
drohenden  Niedergange  noch  rechtzeitig  zu  steuern.“ 


Plan  massige  Aussperrung  sozialistischer  Arbeiter  in 
Ungarn.  Die  Grosswardeiner  Gewerbegenossenschaften 
haben  sich  an  die  übrigen  gewerblichen  Korporationen  in 
Ungarn  mit  einem  Memorandum  gewendet,  in  welchem  sie 
die  Gefahren  des  Sozialismus  für  das  Gewerbe  schildern. 
Gleichzeitig  erklären  sie,  dieser  Bewegung  gegenüber  bliebe 
nichts  übrig,  als  dass  auch  die  Arbeitgeber  sich  über  ent- 
sprechende Massnahmen  einigen  und  im  Wege  der  Han- 
delskammern bei  der  Regierung  um  Abhilfe  einschreiten. 
So  lange  dieselbe  nicht  geboten  wird,  mögen  die  Gewerbe- 
treibenden sich  einigen,  die  Anhänger  und  Verbreiter  des 
Sozialismus  unter  den  Arbeitern  nicht  zu  beschäftigen  und 
die  Namen  solcher  Agitatoren  im  Zirkularwege  bekannt 
machen.  Die  Grosswardeiner  Korporationen  eröffnen  die 
Publikation  der  Liste  sozialistischer  Arbeiter,  indem  sie  die 
Namen  derjenigen  bekannt  geben,  welche  wegen  sozialisti- 
scher Umtriebe  aus  Grosswardein  ausgewiesen  wurden. 


Arbeiterversicherung. 


Normalunfallverhiitungsvorschriften  der  deutschen  Be- 
rutsgenossenscliaften.  Die  Ausarbeitung  der  Normal-Unfall- 
verhütungsvorschriften, welche  später  für  alle  Berufso-enossen- 
schaften  gleicher  Betriebsart  Geltung  haben  sollen,  wird  unter 
Betheiligung  hervorragender  Fachmänner  gegenwärtig  durch  den 
Vorstand  des  „Verbandes  deutscher  Berufsgenossenschaften“ 
besorgt.  Damit  soll  dem  vielfach  gerügten  Uebelstande  entgegen 
gewirkt  werden,  dass  die  Arbeiten  durch  die  in  den  verschiedenen 
Anstalten  gütigen  und  von  einander  abweichenden  Unfallver- 
hütungsvorschriften  in  vielen  Fällen  verwirrt  und  unsicher 
gemacht  werden,  was  die  Stetigkeit  und  den  regelmässigen  Gaiw 
der  Betriebe  beeinträchtigt.  Von  mehreren  Seiten  sei  zwar 
behauptet  worden,  dass  es  nicht  möglich  sei,  Vorschriften  zu 
schaffen,  die  auf  alle  Betriebe  gleichmässig  angewendet  werden 
könnten  ; dem  gegenüber  sei  zu  beachten,  dass  die  überwiegende 
Mehrzahl  der  Berufsgenossenschaften  sich  für  die  Aufstelluno- 
von  Normalvorschriften  ausgesprochen  habe,  wobei  durch  sacln 
gemässe  Unterabtheilungen  sämmtliche  Betriebe  thunlichst  zur 
Berücksichtigung  kommen  sollen. 

Zur  deutschen  Unfallstatistik.  Im  Reichs-Versiche- 
rungsamte wird  gegenwärtig,  wie  wir  der  National-Zeitung 
entnehmen,  eine  Statistik  zusammengestellt,  welche  sich 
auf  die  in  der  Land-  und  Forst wirthschaft  vorkommenden 
Unfälle  bezieht.  Sie  erstreckt  sich  auf  das  Jahr  1891.  Die 
landwirtschaftlichen  Berufsgenossenschaften  haben  dazu 
das  Material  in  Zählkarten,  deren  Text  sich  wegen  der 
Möglichkeit  einer  Vergleichung  eng  an  den  der  Karten  für 
das  Jahr  1887  angeschlossen  hatte,  geliefert.  Zwar  ist  noch 
nicht  das  gesammte  Material  im  Reichsversicherungsamt 
vorhanden,  aber  auch  das  eingelaufene  zeigt  bereits  zur 
Genüge,  wie  nützlich  und  zweckmässig  es  war,  eine  solche 
Statistik  vorzunehmen.  Die  Bearbeitung  des  eingelaufenen 
und  noch  einzureichenden  Materials  wird  zwar  einen 
längeren  Zeitraum  in  Anspruch  nehmen.  Man  kann  aber 
jetzt  schon  sicher  sein,  dass  man  eine  völlig  ausreichende 
Unterlage  gewinnen  wird,  von  der  aus  man  eine  land- 
wirthschaltliche  Unfallverhütung,  wie  sie  u.  a.  auch  im 
November  1890  vom  königlich  preussischen  Landes- 
Oekonomiekollegium  verlangt  wurde,  schaffen  kann. 

Erhöhte  Unfallgefahr  bei  der  Verwendung  jugend- 
licher Arbeiter.  Unseres  Wissens  zum  ersten  Male ’zahlen- 
mässig  hat  diese  erhöhte  Unfallgefahr  festgestellt  der 
Gewerbeaufsichtsbeamte  für  Elsass-Lothringen  in  seinem 
soeben  erschienenen  Bericht  für  1891.  Er  benutzte  zur 
Feststellung  die  Unfallanzeigen,  sowie  die  Krankenkassen- 
statistik seines  Bezirks.  Danach  wurden  1891  in  16  Betrieben 
des  einen  Kreises 


erwachs.  Arbeiter 
männlich  ; weiblich 

jugendl.  Arbeiter 
männlich  weiblich 

beschäftigt  .... 

3 305 

3 581 

473 

566 

verletzt  

59 

22 

17 

11 

V erletzte  in  Prozenten 

17,8 

6,1 

35,9 

19,4 

Die  männlichen  jugendlichen  Arbeiter  sind  dem- 
nach in  21ach,  die  weiblichen  in  3f ach  höherem  Maasse 
durch  Unfälle  beeinflusst,  als  die  Erwachsenen.  Aehnlich 
liegen  die  Verhältnisse  in  einem  anderen  Kreise,  wo  1891 
in  20  Textilbetrieben 


erwachs.  Arbeiter 
männlich  | weiblich 

jugendl.  Arbeiter 
männlich  weiblich 

beschäftigt  .... 

5 672  ' 7 094 

546 

748 

verletzt  wurden  . . 

134  69 

28 

17 

Verletzte  in  Prozenten 

23,6  9,7 

51,2 

22,7 

„Dass  die  Verletzungen  aut  die  gesammte  körperliche  Ent- 
wickelung immer  von  bedeutendem  Einfluss  sein  müssten, 
soll  nicht  gesagt  sein“,  fügt  der  Beamte  hinzu.  „Zweifellos 
aber  wird  der  normale  Gesundheitszustand  der  jugendlichen 
Arbeiter  häufiger  als  der  der  Erwachsenen  durch  sie  beein- 
trächtigt, und  ebenso  zweifellos  kann  das  nicht  ohne  alle 
Einwirkung  auf  ihre  Entwickelung  bleiben.“ 

Leistungen  staatlich  organisirter  und  freier  Hilfs- 
kassen in  Deutschland.  Aus  der  neuesten  amtlichen  Sta- 
tistik über  das  deutsche  Krankenkassenwesen  im  Jahre  1890 
(„Statistik  des  Deutschen  Reichs“,  Neue  Folge,  Band  59), 


No.  39. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT, 


487 


aus  welcher  das  Sozialpolitische  Centralblatt  bereits  Ver-  I 
schiedenes  mittheilte,  erscheint  die  Uebersicht  über  die 
Leistungen  der  verschiedenen  Kassenarten  noch  besonders 
wichtig  und  interessant.  Berechnet  man  nämlich  die  Krank- 
heitskosten auf  ein  Mitglied  (unter  a)  und  auf  einen  Tag 
(unter  b),  so  ergeben  sich  folgende  Zahlen: 


a.  b. 


Baukrankenkassen 

M. 

2,51 

M. 

Betriebs-  (Fabrik-)  Kassen  .... 

. . 16,72 

2,59 

Eingeschriebene  Hilfskassen  . . . 

. . 14,65 

2,02 

j. 

Landesrechtliche  Hilfskassen  . . . 

. . 14,20 

2,03 

Ortskrankenkassen 

. . 11,91 

5) 

2(00 

Innungskrankenkassen 

. . 9,70 

2,13 

Gemeinde-Krankenversicherung 

. . 7,41 

V) 

1,77 

Wenn  nun  auf  die  auffallend  geringeren  Aufwen- 
dungen der  Gemeinde-Krankenversicherung,  wie  sie  aus 
dieser  amtlichen  Uebersicht  hervorgehen,  durch  die  gesetz- 
lichen Beschränkungen  in  der  Höhe  des  Krankengeldes, 
sowie  dadurch  erklärt  werden,  dass  von  ihr  kein  Sterbegeld 
und  keine  Wöchnerinnenunterstützung  gezahlt  werden  clarf, 
so  bleibt  doch  das  Weniger  der  Leistungen  bei  den  Orts- 
krankenkassen im  Gegensatz  zu  den  freien  Hilfskassen  sehr 
auffällig.  Massgebend  ist  hauptsächlich  die  Ziffer  unter  b, 
da  die  Aufwendung  pro  Krankheitstag  den  allein  richtigen 
Massstab  zur  Vergleichung  abgiebt.  Und  hier  bleiben  die 
Ortskrankenkassen  hinter  den  freien  Hilfskassen  zurück, 
obgleich  sie  Zuschüsse  der  Unternehmer  und  Beihilfen  von 
Behörden  (Lokal,  Personal  etc.)  beziehen.  Das  wirft  ein 
eigentümliches  Licht  auf  die  gegen  die  freien  Hilfskassen 
gerichteten  Vorschriften  der  letzten  Novelle  zum  Kranken- 
versicherungsgesetze. 


Wohnungszustände. 


Wolimingsverhältnisse  der  Arbeiterbevülkernng  in 
Eisass-Lothringen.  Der  Gewerbeaufsichtsbeamte  für  die 
Reichslande  theilt  hierüber  in  seinem  neuesten  Jahresbericht 
für  1891  Folgendes  mit:  „Die  Wohnverhältnisse  der  Arbeiter, 
namentlich  der  unteren  Arbeiterschichten,  sind  in  manchen 
Orten  übler  Art.  In  Strassburg,  Metz,  Gebweiler,  Colmar, 
Markirch,  Thann,  Masmünster,  Mülhausen,  Grossmoyenvue, 
Hayingen  und  Saargemtind  lassen  die  Wohnungen  nach  den 
an  Ort  und  Stelle  erhaltenen  Mittheilungen  Vieles,  manch- 
mal Alles  zu  wünschen  übrig,  was  im  Interesse  der 
Gesundheit  und  Sittli  chkeit  erforderlich  wäre.  Eine 
Ausnahme  hiervon  machen  gewöhnlich  die  den  Arbeitgebern 
gehörigen  und  unter  dem  Beding  vermietheten  Wohnungen, 
dass  Kost-  und  Quartiergänger  nur  mit  Erlaubnis®  des 
Arbeitgebers  gehalten  werden  dürfen.  Die  Gemeindebehörden 
von  Strassburg  und  Colmar  befassen  sich  dem  Vernehmen 
nach  mit  der  Untersuchung  und  Verbesserung  der  Wohn- 
ungen solcher  Art.  Jene  in  Mülhausen,  Thann  und  Saar- 
gemünd sind  auf  Veranlassung  der  Fabrikinspektion  im  Laufe 
des  Jahres  zum  Vorgehen  angeregt  worden,  mit  welchem 
Ertoljj,  steht  noch  dahin.  Der  Verbreitung  von  Licht 
über  die  Wohnverhältnisse  und  über  deren  Folgen  könnte 
eine  Bearbeitung  der  einschlägigen  gerichtlichen  Straf- 
akten mit  dienen.  Es  ist  einleuchtend,  dass  eine  Verbesse- 
rung an  der  Hand  einer  objectiven,  die  Thatsachen  richtig 
wiedergebenden  Darstellung  leichter  durchzusetzen  sein 
würde  als  jetzt,  wo  die  Thatsachen  den  betheiligten  Be- 
hörden und  Gesundheitskommissionen  nur  theilweise  oder 
aus  einseitigen,  bruchstückweisen  gelegentlichen  Wahr- 
nehmungen bekannt  sein  können.  Bei  den  hiesigen  landes- 
rechtlichen Bestimmungen,  welche  ein  Einschreiten  gegen 
das  Wohnungselend  abhängig  machen  von  dem  guten 
Willen  der  Gemeindevertretungen,  und  ein  energisches 
Eingreifen  der  Staatspolizei  nach  dieser  Richtung  fast  un- 
möglich machen,  würde  eine  sorgfältige  Ermittelung  und 
zweckentsprechende  Verwerthung  der  Thatsachen  vielleicht 
mit  Recht  anzurathen  sein.  Zu  bemerken  ist  noch,  dass 
bei  der  Genehmigung  grösserer  gewerblicher  Anlagen 
meinerseits  stets  eine  Bedingung  vorgeschlagen  wird,  wo- 
nach dem  Unternehmer  im  Falle  des  Bedürfnisses  die  Her- 
stellung von  Arbeiterwohnungen  obliegt,  deren  Hausordnung 
der  Gutheissung  des  Kreisdirektors  bedarf.“  Man  sieht, 


dass  die  amtliche  Nachforschung  nach  und  nach  den  Schleier 
von  grossen  Missständen  in  den  gesummten  Reichslanden 
ebenso  heben  muss,  wie  es  zuerst  He~kner  von  den  Woh- 
nungszuständen der  Arbeiter  im  „Arbeiterparadies“  Mül- 
hausen that. 


Soziale  Hygiene. 


Sanitätsstatistik  der  Arbeiter  im  Wiener  Kleingewerbe. 

Die  Innungskrankenkassen  sind  in  Berlin  weit  weniger 
entwickelt  als  die  Genossenschafts-Krankenkassen  in  Wien. 
In  Wien  bilden  diese  Kassen  einen  ausschliesslich  von  den 
Arbeitern  verwalteten  Verband,  der  die  einzelnen  Kranken- 
kassen in  mannigfacher  Hinsicht  entlastet,  denen  er  die  Sorge 
für  Aerzte  und  Medikamente,  und  die  Krankenkontrolle  ab- 
nimmt. Der  grösste  Theil  der  kleingewerblichen  neben 
wenigen  in  der  Grossindustrie  und  dem  Handel  thätigen 
Arbeiter  Wiens  gehört  diesem  Verbände  an,  welcher  in 
dankenswerther  Weise  der  Sanitätsstatistik  Aufmerksamkeit 
und  Interesse  widmet.  40  genossenschaftliche  Kranken- 
kassen betheiligten  sich  an  der  zuletzt  aufgenommen  Sta- 
tistik1); abgesehen  von  einer  Statistik  der  Kassengebarung 
auf  die  heute  nicht  eingegangen  werden  soll,  handelt  es 
sich  hier  vornehmlich  um  Morbiditäts-,  Mortalitäts-  und  Un- 
fallstatistik einer  grossen  Zahl  an  einem  Orte  konzentrirter 
kleingewerblicher  Arbeiter. 

Die  Zahl  der  Mitglieder  betrug  am  31.  Dezember  1891 
72  554  (und  zwar  64  311  männliche  und  8243  weibliche).  Es 
kamen  am  31.  Dezember  1890  ebenso  wie  am  31.  De- 
zember 1891  auf  1000  Mitglieder  887  männliche  und  1 13  weib- 
liche über  den  Altersaufbau  finden  sich  zwei  interessante 
Tabellen,  deren  Resultate  wir  hier  zusammengefasst  wieder- 
geben. 


Alter 
in  Jahren 

männl. 

weibl. 

männl. 

% 

weibl. 

% 

12—15 

77 

432 

0,1 

5,2 

16-20 

11  888 

2 251 

18,8 

27,3 

21-25 

14  832 

1 963 

23,2 

23,9 

26-30 

12  152 

1 337 

19,0 

16,2 

31-40 

14  303 

1 293 

22,4 

15,7 

41-50 

6 872 

590 

10,8 

7,2 

51—60 

2 763 

275 

4,3 

3,3 

61—70 

786 

86 

1,2 

bl 

71  u.  darüber 

127 

9 

0,2 

0,1 

Für  die  Beurtheilung  des  Altersaufbaus  scheinen  nur 
die  Zahlen  für  die  männlichen  Versicherten  massgebend  zu 
sein,  da  das  rasche  Sinken  der  Zahl  der  versicherten  Frauen 
gegen  die  Mitte  der  zwanziger  Jahre  wohl  zu  dem  Schlüsse 
berechtigt,  dass  die  verheiratheten  Frauen  aus  dem  klein- 
gewerblichen Arbeitsverhältnisse  austreten,  waren  doch 
57,9  pCt.  der  Männer  und  nur  43,6  pCt.  der  Frauen  im 
Alter  von  über  25  Jahren  beschäftigt,  was  dem  Altersauf- 
bau der  Geschlechter  in  der  gesammten  Bevölkerung  wider- 
spricht. Die  Anzahl  der  unter  15  Jahren  alten  Versicherten 
ist  für  den  Altersaufbau  der  im  Wiener  Kleingewerbe  thä- 
tigen Personen  nicht  massgebend,  da  die  Verbandskassen 
die  Versicherung  auf  die  Lehrlinge  nicht  ausdehnen  konnten, 
aus  diesem  Grunde  bleibt  auch  die  angegebene  Anzahl  der 
im  Alter  von  16 — 20  Jahren  stehenden  Versicherten  hinter 
der  der  thatsächlich  beschäftigten  erheblich  zurück.  Dem- 
nach giebt  die  vorstehende  Tabelle  für  die  höheren  Alters- 
klassen weitaus  zu  günstige  Prozentverhältnisse  an,  trotz- 
dem aber  ist  selbst  dieser  Altersaufbau  viel  ungünstiger 
als  bei  den  grossindustriellen  Arbeitern.  Nur  38,9  pCt.  der 
männlichen  kleingewerblichen  Arbeiter  Wiens  überschreiten 
das  30,  kaum  16,5  pCt.  das  40.  Lebensjahr.  Mit  dem 
35.  Lebensjahr  beginnt  die  Abnahme  der  Arbeitskraft  in 


P Abgedruckt  im  „Berichte  des  Verbandes  der  Genossen- 
schaftskrankenkassen für  Wien  und  LTmgebung  sowie  Statistik 
der  Verbandskassen  für  das  Jahr  1891.“  (Selbstverlag  8°  73  S.) 
S . 38  ff. 


488 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  39. 


fürchterlicher  Weise,  vom  40.  Lebensjahr  verschwinden  die 
Arbeiter  ihrer  Mehrzahl  nach  aus  dem  Gewerbe,  wie  die 
Angaben  für  die  hier  aneinandergereihten  Zahlen  für  das 
fünfte  und  die  folgenden  Jahrzehnte  beweisen:  6872  — 2763 
— 786  — 127. 

Die  Versicherung  der  grossindustriellen  Arbeiter  Wiens 
ist  zum  grössten  Theile  Aufgabe  der  allgemeinen  Arbeiter- 
kranken- und  Unterstützungskasse  („Freie  Hilfskasse“)  und 
der  Bezirkskrankenkasse  („Ortskrankenkasse“).  Bei  ersterer 
überschritten  31,4  pCt.,  bei  letzterer  24,1  pCt  das  40.  Lebens- 
jahr, bei  den  kleingewerblichen  Arbeitern  der  Genossen- 
scnattskrankenkassen  nur  16,5  pCt.  Abgesehen  von  den 
schon  angegebenen  Fehlerquellen  ist  zu  bemerken,  dass 
bei  den  zuletzt  erwähnten  Kassen  zwar  nicht  ausnahms- 
los, aber  zum  weitaus  überwiegenden  Theile  die  Arbeiter 
der  Grossindustrie  versichert  sind;  diese  Fehlerquellen 
gleichen  sich  aber  nicht  aus,  sondern  verstärken  in  erheb- 
lichem Masse  die  Abweichungen  im  Altersaufbau  der  klein- 
gewerblichen und  grossindustriellen  Arbeiter. 

Zum  Vergleiche  des  Altersaufbaues  theilen  wir  die 
für  die  grossmdustriellen  Arbeiter  gemachten  Angaben  mit- 
die  günstigeren  Zahlen  erklären  sich  daraus,  dass  die  all- 
gemeine Arbeiterkrankenkasse  die  bestgezahlten,  auch  sonst 
meist  orgamsirten  Arbeiter  versichert,  dass  sie  nicht  zur 
Aufnahme  von  Jedermann  verpflichtet  ist,  während  dies  für 
die  Bezirkskrankenkassen  gilt. 

In  Prozenten  der  Gesammtzahl  stehen  bei  der 


im  Alter  von 
Jahren 

Allgemeine  Arbeiter- 
Krankenkasse 

männl.  weibl. 

Bezirks-Krankenkasse 
weibl.  männl. 

bis  15') 

1,1 

2,5 

6,3 

5,7 

16—20 

8,2 

17,8 

18,2 

22,1 

21—25 

13,3 

23,0 

12,3 

20,6 

26—30 

15,1 

15.1 

14,1 

15,1 

31-40 

30,9 

20,1 

25,0 

19,3 

41—50 

21,6 

12.2 

12,0 

10  2 

51—60 

7,5  | 

7,5 

9,2 

5 0 

61—70 

1,8 

1,6 

2,6 

1,8 

71— x 

0,5 

0,2 

0,3 

0,2 

100 

100 

100 

100 

Leidei  lässt  sich,  ohne  allzu  ausführlich  zu  werden 
der  Altersaufbau  für  die  einzelnen  Berufsgruppen  der  klein- 
gewerblichen Arbeiter  hier  nicht  erörtern,  es  sei  deshalb 
nur -erwähnt,  dass  bei  den  Tischlern  nur  14,9  pCt  bei  den 
Drechslern  nur  11,7  pCt.  und  bei  den  Schuhmachern  nur 
8,7  pCt.  das  40.  Lebensjahr  überschreiten. 

Leider  geht  es  ebensowenig  an,  auf  die  hochinter- 
essante Morbiditätsstatistik  für  die  einzelnen  Gewerbe 
welche  wieder  in  Altersgruppen  geschieden  sind,  näher 
emzugehen,  wir  müssen  uns  begnügen  auf  dieses  überaus 
werthvolle  Material  (a.  a.  O.  S.  47—60)  zu  verweisen  und 
einige  Hauptangaben  hier  mitzutheilen.  Das  Jahr  1891,  auf 
das  sich  diese  Daten  beziehen,  war  ein  durchaus  normales 
ferner  sei  erwähnt,  dass  die  Entbindungen  bei  der  folgenden 
Tabelle  nicht  mitgezählt  wurden.  Es  entfielen  Erkrankungen 
m Prozenten  der  Gesammtzahl  der  Versicherten: 


im  Alter  von 

männl. 

weibl. 

Jahren 

Geschlechtes 

bis  15 

0,1 

4,1 

16—20 

16,6 

30,1 

21—25 

22,6 

23,7 

26—30 

17,2 

14,4 

31  - 40 

21,8 

15,4 

41—50 

12,8 

7,7 

51—60 

6,2 

3,1 

61—70 

2,3 

1,3 

71— x 

0,4 

0,2 

Gesammtzahl  der 

Erkrankungen  . . 

17  815  = 85,99% 

2 903=  14,01% 

v * Verständniss  der  verhältnissmässig  geringen  Zahl 
m dieser  Altersstufe  sei  erinnert,  dass  in  Oesterreich  Arbeiter 
unter  14  Jahren  in  der  Grossindustrie  nicht  beschäftigt  werden 
dürfen;  im  Kleingewerbe  ist  die  Beschäftigung  von  Kindern  im 
Alter  von  12—14  Jahren  gestattet,  trotzdem  ist  aus  den  schon 
angegebenen  Gründen  diese  Zahl  bedeutend  grösser  als  bei  den 
kleingewerblichen  Arbeitern. 


Neben  11,4  pCt.  der  Männer  erkrankten  14,01  pCt  der 
brauen.  Mit  zunehmendem  Alter  zeigte  sich  erheblich  ge- 
steigerte Morbidität.  Während  die  Zahl  der  über  40  Tahre 
alten  Mitglieder  10,8  pCt.  ausmachte,  entfielen  auf  diese 
Gruppe  12,8  pCt.  der  Erkrankungen.  Nicht  nur  in  Bezuo- 
auf  die  Zahl  der  Erkrankungen,  sondern  auch  bezüglich  der 
Dauer  derselben  weisen  die  Frauen  ungünstigere  Verhält- 
nisse auf  als  die  Männer,  fasst  man  noch  die  den  Frauen 
auch  zur  Last  fallenden  Entbindungen  ins  Aucre,  so  wird 
es  klar,  dass  die  weiblichen  Mitglieder  weit  grössere  Aus- 
lagen  verursachen  als  die  männlichen.  Die  Einwirkung  des 
Berufes  auf  die  Morbidität  sei  nur  durch  ein  Beispiel 
filustrirt:  Aut  die  Stein-  und  Kupferdrucker  entfielen  28  94 
?Un  (1,f  Uissbinder  dagegen  blos  13,74  Krankheitstage,  auf- 
fallend sind  auch  die  grossen  Abweichungen  der  Relativ- 
zahlen bei  den  Entbindungen,  so  kamen  z.  B.  auf  die  ver- 
sicherten  Frauen  des  Schuhmachergewerbes  14,7  pCt.,  auf 
die  des  Hutmachergewerbes  nur  9,3  pCt.  Entbindungen  um 
noch  weiter  abweichende  Zahlen  nicht  zu  erwähnen. 

Aus  dem  Ueberwiegen  einzelner  Erkrankungen  kann 
man  auf  das  \ orhandensein  von  Berufskrankheiten  zurück- 
sch  Hessen,  und  dort  wo  man  es,  wie  hier,  mit  Arbeitern 
von  40  verschiedenen  Berufsgruppen  zu  thun  hat,  auf  die  die 
Arbeiterklasse  sjieziell  in  hohem  Grade  erfassende  Krank- 
heiten. Hierzu  gehören  Zellgewebsentzündungen  (1775), 
tuberkulöse  (1244),  Rheumatismen  (2211),  Neuralgien  (564), 
Bronchialkatarrhe  _ (3447),  Magenkatarrhe  (1358).  Diese 
Zahlen  beziehen  sich  blos  aut  die  Erkrankungen,  bei  denen 
wegen  ausgeschlossener  Arbeitsfähigkeit,  Unterstützungen 
bezogen  wurden;  bei  Heranziehung  auch  der  arbeitsfähigen 
ambulanten  Kranken  erhebt  sich  folgende  Tabelle: 


Krankenart 


Entwickelungskrankheiten 

Infektionskrankheiten 

Venerische  und  syphilitische  Krank- 
heiten . . . .'  

Neubildungen 

Krankheiten  des  Blutes  etc 

„ „ Nervensystems . . . 

» „ Auges 

,,  ■,  Gehörorgans  . . . 

„ der  Athmungsorgane  . . 

» „ Cirkulationsorgane  . 

i)  „ Verdauungsorgane  . 

„ „ Harn-  u.  Geschlechts- 


Erkrankungen  bei 
welchen  Unterstützungen 

bezogen  nicht bezogen 
wurden 


92 

51 

3742 

969 

402 

797 

61 

113 

2349 

2003 

705 

762 

506 

1026 

69 

199 

4486 

3337 

553 

453 

3001 

3142 

organe  

» „ Haut 

ü „ Bewegungsorgane 

Verletzungen 

LTnbestimmte  Diagnosen 

Vergiftungen 

Selbstmordversuche 


543 

395 

911 

1343 

688 

377 

2347 

485 

104 

154 

132 

44 

3 

— 

Summe 


20694  15650 


Für  die  ungünstigen  sanitären  Verhältnisse  der  im 
Wiener  Kleingewerbe  thätigen  Arbeiter  spricht  auch  die 
Absterbeordnung  der  in  den  Genossenschaftskrankenkassen 
versicherten  Personen  und  zwar  ist  diese  nicht  nur  ab- 
solut, sondern  wie  die  folgende  Tabelle  zeigt,  auch 
relativ  genommen,  in  hohem  Masse  eine  ungünstige  zu 
nennen. 

Die  812  bei  den  Genossenschaftskrankenkassen  Ver- 
sicherten erreichten  ein  durchschnittliches  Alter  von 
36  Jahren,  während  die  Verstorbenen  der  Allgemeinen 
Arbeiterkranken-  und  Unterstützungskasse  40,3,  die  der 
Bezirkskrankenkasse  41,1  Jahre  alt  wurden. 

Es  starben  im  Alter  unter  30  Jahren  bei 

dem  Verbände 45,9  pCt. 

der  Allgemeinen  Arbeiterkrankenkasse  30,0  „ 
der  Bezirkskrankenkasse 24,9 

Das  50.  Lebensjahr  haben  Verstorbene  überschritten  bei 

dem  Verbände 14,6  pCt. 

der  Allgemeinen  Arbeiterkrankenkasse  24,6  „ 
der  Bezirkskrankenkasse 25,5  „ 


No.  39. 


SOZI  APOLITISCHES  CENT  KAI. BLATT  . 


489 


Für  die  einzelnen  Altersstufen  ergaben  sich  folgende 
Relativzahlen: 


Es  starben 
im  Alter 
von  Jahren 

in  Prozenten  der  Gesammtzahl 

1 

Verband 

Allg-.  Arbeiter- 
krankenkasse 

Bezirks- 

krankenkasse 

bis  15 

0,0 

0,4 

0,2 

1 6 — 2Ö 

9,5 

8,5 

6,4 

21—25 

20,6 

10,0 

7,6 

26—30 

15,8 

11,1 

10,7 

31-40 

24,0 

24,1 

22,7 

41—50 

15,5 

21,3 

26,9 

51-60 

8,9 

13,9 

14,7 

61—70 

4,3 

7,6 

8,9 

71— x 

L4 

3,1 

1,9 

100 

100 

100 

Bei  61,33  pCt.  (53,75  pCt.  bei  Allgemeinen  Arbeiter- 
kranken- und  Unterstützungskassen)  der  Verstorbenen  war 
Tuberkulose  die  Todesursache,  bei  den  Stein-  und  Kupfer- 
druckern stieg  diese  Zahl  auf  80  pCt.  und  bei  Drechslern, 
Buchbindern  und  Tischlern  auf  73 — 75  '/4  pCt. 

Nach  dem  Berufs-  und  Durchschnittsalter  sind  die 
Verstorbenen  folgendermassen  zu  gruppiren1): 

Unter  dem  Durchschnittsalter  (36  Jahre)  verblieben: 

1 Optiker  (20  Jahre),  1 Sattler  (21  Jahre),  3 Graveure  etc. 
(24,3  Jahre),  68  Buchbinder  (27,92  Jahre),  10  Zuckerbäcker 
28,7  Jahre)*  84  Schuhmacher  (29,34  Jahre),  8 Glaser  etc. 
(31,12Jahre),  5 Tapezierer  (31,2  Jahre),  12  Giesser  (32,3  Jahre), 
101  Drechsler  (32,93  Jahre),  2Ö  Stein-  und  Kupferdrucker 
(33  Jahre),  6 Taschner  und  Riemer  (33,6  Jahre),  103  Tischler 
(34  Jahre),  4 Zimmer-  und  Dekorationsmaler  (34,5  Jahre), 

4 Vergolder  (34,75  Jahre),  5 Handschuhmacher  (35,2  Jahre), 

34  Schlosser  (35,67  Jahre),  21  Hutmacher  (35,71  Jahre), 
90  Buchdrucker  (35,78  Jahre).  Das  Durchschnittsalter  über- 
schritten die  Verstorbenen  in  den  folgenden  kleingewerb- 
lichen Berufen:  44  Juweliere,  Gold-  und  Silberarbeiter 

(36,47  Jahre),  33  Posamentierer  (37,48  Jahre),  2 Btirsten- 
und  Pinselerzeuger  (38  Jahre) , 41  Bäcker  (38,34 

Jahre) , 5 Spielkartenerzeuger  (40  Jahre) , 6 Huf- 

und  Wagenschmiede  (40,6  Jahre),  5 Pflasterer  (41  Jahre), 

2 Büchsenmacher  und  Schwertfeger  (41,5  Jahre),  2 Fass- 
binder (41,5  Jahre),  9 Dachdecker  (42  Jahre),  8 Klavier-  und 
Orgelbauer  (42,5  Jahre),  22  Gürtler  und  Broncearbeiter 
(45,12  Jahre),  9 Seiden-,  Schön-  und  Schwarzfärber  (46,3 
Jahre),  5 Hafner  (47  Jahre),  13  Banderzeuger  (47,53  Jahre), 

5 Buch-,  Kunst-  und  Musikalienhändler  (48  Jahre),  13  Zimmer- 
leute (48  Jahre),  6 Blas-  und  Streichinstrumentenerzeuger 
(51,5  Jahre)  und  2 Gold-  und  Metallschläger  (52  Jahre). 

Die  Statistik  der  Unfälle  ist  für  das  Jahr  1891  leider 
noch  unvollständig,  was  im  Deutschen  Reiche  wegen  der 
geplanten  Ausdehnung  der  Unfallversicherung  auf  das 
Handwerk  doppelt  bedauert  werden  muss.  Die  hier 
folgenden  Zahlen  sind  nur  ein  Bruchtheil  der  thatsächlich 
vorgekommenen  Unfälle.  Zur  Kenntniss  der  Verbands- 
verwaltung gelangten  1125  Unfälle  der  bei  den  Genossen- 
schaftskrankenkassen versicherten,  hiervon  entfielen  50 
(knapp  5 pCt.)  auf  Arbeiterinnen. 

Nach  dem  Alter  gruppiren  sich  die  Verletzten 
wie  folgt: 


Alter  in  Jahren 

Verunglückte 

Prozent  der 
Gesammtzahl 

15—20 

267 

23,8 

21—30 

469 

41,7 

31-40 

193 

17,1 

41—50 

136 

12,1 

51-60 

41 

3,6 

61—70 

16 

1,4 

unbekannten  Alters 

3 

0,3 

zusammen . . . 

1125 

100 

Die  Unfallgefahr  scheint  demnach  bei  Personen  unter 
20  und  zwischen  40  und  50  Jahren  am  grössten  zu  sein. 


')  Es  handelt  sich  hier  fast  stets  um  zu  kleine  Zahlen,  um 
weitergehende  Schlüsse  zu  gestatten. 


Ueber  die  Dauer  des  Heilverfahrens  giebt  die  folgende 
Tabelle  Aufschluss: 


Dauer  des 
fahrens  in 

Heilver- 

Wochen 

Anzahl 
der  Unfälle 

In  Prozent  der 
Gesammtzahl 

bis 

1 

305 

28,2 

1 — 

2 

337 

31,1 

2- 

3 

182 

16,8 

3- 

4 

98 

9,1 

4— 

5 

51 

4,7 

5— 

6 

29 

2,7 

6— 

7 

22 

2,0 

7— 

8 

18 

1,7 

8— 

9 

11 

1,0 

9— 

10 

3 

0,2 

10  und  mehr 

27 

2,5 

zusammen  . . . 
unbekannt.  . . 

1083 

42 

100 

Das  Heilverfahren  von  mehr  als  85  pCt.  der  von 
Unfällen  betroffenen  dauert  kürzere  Zeit  als  einen  Monat, 
und  kaum  1 pCt  über  ein  Vierteljahr. 

So  wenig  die  eingestandenermassen  unzulängliche 
Unfallstatistik  zu  Schlüssen  berechtigt,  so  wenig  auch  für 
die  Mehrzahl  der  Gewerbe  wegen  der  kleinen  Zahlen 
spezielle  Schlüsse  aus  den  angeführten  Zahlen  berechtigt 
sein  dürften,  so  sehr  giebt  die  Morbiditäts-  und  Mortalitäts- 
statistik der  Gesammtzahl  (ca.  72  000  Personen)  Anlass  zu 
allgemeinen  Betrachtungen. 

Wir  können  aus  diesen  wichtigen  Folgeerscheinungen 
ökonomischer  Verhältnisse  schliessen,  dass  die  allgemeinen 
Lebens-  und  besonderen  Arbeitsbedingungen  der  klein- 
gewerblichen Arbeiter  ungünstiger  sein  dürften  als  die  der 
grossindustriellen  Arbeiter,  dass  sie  früher  zu  arbeiten  be- 
ginnen, dass  sie  in  ungünstigeren  Wohn-  und  Arbeits- 
räumen ihr  Leben  verbringen,  dass  sie  länger  und  zu  un- 
günstigeren Bedingungen  arbeiten  müssen  als  die  Arbeiter 
m der  Grossindustrie.  Für  den  vorurtheilslosen  Sozial- 
politiker müsste  sich  hieraus  der  naheliegende  Schluss 
ergeben,  dass  bei  aller  Anerkennung  der  Nothwendigkeit, 
den  Arbeiterschutz  für  die  grossindustriellen  Arbeiter  aus- 
zudehnen, wirksame  und  einschneidende  Schutzmassregeln 
für  die  Arbeiter  des  Kleingewerbes,  und  wie  wir  gleich  in 
Parenthese  bemerken  wollen,  für  die  der  Hausindustrie  und 
des  Verkehrsgewerbes,  zu  den  allerdringlichsten  staatlichen 
Pflichten  gehören.  Wird  es  auch  für  den  grossindustriellen 
Arbeiter  von  Tag  zu  Tag  schwerer,  sich  selbst  zu  helfen, 
so  ist,  freilich  nur  vergleichsweise  gesprochen,  eher  für 
diese  eine  solche  Möglichkeit  vorhanden,  als  für  die  kraft- 
loseren, vereinzelt  arbeitenden  Personen  im  Kleingewerbe. 

Dass  aber  Machtfragen  hier  entscheidend  sind  und  nicht 
Schlüsse  aus  der  Statistik,  braught  dem  Kenner  der  Verhält- 
nisse nicht  in  Erinnerung  gerufen  zu  werden.  Oesterreich 
gab  den  Industriearbeitern  Schutz  der  Kinderarbeit,  einen 
Maximalarbeitstag,  eine  relativ  gute  Unfallversicherung,  die 
Arbeiter  im  Kleingewerbe  blieben  aber  weit  ungeschützter, 
weil  man  in  den  industriellen  Arbeitern  eine  Macht  zu 
fürchten  begann,  in  den  kleingewerblichen  Meistern  aber 
eine  zwar  untergehende,  aber  noch  in’s  Gewicht  fallende 
Stütze  konservativer  Interessen  sah.  Solche  Erkenntniss 
darf  aber  nicht  hindern,  die  Forderung  eines  Schutzes  der 
kleingewerblichen  Arbeiter  mit  stets  neuen  Argumenten 
zu  stützen.  ' 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Bornhak,  Conrad,  Das  deutsche  Arbeiterrecht.  Syste- 
matisch dargestellt.  S.-A.  aus  den  „Annalen  des  deutschen 
Reichs“.  München  u.  Leipzig,  1892.  G.  Hirth.  gr.  8°.  190  S. 

Jastrow,  Dr.  J.,  Privatdozent,  Die  Vermögenssteuer  und 
ihre  Einführung  in  das  preussische  Steuersystem. 
S.-A.  aus  den  „Jahrbüchern  für  Nationalökonomie  und 
Statistik“.  Jena,  1892.  Fischer. 

Katalog  der  Bibliothek  der  Gehe-Stiftung  zu  Dresden.  II  Staats- 
lehre, Staats-  und  Völkerrecht,  Verwaltung.  Dresden,  1892. 
v.  Zahn  u.  Jaensch.  gr.  8°.  XXIV  u.  571  S- 


Verantwortlich  fiir  die  Redaktion:  Pr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


490 


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Dr.  Hugo  Preuss. 

Preis  1 Mark. 


T.@Uffeitfag,  S3erlagbbucf)l)anblmtg  in  Berlin. 

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nebft  3lu§fnl)rimqgbcfttmmungen. 

£ejt--2tnögabe  mit  Slruiierfuugeit  unb  ©adjregifter 

uon 

P§.  Berger, 

iKeiuenuniärat!-. 

3t»oIftc  «Auflage. 

‘iafdjtiironiiat,  cartonnirt. 

Preis  1 B3.  25  pf. 


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PDdieiirmrift  rar  Jürbernng  tim  r frirMidjra 

biuialm'avm. 

©rgan  bes  Beulfdjen  Buitbes  für  Bobcn- 
j bEftftrrform. 

©rfdieittt  jeben  SKontag. 

Slbonnementdbebingungen: 

23ei  allen  ißoftanftalten  (fßr.  2272 

ber  ißoftjeitungälifte)  . ...  m 0,80 
23ei  birefter  Äreu^baubfenbung: 

in  ©eutfdjlanb  unb  Defterreich . i 20 
im  SOßeltp  oft»  e rein  ....  " i'öO 

Sn  Berlin  bei  freier  gufenbung  . „ 

Öhepebifiort 

Xllmbs,  jmteffr.  55. 


Verantwortlich  für  den-  Anzeigenteil:  O.  SchuchardtTn  Berlin.  - Druck  von  H.  S.  HermaAVT  ^